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German Pages 658 Year 2023
Marco Swiniartzki Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Studien zur Popularmusik
Marco Swiniartzki (Dr. phil.), geb. 1985, ist Lehrer in Aschersleben und assoziierter Wissenschaftler an der Professur für Westeuropäische Geschichte in Jena. Der Historiker promovierte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und war unter anderem Fellow am Historischen Kolleg in München. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Geschichte der Arbeit und Arbeiterbewegung sowie der Jugend- und Popkultur.
Marco Swiniartzki
Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel Sozialgeschichte einer Musikkultur in den langen 1980er Jahren
Zugleich: Habilitationsschrift, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2023. Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Dieses Werk wurde gefördert durch einen einjährigen Forschungsaufenthalt am Historischen Kolleg in München sowie durch ein zweijähriges Forschungsstipendium der Gerda Henkel Stiftung.
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© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Umschlagabbildung: »Jaguar« spielen im Dynamo Club in Eindhoven (1982) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839469415 Print-ISBN: 978-3-8376-6941-1 PDF-ISBN: 978-3-8394-6941-5 Buchreihen-ISSN: 2747-3066 Buchreihen-eISSN: 2747-3074 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Für meine Frau und meine Kinder
Inhalt
Vorwort ....................................................................................... 11 Abkürzungsverzeichnis ....................................................................... 13 1. 1.1
1.2 1.3 1.4
Open End Heavy Metal als soziokulturelle Brücke im gesellschaftlichen Wandel ....................... 15 Leerstellen zwischen kultur- und politikzentrierten Perspektiven ........................... 24 1.1.1 Heavy Metal und die Cultural Studies ................................................ 25 1.1.2 Der politikgeschichtliche Fluchtpunkt ................................................ 31 1.1.3 Sozialgeschichte als »blinder Fleck«................................................ 35 Schneisen durch die »langen 1980er Jahre« – Untersuchungsebenen des sozialen Wandels .............................................. 38 Quellen ................................................................................... 48 Fallauswahl, Begriffe und Methodik ........................................................ 54
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal Der Wandel der 1980er Jahre .............................................................. 61 2.1 Erwerbsbiografien von Metal- Musikern im Vergleich ....................................... 63 2.2 Das Ende der Cover- Bands und die »Professionalität« der Metal- Kultur .................... 78 2.3 Die Metal- Kultur als kreatives Erwerbsfeld ................................................ 88 2.4 Generationelle Verhandlungen............................................................. 98 2.5 (Heavy) Metal als Klassenphänomen ....................................................... 118 2.5.1 Die »Weinstein«- These in der Kritik ................................................ 119 2.5.2 Soziale Mobilität.................................................................... 124 2.5.3 Die Erschließung der Mittelklasse und das kulturelle Klassenverständnis ............. 127 2.6 Das Genre im Entstehen – Ein Abend in den Working Men’s Clubs in Tyneside ...............143 2.6.1 Anfang und Ende des »club circuits« ...............................................143 2.6.2 Der Ablauf eines Abends im Working Men’s Club .....................................148 2.6.3 Die Musiker in der sozialen Praxis der Working Men’s Clubs ..........................152
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft Metal-Szenen im (sub-)urbanen Raum .....................................................159 3.1 Metal aus den Zechensiedlungen und Council- House- areas – England und das Ruhrgebiet .............................................................. 161 3.2 Extreme Metal und die »white flight« – Musik aus den Vororten ............................ 176 3.2.1 San Francisco Bay Area.............................................................182 3.2.2 New York, New Jersey, Pennsylvania ................................................193 3.2.2.1 Räumliche Aneignungen im US-Nordosten .................................. 208 3.2.3 Florida ............................................................................. 214 3.2.4 Schweden .......................................................................... 221 3.2.5 Norwegen .......................................................................... 231 Die Band als »soziales Handlungsfeld« ................................................ 243 »Erweckungserlebnisse« von Metal- Musikern ............................................ 248 Kennenlernen und Formation von Bands .................................................. 255 Die Metal- Band als männliche Formation? ................................................. 261 Das »Inklusionsarrangement« von Metal- Bands .......................................... 273 4.4.1 Die Band als »Familie« und »Ehe« ................................................. 273 4.4.2 Die Metal- Band als Hierarchie ..................................................... 278 4.4.3 Die Professionalität als Wendepunkt ............................................... 288 4.4.4 Gemeinsame Praktiken der Bands – Do- It- Yourself ................................. 298 4.4.4.1 Songwriting ............................................................... 306 4.4.4.2 Produktion ................................................................. 314 4.5 Die Auflösung von Metal- Bands .......................................................... 328
4. 4.1 4.2 4.3 4.4
5. Die Crossover- Dekade Reibungsflächen von Metal und Punk......................................................331 5.1 Punk in der NWOBHM..................................................................... 340 5.2 Wachsende Kontaktzonen................................................................ 349 5.3 Konzert, Respekt, Körper, Gewalt ..........................................................361 5.4 Politik und »social awareness« .......................................................... 376 5.4.1 Abwehrhaltungen der Punk- Presse ................................................ 382 6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften Kommunikation und Wettbewerb im Szenebildungsprozess ............................... 387 6.1 Die Kommunikationsoffensive der 1980er Jahre – Räume, Medien und Praktiken in Metal-Szenen ......................................................................... 395 6.1.1 Der Plattenladen als Konsumraum, Treffpunkt und Organisationsort ................ 395 6.1.2 »Signature Venues« und Vergewisserungsmomente von Metal- Szenen .............. 407 6.1.3 »All within a drive« und Metal- Migration – Translokale Szene- Vernetzung............ 417 6.1.4 Das Tape Trading- Netzwerk ....................................................... 426 6.1.5 Fanzines .......................................................................... 439 6.1.6 Metal- Magazine ................................................................... 453 6.1.6.1 Fan- Journalisten und musikalische Kategorienbildung ..................... 462 6.1.7 Radio und Fernsehen .............................................................. 467
6.1.7.1 Metal- Radio und -Fernsehen in den USA.................................... 468 6.1.7.2 Metal- Radio und -Fernsehen in Europa ..................................... 473 6.2 »Carving out a niche« – Szene- Bildung als Wettbewerb um Aufmerksamkeit .............. 476 6.2.1 Vergemeinschaftung ex negativo – Szene- Grenzen und Szene-Gegner .............. 476 6.2.2 Die Suche nach einer authentischen Nische ........................................ 484 6.2.3 Beobachten, Necken, Streit – »healthy competition« um Aufmerksamkeit ........... 495 6.2.4 Wettbewerb 2.0 – Der »black turn« als ein Ende der »langen 1980er Jahre« ......... 505 6.2.5 Going back underground – Szenen verlieren an Aufmerksamkeit ..................... 512 7. Ambivalente Kommerzialisierung Narrative und Strukturen ................................................................. 517 7.1 Komplizierte Konventionen – Metal als Zuspitzung der Paranoia des Rock .................. 519 7.2 Zwischen Freund und Feind – Indie Labels in der Metal- Kultur............................. 532 7.2.1 Personal und Arbeitsethik ......................................................... 540 7.2.2 Bandkontakt und Verträge ......................................................... 546 7.2.3 Distribution und Lizenzen.......................................................... 557 7.3 Einflussreiche Vermittler – Manager an der kommerziellen Schnittstelle ................... 564 8. 8.1 8.2 8.3 8.4
Fazit und Ausblick ...................................................................... 577 Konkrete und abstrakte Zugehörigkeiten, Individualisierung und Vergemeinschaftung ..... 577 Ein neuer »Markt der Möglichkeiten« – Heavy Metal als DIY und Erwerbsarbeit.............. 581 Das Ende der Jugendkultur – Erinnerung, Selbsttechnik und Kulturtourismus .............. 582 »Nach dem Boom« ist vor dem Boom – Zwischen Deindustrialisierung und Digitalisierung ....................................................................... 591
9. 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7
Quellen- und Literaturverzeichnis ...................................................... 595 Zeitzeugeninterviews .................................................................... 595 Fanzines ................................................................................ 596 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel (gedruckt) ............................................. 598 (Auto)biografien, Band-, Szene- und Genre- Geschichten sowie Interviewsammlungen .......601 Filmografie .............................................................................. 602 Online- Dokumente....................................................................... 603 Sekundärliteratur ........................................................................ 609
Vorwort
Bei diesem Buch handelt es sich um die leicht gekürzte Version meiner Habilitationsschrift, die im Juli 2023 bei der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht wurde. Ein Projekt zur Sozialgeschichte der Heavy Metal-Kultur zu beginnen, zu finanzieren und letztlich auch durchzuhalten benötigt Fürsprecherinnen und Fürsprecher. Ich möchte besonders Thomas Kroll danken, der von der ersten Idee bis zur Fertigstellung der wichtigste Ratgeber und Ansprechpartner für mich war und die Idee stets unterstützte, die Erklärungskraft der Sozialgeschichte stärker für die Geschichte dieses PopPhänomens zu nutzen. Ich danke auch Stefan Gerber, der mich in der Frühphase des Projekts ebenfalls bestärkte, meine Idee weiterzuverfolgen, sowie Martin Rempe, der mir wichtige Hinweise gab. Darüber hinaus profitierte ich zwischen 2019 und 2023 immer wieder von unschätzbaren Ratschlägen, wichtigen Kritiken und kenntnisreichen Erweiterungen. Herzlich danken möchte ich hier Nikolai Okunew, Karl Siebengartner, Jens Hagen, Peter Pichler, Klaus Nathaus, Martin Lutz, Detlef Siegfried, Wolf-Georg Zaddach und Jan-Peter Herbst. Selbstverständlich zu sagen, bleiben alle Fehler meine eigenen. Ermöglicht wurde das Projekt durch ein Forschungsstipendium der Gerda Henkel Stiftung, die auch den Löwenanteil der Druckkosten beisteuerte. Ich möchte mich für das entgegengebrachte Vertrauen, die exzellente Organisation und allzeit freundliche Kommunikation herzlich bedanken. Gleiches gilt für das Kuratorium und die Mitarbeiter des Historischen Kollegs in München, wo ich in hervorragender Atmosphäre ein Jahr Zeit hatte, das Manuskript zu vollenden und wunderbare Gespräche mit den anderen Fellows erleben konnte. Ein besonderer Dank gilt meiner Frau und meinen Kindern, die es geduldig ertrugen, dass ich für vier Jahre noch mehr als üblich über Metal sprach, ständig in Europa unterwegs war, nachts Interviews führte und für ein ganzes Jahr nur am Wochenende nach Hause kam. Auf einen solchen Rückhalt bauen zu können ist wunderbar!
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Mein letzter Dank gilt schließlich den Musikerinnen und Musikern und allen anderen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, deren Auskunftsbereitschaft sowie unkomplizierte, bodenständige und solidarische Art dieses Buch erst ermöglichten. Marco Swiniartzki Aschersleben, den 15. Mai 2023
Abkürzungsverzeichnis
AfS
Archiv für Sozialgeschichte
Ano.
Anonym
AOR
Adult Oriented Rock
A&R
Artists & Repertoire
AZ
Arizona
BART
Bay Area Rapid Transit
BBC
British Broadcasting Corporation
BFBS
British Forces Broadcasting Service
BMG
Bertelsmann Music Group
CA
California
CCCS
Centre for Contemporary Cultural Studies
CEAG
Concordia Elektrizitäts-AG
CEO
Chief Executive Officer
CIU
Club and Institute Union
CMU
Carnegie Mellon University, Pittsburgh
DIY
Do It Yourself
DM
Deutsche Mark
D.R.I.
Dirty Rotten Imbeciles
EAS
Enterprise Allowance Scheme
EP
Extended Play
FLA
Florida
GG
Geschichte und Gesellschaft
HM
Heavy Metal
IRC
International Reply Coupon
IRD
Important Record Distributors
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel ISMMS
International Society for Metal Music Studies
ITB
International Talent Booking
JPMS
Journal of Popular Music Studies
L.A.
Los Angeles
LP
Langspielplatte
MfS
Ministerium für Staatssicherheit der DDR
MM
Melody Maker
NDR
Norddeutscher Rundfunk
NFL
National Football League
NJ
New Jersey
NME
New Musical Express
NSBM
National Socialist Black Metal
NWOBHM
New Wave of British Heavy Metal
NY
New York
NYHC
New York Hardcore
o. A.
ohne Autor
o. O.
ohne Ort
PA
Pennsylvania
PMRC
Parent’s Music Resource Center
RAW
Rock Alive Worldwide
RIAS
Rundfunk im amerikanischen Sektor
S.F.
San Francisco
SPV
Schallplatten, Produktion und Vertrieb
SWR
Südwestrundfunk
VA
Virginia
WDR
Westdeutscher Rundfunk
WEA
Warner, Electra und Atlantic
ZF
Zeithistorische Forschungen
1. Open End Heavy Metal als soziokulturelle Brücke im gesellschaftlichen Wandel
Das Jahr 1979 markierte eine »Zeitenwende« (Frank Bösch). Was die iranische Revolution, Chinas Öffnung oder die konservative Wende in den USA und Großbritannien politisch und wirtschaftlich verdeutlichten, verrieten die Energiekrise und ein AKW-Unfall auf der ökologischen oder die Fernsehserie »Holocaust« auf der erinnerungskulturellen Seite: Im Jahr 1979 kulminierten unterschiedliche Krisenwahrnehmungsprozesse, es ballte sich ein längerfristiger Wandel als Zäsur und durch die technisch-mediale Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts konnten nun (fast) alle als international-vergleichende Krisen-Deuter mit dabei sein.1 Es artikulierten sich ein breit diagnostizierter Bruch im Fortschrittsverständnis und eine neue Sehnsucht nach der (auch verklärten) Vergangenheit. Auf vielen gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Ebenen schienen längerfristige Stabilitäten an ihr Ende gekommen zu sein. Der Blick der individuellen wie sozialen Verortung ging von nun an verstärkt zurück.2 Gleichzeitig entstanden aber auch neue »windows of opportunity«3 , also Spielräume der (auch kommerziell) erfolgreichen Krisendeutung und -instrumentalisierung. Dass 1979 ein wichtiges Jahr war, wissen auch Metalheads nur zu gut. Denn zu diesen geballt auftretenden Folgen von Entwicklungen, die sich seit den frühen 1970er Jahren angekündigt oder schleichend vorbereitet hatten und im Jahr 1979 als Durchbruch und Zäsur wahrgenommen wurden, gehörte auch Heavy Metal. Ausgehend von frühen Klassikern wie Black Sabbath (1970) hatte diese harte Spielart der Rock-Musik musikalisch
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Vgl. Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2020. Vgl. Elke Seefried, Bruch im Fortschrittsverständnis? Zukunftsforschung zwischen Steuerungseuphorie und Wachstumskritik, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 425–449; Vgl. Fernando Esposito, Zeitenwandel. Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – eine Einführung, in: ders. (Hg.), Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017, S. 7–62. Vgl. ebd., S. 389; Vgl. auch ders., Zeitenwende 1979, Hörsaal – Deutschlandfunk Nova, 19.05.2019.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
bereits länger existiert, doch als Genre populärer Musik, als eigenständige Jugendkultur und als soziale Kraft mit entsprechender Selbstbezeichnung entstand Heavy Metal erst 1979. Der mediale Terminus der »New Wave of British Heavy Metal« (NWOBHM) führte zur breiten Übernahme der Bezeichnung »Heavy Metal« durch die Musiker und Fans,4 zur Entstehung eines spezialisierten Marktes von Produkten und Medien und zur Emanzipation von den vielen jugendkulturellen Vorgängern.5 Doch trotz dieses, durch die Musikzeitung Sounds inszenierten, Neuigkeitswertes war die Perspektive dieser musikalisch-fokussierten Jugendkultur auch hier keineswegs progressiv und auf einen »Erwartungshorizont« (Koselleck) ausgerichtet, sondern von vornherein rückwärtsgewandt und den »Erfahrungsraum« bewahrend.6 Denn eine »First Wave of Heavy Metal« hatte es genauso wie die Selbstbezeichnung in England vor 1979 nicht gegeben. Die Integration der älteren Hard Rock-Bands als neue Säulenheilige des Heavy Metals und die Etablierung einer »New Wave of British Heavy Metal« konstruierten ein ex-post-Narrativ, eine Fortschreibung in die Vergangenheit und damit in eine Zeit, die vermeintlich von größeren Sicherheiten, Wahrheiten und Kontinuitäten geprägt gewesen war. Und dies geschah mit großem und raschem Erfolg: In England gestartet, etablierten sich in den frühen 1980er Jahren in den USA, den Niederlanden und in Westdeutschland, dann in Skandinavien, Ostmitteleuropa und Kanada und schließlich überall auf der Welt regionalspezifische Metal-Szenen mit eigenen Bands und Sounds, Praktiken und empfundenen Gegnern, Körperregimen und Bewegungsmustern, sozialen Schichtungen und Geschlechterzusammensetzungen – doch mit einer zentralen Gemeinsamkeit: Sie teilten sich und teilen sich bis heute ihre soziale und kulturelle Anknüpfung an eine Gründungserzählung des Heavy Metals in der englischen Arbeiterklasse in den frühen 1970er Jahren, also einer empfundenen Vor-Krisen-Zeit, während man gleichzeitig für die Beschreibung der Gegenwart mit Post-Begriffen arbeitet.7 So ist es neben dem Instrumenten-Gerüst und einigen musikalischen Merkmalen im Grunde lediglich dieser Rekurs auf die Vergangenheit, der eines der langfristigsten und erfolgreichsten jugendkulturellen Phänomene dauerhaft integrierte und seine soziale Aufsplittung verhinderte.8 Denn auf allen anderen Ebenen erlebten Heavy Metal und seine extremen Spielarten seit 1979 einen fundamentalen historischen Wandel: Auf der technologischen Ebene durchlief man Vinyl, CD, MP3 und Streaming, um gegenwärtig partiell zum Vinyl zurückzukehren. Gleichzeitig verbilligten und egalitarisierten sich die Produktionsmethoden und -techniken enorm und mit der Digitalisierung brach eine völlig neue Epoche der
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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet bzw. empirisch nachweisbar, immer auch die weibliche Form mitgemeint. Vgl. auch die der Nostalgie gewidmete Ausgabe von Zeithistorische Forschungen 18 (2021) 1. Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 349–375. Vgl. Marco Swiniartzki, Bruch und Aufbruch. Working Men’s Clubs und die »New Wave of British Heavy Metal« im Nordosten Englands (1978–1984), in: Zeithistorische Forschungen 19 (2022) 1, S. 46–78. Zum »enduring metal« vgl. Robert Walser, Running with the devil. Power, gender, and madness in heavy metal music, Middletown 1993, S. x.
1. Open End
Aufmerksamkeitsgewinnung und Vermarktung an. Auf der kommerziellen Ebene existierten stets große Erfolge neben der »selbstgewählten« kommerziellen Randständigkeit des Undergrounds, bis zur postmodernen Entdeckung dieses Undergrounds durch die musikalischen »Omnivoren«9 , die ihr Fan-Dasein von der Beschränkung auf einen einzigen Musikstil lösen. Auf der sozialen Ebene veränderte sich der vermeintliche »boy’s club« der weißen Arbeiterklasse in den englischen Pubs durch eine soziale Öffnung in »race«, »gender« und »class« zu einem gesellschaftlich viel breiter angelegten Phänomen. Auf der medialen Ebene erlebte Heavy Metal den Wandel von einem Aussätzigen bis zur öffentlichen Rehabilitierung seiner Andersartigkeit.10 Und schließlich erweiterte sich ein anfangs relativ enges musikalisches Setup in ungeahnter Weise, integrierte Einflüsse aus den unterschiedlichsten Genres und radikalisierte sich teilweise bis in Bereiche, die der Metal-Fan von 1979 wohl als unhörbar empfunden hätte.11 Genauso wandelbar und unterschiedlich gestalteten sich die strukturellen gesellschaftlichen Grundlagen, in denen sich diese Veränderungen artikulierten: Heavy Metal war dabei stets eine wichtige Grundlage für regionale Vergemeinschaftungen von Musikern und Fans, profitierte aber von je nach Land oder Region unterschiedlichen politischen, räumlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Strukturen und Entscheidungen – und wurde von wiederum anderen permanent herausgefordert. So stand die politische Verfolgungssituation in den USA durch das »Parent’s Music Resource Center« einer uneingeschränkten staatlichen Förderung in Schweden gegenüber.12 Die euro-
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Zur These und zum Aufkommen der »Omnivoren«, die sich nicht mehr durch subkulturelle Exklusivität, sondern durch breite Kennerschaft populärmusikalischer Stile auszeichnen, vgl. die beiden Aufsätze zum Thema in Laurie Hanquinet/Michael Savage (Hg.), Routledge international handbook of the sociology of art and culture, London/New York 2016; Vgl. Klaus Nathaus, Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum. Populärmusik und soziale Differenzierung in Westdeutschland circa 1950–1985, in: Sven Oliver Müller/Jürgen Osterhammel/Martin Rempe (Hg.), Kommunikation im Musikleben. Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 251–275, hier S. 273. Vgl. Marco Swiniartzki, Das Ende der Subkultur? Zur Sozialgeschichte des Heavy Metals in den 1980er Jahren, Aufzeichnung eines Vortrags am Historischen Kolleg am 05.04.2022, URL: https:// www.historischeskolleg.de/personen/swiniartzki-marco (letzter Aufruf 25.08.2022). Zur Entwicklung des Extreme Metals vgl. Keith Kahn-Harris, Extreme Metal. Music and culture on the edge, Oxford/New York 2007; Vgl. Sarah Chaker, Schwarzmetall und Todesblei. Über den Umgang mit Musik in den Black-und Death-Metal-Szenen Deutschlands, Berlin 2014; Vgl. Nathalie Purcell, Death metal music. The passion and politics of a subculture, Jefferson 2003; Vgl. Ross Hagen, Musical Style, Ideology, and Mythology in Norwegian Black Metal, in: Jeremy Wallach/Harris Berger/Paul Greene (Hg.), Metal rules the globe. Heavy Metal Music around the world, Durham 2011, S. 180–199. Vgl. Claude Chastagner, The Parents’ Music Resource Center. From Information to Censorship, in: Popular Music 18 (1999) 2, S. 179–192; Vgl. Heike Imken, Der Erfolg des schwedischen Musikexportes. Eine vergleichende Studie zum Export und zur Geschichte der populären Musik Schwedens und Deutschlands, Münster 2014; Vgl. Anders Beyer, Der Traum von einer Gemeinschaft, in: Greger Andersson/Axel Bruch (Hg.), Musikgeschichte Nordeuropas. Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden, Stuttgart 2001, S. 375–396; Zur Musikförderung durch den Staat vgl. Celia Applegate, Prestige, Profit, and the Right to Culture. Funding Music Through the State, in: Klaus Nathaus/ Martin Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe. A handbook, München/Berlin 2021, S. 105–124, hier S. 105, 106, 114, 118.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
päischen Jugendclubs ermöglichten dort Auftritte, wo die US-amerikanischen Freunde ausschließlich kommerzielle Spielstätten mit höherem finanziellen Druck zur Verfügung hatten.13 Die regionalen Szenen rekrutierten sich aus sehr verschiedenen sozialen Milieus und griffen ihr gesellschaftliches Umfeld etwa in Stahlregionen anders auf als im sonnigen Florida oder den Vororten Stockholms.14 Metal-Szenen in den USA waren fast ausschließlich an ein suburban-organisiertes Studentenmilieu gebunden, während sich in den unterschiedlichen europäischen Stadtentwicklungen andere Herkünfte zeigten. Und nicht zuletzt zeigten sich auch hinsichtlich der familiären Verhandlung einer Musikerkarriere oder der ethnischen Öffnung der Musikkultur massive regionale Unterschiede. Dass sich trotz dieser Differenzen innerhalb der 1980er Jahre dennoch ein globales Kommunikationsnetzwerk und damit ein diese Gräben überbrückendes Band zwischen den Fans ausbildete, deutet einen wichtigen Aspekt der Historisierung der Metal-Kultur an. Denn neben der Einbettung in gesellschaftliche Wandlungsprozesse und einer regional verschieden-begründeten Krisenwahrnehmung waren das Engagement in einer Metal-Band, die Tätigkeit als Fan, als Hobby-Journalist, Proto-Manager oder lokaler Booker stets viel mehr als ein »Spiegel der Gesellschaft.« Sie zeigten in ihrer Veränderung den Wandel der 1980er Jahre an und waren gleichzeitig ein wichtiger Teil davon. Sie schufen wirkmächtige Handlungs-und Identitätsoptionen, um mit seinen schwerwiegenden Folgen umzugehen und um ihn gleichzeitig weiter voranzutreiben. Heavy Metal war demnach durchaus ein Symptom des Wandels, aber gleichzeitig auch einer von dessen globalen Katalysatoren in einer »Übergangszeit«15 , in der sich eine beispiellose technologische, räumliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung vollzog, deren Folgen noch gar nicht abzusehen waren. Denn viele Kontinuitätslinien der Nachkriegszeit – etwa die Wachstumseuphorie, die Selbstverständlichkeit beruflicher Biografien oder die gemeinschaftsbildende Kraft sozialer Milieus – begannen, so die »nach dem Boom«-These weitgehend überzeugend,16 um 1970 zu erodieren und provozierten individuelle wie soziale, kulturelle und wirtschaftliche, räumliche und kommunikative Neuverortungen, mit denen – diese These soll hier vertreten werden – die Organisation in Metal-Szenen und das Engagement auf einer oder mehreren ihrer Ebenen fest verknüpft waren. Wie sahen diese Neuverortungen aus? Es ist zunächst wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich bei den sozialen Veränderungen der Metal-Kultur (wie in allen anderen gesellschaftlichen Feldern auch) nicht um radikale Brüche handelte, sondern eine Transformation in Gang gesetzt wurde, zu deren zentralen Folgen eine zunehmende Vielschichtigkeit von wahrgenommenen Entwicklungsgeschwindigkeiten, -richtungen und -beur13 14 15
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Vgl. dazu Kap. 3. Vgl. dazu Kap. 2. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. 1982–1990, München 2006, S. 437; Vgl. auch ders., Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009) 2, S. 171–199. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl., Göttingen 2012; Vgl. dies., Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 9–34.
1. Open End
teilungen gehörte.17 Nicht jede(r) erlebte den Wandel also mit derselben Intensität und Brisanz, einige erlebten sogar gar keinen Wandel. Während zum Beispiel die Karrierewege im Erwerbsfeld der Metal-Kultur in Nordengland oder im Ruhrgebiet eine deutliche Anknüpfung an die erodierenden Stahlindustrien besaßen und die Bands und Fans diese regionale Deindustrialisierung dementsprechend verhandelten, artikulierte sich der Veränderungsdruck auf deren Freunde in der Stockholmer Mittelklasse oder in den Vororten der Metropolen Floridas ganz anders – er entsprang anderen Zukunftsperspektiven, Herkünften und individuellen Möglichkeiten. Gleiches trifft auch auf die sehr unterschiedliche Repräsentation von Frauen oder Schwarzen in Metal-Bands und MetalSzenen zu oder lässt sich bei der Suche nach Proberäumen und Spielstätten im Zuge der urbanen Dezentralisierung beobachten. Um dieser neuen Unübersichtlichkeit gerecht zu werden, hat die Forschung mehrere Scharniere vorgeschlagen, die methodisch (Kap. 1.3.2) und sozial angelegt sind und als Beobachtungs-und Beschreibungsperspektiven in diesem Buch öfter begegnen werden. Dazu gehört vor allem die in den vergangenen Jahren verstärkt auftretende Frage, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern des Wandels zu zählen ist.18 Der MetalKultur ist in dieser Hinsicht qua Gründungserzählung bereits eine klare Fokussierung eingeschrieben worden, die von wichtigen wissenschaftlichen Studien zu einer defensiven Reaktion auf die Prekarisierung der Arbeiterklasse weiterentwickelt wurde19 – aber so gar nicht zu einer postmodernen Gesellschaftstheorie passen möchte, die in der Zurschaustellung von Distinktion ein Grundmuster unseres Zusammenlebens erkannt hat20 und auch nicht in der Lage ist, zu erklären, wieso sich Heavy Metal der Mittelklasse öffnete oder warum sich kulturtouristische Angebote um die Hinterlassenschaften der MetalSzenen der 1980er Jahre ausbildeten. Eine Historisierung der Gewinner und Verlierer soll daher die nötige Sensibilität für den Wandel dieser Begriffe und Zuschreibungen herstellen und prüfen, welchen Veränderungen die Akteure arbeitsbiografisch, szeneintern, kommerziell und musikalisch ausgesetzt waren und wie ihr Engagement zu individuellen wie sozialen Neuorientierungen führte. Ein zweites Scharnier für die Erklärung eines multiperspektivischen Wandels bezieht sich auf die Veränderungen zwischen einzelnen Alterskohorten (in Interviews gerne als »Generationen« adressiert).21 Auch hier hat die frühe, psychologisierende
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Vgl. Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 14–16. Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, S. 32; Vgl. Christian Marx/Morten Reitmayer (Hg.), Gewinner und Verlierer nach dem Boom. Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte, Göttingen 2020. Zentral und einflussreich hier: Deena Weinstein, Heavy Metal. A cultural sociology, New York 1991. Zur Problematisierung dieser These vgl. Kap. 2. Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2020; Vgl. ders., Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Frankfurt a.M. 2021. Plädoyer bei Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, S. 33; Zur Problematisierung von »Generation« und »Alterskohorte« vgl. Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006, S. 124–131.
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Forschung die Selbstbeschreibung der Musiker reproduziert und ging von einem generationellen Bruch aus, provoziert durch ein musikalisches Engagement, das die Älteren schocken sollte.22 Da die seit Kurzem aufkeimende Forschung zur generationellen Verhandlung von Pop-Phänomenen jedoch zu ganz anderen Ergebnissen kommt und auch die soziologische Forschung eher langsame Ablösungs-und keine Brucherfahrungen vermutete,23 widmet sich das Buch erstmals der »Generationenfrage« für die Metal-Kultur. Es wird dabei gefragt, wie die durch die Tätigkeit als Musiker oder Fan angestoßenen Veränderungen – in der Erwerbsbiografie, in der Kleidung, im Verhalten und in den Zukunftsperspektiven – im familiären Umfeld verhandelt wurden. Parallel zu dieser Beziehung zu den Eltern liegt der Fokus aber auch immer wieder auf geringeren Altersunterschieden und prüft, wie die Abgrenzungserscheinungen zwischen älteren und jüngeren Fans, zwischen Geschwistern oder zwischen Musikern mit Altersunterschieden in einer Band bzw. Szene auf die Tradierung oder den Bruch bestimmter Deutungsmuster, Wertvorstellungen oder Praktiken wirkten. Auf diese Weise betrachtet, ist es dann möglich, den historischen Wandel innerhalb der neuen Unübersichtlichkeit zu erfassen und zu beschreiben, wie sich die von der Forschung angesprochenen Veränderungen anbahnten, wie sie familiär, individuell oder szenisch implementiert, abgelehnt, dynamisiert oder modifiziert wurden. So können der vielbeschworene Wertewandel als Konfrontation um das Sag-, Mach-und Denkbare, die Entstehung neuer Kommunikationsformen als innovativer Aushandlungsprozess, die Veränderung von Arbeitsbiografien als problematisches Aufeinanderprallen »alter« und »neuer« Erwerbsmuster oder die Gründung von Bands als Suche nach der gemeinsam organisierten Individualität prozessual nachvollzogen und für die Diskussion um die 1980er Jahre anschlussfähig gemacht werden. Im Zentrum dieser neuen Reibungsflächen des »Alten« und des »Neuen« stand das Einsickern jugendkultureller Selbstverständlichkeiten in breitere Bevölkerungsschichten und damit verbunden vor allem die Aufwertung des distinkten Konsums. Die Fokusverschiebung von den radikalen und alternativen Gegenkulturen der Jugend in den 1960er und 1970er Jahren hin zu einer kaum zu überschauenden Vielzahl lokaler Szenen mit ihren authentizitätsbezogenen Lebensstilen, sowie die zunehmende Entkopplung der Jugend(sub)kulturen von sozialen Milieus veränderten die Beziehung von Distinktion und Gesellschaft grundlegend.24 Denn sie lösten die jugendkulturellen Qualitä22
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Vgl. Jeffrey Jensen Arnett, Metalheads. Heavy metal music and adolescent alienation, Boulder 1996; Vgl. Tasha Howe u.a., Three Decades Later. The Life Experiences and Mid-Life Functioning of 1980s Heavy Metal Groupies, Musicians, and Fans, in: Self and Identity 14 (2015) 5, S. 602–626. Vgl. etwa Michael Vester, Class and Culture in Germany, in: Fiona Devine/Michael Savage/John Scott (Hg.), Rethinking Class. Cultures, identities and lifestyles, Basingstoke 2016, S. 69–94, hier S. 92f.; Vgl. Gillian Mitchell, Adult responses to popular music and intergenerational relations in Britain, c. 1955–1975, London 2019. Zur Problematisierung vgl. Kap. 2. Vgl. Knud Andresen/Bart van der Steen, The Last Insurrection? Youth, Revolts and Social Movements in the 1980s, in: dies. (Hg.), A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, London 2016, S. 7: »The focus of radical and alternative youths consequently shifted to a search for authenticity, small-scale comprehensible spaces and scenes, experimental lifestyles and esotericism. Subjectivity and a politics of emotion gained a central place in the movements.«; Vgl. Wilfried Ferchhoff, Jugendkulturen im 20. Jahrhundert. Von den sozialmilieuspezifischen Jugendsubkulturen zu den individualitätsbezogenen Jugendkultu-
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ten von einer bestimmten Lebensphase: Die Identitätsangebote von Szenen verloren immer stärker ihren transitorischen Charakter zwischen Kindheit und Erwachsenenalter und wurden zum Lebensinhalt. Diese Alterung der vormaligen Jugendkulturen, für die die Metal-Kultur eines der langfristigsten und quantitativ bedeutendsten Beispiele darstellt,25 gehört zu den wichtigsten Indizien für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel, in dem – provoziert durch die vielfältigen Krisenwahrnehmungen der 1970er und 1980er Jahre – alte Identitätsangebote erodierten und neue gefunden, oder in diesem Fall: beibehalten wurden. Denn sämtliche klassischen Vergemeinschaftungsformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts steckten seit den 1970er Jahren in der Krise: Arbeitsbiografien wurden entstandardisiert und taugten weniger als individueller wie sozialer Zugehörigkeitsgradmesser zu einem Unternehmen, einer Belegschaft oder einem beruflichen Selbstverständnis.26 Kirchen verloren Mitglieder und entwickelten vor allem auf die Jugend weniger Zugriff.27 Gewerkschaften und der mit ihnen verbundene, auf Milieus oder Klassen rekurrierende Solidaritätsbegriff steckt nach einer Hochphase während der 1970er Jahre ebenfalls in der Krise.28 Wohnformen und Wohnorte wurden im Zuge der urbanen Dezentralisierung und schließlich im heraufziehenden »new urbanism« wild durcheinandergewürfelt und alte soziale Bande durchschnitten.29 In dieser Krisensituation schlug die Stunde des distinkten Konsums – einer Praktik sowie Denkfigur, die zur kulturellen und sozialen Abgrenzung und Identitätsbildung bereits seit den 1950er Jahren durch die Jugendkulturen angewendet wurde, nun aber in ihrer Suche nach dem Anderen, dem Neuen, dem Eigenen und Hervorstechenden, eine (international nicht zeitgleiche30 ) gesamtgesellschaftliche Rehabilitierung erfuhr und dadurch die gesellschaftliche Logik massiv veränderte. Konsum wurde zum Mittel zur Feststellung individueller und sozialer Zugehörigkeit und Wertschätzung und war
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ren, Frankfurt a.M. 1990; Zu den 1960er Jahren als »Sattelzeit einer politischen und kulturellen Pluralisierung« vgl. Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, hier S. 10. Vgl. Paul Hodkinson/Andy Bennett (Hg.), Ageing and youth cultures. Music, style and identity, London 2012. Heavy Metal findet jedoch unverständlicherweise keine Berücksichtigung in diesem Sammelband. Vgl. Andreas Wirsching, Erwerbsbiographien und Privatheitsformen. Die Entstandardisierung von Lebensläufen, in: Thomas Raithel (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 83–97; Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 299–309. Vgl. Thomas Großbölting, Bundesdeutsche Jugendkulturen zwischen Milieu und Lebensstil. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 31 (2004), S. 59–80. Vgl. Stefan Wannenwetsch, Unsolidarische Solidarität? Sprach-und Organisationspolitik im DGB 1945–1990, in: Archiv für Sozialgeschichte 60 (2020), S. 183–212. Der Autor stellt hier bezeichnenderweise Überlegungen über »Das Ende der Solidarität ›nach dem Boom‹?« an. Vgl. Libby Porter/Kate Shaw (Hg.), Whose urban renaissance? An international comparison of urban regeneration strategies, London 2009. Problematisierung in Kap. 3. Vgl. den zeitlichen Verzug der »Rehabilitierung« des Konsumenten von den Prämissen der Kritischen Theorie in den USA und in Deutschland bei Wirsching, Konsum statt Arbeit?, S. 192f.
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nicht mehr fixiert auf einen festgelegten Standard, sondern zunehmend instrumentalisiert als neues Mittel der abgrenzenden Selbstwertschöpfung. Die in Kunst und Kultur vorbereitete Fähigkeit, das eigene Ich durch Produkte kreativ zu gestalten, zu präsentieren und sich dadurch zu singularisieren, erlebte eine Entkopplung von Alter und sozialer Stellung.31 Aufgrund dieser Pluralisierungstendenzen »durchlief – und durchläuft« – so Thomas Mergel – das Soziale »einen grundlegenden Bedeutungswandel.«32 Mit Blick auf die (ehemaligen) Jugendkulturen ist dieser Wandel theoretisch erkannt und problematisiert worden, aber bisher kaum Gegenstand einer empirischen Überprüfung gewesen. Die Forderungen, die makrohistorischen Wandlungsphänomene mit historischer Tiefenschärfe auf der Mikro-und Mesoebene zu überprüfen,33 sind zwar durchaus für die wirtschaftliche und politische Ebene aufgegriffen worden,34 besitzen aber an der Schnittstelle kultureller und sozialer Prozesse weiterhin einen blinden Fleck. Für die Sozialgeschichte der Metal-Kultur möchte dieses Buch daher im Folgenden einige leitende Fragen stellen und den Faden der gesellschaftlichen Transformationsforschung aufnehmen: Wie weit reichte die identitätsbildende Kraft des Konsums in den 1980er Jahren in der Metal-Kultur? Handelte es sich tatsächlich um einen fundamentalen Umbruch für die Akteure, der den Lebensstil an die Stelle ehemaliger Vergemeinschaftungs-und Sinnbildungsangebote rückte? Wie waren das »Alte« und das »Neue« im Scharnierjahrzehnt der 1980er Jahre miteinander verknüpft? Wo lassen sich ein Wandel und wo persistente Muster beobachten? In diesem Zusammenhang soll die einleitende These aufgestellt werden, dass Heavy Metal und die sich anschließenden Sub-Genres des Extreme Metals während der »langen 1980er Jahre« (1978–1995) in ihrer sozialen Kraft und kommerziellen Potenz eindeutig zu den Elementen dieses Wandels gehörten. Auf vielen Ebenen – etwa Arbeit, Kommunikation, Mobilität oder Konsum – erweiterten sich die Spielräume der Metalheads und auch die Art und Weise, wie sie diese Spielräume in ihren Tätigkeiten als Musiker und/oder Fan nutzten, bzw. wie sie dadurch politische, räumliche oder soziale Schranken überwanden. (Heavy) Metal war also ein Pop-Phänomen in unmittelbarem Bezug zum gesellschaftlichen Wandel. Die Veränderung der gesellschaftlichen Positionierung und Wertschätzung für das Metal-Phänomen ist mit diesem Wandel natürlich ebenfalls untrennbar verbunden. Als 31
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Vgl. Andreas Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial-und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016, S. 185–214; Vgl. ders., Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, 5. Aufl., Berlin 2017, S. 51–53, 316–318. Thomas Mergel, Die Sehnsucht nach Ähnlichkeit und die Erfahrung der Verschiedenheit. Perspektiven einer Europäischen Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 417–434, hier S. 430. Vgl. André Steiner, Abschied von der Industrie? Wirtschaftlicher Strukturwandel in West-und Ostdeutschland seit den 1960er Jahren, in: Werner Plumpe/André Steiner (Hg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Göttingen 2016, S. 15–54, hier S. 35; Vgl. Großbölting, Bundesdeutsche Jugendkulturen, S. 63; Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 478. Vgl. Arne Hordt, Kumpel, Kohle und Krawall. Miners’ Strike und Rheinhausen als Aufruhr in der Montanregion, Göttingen 2018; Vgl. Rapahel, Jenseits von Kohle und Stahl; Vgl. Reitmayer/Marx (Hg.), Gewinner und Verlierer; Vgl. Sebastian Voigt (Hg.), Since the boom. Continuity and change in the Western industrialized world after 1970, Toronto/Buffalo/London 2021.
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mit einer spezifischen sozialen und kulturellen Formation, nämlich der Arbeiterklasse, verbundene Gründung erlebte Heavy Metal einen bis heute anhaltenden Siegeszug, erlebte einen Wandel seiner Anhängerschaft von der Arbeiterklassenjugend bis in alle gesellschaftlichen Gruppen und Alterskohorten, wurde von der marginalisierten, angefeindeten und schockierenden Musik, Kleidung und Symbolik zu einem Phänomen, dem sich selbst das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen, die Wissenschaft und die großen Plattenfirmen nicht mehr verschlossen.35 Dabei befinden wir uns, das deutet Thomas Mergel an und darauf weist auch Andreas Reckwitz hin,36 noch mitten in diesem Wandel der gesellschaftlichen Bewertungs-und Funktionslogik – während Metal immer »normaler« wird, positionieren wir uns aber für seine Beschreibung und unsere gesellschaftliche Verortung in Post-Begriffen, die höchstens anzeigen, wie und wo wir nicht mehr leben.37 Weil fluide Zugehörigkeiten, individuelle Bastelbiografien und der permanente Komparativ der medialen Aufmerksamkeit anscheinend dieses Bedürfnis nicht erfüllen, besteht ein Orientierungsbedürfnis nach festeren Mustern, die nicht die unsichere Zukunft, sondern die zunehmend nostalgisierte, imaginierte und verklärte Vergangenheit bietet.38 Je weiter die vermeintlich starke gemeinschaftliche Bindung, hohe Planungssicherheit und Simplizität der Industriegesellschaft, die das Metal-Phänomen angeblich begründeten, schwinden, desto größer wird dieses Bedürfnis. So ist es auch zu erklären, dass das Erneuernde der Metal-Kultur sowohl musikalisch wie sozial jedoch stets im Rekurs auf das »Alte«, also die Gründungserzählung in der Arbeiterklasse, formuliert wurde und es steht zu vermuten, dass es sich bei der Metal-Kultur immer auch um eine Form der Erinnerungskultur handelte, die Zukunftsorientierung aus der Rückschau bezog. Heavy Metal und die durch die Musik evozierte Gemeinschaft – so die zweite hier vertretene These – sind genau an dieser Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft angesiedelt. Sie versprechen im Stile einer »imagined community«39 feste Regeln, Wahrheiten und Zugehörigkeiten im Rekurs auf eine Gründungserzählung der »working class brotherhood«, sie schreiben als Lebensstil alte Orientierungsmuster weiter, die sich in den jeweiligen Alltagen ihrer Träger kaum noch ausmachen lassen und sie federn Umbrucherfahrungen in der gesellschaftlichen Transformation ab. Heavy Metal und seine Szenen und Praktiken stehen dadurch permanent zwischen dem verklärenden Vergangenheitsbezug und dem dynamischen Neuorientierungszwang der Gegenwart. Sie re-
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Vgl. Swiniartzki, Das Ende der Subkultur?; Vgl. Karl Spracklen, There’s (almost) no alternative. The slow ›heat death‹ of music subcultures and the instrumentalization of contemporary leisure, in: Annals of Leisure Research 17 (2004) 3, S. 252–266. Vgl. Mergel, Die Sehnsucht nach Ähnlichkeit; Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten; Vgl. ders., Das Ende der Illusionen. Für die spannende Idee einer verknüpfenden Funktion des Metals zwischen industrieller und postindustrieller Welt vgl. Jörg Scheller, Metalmorphosen. Die unwahrscheinlichen Wandlungen des Heavy Metal, Stuttgart 2020, S. 54. Jedoch werden dort für diese These keine Belege angeführt. Zum Begriff vgl. Martin Sabrow, Nostalgie als historisches Zeit-Wort, in: Zeithistorische Forschungen 18 (2021) 1, S. 140–150. Vgl. Wallach/Berger/Greene, Affective Overdrive, Scene Dynamics, and Identity in the global metal scene, in: dies. (Hg.), Metal rules the globe, S. 3–33, hier S. 4; Ursprünglich Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1987.
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duzieren dabei soziale Komplexität und stiften ein Zukunftsnarrativ, während sie parallel eine umfassende Kommerzialisierung und Anpassung an die gesellschaftliche Logik des Neuen erleben40 – eine sehr spannungsreiche Ambivalenz, die in den Szenen immer wieder neu verhandelt wird. Nur dadurch lässt sich letztlich erklären, warum Heavy Metal noch existiert und nicht die Entwicklung älterer Jugendkulturen nahm: Der Grund für die Widerstandsfähigkeit ist nicht nur musikalisch zu suchen – Heavy Metal war und ist eine soziokulturelle Brücke in einem gesellschaftlichen Wandel ohne klar fixierten Zielpunkt.
1.1 Leerstellen zwischen kultur- und politikzentrierten Perspektiven Mit diesen Worten ist auch bereits grob eingeordnet, worum es in diesem Buch gehen soll: Heavy Metal und die Spielarten des Extreme Metals werden als sozialgeschichtliche Vergemeinschaftungsangebote in ihrer wechselvollen Beziehung zum gesamtgesellschaftlichen Wandel beschrieben. Dies verortet das Buch in der Pop-Geschichte: Einerseits, weil hier einem Phänomen des Pop kein Nischendasein, sondern eine wesentliche gesellschaftliche Funktion zugeschrieben wird, die »keine bloße Ergänzung zur geschichtsmächtigen Sphäre des Politischen darstellt, sondern vielmehr einen ›Kommunikationsraum, in dem große Teile der Gesellschaft über ihre Bedürfnisse verhandeln‹ und in dem daher ›Politik gemacht wird‹.«41 Andererseits versteht sich das Buch aber auch als »Korrektiv« in einem historischen Bereich, der durch Künstler-, Band-und Szene-Erzählungen sehr schnell der »Mystifizierung« und »Selbstverkultung« anheimgefallen ist und möchte im Sinne der Pop-Geschichte eine Reproduktion dieser Narrative unbedingt vermeiden.42 Eine solche Sichtweise entspricht nicht den bisherigen wissenschaftlichen Perspektiven auf das Metal-Phänomen, wo die Anbindung an den Wandel des Sozialen, die gesellschaftliche Perspektivierung – also die Frage, ob und wieso Heavy Metal einen wichtigen Bestandteil der Zeitgeschichte ausmachte – weitestgehend fehlen.43 Sie leisten zum überwiegenden Teil nicht, was kürzlich als zentraler Beitrag der Historiker zur Geschichte des Umgangs mit Musik herausgestellt wurde: nämlich ein Gespür für Temporalität, Räumlichkeit und Kontextualisierung sowie die weniger verbreitete Neigung, eine eigene Position im Streit zwischen »E-« und »U-Kultur« einzunehmen.44 Vielmehr
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Als Kritik an der Reproduktion dieser Erinnerungsregime durch die Forschung vgl. Stefan Berger, Representing the Industrial Age. Heritage and Identity in the Ruhr and South Wales, in: Peter Itzen/ Christian Müller (Hg.), The Invention of Industrial Pasts. Heritage, political culture and economic debates in Great Britain and Germany, 1850–2010, Augsburg 2013, S. 14–35, hier S. 31f. Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek, Einleitung, in: dies. (Hg.), Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld 2014, S. 7–31, hier S. 13. Vgl. ebd., S. 10f. Eine der wenigen Ausnahmen: Nikolai Okunew, Red Metal. Die Heavy-Metal-Subkultur der DDR, Berlin 2021. Vgl. Klaus Nathaus/Martin Rempe, Introduction. Musicking in Twentieth-Century Europe, in: dies. (Hg.), Musicking, S. 3–30, hier S. 10.
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wird der Diskurs von der kulturwissenschaftlichen Forschung dominiert, die sich zunächst im Zuge der Subkulturforschung durch die Studien des Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham inspirieren ließ, um sich anschließend umso stärker den Post-Subcultural Studies zuzuwenden. Anstatt die Ansätze beider »Schulen« hier erneut zusammenzufassen, möchte ich im Folgenden die inhaltlichen und methodischen Probleme aufzeigen, die einer geschichtswissenschaftlichen Anschlussfähigkeit dieser Forschungen bisher im Wege standen.45
1.1.1
Heavy Metal und die Cultural Studies
Das zentrale wissenschaftliche Organ der Cultural Studies in der Metal-Forschung ist Metal Music Studies, eine in England von der International Society for Metal Music Studies (ISMMS) herausgegebene Zeitschrift. Deren Beiträge haben seit 2014 viel dazu beigetragen, das neue Forschungsfeld zu erschließen, zu globalisieren und zu diversifizieren. Obgleich die Zeitschrift allen Disziplinen offensteht, weist sie eine deutliche Fokussierung auf ein lebensweltliches kulturwissenschaftliches Konzept auf, das am Beispiel einzelner Songs, Bands oder Künstler die meist gegenwärtige Verhandlung von Normen und Werten beschreibt. Indem die Zeitschrift seit ihrer Gründung dabei half, die kulturellen Codes, symbolischen Denkfiguren und Sinnstiftungsangebote von unterschiedlichen Metal-Bands oder -musikern zu verstehen, hat sie auch mit psychologisierenden Ansätzen gebrochen, die die Metal-Musik in den 1990er Jahren in die Nähe der Delinquenz und Entfremdung gerückt und die frühe wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema bestimmt hatten.46 Aus diesen Gründen ist es auch nicht der kulturwissenschaftliche Ansatz per se, der hier kritisiert wird, sondern ein methodisches Problem, das sich erst aus der geschichtswissenschaftlichen Sicht ergibt: Denn dort, wo sich viele Studien innerhalb der Metal Music Studies nicht über den präsentistischen Tellerrand des Forschungs-Mainstreams bewegen, Literatur aus einem festgelegten theoretischen Kanon rezipieren und neben ihrem theoretischen Fundament nur sehr selten neues Quellenmaterial vorstellen, besteht »wenig Gefahr« – grundlegendere Fragestellungen der Pop-und Gesellschaftsgeschichte werden nicht angerissen und Heavy Metal bleibt gewissermaßen das, was es aus Sicht vieler forschender Fans ohnehin ist: eine sozial klar abgrenzbare, kulturell und
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Als Überblicke: Vgl. Bodo Mrozek, Subkultur und Cultural Studies. Ein kulturwissenschaftlicher Begriff in zeithistorischer Perspektive, in: Geisthövel/Mrozek (Hg.), Popgeschichte, S. 101–125; Vgl. David Hesmondhalgh, Recent concepts in youth cultural studies. Critical reflections from the sociology of music, in: Paul Hodkinson/Wolfgang Deicke (Hg.), Youth cultures. Scenes, subcultures and tribes, New York 2008, S. 37–50; Vgl. Klaus Nathaus, Why ›Pop‹ Changed and How it Mattered (Part I). Sociological Perspectives on Twentieth-Century Popular Culture in the West, in: Soziopolis (2018), URL: https://www.soziopolis.de/beobachten/kultur/artikel/why-pop-changed-and-how-it -mattered-part-i/ (letzter Aufruf 25.08.2022), S. 1–22. Vgl. Donna Gaines, Teenage Wasteland. Suburbia’s Dead End Kids, Chicago 1997; Vgl. Arnett, Metalheads; In der Kritik bei Andy Bennett, Cultures of popular music, Buckingham 2001, S. 42–52.
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historisch insulare Erscheinung des »Empowerments« ganz im Sinne der Gründungserzählung des Genres.47 Doch dort, wo sich kulturwissenschaftliche Studien dagegen auf historische Argumente stützen wollen, gleicht das Vorgehen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht oft einem ärgerlichen Stückwerk, was besonders daraus resultiert, dass eine Kontextualisierung ausbleibt.48 Historische Argumente und Prozesse werden dann wie Fragmente eines Selbstbedienungsladens ohne jeglichen temporalen oder räumlichen Bezug aneinandergefügt, Analogieschlüsse zwischen Mikroprozessen wie Band-Herkünften oder Songtexten mit gesamtgesellschaftlichen Großwetterlagen gezogen und derart durch die »Zeit« gesprungen, dass Heavy Metal sogar mit Aspekten der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kultur-und Ideengeschichte vermengt wird.49 Auch wenn die Geschichte der im Heavy Metal verwendeten Ästhetik möglicherweise das Ziehen längerer Linien ermöglicht, bleibt hier dennoch meist fraglich, wie diese Beobachtungen den Anforderungen historischer Forschung an eine Präzision des zeitlichen Kontexts einerseits und an die Quellendiversität andererseits gerecht werden sollen, die es braucht, um derartige Verknüpfungen von Mikroerscheinungen und Makroprozessen nachvollziehbar zu untermauern.50 Ein zweites methodisches Problem neben dieser Ahistorizität seitens großer Teile der Cultural Studies bleibt die deutliche persönliche Nähe der meisten Wissenschaftler zu ihrem Untersuchungsgegenstand – und dabei vor allem zu den der Metal-Kultur von Beginn an eingeschriebenen Emanzipationsnarrativen, die sich auf problematische Weise mit der deduktiven Forschungsmethode verbinden. Bereits 2014 diagnostizierten Rolf Nohr und Herbert Schwaab die Gefahr eines Metal-Diskurses in den Cultural Studies, »der häufig noch immer Gefahr läuft, sich selbst darauf zu reduzieren, Metal zu legitimieren.«51 Die Autoren erkannten klar das Problem einer Forschungslandschaft von
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Eine Verlängerung erfährt dieses Narrativ vor allem dort, wo sich dem Heavy Metal als Gegenkultur und Kontroverse gewidmet wird. Vgl. Titus Hjelm/Keith Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal. Controversies and countercultures, Sheffield 2013. Gleiches gilt für Studien, die das psychologische Stigma umkehren und Heavy Metal als Methode der jugendlichen Konfliktbewältigung bewerten. Vgl. Paula Rowe, Heavy Metal Youth Identities. Researching the Musical Empowerment of Youth Transitions and Psychosocial Wellbeing, Bingley 2018. Als Plädoyer, um dieses Defizit zu überwinden, vgl. Peter Pichler, Metal Music, Sonic Knowledge, and the Cultural Ear in Europe since 1970. A Historiographic Exploration, Stuttgart 2020. Trotzdem zieht der Autor hier viele Analogieschlüsse zwischen empirischen Beobachtungen, die aus dem historischen Kontext gelöst wurden. So unter anderem bei Deena Weinstein, Heavy Metal. The Music and its Culture, Cambridge 2000, S. 16; Vgl. auch Scheller, Metalmorphosen. Zwar betrachtet er den ästhetischen Fokus seiner Studie als einen, der einer streng geschichtswissenschaftlichen Herangehensweise nicht entspreche (S. 36), historisiert dann aber dennoch über ganze Epochen hinweg. Vgl. Klaus Nathaus, Rezension zu Peter Pichler, Metal Music, Sonic Knowledge, and the Cultural Ear in Europe since 1970. A Historiographic Exploration, Stuttgart 2020, in: Historische Zeitschrift 314 (2021) 2, S. 555f. Vgl. Rolf F. Nohr/Herbert Schwaab, »Was muss man tun, damit es metallen ist?« Die Medienwissenschaften und die Erweiterung der Metal Studies, in: Florian Heesch/Anna-Katharina Höpflinger (Hg.), Methoden der Heavy Metal-Forschung. Interdisziplinäre Zugänge, Münster 2014, S. 135–151, hier S. 140.
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wissenschaftlichen Fans, die nun akademisch nachzuholen versuchten, was der MetalKultur öffentlich, wissenschaftlich und musikkritisch lange abgesprochen wurde. Die Ergebnisse der Cultural Studies seien demnach auch nicht per se falsch, sondern vorherbestimmt und Nohr und Schwaab folgerten »Unseres Erachtens fehlt hier ganz offensichtlich der Fragecharakter.«52 Man findet also meist, was man sucht und wiederholt die methodische Problematik psychologisierender und pejorativer Studien der frühen 1990er Jahre, die politische Reaktionen für ihre vernichtenden Ergebnisse über vermeintliche Folgen eines MetalKonsums forderten, unter umgedrehten Vorzeichen.53 Affirmative Grundhaltungen gegenüber der Metal-Kultur sind daher in der bisherigen Forschungslandschaft geradezu omnipräsent,54 blieben jedoch auch aus den eigenen Reihen nicht völlig unhinterfragt. Forschern wie Keith Kahn-Harris, die sogar forderten, dass sich die »metal intellectuals« für eine Öffnung der Metal-Szenen gegenüber Minderheiten einsetzen sollten und einen wissenschaftlich-basierten Aktivismus präferierten,55 stehen solche wie Andy Brown gegenüber, die die Rolle des »academic fan« grundsätzlich hinterfragen und die Beschäftigung mit der Metal-Kultur als Teil eines akademischen Rennens um kulturelles Kapital betrachten. Für Brown wäre es daher besser, die sozialen und kulturellen Verbindungen zwischen Metal und Wissenschaft auf ihre trennenden und verbindenden Eigenschaften hin zu untersuchen anstatt dem Phänomen künstlich eine politische Bedeutung einzuschreiben, um im akademischen Diskurs gut dazustehen.56 Trotz des vereinzelt formulierten Rates, bei der Übernahme subkultureller Deutungen als aktiv Beteiligter vorsichtig zu sein,57 hat Heavy Metal im wissenschaftlichen Mainstream dennoch einen Weg vom Teil des gesellschaftlichen Problems zum Teil der gesellschaftlichen Lösung durchgemacht58 und die Cultural Studies haben dadurch den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Viele Forschende haben die Nonkonformitätserzählungen ihrer eigenen Szenen aufgenommen und reproduziert und dadurch eine
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Ebd., S. 141. Vgl. Andy R. Brown, Heavy Genealogy. Mapping the Currents, Contraflows and Conflicts of the Emergent Field of Metal Studies, 1978–2010, in: Journal for Cultural Research 15 (2011) 3, S. 213–242, hier S. 214, 224, 229. Vgl. zum Beispiel Karen Bettez Halnon, Heavy metal carnival and dis-alienation. The politics of grotesque realism, in: Symbolic Interaction 29 (2006) 1, S. 33–48; Vgl. Harris M. Berger, Metal, Rock, and Jazz. Perception and the phenomenology of musical experience, Hanover 1999; Vgl. Jack Harrell, The Poetics of Deconstruction. Death Metal Rock, in: Popular Music and Society 18 (1994) 1, S. 91–107; Vgl. Weinstein, Heavy Metal, passim.; Vgl. jeden Beitrag in Hjelm/Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal. Controversies and Countercultures. Vgl. Keith Kahn-Harris, ›Coming Out‹. Realizing the possibilities of metal, in: Florian Heesch/Neill Scott (Hg.), Heavy metal, gender and sexuality. Interdisciplinary approaches, London/New York 2016, S. 26–38, hier S. 36. Vgl. Andy R. Brown, A manifesto for metal studies: Or putting the ›politics of metal‹ in its place, in: Metal Music Studies 4 (2018) 2, S. 343–363, hier S. 344–346; Vgl. auch ders., Heavy Genealogy. Vgl. Paul Hodkinson, ›Insider Research‹ in the Study of Youth Cultures, in: Journal of Youth Studies 8 (2005) 2, S. 131–149, hier S. 146f.; Vgl. Bart van der Steen/Thierry P. F. Verburgh, Introduction. Researching Subcultures, Myth and Memory, in: dies. (Hg.), Researching subcultures, myth and memory, Cham 2020, S. 1–16, hier S. 2f. Hervorragend ersichtlich etwa bei Rowe, Heavy Metal Youth Identities.
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»Art Gegennormalität« (Alexa Geisthövel) ausgerufen, in der »guter Pop hieß und heißt: geeignet, Selbstbestimmung, Subversion und Widerstand zu transportieren, und immer in Gefahr, kommerziell vereinnahmt zu werden.«59 Der für andere Pop-Phänomene zu beobachtende Wandel, in dem die Popular Music Studies zunehmend die positive Bewertung der musikalischen Sozialisationseffekte anzweifeln und stattdessen den kommerziellen, unfreien und vorurteilsbeladenen Kern des Musikgeschäfts betonen, hat zumindest in den Metal Music Studies noch keinen Niederschlag gefunden.60 Die dabei festzustellende Neigung, den authentischen, gesellschaftlich ausgegrenzten, die bestehenden Grenzen austestenden Metal gegen kommerzielle und mediale Vereinnahmungen in Stellung zu bringen und als Teil einer selbstbestimmt-kritischen Lebensführung zu würdigen,61 ist einerseits historisch problematisch und anachronistisch, weil gesellschaftliche Frontstellungen der Gegenwart sich nicht ohne weiteres auf die 1980er Jahre übertragen lassen. Ebenso wie Eric Hobsbawm im Jahr 1989 bemerkte, dass der Jazz in der Neuauflage seiner Dissertation von 1959 nicht mehr der Affirmation bedurfte, trifft dies auf Heavy Metal im 21. Jahrhundert auch zu.62 Andererseits erwies sich das Narrativ vom »proud pariah« (Deena Weinstein) für historische Perspektiven als Bürde, weil die Forschenden zum Teil den zahlreich vorhandenen Selbstbeschreibungen aufsaßen, die Metal-Musik als Rebellion, Entfremdung, stolze Andersartigkeit, Befreiung oder Lektion fürs Leben einordneten63 – ein musikalisch bereits fragwürdiges Vorgehen, das die Kommerzialisierung der Musik und die Genese von Genre-Konventionen genauso außen vor lässt wie die mediale und ebenfalls kommerzielle Vermittlung von Werturteilen. Reibung wurde hier mit einer imaginierten Gesamtgesellschaft vermutet, nicht in der »Subkultur« selbst. 59 60 61
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Alexa Geisthövel, Lebenssteigerung. Selbstverhältnisse im Pop, in: dies./Mrozek (Hg.), Popgeschichte, S. 177–199, hier S. 180f. Vgl. Klaus, Nathaus, Die Musik der weißen Männer. Zur Kritik des popgeschichtlichen Emanzipationsnarrativs, in: Mittelweg 36 (2016) 4/5, S. 81–97, hier S. 81f. Vgl. Spracklen, There’s (almost) no alternative; Vgl. Rowe, Heavy Metal Youth Identities; Vgl. Ryan M. Moore, The Unmaking of the English Working Class. Deindustrialization, Reification and the Origins of Heavy Metal, in: Gerd Bayer (Hg.), Heavy metal music in Britain, Farnham 2009, S. 143–160. Vgl. Thorsten Hindrichs/Andreas Linsenmann, Zum Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung – Hobsbawm, Newton und Jazz, in: dies. (Hg.), Hobsbawm, Newton und Jazz. Zum Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung, Paderborn 2016, S. 7–29, hier S. 10f. Dazu einige Beispiele: Gary Holt (Exodus), in: David Wagner, Fans, bands tout Bay Area’s thrash metal legacy, in: The San Francisco Chronicle, 11.12.2011: »I think that goes back to our upbringing in the blue-collar working class. […] All that prosperity didn’t trickle down to us. We were the longhaired kids that lived in ghettos and didn’t fit in where we lived. The only place we did fit in was with our friends at shows.«; Vgl. Interview des Verfassers mit Andreas Lackaw und Arnd Klink (Darkness): »Der Freundeskreis bestand aus immer mehr Gleichgesinnten, wir waren zwar immer noch eine Minderheit, es hat wahrscheinlich nicht mal für den Begriff ›Randgruppe‹ gereicht, aber wir waren stolz, anders als 98 % der restlichen Kids zu sein.«, Z. 28–32; Vgl. Tom Stevens, in: Chris Forbes, Metalcore Fanzine: »STOP CALLING METAL ART! You’d have been punched in the face for saying that in the 80s! Metal is metal…it is rebellion! It is horror! It is music we made for ourselves! Nothing to be winning awards on some bullshit ceremony along with other genres of music! THIS IS WHY WE CALLED IT UNDERGROUND!« URL: www.metalcorefanzine.com/ (letzter Aufruf 26.08.2022).
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Sozialhistorisch – und dies verwundert am meisten – blieb die Gegenprobe jedoch komplett aus und musikalische Rebellionsnarrative wurden in eine Erzählung von der Befreiung von gesellschaftlichen Strukturen und Krisen überführt – ohne das bis heute klar ist, wer sich in Metal-Szenen aus welchen Gründen überhaupt vergemeinschaftete. So existieren nur spärliche Informationen über den Hörerkreis von Metal64 und dort, wo sich Forschende den Produzenten oder dem Publikum strukturell annahmen, sah man sich »ganz normalen Menschen« gegenüber,65 keinen »Outlaws«, »Desperados« oder »pariahs.« Es handelt sich bei diesen Ergebnissen um bis heute querliegende Befunde, die einer empirischen Einbettung in den historischen Wandel bedürfen. Nicht zuletzt hat die Favorisierung eines Emanzipationsnarrativs ebenfalls dazu geführt, »totale Identitäten« zu schaffen, also die Existenz einer Metal-Identität in ihren Trägern zu verabsolutieren.66 Schnell entstand dabei der Eindruck, Metal und Metalheads hätten sich musikalisch wie lebensweltlich um sich selbst gedreht, was die historische Komplexität und Kontingenz kaum abbildet und lebenslange Treuebindungen der Fans zu ihrer Musik und ihren Bands überschätzt. Inwiefern sich Metal dabei von anderen Genres der populären Musik unterschied, harrt der Untersuchung, doch legen selbst die Aussagen von Musikern nahe, dass sich Vorlieben und eigene musikalische Stile eher in einer »routinisierten Promiskuität« (Geisthövel) unterschiedlicher popkultureller Angebote herausschälten, dass dem subkulturellen Eindruck querliegende Angebote heimlich oder ganz offen gehört wurden,67 dass Metal oft lediglich eine Station in der Höroder Fanbiografie bedeutete68 und dass auch komplette Ausstiege stattfanden.69 Heavy Metal war stets in breitere Pop-Verläufe eingebettet. Über die musikalischen Aspekte hinaus war dies auch sozial der Fall, weil Heavy Metal in einem sozialen Prozess und in räumlichen Kontaktzonen entstand und nicht unveränderlich zur Welt kam. Es steht zu vermuten, dass sich Heavy Metal und die Ästhetiken anderer Jugendkulturen von Beginn an überlappten70 und sich wechselnde Angebote wie die Hippie-Kultur, die Punks, Skinheads oder Rocker mit den Metalheads zeitlich wie stilistisch überschnitten. Darüber hinaus war das musikalische Engagement ein wandelbares Thema für familiäre, berufliche und szenesoziale Verhandlungen und besaß stets die Rückkopplung zur differenzierten Lebenswelt von historischen Akteuren, 64 65
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Vgl. Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 10f. Vgl. Sarah Chaker, Extreme Music for Extreme People. Black and Death Metal put to the test in a comparative empirical study, in: Neill W. R. Scott/Imke von Helden (Hg.), The Metal Void. First Gatherings, Oxford 2010, S. 265–278, hier S. 276. Vgl. etwa Michelle Phillipov, Death metal and music criticism – analysis at the limits, Lanham 2014. Tom Araya (Slayer) merkte 1994 gegenüber dem Fanzine »Voices from the Darkside« (Nr. 5) an: »… but like I said, I don’t listen to metal so I don’t listen to any of these bands.«; Vgl. auch die Folge »Was hören Metaler heimlich?« des YouTubers »Der Dunkle Parabelritter«, 11.05.2017, URL: https: //www.youtube.com/watch?v=DjP1SfnIwzY (letzter Aufruf 26.08.2022). Vgl. Interview des Verfassers mit Mille Petrozza (Kreator): »Leute kamen, gingen, starben und wuchsen auch wieder aus der ›Szene‹ heraus. Eigentlich wie im richtigen Leben.« Z. 10f. Vgl. zum Beispiel die Äußerungen einiger Musiker in Daniel Ekeroth, Schwedischer Death Metal, Stockholm 2009, S. 224, 301. Vgl. Sven Oliver Müller/Martin Rempe, Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung. Kommunikationsprozesse im Musikleben des 20. Jahrhunderts, in: Müller/Osterhammel/Rempe (Hg.), Kommunikation im Musikleben, S. 9–24, hier S. 23.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
in der sehr viel mehr eben nicht »Metal« war. Ebenso wie die Nonkonformitätserzählung ist dieses metal-kulturelle »Totalideal« eines Fans, das sich im fast völligen Fehlen der Frage nach der Pop-Verflechtung in den Metal Music Studies niederschlägt, eine Komplexitätsreduktion, die querliegende Beispiele, Stil-Fluktuationen und temporäres Fantum vernachlässigt. Damit zusammenhängend ergibt sich auch ein handfestes methodisches Problem: Kulturwissenschaftlichen Untersuchungsansätzen, die mit historisierenden Perspektiven, aber ohne zeitgebundenen Kontext arbeiten, fehlt eine ganz entscheidende Differenzierung, die besonders im Umgang mit Interviewaussagen wichtig ist: Das, was sie als emanzipatorische »Geschichte« von Musikern oder Fans deuten, ist in Wahrheit selbst eine instrumentalisierte Erinnerung und keine geschichtswissenschaftliche Empirie. So weisen Interviews ein und desselben Akteurs aus den 1980er Jahren und aus der Gegenwart bisweilen frappierende Unterschiede auf und, so sehr es das subkulturellgebundene Forscher-Ich schmerzt, muss genau dort die Historisierung beginnen.71 Besonders vor dem oben beschriebenen Hintergrund, dass in der Metal-Kultur eine »Vergewisserungssehnsucht in der Vergangenheit«72 am Werk ist, ist es wichtig zu betonen, dass sich Interviewaussagen eher als Verhandlung subkulturellen Kapitals lesen lassen und historische Kontingenz begradigen.73 Es werden lineare Auf-und Abstiege, individuelle »Entwicklungsromane« und Szene-Entwicklungsbögen erzählt, die für die Zeitgenossen weder vorhanden noch handlungsleitend oder sinnstiftend sein konnten.74 Kurzum: Es wird nostalgisiert und die Aufgabe der Oral History-Methode muss darin bestehen, die multiplen vergangenen Zeitschichten aufzuzeigen und die Kontingenz bei der Beschreibung von Wegen in die Gegenwart stets einzupreisen.75 Nichts verdeutlicht das in dieser Hinsicht bestehende Defizit so sehr wie die Tatsache, dass unkommentierte Interviewsammlungen von Metal-Musikern als eine Oral History
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Vgl. Matthias Tischer, Erfragte Geschichte. Praktisches zu einer Theorie der Oral History, in: Nina Noeske/Matthias Tischer (Hg.), Musikwissenschaft und Kalter Krieg. Das Beispiel DDR, Köln/ Weimar/Wien 2010, S. 179–192, hier S. 181f. Hans Günther Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Theresia Bauer/Winfried Süß (Hg.), NS-Diktatur, DDR, Bundesrepublik. Drei Zeitgeschichten des vereinigten Deutschland; Werkstattberichte, Neuried 2000, S. 13–46, hier S. 34. Wird diese Instrumentalisierung nicht beachtet, tritt ein, was Thierry Verburgh die »Mythisierung« der Subkultur nannte: »Myths essentialize ›the‹ history and origins of a subculture and reduce it to a limited set of characteristic features that get ascribed with certain meanings, shrouded in collective norms and values, sometimes on the basis of prejudice.« Ders./van der Steen, Introduction, S. 2. So meinte beispielsweise Jess Cox (Tygers of Pan Tang) zur New Wave of British Heavy Metal: »There were a lot of bands! […] I mean, even I didn’t realize it, even when I was in it. […] I mean people later created a bigger buzz about it than possibly was going on at the time.« Martin Popoff, This Means War. The Sunset Years of the NWOBHM, Bedford 2019, S. 9. Vgl. Berger, Representing, S. 32.
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angekündigt werden76 – ein methodisch wie erinnerungskulturell schwerwiegendes Problem, weil hier Musiker und Journalisten als »people’s remembrancers«77 auftreten und eine »praktische Vergangenheit« entwerfen, die es aus geschichtswissenschaftlicher Sicht gerade zu dekonstruieren gilt. Um diesen »chosen legacies« (Linde Egberts), die sich metal-kulturell bereits in mehreren Generationen und ganzen Regionen verfestigen konnten78 und mit denen kommerziell erfolgreiche Szene-Geschichtspolitik betrieben wird,79 entgegenzutreten, darf der »eigene Fan« (der auch beim Autor existiert) nicht mitschreiben, es müssen unbequeme Fragen gestellt, szenefremde Quellen befragt, dichte Beschreibungen möglichst klar umrissener Räume und Zeiten angefertigt und stets reflektiert werden, dass langgeglaubte Wahrheiten auch aus Selbststilisierungen entstanden sein konnten.80
1.1.2 Der politikgeschichtliche Fluchtpunkt Im Juli 1984 erschien in The Times ein Artikel von Laurie Taylor mit dem Titel »The docile generation« (Die fügsame/unterwürfige Generation), in dem die Autorin den Verlust jeden jugendkulturellen Widerstandes attestierte. Ihrer Meinung nach hätten sich selbst die Punks viel stärker instrumentalisieren und kontrollieren lassen als die Teds, Skins oder Mods.81 Sie sprach mit Blick auf die frühen 1980er Jahre in Großbritannien von »the call of the mild« und folgerte: Maybe youth culture is always more conservative than it looks and sounds – less a rebellion than an elaborate fantasy which temporarily helps obscure the problems of growing up, finding work, getting married. But social scientists have often argued that there is always a chance that some of the style, energy and invention behind it could be channeled into more realistic directions, into orthodox politics, experimented lifestyles, open rebellion.
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So ist auf dem Klappentext der mehrbändigen Interviewsammlung von Martin Popoff zur NWOBHM von seiner »celebrated oral history method« die Rede, obgleich Popoff bis auf eine chronologische Ordnung der Gesprächsfetzen weder eine Kommentierung noch eine Kontextualisierung vornimmt. Andy Croll, »People’s Remembrancers« in a Postmodern Age. Contemplating the Non-Crisis of Welsh Labour History, in: Llafur 8 (2000) 1, S. 5–17. Zit. nach Stefan Berger, Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich, in: Zeithistorische Forschungen 18 (2021) 1, S. 93–121, hier S. 108. Vgl. Linde Egberts, Chosen Legacies. Heritage in regional identity, London/New York 2017, S. 142–144. An diesem Punkt erweist sich vor allem Sharon MacDonald, Memorylands. Heritage and identity in Europe today, Oxford/New York 2013, als anschlussfähig an den gesellschaftlichen Wandel wie er u.a. bei Reckwitz beschrieben wird. MacDonald postuliert, dass nicht nur eine zunehmende Hinwendung zur Vergangenheit zu beobachten sei – zentral sei darüber hinaus die Tatsache, dass es dabei bedeutsam sei, dass andere diese Hinwendung beachteten. Vgl. Steve Waksman, Reconstructing the Past. Popular music and historiography, in: Sarah Baker u.a. (Hg.), The Routledge companion to popular music history and heritage, London/New York 2018, S. 55–66, hier S. 65f. Laurie Taylor, The docile generation, in: The Times, 31.07.1984, S. 10.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Auch wenn Taylor nicht direkt die Metal-Kultur adressierte, wäre ihre Aussage hinsichtlich der »social scientists« von jedem Metal-Kritiker innerhalb der Subkulturforschung unterschrieben worden. Denn besonders am CCCS in Birmingham war man von der Theorie überzeugt (und von dem Wunsch beseelt), dass in jugendkulturellen Bewegungen und Phänomenen des Pop mehr liege als reiner Hedonismus. Ausgehend von Antonio Gramscis Homologie-These postulierte man hier in neomarxistischer Weise, dass Jugendsubkulturen als Ausdruck der Veränderung gesellschaftlicher Klassenlagen gelesen werden mussten und schrieb ihnen dadurch eine inhärent politisch-progressive Bedeutung zu.82 Für Autoren wie Dick Hebdige und sein prägendes Werk »Subculture. The Meaning of Style« waren Jugendkulturen wie die Punks oder Skins durch ihren Klassencharakter vorherbestimmte Triebkräfte einer gesellschaftlichen Emanzipation.83 Hebdige und seine Kolleginnen und Kollegen brachen dadurch mit der Kritischen Theorie, die den wissenschaftlichen Diskurs durch ihre Annahme »höherer« und »niederer« Kultur in den 1970er Jahren geprägt hatte und von einer plumpen Massenkultur ausgegangen war, die den »blinden« Konsumenten zum Kapitalismus verführe. Am CCCS rehabilitierte man jedoch den Konsumenten nicht nur – er wurde vom Manipulierten zum Widerständler erhoben und damit eine weltanschauliche Vorprägung durch eine andere ersetzt.84 Es ist für die politische Aufladung des Heavy Metals durch die Forschung von großer Bedeutung gewesen, dass sich keine der beiden Theorien dem Heavy Metal und seinen Fans annahm. Die Kritische Theorie erlebte ihre Hochphase dafür zu früh, hätte Heavy Metal aber ohnehin lediglich als stumpfen Massenbetrug verstanden. Die Subkulturforschung widmete sich dem Phänomen dagegen aus anderen Gründen nicht: Heavy Metal war viel stärker musikbezogen als andere Jugendkulturen und bezog seine Anziehungskraft weniger aus widerständigen Ritualen. Vielmehr vermutete man hier ein Weiterwirken traditioneller Werte der Arbeiterklasse und negierte ein gesellschaftliches Entwicklungspotential. Die Anhängerschaft entsprach darüber hinaus kaum der reinen Lehre am CCCS, weil sich früh auch Fans aus der Mittelklasse ausmachen ließen. Und nicht zuletzt fehlte dem Heavy Metal bis in die Mitte der 1980er Jahre eine mediale Kanalisierung seines Konfliktpotentials und die »moral panics« und »scares«, die andere Jugendkulturen öffentlich und akademisch wirksam positioniert hatten, blieben hier zunächst aus.85 Durch diese Vernachlässigung ist es zu erklären, dass sich die frühesten Studien zum Heavy Metal in den 1990er Jahren noch stark im Fahrwasser der Subkulturforschung bewegten, obwohl der Forschungsmainstream bereits in Richtung der Post-Subcultu-
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Als Überblick Mrozek, Subkultur und Cultural Studies, S. 113. Vgl. Dick Hebdige, Subculture. The Meaning of Style, London/New York 1979; Ebenfalls zentral für den Ansatz: Stuart Hall (Hg.), Resistance through Rituals. Youth subculture in post-war Britain, London 1977. Vgl. Nathaus, Why ›Pop‹ Changed and How it Mattered (Part I) S. 13f., 16. Vgl. Andy R. Brown, Heavy Metal and Subcultural Theory. A Paradigmatic Case of Neglect?, in: David Muggleton/Rupert Weinzierl (Hg.), The Post-subcultures Reader, Oxford 2003, S. 209–222, hier S. 209–216; Zur »moral panic« erstmals Stanley Cohen, Folk Devils and Moral Panics. The creation of the Mods and Rockers, London 1972.
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ral Studies umschwenkte.86 Arbeiten wie jene von Robert Walser oder Deena Weinstein waren einer Affirmation verpflichtet, weil sich Heavy Metal in den USA politischen und religiösen Anfeindungen ausgesetzt sah und nutzten dafür das theoretische Gerüst der Subkulturforschung, das eine größtmögliche Aufwertung des Metal-Konsumenten versprach.87 Das Erbe dieser einschlägigen Studien ist für die Erforschung des Heavy Metals dann auch wesentlich länger beherrschend geblieben als für andere Club-oder PopKulturen und noch in den 2000er Jahren taten sich in den Metal Music Studies entsprechende Gräben auf: Studien, die der Musik die Funktion eines Empowerments in einem Wandel des Kapitalismus zuschrieben oder die die emotionale Isolation und Gewalt der Deindustrialisierung im Metal erblickten,88 standen solche gegenüber, die im Sinne der Post-Subcultural Studies argumentierten. Diese fragten viel eher, wie die Musik und die Praktiken in einer Szene erfahren und instrumentalisiert wurden. Kultur war hier keine Folge externer politischer oder wirtschaftlicher Einflüsse mehr, sondern ein soziales Instrument der Distinktion, dessen gesellschaftliche Bedeutung darin liege, die mächtigen sozialen Trennlinien von race, class und gender stets neu zu verhandeln.89 Heavy Metal bildete in seinen Trägern hier keine Mentalität, sondern eine konstruierte und wandelbare Konvention und bezog seine soziale Bedeutung aus dem Umstand der gegenseitigen Erwartungen in einem Kommunikationsraum – ein an die historische Forschung und ihre Verpflichtung zur Kontingenz viel besser anschlussfähiges theoretisches Gerüst als die Subkulturforschung. Die gegenwärtige Entwicklung prägt trotz dieser Vorteile ein mehrfaches Nebeneinander: Die »Subkultur« besitzt im wissenschaftlichen Diskurs immer weniger Anhänger und sieht sich räumlich begründeten Modellen wie »Szenen«, historisch-zäsurartig-argumentierenden Modellen wie »posttraditionalen Gemeinschaften« oder neuen Einseitigkeiten wie neotribalen Modellen gegenüber.90 Dennoch beherrscht die Subkultur semantisch weiterhin die öffentliche Thematisierung von Heavy Metal und spielt auch im 86 87 88 89
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Vgl. Mrozek, Subkultur und Cultural Studies, S. 117; Vgl. Nathaus, Why ›Pop‹ Changed And How It Mattered (Part I), S. 17f. Vgl. Walser, Running with the Devil; Vgl. Weinstein, Heavy Metal. Vgl. beispielsweise Berger, Metal, rock, and jazz. Vgl. Nathaus, Why ›Pop‹ Changed And How It Mattered (Part I), S. 18f.; Vgl. ders./Rempe, Introduction. Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 10; Vgl. Keith Kahn-Harris, Unspectacular Subculture? Transgression and Mundanity in the Global Extreme Metal Scene, in: Andy Bennett/Keith Kahn-Harris (Hg.), After Subculture. Critical studies in contemporary youth culture, Basingstoke 2004, S. 107–118, hier S. 109f.; Bahnbrechend für die Genese der »Post-Subcultural Studies« war Sarah Thornton, Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital, Hoboken 2013. Ein wichtiger Befürworter des Ansatzes der Neo-Tribes in der Popkulturforschung ist Andy Bennett. Vgl. Andy Bennett, Subcultures or Neo-Tribes? Rethinking the relationship between youth, style and musical taste, in: Sociology 33 (1999) 3, S. 599–617; Generell zum Ansatz vgl. Massimiliano Livi, Neotribalismus als Metapher und Modell. Konzeptionelle Überlegungen zur Analyse emotionaler und ästhetischer Vergemeinschaftung in posttraditionalen Gesellschaften, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017), S. 365–383. Zu den »posttraditionalen Gemeinschaften« vgl. Vgl. Ronald Hitzler/Arne Niederbacher, Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, Wiesbaden 2010, S. 18; unter deutlicher Anlehnung an: Ulrich Beck, Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994. Zur abnehmenden Anziehungskraft des Subkultur-Konzepts vgl. Detlef Siegfried, Ist jeder seines Glückes Schmied? Die Historisierung des Individualisierungsparadigmas, in: Thomas Großbölting/Massimiliano Livi/Carlo Spagnolo (Hg.),
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Selbstbild der Anhänger eine zentrale Rolle.91 Wissenschaftlich werden daher weiterhin scharfe Angriffe auf das Subkulturkonzept gefahren.92 Darüber hinaus hat sich die Überzeugung, dass es sich bei popkulturell begründeten Vergemeinschaftungen um Phänomene aus eigenem Recht handelt, mit national unterschiedlichen Geschwindigkeiten gegen den Reflex durchgesetzt, diesen prompt politische Motivation einschreiben oder deren Fehlen kritisieren zu müssen. Während sich vor allem im Zuge der Popular Music Studies in den USA die soziale Kraft von Musik als eigenständiger Zugriff etablierte, wird Pop in Teilen Europas und besonders in Deutschland immer noch gern als symbolischer Widerstand, Protest oder als Reflektion geteilter Werte betrachtet.93 Argumentationen zur Geschichte popkultureller Gemeinschaften mündeten hier in kulturpessimistischen Fazits, die ein »freundliches Desinteresse« attestieren, aus dem kein Anstoß zur Veränderung hervorgehen könne,94 oder die Jugendkulturen »von der Rebellion, Provokation, Abweichung und Subversion zur Anpassung, zum Mainstream und Spießertum« nachverfolgen.95 Selbst in einigen neueren Arbeiten lässt sich der Wunsch nach politischer Aufladung von Pop klar erkennen.96 Für die historische Erforschung des Metal-Phänomens hatte dies zur Folge, dass sich Historiker erst sehr viel später dem musikalischen Leben und einer ideologiefreien Sicht auf Metal-Musik widmeten als in anderen Disziplinen.97 Die wenigen Studien, die sich dieser Perspektive verpflichtet fühlen, stehen jedoch (auch, weil die Metal Music Studies meist präsentistisch argumentieren) neben einem Korpus älterer Arbeiten, die den
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Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 111–122, hier S. 115f. Vgl. Swiniartzki, Das Ende der Subkultur?; Vgl. den pragmatischen Umgang mit dem Begriff und Konzept bei gleichzeitiger Nutzung bei Okunew, Red Metal. Zuletzt Andy Bennett, Situating Subculture. On the Origins and Limits of the Term for Understanding Youth Cultures, in: van der Steen/Verburgh (Hg.), Researching Subcultures, S. 19–34, hier S. 34. Bennett bezeichnet das Konzept als »faule Theoretisierung.« Vgl. Nathaus, Why ›Pop‹ Changed And How It Mattered (Part I), S. 22; Vgl. ders., Why ›Pop‹ Changed and How it Mattered (Part II). Historiographical Interpretations of Twentieth-Century Popular Culture in the West, in: HSozKult, 2018, URL: https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschung sberichte-1685 (letzter Aufruf 26.08.2022). Uwe Sander, Good Bye Epimetheus. Der Abschied der Jugendkulturen vom Projekt einer besseren Welt, in: Wilfried Ferchhoff/Uwe Sander/Ralf Vollbrecht (Hg.), Jugendkulturen – Faszination und Ambivalenz. Einblicke in jugendliche Lebenswelten; Festschrift für Dieter Baacke zum 60. Geburtstag, Weinheim 1995, S. 38–51, hier S. 51. Wilfried Ferchhoff, Jugend und Jugendkulturen, in: Thomas Rauschenbach/Stefan Borrmann (Hg.), Herausforderungen des Jugendalters, Weinheim 2013, S. 44–68, hier S. 66f. Vgl. David Christopher Stoop/Roman Bartosch (Hg.), (Un)Politischer Metal? Musikalische Artikulationen des Politischen zwischen Ideologie und Utopie, Trier 2015; Vgl. Annette Vowinckel, Neue Deutsche Welle. Musik als paradoxe Intervention gegen die »geistig-moralische Wende« der Ära Kohl, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 455–490; Vgl. Neil Nehring, »Everyone’s Given Up and Just Wants to Go Dancing.« From Punk to Rave in the Thatcher Era, in: Popular Music and Society 30 (2007) 1, S. 1–18, hier S. 12. Zur Kritik an diesen Perspektiven vgl. Niall W.R. Scott, Heavy metal and the deafening threat of the apolitical, in: Keith Kahn-Harris/Titus Hjelm (Hg.), Heavy Metal, Sheffield 2013, S. 228–243. Vgl. grundlegend zu diesem zeitlichen Verzug Nathaus/Rempe, Introduction. Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 7f.; Vgl. Geisthövel/Mrozek, Einleitung, S. 18.
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politischen Fokus bedienen und weiterhin als historische Grundlage gegenwärtiger Forschung angeführt werden.98 Hinzu kommen solche Studien, in denen sich der oben skizzierte Wunsch der Cultural Studies niederschlägt, zu einer gesellschaftlichen Affirmation der Metal-Kultur beizutragen und die daher gegen einen immer noch vorhandenen politischen Minderwertigkeitskomplex anschreiben.99 Die vorliegende Arbeit folgt aus diesen Gründen der in der Pop-Geschichte geltenden Tatsache, dass »Metal« zunächst einmal für überhaupt nichts stehen musste, was außerhalb seiner Praktiken, Sounds, Kommerzialisierung und verhandelten Themen angesiedelt war. Metal und Pop generell genügen sich als historisch relevante Kraft selbst und bedürfen keiner Anbindung an vermeintlich »härtere« Faktoren des Wandels100 – was freilich nicht bedeutet, dass historische Verbindungen zum politischen und wirtschaftlichen Wandel, dort wo sie sich empirisch zeigen, nicht weiterverfolgt werden sollten. Nur wirkt dabei eine Fokusverschiebung: Nicht der Wandel gesamtgesellschaftlicher Großwetterlagen bestimmt den Wandel der Metal-Kultur, sondern der Wandel der MetalKultur kann als Puzzleteil einer Erklärung des gesamtgesellschaftlichen Wandels dienen.
1.1.3 Sozialgeschichte als »blinder Fleck« In den vergangenen Jahren ließen sich zwei wissenschaftliche Plädoyers vermehrt vernehmen: Es wurde gefordert, die sich aus dem reinen Werkbezug lösende Musikgeschichte stärker in den Pop-Diskurs einzubeziehen.101 Sowohl der praktische Verwendungskontext als auch die musikwissenschaftliche Analyse müssten demnach mehr herangezogen werden, um stärker zu würdigen, dass es sich bei den meisten PopPhänomenen um inhärent musikinduzierte Untersuchungsgegenstände handelt, die ohne das Musikalische nicht zu verstehen sind.102 Gleichzeitig machte die geschichtswissenschaftliche Debatte ebenfalls einen Schritt der Annäherung und hat sich mit ihren interdisziplinären Aufrufen sehr klar positioniert: Es fehle demnach an Studien, die der Tatsache Rechnung tragen, dass wir es bei der Musik mit der »sozialsten aller Künste« zu tun haben.103 So sei die Musik als Kraft für Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung lange nicht in der Forschung anerkannt worden, obgleich ihre Mobilisierungswirkung 98 99
Dazu zählen vor allem Deena Weinstein und die von ihren Thesen inspirierten Arbeiten. Vgl. Scheller, Metalmorphosen, wo im vierten Kapitel die Idee eines »liberalen« Heavy Metals entworfen wird. 100 Vgl. Siegfried, Time is on my side, S. 24. 101 Vgl. Helmut Rösing, Geschichtsschreibung als Konstruktionshandlung. Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart der Musikgeschichtsschreibung, in: Dietrich Helms/Thomas Phleps (Hg.), Geschichte wird gemacht. Zur Historiographie populärer Musik, Bielefeld 2014, S. 9–24, hier S. 22; Vgl. Celia Applegate, Introduction. Music among the Historians, in: German History 30 (2012) 3, S. 329–349. 102 Vgl. Andrew L. Cope, Black Sabbath and the rise of heavy metal music, Farnham 2010; Vgl. Glenn Pillsbury, Damage Incorporated. Metallica and the production of musical identity, New York 2006; Vgl. Wolf-Georg Zaddach, Heavy Metal in der DDR. Szene, Akteure, Praktiken, Bielefeld 2018. 103 Vgl. Marcus S. Kleiner, Die Methodendebatte als ›blinder Fleck‹ der Populär-und Popkulturforschungen, in: ders./Michael Rappe (Hg.), Methoden der Populärkulturforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf Film, Fernsehen, Musik, Internet und Computerspiele, Berlin 2012, S. 11–42, hier
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als kommunikative Grundlage der Sozialgeschichte eigentlich auf der Hand liege.104 Als mögliche Beziehungsfelder von Gesellschaft und Musik wurden dabei erstens Institutionen und Felder, also die Bedingungen und Formen der Musikproduktion und Kommerzialisierung, zweitens die Bearbeitung gesellschaftlicher Themenstellungen in der Musik und drittens die Funktion des Musikkonsums in Vergemeinschaftungsprozessen entworfen.105 Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt klar auf dem dritten Aspekt und widmet sich der Frage nach den vergemeinschaftenden Eigenschaften des Musikkonsums. Auch Inhalte, etwa in Form von Songtexten, und die Produktion und Vermarktung werden dabei zur Sprache kommen, jedoch liegt das abschließende Erkenntnisinteresse stets bei der Frage, wieso sich Metal-Musiker und -Fans so verhielten, wie sie es taten und warum es dabei zu Änderungen und regionalen Unterschieden kam. Es steht also zur Debatte, inwiefern Musik soziale Veränderungen anstieß, wie Pop – in unserem Fall in Form des Heavy Metals und Extreme Metals – strukturbildend wirkte, wie Sinndeutungen und Verhaltensweisen ermöglicht und Rezeptionskontexte eröffnet wurden. Wie oben beschrieben wird davon ausgegangen, dass sich in Form der Metal-Kultur eine Verhandlungsarena des Sozialen ausbildete, die neue soziale Abgrenzungen generierte, die wiederum in wandelbarem Bezug zu gesellschaftlichen Ordnungsmustern standen.106 Die zentralen sozialen Ordnungsbegriffe sind dabei class, race, gender und place und es wird untersucht, wie diese in der Bildung von Metal-Szenen, in der Karriere als Metal-Musiker, in der Ausbildung musikalischer Konventionen und im Konflikt mit anderen Pop-Phänomenen verhandelt, verlängert oder modifiziert wurden. Auf diese Weise kann es gelingen, die präsentistischen und verstreuten Analysen zur Verhandlung von Geschlecht, Hautfarbe, Klasse und Raum in der Metal-Kultur zu bündeln und zu historisieren, um den erklärungsbedürftigen sozialen Wandel dieses Pop-Phänomens beschreibbar zu machen. Es existieren zahlreiche theoretische Möglichkeiten, sich diesem sozialgeschichtlichen Desiderat zu nähern, wobei für diese Studie vor allem zwei Ansätze wichtig sind. Einerseits ist dies das Konzept des »musicking«, das es durch seinen breiten Zugriff erlaubt, den Verwendungskontext von Musik als soziale Kraft zu entwerfen und das die nötige Integrationskraft bietet, um abstrakte Begriffe wie »Szene«, »Region« oder »Glokalität« mit alltagspraktischem und empirischem Leben zu füllen. »Musicking« wurde von Christopher Small in Anlehnung an das fiktive Verb »to music« geprägt und ist von der Überzeugung inspiriert, dass Musik keine Sache, sondern eine Praktik ist. Small profitierte dabei von den Arbeiten Simon Friths, der herausstellte, dass die Bedeutung S. 21: »Im Feld der Populär-und Popkulturforschungen gibt es nur wenige sozialhistorische Arbeiten.« 104 Vgl. Sven Oliver Müller/Jürgen Osterhammel, Geschichtswissenschaft und Musik, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012) 1, S. 5–20, hier S. 6–13. 105 Vgl. Dominik Schrage/Holger Schwetter/Anne-Kathrin Hoklas, Einleitung: Musikalische Eigenzeiten und gesellschaftliche Umbrüche seit den 1960er Jahren, in: dies. (Hg.), »Zeiten des Aufbruchs« – Populäre Musik als Medium gesellschaftlichen Wandels, Wiesbaden 2019, S. 1–29, hier S. 8. 106 Vgl. Klaus Nathaus, Auf der Suche nach dem Publikum. Popgeschichte aus der »Production of Culture«-Perspektive, in: Geisthövel/Mrozek (Hg.), Popgeschichte, S. 127–153, hier S. 142f.
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von Musik weniger dem Werk als seinem Verwendungskontext entspringe.107 Folglich fällt unter »musicking« eine Vielzahl musikbezogener Alltagspraktiken, die vom Proben, Schreiben, Auftreten und dem Konzertbesuch bis zum Hören, Tauschen und Tanzen reicht. Der innovative Begriff begründet die in dieser Studie herangezogenen empirischen Beispiele des Verwendungskontextes der Musik und ermöglicht es, diese als zentrale sozialgeschichtliche Bausteine heranzuziehen.108 Andererseits eint viele der hier beschriebenen Ereignisse und Entwicklungen ein performativer Kern, also die Überzeugung, dass sich Konventionen, Hierarchien und Deutungsmuster prozesshaft ausbilden und an situative Kontexte gebunden sind. Die Elemente des »musicking« werden dabei als sozialer Prozess entworfen, sie sind »sowohl Vollzug durch Gesellschaft als auch von Gesellschaft« und beschreiben eine Performanz des »doing metal.«109 Forschungspraktisch geht damit der Versuch einher, die Ausbildung von Vorstellungen und Sinnstrukturen in ihrem jeweiligen empirischen Kontext nachzuvollziehen. So wurden beispielsweise körperliche Praktiken bei Konzerten, die Alltagssituation der Bands oder Produktionsmethoden im Studio nicht einfach aufgeführt und repräsentierten dadurch einen bestimmten Sinngehalt – sie wurden vielmehr im Zusammenspiel der Beteiligten live produziert und tragen der Wandelbarkeit des Untersuchungsgegenstandes genauso wie der Tatsache Rechnung, dass die Metal-Kultur in einem sozialen Prozess entstand.110 Der praxeologische Ansatz bietet dabei die großen Vorteile, sozial-und kulturgeschichtliche Perspektiven, die Mikround die Makro-Ebene, sowie soziale Organisation mit situativen Handlungsformen verbinden zu können. Kultur, hier in Form der Metal-Kultur, bekommt – so Sven Reichhardt – »dadurch eine Konflikthaftigkeit im Kampf um Deutungen und verliert ihre soziale und politische Ortlosigkeit«, sie wird »lebensgeschichtlich kontextualisiert und dynamisiert.«111 Es wird durch diesen Ansatz des »performativen musicking« möglich, Heavy Metal, die Vergemeinschaftung rund um diese Musik und die dabei vorhandenen Vorstellungen und Sinnstrukturen in ihrer Entstehung nachzuvollziehen, also das »doing metal« nachzuverfolgen. So entstanden zentrale Aspekte dieser Musikkultur in einer angewandten Wiederholung, nicht durch Agenda, Geschmack, Trend oder als Folge gesamtgesellschaftlicher Makrokonstellationen, sondern daraus, dass man an spezifischen Orten spezifische Praktiken ausübte und tradierte.
107 Vgl. Christopher Small, Musicking. The meanings of performing and listening, Middletown 2010; Vgl. Simon Frith, The Sociology of Rock, London 1978; Für das Konzept vgl. Nathaus/Rempe, Introduction. Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 12f. 108 Ähnlich bei, aber ohne den Ansatz des »Musicking«: Deena Weinstein, Communities of Metal. Ideal, Diminished and Imaginary, in: Nelson Varas-Diáz/Neill W.R. Scott (Hg.), Heavy Metal Music and the Communal Experience, London 2016, S. 3–22, hier S. 8–20. 109 Vgl. Hindrichs/Linsenmann, Zum Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung, S. 16. 110 Vgl. Sven Reichhardt, Zeithistorisches zur praxeologischen Geschichtswissenschaft, in: Arndt Brendecke (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 46–61, hier S. 50f. 111 Ebd., 52.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
1.2 Schneisen durch die »langen 1980er Jahre« – Untersuchungsebenen des sozialen Wandels Aus diesen Desideraten und problematischen Zuspitzungen geht vor allem hervor, dass die sozialgeschichtliche Qualität des Heavy Metals bisher unterbelichtet geblieben ist, also die Frage, wie das Phänomen als Folge und/oder als Katalysator der zentralen gesellschaftlichen Trennlinien wirkte, wie es diese Gräben zementieren und fortschreiben, aber auch erodieren und herausfordern konnte – dass es aber gleichzeitig auch problematisch ist, aus einer empirischen Einzelfallstudie einer Metal-Szene, MetalBand oder eines Metal-Subgenres gesamtgesellschaftliche, politische und ideengeschichtliche Großwetterlagen ableiten zu wollen. Pop als eigenständige Arena und das Querliegende und Persistente dieser Musik-Kultur würde dadurch zu wenig gewürdigt werden – ebenso wie der spezifische Übergangscharakter der 1980er Jahre, in dem nicht selten Progressives und Konservatives in einem Song, einem Musiker, einem Fan oder einer Band und Praktik zu finden war. Die zeitliche Einordnung dieser Studie, für die der Begriff der »langen 1980er Jahre« gewählt wird, orientiert sich daher weder an politischen noch an ökonomischen Einschnitten,112 sondern wählt jene Start-und Endpunkte, die sich aus der empirischen Beobachtung der popkulturellen Praxis und der damit verbundenen Selbstverständnisse ergaben: Die »langen 1980er Jahre« begannen dabei etwa 1978/79 mit der Übernahme der Do-It-Yourself-Mentalität des Punks in den noch meist als Hard-oder Heavy Rock bezeichneten Bands in England und sie endeten in der Mitte der 1990er Jahre – einerseits, weil sich die globale Tausch-und Produktionspraxis erneut veränderte und das Internet sowie günstigere Technologien einen fundamentalen Wandel der Kommerzialisierung andeuteten – andererseits, weil ein zentrales Denkmuster dieser langen Dekade, die Transgression der Vorgänger, mit der Krise des Hardcore Punks und der polizeilichen Zerschlagung der norwegischen Black Metal-Szene an ihr Ende gekommen war. Heavy Metal artikulierte sich also vor 1978 und nach 1995 sowohl musikalisch als auch praktisch in ganz anderer Weise als in den »langen 1980er Jahren.« Gleichzeitig handelt es sich bei diesen Start-und Endpunkten freilich nicht um scharfe Zäsuren, sondern um zeitliche Markierungen eines beschleunigten Wandels. Während diese Periodisierung vor allem bedeutet, popkulturelle Phänomene historisch ernst zu nehmen und ihnen nicht künstlich politische Identität zu verleihen oder abzusprechen, bedeutet es freilich nicht, dass Phänomene wie Heavy Metal keine Schnittstellen mit den anderen Feldern gesellschaftlicher Veränderung gehabt hätten. Im Folgenden werden die leitenden Fragen und Gliederungen daher nicht dem musikgeschichtlichen oder »subkulturellen« Fragenkatalog entnommen, sondern sind sozialgeschichtlicher Natur. Die wesentlichen und durch die Forschung herausgestellten Brüche und Umbrüche der Jahre zwischen den späten 1970er und den Mitt-1990er Jahren bilden dabei den Ausgangspunkt für eine Beschreibung des Wandels, die dann »durch die Linse« der Metal-Kultur und ihrer regionalen Szenen und Akteure vorgenommen wird. Es handelt sich hierbei also weniger um eine weitere Erklärung von Sounds, Praktiken, Kleidungen, Körperregimen und Geschlechterordnungen, die – mit 112
Entsprechend der Forderung bei Geisthövel/Mrozek, Einleitung, S. 20.
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dem vermeintlichen Mainstream konfrontiert – dazu neigt, das Exzeptionelle, Gegenläufige und Ablehnende des Heavy Metals herauszustellen – und damit subkulturelle Narrative zu reproduzieren. Vielmehr soll – ausgehend von breiteren Wandlungsprozessen – ergebnisoffen geprüft werden, wo sich Elemente dieses Wandels innerhalb der Veränderung der Metal-Kultur ausmachen lassen, wie sie dort verhandelt wurden und wie sie gesellschaftlich zurückwirkten – oder wo dies eben nicht möglich ist. Die vermeintliche Mehrheitsgesellschaft begegnet hier deshalb auch nur sehr selten in ihrer üblichen Rolle als intoleranter Antipode und politischer Gegner, weil man ansonsten nur ein weiteres Mal zu dem Ergebnis kommen würde, dass die »Andersartigkeit« die »Mehrheit« ein wenig toleranter und diverser gemacht habe und die »Subkultur« irgendwann zum »Mainstream« wurde. Die Akteure dieser Studie waren trotz ihrer musikalischen Leidenschaft keine gesellschaftlich marginalisierte Gruppe, sondern ein Teil aller, weil sie denselben Herausforderungen in Arbeit, Stadt, Bildung und Familie begegneten wie ihre nicht-metallischen Klassenkameraden oder Arbeitskollegen. Nur verhandelten sie, anders als diese, die Herausforderungen musikalisch und kamen dadurch zu anderen Ergebnissen, Lebensläufen oder Zukunftsperspektiven. Es handelt sich also um keine Studie des Heavy Metals in der üblichen Rolle als Marginalisierter a priori, sondern um eine regional vergleichend-verflechtende Gesellschaftsgeschichte mit einer empirischen Grundlage in der Heavy Metal-Kultur, die andere Ergebnisse zur historischen Einordnung versprechen dürfte und einen Beitrag zu der Frage leisten kann, warum sich Heavy Metal in seiner gesellschaftlichen, medialen und wirtschaftlichen Rolle bis heute veränderte. Ausgehend von der oben skizzierten Negierung einer Denkfigur des »totalen Fans« und der Kontingenz der historischen Entwicklung, wird hier demnach nicht das Widerständig-Stabile dem Wandelbaren gegenübergestellt oder umgekehrt – wichtig ist, wie diese beiden Wandlungsprozesse in jeder Praktik, in jedem Gender-Rollenbild, jedem Songtext, jeder Arbeitsbiografie und jedem Sound in Beziehung zueinanderstanden. Erst dann ist Pop, hier in Form einer seiner lautesten und kontroversesten Spielarten, ein völlig gleichwertiger Teil gesamtgesellschaftlicher Erklärungsversuche. Praktisch bedeutet dies, dass diese Studie weit mehr Aussagen etwa zur Veränderung von Arbeitsverhältnissen oder zum Wandel von Raumordnungen enthalten wird als dies in Arbeiten zum Heavy Metal bisher üblich war. Andererseits wird sie »den Sozialhistoriker« mit vielen empirischen Fällen konfrontieren, die sich der politisch-ökonomischen Lesart des gesellschaftlichen Wandels entziehen, vor allem mikrohistorisch und mit vermeintlich »weichen« Argumenten arbeiten und die Grenze von high-und low culture/E und U überwinden.113 Ein Vorgehen dieser Art sitzt, das hat die Projektphase in den Erwartungen der Gesprächspartner, der Kritiker und Redaktionen oft verdeutlicht, stets etwas »zwischen den Stühlen«, möchte dies aber nicht als Gefahr, sondern eher als Chance verstehen, bisher getrennt voneinander verhandelte Themen zusammenzudenken und füreinander fruchtbar zu machen. Das Buch setzt sich daher zum Ziel, einerseits historisches Gesprächsangebot an die Metal Music Studies und andererseits Verknüpfung der Sozialgeschichte mit dem Metal-Phänomen zu sein. 113
Vgl. Nathaus/Rempe, Introduction. Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 10; Vgl. Siegfried, Time is on my side, S. 24.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Um dies zu leisten, zieht die Studie sechs Untersuchungslinien durch die »langen 1980er Jahre«, anhand derer dieser relationale Wandel beschrieben werden kann. Eine Auseinandersetzung mit der theoretischen und empirischen Literaturgrundlage erfolgt jeweils in den Kapiteln, um diese auch als einzeln lesbare Abschnitte zu entwerfen. Hier sei daher auf den größeren Zusammenhang und die Relevanz für das Thema verwiesen. Im zweiten Kapitel widmet sich die Studie dem Wandel von Arbeit, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die Perspektive musikalischer Arbeit für die Erforschung der Metal-Kultur bisher keine Rolle gespielt hat. Es bestehen keine Informationen zu der Frage, wie sich Metal-Musik als Erwerbsarbeit formierte, aus welchen Schichten und beruflichen Biografien die Musiker kamen, ob ein musikalischer Erwerb als Lebensgrundlage ausreichte und welche Arbeitsverhältnisse und -beziehungen in diesem Erwerbszweig herrschten. Daher wird folgendes Fragenbündel formuliert: Welche Berufe und Tätigkeiten führten Musiker und Fans aus und wie veränderte sich dies? Wie standen Erwerbsmöglichkeiten – vor allem vor dem Hintergrund einer aufziehenden »creative class«114 oder eines »gesellschaftlichen Kreativitätsdispositivs«115 – in Beziehung zur Praxis in Szenen? Wie professionell waren die Musiker und welchen Wandel erlebte der Professionalitätsbegriff? Herrschte eher ein Arbeitsoder ein »künstlerischer Leistungsgedanke«?116 Führte die musikalische Professionalität zur »Entzauberung« einer subkulturellen Begeisterung und waren die Kulturproduzenten tatsächlich »cultural entrepreneuers sans capital«?117 War die Favorisierung von Metal dabei an ein bestimmtes Milieu bzw. eine bestimmte Klasse gebunden und wie veränderte sich dies regionalspezifisch? Wo zeigten sich Brüche und welche Denkfiguren und Erwerbswege veränderten sich trotz eines musikalischen Erwerbs vielleicht gerade nicht? Welche Erwerbswege entwickelten sich abseits der Produktion und Aufführung um die Metal-Musik? Erweiterte sich dabei die Arbeitssemantik um Tätigkeiten, die zuvor nicht als Arbeit bezeichnet wurden?118 Zum anderen begegnet Arbeit in ihrer verhandelten sozialen Form als Wandel der Klassenzuschreibung. So gehört die Herkunft aus der englischen Arbeiterklasse fest zur Gründungserzählung der Metal-Kultur und wurde wissenschaftlich sogar bis in die Gegenwart verlängert.119 Dabei scheint die These nahtlos zur Deindustrialisierungsforschung zu passen, die den Diskurs um den Wandel der Arbeitswelt seit den
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Richard Florida, The rise of the creative class. Revisited, New York 2019 (erstmals 2002). Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2017. Fragen inspiriert durch: Martin Rempe, Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960, Göttingen 2020, S. 344–347. Vgl. Andrea Ellmeier, Cultural entrepreneuralism: on the changing relationship between the arts, culture and employment, in: International Journal of Cultural Policy 9 (2003) 1, S. 3–16, hier S. 11. Vgl. Fragen bei Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz, Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ›Arbeit‹, in: dies. (Hg.), Semantiken von Arbeit. Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 9–60, hier S. 58f. Vgl. Deena Weinstein, Birmingham’s Postindustrial Metal, in: Brett Lashua/Karl Spracklen/ Stephen Wagg (Hg.), Sounds and the City. Popular Music, Place and Globalization, Basingstoke 2014, S. 38–54, hier S. 50–52.
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1970er Jahren bestimmt und sich in ihrer aktuellen Form vor allem den soziokulturellen Auswirkungen in der Arbeiterklassen-Kultur sowie der Erosion milieubasierter Gemeinschaften widmet.120 Besonders der »Abbau lohnbasierter Sicherheit«121 , verbunden mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, habe unter den Industriearbeitern ein Bedürfnis nach Krisenflucht entstehen lassen, an das sich Heavy Metal hervorragend ankoppeln ließ.122 Die Arbeit geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass definitiv ein sozialer wie räumlicher Konnex zwischen regionalen »working class communities« und dem entstehenden Heavy Metal bestand, möchte diese Beziehung aber nicht derartig kausal verengen. Den deterministischen Feststellungen der Subkulturforschung soll dagegen der historisierende Spiegel vorgehalten werden, für den es keine »working class culture«, sondern nur eine »culture of an altering class structure« gibt.123 Es wird daher gefragt, wo sich empirisch die Berührungspunkte von Metal und Arbeiterklasse ausmachen lassen, wo, von wem und wie »class« verhandelt wurde und wie sich Heavy Metal mit der sozialen Mobilität (besonders vor dem Hintergrund der Bildungsoffensive seit den 1970er Jahren) vereinbaren lässt. Wie wurde die Erosion einer industriellen Arbeits-und Arbeiterkultur, auf die Heavy Metal oft Bezug nahm und mit der sich die Musik teilweise die Räume teilte, aufgenommen und welche individuellen wie kollektiven Lösungsmöglichkeiten ergaben sich aus der popkulturellen Vergemeinschaftung angesichts des Veränderungsdrucks? Als wichtigem Verhandlungsraum für diesen Wandel der Klassenzuschreibung widmet sich dieser Abschnitt den Familien der Musiker. Da es in der Forschung bisher kaum eine Beschäftigung mit generationellen Aneignungen jenseits des Politischen gegeben hat,124 wird geprüft, wie die Entscheidung zur lebensstilbasierten Änderung von Arbeit, Kleidung und Verhalten familiär aufgenommen wurde, welche Unterstützung die Metalheads erfuhren und wie sich die Grenzen des Akzeptablen verschoben. Ist dabei tatsäch-
120 Vgl. Stephen High, »The Wounds of Class«. A Historiographical Reflection on the Study of Deindustrialization, 1973–2013, in: History Compass 11 (2013) 11, S. 994–1007, hier S. 994; Vgl. Tim Strangleman/James Roades/Sherry Lee Linkon, Introduction to Crumbling Cultures: Deindustrialization, Class, and Memory, in: International Labor and Working-Class History 84 (2003), S. 7–22; Vgl. Tim Strangleman/James Roades, The ›New‹ Sociology of Deindustrialisation? Understanding Industrial Change, in: Sociology Compass 8 (2014) 4, S. 411–421; Vgl. Sherry Lee Linkon, The Half-Life of Deindustrialization. Working-class writing about economic restructuring, Ann Arbor 2018; Vgl. Stefan Berger/Christian Wicke/Jana Golombek, Burdens of Eternity? Heritage, Identity, and the »Great Transition« in the Ruhr, in: The Public Historian 39 (2017) 4, S. 21–43. 121 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 240. 122 Neben Deena Weinstein, Heavy Metal, sowie dies., Birmingham’s Postindustrial Metal, vgl. auch Bettina Roccor, Heavy Metal. Kunst. Kommerz. Ketzerei, Berlin 1998, S. 131; Vgl. Lee Michael Harrison, Factory Music. How the industrial geography and working-class environment of post-war Birmingham fostered the birth of heavy metal, in: Journal of Social History 44 (2010) 1, S. 145–158; Vgl. auch Moore, The Unmaking of the English Working Class. 123 Großbölting, Bundesdeutsche Jugendkulturen, S. 75. 124 Vgl. Lu Seegers, Pop und Generationalität. Anmerkungen zu einer vernachlässigten Beziehung, in: Geisthövel/Mrozek (Hg.), Popgeschichte, S. 79–99, hier S. 80f.
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lich eine Tendenz zur Veränderung von »Pflicht-und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten«125 zu erkennen? Im dritten Kapitel setzt die Arbeit den regionalen Wandel der Metal-Kultur in Bezug zur räumlichen Entwicklung. Da sich die »Szene« vor allem als Kommunikationsraum formierte und von den Möglichkeiten direkten Kontakts abhing, sich aber auch auf das Vorhandensein von Spielstätten, Probemöglichkeiten und anderen Treffpunkten stützte, wird gefragt, wie sich die sozialen Parameter der Szenen vor dem Hintergrund des urbanen Wandels verschoben. Was bedeutete es für »social spaces of music«126 , wenn alte Wohnverhältnisse durch die Deindustrialisierung zerschnitten wurden und wenn sich Ballungsräume in breiten Vorortringen ausdehnten? Welchen Unterschieden begegneten die suburban aufwachsenden Metalheads in den USA und in Schweden verglichen mit ihren deutschen und norwegischen Brieffreunden und wie wirkte sich das räumliche Koordinatensystem aus Verkehr, Distanz und Infrastruktur auf die musikalische Tätigkeit aus? Welche Rolle spielte dabei die lokale Jugendpolitik? Und ist es generell überhaupt korrekt, die Metal-Kultur als urbanes Phänomen einzuordnen?127 Während diese Perspektive eher die Abhängigkeiten vom räumlichen Wandel betont, wird in einem weiteren Schritt auf die Aneignung des Raums eingegangen und gefragt, mit welchen Möglichkeiten und Strategien sich Metalheads öffentlich zu erkennen gaben, welche Bedeutung dabei die Trennung von privaten und öffentlichen Räumen hatte und zu welchen Konflikten oder Kooperationen es dabei mit anderen Jugendkulturen bzw. Pop-Phänomenen kam. Eine entscheidende Rolle kommt in dieser Hinsicht auch der wachsenden Virtualität der Kommunikation in postalischen und später digitalen Netzwerken zu und es wird problematisiert, welche Folgen es für metal-kulturelle Vergemeinschaftungen hatte, wenn sich Kommunikation verstärkt unabhängig von persönlicher Nähe organisieren ließ. Im vierten Kapitel fokussiert sich die Arbeit auf die unmittelbare Vergemeinschaftung und verarbeitet dabei vor allem die Impulse der Soziologie und der Popular Music Studies. Seit der grundsätzlich pessimistischen Beurteilung Ulrich Becks, der durch die Erosion der vergemeinschaftenden Institutionen der Nachkriegszeit ein Abdriften zu atomisierten Individuen befürchtete,128 hat die soziologische Forschung eine 125
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Vgl. Großbölting, Bundesdeutsche Jugendkulturen, S. 79; Zum Konzept des Wertewandels erstmals: Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing values and political styles among western publics, Princeton 1977; Vgl. zuletzt ders., Cultural Evolution. People’s Motivations are Changing, and Reshaping the World, Cambridge 2018. Nick Crossley/Wendy Bottero, Social spaces of music. Introduction, in: Cultural Sociology 9 (2015) 1, S. 3–19; Musik als historisch bisher kaum beachteter Kommunikationsraum auch bei Jürgen Osterhammel/Sven-Oliver Müller, Geschichtswissenschaft und Musik, S. 16. Zu diesem selten hinterfragten Urteil zuletzt wieder: Scheller, Metalmorphosen, S. 60. Vgl. Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, in: ders./Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 43–60; Eine fruchtbare Adaption hat Becks These u.a. erfahren durch: Michael Vester, Ulrich Beck und die zwei Marxismen. Ende oder Wandel der Klassengesellschaft?, in: Peter A. Berger/Ronald Hitzler (Hg.), Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert »jenseits von Stand und Klasse«?, Wiesbaden 2010, S. 29–50; Vgl. auch Michael Vester, Soziale Ungleichheit, Klassen und Kultur, in: Friedrich Jäger/ Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/ Weimar 2011, S. 318–340.
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bemerkenswerte Wende vollzogen, die sie für die historische Forschung sehr interessant macht. So haben die unterschiedlichsten Autoren Becks fruchtbaren Fehler aufgenommen und mit Blick auf die gesellschaftliche Empirie festgestellt, dass seine Ängste unbegründet waren. Denn in einem »Leben in Szenen« kann der Widerspruch aus Individualisierung und Gemeinschaft durchaus sozial organisiert werden.129 Beginnend in den 1970er Jahren bildeten sich neue soziale Gruppenmuster um kulturelle Vorstellungen und Praktiken heraus, die sich bisherigen jugend-oder klassenbezogenen Lesarten entzogen und in denen durch die »doppelte Kontingenz« eines inszenierten Konsums – also individuelle Distinktion durch die Zustimmung der Anderen – sowohl fluide wie sehr starre soziale Strukturen entstehen konnten.130 Sven Reichhardt hat diesen Spagat in seiner Arbeit zum alternativen Milieu zwischen den Polen von »Authentizität und Gemeinschaft« verortet131 und dabei auch die Thesen von Andreas Reckwitz aufgenommen, der das Streben nach »unverwechselbarer Individualität« in einer »post-bürokratischen Subjektkultur« in den vergangenen Jahren zu einer ganzen Gesellschaftstheorie der »Singularitäten« ausgebaut hat, deren Beginn er in den 1980er Jahren ansetzt.132 Die Qualitäten eines »konsumptorischen Kreativsubjekts«, das sich als »Unternehmer seiner Selbst« unter anderem in den Jugendkulturen angekündigt hatte, erlebte dabei einen gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsgewinn und beeinflusste nachhaltig, wie und auf welcher Grundlage wir uns heute vergemeinschaften.133 Individualisierung und Vergemeinschaftung drängten also historisch zu einem Ausgleich und es ist das Ziel dieses Kapitels, diesen Prozess während der »langen 1980er Jahre« für eine soziale Aushandlungsarena dieses Wandels, nämlich die Metal-Band, zu beschreiben. Wie wurde also das Streben nach Einzigartigkeit sozial organisiert? Als einer der wenigen Forscher zur Geschichte des Metals hat Steve Waksman in seiner Studie zum Verhältnis von Metal und Punk bereits diesen merkwürdigen und bisweilen irrational anmutenden sozialen Spagat beschrieben, der sich durch die Vergemeinschaftung von Metal-Szenen zog. Er schrieb: Synthesis and polarization, integration and disintegration, solidarity and distinction: from the moment of metal’s entry into the arena, these competing impulses were set in motion in a historically distinctive manner.134
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Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2000, S. 465f.; Vgl. auch Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen. 130 Vgl. Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner, Lebensführung und Lebensstile – Individualisierung, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung im Prozess der Modernisierung, in: Jäger/Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, S. 341–356, hier S. 352f. 131 Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 873f. (Zum Paradox der beiden Schlüsselbegriffe). 132 Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. 133 Vgl. ders., Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2012, S. 453–564 (zur sozialen Wirkung von Musik im Speziellen S. 475f.). 134 Vgl. Steve Waksman, This Ain’t The Summer of Love. Conflict and crossover in heavy metal and punk, Berkeley 2009, S. 306.
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Die Perspektive des Kapitels folgt aber auch den Plädoyers aus der Geschichtswissenschaft, die eine Erforschung sozialer Veränderungen durch Populärmusik anmahnte135 und zu bedenken gab, dass »musikalische Praktiken […] als Akte gesellschaftlicher Ordnung wichtig [sind, M.S.] und […] die kommunikative Ausbildung und Abgrenzung von Gruppen und Individuen«136 ermöglichen. Es wird daher gefragt, wie sich die neue soziale Logik der Gruppenbildung in Metal-Bands niederschlug. Wie und auf welchen Grundlagen fanden sich Bands zusammen? Wieso standen langjährig stabile Lineups neben permanenter Besetzungswechseln? Wie artikulierte sich der Individualitätsdrang in der kollektiven Ausübung musikalischer Praxis? Wie wurden die Produktion, das Songwriting und der Band-Alltag organisiert? Wie ließ sich das Distinktionsstreben als Band mit den kommerziellen Zwängen des Musikgeschäfts vereinbaren und wo offenbarten sich schließlich die Grenzen der gemeinsamen Gestaltungsspielräume?137 Die Historisierung der Frage, wie eine Band zu »ihrer Musik« kam, kann dabei helfen, die kürzlich hervorgehobene Unabhängigkeit der Produktion von Trends, Moden, vom Zeitgeist oder den Bedürfnissen der Konsumenten zu verstehen. Die Musikproduktion als Band war dabei relativ eigendynamisch und geschlossen und entstand oft performativ im Geflecht der Band und der Produzenten. Dennoch lässt sich eine grundsätzliche Trennung von Produzenten und Konsumenten mit gegenseitiger Handlungsunsicherheit, wie sie der »production of culture«-Ansatz postuliert, nicht vollständig auf die Metal-Bands und die Produktion der Musik übertragen.138 Denn die Trennung von Produktion und Rezeption139 schritt im Szenebildungsprozess, in den eine jede Band eingebettet war, in solcher Geschwindigkeit voran, das von einer generellen Unwissenheit über die Präferenzen der Konsumenten nicht mehr ausgegangen werden konnte. Man produzierte also durchaus mit dem expliziten Wissen um die Wünsche der Fans und es ist ein weiteres Ziel dieses Kapitels, die Grenzen dieses Wissens und dieses Orientierungswunsches aufzuzeigen. Um diese vielfältigen Fragen zu historisieren und immer wieder an die Gruppe rückbinden zu können, wird das Konzept des »sozialen Handlungsfelds«, das Thomas Welskopp ursprünglich für die Erforschung von Betrieben entworfen hatte, für die Pop-Geschichte adaptiert und auf die Geschichte von Metal-Bands übertragen.140 Die Band erscheint dabei nicht als starre Institution mit klar festgelegten Zielen und Praktiken, sondern als Aushandlungs-und Konfliktarena, in der Individuen aufeinandertrafen und die Parameter ihrer Gemeinschaft permanent neu bestimmten mussten. Auch das fünfte Kapitel versucht, geschichtswissenschaftliches Neuland zu erschließen und erweitert das Problem einer gemeinschaftsbildenden Individualität auf die 135 136 137
Vgl. Nathaus, Why Pop Changed And How It Mattered (Part II), S. 50. Müller/Rempe, Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung, S. 11. Vgl. Frank Bösch, Grenzen der Individualisierung. Soziale Einpassungen und Pluralisierungen in den 1970/80er Jahren, in: Großbölting/Livi/Spagnolo (Hg.), Jenseits der Moderne?, S. 123–140. 138 Zum ursprünglich 1976 von Richard Peterson für die Erforschung der Country Musik entwickelten Ansatz vgl. Nathaus, Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum, S. 274f.; Vgl. auch ders., Auf der Suche nach dem Publikum, S. 139–141; Vgl. auch ders., Why Pop Changed (Part I), S. 10f. 139 Als Entwicklung bei Müller/Rempe, Vergemeinschaftung, Pluralisierung, Fragmentierung, S. 24. 140 Vgl. Thomas Welskopp, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 118–142.
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Beziehungsgeschichte unterschiedlicher Pop-Phänomene. Bereits die Subkulturen der 1960er Jahre waren fluide Formationen an ihren gegenseitigen stilistischen Schnittstellen, sie erlebten Fusionen, (ungewollte) Kooperationen und später (gemeinsame) Revivals.141 So ist es angesichts der bis in die Gegenwart anhaltenden musikalischen Integrationskraft der Metal-Kultur sehr verwunderlich, dass die sozialen Grenzräume zu anderen musikalisch-basierten Jugendkulturen bisher kaum untersucht wurden.142 Die Arbeit geht davon aus, dass wir es weder bei (Heavy) Metal, noch bei Punk, Rap, Blues oder Reggae mit historischen Entitäten zu tun haben. Jeder dieser Begriffe durchlief in seiner musikalischen und sozialen Funktion einen permanenten Bedeutungswandel, nahm Einflüsse konflikthaft auf, stieß andere wiederum ab und entstand deshalb tatsächlich erst in seiner Beziehung zu dem, was er vorgab, nicht zu sein. Das Kapitel widmet sich daher der wichtigsten, offensichtlichsten und langfristigsten Verflechtung des Metals, nämlich seiner Schnittstelle mit dem Punk und Hardcore Punk. Es möchte die soziale Beziehungsgeschichte dieser beiden Kontrahenten, die dennoch nicht voneinander lassen konnten, nicht als Einsickern fremder Einflüsse, sondern als kontinuierliche Entstehungsgeschichte verstehen – also betonen, dass weder Punk noch Metal jemals »fertig« waren. Sie beeinflussten sich an räumlichen und medialen Kontaktzonen ständig und brachten mit dem »Crossover« sogar einen gemeinschaftsbildenden Hybriden hervor. Weder ein Metal-noch ein Punk-Fan zu sein beschränkte sich also auf eine Abgrenzung. Fantum schloss freilich nicht für alle eine soziale Integration lebensstilistischer Unterschiede ein (auch hier begegnen wir dem Anwachsen der Deutungsebenen des Wandels), doch konnten sich Trennungen über den Erfahrungsunterschied der Alterskohorten auch dauerhaft abschleifen.143 Um diesem Prozess empirisch gerecht zu werden, verfolgt das Kapitel die medial vermittelte Herausbildung der gegenseitigen Kontakträume während der späten 1970er Jahre, fragt, über welche Scharniere sich Konflikte und Kooperationen anbahnten, stabilisierten oder warum sie nicht zu Stande kommen konnten und begleitet diesen sozialen Prozess über die »langen 1980er Jahre« bis zu dem Punkt, an dem die Akteure selbst nicht mehr so richtig wussten, ob sie nun Teil einer Punk-oder Metal-Szene waren. Es wird nach den verbindenden und abstoßenden Elementen von zwei Pop-Phänomenen gesucht, die sich in ihrer »Identitätsarbeit«144 permanent durch einen Gegenüber herausgefordert sahen, der ähnlich, aber dennoch nicht völlig kompatibel war. Dazu werden vor
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Vgl. Siegfried, Time is on my side, S. 27; Vgl. Bodo Mrozek, Jugend, Pop, Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019. 142 Vor allem musikalisch bei Waksman, This Ain’t The Summer of Love; Historisch stehen ansonsten kaum Arbeiten zur Verfügung, die sich den 1970er und 1980er Jahren annehmen. Zur Gegenwart vgl. dagegen beispielsweise Stefano Barone, Metal, Rap, and Electro in Post-Revolutionary Tunisia: A Fragile Underground, Abingdon 2019; Vgl. Emma Baulch, Making Scenes, Reggae, punk, and death metal in 1990s Bali, Durham 2007. 143 Das Kapitel eröffnet dadurch auch eine historische Perspektive auf den Wandlungsprozess von Fantum. Vgl. Winfried Gebhardt, Fans und Distinktion, in: Jochen Roose/Mike S. Schäfer/Thomas Schmidt-Lux (Hg.), Fans. Soziologische Perspektiven, Wiesbaden 2017, S. 161–180 (Abgrenzung als eindeutiges Kennzeichen des Fans, S. 162). 144 Zur »Identitätsarbeit« durch Musik vgl. Renate Müller, Identität und Musik, in: Kulturelle Bildung Online, 2019: https://www.kubi-online.de/artikel/identitaet-musik (letzter Aufruf 29.08.2022).
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
allem die Konfrontation unterschiedlicher Körperregime und Bewegungsformen, verschiedener Rollenzuschreibungen der Geschlechter und ganz besonders die konträren Überzeugungen von der Sinnhaftigkeit politischer Forderungen in den Blick genommen. Es wird regional-vergleichend gezeigt, »wie viel« Punk in der Szene-Praxis des Metals steckte und wo die trennenden Elemente bestehen blieben – eine Geschichte voller Sinnkrisen, Seitenwechsel, Gewalt und Experimente. Das sechste Kapitel bildet schließlich das kommunikative Herzstück der Arbeit. Hier wird beschrieben, wie sich der Prozess der Szene-Bildung praktisch abspielte. Dazu geht der Abschnitt einleitend auf die Veränderungen der »langen 1980er Jahre« ein, diagnostiziert einen massiven Bedeutungsanstieg des Do-It-Yourself, der virtuellen Kommunikation und der »glokalen« Funktionslogik einer immer stärker globalen, doch immer auch lokal rückgekoppelten Metal-Szene. In Kritik unterschiedlicher SzeneKonzepte wird ein alternativer Szene-Entwicklungsbogen entworfen, der vor allem erfahrungsgeschichtlich-empirisch argumentiert. Daran anschließend verfolgt das Kapitel die verschiedenen Formen und Räume der Szene-Kommunikation Stück für Stück nach: Dazu zählen die Plattenläden und die Clubs, die Praktiken der Mobilität über regionale und nationale Grenzen hinweg, die integrierende und abgrenzende Funktion der wichtigsten Medien (Fanzines, Magazine, Radio und TV) sowie die überragende Bedeutung des globalen und postalisch organisierten Tape-Trading-Netzwerks. Verschiedene Forschungsperspektiven und -fragen sehr unterschiedlicher Disziplinen erfahren dabei eine empirische Integration: So kann die Frage, ob die Praktiken des »musicking« zu einer länder-und kulturübergreifenden Kommunikation beigetragen haben, für die Metal-Kultur getrost bejaht werden.145 Die sich ausbildenden Strukturen überschritten Regionen-und Ländergrenzen, politische Systeme, verbanden Stadt und Land und »made the world smaller.«146 Sie gingen zwar zunächst von Westeuropa und den USA aus, überzogen aber spätestens seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre den Globus mit nur wenigen Ausnahmen.147 Dabei gingen die Akteure zunehmend eigeninitiativ vor, instrumentalisierten technische und postalische Strukturen (oder tricksten diese aus), tauschten selbstproduzierte Kleidung und Musik, wiesen auf selbstorganisierte Konzerte hin und knüpften ein Underground-Netzwerk mit wachsendem Erwerbspotential. Sie beschritten alternative Wege der Kulturproduktion, die sich sowohl an die Individualisierungs-als auch die Prosumentenforschung anbinden lassen und die Frage aufwerfen, wie weit der Arm der individuellen Selbstverwirklichung geografisch, kommerziell und biografisch reichte.148 In jedem Fall dürfte die Geschichte des TapeTrading-Netzwerks einen Extremfall einer globalen und analogen low-budget-Vernetzung darstellen und auch spannende Bezüge zur historischen Netzwerkforschung 145 Vgl. Nathaus/Rempe, Introduction. Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 6. 146 Interview des Verfassers mit Dan Lilker, 56.37 Min. 147 Vgl. Deena Weinstein, The Globalization of Metal, in: Wallach/Berger/Greene (Hg.), Metal Rules The Globe, S. 34–59; Vgl. dies., Metal’s third wave in the era of post-globalization, in: Toni-Matti Karjalainen/Kimi Kärki (Hg.), Modern Heavy Metal. Markets, Practices and Cultures, Helsinki 2015, S. 14–19. 148 Vgl. Kai-Uwe Hellmann, Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte, in: Birgit Blättel-Mink/ Kai-Uwe Hellmann (Hg.), Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden 2010, S. 13–48.
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bieten, die das Eigengesetzliche der sozialen Netzwerkbildung und die dort existenten Regeln und Zwänge betont.149 Und nicht zuletzt möchte das Kapitel zur historischen Jugendmedienforschung beitragen, indem ein Beispiel eines transnationalen Transfers aufgezeigt wird, der sowohl Medien von Fans wie auch für Fans umfasste und in dem die Wechselwirkung von Konsumenten und Produzenten nur selten zu durchschauen war.150 Da bei dieser sozialen Kommunikations-und Mediengeschichte jedoch nicht der Eindruck entstehen soll, dass es sich bei metal-kultureller Vernetzung und SzeneBildung um reibungslose Emanzipationsgeschichten handelte, stellt das Kapitel der Kommunikation die Konkurrenz gegenüber. Weil sich selbst die kleinste Szene nicht als unkommerzielle Graswurzelbewegung bildete, sondern stets multiple Verknüpfungen mit Plattenlabels oder anderen Unternehmen aufwies (und sei es nur der Wunsch der Veröffentlichung),151 ist es unabdingbar, mit dem Wettbewerb die kommerzielle Ebene der sozialen Vernetzung einzubeziehen. Dies geschieht auf zwei Arten: Zunächst widmet sich der Abschnitt dem vergemeinschaftenden Einfluss von Gegen-Szenen und nimmt damit zur Kenntnis, dass Metal-Szenen empirisch vor allem dort starke Integrationskräfte entwickelten, wo ihnen eine stilfremde Szene in medialem, räumlichem und sozialem Kontakt gegenüberstand. Traf dies in den späten 1970er Jahren noch auf die Hippies und dann auf die Disco-Bewegung zu, verengten sich die Feindbilder schließlich besonders auf den sogenannten Glam Metal. Zum anderen zeigten sich Wettbewerbsmuster immer auch szene-intern. So waren Metal-Szenen trotz großer gegenseitiger Unterstützung nie reine Freundeskreise. Das Maß der medialen Aufmerksamkeit war beschränkt und erreichte jene Bands, die es verstanden, sich bereits früh in einer eigenen Nische abzugrenzen. Der Abschnitt verfolgt deshalb die vielen Strategien zur Herausbildung eines Alleinstellungsmerkmals, zeigt, wie diese Konkurrenz szene-intern verhandelt wurde und in welcher Beziehung sie zum »brotherhood«-Gedanken des Gründungsnarrativs stand. Abschließend stellt sie mit dem norwegischen Black Metal ein besonders drastisches Wettbewerbsmuster vor, dessen Radikalisierung den endgültigen Bruch mit dem »symbolischen Widerstand« begründete und in die Suche nach alternativen Transgressionsmethoden überleitete. Im siebenten Abschnitt widmet sich die Studie abschließend dem ambivalenten Verhältnis, das zwischen der szene-internen Kommerzialisierungskritik und der tat-
149 Vgl. Claire Lemercier, Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012) 1, S. 16–41; Zum Netzwerkansatz in der Erforschung sozialer Bewegungen (mit zahlreichen Anknüpfungspunkten an die verflechtende Popgeschichtsforschung) vgl. Frank Bösch, Kommunikative Netzwerke. Zur glokalen Formierung sozialer Bewegungen am Beispiel der Anti-Atomkraftproteste, in: Helke Stadtland/Jürgen Mittag (Hg.), Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in den Geschichtswissenschaften, Essen 2011, S. 149–166. 150 Zu den Forderungen der Jugendmedienforschung hinsichtlich Globalität, Vergleich und Vernetzung vgl. Aline Maldener/Clemens Zimmermann, Einleitung, in: dies. (Hg.), Let’s Historize It! Jugendmedien im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2018, S. 7–34. 151 Zur Entmystifizierung solcher Authentizitätskonstruktionen zuletzt vgl. Klaus Nathaus, Driven by Enthusiasm, Harnessed by Politics. Amateuring in Music, in: ders./Martin Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 79–101, hier S. 95.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
sächlichen Vermarktungslogik eines jeden Metal-Produkts steht. Da Heavy Metal aus der Rock-Musik entstand, das dort in den 1960er Jahren entwickelte Schisma aus Mainstream und Underground übernahm und dieses in der Folge noch weiter vertiefte, geht das Kapitel dreigleisig vor: In einem ersten Schritt wird das antikommerzielle Narrativ der Metal-Kultur bis in die späten 1970er Jahre zurückverfolgt, es werden seine wesentlichen Denkfiguren vorgestellt und einige Strategien antikommerzieller Abgrenzung empirisch beschrieben. In einem zweiten Schritt wird dann auf das wechselvolle Verhältnis der Major Labels und der Indie Labels eingegangen, deren vielfältige Arbeitsund Personalkontakte einen Kontrapunkt zur subkulturellen Mainstream-Feindschaft setzen und zeigen können, dass von einer kommerziellen Verwässerung der Subkultur auch im Metal meistens keine Rede sein konnte – vielmehr kam die Kommerzialisierung seit der NWOBHM eher zuerst und die subkulturelle Praxis schloss sich an.152 Die Indie Labels standen dabei in einem engen Vermarktungszusammenhang zwischen den dezentralen Underground-Netzwerken und den Major Labels. In ihrer Gründungsphase, Arbeitsweise und der Entwicklung ihrer Verträge mit den Musikern und den Major Labels (Plattenverträge, Distributionsverträge, Lizenzverträge) offenbarten sich die multiplen Bezüge der ambivalenten Kommerzialisierung besonders eindrücklich. Ein dritter Abschnitt beschäftigt sich schließlich mit den Arbeitsbereichen und Strategien des Band-Managements, einer einflussreichen Vermittlungsinstitution zwischen Produktion und Konsumtion sowie zwischen Underground-Narrativ und Kommerzialisierung, die selbst meist als DIY-Arbeitsbereich entstanden war und sich zwischen diesen widersprüchlichen Polen nachvollziehbar verorten musste.
1.3 Quellen Die Forschung zum Heavy Metal als sozialem Phänomen kann auf ein vielfältiges Quellenfundament bauen. Es umfasst einerseits die klassischen Quellen der Pop-Geschichte: Tonträger, Flyer, Plakate, Kleidungsstücke, selbstgemachte Fan-Artikel, Pins und Patches, Fotos und Videos, sowie die Musik selbst. Andererseits unterscheidet sich dieser Quellenkorpus stark von den Quellen, die in einem sozialgeschichtlichen Projekt außerhalb der Pop-Geschichte üblich sind – denn Archivalisches, wie es Unternehmen, Interessenorganisationen, Parteien, Vereine oder Behörden hinterlassen, sucht man für die Metal-Kultur meist vergeblich. Für die vorliegende Studie wurde daher nicht ein einziges »klassisches« Archiv besucht. In der Metal-Forschung ist dies jedoch nicht überall der Fall und es herrschen starke länder-und regionalspezifische Unterschiede. So können etwa Studien zum Heavy Metal in der DDR, etwa kürzlich von Nikolai Okunew oder Wolf-Georg Zaddach,153 auf einen umfassenden Bestand des Ministeriums für Staatssicherheit bauen, der Informationen in (für »westliche« Verhältnisse) unerreichter Fülle bietet, mit dem aber auch eine Tendenz zur Politikfokussierung einhergeht. Und auch innerhalb des »Westens« bestehen 152 153
Vgl. Nathaus, Auf der Suche nach dem Publikum, S. 149f.; Vgl. ders., Why ›Pop‹ Changed and How it Mattered (Part II), S. 46, 56, 57f. Vgl. Okunew, Red Metal; Vgl. Zaddach, Heavy Metal in der DDR.
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Quellendifferenzen: So arbeitet diese Studie mit einer Vielzahl an Zeitungs-und Zeitschriftenartikeln lokaler oder nationaler Periodika nicht-szenischer Provenienz, kann dabei aber für die regionalen Szenen der USA auf eine weitaus größeren Quellendichte bauen als etwa für Westdeutschland oder Schweden. Dies dürfte auf ein anderes mediales Interesse in den Vereinigten Staaten, aber auch in Norwegen, zurückzuführen sein, wo sich besonders politische, pädagogische und kirchliche Vertreter während der 1980er und 1990er Jahre in einer Intensität auf die Heavy Metal-Kultur einschossen, die im übrigen Westeuropa bei Weitem nicht erreicht wurde. Vor dem Hintergrund politischer Initiativen wie dem PMRC, des Widerstands lokaler Kirchgemeinden im Mittleren Westen oder der Kirchenbrandstiftungen und Morde in Norwegen hatten Metal-Bands und Metal-Konzerte in den USA und in Norwegen oft einen höheren Neuigkeitswert und erfuhren größere Aufmerksamkeit.154 Wie in der DDR war es auch hier die Verfolgungssituation, die den Quellenbestand generierte – mit zweischneidigen Folgen für die Historiker. Dass es dabei selbst dem MfS nicht immer leicht fiel, »Heavies« etwas vorzuwerfen, verweist bereits auf eine weitere Problematik: Heavy Metal und Extreme Metal waren (mit Ausnahme von Norwegen und zum Teil Schweden) keine »spektakulären« oder »widerständigen« »Subkulturen«, wurden vom CCCS in Birmingham aufgrund dieses vermeintlichen Mangels nicht einmal als Subkultur anerkannt und gewürdigt, und erzeugten auch ansonsten viel weniger die polizeiliche Aufmerksamkeit als die zeitgleich auftretenden Punks. Die in vielen Studien zurecht vertretene Ansicht, dass es sich bei Metalheads meistens um »normale« Bürger handelte, die ihrer Arbeit nachgingen und außer ihrer lauten Musik und distinkten Kleidung sowie den langen Haaren kaum auffielen,155 reißt jedoch ein weiteres Loch in ein ohnehin dünnes sozialgeschichtliches Quellenfundament. Um diesem Quellenmangel zu begegnen, arbeitet diese Studie im Großen und Ganzen mit acht Quellenkategorien: 1.) Interviews. Es wurden insgesamt 35 Interviews mit 41 Akteuren geführt. Die Kommunikation war von sehr verschiedener Dauer und Art, was vor allem auf die Reisebeschränkungen der Corona-Pandemie zurückzuführen ist. Acht Interviews wurden persönlich in London, Newcastle, Birmingham, South Shields, Dortmund und Köln geführt. Zehn Interviews wurden digital via Zoom oder Skype wie persönliche Interviews geführt. Drei Interviews wurden telefonisch durchgeführt. Die Dauer dieser Interviews betrug zwischen 25 und 130 Minuten. Weitere 13 Interviews liefen schriftlich ab, wobei die Länge von 20 bis zu mehreren Hundert Zeilen reichte. Ein Interview war ein Hybrid, 154
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Vgl. Marco Swiniartzki, Why Florida? Regional conditions and further development of the »Florida death metal« scene and the local public response (1984–1994), in: Journal of Popular Music Studies 33 (2021) 3, S. 168–193; Vgl. ders., Szene-Eilten. Selbststilisierung, soziale Praxis und postmoderne Ästhetisierung am Beispiel des norwegischen Black Metals, in: Archiv für Sozialgeschichte 61 (2021), S. 445–469; Zu den »Detractors« in den USA generell vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 237–275; Vgl. auch Ika Johannesson/Jon Jefferson Klingberg, Blood, Fire, Death. The Swedish Metal Story, Port Townsend 2018, S. 141–149. Vgl. Okunew, Red Metal; Vgl. Chaker, Schwarzmetall und Todesblei; Vgl. Weinstein, Heavy Metal; Vgl. Roccor, Heavy Metal; Vgl. Kahn-Harris, Extreme Metal.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
in dem ich schriftliche Fragen einreichte und Gerry Pepperd (Jaguar) seine Antworten per Rekorder mündlich aufnahm und zur Transkription übersendete. Insgesamt wurden 63 Interviewanfragen gestellt, 35 führten zu Interviews, 14 führten trotz eines Anbahnungsprozesses nicht zu einem Interview und auf 16 Anfragen erfolgte keine Reaktion. Die Antwortquote von circa 77 Prozent sowie die »Erfolgsquote« von circa 55 Prozent können als Erfolg gelten und waren eine große Überraschung. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei fast allen Akteuren um aktive, tourende und produzierende Musiker sowie einige Manager, Journalisten und Tape Trader handelt, erfuhr ich eine überragende Resonanz und trotz völlig fehlender »Credentials« über eine ausgezeichnete und kollegiale Behandlung. Besonders bei den älteren Gesprächspartnern, die ihre Karriere während oder kurz nach der NWOBHM starteten, war dabei eine ausgeprägte Kooperationsbereitschaft zu erkennen, die sowohl aus einer altersbedingten Sorge um die Erinnerung an die eigene Band resultierte als auch der Tatsache geschuldet ist, dass die NWOBHM als Initiations-und Hochphase der Geschichte des Heavy Metals in den vergangenen Jahren wieder verstärkt erinnert wird.156 Dagegen erschien die Selbstverständlichkeit, mit der viele der Akteure aus den Death Metal-Szenen der USA und Skandinaviens auf die Anfragen reagierten, wie eine Verlängerung ihrer Do-It-YourselfErfahrungen, die sie um 1990 mit Fanzine-Interviews und im Tape Trading gesammelt hatten. Viele waren sofort bereit, sich für einen ihnen unbekannten deutschen Historiker, der nicht einmal über die Musik sprechen wollte, mehrere Stunden Zeit zu nehmen. Unabhängig vom Alter der Befragten war also zu spüren, was Lutz Niethammer bereits 1985 herausstellte: Der Charakter des Interviews als »ungleicher Tausch« wurde dadurch etwas gelindert, dass die Befragten die Antworten als Teil ihres Vermächtnisses interpretieren können.157 Die Transkription der persönlichen, digitalen und telefonischen Interviews erfolgte nach den einfachen Transkriptionsregeln von Dresing und Pehl (2011).158 Allerdings wurden dabei drei Erweiterungen vorgenommen: Füllwörter wie »hmm«, »äh« oder »you know« wurden mit transkribiert, nonverbale Äußerungen wie Lachen, Seufzen, Stirnrunzeln oder Gestik übertragen und auch Dialekt beibehalten. Dieses Vorgehen hat mehrere Vorteile: Zum einen ist es weniger zeitintensiv als komplexere Transkriptionssysteme und musste angewandt werden, um die Anzahl der Interviews im Projektzeitraum realisieren zu können. Zum anderen integriert es sprachliche Bestandteile, die über das Inhaltliche hinausgehen, aber wesentliche Folgen für die Quelleninterpretation besitzen können. So gehört beispielsweise der Dialekt einiger Musiker aus dem Ruhrgebiet zu einer Authentizitätskonstruktion, die auch bei der musikalischen Bewertung wirksam war. Genauso wie die »Geordies« im Nordosten Englands oder die »Yinzers« in Pittsburgh gehörten hier sprachliche Eigenheiten zu einem komplizierten Abgrenzungssys-
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Vgl. etwa die Jubiläumsausgabe des Rock Hard »40 Jahre NWOBHM. Die Geschichte der wichtigsten Metal-Bewegung aller Zeiten«, Rock Hard 37 (2019) 390. Lutz Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History, in: ders./Alexander von Plato (Hg.), »Wir kriegen jetzt andere Zeiten.« Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Berlin 1985, S. 392–445, hier S. 399. Vgl. Thorsten Dresing/Thorsten Pehl, Praxisbuch Interview, Transkription & Analyse. Anleitungen und Regelsysteme für qualitativ Forschende, 8. Aufl., Marburg 2018.
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tem und besaßen hohe soziale und kommerzielle Bedeutung. Darüber hinaus erfolgte die Transkription der nonverbalen Äußerungen (besonders des Lachens), weil einige Interviews mit mehreren Gesprächspartnern durchgeführt wurden und solche Äußerungen die soziale Dynamik des Interviews anzeigten – sich in einigen Fällen aber auch in verstärkender oder abschwächender Weise auf den gesprochenen Inhalt auswirkten. Vor allem, wenn es um die Hinterfragung von langfristiger Zufriedenheit, Ernüchterung, von persönlichen Brüchen und Hurra-Erlebnissen geht, spielen nonverbale Äußerungen daher eine zentrale Rolle. 2.) Kollektivbiografie. Da quantitative Aussagen zu den Akteuren der Metal-Szenen bisher nicht möglich waren, strengte das Projekt eine Sammlung individueller Erwerbsbiografien der Musiker an und ordnete die Ergebnisse von etwa 250 Akteuren tabellarisch (Kapitel 2).159 Dabei wurde sehr deutlich, mit welchen Quellenproblemen ein Interesse an den musikalischen Amateuren verbunden ist.160 Die Arbeitsbiografien und -beziehungen in diesem Bereich waren sehr oft informeller Natur, erzeugten kaum schriftliche Dokumente und lassen sich auch nicht über den archivalischen Zugriff der Tarifparteien erschließen. Denn Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften sucht man in den Arbeitsbeziehungen der Metal-Kultur vergeblich. Die hier über Fanzines und Interviews verfolgte Kollektivbiografie stellt daher auch lediglich einen ersten Anfang für eine weitere sozialhistorische Beschäftigung mit den Akteuren dar, die hinsichtlich der Kategorie der Arbeit erweitert und auf andere Fragestellungen ausgeweitet werden sollte. Eine weitere Eingrenzung gilt für den Personenkreis deshalb, weil es sich ausschließlich um Musiker und Musikerinnen handelt. Hinsichtlich der Metal-Fans, für die das Projekt einige Unterschiede gegenüber den Musikern annimmt, erweist sich die Quellenlage und die Möglichkeit eines Interview-Zugriffs als noch diffuser. Hier könnte höchstens ein langfristiges Projekt mehrerer Forschender Abhilfe schaffen. Die hier vorliegende Arbeit muss sich daher mit einer Problematisierung des Unterschieds zwischen Musikern und Fans begnügen. 3.) Fanzines. Es wurden insgesamt mehr als 50 Fanzines aus mehr als 15 Ländern ausgewertet.161 Dazu gehören sowohl die mittlerweile »editiert« vorhandenen Klassiker wie Slayer (Norwegen), Isten (Finnland), Voices From The Darkside (BRD) oder Metalcore (USA) als auch weniger bekannte und nur in wenigen Ausgaben erschienene Fanzines aus etwa
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Vgl. Wilhelm Heinz Schröder, Kollektivbiographie als interdisziplinäre Methode in der historischen Sozialforschung. Eine persönliche Retrospektive, Köln 2011, S. 131: Eine Kollektivbiografie ist laut Schröder »…die theoretisch und methodisch reflektierte, empirische, besonders auch quantitativ gestützte Erforschung eines historischen Personenkollektivs in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext anhand einer vergleichenden Analyse der individuellen Lebensläufe der Kollektivmitglieder.« 160 Vgl. Marc Perrenoud, Performing for Pay. The Making and Undoing of the Music Profession, in: Nathaus/Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 59–78, hier S. 61. 161 Zum Fanzine grundlegend vgl. Karl Siebengartner, Fanzines als Jugendmedien. Die Punkszene in München von 1979–1982, in: Maldener/Zimmermann (Hg.), Let’s Historize It!, S. 259–282; Vgl. auch Stephen Duncombe, Notes from Underground. Zines and the politics of alternative culture, London 1997.
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Spanien, Griechenland, Japan oder Kanada. Der Zugriff auf die Fanzines als Quelle zur Erforschung der Metal-Kultur hat sich in den vergangenen Jahren stark vereinfacht. Neben gedruckten Zusammenstellungen ist dies vor allem auf gemeinsame digitale Sammlungsvorhaben zurückzuführen, von denen in diesem Projekt besonders »Send Back My Stamps«162 und »The Corroseum«163 breit genutzt wurden. Das Fanzine erweist sich dabei besonders als zentrales Medium zur Informationsgewinnung hinsichtlich der Praxis von Musikern, Fans, Bands oder Szenen, kann aber auch hervorragend eingesetzt werden, um den Wandel von Begriffszuschreibungen, Selbstverständnissen und Denkfiguren nachzuverfolgen. Dies gilt umso mehr, wenn ein Abgleich mit aktuellen Interviews durchgeführt wird. Nicht selten ergeben sich dabei wertvolle Ansätze für die Erforschung von Erinnerungsregimen, für die wandelbare Verhandlung der Kommerzialisierung der Musik, aber auch schlicht und ergreifend unschätzbare (und meist nebenbei geäußerte) Informationen zu den sozialgeschichtlichen Untersuchungskategorien wie Arbeit, Familie, Wohnumfeld oder Hobbies. Eine Auseinandersetzung mit dem Medium Fanzine erfolgt in Kapitel 6. 4.) Magazine. In etwas geringerer Frequenz als die Fanzines werden auch kommerzielle Metal-Magazine genutzt, unter denen vor allem die weithin bekannten Vertreter wie Sounds, Kerrang!, Aardschock, Metal Hammer, Rock Hard, Metal Forces oder Metal Maniacs begegnen. Für die Quellenqualität gilt dabei fast dasselbe wie bei den Fanzines, die mit den kommerziellen Magazinen während der »langen 1980er Jahre« in einem engen personellen und ideellen Zusammenhang standen, aber auch zentrale Unterschiede im Leserkreis, der Finanzierung, Verbreitung und Handlungslogik aufwiesen. Die Verflechtungen und Differenzen dieser beiden Medien werden ebenfalls in Kapitel 6 problematisiert. 5.) (Auto)Biografien. Es ist ein Indiz für die Bedeutung der umkämpften Vergangenheitsdeutung in der Metal-Kultur, dass die Autobiografie zu ihren wichtigsten Veröffentlichungsformen gehört. So haben in den vergangenen Jahren viele der zentralen Akteure dieser Studie solche Werke selbst vorgelegt oder sich dabei unterstützen lassen. Zu nennen sind hier vor allem Rob Halford (Judas Priest), Biff Byford (Saxon), »Lemmy« (Motörhead), Brian Tatler (Diamond Head), Scott Ian (Anthrax), Dan Lilker (Nuclear Assault u.a.), Bruce Dickinson (Iron Maiden), Brian Slagel (Metal Blade Records), Jon Zazula (Megaforce Records) oder Paul Halmshaw (Peaceville Records). Gleichzeitig floriert ein Markt populärer Darstellungen zu einzelnen Musik-Labels, Bands, Musikern oder Sub-Genres. Die notwendige Vorsicht bei der Interpretation vorausgesetzt, handelt es sich bei diesen Autobiografien um wichtige Quellen, weil sie den musikalischen Fokus des MetalDiskurses entscheidend erweitern. Sie liefern Informationen und Erfahrungen zum Erwerbsleben, zum familiären Hintergrund und dem Alltag jenseits der Musik, die sich bei der eingeschränkten Quellenlage ansonsten kaum gewinnen ließen.
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Vgl. Send Back My Stamps. Metal History through Fanzines, URL: https://www.sendbackmystamp s.org/ (letzter Aufruf 29.08.2022). Vgl. The Corroseum. Your Trusty Shovel in the Heavy Metal Graveyard, URL: https://thecorroseum .org/ (letzter Aufruf 29.08.2022).
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6.) Regionale und nationale Zeitungen. Es wurden Artikel aus mehr als 50 verschiedenen Tages-und Wochenzeitungen aus den USA, aus Großbritannien, (West)-Deutschland, Schweden und Norwegen ausgewertet. Anders als in Fanzines und Magazinen wird dabei bis auf wenige Ausnahmen nicht ein szene-interner Blick, sondern eine regionalgesellschaftliche Perspektive eingenommen, die einerseits der Informationsgewinnung dient (etwa über Konzerte, Preisverleihungen, Festivals oder Verkaufszahlen), andererseits aber auch Rückschlüsse auf den Wandel von Kritik zulässt. Besonders im Zusammenhang mit lokalen Problemen mit den Anwohnern, mit Delikten und Verbrechen und anstehenden Großkonzerten kann dabei nachverfolgt werden, wie sich das Bild des Heavy Metal vom stigmatisierten subkulturellen Vertreter zum akzeptierten Teil des Pop verschob und wie kriminalisierende (USA) und kulturell-minderwertige Begutachtungen (USA, Westdeutschland, England) einer verständnisvolleren Sichtweise wichen und sich bereits während der 1990er Jahre einer kulturtouristisch-begründeten Goutierung öffneten.164 7.) Wirtschafts-und sozialgeschichtliche Literatur. Zu den hier untersuchten SzeneRegionen besteht eine unterschiedlich breite Literaturgrundlage, die es ermöglichte, die Parameter des gesellschaftlichen Wandels in Arbeit, Raumentwicklung und Vergemeinschaftung an die Angebote und den Wandel des Lebensstils zu koppeln. Besonders zum Ruhrgebiet, zur Bay Area of San Francisco, zum US-amerikanischen Nordosten und zu den englischen Metropolen existieren hervorragende Arbeiten, die strukturelle Entwicklungen mit mikro-und erfahrungsgeschichtlichen Perspektiven verbinden und dadurch für die Fragestellung dieser Arbeit anschlussfähig machen. Vor allem die Kapitel 2 und 3 haben maßgeblich von diesen Studien profitiert, während ihre Dichte in den Abschnitten, die sich den szene-internen Verhandlungen widmen, freilich abnimmt. Das siebente Kapitel zur ambivalenten Kommerzialisierung konnte sich wiederum auf eine – in den vergangenen Jahren stark gewachsene – Literaturgrundlage der Popular Music Studies stützen, die sich den Machtbeziehungen, Unternehmensstrukturen und Arbeitsbedingungen in den vielen Facetten der Musikindustrie annimmt und wertvolle Fragen und Ansätze für die Metal-Kultur anbot. 8.) Fotos, Karten, Artefakte. Wenn auch in geringerer Dichte als in »üblichen« Studien zur Metal-Kultur, arbeitet die Studie natürlich auch mit Abbildungen, zu denen einerseits Karten, andererseits Fotografien von Bands, Konzerten, Orten und Situationen gehören. Hinzu kommen Alben-Cover sowie Artefakte wie Newsletter, Flyer und Plakate. Gedankt sei hier den Interviewpartnern, von denen einige bereitwillig Bildmaterial zur Verfügung stellten.165
164 Vgl. Swiniartzki, Why Florida?, S. 186–189. 165 Andreas Lackaw & Arnd Klink (Darkness), Alan Jones (Pagan Altar), Brian Tatler (Diamond Head), Garry Pepperd (Jaguar), John Gallagher (Raven) und Johnny Hedlund (Unleashed).
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1.4 Fallauswahl, Begriffe und Methodik Die Studie nimmt einige der aktuellen methodischen und theoretischen Plädoyers der historischen Forschung auf und entwirft daraus ein regional-vergleichend-verflechtendes Forschungsdesign. Ausgehend von den Rufen nach einer »kleinteiligeren Kartierung«166 von sozialen Wandlungsprozessen, die als Korrektiv für makrohistorische Umbruch-Thesen dienen können, sowie nach einer gleichberechtigten Einbeziehung kultureller Differenzen im sozioökonomischen Wandel, widmet sich die Arbeit den sieben wichtigsten Szene-Räumen der »westlichen« Metal-Entwicklung zunächst vergleichend. Die besonderen Stärken des Vergleichs, dessen abwägendes Kontrastieren und Synchronisieren es ermöglicht, die Ursachen von Differenzen und Ähnlichkeiten näher zu untersuchen, sind im Rahmen der Erforschung der Metal-Kultur bisher ungenutzt geblieben.167 Anders als die theoretische Reflexion hat die methodische Schärfung hier noch keine Beachtung gefunden.168 Selbst ein Sammelband zu den Methoden der Metal Music Studies würdigt den Vergleich nicht169 und die Mahnungen von Keith KahnHarris, der 2007 einige Vergleichsmöglichkeiten zwischen Extreme Metal-Szenen vorschlug170 sowie von Deena Weinstein, die 2016 nach »comparative study« verlangte, blieben folgenlos.171 Dies verwundert vor allem deshalb, weil die vergleichende Methodik eine Verknüpfung der vielfältigen, aber zeitlich wie räumlich seltsam kontextlosen Ergebnisse dieser Forschungen realisieren und mittelfristig tatsächlich Aussagen über die Entwicklung der Metal-Kultur ermöglichen könnte. Im Folgenden werden daher die »New Wave of British Heavy Metal« in England (etwa 1978–1983), die Metal-Szene des Ruhrgebiets (ab etwa 1982) sowie der San Francisco Bay Area (ab etwa 1981), die Szene im US-amerikanischen Nordosten (NY, NJ, PA, ab etwa 1981) sowie die Death Metal-Szenen in Florida und Schweden und die Black Metal-Szene in Norwegen (ab etwa 1986) auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. Auf jeder der sechs oben skizzierten Untersuchungsebenen wird gefragt, wo sich die Erfahrungen und Praktiken der Akteure im Wandel ihrer jeweiligen Szenen und ihrer jeweiligen Regionen überschnitten und wo sich unterschiedliche Handlungsweisen, Denkfiguren und Handlungszwänge artikulierten. Der Vergleich arbeitet dabei durch die sich überschneidenden Hochphasen der Vergleichsfälle sowohl diachron wie synchron.172 166 Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 14–30, 478. 167 Vgl. Martin Pfleiderer, Geschichtsschreibung populärer Musik im Vergleich, in: Dietrich Helms/ Thomas Phleps (Hg.), Geschichte wird gemacht. Zur Historiographie populärer Musik, Bielefeld 2014, S. 55–75. 168 So auch bereits bei: Andy Bennett, Researching youth culture and popular music. A methodological critique, in: British Journal of Sociology 53 (2002) 3, S. 451–466. 169 Vgl. Florian Heesch/Anna-Katharina Höpflinger, Methoden der Heavy Metal Forschung. Einleitung, in: dies. (Hg.), Methoden der Heavy Metal Forschung. Interdisziplinäre Zugänge, Münster 2014, S. 9–30. 170 Vgl. Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 97–111. 171 Deena Weinstein, Reflections on Metal Studies, in: Andy R. Brown u.a. (Hg.), Global metal music and culture. Current directions in metal studies, New York/London 2016, S. 22–31, hier S. 29. 172 Zum Vergleich als Methode vgl. Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.
1. Open End
Die Fallauswahl erfolgte musikalisch und empirisch, da es sich um jene Räume handelte, aus denen in den »langen 1980er Jahren« die meisten Bands, die wichtigsten Alben und die prägendsten Kategorien hervorgingen – aber auch, weil sie historisch wie gegenwärtig von den Akteuren als Szene-Räume adressiert werden. Während mit der NWOBHM die Etablierung des »klassischen« Heavy Metals verbunden war, sind die Szenen im Ruhrgebiet, in Kalifornien und New York besonders mit der Genese des Thrash Metals, die Szenen in Florida, Stockholm und New Jersey/New York mit dem Death Metal und die Szene in Norwegen mit dem Black Metal verbunden. Die Auswahl der Vergleichsfälle soll dadurch auch dem besonderen Umstand Rechnung tragen, dass es sich bei der sozialen Geschichte des Heavy Metals und Extreme Metals um eine stark musikfokussierte Vergemeinschaftung handelte. Aspekte der Kleidung, der Politik und der Symbolik spielten hier – verglichen mit den jugendkulturellen Vorgängern – eine geringere Rolle.173 Über ihren Einfluss auf die Vergemeinschaftung hinaus begegnet die Musik in dieser Arbeit jedoch nicht in ihrer kompositorischen oder strukturellen Form. Dazu fehlt dem Autor das musikwissenschaftliche Rüstzeug. Es geht vielmehr um ihre sozialen Folgen. Zu trennen sind diese Bereiche in der historischen Alltagswirklichkeit natürlich nicht, weshalb die sporadischen Ergebnisse der musikwissenschaftlichen Forschung stets in Beziehung zu ihren vergemeinschaftenden Wirkungen gesetzt werden sollen.174 Als besonders einflussreich erwies sich dabei vor allem die fortwährende musikalische Kategorienbildung mit ihren in-und exkludierenden Auswirkungen. Um diesen begrifflichen Aspekt der musikalischen Szene-Bildung zu würdigen und beschreibbar zu machen, arbeitet die Studie mit dem Begriff »Heavy Metal« dort, wo er sich auf den (heute als »klassisch« konnotierten) Stil jener Bands bezieht, die im Rahmen der »New Wave of British Heavy Metal« hervortraten oder sich diesem Stil während eines der vielen Revivals annahmen. »Heavy Metal« umfasst daher im Rahmen dieser Studie vor allem die Musik von Bands wie Iron Maiden, Saxon, Judas Priest, Black Sabbath, Diamond Head, Tygers of Pan Tang, Accept, Def Leppard oder Mythra. Die quantitative Hochphase erlebte dieser klassische Heavy Metal zwischen 1978 und 1983.175 Alle Stile bzw. Sub-Genres, die sich an diesen Heavy Metal anschlossen und ihn radikalisierten, schneller, härter und extremer machten, werden hier als »Extreme Metal« bezeichnet. Dazu gehören Thrash Metal, Speed Metal, Death Metal, Black Metal und auch Doom Metal, während der sogenannte Glam Metal zu den Formen des klassischen Heavy Metals zählt. Die Abgrenzung wird vorgenommen, weil sich nicht nur die Musik, sondern auch die soziale Szene-Bildung
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1996; Vgl. Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1999; Vgl. Jan Rüger, OXO: Or, the challenges of transnational history, in: European History Quarterly 40 (2010) 4, S. 656–668. Die Musik als »master emblem« bereits bei Weinstein, Heavy Metal, S. 99; Vgl. zur omnipräsenten Musikfokussierung auch Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 53. Vgl. etwa Ross Hagen, Musical Style, Ideology, and Mythology in Norwegian Black Metal, in: Wallach/Berger/Greene (Hg.), Metal Rules The Globe, S. 180–199; Vgl. Cope, Black Sabbath and the rise of heavy metal music; Vgl. auch die zahlreichen Veröffentlichungen von Jan-Peter Herbst. Zur Ein-und Abgrenzung von Heavy Metal und Extreme Metal vgl. Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 2–5. Er arbeitet dabei mit der Dichotomie Weinsteins, die die Entwicklung nach der NWOBHM in zwei Richtungen, Mainstream und »fundamentalism«, beschrieb (Weinstein, Heavy Metal, S. 48f.).
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beim Extreme Metal deutlich von der Vergemeinschaftung während der NWOBHM in den frühen 1980er Jahren in England absetzte. Es handelt sich bei diesen Kategorisierungen jedoch um »notwendige Übel«, die einen Wandel erzählbar machen, aber ständig durch querliegende Grautöne und Übergänge konterkariert wurden, die es mit zu berücksichtigen gilt, und die überdies selbst als Teil medialer und kommerzieller Motive zu historisieren sind. Quantitativ betrachtet (Band-und Musikerzahl) entwickelte sich die Metal-Kultur in zeitlichen Wellen dieser Kategorien. So erlebte Thrash Metal ab 1981 einen Aufstieg, der 1987 seinen Höhepunkt hatte, während man 1994 am Tiefpunkt angelangt war und ab 2000 wieder anstieg. Zu den prägenden Bands gehörten dabei Exodus, Metallica, Slayer, Anthrax, Megadeth, Destruction, Kreator, Sodom, Nuclear Assault, Death Angel und Dark Angel. Death Metal stieg 1986 stark an, kulminierte 1992, fiel dann stark ab und stieg ab 1996 wieder an. Die wichtigsten Bands waren dabei Morbid Angel, Death, Autopsy, Entombed, Dismember, Bolt Thrower und viele mehr. Black Metal stieg 1990 rapide an und erlebte trotz eines kleinen Rückgangs Mitte der 1990er Jahre bis zur Jahrtausendwende keine nennenswerten Einbrüche. Als besonders einflussreich erwiesen sich dabei Mayhem, während der prototypische norwegische Black Metal eher von Darkthrone, Emperor oder Immortal verkörpert wurde. In absoluten Zahlen spielten im Jahr 2000 etwa 3.000 Musiker Death Metal, während es beim Black Metal etwa 2.200 waren (1999) – gefolgt vom Heavy Metal mit etwa 1.600 und vom Thrash Metal mit etwa 1.200.176 Die zeitliche Überlappung wie auch die globale Kommunikation deuten jedoch bereits schon an, dass der Vergleich für die Erklärung der Wandlungsprozesse vom Transfer begleitet werden muss.177 Denn zwischen den Vergleichsfällen entstanden zahlreiche Kommunikationsbeziehungen, »flows« und Einflüsse, die während der »langen 1980er Jahre« beständig zunahmen und langsam begannen, die Existenz der regionalen Szenen mit einer globalen Metal-Szene zu überwölben. Diese Gleichzeitigkeit des Trennenden mit dem Verbindenden hat in der Vergangenheit zu zahlreichen wissenschaftlichen Forderungen geführt, die Zeit seit den 1970er Jahren in Form einer »connective comparison«178 zu untersuchen – es »wäre […] eine Geschichtsdarstellung wünschenswert, die weltweite Einflusslinien und Interdependenzen sowie regionale Besonderheiten stärker in den Blick bekommt«179 , die globale Trends an regionale Besonderheiten rückbindet180 und die konkrete Handlungspraktiken für die Herausbildung abstrakter kollektiver Identitäten würdigt.181 Aufgrund der Beobachtung des Projekts, dass sich neben regionalspezifischen Unterschieden stets auch empirische Beispiele finden lassen, in denen eine Tradierung 176
Zur quantitativen Entwicklung der Sub-Genres vgl. Pauwke Berkers/Julian Schaap, Gender Inequality in Metal Music Production, Bingley 2018, S. 55. 177 Zum Kulturtransfer vgl. Matthias Middell, Kulturtransfer, Transferts culturels, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 28.01.2016, URL: http://docupedia.de/zg/middell_kulturtransfer_v1_d e_2016 (letzter Aufruf 29.08.2022). 178 Maldener/Zimmermann, Einleitung, S. 11. 179 Pfleiderer, Geschichtsschreibung populärer Musik im Vergleich, S. 72f. 180 Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 14f. 181 Vgl. Dieter Rucht, Kollektive Identitäten. Konzeptionelle Überlegungen zu einem Desiderat der Bewegungsforschung, in: Neue Soziale Bewegungen 8 (1995) 1, S. 9–23.
1. Open End
durch den Untersuchungszeitraum »von Szene zu Szene« oder interregionale Gleichzeitigkeiten offenbar werden, verknüpft die Studie den Vergleich und den Transfer in Form der »Glokalität«, d.h. der Interdependenz des Nahen und des Fernen für die Herausbildung von Vergemeinschaftungen durch Metal-Musik.182 Für das Vorhaben besitzt der Ansatz den großen Vorteil, eine Verknüpfung regional unterschiedlicher und sich dennoch über bestimmte Prinzipien international vernetzender Szenen bewerkstelligen zu können sowie vergleichende und transferorientierte Erklärungen mit ihren jeweiligen Vorteilen zu verbinden.183 So wies bereits 1993 Kruse darauf hin, dass »Lokalität« in der populären Musik erst in einem translokalen Netzwerk zur Wirklichkeit wird und sich die lokale Identität erst aus den wahrgenommenen Unterschieden zu anderen lokalen Verdichtungen ergibt.184 Für einige städtische Punk-und Post-Punk-Szenen ist dieser Ansatz der »Glokalität« bereits fruchtbar gemacht worden und soll in dieser Studie ebenfalls Anwendung finden.185 Doch bei aller verständlichen Fokussierung auf das Zusammenspiel des Regionalen und des Globalen durch die Forschung ist zurecht darauf hingewiesen worden, den nationalen Rahmen des Handelns und Denkens der Akteure nicht vernachlässigen zu können.186 Viele wichtige Untersuchungsgegenstände im Projekt, dies betrifft vor allem ökonomische und mediale Aspekte, sind wesentlich durch staatliche institutionelle Regelungen beeinflusst worden und sollen das Konstrukt der Glokalität dementsprechend erweitern.187 Die Verknüpfung dieser musikalischen Entwicklungen mit dem sozialen Wandel erfolgt durch den Begriff der »Szene.« Die Verwendung des Konzepts resultierte aus der pragmatischen Erwägung, dass die »Szene« als räumlicher Kommunikationsraum dazu geeignet ist, die regionalspezifischen Wandlungsprozesse von Pop und Gesellschaft zu verbinden, dass sie das Globale und das Lokale im Gleichschritt abbilden kann und
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Zum Konzept der Glokalität vgl. Roland Robertson, Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.), Global Modernities, London/Thousand Oaks/New Delhi 1994, S. 25–44; Vgl. auch Hartmut Möller, Koordinaten im Umgang mit glokalen musikalischen Jugendkulturen, in: Dirk Villányi (Hg.), Globale Jugend und Jugendkulturen. Aufwachsen im Zeitalter der Globalisierung, Weinheim 2007, S. 267–281. 183 Vgl. Hartmut Kaelble, Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?, in: Connections. A Journal for Historians and Area Specialists, 08.02.2005, www.connections.clio-online.net/article/ id/artikel-574 (letzter Aufruf 26.08.2022). 184 Vgl. Rachel Emms/Nick Crossley, Translocality, Network Structure, and Music Worlds. Underground Metal in the United Kingdom, in: Canadian review of sociology = Revue canadienne de sociologie 55 (2018) 1, S. 111–135; Vgl. Kruse, Subcultural Identity and Alternative Music Culture, in: Popular Music 12 (1993) 1, S. 33–41. 185 Vgl. Giacomo Bottá, Deindustrialisation and popular music. Punk and ›post-punk‹ in Manchester, Düsseldorf, Torino and Tampere, London/New York 2020, S. 6f. 186 Vgl. Ian D. Biddle/Vanessa Knights, Introduction. National Popular Musics. Betwixt and Beyond the Local and Global, in: dies. (Hg.), Music, national identity and the politics of location. Between the global and the local, Aldershot 2007, S. 1–15. 187 Zum ersten Versuch einer Verbindung der Glokalität mit der Metal-Kultur vgl. Imke von Helden, Glocal Metal. Lokale Phänomene einer globalen Heavy Metal-Kultur, in: Nohr/Schwaab (Hg.), Metal Matters, S. 379–388.
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den technologischen Wandel zur Virtualität zu integrieren vermag.188 Überdies weist sie viele Schnittmengen mit dem Begriff der »Region« auf, der als geografisch-flexibel-definierbarer Erfahrungs-und Strukturraum ebenfalls die Mikro-mit der Makroebene und das Soziale mit dem Kulturellen verknüpfen und eine Perspektive auf gesellschaftliche Entwicklung bereichern kann.189 Dagegen wird der Begriff der »Subkultur« als geschichtswissenschaftliches Analyseinstrument selbst historisiert: Dort, wo Akteure von ihren Gefühlen der Andersartigkeit, der Exklusivität ihrer Gemeinschaft oder dem empfundenen Konflikt mit »dem Mainstream« sprechen, findet die »Subkultur« als Quellenbegriff eine Verwendung. In der Beschreibung des entstehenden sozialen Systems rund um die Musik wird jedoch von einer neutraleren »Metal-Kultur« die Rede sein, die das wissenschaftshistorische Erbe der Subkulturforschung nicht reproduzieren möchte. Eine besondere methodische Bedeutung kommt der Anbahnung sowie Durchführung der Interviews zu. Der Kontakt zu den Gesprächspartnern entstand über die zur Verfügung stehenden Mailadressen und Telefonnummern in den sozialen Medien oder auf den Websites der Bands, die entweder direkt zu den Akteuren oder zu deren Managements, Plattenfirmen oder Booking-Agenturen führten. Mit den Anfragen war zunächst nur eine sehr kurze Skizze des Erkenntnisinteresses des Projekts verbunden und es wurden die Themen für ein mögliches Interview vorgeschlagen. Im Fall des Erfolgs der Anfrage wurde anschließend ein umfassenderer Überblick über das Projekt versendet. Die Wahl der Zeit und des Ortes der Gespräche wurde vollständig den Gesprächspartnern überlassen, um für ein vertrautes Umfeld zu sorgen und als steril empfundene Interview-Atmosphären zu vermeiden. Aufgrund der Reisebeschränkungen erfolgten die Interviews mit den amerikanischen Gesprächspartnern durchweg in der Nacht und via Skype und Zoom, während sich in Europa andere Möglichkeiten ergaben: Interviews in Tour-Bussen, in kleinen Restaurants und Bahnhofscafés standen solche in belebten Pubs, lauten Rock-Clubs oder in den Privathäusern der Akteure gegenüber. Die Herangehensweise an das Gespräch erfolgte nach einem ersten Kennenlernen zunächst leitfadenartig, indem ein jeweils auf den Gesprächspartner und die Herkunftsregion abgestimmter Fragenkatalog entworfen und verfolgt wurde. In jedem Gespräch ergaben sich jedoch spätestens nach der zweiten Frage spontane Anpassungen und es gelang insgesamt sehr gut, die Initiative auf die Interviewees übergehen zu lassen. Die meisten fühlten sich wohl und gerieten mittelfristig ins Erzählen, kamen von allein auf die anvisierten Themen zu sprechen und es bedurfte nur kleiner Umleitungen und Nachfragen, um den roten Faden wieder aufzunehmen. Einzelne Antworten dauerten hier teilweise zwischen fünf und zehn Minuten und stellten Verbindungen her, die sich für 188 Zum Szene-Konzept vgl. Richard A. Peterson/Andy Bennett, Introducing Music Scenes, in: dies. (Hg.), Music Scenes. Local, translocal and virtual, Nashville 2004, S. 1–15; Vgl. Andy Bennett/Ian Rogers, Popular Music Scenes and Cultural Memory, London 2016, S. 11–35. 189 Vgl. zum Begriff der Translokalität bzw. Transregionalität: Ulrike Freitag/Achim von Oppen (Hg.), Translocality. The Study of Globalising Processes from a Southern Perspective, Leiden/Boston 2010; Zu Regionen als »Verflechtungsbereichen« sozialer Interaktion vgl. Peter Weichhart, Die Region – Chimäre, Artefakt oder Strukturprinzip sozialer Systeme?, in: Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996, S. 29–38.
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die Interpretation als sehr wertvoll erwiesen. So war es von vornherein klar, dass klassen-, politik-, gender-und urbanitätszentrierte Narrative für die Metal-Kultur der Überprüfung bedürfen – wie diese Aspekte jedoch in den Gesprächen die bisher gängigen Denkfiguren und Thesen zur Metal-Kultur brachen und vermengten, kam nicht selten einem »Enttypisierungsschock« gleich.190 So führte etwa die breite Erwähnung der Eltern zu einer gesonderten Darstellung der generationellen Aushandlung musikalischen Engagements, genauso wie der »place«-Faktor, also die Frage der Beziehung von musikalischen Szenen mit räumlichen Entwicklungen zu einem eigenen Kapitel aufgewertet wurde. Auch die Beziehung zum Punk gehört in diese Kategorie empirischer Anpassung. Die Intensität und Bereitwilligkeit, über die vermeintlich fremden Punks zu sprechen, legten eine derartige Nähe und Überlappung nahe, dass dem sozialen Crossover-Phänomen letztlich ein ganzes Kapitel gewidmet wurde. So entstanden viele der Gliederungsund Schwerpunkte dieser Studie quasi live im Interview und in der Konfrontation mit der Empirie. Da ich als langjähriger Metal-Fan selbst »der« Szene angehöre, meine übliche Erscheinung für die Gespräche nicht veränderte und dementsprechend zu erkennen war, gestaltete sich die persönliche Distanz immer sehr gering. Teilweise entspann sich sogar umgehend eine kleine Debatte um die gemeinsamen Shirts und Geschmäcker. Für den Anbahnungsprozess und die Atmosphäre der Gespräche war diese Nähe ein großer Vorteil. Da dieser Umstand jedoch methodische Gefahren mit sich bringt, weil geteilte Vorannahmen vorausgesetzt werden, die es gerade zu hinterfragen gilt, versuchte ich stets, als ein Fragender aufzutreten, der »noch nicht alles weiß.«191 Einige Fragen bezogen sich absichtlich auf Themen und Anekdoten, bei denen die Gesprächspartner das Gefühl hatten, bereits in vergangenen Interviews »alles gesagt zu haben«, wo sich jedoch im Vergleich mit ihren historischen Fanzine-Interviews spannende Ansatzpunkte zum Nachhaken ergaben. In anderen Fällen boten sich inhaltlich etablierte Antworten, die aus eingeübten Interviewstrategien erfahrener Musiker resultierten, aber gerade in der Art ihrer Kommunikation im Interview und in Beziehung zu den manchmal anderen Teilnehmern interessante Blicke hinter eine subkulturelle Fassade ermöglichten. Trotz der meist günstigen Gesprächsverläufe war es dennoch deutlich zu spüren, dass die Inhalte der Fragen zunächst nicht der gewohnten Wohlfühlzone der Akteure entsprangen. Das Genre Heavy Metal und seine soziale Verhandlung weist einen enormen musikalischen Bezug auf und Musiker erzählen dementsprechend gerne über die Band und die Musik, während Erwerbsbiografien, generationelle Aushandlungen, Wohnortwechsel und bandinterne Querelen nicht zu den üblichen Gesprächsthemen mit Fanzines oder Magazinen gehören. Einige Interviewees stiegen hier schneller auf diese Fokusverschiebung ein als andere, obgleich die Themen zuvor angekündigt worden waren. Hinsichtlich des Umgangs mit den Interviews wurden bereits wichtige Hinweise gegeben. Als zentral erscheint dabei abschließend vor allem die Tatsache, dass Aussagen in Gesprächen nicht »die Geschichte« bilden, sondern den Ausgangspunkt der Quelleninterpretation darstellen. Sie unterliegen einem Wandel des Gedächtnisses, der Inter190 Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, S. 410. 191 Tischer, Erfragte Geschichte, S. 184.
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viewsituation und verkörpern häufiger eher Gegenwärtiges als Vergangenes, weil sie in die weiterhin existente Auseinandersetzung um subkulturelles Kapital und die Sorge um das individuelle Vermächtnis eingebettet bleiben.192 Um eine »volkstümliche Scheinoriginalität«193 zu verhindern, die einigen Interview-Sammlungen und auch wissenschaftlichen Darstellungen innewohnt, die kontextlose Gesprächsfetzen zitieren, bemüht sich die Studie stets um die Herstellung eines zeitlich, räumlich und sozial möglichst genauen Kontextes, zitiert lieber längere als kürzere Aussagen und möchte den manchmal instrumentellen Charakter bestimmter Äußerungen zum Vorschein bringen.
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Vgl. Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte, S. 23f.; Vgl. Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, S. 396f.; Vgl. Tischer, Erfragte Geschichte, S. 182f. Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen, S. 406.
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal Der Wandel der 1980er Jahre »Yeah, Zeppelin, Black Sabbath, you know. I suppose, working-class areas, but I don’t know how we tie the fact to the music… I certainly didn’t wake up in the morning and feel oppressed or anything like that, you know. I didn’t feel the need to play my drums just because I’m downtrodden.« (Interview Fist, Harry Hill)
Am Ende des Jahres 1977 entschieden vier junge Hobby-Musiker aus Whitley Bay, einem Badeort nahe Newcastle, die punk-inspirierte Band Trick aufzugeben und die Tygers of Pan Tang zu gründen.1 Drei der Mitglieder gingen zu diesem Zeitpunkt nicht-industriellen Erwerbsbeschäftigungen nach und sie erspielten sich gemeinsam an den Wochenenden in den regionalen Pubs und Working Men’s Clubs rasch eine Anhängerschaft.2 Früh entschied sich die Band überdies, nicht der Tradition dieser Etablissements zu folgen und ausschließlich Cover von Charts-Erfolgen zu spielen – sie schrieben eigene Musik, integrierten diese Stück für Stück in ihre Sets und wurden durch ihre Mixtur aus Geschwindigkeit und spielerischer Qualität zu einem frühen Bestandteil der NWOBHM. In den Augen des Bandgründers und Gitarristen Robb Weir handelte es sich um einen »car crash of the speed of punk and the weight of heavy metal.«3 Ihre erste, selbstfinanzierte Single »Don’t Touch Me There«, die gleichzeitig die erste Heavy Metal-Veröffentlichung des lokalen Labels Neat Records war, erregte bereits 1980 die Aufmerksamkeit der Redaktion der Londoner Musik-Zeitschrift Sounds und letztendlich auch des Major-Plattenlabels MCA. Um mit EMI zu konkurrieren, die Iron Maiden unter Vertrag genommen hatten, und um am anscheinend wieder auferstandenen Heavy Rock zu verdienen, trat das Label mit der Band in Kontakt. Tom Noble, der als Manager der Band fungierte, er-
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Vgl. Malc MacMillan, The N.W.O.B.H.M. Encyclopedia, Berlin 2001, S. 663. Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 00.47-06.49 Min. Ebd., 23.07 Min.
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innerte sich an die Selbstverständlichkeit dieses entscheidenden Moments, in dem die Musiker »professionell« wurden: And I went to the band and I said ›Okay guys, we’ve had a record company on, we’re gonna work out a contract and you get money from them. You give up your jobs, because tomorrow, you will become professional musicians. What do you think?‹ And they all said ›I’m in.‹ There was no doubt and they all finished good jobs, you all had good jobs, didn’t you? [R.W.: Yeah.] So, they were 18, 19 years old with good jobs and when they were off to the chance to be a musician on a relatively low wage, they all said ›Absolutely, no problem.‹4 Finanziell war dies ohne Frage keine gute Entscheidung: Robb Weir hatte als Juwelier in Newcastle 100 Pfund pro Woche verdient und erhielt von MCA nun 20 Pfund – 25 Pfund, wenn sich die Band auf Tour befand.5 Dennoch waren solche Überlegungen für die Musiker nicht entscheidend. Vor die Wahl gestellt, entschieden sie sich für den Plattenvertrag, der noch keine Bürde war, sondern als die Aussicht auf musikalische Selbstverwirklichung erschien. Auf der Basis des Erfolgs ihres ersten Albums »Wild Cat« (1980), dass sich als einflussreich für amerikanische Bands wie Metallica erweisen sollte, veröffentlichten die Tygers of Pan Tang drei weitere Alben bis 1982, die allesamt gut in den Album-Charts abschnitten und schlossen ihre Tour 1981 in der wohl berühmtesten der britischen Rock-Spielstätten ab, dem Hammersmith Odeon in London. Zu diesem Anlass kamen sogar Robb Weirs Eltern aus dem Norden, um ihren Sohn und seine Band spielen zu sehen. Am nächsten Morgen gefragt, wie ihm die Show gefiel, erinnert sich Weir an folgende Antwort seines Vaters: And the next morning, I was having breakfast with my parents before they were going back down to where they were living, and I said to my dad ›What did you think dad last night?‹ and he said ›Fantastic!‹, because my dad, he was a doctor, but he played piano and he was very musical, and he said ›It was absolutely fantastic. Your mum and I loved it, but when do you want to get a proper job?‹ [T.N.: laughs].6 Kurz nach den Aufnahmen für das vierte Album verließ Weir die Band frustriert und kehrte unter anderem als Ticketkontrolleur und Betreiber eines fahrenden Imbisses ins nicht-musikalische Arbeitsleben zurück.7 Parallel spielte er jedoch mit wechselnden Formationen von Musikern weiter. Mit der Renaissance der NWOBHM, die seit den späten 1990er Jahren und im Kontext von Metal-Festivals wie Wacken, Keep It True oder Bang Your Head anbrach, reformierte er die Tygers of Pan Tang im Jahr 2001, nahm seitdem acht Studioalben auf und war wieder in der Lage, die Musik als Vollzeitjob zu verfolgen. Dieses Beispiel kann als durchaus typisch für die NWOBHM gelten, weist aber kaum Schnittmengen mit den Erfahrungen US-amerikanischer oder skandinavischer Metal4 5 6 7
Ebd., 22.57-24.12 Min. Vgl. ebd., 24.18-25.04 Min. Ebd., 26.10-26.58 Min. Vgl. Martin Popoff, This Means War. The Sunset Years of the NWOBHM, Bedford 2019, S. 189f.
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal
Musiker der frühen 1990er Jahre auf und lässt daher vermuten, dass sich an den regionalen Verknüpfungen von Musik-Kultur und Arbeit, Professionalität und Generationalität historische Verschiebungen ergaben, die im Folgenden auf diese Fragen zugespitzt werden sollen: In welchem Bezug zu anderen Formen der Erwerbsarbeit stand die Entscheidung, die Metal-Musik als Vollzeit-oder Teilzeitjob zu verfolgen? In welchen Berufsfeldern arbeiteten die Musiker? Welche Rolle kam den Eltern bei der Entscheidung zu? Und wie lässt sich die Entwicklung letztlich in die Diskussion um Heavy Metal als Phänomen der Arbeiterklasse sowie den Wandel der Arbeitswelt einordnen? Dazu werden zunächst einige Ergebnisse zum regionalen Vergleich der Szenen vorgestellt, die zeigen, wie stark sich die Erwerbsbiografien während der 1980er Jahre wandelten. Instruktiv für diesen Wandel war auch hier die NWOBHM und die beginnende Umcodierung des sozialen Verhältnisses von professionellen Musikern und Amateuren. Im Anschluss widme ich mich dem generationellen Aspekt dieser Entwicklung – nicht nur, weil viele Karrieren ohne die Unterstützung der Eltern ausgeblieben wären, sondern weil die Reibungsfläche der häuslichen Generationen viel über den Wandel von Zukunftsentwürfen akzeptierter Arbeit und das Nachdenken über Chancen offenbaren kann und die Etablierung des musikalischen Erwerbsfeldes im historischen Kontext ermöglicht. Schließlich nehme ich auf Grundlage der Ergebnisse Bezug zu der Frage, in welchem Zusammenhang dieser Wandel zur Veränderung von Klassenzuschreibungen stand und präzisiere dies am Beispiel der Auftritte junger NWOBHM-Bands in den englischen Working Men’s Clubs.
2.1 Erwerbsbiografien von Metal- Musikern im Vergleich Eine Perspektive, die Metal-Musik auch als Erwerbsarbeit versteht, hat bisher in den »Popular Music Studies« und den »Metal Music Studies« keine Rolle gespielt und auch historisch-empirische Ansätze fehlen bisher völlig.8 Mit wenigen Ausnahmen gilt dies auch für die musikalische Erwerbsarbeit in der Diskussion um die Transformation der Arbeitswelt generell.9 Folglich blieben Arbeitsbiografien, Arbeitsbeziehungen sowie deren Abhängigkeiten und Wandel außen vor, wenn es um die gesellschaftliche Verortung 8
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In Ansätzen höchstens bei Keith Kahn-Harris, Extreme Metal. Music and Culture on the Edge, Oxford/New York 2007, S. 59–62. Die breite wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »kreativen« Erwerbsformen ist jedoch in den »Metal Studies« nicht rezipiert worden. Vgl. dazu z.B. Alexandra Manske, Kapitalistische Geister in der Kultur-und Kreativwirtschaft. Kreative zwischen wirtschaftlichem Zwang und künstlerischem Drang (unter Mitarbeit von Angela Berger, Theresa Silberstein und Julian Wenz), Bielefeld 2015; Vgl. auch Matt Stahl, Unfree Masters. Recording artists and the politics of work, Durham 2013; Vgl. Jo Haynes/Lee Marshall, Reluctant entrepreneuers. Musicians and entrepreneurship in the ›new‹ music industry, in: The British Journal of Sociology 69 (2018) 2, S. 459–482. Zur ahistorischen Herangehensweise der präsentistischen Forschung vgl. überdies Timothy Taylor, Music and Capitalism. A history of the present, London/Chicago 2016, S. 134. Die Debatte zum Strukturwandel der Arbeitswelt wird gerade von deutschen Historikern mit starkem Fokus auf jenen Gewerben geführt, deren Bedeutung seit den 1970er Jahren zurückging. Es werden also Verlustgeschichten bzw. Relativierungen von Verlustgeschichten geschrieben anstatt zu beleuchten, welche Erwerbsfelder im Strukturwandel an Relevanz gewannen. Vgl. etwa die Beiträge im Band Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011. Für eine sozialgeschichtlich fruchtbare An-
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der Metal-Kultur ging. Es ist jedoch zu erwarten, dass sich gerade die Historisierung dieser Phänomene besser für eine zeitgeschichtliche Anschlussfähigkeit der Szenen anbietet als Fragen des Sounds, des Stils oder der Identität und überdies rebellische und subkulturelle Selbstzuschreibungen von Musikern und Fans nicht reproduziert. Mit der Einbettung in das Feld der Arbeit steht daher also auch ein Stück weit das verbreitete Bild der »proud pariahs« auf dem Prüfstand. Im Folgenden werden erste kollektivbiografische Ergebnisse vorgestellt, die nach dem Zusammenhang von musikalischer und nicht-musikalischer Arbeit und dessen Entwicklung fragen (Tab. 1). Eine wie auch immer geartete Grundlage gab es für dieses Unterfangen nicht, weshalb auf die Grenzen der gesammelten Daten hingewiesen werden muss.10 Nichtsdestotrotz lassen sich erste Ansätze für die vergleichende Historisierung des Zusammenhangs gewinnen. So fällt zunächst auf, dass während der 1980er Jahre die Arbeitserfahrung vor der ersten Veröffentlichung eines Demo Tapes, einer EP oder LP mit regionalspezifischen Geschwindigkeiten, aber insgesamt kontinuierlich abnahm.11 Während unter den Musikern der NWOBHM noch fast drei Viertel zuvor einer Erwerbsarbeit nachgegangen waren, traf dies im Ruhrgebiet auf 67 %, im Nordosten der USA auf 50 %, in Schweden auf 35 %, in Florida auf 8 % und in Norwegen nur noch auf 4 % zu. Eine partielle Ausnahme dieser historischen Regression stellen die Thrash-Metal-Szenen von Kalifornien dar, die sich zeitgleich mit der Szene im Ruhrgebiet entwickelten und mit dieser auch unterschiedliche Kontakte unterhielten, in denen aber nicht einmal ein Viertel der Musiker Arbeitserfahrungen gesammelt hatten. Wie zu zeigen sein wird, hatte dies mit einer Ursachenmischung aus Verjüngung, elterlicher Unterstützung, Medialisierung und rascher Kommerzialisierung zu tun, die für das Ruhrgebiet nicht in gleicher Weise galt. Grundsätzlich gilt jedoch, dass sich alle Metal-Szenen während der 1980er Jahre deutlich verjüngten und sich die Vergemeinschaftung von produzierenden Musikern von der Arbeitseintrittsphase in die Schulphase zurückverlagerte. Zwar existierten auch während der NWOBHM zahlreiche Bands, die aus Schulfreunden bestanden (etwa Mythra oder Vardis), doch nahmen diese zu dieser Zeit noch keine Musik auf und es bestand parallel dazu ein Kontingent an Bands, deren Mitglieder teilweise schon lange vor der ersten Veröffentlichung einer Erwerbsarbeit nachgingen (etwa Saxon, Jaguar,
10
11
bindung von Musik und Arbeit bis zu den »Boom«-Jahren vgl. Martin Rempe, Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960, Göttingen 2020. Weder handelt es sich um generalisierbare Angaben zur gesamten Metal-Kultur, noch repräsentieren die Daten jeweils die ganzen Szenen. Eine kontinuierliche Erweiterung der Daten könnte in Zukunft zur Schärfung des Bildes – auch für andere Szenen und Regionen – beitragen. Um möglichst repräsentative Aussagen zu erreichen, wurden für Kalifornien auch die Daten für Los Angeles und für Schweden auch die Daten für Göteborg einbezogen. Für das Ruhrgebiet wurden auch die Bands Destruction und Holy Moses einbezogen, die zwar nicht aus der Region stammten, aber früh starke Bezüge und Kontakte entwickelten. Zwischen der Veröffentlichung von Demos und EPs/LPs bestehen deutliche Unterschiede hinsichtlich finanzieller und vertraglicher Voraussetzungen. Aufgrund der Beobachtungen, dass es viele etablierte Bands in Szenen gab, die erst sehr spät über das Demo-Stadium hinausgingen, andere jedoch bereits auf Basis des ersten Demos einen Plattenvertrag erhielten, wurde sich hier entschieden, die Demos als erste Veröffentlichung zu werten.
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal
Diamond Head). Die Verjüngung der Musiker zeichnete sich im weiteren Verlauf der NWOBHM aber bereits in Form von Bands wie Girlschool, Rock Goddess oder Toad The Wet Sprocket ab, die schon im mittleren Teenager-Alter eigene Musik veröffentlichten12 und beschleunigte sich schließlich mit den Extreme Metal-Szenen – bis zu dem Punkt, an dem etwa Ivar Björnson der norwegischen Band Phobia (ab 1991 Enslaved) mit nur zwölf Jahren als Gitarrist beitrat.13
»Szenen«/Regionen
erwerbstätig14
Anteil
NWOBHM 1978–198315
70
52
74 %
Ruhrgebiet 1981–198916
27
18
67 %
Kalifornien 1981–198917
40
9
23 %
12 13 14
15
16
17
insgesamt
Vgl. Martin Popoff, Wheels of Steel. The explosive years of the NWOBHM, Bedford 2019, S. 155. Vgl. Dayal Patterson, Black Metal. Evolution of the Cult, Die Mythen, die Musik und ihre Macher, Port Townsend 2013, S. 564. Coates, Irwin, Appleby, Hill, Roach, Bates, Riddles, Reigel, Lakaw, Klink, Heggen, Sorychta, Kampf, Kimberley, Tatler, Scott, Pervelis, Pepperd, Cox, Reil, Fioretti, Trzebiatkowski, Yench, T. Jones, A. Jones, T. Troy, C. Troy, Gallagher, Such, Gosdzik Weir, Laws, Dick, Cox, Deverill, Purser, Zodiac, Boulton, Medley, Breier, Schipani, Craiglow, Frost, De Pena, Mc Lachlan, Araya, Henriksson, Johansson, Jivarp, Barrett, Dolan, Vigna, Steele, Seinfeld, Graziadei, Burton, Mc Govney, Hetfield, Hammett, Crallan, Thompson, Gers, Toomey, Hodder, Cronos, Cook, Abbadon, Roe, Grewe, Busse, Henneke, Otterbach, Flesh, Toxine, Larsson, Svensson, Erlandsson, Harris, Sampson, Sullivan, Rance, Murray, Stratton, Smith, Mc Brain, Ian, Bogush, Barnes, Rusay, Owen, Mazurkiewicz, Halford, Downing, Hill, Tipton, Holt, Hunting, Wagner, Lemmy, Stein, Bernemann, Dominik, Andersson, Cederlund, P. Gustavsson, E. Gustavsson, Byford, Verni, Quinn, Glockler, Dawson, Oliver, Gill, Fenriz. Coates, Irwin, Appleby, Hill, Roach, Bates, Riddles, Harris, Kimberley, Tatler, Scott, Pepperd, Cox, Terry Jones, Alan Jones, Tino Troy, Chris Troy, Gallagher, Weir, Laws, Dick, Cox, Sykes, Deverill, Purser, Zodiac, Boulton, Medley, Dickinson, Pearson, Crallan, Thompson, Gers, Ruff, Toomey, Toomey, Hodder, Cronos, Cook, Abbadon, Harris, Sampson, Sullivan, Rance, Murray, Di Anno, Stratton, Smith, Mc Brain, McCoy, Halford, Downing, Tipton, Hill, Byford, Quinn, Glockler, Dawson, Oliver, Gill, Enid Williams, Jodie Turner, Julie Turner, Savage, Elliot, Allen, Collen, Willis, Clark, Kenning. Lakaw, Klink, Sorychta, Kampf, Sabina Classen, Andy Classen, Petrozza, Trzebiatkowski, Reil, Such, Dudek, Gosdzik, Schirmer, Sandmann, Sifringer, Kühne, Grewe, Busse, Henneke, Otterbach, Wagner, Lemmy, Stein, Dominik, Bernemann, Brings. Mc Intire, Kontos, Reed, Strahl, Scaparro, Andersen, Locicero, Allen, Travis, Moore, Di Giorgio, De Pena, Mc Lachlan, Araya, King, Hanneman, Lombardo, Ulrich, Hetfield, Hammett, Burton, Newsted, Mc Govney, Mustaine, Sus, Torrao, Beccera, Holt, Hunting, Souza, Billy, Coons, Cavestany, Osegueda, Pepa, Pepa, Galeon, Ellefson, Poland, Samuelson.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel »Szenen«/Regionen
insgesamt
erwerbstätig14
Anteil
Florida 1984–199318
26
2
8%
Schweden 1986–199319
34
12
35 %
NY/NJ/PA 1981–199320
40
20
50 %
Norwegen 1988–199521
24
1
4%
Tabelle 1: Erwerbstätigkeit vor der ersten Veröffentlichung22 Das soziale Scharnier für diese Verjüngung war aus Sicht der Fans zunächst der Wunsch nach Distinktion von den älteren Verwandten23 – aus Sicht der Musiker aber auch die Nachahmung der Vorbilder in der Rock-Musik der 1970er Jahre und seit den frühen 1980er Jahren dann die Transgression der englischen Vorbilder sowie die Teilhabe an einem attraktiven Netzwerk transnationaler Kommunikation. In der sozialen Praxis war die Verjüngung der Metal-Kultur daher eine Folge der breiten Etablierung der DIYMentalität, die in Musikproduktion, Medialisierung und Kommunikation einen immer früheren Einstieg in die Metal-Szenen ermöglichte.24 Besonders aus Sicht der Musiker verschoben sich die Möglichkeiten und damit musikalischen Zukunftsentwürfe in die
18
19
20
21
22
23
24
Shaefer, Reigel, Harrison, Browning, Schuldiner, Rozz, Butler, Andrews, Vincent, Barrett, Murphy, Stevens, Buckley, Watson, Lee, D. Tardy, J. Tardy, Asheim, Benton, Azagtoth, Brunelle, Sandoval, Acres, Coker, Fernandez, Gates. Estby, Kärki, Sennebäck, Cabeza, Blomqvist, Forsberg, Hedlund, Henriksson, Johansson, Jivarp, Stanne, Sundin, Sandström, Flesh, Toxine, Larsson, Svensson, Lindberg, J. Björler, A. Björler, Erlandsson, Hakansson, Gravf, Thullberg, Per Gustavsson, Erik Gustavsson, Näsström, Ohlin, Cederlund, Lindgren, Andersson, Johnsson, Edlund, Scarisbrick. Bascovsky, Heggen, Bouks, Gamble, McEntee, Pervelis, Yench, Breier, Schipani, Craiglow, Frost, Dolan, Vigna, Lilker, Connelly, Steele, Seinfeld, Graziadei, Jim Roe, Ian, Bogush, Smilowski, Severn, Lombard, Vincent, Webster, Barnes, Rusay, Owen, Mazurkiewicz, Sica, Machuga, Petrosino, Verni, Crotsley, Mastro, Reynolds, Reilly, Sykes, Daze. Abbath, Demonaz, Vikernes, Samoth, Faust, Necrobutcher, Maheim, Euronymous, Hellhammer, Dead, Frost, Odden, Jansen, Bjerkebakke, Björnson, Henrik (Carp. Forest), Fenriz, Nocturno Culto, Satyr, Ihsahn, Bratseth, Aseroth, Tunsberg, Sigvalsason. Eine genaue Zitation der Quellen für diese Tabelle würde viele Seiten füllen, weshalb hier darauf verzichtet werden soll. Für Nachfragen stehe ich selbstverständlich zur Verfügung und gebe Auskunft über die Quellen. Für etwaige Missinterpretationen der Quellen entschuldige ich mich und würde mich über Richtigstellung freuen. Vgl. Jess Cox (Tygers of Pan Tang): »The whole idea was that your younger brother didn’t want to listen to his older brother’s records. He wanted his own scene, and something new coming along when you’re young.« Popoff, Wheels of Steel, S. 110; Die Heranführung an die Metal-Musik durch ältere Verwandte wurde ebenfalls in der Mehrzahl der Interviews als entscheidender Schritt erwähnt. Zum DIY vgl. Andy Bennett/Paula Guerra (Hg.), DIY Cultures and Underground Music Scenes, Milton 2018.
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal
frühe Jugendphase und der Einfluss von Erfahrungen der Erwerbsarbeit nahm folglich rasch ab. Es schwand jedoch nicht nur die unmittelbare Arbeitserfahrung unter den jungen Metal-Musikern. Dort, wo diese vor der ersten Veröffentlichung noch arbeiteten oder später neben der Musik einen Job aufnahmen, veränderten sich auch die gewählten Tätigkeiten während der 1980er Jahre deutlich. Bis in die späten 1970er Jahre waren industrielle Berufe unter den Musikern in England, im Ruhrgebiet und in geringerem Maße auch im Nordosten der USA verbreitet: John Roach und Maurice Bates (Mythra) arbeiteten im Schiffbau Tynesides, Biff Byford (Saxon) durchlief sowohl eine Weberei als auch eine Zeche in West Yorkshire, Gary Pepperd und Jeff Cox (Jaguar) arbeiteten in Bristol bei Rolls Royce in der Fertigung von Flugzeugmotoren, Thomas Such und Frank Gosdzik (Sodom) arbeiteten im Ruhrgebiet unter Tage, und D.D. Verni (Overkill) war unter anderem in einer Fabrik in New Jersey angestellt, die Töpfe aus Carbon herstellte.25 Um unqualifizierte oder schlecht bezahlte Arbeit handelte es sich dabei überwiegend nicht. Viel eher ist eine Tendenz zu gelernten Tätigkeiten und einer mittleren bis höheren Positionierung in der vielfältigen Schichtung der regionalen Arbeiterschaft zu erkennen.26 Eines Krisendruckes durch Deindustrialisierungsprozesse waren sich die meisten durchaus bewusst27 – doch ist mir kein Beispiel dafür bekannt, dass die Entscheidung für eine musikalische Karriere auf der Grundlage einer Prekarisierung der Industriearbeit oder gar einer (drohenden) Arbeitslosigkeit beruhte. Viel eher lassen sich die Biografien als aktive Wahl zwischen zwei sehr gegensätzlichen Zukunftsentwürfen verstehen, die aus einer relativ sicheren beruflichen Position heraus getroffen wurde. Darüber hinaus handelte es sich dabei um Prozesse, die häufig über mehrere Jahre hinweg amateurmusikalisches und teilweise sogar professionelles Engagement mit einer nicht-musikalischen Erwerbsarbeit, also einem »day job«, verbanden. Der Ausstieg folgte schließlich, weil die Existenz einer möglichen musikalischen Zukunft die Bereitwilligkeit zur Industriearbeit unterminierte, etwa im Falle der Gründungsmitglieder von Jaguar im Bristol: You know, it just paid the bills, it’s so simple. We were kind of disliking it more and more. And then Jeff quit, he left before me, he left the company, he couldn’t stand it anymore and then I kind of followed suit really, I quit there. So, I mean, yeah, I guess it was a decision although I didn’t have to think about it too much. We just hated doing a day job.28
25
26
27 28
Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 16.34-17.02 Min.; Vgl. Biff Byford/John Tucker, Saxon. Never Surrender (Or Nearly Good Looking), Berlin 2007, S. 18–21; Vgl. Interview Gary Pepperd, Spur 11; Vgl. Hilmar Bender, Violent Evolution. Die Geschichte von Kreator, Diedorf 2011, S. 81f.; Vgl. Anonym, THE BRONX CASKET CO., OVERKILL – D.D. Verni (Overkill, The Bronx Casket Co.), in: RockHard 2014, URL: https://www.rockhard.de/artikel/d.d.-verni-_overkill_-the-bronx-casket-co. __129148.html (letzter Aufruf 23.11.2021). Um unqualifizierte Arbeiter handelte es sich bei den meisten Musikern nicht. Ausbildungen im Handwerk oder der Industrie waren sowohl in England als auch im Ruhrgebiet die Regel, etwa bei Such und Gosdzik, Pepperd, Bates und Roach. Vgl. dazu Kap. 2.4. Interview Pepperd, Spur 11.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
In anderen Fällen (der Minderheit) ließen sich die Verpflichtungen einer bereits professionellen Band nicht mehr mit der Arbeit vereinbaren. So kündigte Thomas Such seinen Arbeitsvertrag als Grubenschlosser auf der Zeche Hugo in Gelsenkirchen 1989 aufgrund der anstehenden Europa-Tournee seiner Band Sodom.29 Generell war es entscheidend für die Beziehung von einem Band-Engagement und »day jobs«, ob und mit welchem Label die Band einen Plattenvertrag abgeschlossen hatte: Während bei Verträgen mit Indie Labels wie Guardian Records oder Neat Records um 1980 noch eine Weiterführung beider Erwerbswege möglich war (etwa bei Maurice Bates von Mythra), bedeuteten die Tour-Verpflichtungen bei Major Labels wie MCA, EMI oder Polygram meist automatisch, dass frühere Jobs gekündigt werden mussten.30 Bereits in den frühen 1980er Jahren entwickelte sich daraus eine gängige Praxis, zwischen den Tourneen in anderen Bereichen einer Arbeit nachzugehen.31 Neben der Industriearbeit ging ein bedeutend größerer Anteil der Musiker Ausbildungen oder Beschäftigungsverhältnissen im Handwerk nach. Dazu gehörten zum Beispiel Brian Tatler (Diamond Head) als Automechaniker, Robb Weir als Juwelier, Graeme Crallan (White Spirit) als Schweißer, Rob Fioretti und Jörg Trzebiatowski (Kreator) als Auszubildende zum Lackierer und Tischler, Tino Troy (Praying Mantis) als selbstständiger Tischler, oder Steve Harris (Iron Maiden) als Auszubildender zum technischen Zeichner.32 Ebenso wie bei Musikern in Dienstleistungsjobs, wie etwa John Gallagher (Raven) oder Harry Hill (Fist),33 wurde die Vereinbarkeit von musikalischer Praxis und Erwerbsarbeit hier vor dem Hintergrund der sich bietenden Möglichkeiten, aber auch der Existenz einer Familie sowie der individuellen Bedeutung des Berufs verhandelt. So ging Tino Troy auch weiterhin dem Tischlerhandwerk nach, weil es ihm Freude und Erfolg bereitete,34 während Harry Hill als Vater unter den Problemen einer Doppelbelastung aus »day job« und nächtlichen Auftritten litt.35 Für die jungen Mitglieder von Kreator aus Altenessen oder für Robb Weir war es dagegen überhaupt keine Frage: Erstere beendeten die Ausbildung und Letzterer seinen gutbezahlten Job.36 Die musikalische Zukunft nahm für Metal-Musiker daher auch – über die Leidenschaft für die Musik hinaus – sehr unterschiedliche Bedeutungen ein: Sie war lustvolle Erweiterung einer guten beruflichen Position, die man mochte oder nicht, aber auf die man jederzeit zurückkommen konnte.
29 30 31
32
33 34 35 36
Vgl. Holger Schmenk/Christian Krumm, Kumpels in Kutten. Heavy Metal im Ruhrgebiet, Bottrop 2010, S. 58, 60. Vgl. Interview Roach/Bates, 61.18-61.49 Min.; Vgl. dazu Interview Brian Tatler, 17.51-18.00 Min. Vgl. als Beispiel für eine übliche Praxis im Extreme Metal: Vince Neilstein, Testament and Exodus Frontmen Talk About Their Crappy Day Jobs, in: metalsucks 2015, URL: https://www.metalsucks. net/2015/04/15/testament-and-exodus-frontmen-talk-about-their-crappy-day-jobs/ (letzter Aufruf 23.11.2021). Vgl. Brian Tatler/John Tucker, Am I evil? The autobiography, 2. Aufl., o. O. 2017, S. 25f.; Vgl. Interview Weir/Noble, 24.18-25.04 Min.; Vgl. John Tucker, Neat & Tidy. The Story of Neat Records, Berlin 2015, S. 42; Vgl. Bender, Violent Evolution, S. 41f., 43; Vgl. Interview Tino Troy, 22.45-24.37 Min.; Vgl. Mick Wall, Run to the Hills. The authorized biography of Iron Maiden, London 2001, S. 60. Vgl. Interview John Gallagher, Z. 23–25; Vgl. Interview Fist, 11.48-13.02 Min. Vgl. Interview Tino Troy, 23.30-24.37 Min. Vgl. Interview Fist, 11.48-13.02 Min. Vgl. Bender, Violent Evolution, S. 41f., 43; Vgl. Interview Weir/Noble, 24.50-25.04 Min.
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal
Sie war gern gesehener Zuverdienst zu einem Job, den man aus verschiedenen Verpflichtungen heraus nicht einfach beenden konnte. Sie war jugendliches »All-In« entgegen jeglicher »Vernunft«. Eines war sie jedoch auf keinen Fall: Eine Notwendigkeit aufgrund fehlender weiterer Perspektiven. Im Vergleich zur Metal-Kultur der 1990er und 2000er Jahre fällt für die Zeit um 1980 vor allem auf, dass Erwerbsarbeit und Musik als getrennte Ebenen der Biografie wahrgenommen wurden. Musiker, die neben ihren eigenen Bands in musik-bezogenen Bereichen arbeiteten, waren sehr selten und noch am ehesten im Verkauf von Instrumenten (etwa Kevin Riddles (Angel Witch)) oder als junge Soundtechniker in DIY-Musik-Studios anzutreffen (etwa Conrad Lant (Venom)).37 Die musikalische Passion und die wöchentliche Erwerbsarbeit wurden ansonsten strikt separiert und wiesen kaum Verknüpfungen auf. So wirkte das Engagement für eine regional bekannte Band beispielsweise nicht in die belegschaftsinternen Beziehungen hinein.38 Im Gegenteil: Da »Musiker« keinen akzeptablen Beruf in den Industriegebieten der 1970er Jahre darstellte, hatte etwa Thomas Such mit Strafversetzung in andere Reviere, Lästereien oder absichtlicher »Maloche« nach einer Tournee umzugehen.39 Metal-Musik und die Kumpel-Solidarität passten anscheinend nicht zueinander. Such fühlte sich »in zwei Welten«, trennte Beruf und Umfeld klar von der Musik-Szene und entwickelte auf diese Weise ein Narrativ, das in ähnlicher Weise alle Szenen der 1980er Jahre prägte, das der »proud pariahs«, Außenseiter, oder »Desperados«: Also, irre, also, man war schon n Desperado, man war schon n Aussätziger, auf jeden Fall, ne. Aber wir haben auch trotzdem unsere Kutten mit Stolz getragen, ne, und gesagt, am Wochenende gehörn wir wieder uns, am Wochenende sind wir wieder unter uns, ne, und unter der Woche müssen wer durchhalten, ne [lacht].40 Mit dem Einstieg immer jüngerer Musiker in die Thrash-, Death-und Black Metal-Szenen der »langen 1980er Jahre« verschob sich der Schwerpunkt schließlich von Erwerbsverhältnissen, die ursprünglich dazu angelegt waren, Berufe für ein ganzes Leben zu sein, zu solchen, die kurzfristiger, überbrückender und unterstützender Natur waren. Teilweise schon vor dem ersten Demo Tape, teilweise erst während der ersten Karriereschritte wurde eine Erwerbsarbeit verstärkt unter der Prämisse verfolgt, einen direkten musikalischen Beitrag zu leisten – sei es, um Equipment zu kaufen oder um der Band zu helfen, über die Runden zu kommen (was nicht selten hieß, das Bier zu finanzieren). Im Gegensatz zu den geschilderten Verhältnissen in England oder dem Ruhrgebiet herrschte dabei klar die unqualifizierte Gelegenheitsarbeit vor. Die Liste der Metal-Musiker, die solche Jobs nutzen wollten, um sich ganz auf die Musik konzentrieren zu können, ist lang. So arbeiteten fast alle Mitglieder von Metallica in Aushilfsjobs – James Hetfield in
37 38 39 40
Vgl. Interview Kevin Riddles, 62.52-63.30 Min.; Vgl. Tucker, Neat & Tidy, S. 164. Von einer wie auch immer gearteten Verknüpfung von musikalischer Praxis und nicht-musikalischer Arbeit berichtete keiner der Interviewpartner. Vgl. Ronald Mattes, Sodom. Lords of Depravity, Part 1, 2005, 91.20-92.20 Min., URL: https://www.y outube.com/watch?v=pVQm4rwpOAI (letzter Aufruf 23.11.2021). Interview Thomas Such, 10.20-10.42 Min.
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einer »sticker factory«, Lars Ulrich an einer Tankstelle, Ron McGovney in einer Reparaturwerkstatt und Kirk Hammett bei Burger King.41 Dan Lilker und John Connelly (Nuclear Assault) jobbten in New York in einem Lagerhaus,42 während Uffe Cederlund und Nicke Andersson (Morbid/Nihilist/Entombed) in Stockholm im Einzelhandel tätig waren bzw. ätzende Substanzen in der Druckindustrie entfernten.43 Entscheidend für die Einschätzung dieser Jobs in ihrer Beziehung zur Musik war die Tatsache, dass diese Arten unqualifizierter Gelegenheitsarbeit in (fast) allen Fällen selbstgewählt waren und demnach auch keine Resultate eines bildungsfernen Prekariats darstellten. Für die zugrundeliegende Intention, die sich so oder in ähnlicher Form bei vielen Musikern nachweisen lässt, stehen hier zwei Aussagen: So befüllte Gary Holt (Exodus) in der East Bay von San Francisco in einer Firma Behälter mit Farbe – jedoch nur, um dem Sänger der Band, Paul Baloff, das Geld zurückzuzahlen, dass er für seine Gitarre bekommen hatte. Im Anschluss kündigte er umgehend und erinnert sich an den Grund: »I don’t need a job anymore, I need to play music.«44 Gleichzeitig verließ Kelly Shaefer (Atheist) die Schule in Sarasota/Florida: No, I quit school in tenth grade and just wanted to write music. And, you know, I had odd jobs here and there. I ran a phone room, a telemarketing room, I had to find jobs where you can have long hair and where you could look the way you look. So, I did a little construction, did some tire work. We all did, you know, we worked in restaurants. At one point we all worked in one restaurant, an oyster bar, in Sarasota, all together, and one of the guys from Crimson Glory also worked there as well.45 Die Erwerbsbiografien von Metal-Musikern zwischen den frühen 1980er und der Mitte der 1990er Jahre waren von zwei im Grunde konträren Entwicklungen geprägt. Zum einen spielten Musik und die Vision von einer Karriere unbestritten die wichtigste Rolle für das Zukunftsdenken der Akteure. Zum anderen war die musikalische Entwicklung jedoch von einer Transgression dominiert. Der Stil der Bands aus Kalifornien, Florida, New York, Schweden und Norwegen extremisierte sich fortwährend, die Anzahl der Bands stieg und immer weniger Musiker waren in der Lage, Plattenverträge mit Labels zu erreichen, die es ihnen erlaubt hätten, die Musik als Vollzeit-Erwerbsfeld zu begreifen. In den hier besprochenen Szenen existierten daher zahlreiche Bands in einem permanenten Stadium zwischen der Vorstellung eines bald bevorstehenden Plattenvertrags und unregelmäßigen »day jobs«, die die Situation stabilisierten, aber nicht verbessern konnten. Die historische Entwicklung und die regionalen Unterschiede dieses Phänomens veranschaulicht Tabelle 2.
41 42 43 44 45
Vgl. Mick Wall, Enter Night. Metallica: The biography, London 2011, S. 43, 58, 88, 117. Vgl. Jon Wiederhorn/Katherine Turman, Louder Than Hell. The definitive oral history of metal, New York 2013, S. 493. Vgl. Ika Johannesson/Jon Jefferson Klingberg, Blood, Fire, Death. The Swedish metal story, Port Townsend 2018, S. 104. Adam Dubin, Murder in the Front Row. The San Francisco Bay Area Thrash Metal Story, produziert von Jack Gulick/Rachèle Benloulou-Dubin, USA 2020, Bonusmaterial 00.42 Min. Interview Kelly Shaefer, 11.09-11.48 Min.
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal
Die Aufstellung zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, als Metal-Musiker in einer der Szenen einen lukrativen Plattenvertrag zu erhalten, im Laufe der »langen 1980er Jahre« abnahm. Unter dem Vorbehalt, dass es sich auch hier lediglich um erste Ergebnisse einer Quellensichtung handelt, die weiterverfolgt werden sollte, um die Daten zu präzisieren, zeigt sich eine beinahe lineare Entwicklung: Während die Chance während der NWOBHM noch 66 % betrug, nahm sie in den Thrash-Szenen der frühen 1980er Jahre auf 52 % bzw. 43 % ab, und sank in den Death-und Black Metal-Szenen auf 20 % oder darunter. Auch hier existierte mit Florida eine historische Anomalie und der vergleichsweise hohe Wert von 31 % bei hoher Band-Anzahl und enormer stilistischer Transgression lässt sich aus dem Pioniercharakter der Szene, der wichtigen Rolle des Morrisound Studios in Tampa sowie der günstigen zeitlichen Lage der Veröffentlichungen zwischen dem Ende des Thrash-und dem Beginn des Black Metals erklären. Das Engagement von größeren Indie-sowie sogar Major Labels war in dieser Szene daher vergleichsweise hoch und begründete viele Death Metal-Bands, die bis heute hohe Plattenverkäufe aufweisen (etwa Obituary, Morbid Angel oder Deicide).46 Die Szene in Florida ist auch deshalb ein gutes Beispiel dafür, dass der Grad an »Kommerzialisierung« einer Musik-Szene nicht monodimensional auf eine vermeintliche Massenkompatibilität des Sounds zurückzuführen ist. Diametral entgegengesetzt zur Abnahme der Chancen auf einen Plattenvertrag entwickelte sich demnach die Existenz von »day jobs« unter den Musikern – wobei hier zwischen solchen »außerhalb« der Szene, d.h. in nicht-musikbezogenen Bereichen, und solchen »innerhalb« der Szene differenziert wird. Lag Ersterer während der NWOBHM und im Ruhrgebiet bei ca. 30 %, stieg er in Kalifornien auf 48 %, in Schweden auf 59 %, in Florida auf 62 % und erreichte im Nordosten der USA sogar 85 %. Auf die besondere Rolle der norwegischen Szene und ihren verblüffend geringen Anteil von »day jobs« sowie die innerszenischen Jobs wird im folgenden Kapitel zurückgekommen. Es ist wichtig zu betonen, dass Verträge zwischen Bands und kleineren Labels im Laufe der 1980er Jahre immer häufiger nicht dazu ausreichten, auf die Einkünfte der »day jobs« zu verzichten. Viele Bands veröffentlichten also kontinuierlich Musik, gingen aber parallel arbeiten. Die beiden gegenläufigen Tendenzen offenbarten sich nicht klar voneinander abgegrenzt. Die individuelle Erwerbsbiografie wurde vielmehr bruchstückhafter, entstandardisierter, geprägt von parallelen Verpflichtungen aus Arbeits-und Plattenverträgen, mit kurzen Phasen voller »Professionalität« sowie Phasen der Arbeitslosigkeit. Nur sehr wenige Metal-Musiker waren nie außerhalb ihrer musikalischen Tätigkeit erwerbstätig bzw. in der Lage, die »Professionalität« dauerhaft zu organisieren.47
46
47
Vgl. Marco Swiniartzki, Why Florida? Regional conditions and further development of the »Florida death metal« scene and the local public response (1984–1994), in: Journal of Popular Music Studies 33 (2021) 3, S. 168–193. Die wenigen Bands, die durch Plattenverkäufe, Merchandise und andere Einkommensquellen ein gutes finanzielles Auskommen erlangten, verdecken durch ihre Präsenz in der Öffentlichkeit zum Teil den Blick auf den viel weiter verbreiteten Status der Musik als Zweitjob. Für die schwedische Death Metal-Szene geht Ekeroth z.B. davon aus, dass lediglich Johan Edlund und Nicke Andersson ihren Lebensunterhalt nur durch ihre Musik bestreiten konnten. Vgl. Daniel Ekeroth, Swedischer Death Metal, 2. Aufl., Stockholm 2009, S. 296.
71
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel »Szenen«
Einkommen aus Plattenverträgen für mehr als ein Jahr48
Permanenter »day job« für mehr als ein Jahr »außerhalb« der Szene49
Permanenter »day job« für mehr als ein Jahr »innerhalb« der Szene50
NWOBHM
66 %
29 %
1 %
Ruhrgebiet
52 %
30 %
15 %
S.F. Bay Area/L.A.
43 %
48 %
3 %
Florida
31 %
62 %
12 %
Schweden
15 %
59 %
3 %
NY/NJ/PA
20 %
85 %
5 %
Norwegen
13 %
17 %
4 %
Tabelle 2: Metal-Musik und »day jobs«. Die zentrale Entwicklung, die sich von den Industrie-und Handwerksberufen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre zu den Dienstleistungsjobs der Extreme MetalMusiker während der Dekade vollzog, betraf die Rolle, die Arbeit für die eigene Identität spielte.51 In einer folgenreichen Verschiebung der Perspektive organisierten junge Me-
48
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Shaefer, Tatler, Harris, Locicero, S. Classen, A. Classen, Pepperd, Cox, Petrozza, Trzebiatkowski, Fioretti, Reil, Gallagher, Such, Gosdzik, Dudek, Weir, Cox, Laws, Dick, Sykes, Deverill, Purser, Roach, Zodiac, Schuldiner, Araya, King, Hannemann, Lombardo, Stanne, Schirmer, Sifringer, Kühne, Sandmann, Hetfield, Ulrich, Hammett, Mustaine, Burton, Newsted, Dickinson, Cronos, Abbadon, Cook, Samoth, Harris, Sampson, Murray, Di Anno, Stratton, Smith, Mc Brain, Ian, Lilker, Mc Coy, Watson, Satyr, Barnes, Webster, Rusay, Owen, Mazurkiewicz, Halford, Hill, Tipton, Downing, Holt, Hunting, Wagner, Andersson, Cederlund, Byford, Johnsson, Edlund, Verni, Williams, Ihsahn, Jodie & Julie Turner, Coons, Quinn, Glockler, Dawson, Oliver, Gill, Savage, Elliot, Allen, Collen, Willis, Clark, Ellefson, Poland, Samuelson, Asheim, Benton, Azagtoth, Brunelle, Sandoval. Coates, Irwin, Appleby, Hill, Bates, Reigel, Lakaw, Klink, Bascovsky, Heggen, Kärki, Sennebäck, Blomqvist, Cabeza, Bouks, Gamble, McEntee, Pervelis, Harrison, Yench, Browning, T. Jones, A. Jones, Gallagher, Allen, Travis, Moore, Di Giorgio, Such, Forsberg, Hedlund, Zodiac, Boulton, Medley, Rozz, Butler, Andrews, Breier, Schipani, Craiglow, Frost, Mc Lachlan, Reed, Strahl, Scaparro, Andersen, Henriksson, Johansson, Jivarp, Barrett, Dolan, Vigna, Lilker, Connelly, Steele, Seinfeld, Graziadei, Crallan, Thompson, Gers, Toomey, Hodder, Roe, Sandström, Grewe, Busse, Henneke, Otterbach, Flesh, Toxine, Larsson, Stevens, Svensson, Erlandsson, Lindberg, Hakansson, Gravf, Buckley, Sullivan, Rance, Necrobutcher, Hellhammer, Fenriz, Nucturno Culto, Sus, Torrao, Beccera, Bogush, Smilowski, Severn, Lombard, Vincent, Thullberg, Lee, Bernemann, Sica, Machuga, Petrosino, Souza, Billy, Verni, Crotsley, Mastro, J. Tardy, D. Tardy, Reynolds, Reilly, Sykes, Daze, Osegueda, Cavestany, Pepa, Pepa, Galeon, Acres, Coker, Fernandez, Gates, Lindgren. Sorychta, Kampf, Estby, A. Classen, Riddles, Harrison, Yench, Vincent, De Pena, Murphy, Barnes, Stein, Aarseth. Grundlegend Jörn Leonhard/Willibald Steinmetz, Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ›Arbeit‹, in: dies. (Hg.), Semantiken von Arbeit. Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 9–60, hier S. 58; Hier soll keiner Entwertung der Bedeutung von Arbeit für Identitätsbildungen und Sozialisierungen das Wort geredet werden – Arbeit blieb als zentraler Bezugsrahmen weiterhin wichtig, für die Jugendlichen nur überwiegend in veränderter
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talheads ihre musikalische Praxis nun nicht mehr in den Zeitporen ihres Haupterwerbs, sondern fragten vielmehr, welche Eigenschaften ein Job mitbringen musste, um sich an die musikalische Praxis anzupassen. Dabei waren vor allem größtmögliche zeitliche Flexibilität, die Erlaubnis zu langen Haaren, sowie Arbeitszeiten bei Tag entscheidend. Die wahrscheinlich erste dieser Neuorientierungen in der entstehenden Metal-Kultur nahm Rob Halford bereits 1970 vor, bevor er bei Judas Priest einstieg und mit der Band Athens Wood probte. Die abendlichen Treffen kollidierten mit seinem Job in einem Theater und er entschied, lieber zu einem Herrenausstatter zu wechseln – ein Job, den er weniger mochte, der aber die Bandproben sowie Konzertbesuche in Birmingham ermöglichte.52 Beliebt waren dann später etwa Tätigkeiten bei der Post(bank), die Gylve »Fenriz« Nagell (Darkthrone) in Oslo langfristig und Nicke Andersson (Entombed) in Stockholm kurzfristig ausführten.53 Auch die Arbeit bei Tankstellen und Restaurants wurde temporär übernommen.54 Am beliebtesten waren jedoch Aushilfsjobs bei Plattenläden und in Musikstudios, die eine direkte Beziehung zur Musik aufwiesen und das »Notwendige« weitaus erträglicher machten.55 An den vielen Schnittstellen zum Hardcore Punk, etwa in Mittelengland oder in New York, spielten überdies politische Gesichtspunkte eine Rolle. So schrieb Phil Vane, Sänger der Grindcore-Band Extreme Noise Terror aus Ipswich, 1987 an die Herausgeber des deutschen Battlefield Fanzines: Nö, ich arbeite nicht, aber ich würde, wenn sich was Lohnenswertes ergäbe, wie ein Naturschutzjob oder so was. […] Ich hatte keine Arbeit, seit ich aus der Schule bin, was jetzt vier Jahre her ist, vielleicht ist es schwer für mich, einen Job zu finden, aber ich will halt nicht für irgendwelche kapitalistischen Drecksäcke arbeiten, Montags bis Freitags von neun bis fünf, oder wie auch immer, […].56 Jim Whiteley, Bassist von Napalm Death aus Birmingham, schrieb in derselben Ausgabe: Wir [er und Mick Harris, Drummer der Band, M.S.] sind beide arbeitslos, was nicht ungewöhnlich ist in einer Stadt mit einer sehr hohen Arbeitslosenrate. Die einzige Möglichkeit für uns, an Arbeit zu kommen, sind vom Staat gesponsorte Programme, an de-
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Form. Vgl. Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, S. 30, 321f.; Vgl. Wirsching, Arbeit statt Konsum?, S. 194. Vgl. Rob Halford, Confess. The Autobiography, London 2020, S. 44, 46. Vgl. Paul Halmshaw, Peaceville Life. Forewords by Joel McIver & Ian Glasper, London 2019, S. 158; Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 164. Vgl. Jason Netherton, Extremity Retained. Notes from the Death Metal Underground, London (Ontario) 2014, S. 463 (Shane McLachlan (Hirax)); Vgl. Armin Nolzen/Bernd Backhaus, Battlefield. The Ultimate German Speedcore/Thrash-Mag 6, Bochum 1986, S. 11 (Attitude Adjustment); Vgl. Felipe Belalcazar, Death by Metal, USA 2016, 71.30 Min (Chuck Schuldiner (Death)). Etwa Chris Barnes (Cannibal Corpse) in Buffalo. Vgl. Nick Izzi/Denise Korycki/David Stuart, Cannibal Corpse: Centuries of Torment, produziert von Denise Korycki, USA 2008, 28.50 Min.; Vgl. auch David Vincent (Morbid Angel): »… when I’m not on the road or anything, I work at a record store. But that’s not really for money. I just take product in trade for my time, y’know? Like I’ll just go in and grab some new CDs in lieu of money.« Richard Johnson, Disposable Underground Fanzine 1 (1991) 2, Sterling (Virginia), o. S. Armin Nolzen/Bernd Backhaus/Volker Rössel/Andy Larsen, Battlefield. The alternative Hardcore ʼZine 7, Bochum 1987.
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nen wir nicht interessiert sind, denn sie sollen nur dazu dienen, die Figur eines Arbeitslosen beser [sic!] darzustellen, als sie in Wirklichkeit ist.57 Wenn auch nicht so politisierend wie in diesen Fällen, wurde Erwerbsarbeit dennoch zusehends als Grundlage des Lebensstils instrumentalisiert und »verlor als normprägende Kraft an Bedeutung.«58 Als Beruf im komplexen Sinne wurden die »day jobs« daher von nur wenigen der Musiker aufgefasst. Die Prämisse war stets die Vereinbarkeit mit der musikalischen Tätigkeit. Dies traf sogar auf Musiker in gutbezahlten und hochqualifizierten Berufen zu – etwa im Falle von Chris Pervelis (Internal Bleeding) aus Long Island (NY), der als »creative director« kündigte, um sich selbstständig und damit flexibler zu machen: As my career progressed, I always made sure to take jobs that offered generous vacation time so I could peruse the band as well. Eventually though, I wanted more for the band, so I quit my job as a creative director and started my own small advertising agency. This gives me the flexibility to travel and tour any time that I want.59 Selbst der abwechslungsreiche und lukrative Job wurde also der Band untergeordnet. »Day jobs« waren eine Notwendigkeit, die man lieber früher als später aufgegeben hätte. Dies traf zum überwiegenden Teil sogar auf solche Musiker zu, die sich mit Stipendien oder der Unterstützung der Eltern in einem Studium befanden. So beendeten etwa Alex Webster (Cannibal Corpse) oder Ross Dolan (Immolation) ihr aussichtsreiches Studium, um sich ganz den Bands zu widmen.60 Der hier umrissene Spagat zwischen erwünschter musikalischer Zukunft und der Erwerbsrealität besaß jedoch eine eher kurze Halbwertszeit. Da es sich bei den Bands, die finanziell nicht auf Grundlage eines Plattenvertrages existieren konnten oder Plattenverträge abgeschlossen hatten, die nicht die Kosten deckten, oft um Musiker in prekären und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen handelte, die von einer musikalischen Zukunftserwartung ermöglicht wurden, ist es wenig verwunderlich, dass Karrieren endeten, wenn sich diese Zukünfte als Trugschlüsse herausstellten. Wie hoch die Zahl derer ist, die als Musiker ausstiegen oder gar ihrer Szene den Rücken kehrten, ist schwer zu schätzen, da es sich hier nicht um jene handelt, die in den Quellen der Metal-Kultur breit vertreten sind. Die vorhandenen Aussagen deuten aber darauf hin, dass neben bandinternen Problemen (Kap. 4) Überlegungen ausschlaggebend waren, die die musikalischen Zukünfte nicht mehr durch die Linse der jugendlichen Leidenschaft, sondern aus dem
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Ebd. Klaus Weinhauer, Urbane Jugendproteste, Jugendbanden und soziale Ungleichheit seit dem 19. Jahrhundert. Vergleichende und transnationale Perspektiven auf Deutschland, England und die USA, in: Arne Schäfer/Matthias D. Witte/Uwe Sander (Hg.), Kulturen jugendlichen Aufbegehrens. Jugendprotest und soziale Ungleichheit, München 2011, S. 25–48, hier S. 40. Interview Chris Pervelis, Z. 68–72. Vgl. Korycki, Cannibal Corpse, 58.30 Min.; Vgl. John McEntee/Sharon Bascovsky/Ross Dolan/ Robert Vigna/Mark Mastro/Don Crotsley/Henry Veggian, The latem-files Episode 1. The NY/ NJ/Pittsburgh connection, 2021, URL: https://www.youtube.com/watch?v=0ioiD7_G2dQ (letzter Aufruf 23.11.2021), 40.50 Min.
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Blickwinkel einer lebenslangen Erwerbsbiografie betrachteten. Für Tommy Sandmann, der Destruction 1986 als Drummer verließ, spielte dabei sogar explizit die Furcht vor physischer Arbeit eine Rolle: But what was more important: I asked myself at the age of 19 years several questions. These were mainly: are you sure, that your skills are good enough to persist for a long lasting sustainable career? Or is there a pretty big chance to state at the age of 30 – 35 that it’s not the case. And then in this age, without having learned a profession the main option is not to get paid well, but often physical hard work. That option did not appeal to me, so I decided to free the chair behind the drums for somebody else, who could help the band as well to achieve the next level. So, Oli Kaiser took over. But the decision was a hard one for me, as a young dedicated very enthusiastic Metalhead!61 Nicht für alle hatte ein gefürchtetes Abrutschen in die manuelle Arbeit eine solch große Bedeutung wie für Sandmann, doch teilt sich das Zitat mit anderen Aussagen den Aspekt der dramatischen Neubewertung der eigenen Situation, die durchaus plötzlich erschien und die ökonomische Unsicherheit einer Band mit einem Schlag offenlegte. So beschrieb Frank Watson die Trennung von Obituary folgendermaßen: We were spending more than we were making, the label stopped supporting us and we were all getting older and for the first time in our lives realized this wasn’t going to last forever. So we all had different opinions about our band. I think it was 1998. I went in the corporate world and became a stock broker and did alot in the banking industry. I really didn’t talk to anyone in the band for a long time.62 Überlegungen wie diese zeigten sich bei vielen Metal-Musikern im Laufe ihrer Zwanziger und offenbaren uns den Druck, unter den musikalische Karrieren geraten konnten, wenn sich jugendliche Begeisterung langsam mit Verantwortungsbewusstsein mischte. Es bestanden in dieser Hinsicht auch keine Unterschiede zwischen den Szenen. Der Prozess der Neuevaluierung betraf alle Musiker und ging nicht selten mit einer großen Verlusterfahrung einher, die umso heikler war, weil sie in den Szenen vor dem Hintergrund einer »Treue zur Szene« verhandelt wurde. Es bedurfte daher guter Gründe, die Karriere als Musiker an den Nagel zu hängen, was sich in Aussagen niederschlug, die eine Verteidigungsposition gegen erwartete Vorwürfe einnahmen. So äußerte Barry Thomson, der Gitarrist von Bolt Thrower aus Coventry, über die Pläne seiner Bandkollegen: They just wanted to calm down, get married, get a proper job. And if you’re 27/28 years old, you start thinking about stuff like that. There’s no point in being stupid that you go on with the band until you’re 45 or something like that.63 61
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Frank Stöver, Destruction. Interview mit Tommy Sandmann, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/destruction-tommy-sandmann/ (letzter Aufruf 23.11.2021). Laszlo David, Obituary. Interview mit Frank Watson, in: Voices From The Darkside Online, URL: ht tps://www.voicesfromthedarkside.de/interview/obituary/ (letzter Aufruf 23.11.2021). Frank Stöver, Voices From The Darkside 6, S. 18, in: ders. (Hg.), Voices From The Darkside. Issue 1–10, Wachtendonk 2012.
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Rein ökonomische Gründe für das Ende einer Karriere anzuführen, war ein Stück weit mit einem verräterischen Beigeschmack versehen. Nur graduell anders verhielt es sich mit einem Ausstieg aus familiären Gründen und es ist bezeichnend, wie stark die eigentlich vollkommen rationalen und verständlichen Entscheidungen für die Familie und gegen eine Dreifachbelastung mit entschuldigenden Argumenten verknüpft waren. Das Ende des Traums wurde als Betrug an der eigenen Identität wahrgenommen und schmerzhaft erkauft, wie auch Harry Hill (Fist) klarmacht: Yeah, it was terrible. I worked in the civil service, you know, the social security and stuff, I was supervisor. And we used to get in the house at three o’clock in the morning. And then you get to work and fall asleep [laughs]. And then do the same again the following night. The workload was really too intense, wasn’t it? To try work and that. I don’t think we made much money on the gigs. [Dave Irwin: I can’t remember making any. [laughs]]. […] And I was giving drum lessons at the time, teaching people how not to play [laughs], which helped. You can’t do everything all the time, can you? It’s impossible.64 Harry Hill spielte neben seinem Vollzeitjob und seiner Familie für mehrere Jahre mehr als drei Mal in der Woche mit Fist im englischen Nordosten und macht dadurch auch deutlich, welch mächtiger innerer Antrieb die Musiker an ihre musikalische Tätigkeit band. Musiker, die keine eigene Familie hatten oder deren Einkommen durch Plattenverkäufe, Merchandise und Shows gerade zum Leben ausreichte, beendeten ihre Karrieren daher auch nicht ohne Weiteres und blieben dem Hamsterrad der Rock-Musik treu, das Authentizität durch Selbstausbeutung erkaufte.65 Der Zukunftsentwurf es gegen alle Widerstände »zu schaffen« (»to make it«), der durch Bands wie Iron Maiden, Judas Priest oder Metallica vorgelebt wurde, aber die empirisch absolute Ausnahme darstellte, setzte eine Resilienz frei, die finanziell schwere Zeiten durch den Umstand erkaufte, »true« gegenüber der Musik zu sein. Die Bedeutung der Musik und Band für die individuelle Identität wurde bis zur Totalität gesteigert – und sich gegen jene abgegrenzt, die dies aus welchen Gründen auch immer nicht wollten. So hielt Katon de Pena, Frontmann von Hirax aus Los Angeles gegenüber dem Fanzine Voices From The Dark Side fest: I don’t speak to the old band members anymore. They all are retired family men now. I’m so busy with HIRAX. I am always working on the band with the new musicians – writing songs, recording records, and touring. It is my life. HIRAX is my life – fulltime.66 Für die Kontextualisierung der Metal-Kultur der 1980er Jahre ist es wichtig, dass dies in immer geringerem Maße die Regel war. Die eigene Musik spielte für die zur Schau
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Interview Fist, 11.50-13.02 Min. Vgl. Marc Perrenoud, Performing for Pay. The Making and Undoing of the Music Profession, in: Klaus Nathaus/Martin Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe. A handbook, München/Berlin 2021, S. 59–78, hier S. 72; Grundsätzlich: Simon Frith, The Sociology of Rock, London 1978. Timothy Dovgy, Hirax. Interview mit Katon de Pena, in: Voices From The Darkside Online, URL: ht tps://www.voicesfromthedarkside.de/interview/hirax/ (letzter Aufruf 23.11.2021).
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gestellte Identität zwar stets die größte Rolle, doch nahm musikalischer Holismus mit der breiten Notwendigkeit zu parallelen »day jobs« kontinuierlich ab. Die Totalität der Szene-Erfahrung begrenzte sich auf die Zeitspanne zwischen mittlerem Teenager-Alter und den frühen Zwanzigern – mit teilweise großen Unterschieden je nach sozialer Herkunft und Erfolg der Bands. Danach wurden musikalische Pläne dauerhaft mit anderen Erwerbsformen kombiniert. Einen solchen kombinierten Lebenslauf weist etwa Enid Williams auf, die Sängerin von Girlschool: Also, in terms of money, some bands make enough to live on, others don’t and go get sensible jobs by the time they’re 30. We’re somewhere in the middle of that. After I left the band, I did a post-grad in music, did some acting, professional astrology and some teaching. I always loved teaching, but I didn’t see that as, ›I’ve finished performing. Now I’m going to teach for the rest of my life.‹ I think also for a lot of men, as they get older and maybe want a family, that they feel they have to earn a certain amount to be comfortable and stable, which means this isn’t the business for you.67 Ein großer Teil der Metal-Musiker beendete die Karriere aber auch vollständig und begnügte sich fortan mit dem Fan-Status. Dass dieser Schritt eine wesentliche GenderKomponente tragen konnte, macht Enid Williams bereits deutlich. So begann beispielsweise der Auflösungsprozess der all-female-Band Rock Goddess in dem Moment, in dem die Bassistin kurz vor der Tour aufgrund einer Schwangerschaft aussteigen musste.68 Die im Anschluss an die Karriere gewählten Arbeitsverhältnisse lassen sich dabei auf keinen Sektor eingrenzen und reichen von der Hausfrau und dem Stahlwerk über den Beruf des Psychiaters oder Geschichtslehrers bis hin zu Bürojobs oder zur Selbstständigkeit im Baugewerbe.69 Wie kaum eine anderer Gruppe veranschaulichen diese Musiker die kontinuierliche Einbettung musikalischer Pläne, Wünsche und Karrieren in breite soziale Netze wie Familien oder die »nicht-kreative« Arbeitswelt – und dadurch auch die
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Kevin Stewart-Panko, Interview with Girlschool. »IN THE OLD DAYS WE’D BE COMPLETELY OFF OUR HEADS«, in: Iron Fist Heavy Metal Magazine 2016, URL: www.ironfistzine.com/2016/10/09/gi rlschool-interview-in-the-old-days-wed-be-completely-off-our-heads/ (letzter Aufruf 23.11.2021). Vgl. Greg Moffitt, ROCK GODDESS INTERVIEW: »WE WERE LIVING THE DREAM«, in: Iron Fist Heavy Metal Magazine 2016, URL: www.ironfistzine.com/2016/10/10/rock-goddess-interview-we -were-living-the-dream/ (letzter Aufruf 23.11.2021). Vgl. ebd.: »While Jody subsequently embarked on a career that she cryptically refers to as ›programming‹, sister Julie became a happily married mother of two. Tracey, meanwhile, following a short-lived stint in a band called She, hooked up with Girlschool for a decade before training as a fitness instructor, emigrating to Spain, and opening a rock club, amongst other things.«; Vgl. Bender, Violent Evolution, S. 130 (Rob Fioretti für zehn Jahre als Stahlarbeiter in Essen); Mike Sus (Possessed) betreute nach der Karriere Patienten mit Kopfverletzungen psychologisch und Mike Torrao und Jeff Beccera waren im Baugewerbe erfolgreich, vgl. Frank Stöver, Possessed. Interview mit Jeff Beccera, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside. de/interview/possessed-2/ (letzter Aufruf 23.11.2021); John Connelly (Nuclear Aussault) wurde Geschichtslehrer, vgl. Dave Hofer, Perpetual Conversions. 30 years and counting in the life of metal veteran Dan Lilker, o. O. 2014, S. 42;
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Tatsache, dass Metal-Musiker weder einseitig mit einer niedrigen sozioökonomischen Position, noch mit postindustriellen Erwerbsrisiken assoziiert werden können.70
2.2 Das Ende der Cover- Bands und die »Professionalität« der Metal- Kultur »No pros or poseurs«71 Den zentralen Wendepunkt für die Erwerbsbiografien von Metal-Musikern und die Frage, welche Beziehung zwischen musikalischer Betätigung und Semantiken der Arbeit herrschte, markieren die späten 1970er Jahre in England und die frühen 1980er Jahre in den USA. Es handelte sich dabei um die freiwillige Aufgabe einer musikalischen Erwerbsform in Vollzeit oder gutbezahlter Teilzeit zu Gunsten eines Amateurstatus mit dem Ziel eines Plattenvertrags. Die Entscheidung der Bands, trotz finanzieller Einbußen nicht mehr als Cover-Bands auftreten zu wollen, sondern lieber eigene Stücke für weniger zahlungskräftige Etablissements zu spielen oder parallel »day jobs« nachzugehen, kam einer kleinen Revolution gleich. So wurde mit dem Ende der Cover-Bands eine historisch lange zurückreichende Trennung von Professionellen und Amateuren aufgeweicht, die mit klaren qualifikatorischen und sozialen Abgrenzungen verbunden gewesen war.72 Um eine Erfindung der Metal-Kultur handelte es sich dabei freilich nicht, sondern um eine Authentizitätskonstruktion, die in den britischen Markt für Rock-Musik eingebettet und vom Punk inspiriert war.73 Nichtsdestotrotz trennte sie die lokale Praxis der Hard Rock-Musik der 1970er in Großbritannien deutlich von den 1980er Jahren. Am Anfang der NWOBHM stand daher ein Aufstand der Amateure. In der lokalen Realität war eine klare Trennung von Professionellen und Amateuren in der musikalischen Praxis bestimmter Städte und Regionen schon vorher nicht existent. Wie Ruth Finnegan in »Hidden Musicians« zeigte, bestanden zwischen beiden vermeintlichen Gruppen zahlreiche Überschneidungen: Sie spielten zusammen, Amateure wurden zu Profis und umgekehrt und ein großer Teil der musikalisch Praktizierenden hatte die Professionalität, d.h. das volle Einkommen aus dem Spielen von Musik, gar nicht zum Ziel, sondern präferierte den symbolischen Gewinn.74 Allein in Milton Keynes, der Stadt, die Finnegan untersuchte, bestanden in den 1970er Jahren etwa 170 Rock-und Pop-Bands, die sich an dieser angeblichen Grenze bewegten. Die Autorin sprach daher
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Zur Zusammenfassung der Vorurteile gegenüber Metalheads allgemein: Andy Bennett, Cultures of Popular Music, Buckingham 2001, S. 42f. Steve Harris Anforderungen an potentielle Kandidaten für Iron Maiden, geschaltet im »Melody Maker«. Wall, Run to the Hills, S. 48. Vgl. Thomas Regelski, Amateuring in Music and its Rivals, in: Action, Criticism, and Theory for Music Education 6 (2007) 3, S. 22–50, hier S. 25. Vgl. Klaus Nathaus, Turning Value into Revenue. The Markets and the Field of Popular Music in the US, the UK and West Germany (1940s to 1980s), in: Historical Social Research 36 (2011) 3, S. 136–163, hier S. 159f. Vgl. Ruth Finnegan, The Hidden Musicians. Music-Making in an English Town, Middletown 1989, S. 298–315.
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treffend von einem »complex amateur/professional continuum« und wandte sich grundlegend gegen eine Trennung der beiden Bereiche.75 Bei den meisten Akteuren, so ihre These, handele es sich mehr um »hidden musicians«, die in einer permanenten Relation zu anderen Erwerbsfeldern musikalischen »pathways« folgten – Teilzeit-Arrangements, bei denen es weniger um den finanziellen Aspekt ging und deren Überlappungen der lokalen musikalischen Praxis eher gerecht würden als Konzepte der »world« oder »community.«76 Das Bild eines lokalen Pools von Rock-Musikern, die ihrer musikalischen Leidenschaft in wechselnden Zusammensetzungen und neben einem nicht-musikalischen Beruf nachgehen, trifft auch auf die Pionierregionen der Metal-Kultur in England und den USA zu, und dass es entlang der vermeintlichen Grenze von Profis und Amateuren zahlreiche Grenzüberschreitungen gab, kann mit Blick auf die bisherigen Aussagen nicht hoch genug veranschlagt werden. Dennoch trifft der Begriff der »hidden musicians« die soziale Realität der Metal-Kultur deshalb nicht, weil er die Auswirkungen der DIY-Mentalität des Punks auf den entstehenden Metal unterschlägt: Metal-Bands waren seit den späten 1970er Jahren keineswegs »hidden«, sondern für alle hör-und sichtbar, die es wollten. Es empfiehlt sich daher, die wichtigen Einsichten Finnegans zu erweitern. So hat Thomas Regelski ebenfalls gegen eine Trennung von Profis und Amateuren plädiert, dabei aber Schwerpunkte gesetzt, die sich besser auf die NWOBHM anwenden lassen.77 Er wertet den Begriff des Amateurs noch einmal stark auf und beschreibt deren musikalische Qualifikation in einer gänzlich durch die »high brow«-Kultur unbelasteten Weise. Dabei erweist sich vor allem seine These, dass zwischen gut trainierten Professionellen und weniger qualifizierten Enthusiasten kaum unterschieden werden kann, als anschlussfähig. Denn Dilettantismus am Instrument gehörte selbst für unbezahlte Hobby-Metal-Musiker höchstens in den ersten Jahren nach ihrer musikalischen »Erweckung« zum Alltag und wich einer konstanten Perfektionierung der Fähigkeiten. Spätestens mit der wachsenden Transgression im Extreme Metal wuchsen die technischen Anforderungen an die Musiker in einer Art, die einen Amateur-Status nicht mehr mit geringerer Qualifikation rechtfertigen konnte.78 Der bisweilen postulierte Übergang von der Virtuosität und technischen Brillanz der Rock-Musik zur weniger versierten Authentizität späterer Genre trifft es für den Heavy Metal daher gerade nicht.79 Technische Fähigkeit blieb zu jeder Zeit ein wichtiger Bestandteil der Authentizität der Metal-Musiker, womit sie sich besonders während der NWOBHM auch ostentativ vom Punk abgrenzten. So hielt Graham Oliver (Saxon) fest: »We connected with the punk feeling, but not the poor music.«80 Weitere Elemente des Amateurs nach Regelski haben ebenfalls Entsprechungen in der sozialen Realität der Metal-Musiker: Die aktive »admiration« der Vorbilder, oder wie es Brian Tatler (Diamond Head) ausdrückte »we were initially emulating our
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Ebd., S. 298. Vgl. ebd., S. 323. Vgl. Regelski, Amateuring. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. Perrenoud, Performing, S. 71. Popoff, Wheels of Steel, S. 27.
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heroes«81 – die Praxis des aufmerksamen »listening«, die in den Metal-Szenen die Vergemeinschaftung ermöglichte und als »talking metal« zu den tragenden Säulen der Musik-Kultur gehörte82 – sowie die Unabhängigkeit als Grundbedingung jeden »amateurings«.83 Besonders im Lichte des letzten Punkts erscheint die Entscheidung vieler Bands während der NWOBHM, nicht mehr für eine Gage als Cover-Bands aufzutreten, als selbstgewählter Rückzug in den Amateur-Status, der in der Folge eine Authentizitätskonstruktion ermöglichte, die alte Vorurteile gegenüber den Amateuren nicht nur aufgriff und widerlegte, sondern auch umkehrte und mit neuen Vorurteilen belegte. Der Aufstand der Amateure war daher auch mit einer Umcodierung von Professionalitätsvorstellungen verbunden. Am Ende der 1970er Jahre existierte unter anderem in Nordostengland, in Südwales, in den Midlands, und in geringerem Maße auch in den Niederlanden und in New York/ New Jersey sowie der San Francisco Bay Area ein sogenannter »club circuit«, der bestehend aus Pubs, Working Men’s Clubs, Social Clubs oder Jugendclubs eine kontinuierliche Nachfrage nach Rock-und Heavy Rock-Bands erzeugte.84 Das gängige Musikstück war dort ein Cover eines Songs, den die Anwesenden aus dem Radio und den Charts bereits kannten – Charts, die in den Augen von Steve Zodiac (Vardis) besonders in England »full of pop, and quite heavy rock«85 waren. Folglich gehörten zu den vielgecoverten Künstlern vor allem Free, Status Quo, Slade oder Alice Cooper.86 Zusehends unzufrieden mit ihrem Cover-Status eines »play for pay« versuchten zuerst Bands wie Black Sabbath und Judas Priest in den Western Midlands und später Raven, Tygers of Pan Tang, Fist oder Mythra im Nordosten, eigene Songs zu schreiben und in ihre Sets einzubauen. Sie gaben sich nicht mehr länger mit der Rolle von Handwerkern zufrieden, wollten als Künstler akzeptiert werden und versuchten sich dadurch am schwierigen Schritt vom »performer« zum »composer.«87 In einer regionalgesellschaftlich weiterhin dominanten Sichtweise der Industriereviere, nach der »Rock-Musiker« kein akzeptierter Beruf und die Trennung von Amateuren und Professionellen voll in Kraft war, handelte es sich dabei freilich um einen Weg mit vielen Hindernissen. Biff Byford (Saxon) beschreibt diese dominante Sichtweise vor dem Hintergrund seiner Herkunft aus West Yorkshire: Back then, you have to remember that being a musician then wasn’t a real job; for quite a long time it wasn’t seen as a profession as such and even now my sister still says to
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Interview Brian Tatler, 00.45 Min. Vgl. Esther Clinton/Jeremy Wallach, Talking Metal. The Social Phenomenology of Hanging Out, in: Nelson Varas-Díaz/Niall W.R. Scott (Hg.), Heavy Metal Music and the Communal Experience, London 2016, S. 37–56, hier S. 42 (»talking metal« als »social glue«). Vgl. Regelski, Amateuring, S. 34. Wobei die Working Men’s Clubs freilich eine rein britische Institution waren. Vgl. Marco Swiniartzki, Bruch und Aufbruch. Working Men’s Clubs und die »New Wave of British Heavy Metal« im Nordosten Englands (1978–1984), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 19 (2022) 1, S. 46–78. Interview Steve Zodiac, 22.20 Min. Vgl. ebd., 47.24-48.30 Min. Vgl. Perrenoud, Performing, S. 60.
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me ›what are you going to do when it finishes? When are you going to get a real job?‹ So, this view of being a musician still permeates through, even now.88 Musikalischen Zukunftsentwürfen begegneten Familien und Schulen in West Yorkshire, Tyneside, den West Midlands oder den Industriegebieten Lancashires nicht etwa nur mit Skepsis, sondern der unerschütterlichen Überzeugung, dass es sich um jugendliche Hirngespinste handelte. Steve Zodiac erinnerte sich an einen der Momente, der diese Haltung deutlich machte: I told the Careers Officer at school I was either going to be a guitar player or a footballer, so naturally he put me forward for an apprenticeship as a mechanic.89 Es ist daher wenig verwunderlich, dass keiner der Musiker der frühen NWOBHM sofort nach dem Schulabschluss eine Musikerkarriere anvisierte, sondern zunächst einen sozial akzeptierten Beruf erlernte. Das Misstrauen gegenüber »dem Künstler«, das sie in ihrer Jugend bereits erfahren hatten, begegnete ihnen später aber auf dem »club circuit« wieder: Hier war es völlig legitim, als Musiker vor Publikum aufzutreten und dafür Geld zu erhalten, doch war die Perspektive des Publikums jene des Dienstleisters, der tat, was ihm gesagt wurde, und nicht jene der künstlerischen Entfaltung und Originalität, wie sie The Beatles, aus einem ähnlichen Milieu kommend, anderswo salonfähig gemacht hatten.90 Für Bands, die sich dieser Herangehensweise unterordnen konnten, eröffneten sich hervorragende finanzielle Aussichten: So nennt Biff Byford beispielsweise die Summe von 500 Pfund für einen Auftritt und John Roach (Mythra) verdiente während seiner mehrjährigen »Professionalität« etwa 350 Pfund pro Woche91 – vor dem Hintergrund der Wochen-Löhne in den Industrieregionen waren dies beachtliche Beträge.92 Neben der Ungewissheit hinsichtlich der Reaktion des Publikums bedeutete es also auch ein erhebliches finanzielles Risiko, die Performer-Rolle künstlerisch erweitern zu wollen. Steve Zodiac beschreibt die Stimmung daher als »It was very challenging, because […] you never knew what to expect.«93 Dennoch, und dieses Vorgehen teilten sich alle erwähnten Bands, verzichteten sie auf die Möglichkeit, den »club circuit« in Vollzeit zu spielen und versuchten sich stattdessen an der kontinuierlichen Erweiterung ihrer Sets um eigene Songs.94 Das Zentrum dieses Übergangs lag in Nordostengland. In anderen Regionen, namentlich Südengland und vor allem London, war es zwar auch möglich, drei bis vier Auf-
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Byford, Saxon. Never Surrender, S. 24. Andrew Liles, Steve Zodiac, URL: https://www.andrewliles.com/10-questions/steve-zodiac/ (letzter Aufruf 23.11.2021). Vgl. Egbert Klautke, Die »britische Invasion« der 1960er Jahre. Britische Pop-und Rockmusik in den Vereinigten Staaten, in: Dietmar Hüser (Hg.), Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre, Bielefeld 2017, S. 107–125, hier S. 109. Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 51.35-53.30 Min. John Roach verdiente als Facharbeiter im Schiffbau 160 Pfund pro Woche; Robb Weir als Juwelier 100 Pfund. Vgl. ebd.; Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 24.18-25.04 Min. Interview Steve Zodiac, 21.30 Min. Vgl. ebd., 47.24-48.30 Min.; Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 55.
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tritte pro Woche zu absolvieren, doch wurde dies aufgrund der geringeren Verbreitung der zahlungskräftigen Working Men’s Clubs nicht annähernd so gut vergütet.95 Auch Bands wie Diamond Head aus den Midlands, Jaguar aus Bristol oder Angel Witch aus London spielten daher Auftritte im Nordosten.96 Sie alle betätigten sich 1978/79 bereits als Songwriter, mischten ihre Einflüsse aus Black Sabbath und Led Zeppelin mit der Geschwindigkeit des Punks, forderten Stück für Stück mehr Gehör für Nicht-Cover und machten das Publikum auf diese Weise mit Songs vertraut, die sich deutlich vom Charts-affinen »club circuit« abhoben. Anstatt vollständig von Auftritten zu leben, vertrauten die frühen NWOBHM-Bands also auf den Gewöhnungseffekt und versuchten, das Publikum langsam an den höheren Anteil eigener Stücke heranzuführen. Neben ihren »day jobs« waren sie »semi-professional« und spielten eine wechselnde Anzahl an Shows pro Woche. Im Falle von Vardis, Fist, Angel Witch und Mythra waren dies in der Regel ein Auftritt in der Wochenmitte sowie jeweils Freitag, Sonnabend und Sonntag, wodurch in etwa 15 Konzerte pro Monat zusammenkommen konnten.97 Die Musik und ihre Performance wurden dabei stark aufgewertet und erschöpften sich nun nicht mehr in der Hintergrundunterhaltung für erschöpfte Industriearbeiter. Es ging vielmehr um »Songs that would make people stop and take notice.«98 Ganz nebenbei ermöglichte dieses Vorgehen darüber hinaus eine geschickte Anknüpfung an die Authentizitätskonstruktion der künstlerischen Selbstverwirklichung und diente in seiner sozialen Verlängerung als Distinktionsinstrument von all jenen Bands, denen man – zum ersten und nicht letzten Mal in der Metal-Geschichte – den »Ausverkauf« von »Werten« vorwerfen konnte. Biff Byford, der vor seiner Zeit bei Son of a Bitch mit der Band Coast unterwegs war, adressierte genau diesen Vorwurf: Our main aim in life in Coast was to get a record deal, writing our own songs and not playing cover versions like the rest of the bands in Yorkshire that we considered to be pub groups who earned good money but who had basically sold their souls.99 Neben den musikalischen Unterschieden kann jedoch vermutet werden, dass solche Vorwürfe auch mit einer generationellen Stoßrichtung versehen waren und jene etwas älteren Rock-Bands und Musiker trafen, die sich als »working musicians« auf einen bestimmten Stil eingeschossen hatten und vom »club circuit« lebten. Diesen Typ des Musikers verkörperte – nach eigenen Angaben – John McCoy bevor er zur Band Gillan stieß: Remember, all of us were and are working musicians, and in that time in the ’70s, I had a wife, a kid, a mortgage, all the stuff that everybody else has got. You gotta follow the cheque books. You’ve got to work to live. It’s not that easy and at that time we all did what we had to do.100
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Vgl. Interview Kevin Riddles, 19.55-21.00 Min. Vgl. Interview Kevin Riddles, 36.37-36.50 Min.; Vgl. Interview Gary Pepperd, Spur 13; Vgl. Interview Brian Tatler, 25.44-27.05 Min. 97 Vgl. Interview Fist, 46.41-47.18 Min. 98 Byford, Saxon. Never Surrender, S. 33. 99 Ebd. 100 Popoff, This Means War, S. 33.
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Der Bruch mit der Tradition und die Befreiung des Musikers vom Stigma des Befehlsempfängers wertete die NWOBHM-Bands besonders in den Augen jüngerer RockFans auf und erklärt dadurch zum Teil die besondere musikalische Dynamik der Jahre um 1980. In der Sichtweise von Steve Zodiac handelte es sich sogar um ein Äquivalent zur Entscheidung seines Vaters, die Bergbaukleinstadt in West Yorkshire während der 1950er Jahre zu verlassen, um sich in Wakefield fortzubilden. Beides sei »breaking the mold«101 gewesen, also ein Aufbrechen überkommener Strukturen – was die NWOBHM nicht nur in direkte Kontinuitätslinie zur sozialen Mobilität der englischen Arbeiterklasse stellt, sondern sich in folgenreicher Weise der Adaption gesellschaftlicher Ungleichheitsnarrative durch die Musik-Kultur bedient. Die Entscheidung gegen den »play for pay«-Status der Bands sollte indes in ihrem rebellischen Gestus nicht überschätzt werden. Denn die Bands profitierten gleichzeitig von einer Entwicklung, die sie an vielen Abenden beobachten konnten und die es zu instrumentalisieren galt: Technische »Spielereien« und mit dem Label der Avantgarde versehene Rockmusik verloren – auch vor dem Hintergrund des Punk-Einflusses – unter den Jugendlichen deutlich an Boden. Die Aussagen der Akteure und die Sets, die in verschiedenen Spielstätten und Regionen gespielt wurden, legen nahe, dass es sich dabei weniger um bestimmte musikalische Merkmale handelte, die weniger gefragt waren. So weist John Roach darauf hin, dass es um 1980 sogar möglich wurde, längere Stücke von Black Sabbath in den Working Men’s Clubs zu spielen, die alles andere als »catchy« daherkamen.102 Parallel traten »klassische« NWOBHM-Bands wie Fist und Saxon sowohl in Pubs als auch in Colleges auf und eine Band wie Pagan Altar, musikalisch fast gänzlich unbeeinflusst vom Punk, spielte in London in Pubs, Nachtclubs und Colleges.103 Die Beziehung von Stil, Spielstätte und Publikum war also hochgradig divers und ließ eine klare Zuordnung nicht zu. Es war daher nicht so sehr die Musik, sondern die in den 1970er Jahren verbreitete »high brow«-Attitüde ihrer Präsentation, die nicht mehr erwünscht war. So beobachtete Biff Byford: A lot of ›real‹ music at the time was very highbrow, university music dropouts, not quite classical standard but something like that. And we weren’t as good as that technically, and our music was more blues-based.104 Und über eine bestimmte Band, mit der seine Band Son of a Bitch spielte, merkte er an: I had nothing against the band but that music was definitely on the way out; the university music, or ›trained‹ music, this impresario keyboard player with his band.105 Indem eine Band wie Saxon, die wie kaum eine andere Band für den Karriereweg über die Pubs und Working Men’s Clubs steht, zusehends in Colleges auftreten konnte und parallel die »trained music« mit ihrem Anstrich der Professionalität aus der Live-Musik101 102 103 104 105
Interview Steve Zodiac, 08.20 Min. Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 05.00-05.29 Min. Vgl. Interview Alan Jones, Z. 26–27. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 32. Ebd., S. 40.
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Szene für die Jugendlichen verschwand, deutete sich um 1980 die Entkopplung von musikalischen Stilen und sozialen Klassen an. Die aus der sozialen Praxis der arbeiterklassennahen Clubs stammenden NWOBHM-Bands waren die Bands der Stunde, weil sie einen revitalisierten Heavy Rock-Sound in unkommerziell-authentischer Manier für eine neue Alterskohorte von Jugendlichen verkaufen konnten, die nun nicht mehr auf die »working class« beschränkt blieben. Dafür die vermeintliche Sicherheit einer guten Bezahlung als Cover-Band aufzugeben, um sich künstlerisch zu verwirklichen, schuf einen Authentizitätsüberschuss in einer Phase, in der sich Mittelschicht und Arbeiterklasse langsam anzugleichen begannen und besonders die Jugend gegen die als versnobbt verpönte Klassenexklusivität rebellierte.106 Die NWOBHM-Bands kreierten auf diese Weise und mit deutlichen Anleihen an die Rock-Musik-Tradition eine Denkfigur, die die MetalSzenen der »langen 1980er Jahre« konstant prägen und spalten sollte: die des kreativen Schaffenden, der lieber arm und glücklich seiner Leidenschaft nachgeht, als sich stilistisch korrumpieren zu lassen. Das Verhältnis von Professionalität und dem Amateurstatus wurde in dieser Phase in einer Weise umcodiert, die »Professionalität« aller alten sozialen und qualifikatorischen Implikationen entkleidete. Für die große Zahl an Bands, die auf »day jobs« angewiesen blieb und deren Bedeutung sich ständig vergrößerte, bedeutete »Professionalität« nun nicht mehr, den alleinigen Lebensunterhalt mit der Musik zu verdienen, sondern der Musik und der Band die größtmögliche Seriosität zukommen zu lassen, sich der musikalischen Leidenschaft so total wie möglich zu verschreiben und darüber hinaus stets alles zu geben, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden. In einer völligen Verkehrung der eigentlichen Wortbedeutung war es nun der »day job«, der die Professionalität ermöglichte. In den Worten Kevin Riddles klingt dies folgendermaßen: I was working in a music shop and I worked in the music shop and played with Angel Witch for probably two and a half years. And I only left the music shop, cause we got the Black Sabbath tour. And I couldn’t take five weeks off work [laughs] to go touring around the UK. So, I decided to leave there. But everybody left their jobs at that point. Kev [Kevin Heybourne, M.S.] was working… no I can’t remember. But we all had jobs. And we all moved holidays, […] cause nobody could take five weeks off to do their first proper tour, you know. So, I left the music shop, came back from the tour and worked in another music shop. I was very good at sales, because I talk it up. [laughs] So, we were as professional as anybody else. I know people that were postman, who would do their round doing mail in the mornings and finish at ten o’clock and go home for a couple of hours sleep and then they go to a gig. And they did that for years. So, in theory we were professional and the day job just made that possible. He gave us the money to […] play in the bands or whatever. In our heads we were probably professional.107 Es war in den »langen 1980er Jahren« die unwiderstehliche Anziehungskraft dieser Aufwertung des »amateurings« durch eine Mischung aus authentischer Attitüde, einem Underdog-Charme und der Weigerung, den vermeintlichen Regeln zu folgen, die in 106 Vgl. etwa Florence Sutcliffe-Braithwaite, Class, Politics, and the Decline of Deference in England, 1968–2000, Oxford 2018, S. 6–9. 107 Interview Kevin Riddles, 62.52-64.53 Min.
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jeder der hier zu vergleichenden Szenen neue Jugendliche anstachelte, die Kompositionen ihrer Vorbilder zu übertreffen und sich selbst zu verwirklichen. Dabei blieben besonders die Skepsis gegenüber »high brow«-Musik, die man mit dem Notenspiel assoziierte, sowie der Umstand haften, dass »Professionalität« im herkömmlichen Sinne ein »verdientes« und nicht durch stilistische Anpassung erworbenes Recht sei. Shane Embury (Napalm Death) fasste diese Herangehensweise treffend und knapp zusammen: »I make a living from being in Napalm, I don’t do it to make a living, but it’s become that way, you know.«108 Die Musik musste an erster Stelle stehen, Geld durfte höchstens ein Nebeneffekt sein. Die Geschichte der Metal-Kultur während der Dekade war aus dieser Perspektive eine permanente Abfolge neuer Aufstände von Amateuren, die sich gegen die in ihren Regionen geltenden Konventionen auflehnten und dazu zu immer extremeren Mitteln griffen. Für die aufkommende Szene in Tampa beschrieb Mark Odechuck (Paineater) dies bereits mit markigen Worten: Back then these people were not musicians or considered as such. They were fans of extreme metal and they got together and created their noise. They were not composing musical compositions by writing sheet music. They were not trying to write avant–garde jazz fusion by noodling around on their instruments and writing songs with the most time changes they could fit into every song. They were fans of metal filled with teen angst and aggression who were passionately playing their noisy version of metal for anyone who would listen and did not give a goddamn what people thought about them.109 Die erste lokale Szene, die in dieser permanenten Abfolge des Endes der Cover-Versionen die Pionierrolle der NWOBHM adaptierte, war die entstehende Thrash-Metal-Szene von New York und New Jersey in den frühen 1980er Jahren. Die Ausgangslage präsentierte sich dabei in den Augen von Rat Skates (Overkill) genauso wie in England: In the early days, playing covers was about the only thing that we could do! We didn’t want to play covers, but we had to! If we never played covers we would never have had the chance to play anywhere…. so it was actually a good thing because we got our stage experience and learned a lot of things until we were ready to start writing originals with the right musicians in the band.110 Der Drummer beschreibt die Verbreitung der Cover als »Fluch und Segen« und damit exakt in der Weise, wie dies etwa John Gallagher (Raven) in Newcastle wenige Jahre zuvor erlebte.111 Es handelte sich um einen Lernprozess, der die Band aus Sicht der Musiker sowohl technisch fit machte als auch die Einsicht in die Publikumsreaktion
108 Interview Shane Embury, 24.50-24.55 Min. 109 Bradley Smith, Interview with Paineater, 2014, URL: www.nocturnalcult.com/Paineater2014int.ht ml (letzter Aufruf 23.11.2021). 110 David Leslie, Interview with Rat Skates, 2008, URL: https://www.metal-rules.com/2008/05/03/rat -skates-ex-overkill/ (letzter Aufruf 23.11.2021). 111 Vgl. Interview John Gallagher, Z. 6–9.
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schärfte112 – jedoch ihre Selbstverwirklichung unterdrückte. Selbst die Verdienstmöglichkeiten waren verteilt wie in England: The bands who did play the cover songs were making a lot of money. They didn’t have to work any day jobs, all they did was play at night, and that’s it.113 Die Entwicklungen auf beiden Seiten des Ozeans vollzogen sich keinesfalls zusammenhanglos. So war es der »flow« importierter Musik der NWOBHM-Bands, der begann, die Cover-Bands in den USA zu verdrängen.114 An der Ostküste waren dafür vor allem Raven und Iron Maiden mit ihrem Debüt-Album von 1980 verantwortlich, das Bands wie Overkill, Anthrax oder Whiplash beeinflusste. An der Westküste und im Kreis der entstehenden Thrash-Metal-Bands Metallica, Slayer und Exodus gehörten neben Iron Maiden vor allem Diamond Head, Saxon und Motörhead zu den Einflüssen.115 Dass sich eine Band wie Overkill aus New Jersey in der Beschreibung ihres Gitarristen Bobby Gustafston in kurzer Zeit von einer reinen Cover-Band zu einer komponierenden Gruppe entwickelte, hatte also vor allem mit einem zeitlich versetzten Überschwappen der englischen Bands zu tun: I always saw their ads in the local paper. They were mostly a cover band. We started out doing covers but I wanted to write our own songs so we started the change. We only did a few covers like Sonic Reducer and whatever. When bands were doing 3 sets we said hey let’s get 3 bands. It was new at the time for the NY NJ club scene. But owners gave in to 3 original bands and the cover bands started to take a back seat.116 Auch innerhalb der entstehenden Szenen wurde das Ende der Cover-Versionen kontrovers diskutiert und instrumentalisiert: Lars Ulrich grenzte sich beispielsweise harsch von der Band Slayer ab, die sich kurz nach Metallica auf das Schreiben eigener Musik konzentriert hatten und stilisierte sich dabei zum Vorbild der ehemaligen Vorband.117 Während die Metal-Bands an den US-Küsten genauso wie die NWOBHM-Bands von der Authentizitätskonstruktion des Amateurs profitierten, blieb diese doch stets auf das
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Vgl. Interview Fist – Harry Hill: »It was good, because it makes the band tight. You’re not just recording, you’re on the money when you’re playing.« 11.25-11.34 Min. Leslie, Interview with Rat Skates. Tony Portaro von Whiplash führt sogar den direkten Einfluss einer frühen Show von Raven an: »There were some scattered at small clubs locally, but most of the popular bands played rock and roll covers. Some metal bands passed through while on tour. I remember seeing Raven and Anvil with a crowd of about 20 people.« Vgl. Chris Forbes, Whiplash. Interview with Tony Portaro, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/whiplash.html (letzter Aufruf 23.11.2021). Dedizierte Einflüsse waren auf Metallica z.B. Diamond Head, Motörhead oder Mythra – Gary Holt (Exodus) erlernte das Gitarrenspiel mit dem Song »Grinder« von Judas Priest. Vgl. Eray Erel, Slayer’s Gary Holt Talks About Kirk Hammett’s Affects On His Musical Life, in: metalcastle, 2021, URL: https://www.metalcastle.net/slayers-gary-holt-talks-about-kirk-hammetts-affects-on -his-musical-life/ (letzter Aufruf 23.11.2021). Chris Forbes, Overkill. Interview with Bobby Gustafston, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalc orefanzine.com/bg.html (letzter Aufruf 23.11.2021). Vgl. Ian Christe, Sound of the Beast. The complete headbanging history of Heavy Metal, New York 2004, S. 104.
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Ziel eines Plattenvertrages und die Professionalität im herkömmlichen Sinne ausgerichtet. So bezeichnete es Brian Tatler als seinen sehnlichsten Wunsch, bei einem Major Label zu unterschreiben, auch Lars Ulrich (Metallica) schloss dies trotz seiner antikommerziellen DIY-Attitüde nicht aus118 und hinter der nun aufziehenden Fassade traf dies im Grunde auf alle Musiker zu. Doch im Laufe des Jahrzehnts und besonders in den Death Metal-und Black Metal-Szenen radikalisierte sich der Authentizitätsgedanke des »amateuring« derart, dass junge Musiker vorgaben, Extreme Metal ohne jegliche Professionalisierungsintention zu komponieren, d.h. jeglichen Einfluss abzulehnen, der die Unabhängigkeit der Band und Musik einschränken könnte. Metal-Musik zu schreiben und zu spielen war aus dieser Perspektive lediglich ein Hobby, dessen Erfüllung verloren ging, sobald es mit irgendwelchen Restriktionen in Verbindung kam, und überdies vorgeblich nicht mit dem Ziel verbunden, kommerziell erfolgreich zu sein. Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen. So hielt John Gallagher (Dying Fetus) aus Annapolis, Maryland, gegenüber seinem früheren Bandkollegen und heutigen Wissenschaftler Jason Netherton fest: When we formed in late 1991, it was meant to be a hobby, just something fun to do after work. It’s always been fun. When the fun is lost, that’s when it ceases to be cool anymore, you know? I just felt inspired to play it, and I wanted to put my mark on it.119 Mikael Stanne (Dark Tranquillity) aus Göteborg, meinte in diesem Zusammenhang: Es gibt definitiv einen gewissen Standard. Es ist die Qualität der Musik, gut und mit Leidenschaft gespielt. Niemand macht es, um berühmt zu sein oder Geld zu verdienen. Die Mentalität bei uns ist da anders. Wenn man in einer Band spielt, dann macht man es, um kreativ zu sein. Das verbindet uns.120 Diese Totalität des musikalischen Fokus bei gleichzeitiger Verachtung aller finanziellen Gesichtspunkte wurde besonders von jenen Musikern eingenommen, die aus gesicherten Mittelklasse-Verhältnissen stammten – und es war schließlich auch diese besondere Radikalität, die den Spagat für die Bands in dem Moment, in dem sie doch Plattenverträge abschlossen und Kompromisse eingingen, umso breiter machte. Es mag daher auch dieses, bereits in der NWOBHM angelegte, Spannungsverhältnis sein, dass dazu führte, dass die Verfügbarkeit von Geld und dessen offene Zurschaustellung zu den verpöntesten Verhaltensweisen im Extreme Metal gehörten. Der Inbegriff dieses Feindbildes war der Rockstar-Habitus, während der 1980er Jahre besonders verkörpert von den sog. Glam Metal-Bands des Sunset Strips in Los Angeles. An der kontinuierlichen Reibungsfläche zu den Glam-Bands konnte sich das Bild des »amateuring« schließlich in einer 118
Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 110; Lars Ulrich: » It’s gonna be a sort of thing where you don’t have to follow any trends or get airplay, you don’t need to make videos, you just sort of do it through a really good street buzz. Keeping a down-to-earth thing going with kids, doing what you wanna do.« Christe, Sound of the Beast, S. 149. 119 Netherton, Extremity Retained, S. 50. 120 Christian Krumm, Century Media – Do It Yourself. Die Geschichte eines Labels, Oberhausen 2012, S. 37.
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Weise radikalisieren, dass es sogar Elemente der Armut als authentisch konnotierte, wie dies Glen Benton (Deicide) aus Clearwater/Florida exemplarisch versuchte: I don’t drive around in big fuckin' fancy sports cars. I don’t have any hidden bank accounts with shitloads of money in it. I can barely fuckin' pay my bills. I’m actually pawning shit to pay my bills sometimes.121 Noch weiter gingen schließlich nur einige der norwegischen Black Metal-Musiker, die jede über die Musik hinausgehende und vermeintlich fremdgesteuerte Tätigkeit als inauthentisch codierten und dadurch ein Bild des »amateuring« entwarfen, das nicht nur die musikalische »Professionalisierung«, sondern jede Form der Erwerbsarbeit als Störeinfluss auf ihrer stilistischen Suche ablehnte.122 So hielt Samoth (Emperor) etwa im Schriftverkehr mit dem deutschen Witchcraft Magazine 1993 fest: Apart from musical work, I do hardly nothing of interest (If you think about works and shit, forget it, I deny work, school and other slavery). Mostly I spend long hours alone with mail, music and darkness by my side… I also like wander around in the nature, it makes my longing for the ancient even stronger.123 Jede Arbeit, die nicht einem musikalischen Ziel diente, wurde hier als »Sklaverei« verurteilt und widersprach einer totalen Identitätskonstruktion. Dass es dabei besonders die eigenen Elternhäuser sowie die sozialen Unterstützungskassen des Landes waren, die diesen Lebensstil möglich machten, gehört zu den ironischen Gesichtspunkten dieser extremen Perspektive,124 die wie in Tab. 2 deutlich wurde dazu führte, dass die Musiker weder von Plattenverträgen noch von »day jobs« leben wollten bzw. mussten. Und dennoch bereitete sich besonders in dieser Szene ein Umbruch vor, der für das weitere Verhältnis von Metal-Musikern und Arbeitsbiografien immer wichtiger werden sollte und schließlich darin mündete, dass es vor allem die norwegischen Musiker waren, die die Chancen eines Erwerbsfeldes der »kreativen Arbeit« neu ausmaßen.
2.3 Die Metal- Kultur als kreatives Erwerbsfeld Einerseits waren Zitate wie jenes von Samoth natürlich vom Wunsch einer situativen Distinktion inspiriert. Andererseits kündigte sich in den »day job«-feindlichen Positionen vieler Black Metal-Musiker bereits ein Wandel an, der vor allem seit den späten 1990er Jahren um sich griff und weit über die Grenzen der Metal-Szenen wirksam wurde.
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Bill Zebub, The Grimoire of Exalted Deeds Magazine 10 (1997), Clifton (New Jersey), S. 11. Vgl. Marco Swiniartzki, Szene-Eliten. Selbststilisierung, soziale Praxis und postmoderne Ästhetisierung im norwegischen Black Metal, in: Archiv für Sozialgeschichte 61 (2021), S. 445–469, hier S. 457. 123 Stefan Löns, Witchcraft Magazine. Issue 1, Rübenach 1993, S. 7. 124 Vgl. Niko Sirkiä, Hammer of Damnation Fanzine. Issue 3, Kaarina 1993, S. 35: Christian »Varg« Vikernes: »I think the reason for this is firstly I’m unemployed and that enables me to dwell where I wish in the night!«
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal
Denn wie in Tabelle 2 bereits angedeutet, aber mit dünner Datenlage und auch nur für den Zeitraum bis 1994, diversifizierte sich die Metal-Kultur als Erwerbsfeld weit über das Schreiben, Spielen und Verkaufen von Musik hinaus. Dass viele der norwegischen Musiker, etwa Sigurd »Satyr« Wongraven (Satyricon), »Gaahl«/Kristian Eivind Espedal (Gorgoroth) oder »Ihsahn«/Vegard Sverre Tveitan (Emperor) seit der Mitte der 1990er Jahre eindrucksvoll kreative und vielfältige Karrieren absolviert haben, ist demnach kein Zufall. Sie internalisierten eine langsame Verschiebung der Erwerbsmöglichkeiten während der 1980er Jahre am deutlichsten und stehen damit Pate für eine Entwicklung, die mit der Durchsetzung des Internets voll durchbrechen sollte: den »Siegeszug« der »Kreativen« in der postindustriellen Arbeitswelt.125 Den Beginn dieses Wandels markiert auch hier die Zeit der NWOBHM mit dem Einzug der DIY-Mentalität in die englische Rock-Musik. Dass die risikofreudige, kreative und marktbeobachtende Künstlerfigur in Großbritannien und wenig später an den US-Küsten auftrat, erscheint zunächst als wenig verwunderlich. Als Zentren neoliberaler Wirtschaftsprogramme sowie des Human-Capital-Ansatzes, der lebenslanges Lernen, permanenten Komparativ und die Flexibilisierung des Menschen und seiner »skills« propagierte, war es hier vermutlich wahrscheinlicher als in Mitteleuropa, dass die Jugendlichen, die als Musiker in den späten 1970er Jahren aktiv wurden und fast alle um 1960 geboren waren, im frühen Erwachsenenalter mit der Notwendigkeit individueller Initiative für das berufliche Vorankommen konfrontiert wurden.126 Ein grundlegender Vorsprung an Initiative ging damit jedoch nicht einher, denn sowohl in den Niederlanden als auch in Westdeutschland manifestierten sich mit nur kurzem zeitlichen Verzug entsprechende Unternehmensgründungen.127 Wie bereits gezeigt wurde, handelte es sich im Falle der meisten Metal-Musiker aber nicht um jene, die aufgrund einer persönlichen Krisenerfahrung zu individueller und kreativer Initiative griffen – sie waren eher Beobachter einer Entwicklung der Industriegesellschaft im Wandel und gingen aus relativer beruflicher Sicherheit proaktiv auf sich bietende Möglichkeiten ein. Die Analyse der Erwerbsbiografien hat veranschaulicht, dass sich der dabei dynamisierende Zusammenhang von »day jobs« und musikalischer Arbeit quasi im Zentrum der großen Verschiebungen in der Arbeitswelt der 1980er Jahre befand: Die Arbeitsbiografien waren Teil einer »Entstandardisierung«128 von Lebensläufen, sie waren Ort einer Veränderung von Arbeitssemantiken129 und loteten die Grenze »zumutbarer Arbeit« unter dem Deckman-
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Vgl. etwa Manske, Kapitalistische Geister in der Kultur-und Kreativwirtschaft, S. 14 u.a.; Hinsichtlich der Musiker vgl. Timothy Taylor, Music and Capitalism. A history of the present, Chicago/ London, S. 132–145. Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 256–259. Zur Kritik der These, dass sich der risikofreudige Unternehmer besonders in den USA früh etabliert hätte vgl. anhand der Entwicklung der Selbständigkeit: Jan-Otmar Hesse, Die »Krise der Selbständigkeit«. Westdeutschland in den 1970er-Jahren, in: Andresen/Bitzegeio/Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch?, S. 87–105, hier S. 92f. Vgl. Andreas Wirsching, Erwerbsbiographien und Privatheitsformen. Die Entstandardisierung von Lebensläufen, in: Thomas Raithel (Hg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 83–97, hier S. 87. Vgl. Jörg Neuheiser, Vom bürgerlichen Arbeitsethos zum postmaterialistischen Arbeiten?, in: Leonhard/Steinmetz (Hg.), Semantiken, S. 319–346, hier v.a. S. 346.
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tel der musikalischen Identitätsbildung ganz neu aus.130 In einer Phase, von der Conrad Lant (Venom) für Newcastle sagte: »There was hardly a future. The whole concept of a ›job for life‹ was just gone«131 und der Bruce Dickinson (Samson/Iron Maiden) ein Überangebot von arbeitslosen »Kreativen« attestierte,132 wirkte die DIY-Mentalität des Punks auf das Postulat der individuellen Selbstverantwortung wie ein Katalysator und führte dazu, dass sich die Merkmale des »unternehmerischen Selbst«133 beinahe prototypisch in den entstehenden Metal-Szenen ausbreiteten. Während die berufliche Realität der Musiker um 1980 noch Erwerbsverhältnisse umfasste, die getrennt von der musikalischen Aktivität verhandelt wurden und auch sonst keinen musikalischen Bezug aufwiesen, übernahmen die Musiker im Laufe der »langen 1980er Jahre« stetig weitere Facetten des erwerbsmäßigen »musicking.«134 Die kommunikativen und technischen Folgen der Ausbreitung der DIY-Mentalität veranlassten sie immer häufiger, über eine geschäftliche Perspektive nachzudenken, die neben ihren Bands ein Einkommen generieren konnte, ohne auf »day jobs« angewiesen zu sein. In flexiblen Arrangements wurden dabei Aktivitäten auf mehreren Märkten der populären Musik (performance, recorded music, licenses135 ) sowie in der Distribution und Produktion miteinander kombiniert. Man sollte diesen Wandel für die 1980er Jahre noch nicht überschätzen, weil er sich erst andeutete und besonders mit der Durchsetzung des Internets und der massiven Weiterentwicklung günstiger Produktionstechnik verbunden war.136 Gleichzeitig ist aber auch auf historische Traditionen einer Verbindung von Musiker und Unternehmer zu verweisen, die den singulären Charakter des Internets für den »music entrepreneur« relativieren.137 Doch waren die Anzeichen für ein entstehendes Erwerbsfeld in der Metal-Kultur trotzdem unübersehbar, in dem eine Tätigkeit als Musiker frei mit anderen Elementen der Musikproduktion, Distribution, Merchandising,
130 Vgl. Wiebke Wiede, Zumutbarkeit von Arbeit. Zur Subjektivierung von Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/ Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 129–147. 131 Stephen Willems, Venom. Interview with Conrad Lant, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/venom-2/ (letzter Aufruf 23.11.2021). 132 »At the end of the ’70s, there was a great feeling that there were a lot of very smart people who didn’t have a job that were pretty creative, and they didn’t have anywhere to put their creativity.« Popoff, Wheels of Steel, S. 26. 133 Vgl. Ulrich Bröckling, Vermarktlichung, Entgrenzung, Subjektivierung, in: Leonhard/Steinmetz (Hg.), Semantiken, S. 371–390, hier S. 375–385. 134 »Musicking« schlug Christopher Small als Sammelbegriff für alle Praktiken vor, die in irgendeiner Relation zur Musik stehen. Zur Aktualität und zur historischen Anschlussfähigkeit des Konzepts vgl. Klaus Nathaus/Martin Rempe, Introduction. Musicking in Twentieth-Century Europe, in: dies. (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 3–30, hier S. 7–13. 135 Vgl. Nathaus, Turning Value into Revenue, S. 138–141. 136 Vgl. Jason Netherton, The entrepreneurial imperative. Recording artists in extreme metal music proto-markets, in: Metal Music Studies 3 (2017) 3, S. 369–386. 137 Vgl. Alan Dumbreck/Gale McPherson (Hg.), Music Entrepreneurship, London 2018.
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Medialisierung oder Beratung verbunden wurde und auf dem sich neben Musikern als Vertragsarbeitern auch zunehmend Musiker als Unternehmer tummelten.138 Es fällt dabei auf, dass diese Verknüpfungen in der Metal-Kultur früher auftraten als in anderen Genres populärer Musik und bereits eine Phase betrafen, in der die Plattenverkäufe der Major Labels noch nicht durch digitale Formate herausgefordert wurden oder das Internet wachsende Möglichkeiten in Produktion und Vermarktung bereitstellte.139 Offenbar wirkten sich die kontinuierliche Begrenzung der Metal-Musik auf Indie Labels, der konstante Druck von »day jobs« sowie die Authentizitätskonstruktion der Metal-Szenen in einer Weise aus, die die späteren massiven Verschiebungen in Produktion und Konsum populärer Musik antizipierten bzw. die Musiker nach Auswegen aus ihrer Begrenzung suchen ließen. In Großbritannien konnte man dazu sogar von der Wirtschaftsgesetzgebung profitieren: Das »Enterprise Allowance Scheme« (EAS) der Regierung Thatcher, das ab 1981 »entrepreneurship« unter Arbeitslosen fördern sollte und bei einer privaten Startinvestition von 1000 Pfund wöchentlich 40 Pfund garantierte, diente beispielsweise Digby Pearson (Earache Records), Paul Halmshaw (Peaceville Records) oder Lee Dorrian (Rise Abive Records) als Startkapital der Unternehmensgründung.140 Die »langen 1980er Jahre« stellten aus dieser Sicht eine frühe Phase der Genese von »proto-markets« dar, d.h. sie brachten Initiativen an der Schnittstelle von Musikkonsum und Musikproduktion hervor, die sich – mit relativer Autonomie und mit anti-kommerziellem Impetus ausgestattet – für musikalische Innovation als besonders günstig herausstellten, aber dennoch stets mit der Musikindustrie und kommerziellen Interessen verknüpft blieben.141 Für den Verlauf der Dekade lassen sich dabei vorerst neun Kombinationen »kreativer« Erwerbswege feststellen, für die mindestens zwei die Bildung von »proto-markets« andeuteten. a.) Neben ihrem Engagement in selbstgegründeten Bands betätigte sich eine wachsende Zahl von Metal-Musikern als »angestellte« Musiker, d.h. als Session-oder Live-Musiker, die nicht am Songwriting beteiligt waren und dementsprechend auch nur finanziell beteiligt wurden, wenn sich die Band auf einer Tournee oder im Studio befand. Laut Bogdan Kopec handelt es sich dabei um eine Praxis, die sich breit durchgesetzt hat und die dazu führte, dass einige bekannte Metal-Bands heute nur noch aus einem festen Mitglied bestehen.142 In den 1980er Jahren deutete sich dies bereits bei Musikern an, 138
In der Forschung zur Metal-Kultur in den 1980er Jahren haben Weiterentwicklungen des DIY über die Musik hinaus bisher keine Rolle gespielt. 139 In der Regel werden die Veränderungen der kreativen Arbeit im Musik-Business vor allem an das Aufkommen des Internets und den Rückgang der physischen Plattenverkäufe geknüpft. So auch bei Haynes/Marshall, Reluctant Entrepreneurs, S. 460. 140 Als Beispiele vgl. Paul Halmshaw, Peaceville Life, S. 47, 53f.; Vgl. Graham Young, Teenager on right track for success, in: Evening Mail, 27.08.1987, S. 7: Adrian Jones, der seinen Job als Mechaniker in Birmingham verloren hatte, machte mit Hilfe von 1.000 Pfund seines Vaters, der ebenfalls seine Kündigung in einem Industriebetrieb erhalten hatte, den Plattenladen »Thrash, Bang« im Zentrum der Stadt auf. 141 Vgl. Jason Toynbee, Making Popular Music. Musicians, creativity and institutions, London 2000, S. 27, 52. 142 Vgl. Interview Bogdan Kopec, 52.30-53.03 Min.: »Einige bekannte deutsche Metal-Bands bestehen nur noch aus einem festen Mitglied. Oft arbeiten die übrigen Musiker auf Honorarbasis. Während
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die zwar hervorragende technische Fähigkeiten aufwiesen, aber in kaum erfolgreichen Bands spielten und wechselnde Engagements bei zahlreichen anderen Gruppen annahmen, um sich in Vollzeit der Musik widmen zu können. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist Jon Torres, der als Gitarrist bei Ulysses Siren, einer Thrash-Metal-Band aus der S.F. Bay Area, spielte: Er verließ seine Band und schloss sich für zwei Jahre der »Nachbar-Band« Lååz Rockit an, um diese dann in Richtung der englischen Band Angel Witch zu verlassen. Er gründete in der Folge die Band I4NI mit Musikern von Overkill und Exodus, spielte dort für ein Jahr und kehrte für drei Jahre zu Angel Witch zurück. Dort stieg er im Jahr 2000 wieder aus und schloss sich der Band The Lord Wierd Slough Feg an, mit denen er ein Album aufnahm. Schon währenddessen formierte er die Band WarningSF neu, nahm ein Album auf und kehrte dann für eine Europa-Tournee zu Angel Witch zurück, um sich daraufhin der Band Heathen in San Francisco anzuschließen.143 Bei solch eigentümlichen Mischungen aus Kreativität und Kontraktarbeit handelte es sich um hochflexible, unregelmäßige und unsichere Beschäftigungsverhältnisse, bei denen die Musiker ihre Freiheit von nicht-musikalischer Arbeit mit der Gefahr erkauften, bei ausbleibendem Erfolg ohne Einkommen dazustehen. Folglich standen diese Erwerbswege häufig vor der Auflösung und provozierten Zweifel an der Entscheidung sowie eine Suche nach Auswegen. Tad Leger, der bis 1992 als Drummer bei der Band Toxik aus Westchester, NY, gespielt hatte, beschreibt diese Verknüpfung von musikalischer Tätigkeit und Neuorientierung – gleichzeitig macht er deutlich, dass stilistische Überzeugungen und der eigene Geschmack oft hintangestellt werden mussten, wenn man als »angestellter« Musiker arbeitete. I was contacted by Lazz Rocket [sic!] about doing something with them but that didn’t work out. I also tried out for Overkill which went really well but that also feel [sic!] through. Monte at Roadrunner called me & asked if I was interested in playing with Kat, my answer was of course »No!!« but then they offered me good money to play some of the tracks of »Beethoven on Speed«. Later I did a 2 week tour, which was also a decent check. Then I decided to go back to college, as I needed to get some skills & pay the fuckin rent! It was then I got an offer from Type O Negative but was just not that into it to give up school. Around ’92 I met a couple of local guys who were doing some great raw old school thrash. It reminded me of the early days of Venom & Kreator but with a serious dose of Sabbath. So we started jamming & that became Blackened Sky which is my longest running project 2 date.144 Der Verweis Legers auf Monte Connor, der als A&R bei Roadrunner Records für die Entdeckung und Verpflichtung zahlreicher Metal-Bands verantwortlich war, zeigt, dass die Entscheidungsträger bei den Labels bereits zu Beginn der 1990er Jahre von einem Pool arbeitsloser Metal-Musiker ausgehen konnten, auf den sie bei Bedarf zugriffen. Da es
der Studioaufnahmen oder auf Tourneen. Es ist schwierig für eine Mittelständische Band vier oder 5 Musiker durch zu finanzieren« 143 Vgl. Chris Forbes, Ulysses Siren. Interview with Jon Torres, in : Metalcore Fanzine, URL : www.me talcorefanzine.com/Uylsses_Siren.html (letzter Aufruf 23.11.2021). 144 Chris Forbes, Toxik. Interview with Tad Leger, in : Metalcore Fanzine, URL : www.metalcorefanzin e.com/toxikinterview.html (letzter Aufruf 23.11.2021).
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sich hierbei wahrscheinlich um eine Praxis handelte, die an Bedeutung gewann, wäre es für künftige Forschung aussichtsreich, »angestellte« Arbeitsverhältnisse von Metal-Musikern über die 1990er Jahre hinaus weiterzuverfolgen und zu prüfen, wie sich Selbstbilder, Praktiken und Einkommen – auch vor dem Hintergrund des Internets – entwickelten. b.) Ebenfalls lang ist die Liste jener Metal-Musiker, die ihre Bands mit einer Tätigkeit als Musikproduzent verknüpften und die Studioerfahrungen und technisches Wissen, die sie während ihrer Karriere gesammelt hatten, an andere Bands weitergaben. Da dieser Weg mit einem Erfahrungsvorsprung verbunden sein musste, spielte er meistens erst für Musiker eine Rolle, die in ihren Karrieren schon fortgeschritten waren oder diese beendet hatten. Das Beispiel von Conrad »Cronos« Lant, der als Jugendlicher im Rahmen des »Youth Opportunity Programme« der Regierung Callaghan im Impulse Studio in Wallsend (Newcastle) arbeitete, dort alles »von der Pike auf« lernte und später – neben seiner Karriere bei Venom – noch für jüngere Musiker produzierte, war daher die absolute Ausnahme.145 In anderer Hinsicht war er jedoch ein zukunftsweisender Akteur, der schon am Ende der 1970er Jahre einen normalen »day job«, wie ihn andere Musiker in der Region alle ausübten, und auch die Auftritte auf dem »club circuit« kategorisch ausschloss. Die Musikproduktion erschien ihm als gerade noch anschlussfähig an seine volle Konzentration auf seine Band.146 Als zweiter Erwerbsweg neben einer Band wurde einer Arbeit im Musikstudio unter anderem durch Waldemar Sorychta (Despair) nachgegangen, der für das junge Label Century Media Records seines Bandkollegen Robert Kampf die ersten Alben von schwedischen Bands wie Unleashed oder Tiamat produzierte. Fred Estby (Dismember), der im Sunlight Studio in Stockholm arbeitete, oder Chris Basile (Pyrexia), der sein eigenes Studio eröffnete, sind weitere Beispiele.147 Ein Ausweichen auf die Musikproduktion bot sich nicht zuletzt nach dem (vorläufigen) Ende einiger Musiker-Karrieren an und Gitarristen wie etwa Brian Tatler oder Steve Zodiac spezialisierten sich um 1985 auf diesen Bereich.148 c.) Als erster Schritt in Richtung der »death metal proto markets«,149 die später mit Online-Plattformen noch einmal eine neue Qualität gewinnen sollten, gründeten viele metal-begeisterte Akteure in den frühen 1980er Jahren Musik-Label. Nicht bei allen stand dabei die musikalische Tätigkeit am Anfang – viele waren schlicht besonders
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Vgl. Tucker, Neat & Tidy, S. 164. Lant produzierte noch einige Jahre später dort, etwa das erste Album der Band Tysondog aus Newcastle. 146 »We work at the band a lot. I don’t understand how you could have a hundred other jobs in life and still concentrate on your band.« Popoff, This Means War, S. 133. Sowie: »A lot of the bands in the north-east around that time, you know, they had this thing in their head, that they had to play their deuce or something, they thought they had to go and play three-houndred-millionthousand shows before they could be anything.« Frank Stöver, Voices From The Darkside 9, S. 13, in: Stöver (Hg.), Voices. 147 Vgl. Frank Stöver, Voices From The Darkside 3 (1994), S. 27, in: ders. (Hg.), Voices; Vgl. Dima Andreyuk, Tape Dealer. 1984–1994. A decade of demos, tape trading and fanzines, Berlin 2020, S. 230. 148 Vgl. Brian Tatler, Am I Evil?, S. 136f.; Vgl. Interview Steve Zodiac, 50.05-56.41 Min. 149 Netherton, The entrepreneurial imperative.
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passionierte Fans, die etwas zur entstehenden Szene beitragen wollten. Das leitende Prinzip dieser Gründungen hieß »learning by doing« und blauäugige Startphasen wichen schnell einer Professionalisierung. Aus solchen DIY-Label-Gründungen sind bezeichnenderweise fast alle entscheidenden Independent-Label der Metal-Kultur hervorgegangen, zum Beispiel Metal Blade Records (Brian Slagel in Los Angeles), Peaceville Records (Paul Halmshaw in Cleckheaton) oder Century Media (Robert Kampf in Dortmund). Da sich den Label-Strukturen noch gesondert gewidmet wird (Kap. 7), sei hier wiederum auf die erwerbsbiografischen Gesichtspunkte verwiesen. Ein gemeinsames Merkmal vieler Musiker, die Label gründeten, war die Unzufriedenheit mit der Arbeit jener Label, mit denen ihre Band einen Vertrag unterzeichnet hatte. Anders als bei Gründungen durch Fans, die einen Erfolg durch Verpflichtung vieler Bands anvisierten, stand hier zunächst nur die eigene Band im Zentrum des Interesses.150 Lee Harrison (Monstrosity) aus Ft. Lauderdale ist dafür ein gutes Beispiel: Für das erste Album der Band hatten die Musiker bei Nuclear Blast Records, einem deutschen Label, unterschrieben und eine Abteilung von Relapse Records (USA) übernahm die Distribution in den Vereinigten Staaten. Unzufrieden mit der ausbleibenden Promotion durch das Label und angesichts des Umstandes, dass sich die Band selbst darum gekümmert hatte, traf er einen Entschluss: So, I just felt why not just do it myself and be in control of the promotion. The distribution thing was a little harder to get going but eventually things got better. It turned out to be a whole different set of problems but we’ve managed to keep things rolling and moving forward. Plus, I retain ownership of the albums which doesn’t happen for a lot of bands. I know quite a few bands who have no control over their early works and so they have no control of doing reissues and all of that.151 Darüber hinaus versuchte er auch, einen Versandhandel zu etablieren und hoffte, seinen »day job« in einer Bäckerei dadurch beenden zu können.152 Neben dem positiven und lukrativen Nebeneffekt, dass er die Rechte an den Songs der Band behielt und diese nicht, wie üblich, komplett an das Label übergingen, verdeutlicht sein Fall zwei Aspekte: Zunächst setzte der Schritt zur Gründung eines Labels nicht nur Selbstbewusstsein, sondern auch vielfältige Kenntnisse voraus, die sich – das sagt er selbst – in der Promotion von Musik noch relativ leicht überblicken und erlernen ließen, die aber in der Distribution, dem »Zünglein an der Waage« im Labelgeschäft, neben einem Netzwerk an Kontakten auch eine hohe Risikobereitschaft erforderten. In der initiativen Ergreifung der Chancen des DIY offenbarte dies einen anderen Typ des Metal-Musikers als noch während der NWOBHM. Zum anderen blieb sein Erwerbsweg aber dennoch zunächst auf die Band ausgerichtet und entwickelte sich nicht zu einem durch Reinvestition wachsenden Unternehmen. Die Kombination aus Musiker und DIY-Label-Gründer brachte deshalb
150 So auch bei Robert Kampf, der Century Media in Dortmund gründete. Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 43.24-45.01 Min. 151 Interview Lee Harrison, Z. 27–37. 152 Vgl. Frank Stöver, Voices From The Darkside 10, S. 50, in: ders. (Hg.), Voices.
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in den 1980er Jahren eher einen Kleinunternehmer hervor, der mit dem begrenzten Horizont der Bandkarriere hoffte, andere »day jobs« nicht mehr ausführen zu müssen.153 Der »music entrepreneur« war immer noch zu allererst ein Musiker, wozu der empfundene Konflikt zwischen Profitstreben und der Authentizität der Amateure, besonders im Extreme Metal, wahrscheinlich maßgeblich beitrug.154 d.) Eng mit der vorherigen Kombination zusammenhängend, übernahmen einige Metal-Musiker die Funktion von Distributoren für Schallplatten, CDs oder Merchandise – oft beginnend mit den Produkten ihrer eigenen Band. Ausgehend von der Beobachtung, dass vielen Indie Labels die Distribution fehlte und die Netzwerke der Major Labels nicht zur Verfügung standen, stiegen sie entweder als Mitarbeiter bei den Distributionsfirmen von Freunden oder Bekannten ein – so etwa Daniel Strachal (Lobotomy) aus Stockholm, der bei der Firma von Dave Constable (ehem. Metal Forces Magazine) als »head of sales« arbeitete155 – oder sie bauten sich das nötige Netzwerk alleine auf. Wie dies ablaufen konnte, beschreibt Rob Yench (Morpheus Descends) aus Middletown, NY: Es gehörte zu den DIY-Promotion-Aufgaben seiner Band, gemeinsam mit dem Bassisten Andy Newton die regionalen Plattenläden zu besuchen, um das Merchandise der Band zu verkaufen. Da sich diese Tätigkeit jedoch nicht nur auf die Läden im Staat New York begrenzte, sondern auch die wenigen Metal-Distributoren aus Europa einbezog, merkte er bald, dass er bessere internationale Kontakte besaß als seine regionalen Abnehmer. Yench und Newton beschlossen daraufhin, die Distributionsfirma AD zu gründen und erreichten, dass der schwedische Distributor House of Kicks sowie der deutsche Distributor Nuclear Blast die Produkte der Band in Europa vertrieben. Es gelang ihnen sogar, einige der Produkte der europäischen Firmen auf dem US-amerikanischen Markt zu vertreiben. Im Rock Fantasy, dem wichtigsten Plattenladen ihrer Heimatstadt Middletown, mieteten sie für mehrere Jahre eine ganze Wand, an der sie importierte und eigene Ware verkauften, und betrieben daneben einen überregionalen Mailorder-Versand. Nach Yenchs Angaben fuhren nun Fans mehrere Stunden, um zum Rock Fantasy zu gelangen. Der Erfolg ging jedoch so schnell wie er gekommen war: Als Label wie Relapse Records in den USA dazu übergingen, das Merchandise und die Platten selbst an die Plattenläden zu vertreiben und auch Rock Fantasy die Distribution selbst erledigte, stiegen beide Musiker wieder aus dem Geschäft aus und konzentrierten sich stärker auf Morpheus Descends.156
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Zum Beispiel auch bei der Gründung von »Rise Above Records« 1989 durch Lee Dorrian, der zu dieser Zeit noch Sänger bei Napalm Death war und ebenfalls über das »Enterprise Allowance Scheme« vorging. Die Gründung war ursprünglich nur dazu gedacht, die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Vgl. Dan Franklin, Rise Above Records Turns 25: From Electric Wizard To Iron Man, in: The Quietus, 2013, URL: https://thequietus.com/articles/14115-rise-above-records-lee-dorrian-interview-c athedral (letzter Aufruf 23.11.2021). Die Einschätzung von Haynes und Marshall, es habe sich bei Musikern um »reluctant entrepreneurs« gehandelt, trifft daher auf die 1980er Jahre durchaus zu. Vgl. Haynes/Marshall, Reluctant Entrepreneurs. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 139. Vgl. Interview Rob Yench, 32.55-35.58 Min.; Vgl. Carlos Ramirez, Rob Yench (Morpheus Descends, Mausoleum, Typhus, Engorge, Incantation), in: No Echo 2014, URL: https://www.noecho.net/int
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Diese Erfahrung profitierte klar von einem szeneinternen Wissensvorsprung der beiden Musiker und dem kommerziellen Interim zwischen der aufkommenden Attraktivität der europäischen Death Metal-Bands in den USA und dem Moment, an dem die größeren Indie Label in der Lage waren, die Nachfrage selbst zu bedienen. Es handelte sich aber auch um ein Beispiel, das sich unter anderen technischen Bedingungen immer wieder wiederholen sollte: Szeneintern gut vernetzte Musiker nutzten ihr Know-How und kommerzielle Antizipation temporär für Distributionsgewinne – bis die überregionalen und arrivierten Label-und Distributionsstrukturen nachzogen. Die Durchsetzung des Internets hat diesen Ablauf noch einmal dynamisiert.157 e.) Am 12. April 1990 berichtete der Free Press Recorder, eine Lokalzeitung für den Raum Nottinghamshire, über einen bis dahin völlig unbekannten jungen Mann. Verknüpft mit der Frage, »WHO designs those weird, haunting and occasionally horrific album covers which are becoming very much a trademark of thrash metal?«158 war ein Foto, auf dem der junge Künstler seine neuesten Beiträge zur Metal-Kultur zeigte – darunter sein wohl wichtigstes Werk, das Cover des Albums »Altars of Madness« der Band Morbid Angel aus Tampa. Es handelte sich um Dan Seagrave, der zu den einflussreichsten Artwork-Künstlern im Extreme Metal aufsteigen sollte. Dass er ein ganz normaler Junge und kein Psychopath sei, der aber im Kunstunterricht durchgefallen war, hielt man seitens der Zeitung für erwähnenswert, soll an dieser Stelle aber nicht entscheidend sein. Es handelte sich um eine zeittypisch psychologisierende Aussage über den vermeintlichen Zusammenhang von Metal-Konsum und Charakterschwächen. Vielmehr steht Seagrave prototypisch für ein aufkommendes Erwerbsfeld innerhalb der Metal-Kultur, das sich für künstlerisch talentierte Musiker anbot, um je nach Auftragslage etwas dazu zu verdienen. Ausgehend von einem Covermotiv für die englische Band Lawnmower Deth fertigte Seagrave in der Folge zahlreiche Cover für deren Label RKT an und arbeitete später vor allem für Bands von Earache Records.159 Dabei war er zwar selbst kein Musiker, verdeutlicht aber dennoch die neuen Chancen einer Auftragsarbeit für Metal-Bands, die anderswo auch Musiker annahmen. Dazu gehörte etwa Ola Larsson (Traumatic) aus Stockholm, der für die Band als Drummer das erste Demotape einspielte, sich aber dann auf das Artwork konzentrierte. Neben Traumatic arbeitete er auch für die Bands Seance, Necrony, Mithotyn, Indungeon oder Thy Primordial und wurde professioneller Illustrator.160 f.) Ebenso wie bei der künstlerischen Arbeit dürfte es sich bei Metal-Musikern, die auch als DJs auftraten, meist um temporäre Nebentätigkeiten gehandelt haben. Erforscht ist keiner der hier vorgestellten neun Aspekte für die 1980er Jahre, weshalb die wenigen erviews/rob-yench-morpheus-descends-mausoleum-typhus-engorge-incantation (letzter Aufruf 23.11.2021). 157 Vgl. Netherton, The entrepreneurial imperative, S. 381; Vgl. Dumbreck/McPherson, Music Entrepreneurship, S. 191–214. 158 Anonym, Dark side of the mind…, in: Free Press Recorder, 12.04.1990, S. 27. 159 Vgl. Dan Seagrave, The Artist, in: URL: https://www.danseagrave.com/about/ (letzter Aufruf 23.11.2021). 160 Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 141.
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vorhandenen Quellen nur Impressionen bieten können. Es kann jedoch angenommen werden, dass Metal-Musiker, deren Bands regelmäßig in bestimmten Clubs auftraten, auch bessere Chancen hatten, dort als DJ zu fungieren. Sie profitierten dabei von bereits bestehenden Geschäftskontakten und besaßen gute Einblicke in den Publikumsgeschmack. Einer dieser DJs war Warren Appleby, Sänger der Thrash Metal-Band Black Task aus Philadelphia, der um 1983 für mehrere Jahre regelmäßig im Empire, dem wichtigsten lokalen Club auflegte. Er bekam den Job, weil seine Band zu dieser Zeit zwischen 400 und 600 Gäste im Empire anzog und beschrieb seine wesentlichen Vorteile als DJ als die Promotion der eigenen Band sowie den Vernetzungsaspekt. So lernte er neben amerikanischen Bands wie Slayer oder Riot auch die tourenden NWOBHM-Bands wie Saxon oder Raven kennen.161 Nebenerwerbsquellen in Clubs spielten auf diese Weise eine Rolle für die wachsende globale Vernetzung der Bands in den frühen 1980er Jahren – auch und gerade, wenn lokale Tape Trader als DJs auftreten und bei diesen Gelegenheiten Interviews führen konnten.162 Es steht insgesamt zu vermuten, dass der Nebenjob in einem Club zu den beliebteren Kombinationen gehörte – aufgrund der Synergieeffekte nicht nur für Musiker, sondern auch Tape Trader und Fanzine-Herausgeber.163 g.) Für die Kombination aus musikalischer Karriere und einer Management-Tätigkeit sowie zwischen h.) der Musik und Formen des sich professionalisierenden Journalismus für Szene-Magazine soll hier die Erwähnung ausreichen. Beide Aspekte werden in Kap. 7 bzw. Kap. 6 behandelt. i.) Der wahrscheinlich häufigste Fall war eine Kombination der Musik-Karriere mit mehreren der hier genannten Erwerbsmöglichkeiten. Dabei waren parallele Betätigungen, etwa für ein Label und in der Distribution, genauso möglich wie ein Nacheinander verschiedenster Erfahrungen auf vielen Ebenen des »musicking.« Einen solchen Weg absolvierte zum Beispiel Chris Poland, der unter anderem als Gitarrist der Band Soundstorm aus New Jersey spielte bevor er nach zahlreichen Zwischenschritten 1997 das Label Eclipse gründete: Actually, I wasn’t in the business before starting Eclipse. I was on the music side of things, in bands and playing. I played guitar in two bands that had a good amount of regional success throughout the NY/NJ tri-state area. The first was called Soundstorm, and the other was called Dirt Church. […] I also worked in music distribution for a few years – the company was called Big Daddy music distribution, where I worked in marketing, then product management. They distributed well over 250 different record companies, but they were lacking rock/metal labels. Eventually, I was signing record
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Vgl. Chris Forbes, Blacktask. Interview with Warren Appleby, in: Metalcore Fanzine, URL: www.m etalcorefanzine.com/blacktaskinterview.html (letzter Aufruf 23.11.2021). Vgl. Chris Forbes, This Zine Sucks Fanzine. Interview with Robert Conrad, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/sucks.html (letzter Aufruf 23.11.2021). Vgl. Stefan Löns, Witchcraft Magazine 1 (1993), S. 52. So arbeiteten auch zwei Mitglieder der Band Marduk aus Norrköping in der Konzerthalle »The Chamber«.
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labels for the company, and I brought on board quite a few, most notably The End Records, and Necropolis Records.164 Allen hier vorgestellten Erwerbsbiografien war eine Ausweitung des Arbeitsbegriffs um Elemente eigen, die noch wenige Jahre zuvor zum Bereich der Nicht-Arbeit oder Freizeit, zum Spiel oder Konsum gehört hatten. Musiker traten dabei als »Unternehmer ihrer Selbst«165 auf und »bastelten« sich mit viel Eigeninitiative komplexe Arbeitsbiografien, bei denen die Musik zwar am Beginn stehen konnte, aber nicht musste. Die NWOBHM und der Beginn des DIY im Metal stellen deshalb weit mehr als bloß aus musikalischer Sicht »a breath of fresh air«166 dar. Viele Ebenen der Märkte populärer Musik wurden für Musiker und Fans einfacher zugänglich und wurden – dies zeigt das nächste Kapitel – als Erwerbsfeld auch akzeptierter. Andererseits besteht kein Grund, die Formen neuer kreativer Arbeit zu fetischisieren, wie dies Richard Florida tat:167 Es handelte es sich dabei in steigendem Maße um unsichere Beschäftigungsverhältnisse sowie Selbstausbeutung mit neuen Zwängen zur Flexibilität, Mobilität, Projektarbeit oder zu freiwilligen und schlechtbezahlten Tätigkeiten, die individuell stets an der Schnittstelle zur »nicht-kreativen« Arbeit organisiert wurden. Daher waren weder der Schritt in eine Musik-Karriere noch deren Kombination mit anderen kreativen Erwerbsmöglichkeiten Einbahnstraßen. Es existierten aufgrund der Prekarisierungsgefahr weitaus mehr Rückwege in »standardisierte« Erwerbsleben, in denen Metal nur noch ein Hobby darstellte, als es lebenslange Karrieren im diversen Musikgeschäft gab. John Roach (Mythra) fasste dies mit Augenzwinkern folgendermaßen zusammen: A lot of guys that you talk to, self-employed business people, they started out as musicians, they all wanted to be the next Led Zeppelin and they ended up becoming an engineer or a principal of a college, or they ended up becoming a builder or they ended up becoming an electrical engineer. They all were going in lots of different directions, but they all have one thing in common: They started with nothing than heavy metal [laughs].168
2.4 Generationelle Verhandlungen Im Sommer 1983 veröffentlichte The Times Teile einer Umfrage des Youth Service unter Jugendlichen über die Frage, ob diese ihre Eltern als Rollenbilder für ihre eigene Zukunft begreifen würden.169 Unter der bezeichnenden Überschrift »These happy teenagers of
164 Chris Forbes, Interview with Chris Poland, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.co m/poland.html (letzter Aufruf 23.11.2021). 165 Vgl. Leonhard/Steinmetz, Von der Begriffsgeschichte, S. 58. 166 Interview Kevin Riddles, 80.20 Min. 167 Vgl. Taylor, Music and Capitalism, S. 132. 168 Interview John Roach/Maurice Bates, 60.31-61.01 Min. 169 Vgl. Lucy Hodges, These happy teenagers of the 1980s who ask their mums for advice, in: The Times, 12.07.1983, S. 3.
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the 1980s who ask their mums for advice« resümierte die Autorin, dass die 14-bis 19Jährigen im Vereinigten Königreich nicht nur meist abhängig von ihren Eltern lebten, sondern zu 68 % auch ihre Mutter die wichtigste Quelle für Rat darstellte. 32 % der Befragten waren arbeitslos, 36 % waren Studenten. Als Hauptziel beschrieben sie es, Spaß zu haben – wobei 20 % jemals irgendeinen Kontakt mit der Polizei gehabt hatten. Ganz weit vorn unter den Musikpräferenzen des männlichen Teils dieser vermeintlich mutterfixierten Hedonisten stand Heavy Metal. Obgleich der Beitrag leider keine Verknüpfung von Genrepräferenz und elterlicher Vorbildfunktion vornahm, deutete sich hier dennoch etwas an, was in klarem Widerspruch zu Narrativen der Heavy Metal-Kultur steht, die Metalheads mit Entfremdung, Opposition und Generationenbruch assoziierten.170 Besonders die frühe Forschung zum Phänomen fokussierte sich unter psychologisierenden Perspektiven stark auf den Konflikt mit den Eltern, während musikorientierte Arbeiten bisweilen die Bedeutung des Sounds für den Lebensabschnitt verabsolutierten. Beide Ansätze vernachlässigten dabei die persistente Existenz von nicht-szenischen Sozialkontakten und reproduzierten ein Selbstbild der Szenen.171 Befragt man dagegen die Forschungen von Michael Vester, Selina Todd, Mike Savage oder Gillian Mitchell, kommen Zweifel an generationellen Brucherfahrungen. So modifizierte Vester die Individualisierungsthese Ulrich Becks, die besonders den Bruchcharakter der Individualisierung betonte und implizit etwas Negatives prophezeite,172 dahingehend, dass er die Veränderungen zwischen den Generationen nicht als Bruch, sondern als Metamorphose beschrieb, die zentrale Motive der Elterngeneration eher variierte oder modifizierte als gänzlich aufgab. Moralische und symbolische Ordnungen, so seine These, erwiesen sich dabei als wesentlich widerstandsfähiger als die Oberflächenphänomene des Lebensstils.173 Der wesentliche Gewinn dieser Herangehensweise ist eine Differenzierung: So bedeutete die Tatsache, dass sich die eigenen Kinder für Metal begeisterten, in den meisten Fällen zweifelsohne einen musikalischen Bruch in den Familien – diesen jedoch auch auf andere Bereiche des Zusammenlebens zu verallgemeinern oder zu einem moralischen Sinneswandel zu erklären, halte ich für vorschnell, überzogen und vor allem nicht quellengestützt.174 An der porösen Grenze zwischen Jugend und Erwachsenenalter be170 Vgl. z.B. Jeffrey Jensen Arnett, Metalheads. Heavy metal music and adolescent alienation, Boulder 1996; In sinnvollem und erfreulichem Gegensatz dazu, wenn auch nicht für die »langen 1980er Jahre«: Paula Rowe, Heavy Metal Youth Identities. Researching the Musical Empowerment of Youth Transitions and Psychosocial Wellbeing, Bingley 2018. 171 Vgl. Tasha R. Howe u.a., Three Decades Later. The Life Experiences and Mid-Life Functioning of 1980s Heavy Metal Groupies, Musicians, and Fans, in: Self and Identity 14 (2015) 5, S. 602–626. Das zentrale Problem sehe ich hier, genauso wie bei Arnett, Metalheads, oder Donna Gaines, Teenage Wasteland, in der eindimensionalen Auswahl der Akteure, die ein vorher feststehendes Bild bestätigen. 172 Vgl. Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, in: ders./Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 43–60. 173 Vgl. Michael Vester, Class and Culture in Germany, in: Fiona Devine/Michael Savage/John Scott (Hg.), Rethinking Class. Cultures, Identities and Lifestyles, Basingstoke 2006, S. 69–94, hier S. 93. 174 Etwa bei Werner Lindner, Mit dem Skateboard in die Zukunft brettern. Jugendkulturen im Ruhrgebiet, in: Gerd Willamowski/Dieter Nellen/Manfred Bourree (Hg.), Ruhrstadt, die andere Metropole, Essen 2002, S. 586–592, hier S. 589f.
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standen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, die den Musikgeschmack genauso verhandelten wie die schulischen Leistungen, Taschengeld oder sportliche Erfolge.175 Der Wunsch und die Entscheidung der Kinder zu einer musikalischen Karriere wurde mit den Eltern – das soll im Folgenden gezeigt werden – oft abgekoppelt von Meinungen über die musikalische Qualität diskutiert. Die Rolle der Eltern war dabei keineswegs rein reaktiv. Dies wäre auch einem historischen Bruch gleichgekommen – haben doch etwa Selina Todd und Hillary Young bereits für die frühe Nachkriegszeit nachgewiesen, dass besonders die Eltern aus der Arbeiterklasse ein jugendlich-abgegrenztes Selbstverständnis bereitwillig unterstützten, um ihren Kindern bessere Möglichkeiten zu bieten als sie selbst erfahren hatten.176 Die Chancen der »intergenerational cooperation« waren daher schon in den späten 1950er Jahren deutlich ausgeprägt und »der Jugendliche« in der Nachkriegszeit entstand zu einem wesentlichen Teil auch aus den Wünschen und Ansichten der Elterngeneration.177 Gillian Mitchell hat dies schließlich noch einmal präzisiert und auf die Reaktionen der Eltern auf populäre Musik zwischen den 1950er und 1970er Jahren bezogen.178 Das musikalisch vermittelte Zusammenleben war dabei keinesfalls konfliktfrei, offenbarte aber dennoch die deutliche Tendenz zu intergenerationellen Kontinuitäten und war seit den 1960er Jahren auch immer weniger entlang der Klassengrenzen zu unterscheiden.179 Bereits vor der NWOBHM verhandelte die Reaktion der Eltern auf die Musik ihrer Kinder also weit mehr als musikalische Qualität. Es ging um den Wandel von Zukunftsvorstellungen, um unerfüllte Hoffnungen und deren nachträgliche Realisierung durch die Chancen der Nachkommen. Die Diskussionen um musikalische Karrieren intensivierten diese Aufladung seitens der Eltern noch einmal, führten aber keineswegs zu der Schlussfolgerung, dass Akzeptanz für die Musik auch Akzeptanz für die Karriere bedeutete. Das Verhältnis der Generationen »unter einem Dach« lässt Verallgemeinerungen, auch für die 1980er Jahre, nur in geringem Maße zu. Alle Familien besaßen interne Spezifika und verfügten über eigene Verhandlungsmechanismen, die noch dazu erheblich davon abhingen, ob es um die Karriere des Sohnes oder der Tochter ging. Auch dürften ethnische, regionale und sozioökonomische Unterschiede wesentlich zur Verkomplizierung generalisierender Aussagen beitragen. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass sich das musikinduzierte Verhältnis der Generationen auch anderweitig verschieben konnte: So verloren die Metal-Szenen während der »langen 1980er Jahre« zunächst schleichend,
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Vgl. Andy Bennett/Paul Hodkinson, Introduction, in: dies. (Hg.), Ageing and Youth Culture. Music, style and identity, London/New York 2012, S. 1–6. Die Autoren konstatieren einen multigenerationalen Wandel von ehemaligen Jugendkulturen unter Begriffen wie »emerging adulthood« oder »young adulthood« und stellen die Art und Weise, durch die dieser Wandel individuell und kollektiv moderiert wird, als wichtige Forschungsaufgabe heraus. Vgl. Selina Todd/Hillary Young, Baby-Boomers to ›Beanstalkers‹. Making the modern teenager in post-war Britain, in: Cultural and Social History 9 (2012) 3, S. 451–467, hier S. 452. Vgl. ebd., S. 451, 463. Vgl. Gillian Mitchell, Adult responses to popular music and intergenerational relations in Britain, c.1955-1975, London 2019. Vgl. dies., The Impact of Social Class on Parental Responses to Popular Music in Britain, c. 1955–1975, in: Ian Peddie (Hg.), The Bloomsbury handbook of popular music and social class, New York/London 2020, S. 35–58, hier S. 53.
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aber danach in immer rascherer Folge den Status einer Jugendkultur,180 weil die MusikPräferenzen und das Szene-Engagement mit einigen ihrer Träger alterten, parallel aber konstant jugendliche Metalheads folgten. Das »Ageing« der Szenen dürfte daher auch zur Verbreitung eines Generationenverhältnisses geführt haben,181 in dem die Begeisterung für Metal von den Eltern auf die Kinder weitergegeben wurde und durch das die These einer Kreation der Jugend durch die Eltern eine wesentlich musikalischere Komponente bekam. Auch dabei ging es um eine »Metamorphose«, nur eben nicht mehr von den Beatles zu Iron Maiden, sondern von Iron Maiden zu Morbid Angel. Lars-Göran Petrov, der als Sänger der Band Entombed wesentlich zur Bedeutung des Death Metals aus Stockholm beigetragen hatte, äußerte in diesem Zusammenhang im Jahr 2016: At least here in Sweden, there’s been this new generation of kids liking it. The parents are passing on their musical influences and traditions to their kids, and the kids start making bands themselves and try to do what we did. That’s really great. Here in Sweden, you have good opportunities with rehearsal rooms and many shows you can go to with your parents if you are underage. So we’ve been managing to keep it alive, and it’s really great.182 Wenn auch nur ganz sporadisch, so zeigten sich doch Ansätze zu dieser Verschiebung bereits seit den späten 1970er Jahren, und zwar dezidiert in Mittelklasse-Haushalten, in denen es vielleicht noch kein Heavy Metal war, den die Eltern ihren Kindern vorspielten oder empfahlen, aber doch die härtere Rock-Musik der 1970er Jahre. Aus einer solchen Familie kam auch Jeff Beccera (Possessed) aus der San Francisco East Bay: Actually, I think that my parents really started me out. They were old rockers from way back (later turned yuppie… lol) and my Dad had a great record collection. He used to be like, ›Check out this song‹ or ›Check out this album‹ and we would turn it up and rock out.183 Wesentlich weiter als gemeinsames Abrocken gingen beispielsweise der Vater von Jodie und Julie Turner, der seine Töchter an den Instrumenten unterrichtete, die Band Rock Goddess selbst gründete und ihr Manager wurde,184 oder Terry Jones, der 1975 mit seinem zwölfjährigen Sohn Alan und den Söhnen seiner Arbeitskollegen die Band Liquid Gas gründete (später Pagan Altar).185 Die Einstellungen der Eltern und Wünsche für ihre 180 Vgl. Bennett/Hodkinson, Introduction, S. 2–4. 181 Zur Beeinflussung der Kinder durch die Eltern hinsichtlich musikalischer Karrieren, besonders unter den Bedingungen von Mittelklasse-Haushalten vgl. Michael Ramirez, Destined for Greatness. Passions, Dreams, and Aspirations in a College Music Town, New Brunswick 2018, S. 10. 182 J. Bennett, As Long as Entombed AD Is Here, Swedish Death Metal Will Never Die. Interview with LG Petrov, in: vice, 2016, URL: https://www.vice.com/en/article/r3zee9/entombed-ad-interview-2 016 (letzter Aufruf 23.11.2021). 183 Frank Stöver, Possessed. Interview mit Jeff Becerra, in: Voices From The Darkside Online, URL: ht tps://www.voicesfromthedarkside.de/interview/possessed-2/ (letzter Aufruf 23.11.2021). 184 Vgl. Sean Bennett, Interview: Jody Turner – Rock Goddess, in: The Rockpit, 2016, URL: https://ww w.therockpit.net/2019/interview-jody-turner-rock-goddess/ (letzter Aufruf 23.11.2021). 185 Vgl. Interview Alan Jones, Z. 1–4.
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Kinder waren hier weit mehr als Hintergrundfolien, es wurden regelrecht Handlungsanleitungen. Solche Fälle waren in den späten 1970er Jahren jedoch eine Ausnahme und der direkte Wunsch der Eltern, dass ihre Kinder professionelle Musiker werden, wurde auch während des gesamten Untersuchungszeitraums nicht merklich häufiger. Starken Veränderungen waren dagegen das gesellschaftliche Milieu des Karrierewunsches sowie der Grad der Unterstützung durch die Eltern ausgesetzt – was umso erstaunlicher ist, weil sich alle Interviewpartner dieses Projekts im Grunde eine gemeinsame Motivation teilten: Sie wollten auf gar keinen Fall den Beruf ihrer Eltern ausüben. Dies hatte jedoch weniger mit der Prekarität dieser Erwerbsverhältnisse zu tun,186 sondern resultierte entweder aus der Gefährlichkeit der Berufe, den geringen Veränderungsperspektiven oder einer empfundenen Dienstleistungsmonotonie. Viele Musiker äußern in diesem Zusammenhang, dass sie den Widerwillen gegen eine berufliche Nachahmung der Eltern schon verspürten, bevor sie überhaupt einen musikalischen Karrierepfad anvisierten. Besonders deutlich bringt dies Rob Halford, bereits für die späten 1960er Jahre und die Midlands, zum Ausdruck: […] and, with all respect to Dad, who spent his life in them [den Fabriken, M.S.], I didn’t want to end up there. I had no idea what I wanted to do with my life yet. But I knew it wasn’t that.187 Ebenso wie bei Halford, war es auch bei Arnd Klink (Darkness) in Altenessen nicht etwa eine geringe Bezahlung oder eine drohende Krise der Industrie, die die Ablehnung begründete, sondern die Opposition gegenüber physischer Arbeit und dem Konzept eines Berufes für das ganze Leben: Die Jugendlichen lebten in einem rauen Umfeld, sie wollten nicht in die Fußstapfen ihrer Väter treten, die in der Regel Bergleute oder Arbeiter in Stahlwerken oder metallverarbeitenden Betrieben waren und dort ihr Leben lang geschuftet hatten. Ich denke der wesentliche Grund für das Aufbegehren der Arbeiterkinder war der, dass sie ein solches Leben eben nicht wollten, dass es augenscheinlich aber keine Perspektiven gab.188 »Ein solches Leben« hieß in den Augen der Musiker eine geregelte, d.h. monotone, und manuelle, d.h. harte Arbeit – und es waren genau diese beiden Faktoren und Ängste, die den Hintergrund für ein Befreiungsnarrativ vieler Musiker bildeten, dass die Forschung
186 Vgl. Klaus Nathaus, Das populärmusikalische Selbst zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre. Zur Rolle ästhetischer Erfahrung in der Formierung einer neuen Mittelschicht (1955–1980), in: Dominik Schrage/Holger Schwetter/Anne-Kathrin Hoklas (Hg.), »Zeiten des Aufbruchs« – Populäre Musik als Medium gesellschaftlichen Wandels, Wiesbaden 2019, S. 123–151, hier S. 147 – was die zentrale Tendenz dieser Aussage, nämlich den generationellen Wandel als »Emergenz einer neuen Mittelschicht« zu betonen, keineswegs in Abrede stellen soll. 187 Halford, Confess, S. 18. Hervorhebung im Original. 188 Interview Arnd Klink/Andreas Lakaw, Z. 43–49.
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später einseitig als Flucht vor der »working class«-Erfahrung identifizierte.189 Dass dies im Kontext der Bildungsabschlüsse etwas monodimensional ist, zeigt etwa Brian Tatler, der bis 1980 als Mechaniker gearbeitet hatte, und sogar von einem wiederkehrenden Alptraum berichtet, der aber bezeichnenderweise seine Zeit am »college« betrifft: Sometimes I’ve had a dream or a nightmare that I have got to get back to work or I have to get back to college, because I had to do a college course, you know, HGV 1 and all that. And I wake up thinking ›Oh, I haven’t done the preparation and all that‹ and I go ›Oh no, it’s just a dream. I am still a guitarist, It’s all right‹ [laughs].190 Wenn man Heavy Metal also tatsächlich mit der Deindustrialisierung verknüpfen will,191 dann nicht, weil die Musiker degradierende Erfahrungen gemacht hatten, sondern weil sie vielmehr von der Aussicht fasziniert wurden, nicht mehr industriell arbeiten zu müssen. Es waren die mit dem Strukturwandel verbundenen Aufstiegsvorteile, die hier genutzt wurden. Es lassen sich überdies viele Beispiele dafür anführen, dass auch die Eltern der Musiker in den Industrierevieren nicht wollten, dass ihnen ihre Kinder in den Beruf folgten. Dafür waren vor allem die Gefahren der Arbeit verantwortlich. So wendeten sich die Väter von Rob Fioretti und Jörg Trzebiatowski (Kreator) in Altenessen beide gegen eine Tätigkeit ihrer Söhne unter Tage.192 »Tritzes« Großvater war dort gestorben und sein Vater arbeitete daher als Metallbauschlosser überirdisch. Frank Gosdzik (Sodom) hatte dagegen unter Tage Bergmechaniker gelernt und für anderthalb Jahre auch dort gearbeitet, obgleich sein Großvater an einer Staublunge gestorben war. Dem Übergang in den Musikerberuf bekam auch er keinerlei Steine in den Weg gelegt und probte in der Hütte seines Vaters im Garten mit einer E-Gitarre, die ihm seine Mutter geschenkt hatte.193 Freilich zeigen diese beiden Beispiele nicht, dass die Eltern gegenüber der MusikerKarriere aufgeschlossener gewesen wären – sie machen aber deutlich, dass Veränderung und Neuorientierung kein Privileg der Jugend war und unter bestimmten Bedingungen von den Eltern gerne unterstützt wurden. Dies war auch darauf zurückzuführen, dass viele der Eltern der Musiker eine berufliche Mobilität erfahren hatten und in qualifizierten Facharbeiterberufen oder Äquivalenten in anderen Branchen tätig waren. Die Entscheidung, die musikalische Leidenschaft zum Beruf zu machen, wurde daher sehr selten vor dem Hintergrund einer Krisen-oder Abstiegserfahrung des Elternhauses getroffen – viel eher handelte es sich um Aufsteigerfamilien, die ihren Kindern kulturelle Entfaltung ermöglichten. Bereits Toni Iommis (Black Sabbath) Mutter führte in den 1960er Jahren einen Einzelhandel in Birmingham
189 Zuerst und folgenreich bei: Deena Weinstein, Heavy Metal. The music and its culture, Cambridge 2000, S. 106, 120. Vgl. dazu Kap. 2.5.1. 190 Interview Brian Tatler, 20.59-21.34 Min. 191 Vgl. Ryan M. Moore, The Unmaking of the English Working Class. Deindustrialization, Reification and the Origins of Heavy Metal, in: Gerd Bayer (Hg.), Heavy metal music in Britain, Farnham 2009, S. 143–160. 192 Vgl. Bender, Violent Evolution, S. 41f., 43. 193 Vgl. ebd., S. 81f., 84.
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und konnte ihren einzigen Sohn relativ gut ausstatten194 (was bei der Fokussierung auf Ozzy Osbournes schwere Kindheit und die Geschichte des Heavy Metals gerne vernachlässigt wird). Rob Halfords Vater war sogar einer der Ersten, der sich in der Gegend ein Auto leisten konnte.195 Und auch John Roach gibt zu, dass seine Eltern aufgrund des Berufs des Vaters und des Hauses, in dem sie wohnten, eigentlich gar nicht mehr zur »working class« gehörten.196 Auch die Väter Robb Weirs und Steve Zodiacs lassen sich hier einreihen.197 Kevin Riddles Beschreibung seines Vaters steht deshalb vielleicht noch nicht prototypisch für die Familien der NWOBHM-Musiker, zeigt aber zumindest eine klare Tendenz auf: So, my father, for instance, had been in the Royal Navy where he had learned to be an electrician. He was then, because he got a job, able to go to technical college in the evenings to get more qualifications to become an electronic engineer, and, because he was a very intelligent man, he was able to progress very quickly and he ended up working for the British aircraft corporation that worked on Concorde in the mid-tolate 60s.198 Die Erfahrung sozialer Mobilität war jedoch kein Garant für die Akzeptanz einer musikalischen Karriere, sondern zunächst einmal für eine Grundbedingung, die alle familiären Diskurse durchzog: Die Eltern bestanden auf einem Schulabschluss und einer Ausbildung bevor Karriereplanungen unternommen worden.199 Während der NWOBHM kam es in dieser Hinsicht selten zu Konflikten mit den Eltern, da die Musiker häufig bereits einen Berufsabschluss erreicht hatten oder sich unmittelbar davor befanden.200 Die mögliche Rückkehr in den Ausbildungsberuf beruhigte die Sorgen der Eltern, auch wenn sie die Pläne der Kinder eigentlich für »dämlich« hielten.201 In den Fällen, in denen sich die Musiker noch in der Ausbildung befanden, wurde mehr Druck gemacht. So verbot die Mutter von Glenn Coates (Hollow Ground/Fist) ihrem Sohn, die Tournee der Band mitzumachen bevor er seine Ausbildung abgeschlossen hatte.202 Das größte Engagement legten die Mütter und Väter aber folglich dort an den Tag, wo ihre Kinder bereits zur Schulzeit mit einer Band aktiv waren und Professionalisierungs-
194 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder Than Hell, S. 31. 195 Vgl. Halford, Confess, S. 7. 1981 besaßen dann 61 % der britischen Haushalte ein Auto. Vgl. Harrison, Finding a role, The face of the country, S. 12. 196 Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 13.20-13.40 Min. 197 Vgl. Gary Alikivi, Doctor Rock – Tygers of Pan Tang guitarist, Robb Weir, 2017, URL: https: //garyalikivi.com/2017/11/05/doctor-rock-tygers-of-pan-tang-guitarist-robb-weir/ (letzter Aufruf 23.11.2021); Interview Steve Zodiac, 04.00-05.47 Min. 198 Interview Kevin Riddles, 02.45-04.32 Min. 199 Diese Beobachtung fügt sich nahtlos an Mitchells Ergebnisse zu den Reaktionen der Eltern vor 1975 an. Vgl. Mitchell, The Impact of Social Class on Parental Responses, S. 51. 200 Zu den Kontinuitäten und Wandlungen des Berufseinstiegs Jugendlicher in der BRD vgl. grundlegend Knud Andresen, Strukturbruch in der Berufsausbildung? Wandlungen des Berufseinstiegs von Jugendlichen zwischen den 1960er-und den 1980er-Jahren, in: ders./Bitzegeio/Mittag (Hg.), Nach dem Strukturbruch?, S. 159–180. 201 Vgl. Interview Brian Tatler, 20.18-21.34 Min. 202 Vgl. Interview Fist, 05.30-05.50 Min.
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wünsche verlauten ließen. Anders als einige Jahre später fügten sich die jungen Musiker dem elterlichen Druck um 1980 noch – auch wenn es, wie John Roach beschreibt, vor dem Hintergrund des Strukturwandels für »nutzlos« erachtet wurde: She [seine Mutter] always said »You need to have a trade! You must have a trade!« So, as an apprentice, in 1978/79 in the middle of your apprenticeship, we can’t leave work, because you got to have an apprenticeship. So, I would be in an apprenticeship where there’s probably 30 jobs for me in the world [laughs] and there would be thousands of them applying for. So, the trade thing was useless. It became useless. But my mum and dad weren’t annoyed about. They thought that was the thing that you must have this apprenticeship behind you. »You must have a trade, because that will set you apart from people who are labourers.« But it never worked out that way.203 Glaubt man dieser Einschätzung und interpretiert sie nicht als ex-post-Konstruktion, die den Strukturwandel angeblich antizipierte, dann verhandelten Musiker wie John Roach oder auch Gary Pepperd204 ihre musikalischen Zukunftsentwürfe direkt vor dem Hintergrund einer drohenden Deindustrialisierung, die ihre Eltern nicht kommen sahen. Bei aller gebotenen Vorsicht handelte sich dann in der Tat um proaktives Management der Erwerbsbiografie. Mit der Verjüngung der Metal-Kultur zu Beginn der 1980er Jahre mussten sich Eltern jedoch etwas anderes einfallen lassen. Häuslicher Druck zu einer Ausbildung oder einem Studium wurde nun vor allem in den USA durch junge Musiker schlicht ignoriert oder heimlich unterlaufen – was auch deshalb neue Konfliktfelder schuf, weil nun teilweise die private Finanzierung des Studiums riskiert wurde. Dies betraf schon die frühesten Nachfolger der NWOBHM-Bands wie Anthrax, Overkill oder Lååz Rockit. So schrieb sich Scott Ian (Anthrax) aus einem jüdischen Haushalt in Queens nach der Highschool an der St. John’s University ein, verließ diese aber nach kurzer Zeit schon wieder, um im Diamantengeschäft seines Vaters in Vollzeit zu arbeiten.205 Sein erklärtes Ziel war es schlicht, sich endlich Instrumente und Equipment zu kaufen und er organisierte den Job neben den Proben der Band. Seiner Mutter gegenüber erwähnte er die Anstellung beim Vater nicht – diese ging davon aus, dass er weiterhin studierte. Als es sich nicht mehr verbergen ließ, kam es zwar zum Streit, doch setzte sich der Sohn mit einem trotzigen »I have to try«206 durch und die Mutter tröstete sich mit dem Gedanken, dass er nach dem Ende der Karriere immer noch studieren oder arbeiten könnte. Ebenso tröstend fand es Dan Lilkers Mutter, dass ihre beiden Töchter gute Studentinnen waren und erlaubte ihrem Sohn daher, das Queens College zu verlassen und gemeinsam mit Scott Ian die Band Anthrax voranzubringen.207 Wenige Kilometer weiter südwestlich nahm auch D.D. Verni (Overkill) einen festen Platz auf dem College nicht an, um sich auf die Musik zu konzen-
203 Interview John Roach/Maurice Bates, 50.10-51.12 Min. 204 Vgl. Interview Gary Pepperd, Spur 12. 205 Vgl. Scott Ian/John Wiederhorn, I’m The Man. The story of that guy from Anthrax, Boston 2014, S. 28, 40. 206 Ebd., S. 37. 207 Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 18.
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trieren und brachte dadurch seine Eltern gegen sich auf.208 Und auch in San Francisco verfolgte Michael Coons (Lååz Rockit) lieber die Karriere seiner Band und schlug als Sohn eines Jura-Professors ein Stipendium für ein Elite-College aus.209 Verglichen mit den Konflikten in den Haushalten der NWOBHM-Musiker ging es hier verständlicherweise konfrontativer zu, weil die Entscheidung durch die Verschiebung der Priorität von der Ausbildung zur Musik-Karriere insgesamt riskanter wurde. Nicht nur wurden große Chancen geopfert – im Falle des Scheiterns fielen die Jugendlichen auch nur noch auf einen Highschool-Abschluss zurück. Es wäre lohnenswert für weitere Forschung, die landes-oder regionalspezifischen Besonderheiten dieser Aushandlungsprozesse näher zu beleuchten. Unter Vorbehalt kann hier festgehalten werden, dass die europäischen Eltern, und besonders jene in Skandinavien, gelassener auf die Entscheidungen zur Musik-Karriere reagierten als in den Vereinigten Staaten. Als mögliche Ursachen können ein gut ausgebautes soziales Unterstützungssystem, ein bedeutend geringeres finanzielles Risiko einer Hochschulbildung der Kinder, sowie die Tatsache gelten, dass die soziale Herkunft hier noch weiter in der Mittelklasse zu verorten war als westlich des Atlantiks.210 Fred Estby (Dismember) aus Stockholm beschreibt die Reaktion seiner Eltern jedenfalls als ausgesprochen pragmatisch: It wasn’t like they kicked me out, because I wanted to be a musician, but they said that ›Well, if you’re not gonna continue school or go to college, then you better get a job and pay some rents and pay for your groceries‹, you know. So, I had a full-time job as soon as I… As soon as I quit school, I had a full-time job. So, it could support my music.211 Auch ist kein Widerstand der norwegischen Eltern gegen die Erwerbsarbeitsfeindlichkeit ihrer Söhne in der Black Metal-Szene bekannt. Christian »Varg« Vikernes (Burzum) Mutter unterstützte ihren Sohn großzügig und auch Øystein »Euronymous« Aarseth (Mayhem) erhielt erhebliche Mittel seiner Eltern für seinen Plattenladen Helvete.212 Es ist wichtig zu betonen, dass es sowohl in Kalifornien und New York/New Jersey Musiker gab, die ihre Entscheidung mit häuslicher Unterstützung trafen, als auch in Schweden und Norwegen solche existierten,213 die keine Selbstverständlichkeit seitens der Eltern
208 Vgl. Anonym, THE BRONX CASKET CO., OVERKILL – D.D. Verni. 209 Vgl. Anonym, Laaz Rockit/Michael Coons, Bio-Interview, City’s Gonna Burn, Know Enemy, Annihilation, in: full in bloom, 2011, URL: https://fullinbloom.com/laaz-rockit-coons-interview/ (letzer Aufruf 23.11.2021). 210 Hinsichtlich der suburbanen Herkünfte der schwedischen Musiker und den kleinstädtischen Herkünften der norwegischen Musiker vgl. Kap. 3. 211 Interview Fred Estby, 03.51-04.21 Min. 212 Vgl. Michael Moynihan/Didrik Søderlind, Lords of Chaos. Satanischer Metal, Der blutige Aufstieg aus dem Untergrund, 12. Aufl., Zeltingen-Rachtig 2012, S. 139, 141. 213 Als Beispiele für beide Seiten vgl. Jørn Stubberud, The Death Archives. Mayhem 1984–1994, London 2018, S. 64, 95, 117, 240 (Stubberud musste als einer der wenigen norwegischen Black MetalMusiker einer geregelten Arbeit nachgehen); Vgl. Wall, Enter Night, S. 27 (für Lars Ulrichs liberale Eltern).
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erfuhren – doch weisen die Quellen insgesamt in Richtung einer höheren Laissez-faireEinstellung der nordeuropäischen Elternhäuser. Um die Übergangszeit zwischen Schulzeit und Berufstätigkeit/Ausbildung vor dem Hintergrund der musikalischen Pläne zu organisieren und zu begrenzen, trafen einige Elternhäuser zeitliche Absprachen mit ihren Söhnen – wobei auch hier lediglich die Erfolgsgeschichten erzählt werden und die Dunkelziffer der »Gescheiterten« als weitaus höher angenommen werden muss. So bekam Dan Lilker mit seinem Highschool-Abschluss auch ein Zeitfenster von einem Jahr zur Verfügung gestellt, nach dem er – sollte sich kein Erfolg abzeichnen – das gerade begonnene Studium weiterführen müsste. Acht Monate später eröffnete er mit Anthrax eines der ersten Konzerte von Metallica an der Ostküste und ist bis heute glücklich um einen »job in a factory« herumgekommen zu sein.214 Einen ähnlichen Kompromiss traf auch Lars Ulrich mit seinen Eltern, nachdem er gemerkt hatte, dass sein Ziel, Tennis-Profi zu werden und damit seinem Vater zu folgen, in den USA ungleich schwerer zu erreichen war als in Dänemark.215 Beide Beispiele waren eines der wenigen Mittel vorsichtigen Drucks, das Eltern in dieser Situation zur Verfügung stand. Implizit waren sie jedoch ein Ausdruck der verbreiteten Ansicht, dass es sich bei den musikalischen Plänen ihrer Kinder ohnehin nur um eine Episode handeln würde, die mit Einzug der ersten Hindernisse wieder vorbeiginge. Die Generationen-Deals bedeuteten also sowohl temporäres Entgegenkommen als auch eine Prüfung der Kinder, und waren besonders um 1980 und selbst bei ultraliberalen Eltern wie jenen von Lars Ulrich noch der Auffassung geschuldet, dass ein Engagement in einer Rock-oder Metal-Band kein ernsthafter und dauerhafter Beruf sein könne. Von ähnlichen Phasen-Vorstellungen seiner Eltern berichtete auch Robb Weir216 und es muss angenommen werden, dass es sich hier um eine über die Metal-Kultur hinausgehende Thematik in Familien handelte, die den Übergang in »kreative Berufe« betraf. Die Aussage Jimmy Gestapos, Frontmann der NYHC-Band Murphy’s Law, zeigt zumindest, dass Eltern von Hardcore-Punks nicht anders dachten: »My parents used to think this was a phase, […] But it doesn’t seem like one you grow out of.«217 Vor dem Hintergrund der oben angeführten Forschungen von Todd, Young und Mitchell, die die Unterstützung der jugendlichen Zukunftsentwürfe durch die Eltern eher in der »working class« verorteten, jedoch (Mitchell) bereits die Entkopplung dieser Praxis andeuteten, zeichnet die Entwicklung der Metal-Kultur hier ein etwas anderes Bild. So existierte die Unterstützung der Elternhäuser auch in den Industriegebieten Englands ohne Zweifel, doch bezog sich diese eher auf die Phase, in der die musikalische Tätigkeit als Hobby angesehen werden konnte und nahm drastisch ab oder wandelte sich sogar in Widerstand, wenn ein Karrierewunsch ersichtlich wurde. John Roach erfuhr dies geradezu prototypisch: When I was a kid, my mum and dad encouraged me, really encouraged me, you know, »It’s gonna be like The Beatles«, they really encouraged me, they bought me gear, they
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Vgl. Interview Dan Lilker, 05.34 Min. Vgl. Wall, Enter Night, S. 58. Vgl. Alikivi, Doctor Rock. Jim Farber, Punk Profiles Encourage Mosh Mania, in: Daily News, 31.10.1994, S. 115.
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supported me. And then, we started playing together, we couldn’t drive. So, […] my dad used to drop me off and then, as soon as we could drive, […] we used to drive ourselves. So, they supported us. But as soon as it looked like it was actually gonna go somewhere, my mum and dad were very much against it. Very, very much against it.218 In Roachs Fall monierte vor allem die Mutter die äußere Erscheinung ihres Sohnes, beklagte die schlechte Vereinbarkeit von abendlichen Auftritten mit dem Haupterwerb und war besorgt darüber, was die Nachbarn dachten.219 Vor dem Hintergrund der Aussagen anderer Musiker, die stets die Mutter als Förderin hervorhoben, handelte es sich wahrscheinlich um eine Ausnahme.220
Abb. 1: Thomas Schadt interviewt für die ARD-Dokumentation »Thrash, Altenessen« die Familie Fioretti (1989).221
Quelle: https ://www.facebook.com/thrashaltenessen/photos/a.1620282894874506/ 1620282934874502.
Die eigentliche Problematik betraf jedenfalls eher die Beziehung zum Vater und es bestehen zahlreiche Beispiele für die Existenz eines patriarchalischen Rollenbildes, das die Haltung gegenüber der musikalischen Tätigkeit des Sohnes beeinflusste. So forderte
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Interview John Roach/Maurice Bates, 49.04-49.45 Min. Vgl. ebd., 12.20-13.20 u.a. »My mother, who was absolutely totally obsessed with what people thought about us as a family.« 220 Bei den Akteuren im Ruhrgebiet und in England tendieren die Aussagen über die Unterstützung der Mutter zur »quasi-stereotypical warm-hearted working-class mum« (Mitchell, Parental Responses, S. 43) – eine Tendenz, die sich dann in der Unterstützungspraxis der Extreme Metal-Szenen noch einmal ausweitete und eher beide Elternteile betraf. 221 Im Zentrum der Vater von Rob Fioretti (Kreator), in einschlägiger Pose und Mimik, die beispielhaft für den ungläubigen und skeptischen, aber letztlich wohlwollenden Vater von Metal-Musikern aus der Arbeiterklasse steht.
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bereits Rob Halford das männliche Alleinernährer-Bild seines Vaters heraus: Durch den Erfolg von Judas Priest konnte es sich der Sohn leisten, die Eltern großzügig zu unterstützen – der Vater lehnte jedoch ein neues Haus als Geschenk lange ab und wehrte sich auch gegen ein neues Auto. Als er es schließlich annahm, zeugte nichts mehr vom Rollenbild seines Vaters als die Tatsache, dass er sich einen Fiat Uno aussuchte.222 Als Empfänger einer Unterstützung zu erscheinen, kratzte anscheinend am Selbstverständnis als Familienoberhaupt. In einem ganz anders gelagerten Fall sorgte sich Terry Jones, der Sänger von Pagan Altar, darüber, dass er – obgleich mit seinem Sohn in einer Band spielend – als dessen Vater wahrgenommen werden könne und nannte sich sogar für eine Weile Terry Russell. Sein Sohn führte dies auf die Furcht davor zurück, durch die Musikpresse der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, was ebenfalls ein Indiz für die empfundenen Grenzen der Egalität zwischen den Generationen angesehen werden kann. Bis heute bestehen daher Falschinformationen, die Vater und Sohn als Brüder bezeichnen.223 Bei beiden Beispielen handelte es sich jedoch um Ausnahmen, da weder der enorme finanzielle Erfolg noch die gemeinsame Performance mit dem Vater zur Regel gehörten. In der Mehrzahl der Fälle dürfte es sich dagegen schlicht um Unkenntnis der Eltern über die Möglichkeiten der Musik-Szene als Erwerbsfeld gehandelt haben, gegen die – gepaart mit Verweisen auf ein provokatives Äußeres und mit Vorbehalten gegen den beruflichen Traditionsbruch – Front gemacht wurde und die verbreitete Rollenbilder herausforderten. Es ist indes unwahrscheinlich, dass diese Elemente stets so komplett vorhanden waren wie beim Konflikt zwischen John Roach und seinem Vater: The idea of being a rock star, parents looked at it very one-dimensionally. […] So, they saw it as a hobby. They supported it as a hobby. And then, as soon as it looked like… I can remember I had an argument with my dad that was quite a bit later. I was guitarist in a club band and we played four, five times a week. Every week and we were getting good gigs. And I was earning from the shipyards, I think it was 160 pounds per week. And in the band that I was in I earned 350 pounds a week. And my dad was saying »Where’s all the money coming from?«, ’cause actually I left work and did this. So, »where you get the money from?« And I got the distinct impression that he just didn’t understand the economics of it. You know, »The fact that I come in at two o’clock in the morning and get up at dinner time, you see that as lazy. It’s just that I work a different day than you.« I worked incredibly hard five nights a week. And I remember saying »If it’s about the money, how much do you want?« and I pulled a roll of money out my pocket and my dad hated me for that for years, because I had just shown him »Look, this is how much money I’ve got.«224 Vor dem Hintergrund einer Musik-Kultur, in der die Akteure nur ungern über Gefühle und Konflikte berichten und stattdessen einen musikalischen Fokus bevorzugen, handelt es sich bei diesem Zitat bisher um eines der besten Beispiele für die direkte Konfrontation zweier Vorstellungen und Erfahrungen von musikalischer Erwerbsarbeit im Kontext des Strukturwandels. Der Sohn forderte hier direkt fast alles heraus, was der 222 Vgl. Halford, Confess, S. 139. 223 Vgl. Interview Alan Jones, Z. 64–68. 224 Interview John Roach/Maurice Bates, 51.35-52.59 Min.
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Vater als wesentliche Elemente seines Arbeitslebens in der regionalen »working class« auffasste: den standardisierten Arbeitstag, die industrielle Erwerbsarbeit, die Vorstellung eines gerechtfertigten Lohns, die bescheidene Zurückhaltung in Geldfragen sowie die Rücksicht auf die Meinung der »community.« Dass es ihm der Sohn situativ-geballt auch noch derart offensichtlich machte, perfektionierte den Affront. Zwischen der RockStar-Vorstellung der Eltern und der täglichen Erfahrung musikalischer Arbeit lagen hier tatsächlich Welten. Es wäre für weitere Forschung sicherlich lohnend zu fragen, inwieweit sich solche Differenzen auf sozioökonomische und regionalspezifische Ursachen zurückführen lassen. Bei aller gebotenen Vorsicht vor einer Verallgemeinerung fand die Abschleifung der Vorurteile gegenüber musikalischer Arbeit durch die Eltern etwa in London anscheinend zügiger statt. Generell zeugt das bisherige Fehlen solcher Beispiele für die Hauptstadt oder südenglische Regionen eher dafür, dass der Konflikt zwischen regional akzeptierten Erwerbsverhältnissen und Zukunftsentwürfen und der musikalischen Praxis in industriellen, durch die Arbeiterklasse dominierten Regionen größer war. So berichtet Tino Troy (Praying Mantis) aus London über die Reaktion seines Vaters, die das Beharren auf einem »normalen« Job für die Söhne mit schlecht verstecktem Stolz mischte und dadurch relativierte: My father said ›Proper job, proper job‹, and then he used to say only to friends at work ›My guys are doing really well in a band, my sons are doing very well.‹ So, he was proud of us in a way, but I mean, we had good professions as well, as sidelines as well.225 Das Zitat deutet an, was sich mit offenbar regional-unterschiedlichen Geschwindigkeiten langsam durchsetzte: Im Laufe der 1980er Jahre wandelte sich die Einstellung der Eltern langsam aber kontinuierlich und mit den oben bereits beschriebenen Zwischenstufen. Dies bedeutete nicht, dass die Konflikthaftigkeit zwischen den Generationen abnehmen musste – eher handelte es sich um einen Gewöhnungseffekt, den jüngere Musiker auf ihre Eltern ausübten und der mit regional großen Unterschieden und mit Fortschreiten der Dekade auch nicht mehr im Schatten einer drohenden oder existenten Deindustrialisierung verhandelt wurde. Während um 1980 das Schreckgespenst der monotonen und physischen Industriearbeit unter den jungen Musikern umging, beschrieben die schwedischen und norwegischen Musiker, aber auch ihre Brieffreunde in Florida und Pittsburgh ihre suburbanen Ängste am Ende der 1980er Jahre ganz anders. Ola Lindgren (Grave) aus Gotland, später Stockholm, fürchtete sich zum Beispiel stets vor einem »svensson liv«: Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen zynisch und unreif, aber tatsächlich wollte ich nie wirklich erwachsen werden und ein »svensson liv« führen, also: anständiger Job, heiraten, Haus bauen, Kinder kriegen und der ganze Scheiß.226
225 Interview Tino Troy, 22.40-22.50 Min. 226 Stefan Baumgartner, GRAVE – Ola Lindgren, in: Stormbringer.at. The Austrian Heavyzine, 2015, URL: https://www.stormbringer.at/interviews/1752/grave-ola-lindgren.html (letzter Aufruf 23. 11.2021).
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Die Schwerpunktverlagerung der Etablierung neuer Metal-Szenen von den Industrieregionen in die Vororte von Dienstleistungsmetropolen (Kap. 3) und die Verschiebung in Richtung der Mittelschicht waren hier zwei Elemente eines sich wandelnden Verständnisses von akzeptierter Arbeit. Für junge Musiker war dieser Wandel genau wie für ihre Eltern ein Lernprozess, der nicht komplett in einer einzigen Familie stattfand, sondern über die zahlreichen Kommunikationswege zwischen den regionalen Szenen und während der Dekade tradiert wurde. Am Ende der 1980er Jahre konnten jugendliche Metal-Musiker auf einen Erfahrungswert zurückgreifen, über den die NWOBHMMusiker noch nicht verfügt hatten, und den sie in die häusliche Verhandlung einbringen konnten. Dadurch war es ihnen möglich, dass tiefsitzende Misstrauen gegenüber musikalischer Arbeit, das Ende der 1970er Jahre für die ersten Metal-Bands geherrscht hatte, Stück für Stück abzuschleifen. Dementsprechend weitete sich die Unterstützung der Elternhäuser im Laufe der 1980er Jahre deutlich aus und bezog sich auf sechs Aspekte des Zusammenlebens und der musikalischen Praxis. a.) Wohnen. Durch die Verjüngung der Metal-Kultur während der frühen 1980er Jahre sowie die Verlängerung der Berufseintrittsphase im Zuge der Deindustrialisierung gewann die Bereitstellung von Wohnraum für die jungen Metal-Musiker deutlich an Bedeutung.227 Gemessen an den musikalischen Herausforderungen dieses Zusammenlebens, etwa durch die Lautstärke, existieren dabei nur sehr wenige Belege für dezidiert schlechte häusliche Beziehungen.228 Um die jugendkulturellen Insignien wie die Kleidung, die Poster oder die langen Haare wurde mit Sicherheit intern gerungen und Eltern machten sich über die familiäre Außenwirkung Sorgen,229 doch zeigen die Aussagen auch eine steigende Selbstverständlichkeit der Jugendlichen, auch nach der Schulzeit zu Hause wohnen zu dürfen.230 Selbst in Fällen, in denen es sich bei den Musikern bereits 227 Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 343, 351. Speziell dort, wo die Jugendarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren besonders hoch war, verlängerte sich das gemeinsame Wohnen der Generationen. Vgl. Kenneth M. Spencer, Crisis in the industrial heartland. A study of the West Midlands, Oxford 1986, S. 41. Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren lag 1981 im West Midland County bei 25,5 % der männlichen und 22,6 % der weiblichen Jugendlichen. Mit zahlreichen Angaben zu Tyneside vgl. Fred Robinson (Hg.), Post-industrial Tyneside. An economic and social survey of Tyneside in the 1980s, Newcastle 1988. 228 Etwa bei Kam Lee (Mantas/Death). Vgl. Infamous Butcher, Interview with Kam Lee of Massacre, Death, Mantas, metal-rules.com, 2017, URL: https://www.metal-rules.com/2017/03/30/interview -with-kam-lee-of-massacre-death-mantas/ (letzter Aufruf 24.11.2021). 229 Vgl. Gabriel Gatica, Frank Stöver – Interview Compilation of Death, Chile 2009, URL: https ://www.voicesfromthedarkside.de/frank-stover-interview-compilation-of-death/ (letzter Aufruf 24.11.2021). »You gotta understand that I used to grow up in a very small city and my dad had his own company, so a lot of the people knew him… It wasn’t really the best promotion for his company, when his son was wearing leather, spikes and bullet belts on the streets, hahaha.« (Frank Stöver). 230 Als Beispiele hier Paul Masvidal (Cynic aus Miami), Lee Althus (Heathen aus San Francisco), Christofer Johnsson (Therion aus Stockholm) sowie Shane Embury (Warhammer aus Broseley). Diese Aufzählung ließe sich stark erweitern. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder Than Hell, S. 483; Vgl. Chris Forbes, Heathen. Interview with Lee Althus, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalco refanzine.com/heathen.html (letzter Aufruf 24.11.2021); Vgl. Frank Stöver, Voices From The Darkside 1 (1992), S. 58, in: ders. (Hg.), Voices; Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 66f.
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um »touring musicians« mit einem Plattenvertrag handelte, reduzierten die Eltern bisweilen den finanziellen Druck und gewährten Logis.231 Das Elternhaus diente jedoch oft zu weit mehr als der einfachen Unterbringung – es wurde selbst zum Szene-Treffpunkt, andere Metalheads aus der Nachbarschaft kamen zu Besuch, weit entfernt lebende Brieffreunde aus dem Tape-Trading-Netzwerk übernachteten und manche Wohnungen erinnerten durch den exzessiven Tauschhandel der Kinder an Postannahmestellen.232 Phänomene wie diese lassen sich seit den frühen 1980er Jahren in allen Metal-Szenen nachweisen: Jon Kristiansen, der Herausgeber des Slayer-Fanzines aus Norwegen, wohnte beispielsweise eine Woche bei Bill Steer (Napalm Death/Carcass) in Wirral (nahe Liverpool), der über einen großen Proberaum im Haus seiner Mutter verfügte. Dieser gefiel es Kristiansens Aussagen zu Folge sehr gut, dass ihr Sohn so viele internationale Kontakte pflegte (Bill Steer gab das Fanzine Phoenix Militia heraus).233 Max Cavalera, der Sänger der Band Sepultura aus Belo Horizonte in Brasilien, fand 1990 für einige Zeit Unterkunft bei den Eltern der Brüder John und Donald Tardy (Obituary) nahe Tampa/Florida.234 Christian Dudeks (Sodom) Mutter war in Gelsenkirchen anscheinend ebenfalls eine genauso freundliche Gastgeberin für die szeneinternen Freunde ihres Sohnes wie die Eltern von Dave Gorsuch (Insanity), deren Haus in San Francisco häufiger regelrecht »in Beschlag« genommen wurde.235 Einige Partys fanden aber natürlich trotzdem ohne das Wissen der Eltern statt.236 Vor 1982 lag das soziale Zentrum der Metal-Szene von Los Angeles sogar im Haus der Mutter von Betsy Weiss, der Frontfrau von Bitch, in North Hollywood. Auch aufgrund der günstigen geografischen Lage trafen sich hier fast jedes Wochenende die Mitglieder von Metallica, Armored Saint und anderen lokalen Bands.237 Dass das Wohnen bei den Eltern mit den Authentizitätsvorstellungen kollidieren könnte, findet sich als Aussage dabei kaum. Bis auf die Mitglieder von Slaughter aus Toronto, die es für wenig »rock’n’roll« hielten, dass ihr Brieffreund Chuck Schuldiner (Death) dauerhaft mit den Eltern wohnen sollte, tendieren die Beziehungen sogar zu einer stärkeren Einbeziehung der Eltern in den Szene-Zusammenhang.238
231 Vgl. Interview Dan Lilker, 15.44-17.09 Min. 232 Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 61. »Our house looked like the receiving department of a large business – there were packages, letters, and boxes of mail all over the place.« (Henry Veggian (Revenant) aus New Jersey). 233 Vgl. Jon Kristiansen, Slayer Mag 6 (1988), Foreword, in: ders./Tara G. Warrior (Hg.), Metalion. The Slayer Mag Diaries, New York 2011, S. 117f. 234 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 323. 235 Vgl. Alan Moses/Brian Pattison, Glorious Times. A Pictorial of the Death Metal Scene 1984–1991, Athen 2019, S. 74. 236 Zum Beispiel die Party im Hause der Kristiansens in Sarpsborg, Norwegen, zu der die Mitglieder von Mayhem, Grotesque und Tiamat erschienen – also sowohl die entstehende Szene in Oslo, als auch jene von Göteborg und Stockholm vertreten waren. Vgl. Jon Kristiansen, Slayer Mag 8 (1991), Foreword, in: Kristiansen/Warrior (Hg.), Metalion, S. 186. 237 Vgl. Brian Slagel, For The Sake Of Heaviness. The History of Metal Blade Records, New York/Los Angeles/Nashville 2017, S. 49. 238 Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 142.
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Dort, wo junge Musiker bereits früh eigene Wohnungen mieteten, entwickelten sich diese stattdessen oft zu Treffpunkten,239 boten Anlaufstellen für Metalheads, deren Eltern nicht so tolerant waren und dienten in Form der Unterbringung auch als Loyalitätsbeweis für weitgereiste Fans mit knappem Budget. Gary Pepperd (Jaguar), der mit seiner Band von Beginn an über gute Kontakte in die Niederlande verfügte, beschreibt einen solchen unangekündigten Besuch, der sowohl die Unterstützungspraxis als auch die spontane Anbahnung späterer Geschäftsbeziehungen (hier mit dem Promoter Gijsbertse) deutlich macht: At that time, yeah, we would be playing around England, but yeah, it was okay. And sometimes we really had a good show and sometimes people weren’t interested. But the situation in Holland was completely different. The fans there were just awesome, so intense, so knowledgeable. They really, really got behind us. One of the people actually wrote to us and we sent the demo tape too was Frits Gijsbertse, as you mentioned his name. And kind of, Frits actually came over to Bristol one time and he kind of turned up unannounced and actually knocked on the drummer Chris Lovell’s door. ›Hello, I’m Frits.‹ And basically, ended up staying for the week with Chris.240 Auch Lars Ulrich wurde als minderjährigem Englandreisenden spontan Unterkunft bei den Mitgliedern von Diamond Head gewährt.241 b.) Instrumente. Es gehörte zu den weit verbreiteten Phänomenen, dass – besonders die Mütter – ihren musikbegeisterten Söhnen Gitarren und/oder Equipment wie etwa Verstärker schenkten. John Roach in South Shields, Robb Weir in Whitley Bay, Terrance Hobbs (Suffocation) in Long Island, Frank Gosdzik in Gelsenkirchen und viele andere kamen auf diese Weise in den Besitz ihrer ersten Instrumente – wie oben deutlich wurde, meist in der Hobby-Phase musikalischer Aktivität.242 Um eine Regel handelte es sich dabei freilich nicht und vor allem während der NWOBHM und in den Szenen der frühen 1980er Jahre sparten einige Musiker auf das Instrument: Brian Tatler kaufte sich 1979 etwa seine erste Gibson Flying V für 495 Pfund (!) selbst.243 In den stärker durch die Mittelklasse geprägten und auch immer jüngeren Extreme Metal-Szenen der USA und Skandinaviens, in denen sich die Bands vor allem in der Schulzeit formierten, war es dann jedoch meist die Unterstützung der Eltern, die zum ersten Instrument führte. Aufgrund des benötigten Raums, der Kosten und der Lärmbelastung – vor allem während der Lernphase – gehörte das Schlagzeug dagegen zu den weniger beliebten Geschenken. So lehnten beispielsweise Donald Tardys (Obituary) Eltern den Erwerb ab244
239 So etwa bei Thomas Such in Gelsenkirchen oder Sabina Classens und Andy Classens erster Wohnung in Aachen. Vgl. Interview Thomas Such, 11.30-11.41 Min.; Vgl. Interview Sabina Classen, 43.30-44.14 Min. 240 Interview Gary Pepperd, Spur 5. 241 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder Than Hell, S. 199. 242 Neben den bereits zitierten Beispielen von Robb Weir, John Roach, Frank Gosdzik z.B. auch bei Terrance Hobbs (Suffocation) aus Long Island. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 241. 243 Vgl. Tatler, Am I Evil?, S. 36. 244 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 226.
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und Christofer Johnsson (Therion) aus Stockholm stieg vom Schlagzeug auf die Bassgitarre um.245 Möglich wurde die Unterstützung erst dort, wo man mit dem Instrument an einen lärmtoleranten Platz ausweichen konnte (so etwa bei Pete Sandoval (Terrorizer) aus Los Angeles246 ) oder wo ein solcher Raum bereits vorhanden war (so bei Jan Axel »Hellhammer« Blomberg (Mayhem) in Norwegen247 ). Letzterer hatte ein qualitatives Schlagzeug von seinen Großeltern bekommen, nachdem sie die Ernsthaftigkeit ihres Enkels für eine Weile mit einem alten Jazz-Schlagzeug geprüft hatten. Die wenigen Beispiele, die für den Genderaspekt dieser Unterstützungspraxis vorliegen, deuten darauf hin, dass Mädchen auf größere Skepsis ihrer Eltern stießen und sich Überredungstaktiken ausdenken mussten. So erwähnt zum Beispiel Kim McAufliffe (Girlschool), dass sie zunächst eine klare Ansage ihrer Eltern erhielt: My cousin who lived next door and who’s a couple of years older than me got me into Rock. Led Zeppelin, Black Sabbath etc. He also got a guitar and I remember my parents saying not to get any ideas – a year later I was the proud owner of that guitar Ha Ha!248 Auch macht sie deutlich, dass es der Einfluss eines männlichen Verwandten war, der sie zum Spielen inspirierte – eine durchgehende Erfahrung fast aller Metal-Musikerinnen, die sich mit anderen Rock-Genres (teilweise bis heute) deckt.249 c.) Musikunterricht. Die Finanzierung des Musikunterrichts war eine Form der Unterstützung, die der DIY-Mentalität seit der NWOBHM in den Augen vieler Musiker widersprach – folglich brachten sich die meisten das Spielen selbst bei und erlernten ihre Instrumente dabei oft als Band gemeinsam.250 Dennoch existierten auch Schüler-LehrerVerhältnisse. Kirk Hammetts (Metallica) Unterrichtszeit bei dem exzeptionellen Gitarristen Joe Satriani in San Francisco war dabei aber eine Ausnahme, die der Musiker auch eher als Perfektionierung nutzte.251 Vielmehr trat Musikunterricht, durch die Eltern bezahlt und motiviert, in der frühen Lernphase auf – war aber aufgrund der Tatsache, dass die Jugendlichen an den Vorbildern der Metal-Kultur interessiert waren, von vornherein
245 Vgl. DBpedia.org, URL: https://dbpedia.org/page/Christofer_Johnsson (letzter Aufruf 24.11.2021). 246 Vgl. Laurent Ramadier, Terrorizer. Interview mit Pete Sandoval, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/terrorizer/ (letzter Aufruf 24.11.2021). 247 Vgl. Abo Alsleben, Mayhem Live in Leipzig. Wie ich den Black Metal nach Ostdeutschland brachte, Leipzig 2020, S. 37. 248 Anonym, Interview: Kim McAuliffe from Girlschool: Lemmy, The Music Business, and that 1st Tour with Maiden, in: hearsheroars, 2019, URL: https://www.hearsheroars.com/post/interview -kim-mcauliffe-from-girlschool-lemmy-the-music-business-and-that-1st-tour-with-maiden (letzter Aufruf 24.11.2021). 249 Vgl. Interview Sharon Bascovsky 15.45 Min.; Vgl. Stewart-Panko, Girlschool Interview; Vgl. Bennett, Interview Jody Turner; Vgl. auch die Gründe bei Ramirez, Destined For Greatness, S. 8. 250 Vgl. Interview Kevin Riddles, 04.45-09.18 Min.; Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 01.2303.11 Min.; Vgl. Interview Brian Tatler, 00.37-03.47 Min.; Vgl. Interview Tino Troy, 19.00-19.56 Min. 251 Vgl. Joel Selvin, Guitarist Scores Big Without Words, in: The San Francisco Examiner, 25.12.1988, S. 207.
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mit Spannungen verbunden. Mike Smail (Dream Death) aus Pittsburgh beschreibt in diesem Kontext einen Verlauf, der sich so ähnlich auch bei anderen Musikern nachweisen lässt: I took lessons off and on, but was never really a good student. I didn’t really practice much of what my instructor wanted me to, but I was always playing (mostly with Brian). I was more concerned with us learning whatever covers we were trying to play (Sabbath, Judas Priest, Alice Cooper etc.) and more so us coming up with and writing our own material.252 Auch Sharon Bascovsky (Derketa) beendete den Unterricht als klar wurde, dass er für das Erlernen der gewünschten Musik nicht hilfreich war.253 Grundsätzlich stießen sich die Musiker bei solchen Beispielen an der Hegemonie des Jazz und Blues im Musikunterricht für die E-Gitarre, die Bassgitarre und das Schlagzeug.254 Populäre Musik, und schon gar nicht die Vorbilder in Iron Maiden (Steve Harris inspirierte sehr viele Jugendliche zum Bassspiel255 ), stand dabei nicht auf dem Lehrplan und die Jugendlichen verloren schnell das Interesse. Bob Petrosino (Oblivion) aus New Jersey, der seinen Lehrer von der technischen Qualität seiner Idole überzeugen konnte, dürfte daher eine Ausnahmeerfahrung gemacht haben: I switched to bass when I heard Iron Maiden in 1982. That is when I wanted to learn how to actually play and started taking lessons from a jazz teacher. He would make me learn jazz and blues progressions and was anti-metal; he hated Geezer [Butler, Black Sabbath, M.S.] and did not think there was any talent in metal. When I brought in Too Tame a Land by Maiden, my teacher said »OK, this guy can play« and taught it to me.256 Ohne, dass dafür hier Belege angeführt werden können, steht zu vermuten, dass die Transgression der Metal-Musik während des Jahrzehnts dazu beitrug, dieses Dilemma zu vergrößern. Beispiele für einen privat finanzierten Musikunterricht lassen sich jedenfalls kaum noch ausmachen. d.) Proberaum. Die größten Zugeständnisse waren seitens der Eltern gefragt, wenn ihre Kinder mit ihren Bands das Haus auch zum Proben nutzten. Aufgrund der räumli252 Chris Forbes, Dream Death. Interview with Mike Smail and Brian Lawrence, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/dd.html (letzter Aufruf 24.11.2021). 253 Vgl. Chris Forbes, Derketa, in: extreminal, 2019, URL: https://www.extreminal.com/derketa/ (letzter Aufruf 24.11.2021). 254 Zum grundsätzlichen Problem des kaum Popularmusik-orientierten Musikunterrichts vgl. Alison Butler/Ruth Wright, Hegemony, Symbolic Violence, and Popular Music Education. A Matter of Class, in: Peddie (Hg.), Handbook, S. 97–115. 255 So etwa bei Ross Dolan (Immolation) und vielen anderen. Vgl. Sam, Immolation (Ross Dolan) Interview, in: metalblast, 2013, URL: https://www.metalblast.net/interviews/immolation-interview / (letzter Aufruf 24.11.2021). 256 Chris Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino, in: Metalcore Fanzine, 2016, URL: www.me talcorefanzine.com/oblivion2017.html (letzter Aufruf 24.11.2021).
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chen Anforderungen war dies in vielen Fällen nicht möglich bzw. die Eltern lehnten es ab.257 Gleichzeitig weisen die regionalen Unterschiede hier bereits auf die Verschiebungen hin, die in Kapitel 3 behandelt werden: Denn während in Florida und Kalifornien fast ausschließlich die Garage des Elternhauses für die Proben und auch für die Aufnahme der ersten Demo-Tapes genutzt wurde, spielten junge Bands in Europa und im Nordosten der USA eher im Keller der Häuser. Die Nervenbelastung konnte daher regionalunterschiedlicher Natur sein: Sharon Bascovsky und Terry Heggen (Derketa) probten im Keller des Hauses der Bascovskys und die Nachbarn beschrieben das Schlagzeugspiel als »indian wardance«258 – Gary Pepperd probte mit Jaguar in Bristol im Keller des Hauses der Eltern von Chris Lovell direkt unter dem Wohnzimmer: »It sounded like there was an earthquake underneath you«259 – und Dan Lilkers Mutter beschrieb den Lärm ihres Sohnes als »music only a mother could love«: When Danny first started to play in the house—the band from the day camp—my neighbor complained that his pictures were falling off the walls and could they please turn down? I used to call it »music only a mother could love.« You know, they write the lyrics, but you can’t understand the darn things because the music is so loud!260 Während dessen beschwerte sich Chuck Schuldiner, der mit seiner Band Mantas in Orlando in der Garage des Hauses seiner Mutter probte, darüber, dass seine Schwester oder Mutter permanent in die Probe platzten, um die Wäsche zu erledigen.261 Das Entgegenkommen der Eltern besaß jedoch in allen Fällen einen nicht unerheblichen finanziellen Vorteil, da es im Laufe der 1980er Jahre in den suburbanen und städtischen Räumen der Metal-Szenen nicht einfacher wurde, einen Proberaum zu erhalten und auch zu finanzieren.262 e.) Geldgeschenke und Kredite. Die Unterstützung der Mittelklasse-Haushalte für die musizierenden Kinder ging teilweise sogar so weit, dass größere Geldbeträge in die Karrieren investiert wurden. So wurde beispielsweise das erste Demo-Tape von Executioner »Metal up your ass« 1985 mit finanzieller Unterstützung der Tardy-Eltern als 7’-Vinyl veröffentlicht und aus dem Kofferraum des Autos des älteren Bruders in der Schule verkauft.263 Der Vater von Tom Araya (Slayer) stellte der Band sogar 3.000 Dollar für ihren ersten Studioaufenthalt zur Verfügung und auch Chuck Schuldiner konnte bei seiner nordamerika-übergreifenden Suche nach Mitmusikern stets auf die uneingeschränkte
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Vgl. Infamous Butcher, Kam Lee; Vgl. Ramadier, Sandoval. Vgl. Interview Sharon Bascovsky, 12.33-13.27 Min. Interview Gary Pepperd, Spur 13. Hofer, Perpetual Conversions, S. 12. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 16. Beispiele für Bands, die temporäre Probleme bei der Bereitstellung eines Proberaums hatten, waren Mayhem, Napalm Death oder Vio-Lence. Vgl. Jeff Kitts, »Chaos in a Bottle«: Vio-lence’s Phil Demmel Revisits Bay Area Thrash’s Heyday, in: Revolver Mag, 2021, URL: https://www.revol vermag.com/music/chaos-bottle-vio-lences-phil-demmel-revisits-bay-area-thrashs-heyday?fbcl id=IwAR085NX2RVtQjMTfvUQNS3UqaSC0zmC2mOJWg4XKH (letzter Aufruf 24.11.2021). 263 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 42.
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Unterstützung seiner Eltern bauen.264 Auch in Skandinavien war die finanzielle Unterstützung verbreitet und Johan Edlund (Treblinka/Tiamat) nutzte die 10.000 schwedischen Kronen seiner Eltern zum 18. Geburtstag dazu, 666 Exemplare der ersten 7’-Pressung zu finanzieren,265 während die Eltern einiger norwegischer Musiker ebenfalls in der Plattenproduktion oder den Mietkosten involviert waren.266 Obgleich auch hier auf Musiker verwiesen werden muss, die nie in dieser Form unterstützt wurden,267 lässt die wachsende finanzielle Förderung durch die Eltern auf eine sozioökonomische Verschiebung der Herkünfte der Musiker schließen, die musikalische Experimente durch das Wissen um die Rückendeckung der Elternhäuser ermöglichte. Mit Abstiegserfahrungen der Eltern oder Kinder im Kontext des Strukturwandels hatte das Aufwachsen der Jugendlichen hier nichts mehr zu tun. f.) Tour-Support, Mobilitätsgarant, Vormundschaft. In seiner juristischen bzw. jugendschutzgesetzlichen Form wurde die Unterstützung der Eltern immer dort unabdingbar, wo jugendliche Musiker noch keine Plattenverträge unterschreiben durften. So geht der erste Plattenvertrag der Band Kreator aus Altenessen mit Noise Records unter anderem darauf zurück, dass die Mutter von Mille Petrozza das Dokument für ihren Sohn unterschrieb – nicht ohne dem Labelgründer Karl Walterbach noch ein paar zusätzliche Fragen zu stellen.268 Besonders in den Metal-Szenen der späten 1980er Jahre in Skandinavien nahmen solche Beispiele dann noch einmal zu; spielten partiell aber auch schon in den späten 1970er Jahren eine Rolle: Etwa als Def Leppard (Sheffield) 1979 bei Phonogram unterschrieben und Rick Allens Vater den Vertrag für seinen Sohn unterzeichnete.269 Unterstützung musste aber auch dort geleistet werden, wo jugendliche Musiker in Etablissements auftraten, in denen sie laut Jugendschutz noch gar nicht gestattet waren oder als Minderjährige Tourneen abhielten.270 Den häufigsten Beitrag 264 Vgl. Slagel, For The Sake of Heaviness, S. 52; »Chuck rief uns nach zwei Wochen an, woraufhin wir ihm Geld schickten, damit er nach Hause fliegen konnte. Sein Vater und ich respektierten jede seiner Entscheidungen, also hielten wir ihm finanziell den Rücken frei. Er sollte hingehen können, wohin auch immer ihn seine Karriere verschlagen mochte.« Albert Mudrian, Choosing Death. Die unglaubliche Geschichte von Death Metal und Grindcore geht weiter, Berlin 2016, S. 65. 265 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 168. 266 Vgl. Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 139, 141, 169 u.a. 267 Als Beispiele etwa Jørn Stubberud (Mayhem), Mike Browning (Morbid Angel/Nocturnus), James Hetfield (Metallica), Thomas Such (Sodom) oder Mick Harris (Napalm Death). Vgl. Interview Mike Browning, Z. 3–5 »I have pretty much always worked a regular job with the water department and I actually still work there today. My family was not rich, so I had to work to get the things I wanted in life.«; Vgl. Interview Shane Embury, 06.05-07.14 Min.; Vgl. Interview Thomas Such, 07.20-07.49 Min. »Dat ging auch dem Witchhunter so, damals war der Witchhunter nicht im Bergbau bei, glaub der hat noch nie richtig gearbeitet [lacht], ja, seine Mutter hatte ihn auch immer relativ gut unterstützt, aber mein Vatter und meine Mutter, die waren da überhaupt nicht für, ne. Und die Musik mochten die natürlich auch nicht [lacht].« 268 Vgl. Bender, Violent Evolution, S. 27f. 269 Bei der anschließenden Feier spielten Altersbeschränkungen dann keine Rolle mehr: »All the band got very drunk when we heard. We’re all very pleased. This is it, full-time work from now on. No more days jobs for us.« Vgl. URL: www.deflepparduk.com/2018newsaug36.html (letzter Aufruf 24.11.2021). 270 Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 155; Vgl. Bennett, Interview Jody Turner.
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leisteten die Eltern jedoch als Mobilitätsgaranten, indem sie ihre Kinder zu Konzerten oder Plattenläden fuhren und auch wieder abholten – aufgrund der räumlichen Entwicklung der Metal-Szenen (Kap. 3) handelte es sich dabei um einen Gefallen mit enorm steigender Bedeutung. Zusammenfassend kann bemerkt werden, dass die Unterstützung der Elterngeneration für ihre musizierenden Kinder bereits in den 1970er Jahren anzutreffen war, sich aber in den Aussagen eher auf die Phase vor der Karriere datieren lässt und auf die Bereitstellung von Instrumenten, Mobilität oder Probe-Infrastruktur bezog. Ein finanzielles Engagement der Eltern, um erste Karriere-Schritte zu ermöglichen, findet sich erst im Rahmen der besser-situierten Herkünfte der Extreme Metal-Musiker ab Mitte der 1980er Jahre. In einem längerfristigen Übergang, der zwischen Eltern und Kindern stets neu verhandelt wurde, gaben viele Elternhäuser schließlich langgeglaubte Vorstellungen über die ideale Zukunft ihrer Kinder auf und öffneten sich den neuen Möglichkeiten für musikalische und kreative Lebensläufe. Dennoch sollte auch dieser Wandel nicht überschätzt werden, denn die Tatsache, dass sich die Quellen vor allem aus erfolgreichen Beispielen rekrutieren, könnte verschleiern, dass sich die tieferliegenden Überzeugungen der Eltern, dass Metal-Musik lediglich eine Phase im Leben ihrer Kinder sei, weiterhin hielten. Dass die allermeisten Karrieren schnell oder mittelfristig endeten, dürfte daher kaum auf andauernde Enttäuschung gestoßen sein. Nichtsdestotrotz markieren die 1980er Jahren aus dieser Sicht eine Zeit des umkämpften Akzeptanzgewinns der musikalischen Erwerbsarbeit in der Metal-Kultur, der sich umso deutlicher zeigt, je weiter diese Zeit zurückliegt. Besonders NWOBHM-Musiker verweisen daher auf den für sie spürbaren Akzeptanzgewinn und die großen Unterschiede zu der Zeit um 1980 – so auch Harry Hill: I remember when I got to 25, I thought I’m too old to be a drummer in a rock band. Because nobody knew any different then. […] At the time, it was an unknown thing.271
2.5 (Heavy) Metal als Klassenphänomen Es ist bisher deutlich geworden, dass sich die soziale Herkunft der Metal-Musiker seit den späten 1970er Jahren rasch um die Jugendlichen einer (»neuen«) Mittelklasse erweiterte, bis Mitte der 1990er Jahre keine strukturelle klassenbezogene Spezifik mehr zu erkennen war, während sich die Metal-Kultur als kreatives Erwerbsfeld zu formieren begann. Das öffentlich vermittelte Bild steht dazu jedoch in erheblichem Widerspruch. So haben Dokumentationen, Radiobeiträge, populäre Überblicksdarstellungen und zum Teil auch der wissenschaftliche Diskurs die Metal-Kultur als Phänomen der Arbeiterklasse beschrieben und postulierten darauf aufbauend einen widerständigen Anspruch.272 Besonders profitiert hat diese Lesart davon, dass eine Historisierung oder
271 Interview Fist, 14.48-15.18 Min. 272 Als breit rezipierte Beispiele etwa den unmittelbaren Beginn der ARD-Dokumentation »Thrash, Altenessen« von 1989 (00.00-00.43 Min.), URL: https://www.youtube.com/watch?v=MX-BhBdPC No (letzter Aufruf 24.11.2021); Vgl. auch die Darstellung der Wurzeln des Genres aus der Perspektiv-
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wie auch immer geartete Sensibilität für zeitlichen Wandel und räumliche Unterschiede meist ausblieb und die Musikkultur als homogenes Ganzes adressiert wurde. Im Folgenden wird sich mit diesen Argumenten auseinandergesetzt, die wissenschaftliche Kritik zusammengefasst und anschließend versucht, die Beziehung zwischen der Musikkultur und den sozialen Klassen als Phänomene eines Wandels zu umreißen. (Heavy) Metal entwickelte sich dabei – so die These – bei rasch schwindender materialistischer Grundlage zu einem kulturellen Exportgut der Arbeiterklasse und verknüpfte dadurch dauerhaft eine spezifische imaginierte Version der working-classKultur mit der musikalischen Vergemeinschaftung. Kurzum: Die heutige Metal-Kultur ist als System von Zeichen und Verhaltensweisen zu verstehen, das massiv auf einen romantisierten Arbeiterklasse-Zusammenhalt verweist – ohne, dass die meisten Fans oder Musiker jemals Teil dieser »community« gewesen wären. Es handelt sich folglich um ein Paradebeispiel für eine »imagined community«.273
2.5.1 Die »Weinstein«- These in der Kritik Die ersten wissenschaftlichen Beschäftigungen mit dem Heavy Metal-Phänomen in den frühen 1990er Jahren waren stark von der Denktradition der »Subcultural Studies« und dem »Centre for Contemporary Cultural Studies« (CCCS) in Birmingham geprägt.274 Besonders in Anlehnung an die durch Gramsci inspirierte These der »Klassen-Homologie« wurde die vermeintliche Subkultur als defensive Reaktion auf den Statusverlust der britischen Arbeiterklasse interpretiert. Der Kern dieser Argumentation, die sich prototypisch in den Arbeiten von Deena Weinstein ausmachen lässt, war es, dass sich im Heavy Metal Jugendliche zusammenfanden, um ihrem Frust über schwindende ökonomische Perspektiven und ein erodierendes Männlichkeitsideal Ausdruck zu verleihen. Ganz im Stil der wegweisenden Studie Sara Cohens zur »Rock Culture in Liverpool« von 1991 war die Jugendkultur hier eine Funktion des wirtschaftlichen Strukturwandels, sodass »unemployment brings out the guitar in everyone.«275 In neomarxistischer Tradition folgte einer wirtschaftlichen Lage ein bestimmtes Bewusstsein, das sich als Metal-Identität in spezifischen Handlungen, also Bandgründungen, Sounds und Performances niederschlug. Musiker und Fans, so die These, teilten sich dabei einen sozioökonomischen Hintergrund und folglich strikt kohärente Musikgeschmäcker. Die Heavy Metal-Subkultur, so Weinstein, sei zwar nicht homogen, weise aber einen eng umrissenen Kern von weißen, männlichen Jugendlichen in ihren Mid-Teens auf, die über »declining economic op-
losigkeit Birminghams im Film: Sam Dunn/ScottMcFayden, Metal – A Headbanger’s Journey, Kanada 2006. 273 Vgl. zuerst Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983. 274 Vgl. Bodo Mrozek, Subkultur und Cultural Studies. Ein kulturwissenschaftlicher Begriff in zeithistorischer Perspektive, in: Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek (Hg.), Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld 2014, S. 101–125, hier S. 110–117; Zur Kritik vgl. u.a. Rupert Weinzierl/ David Muggleton, What is ›Post-subcultural Studies‹ Anyway?, in: dies. (Hg.), The Post-subcultures Reader, Oxford 2003, S. 3–23, hier S. 6–19. 275 Sara Cohen, Rock culture in Liverpool. Popular music in the making, Oxford 1991, S. 3.
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portunities« verfügten.276 In einer einflussreichen Zuspitzung postulierte sie weiterhin: »The heavy metal subculture is usefully interpreted as a defensive reaction of members of this group as their standing and security declined.«277 Viele Elemente des besonderen Habitus dieser Subkultur – übersteigerte Männlichkeit, Lautstärke, Trinkverhalten, Respektabilität, Kleidung usw. – wären demnach Teil einer reaktionären Verteidigung der Stellung der Arbeiterklasse gewesen. Kurzum: Die harte Musik entsprang also harten Zeiten. Man sollte bei aller berechtigten Kritik an dieser Position Deena Weinstein zu Gute halten, dass sie trotz einer überzogenen Interpretation, die Heavy Metal zu einem Spiegel der Gesellschaft erklärte, einige wesentliche Elemente des Wandels bereits beschrieb. So erkannte sie die Ansätze eines Einzugs vieler Mittelklasse-Jugendlicher in die Metal-Kultur während der 1980er Jahre und deutete mit der sozialen Standortbestimmung »blue collar, either in fact or by sentimental attachment«278 auch schon eine instrumentelle Nutzung der Arbeiterklassenästhetik an. Auf einer kulturellen Ebene, so ihr überzeugendes Argument, sei die »Klasse« im Heavy Metal überall präsent und die Mittelklasse bediene sich des »blue collar ethos«, um »prestige from below« zu generieren.279 Auch argumentierte Weinstein gezwungenermaßen stets affirmativ, weil ihre wegweisende Studie »Heavy Metal. A Cultural Sociology« 1991 in einer Phase der politischen und juristischen Verfolgung von Heavy Metal-Musikern und Fans in den USA, etwa durch das »Parents Music Resource Center«, entstand. Ihr gebührt daher das Verdienst, Heavy Metal als Erste in dieser Tiefe und mit wissenschaftlichem Anspruch von den Stigmata aus Politik, Kirche und Rock-Kritik in Ansätzen befreit zu haben.280 In ihrer Studie, die sich fast ausschließlich mit den 1970er Jahren beschäftigte und einen klaren Schwerpunkt in den USA aufwies, waren Ansätze der soziologischen Verortung angelegt, die sie jedoch in der Folge nicht an die Ergebnisse soziologischer und historischer Forschung anpasste. Ihr Fokus blieb stets der subkulturellen Denktradition verhaftet und die Überlegung, dass »Klasse« nicht die Grundlage, sondern ein Verhandlungsgegenstand der Metal-Kultur sein könnte, blieb trotz der Beiträge der PostSubcultural Studies weitgehend unbeachtet.281 Noch im Jahr 2011 bezeichnete sie Heavy Metal als »revolt of the repressed« und »cultural resistance«282 , um der Prekarisierung 276 277 278 279 280
Deena Weinstein, Heavy Metal. The Music and its Culture, Cambridge 2000, S. 101. Ebd., S. 120. Ebd., S. 75, 99. Ebd., S. 113–115. Zur publizistischen Wahrnehmung Weinsteins in den frühen 1990er Jahren vgl. Susan M. Barbieri, Metalheads, in: The Orlando Sentinel, 16.03.1992, S. 25; Vgl. Kira L. Billik, Heavy Metal, in: The Tampa Tribune, 21.06.1992, S. 125; Zum PMRC vgl. Claude Chastagner, The Parents’ Music Resource Center. From Information to Censorship, in: Popular Music 18 (1999) 2, S. 179–192. 281 Zentral dafür Sarah Thornton, Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital, Hoboken 1995; Für die Gegenüberstellung dieser »Schulen« der Cultural Studies vgl. Klaus Nathaus, Why ›Pop‹ Changed and How it Mattered (Part I). Sociological Perspectives on Twentieth-Century Popular Culture in the West, in: Soziopolis. Gesellschaft beobachten, 2018, URL: https://www.soziop olis.de/beobachten/kultur/artikel/why-pop-changed-and-how-it-mattered-part-i/ (letzter Aufruf 24.11.2021), S. 13–22. 282 Deena Weinstein, The Globalization of Metal, in: Jeremy Wallach/Harris M. Berger/Paul D. Greene (Hg.), Metal Rules the Globe, Durham, N.C. 2011, S. 34–59, hier S. 54f.
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einer Klasse eine proletarische Rebellion entgegenzustellen. Vollständig überholt wurde die Argumentation dann, als sie auch das Sub-Genre des Death Metal an die Existenz einer »industrial working class« knüpfte und damit ihre These von den 1970er in die 1990er Jahre verlängerte.283 Weinstein übte mit ihren Interpretationen bis in die jüngste Vergangenheit hinein großen Einfluss aus und viele Wissenschaftler versuchten im Rahmen der »Metal Studies« ihre Herangehensweise für Fallstudien zu nutzen. Was all diese Studien eint ist das Postulat einer deterministischen Beziehung zwischen gesellschaftlichem Umfeld und musikalischer Praxis. So etwa bei Harrison, der mit Methoden der »industrial geography« versuchte, räumliche Aspekte des industriellen Birminghams mit einer »Klanggeographie« zu verbinden, am Ende aber zu dem Schluss kommt, dass Heavy Metal nur in Birmingham hätte entstehen können.284 Ähnliche Argumentationen finden sich ebenso für die Metal-Szene im Ruhrgebiet und wirkten auch auf die Gründungserzählung der Thrash Metal-Szene in der East Bay of San Francisco.285 In allen Fällen führten wirtschaftliche Krisen, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit zur Entstehung von MetalMusik und Metal-Szenen – ein Blickwinkel, der in dieser Form auch von vielen Musikern selbst vertreten wird und für den exemplarisch folgendes Zitat von Martin van Drunen (Asphyx) gelten kann: Den Industriedreck kannten wir von zu Hause nicht, aber ansonsten ließ sich unsere Situation mit jener in Deutschland vergleichen. Enschede etwa war eine Textilstadt, und als dort die Werke geschlossen wurden, standen viele Menschen ohne Job da. Dieses Muster wiederholt sich in der Musikhistorie, glaube ich, gerade wenn man an die New Wave of British Heavy Metal denkt, die ja auch inmitten von Fabriken und Arbeitslosigkeit aufkam. Im Ruhrpott entstanden so für damalige Verhältnisse ungeheuer viele Bands, nicht nur die heute bekannten. Wenn es dir gut geht und du eine Familie hast, besteht kein Drang, abends laute Mucke zu machen, um Frust abzulassen.286 Weitere Wissenschaftler, die in dieser Hinsicht Weinstein folgten, waren Moore, der vorschlug, Heavy Metal als »verdinglichtes« Arbeiterbewusstsein aufzufassen und ebenfalls
283 Vgl. ebd., S. 41. 284 Vgl. Lee Michael Harrison, Factory Music. How the industrial geography and working-class environment of post-war Birmingham fostered the birth of heavy metal, in: Journal of Social History 44 (2010) 1, S. 145–158; Differenzierter und mit musikwissenschaftlichem Ansatz dagegen Andrew L. Cope, Black Sabbath and the rise of heavy metal music, Farnham 2010; Für die Aktualität dieser Verknüpfung vgl. Fabian Elsäßer, Als die Stahlindustrie den Takt der Musik vorgab, in: Deutschlandfunk Corso, 05.05.2018, URL: https://www.deutschlandfunk.de/heavy-metal-forschung-als-d ie-stahlindustrie-den-takt-der.807.de.html?dram:article_id=417337 (letzter Aufruf 24.11.2021). 285 Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 8, 26–29, mit jedoch sehr plausiblen Argumenten für die infrastrukturellen Grundlagen; Vgl. für die Szene in der Bay Area Dubin, Murder in the Front Row, 14.30 Min. 286 Holger Schmenk/Andreas Schiffmann, Kumpels in Kutten 2. Heavy Metal im Ruhrgebiet, Oberhausen 2017, S. 216.
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von einer Dominanz prekarisierter weißer Industriearbeiter ausging,287 sowie Roccor, die sich einerseits um eine Diversifizierung der sozioökonomischen Herkünfte bemühte, Heavy Metal aber dennoch als »originäre Arbeiterkultur« bezeichnete.288 Während diese Sichtweisen Teile der öffentlichen Wahrnehmung der Geschichte der Metal-Kultur bis heute bestimmen, hat sich – zum Teil in den Metal Music Studies, aber vor allem im Rahmen der Post-Subcultural Studies – ein Umdenken durchgesetzt, das jegliche Interpretation von Kultur als »Spiegel der Gesellschaft« hinterfragt. Dabei herrschen jedoch starke Unterschiede im Umgang mit der Weinstein-These. So führte Andy Brown zurecht an, dass der größte Teil der Arbeiterschaft, auch unter der Jugend, nie Heavy Metal hörte und dass für viele Jugendliche auch Langeweile eine große Rolle für die musikalische Aktivität gespielt habe. Doch hielt er dennoch an einer Verknüpfung von Hör-und Fanverhalten mit sozioökonomischen Faktoren fest, schlug eine weitere Differenzierung starrer Klassenmuster im Rahmen einer »cross-class bricolage« vor und ging davon aus, dass sich kommerziell erfolgreiche Phasen des Metals eher mit der »low-brow«-und Underground-Phasen mit der »middle-brow«-Perspektive verbinden ließen.289 Andere wiesen zusätzlich darauf hin, dass sich sozioökonomische Wandlungsprozesse in ihrer Beziehung zur Musik-Kultur besser durch eine räumliche Differenzierung betrachten lassen und Studien von Berger oder Walser zeigten erste Ansätze einer größeren Sensibilität für regionale Unterschiede in der »class«-Debatte.290 Die wichtigsten Impulse für eine Kritik und Weiterentwicklung der Weinstein-These stammen jedoch bezeichnenderweise nicht aus den »Metal Studies«, sondern von Forschern, die in unterschiedlichen Disziplinen Zweifel an der Methodik und Komplexität des subkulturellen Ansatzes äußerten.291 Zentral war dabei die Feststellung, dass Subkulturen eher eine Folge der »Subcultural Studies«, also der Perspektive der Wissenschaftler, gewesen seien und nicht der historischen Realität entsprachen.292 Die starre Konzipierung der Subkultur gegenüber einem homogenen »Anderen«, so die These, habe die interne Diversität beider »Seiten« unterschätzt. Phänomene wie die Metal-Kultur seien demnach eher fluide und fragmentierte Hybride mit historischem Entwicklungs-
287 Vgl. Moore, The Unmaking of the English Working Class; Vgl. ders., Sells Like Teen Spirit. Music, youth culture, and social crisis, New York 2009, S. 79–112. 288 Bettina Roccor, Heavy Metal. Kunst, Kommerz, Ketzerei, Berlin 1998, S. 320. 289 Vgl. Andy R. Brown, Un(su)Stained Class? Figuring out the Identity Politics of Heavy Metal’s Class Demographics, in: ders./Karl Spracklen/Keith Kahn-Harris/Niall W. R. Scott (Hg.), Global Metal Music and Culture. Current directions in metal studies, New York/London 2016, S. 190–206, hier S. 197, 202; Vgl. Andy R. Brown, Heavy Metal and Subcultural Theory: A Paradigmatic Case of Neglect?, in: Muggleton/Weinzierl (Hg.), The Post-subcultures Reader, S. 209–222. 290 Ansätze: Harris M. Berger, Metal, Rock and Jazz. Perception and the phenomenology of musical experience, Hanover, N.H. 1999, S. 289–291; Vgl. Robert Walser, Running with the Devil. Power, gender, and madness in heavy metal music, Middletown 1993, S. 18. 291 Vgl. David Hesmondhalgh, Recent Concepts in Youth Cultural Studies. Critical reflections from the sociology of music, in: Paul Hodkinson/Wolfgang Deicke (Hg.), Youth Cultures. Scenes, subcultures and tribes, New York 2008, S. 37–50, hier S. S. 37–46. 292 Vgl. David Muggleton, Inside Subculture. The postmodern meaning of style, Oxford 2000, S. 163.
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potential und könnten darüber hinaus auch nicht fest an soziale Klassen, für die dasselbe gilt,293 angebunden werden.294 Welche Möglichkeiten kann es also für eine historisch-informierte Verbindung von sozioökonomischen Ungleichheiten und der Musikkultur geben, während sich beide im Wandel befanden? Eine wäre es, den Diskurs von der Fokussierung auf den sozioökonomischen Zusammenhang zu lösen, der – wenn wir die Erwerbswege und Herkünfte der Musiker heranziehen – keine dauerhafte Anbindung der Metal-Kultur an eine KlassenReaktion auf einen Statusverlust begründen kann. Vielmehr wäre der Zusammenhang zwischen »Klasse« und Musikkultur der einer symbolisch-relationalen Ordnung, für die die Ungleichheiten von »class« nebst »gender« und »race« keine Basis, sondern Verhandlungsgegenstände darstellen. Instruktiv für ein solches Verständnis sind etwa Sarah Thorntons Studie »Club Cultures« sowie die Arbeiten Vesters, der zeigte, dass es für den Klassendiskurs immer stärker darauf ankam, welche Bedeutung den Mustern von Konsum und Lebensstil – gegenüber dem Selbst und durch Andere – zukam.295 »Klasse« ist also relational, bedeutet »sehen und gesehen werden.« Darüber hinaus wurde bereits gezeigt, dass dieser Wandel eine besondere generationelle Komponente umfasste, die sich für die Mitnahme eines Arbeiterklassen-Habitus in eine Zukunft, die immer weniger durch strukturelle Klassenschranken zu erklären war, als hoch anschlussfähig erweist – und die mit Ansätzen kulturalisierter Klassenkonflikte korrespondiert, die betonen, dass »Klasse« zunehmend zu einem »Label« und damit einer Machtressource für jene wurde, die es verstanden, sich in Szenen erfolgreich von anderen auf der Basis kultureller Elemente abzugrenzen.296 »Klasse« ist vor diesem Hintergrund in der MetalKultur weniger unter direkter Bezeichnung oder als Verweis auf Einkommen und Arbeit zu finden, sondern mit spezifischen Handlungsweisen und Interpretationen durch die Akteure verbunden, die sich eines situativ-wechselnden Setups kultureller Versatzstücke bedienten, um Distinktion zu erzeugen – wobei die Anknüpfungspunkte regionale Deutungsmuster und Erfahrungen aufnehmen konnten.297 In Anbetracht der beschriebenen Biografien der Musiker führt es weiter, wenn wir diese Ansätze historiografisch nutzen und sie dementsprechend prozessualisieren, d.h. 293 Vgl. ebd., S. 163f.; Vgl. Selina Todd, Affluence, Class and Crown Street. Reinvestigating the Postwar working class, in: Contemporary British History 22 (2008) 4, S. 501–518, hier S. 510–514. 294 Vgl. auch Sam Friedman/Michael Savage, The shifting politics of inequality and the class ceiling, in: Renewal 25 (2017) 2, S. 31–39, hier S. 32f. 295 Vgl. Sarah Thornton, Club Cultures; Vgl. Michael Vester, Soziale Ungleichheit, Klassen und Kultur, in: Friedrich Jäger/Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2011, S. 318–340, hier S. 323. 296 Vgl. Beverley Skeggs, The Re-Branding of Class. Propertising Culture, in: Devine/Savage/Scott (Hg.), Rethinking Class, S. 46–68, hier S. 62–67. 297 Dies betrifft auch den Sprachgebrauch, denn nicht überall war die Verwendung von »class« bzw. »Klasse« so ausgeprägt wie in Großbritannien und als »Labelling« mit regionalspezifischen Bedeutungen versehen. Vgl. Anna Schröder, Großbritannien – Jenseits von Stand und Klasse? Zwischen Klassengesellschaft und Individualisierung, in: Peter Berger/Ronald Hitzler (Hg.), Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert »jenseits von Stand und Klasse«?, Wiesbaden 2010, S. 97–117, hier S. 97f., 112f.; Vgl. Fiona Devine, Middle-Class Identities in the United States, in: Devine/Savage/ Scott (Hg.), Rethinking Class, S. 140–162, hier S. 161; Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 100–114.
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die Entwicklung der Metal-Kultur in den »langen 1980er Jahren« entmaterialisieren und den wichtigen Zusammenhang von Authentizität und Arbeiterklassen-Habitus als Element eines immer stärker kulturalisierten Klassenkonflikts deuten, in dem sich Teile einer breiter werdenden gesellschaftlichen Mittelschicht dem imaginierten Habitus der »working class« bedienten, um einen nahtlosen Anschluss an die Erzählungen der eigenen musikalischen Helden zu gewährleisten. Im Folgenden soll der Übergang zu diesem kulturalistischen Klassenverständnis vor dem Hintergrund der Metal-Szenen näher beleuchtet werden.
2.5.2 Soziale Mobilität Äußerungen über empfundene gesellschaftliche Ungleichheit, die Metal-Musiker in Interviews äußerten, betrafen fast ausschließlich ihre Schulzeit und thematisierten besonders die Entscheidung, ob sie nach dem Ende ihrer Schulpflicht eine weiterführende Schule besuchen sollten. Unabhängig voneinander betonten dabei alle, dass dieser Schritt deswegen als ausgeschlossen erschien, weil es schlicht ungewöhnlich gewesen wäre. So erinnert sich Rob Halford: The time was coming to leave school. I revised hard for my O levels and did OK, but I had no interest in staying on for the sixth form. Working-class kids didn’t, in those days, and I wanted to get out into the world.298 Das vorherrschende Gefühl war dabei die Vorherbestimmtheit der eigenen Entwicklung, die sich auf einen sehr überschaubaren Rahmen an Möglichkeiten beschränkte, und aus der auszubrechen – zumindest in der Mitte der 1960er Jahre – noch unmöglich erschien. Auch Biff Byford, genauso wie Halford 1951 geboren, betont dies für West Yorkshire: Where I came from you either worked in the coal mines or the textiles industry; being a musician was not an option, really. You left school, got a job, got married, had kids, retired and died. Life was pretty much pre-planned from conception to grave, if you let it.299 Die schulischen Erfahrungen zementierten diese Fremdbestimmung durch regionale Traditionen der »working class« von Beginn an, indem die soziale Zusammensetzung der Schulen anscheinend relativ homogen aus Kindern der Industriearbeiter bestand300 und eskapistischen Zukunftsentwürfen, zu denen vor allem Musiker und Fußballer gehörten,301 schulisch wie familiär Skepsis entgegenschlug.302 Spätestens mit dem Schul-
298 Halford, Confess, S. 30. 299 Byford, Saxon. Never Surrender, S. 5. 300 Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 198. John Gallagher: »… there were no rich kids at my school. There were a couple of kids that were really poor, but everybody else was on an equal footing. All our dads worked in factories – that’s it.« 301 Vgl. Interview Brian Tatler, 24.35-24.49 Min. »It’s escapism. Like football, you wanna be a famous footballer, I wanted to be a famous guitar player. Working class escape.« 302 Vgl. Andrew Liles, Steve Zodiac.
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abschluss stand für die Jugendlichen dann fest, dass es gegen geltende Normen verstoßen würde, ein Studium oder gar kreative Karrieren anzustreben. Rob Fioretti (Kreator) ordnete sich selbst wie alle anderen in der Klasse für den leichteren Abschluss ein, da man, wenn die eigenen Eltern Bergleute waren, sowieso zu 80 % ins Handwerk ging303 und genauso wie in Essen galt es auch in Newcastle als Kuriosität, wenn ein Schulkamerad an eine Universität wechselte.304 Das Schicksal nach Abschluss auf einer dieser »feeder schools« schien festzustehen: But that was the plan, that was the plan from the age of five. To feed you guys towards the shipyards and pits and all of the heavy industry that supported the shipyards and pits.305 Die weitere Verfolgung der Lebensläufe der Musiker macht jedoch bereits für die späten 1960er und die 1970er Jahre deutlich, dass die Herkunft aus der Arbeiterklasse und die Schulzeit auf einer »feeder school« nicht automatisch in einer lebenslangen Erfahrung der Industriearbeit endeten. Wie oben gezeigt, rekrutierten sich die Bands aus einer Mischung von industriellen, Handwerks-und Dienstleistungsberufen und der voranschreitende Strukturwandel ging für jede der Regionen, die große Metal-Szenen hervorbrachte, neben schweren Einschnitten auch mit einer sozialen Mobilität einher, an der auch die Musiker partizipierten.306 Wie früh dabei bereits die Trennung einer industriellen Arbeitserfahrung von ihrer kulturellen Instrumentalisierung einsetzte, symbolisiert wiederum Rob Halford, der nie manueller Erwerbsarbeit nachging und früh Interesse für kreative Tätigkeiten zeigte, aber dennoch zu den größten Verfechtern der Weinstein-These unter den Musikern zählt. Sein permanenter Rekurs auf die industrielle Lebenserfahrung seines Heimatortes Walsall und dessen Einflüsse auf die Musik der Band Judas Priest entsprang also schon nicht mehr einer direkten Arbeitserfahrung oder Teilhabe an der »working-class-community« – es waren bereits Erfahrungen aus zweiter Hand oder schlicht Imaginationen von industrieller Arbeit, die hier Einzug in das in Musik gegossene Selbstverständnis fanden.307
303 Vgl. Bender, Violent Evolution, S. 41. 304 »You go to college? What’s what? I knew three people that went to college and they came back and ended up working bullshit jobs right afterwards.« Popoff, Wheels of Steel, S. 198. 305 Interview John Roach/Maurice Bates, 16.32-16.45 Min. 306 Vgl. Anthony Heath/Clive Payne, Social Mobility, in: Albert H. Halsey (Hg.), Twentieth-century British social trends, Basingstoke 2000, S. 254–279. Es sollen dem durch Abstiegserfahrungen konnotierten Deindustrialisierungsprozess hier keine romantischen Aufstiegserzählungen entgegengestellt werden – es ist jedoch wichtig, das prekäre Narrativ von der Metal-Kultur auch an solchen Akteuren zu überprüfen, die als Gewinner des Strukturwandels interpretiert werden können. Vgl. Christian Marx/Morten Reitmayer (Hg.), Gewinner und Verlierer nach dem Boom. Perspektiven auf die westeuropäische Zeitgeschichte, Göttingen 2020. 307 Offensichtlich wurde dies bei Halfords Einordnung des Albums »British Steel« (1980), das er wie ein Werk für jene Krisengeschüttelte adressierte, zu denen er sich aber nicht zählte: »British Steel could almost have been called The Almanac for a Teenage Rebel. People were a bit down-spirited in the UK. Nothing was going particularly well. So, it was the kind of album that send out waves to everybody that said, ›There’s good things ahead, and we knew how you feel, and we were all
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Die Interviews mit den Musikern haben in diesem Kontext ergeben, dass es neben neomarxistischen Interpretationen der eigenen musikalischen Karriere im Sinne Weinsteins auch solche Akteure gibt, die – bewusst oder nicht – vor einer allzu engen Verknüpfung von Deindustrialisierungsfolgen und Metal-Musik zurückschrecken. Aussagen wie jene von Harry Hill oder Waldemar Sorychta308 sind dabei mit individuellen Erfahrungen verbunden, die sich schlecht mit einem Niedergangsnarrativ vereinbaren lassen. Denn soziale Aufwärtsmobilität gehörte – wenn nicht erst für die Musiker, dann bereits für ihre Eltern – keineswegs zu den Ausnahmen und kennzeichnete viele familiäre Entwicklungen.309 Halford umreißt dies mit Blick auf die Karriere seines Vaters: Like all working-class Black Country men, my dad worked in the steel factories. He started out as an engineer at a firm called Helliwells, who made airplane parts and were based at Walsall Aerodrome – now long gone. […] After Heliwells, my dad moved on to a steel-tubing factory. When a colleague left to form a new company, Tube Fads, Dad joined him. He left the shop floor to become a buyer, and we stopped growing spuds in our garden and got a dinky little lawn with a path down the middle. We also got a car. It felt really special.310 Wie Halford betonen viele der Musiker die gestiegenen Möglichkeiten für Kinder aus der Arbeiterklasse in den 1970er Jahren und verweisen besonders auf die Öffnung der Universitäten. Gleichzeitig machen sie aber auch unmissverständlich klar, dass sich an den Grundüberzeugungen, Einstellungen und Gewohnheiten durch diesen Umstand nichts änderte. Die »working class« blieb die »working class«, egal wie gut ihre Träger ausgebildet waren oder wie viel sie verdienten. Was Kevin Riddles im Folgenden beschreibt, ist dennoch nur eine vermeintlich kontinuierliche Erzählung – viel eher weist er auf den Beginn des Auseinanderdriftens von struktureller und habitueller Ungleichheit hin, an dem die Metal-Kultur andocken konnte: At the time, a lot of working-class people were able to access university. So, they may have been as intellectual and intelligent as they had always been, but up to that point they had really been excluded from the universities, for whatever reason. But because of the growing social mobility they came in in the early 50s through to the 60s and to the 70s. People could aspire to those things and it was an aspiration for workingclass people to go to university. Even when they got there, they were still workingclass people and they still had working-class values and interests I suppose. So, they still liked football, they still liked drinking.311
feeling it the same.‹ I think the fans wanted somebody or something to look up to and, lucky for us, they turned to Priest and British Steel.« Wiederhorn/Turman, Louder Than Hell, S. 90. 308 Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 07.35-07.59 Min.; Vgl. Interview Fist, 30.10-30.43 Min. 309 So bei John Roach, Kevin Riddles, Steve Zodiac, Sabina Classen, Harry Hill, Rob Halford, Terry Jones. 310 Halford, Confess, S. 7. 311 Interview Kevin Riddles, 41.53-42.27 Min.
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Die simpel anmutende Feststellung, dass Personen, deren berufliche Lage sich langsam verbesserte, dennoch an ihren Vorlieben festhielten und diese vielleicht sogar mit mehr Verve verfolgten als zuvor, begründet letztlich auch den Wandel des Klassenverständnisses in der Metal-Kultur. Der Abbau sozialer Distanz zwischen den ehemals festen Konstellationen »Mittelklasse« und »Arbeiterklasse«, der hier in einer seiner Grundbedingungen – der Angleichung der Bildungschancen – angesprochen wird, ist von zahlreichen Autoren als eines der Kernmerkmale der 1970er Jahre adressiert worden.312 Innerhalb dieses gesellschaftlichen Wandels hatten jugendliche Vergemeinschaftungen wie die Metal-Szenen deshalb einen festen Platz, weil sie wie eine Brücke wirkten: den aufgestiegenen Kindern aus der Arbeiterklasse diente die Metal-Kultur als Mittel biografischer und habitueller Kontinuität – den Mittelklasse-Jugendlichen als Beteiligung an einer empfundenen Authentizität der Szenen. Beiden ermöglichte sie unter den Bedingungen sozialer Mobilität ein Zusammenkommen, bei dem es weniger um altes Statusdenken, sondern um die Frage ging, ob man die Musik genauso verehrte wie der Gegenüber und ob man für seinen Lebensunterhalt arbeitete oder nicht.313 Einige Bands um 1980 lassen sich bereits als Ausdruck dieser veränderten Beziehung lesen, indem sie Musiker aus unterschiedlichen Klassen vereinten – etwa Judas Priest oder Girlschool. Dass die Musikerinnen bei Girlschool die soziale Distanz ihrer Schulformen überwanden, während bisher eine homogenere Rekrutierung der Bands vorgeherrscht hatte, deutet diesen Charakter der Metal-Kultur als »cross-class-bricolage« an.314
2.5.3 Die Erschließung der Mittelklasse und das kulturelle Klassenverständnis 1989 konnte man im Spiegel Erstaunliches lesen: »Heavy Metal, vom Ruch der Hirnlosigkeit befreit, wird nun auch von Bürgerkindern konsumiert.«315 Bisher wäre die Musik, so der anonyme Autor, das »Rückzugsgebiet der Denkfaulen« gewesen, mit dem positiven Gegenentwurf in »seriösen Popkonsumenten.« Dass diese despektierliche, aber in ihrem Informationswert korrekte Feststellung ausgerechnet am Ende der 1980er Jahre erschien, war kein Zufall. 1989 dominierte Heavy Metal-Musik die US-Charts und auch Kritik in den deutschen Zeitungen verschloss sich dem Phänomen nicht mehr völlig,316 aber was am wichtigsten war: Es wurde nun augenscheinlich, was sich während des ganzen Jahrzehnts zuerst in Großbritannien angebahnt und dann über die »westlichen« Länder ausgebreitet hatte. Heavy Metal und die entstandenen Sub-Genre wiesen
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Vgl. Matthew Hilton/Chris Moores/Florence Sutcliffe-Braithwaite, New Times Revisited. Britain in the 1980s, in: Contemporary British History 31 (2017) 2, S. 145–165, hier S. 146, 157. Vgl. Stefan Goch, Betterment without Airs. Social, Cultural, and Political Consequences of Deindustrialization in the Ruhr, in: International Review of Social History 47 (2002) 10, S. 87–111, hier S. 97f. »I went to grammar school, […]. Denise and Kim went to two local comprehensive schools in the same catchment area. They hated my school because we were all so intelligent.« Mark Dean, Interview: Girlschool, in: Anti Hero Magazine, 2016, URL: https://www.antiheromagazine.com/inte rview-with-girlschool/ (letzter Aufruf 24.11.2021). Anonym, Der letzte Hammer, in: Der Spiegel (1989) 2, S. 152f. Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 148; Ein Wandel der Heavy Metal-Kritik deutete sich um 1990 etwa in der »Süddeutschen Zeitung« und der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« an. Vgl. dazu Kap. 6.
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keinen klaren sozialen Schwerpunkt mehr auf und inkludierten eine breite Mischung sozioökonomischer Herkünfte. Um zu verstehen, »wie es so weit kommen konnte«, denn nur so war der Artikel im Spiegel zu verstehen, ist es hilfreich, den gesellschaftlichen Strukturwandel und das entstehende Vergemeinschaftungsangebot in Form der MetalSzenen als sich gegenseitig verstärkende Phänomene im Leben von vielen – aber sicher nicht allen – Metalheads zu begreifen. Die empfundene Authentizität der Bands, gepaart mit deren Individualität und »ordinariness« wurde seit den frühen 1980er Jahren auch für Mittelklasse-Jugendliche wichtig, die damit die Abkehr von der überkommenen »class snobishness« ihrer Eltern mit neuen Medienpraktiken, Bildungschancen und dem Wunsch nach individueller Selbsterfüllung verbinden konnten.317 Hinzu kam auch eine sprachliche Überwindung der Klassenschranken, indem vor allem die jungen Menschen nun das Vokabular und die Redeweise der Arbeiterklasse adaptierten, um soziale Grenzen zu reduzieren und nicht mehr zu betonen. Vermittelt von Sportlern, Medienvertretern und wahrscheinlich auch Musikern schaute die Mittelklasse nun eher »nach unten« für Muster, die eine Abkehr von elitärem Habitus versprachen.318 Für Jugendliche aus der Arbeiterklasse, die zunehmend in den Genuss universitärer Bildung und Dienstleistungsjobs kamen und die Elemente der »working-class community« hinter sich ließen,319 offenbarte sich die Verehrung von Metal-Bands, die an diese alten Ideale symbolisch anknüpften, dagegen als Kontinuitätsversprechen. Wenn ein Journalist wie Garry Bushell, selbst aus der »working class« Londons und ein sozialer Aufsteiger, die soziale Zusammensetzung eines Konzertes von Iron Maiden beschrieb, dann war das, was er beschrieb, daher das, was er sehen wollte: Someone like Iron Maiden came along and they were exactly the same as the kids in the audience. They were young, they were all working class, their music was wild, it was heavy, it was direct. […] they were loud, they were just as blue collar as you can be. The atmosphere of those early Maiden gigs was very much like the working class that was at punk gigs.320 Bushells Einschätzung widerspricht dabei nicht nur den Aussagen anderer Akteure aus der NWOBHM in London – sie vernachlässigt auch absichtlich, dass die Musiker einer Band wie Iron Maiden, die bereits im November 1979 einen Major-Plattenvertrag mit EMI abgeschlossen hatten, natürlich nicht mehr der sozioökonomischen Zusammensetzung ihres Publikums entsprachen. Im Kontext der beschriebenen Erwerbsbiografien muss
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Vgl. Sutcliffe-Braithwaite, Decline of Deference, S. 9. Vgl. Brian Howard Harrison, Finding a Role? The United Kingdom, 1970–1990, Oxford 2010, S. 145; Schön früher festgestellt durch Eric Hobsbawm: Vgl. Thorsten Hindrichs/Andreas Linsenmann, Zum Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung – Hobsbawm, Newton und Jazz, in: dies. (Hg.), Hobsbawm, Newton und Jazz. Zum Verhältnis von Musik und Geschichtsschreibung, Paderborn 2016, S. 7–29, hier S. 18f. 319 Für Newcastle vgl. Robert Hollands, From Shipyards to Nightclubs: Restructuring Young Adults’ Employment, Household, and Consumption Identities in the North-East of England, in: Berkeley Journal of Sociology 41 (1996/97), S. 41–66. 320 Popoff, Wheels of Steel, S. 59.
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sogar vermutet werden, dass sich die Musiker und das Publikum seit der NWOBHM zunächst voneinander trennten. Ohne eine genauere Analyse der sozialen Zusammensetzung der Heavy Metal-Hörerschaft in den 1980er Jahren bleibt dies jedoch eine Vermutung, die von einigen Aussagen der Musiker gestützt wird. So interpretiert Scott Reigel (Brutality) aus Tampa das Verhältnis folgendermaßen: There are a lot of people out there that are probably listening to this music that are more lower-class than the people that are actually performing it, you know.321 Aussagen wie diese sind jedoch nicht ohne Grund sehr selten und werden höchstens mit einem zeitlichen Abstand von 30 Jahren getätigt. Denn während der 1980er Jahre war es gerade nicht der Wunsch der Musiker, als Mitglieder einer aufgestiegenen neuen Mittelklasse zu erscheinen. Es ging darum, einen Plattenvertrag zu unterschreiben – doch mit Reichtum oder der empfundenen Rockstar-Attitüde und Unnahbarkeit der Rock-Musiker der 1970er Jahre wollte man nicht assoziiert werden.322 Daher galt es, den Eindruck der Egalität von Musikern und Publikum möglichst aufrechtzuerhalten und Aussagen, die im Sinne einer »snobbishness« von Klassenschranken interpretiert werden könnten, zu vermeiden. Der Kommentar von Jess Cox (Tygers of Pan Tang), dass die Band versucht habe, Lyrics zu schreiben, die »a bit outside of the box« waren, da die Musiker »clevere« College-Absolventen waren, dürfte daher schon das höchste der Gefühle gewesen sein.323 Offenbar war man sich darüber bewusst, ein »bildungsbürgerliches« Selbstbewusstsein genauso wie einen elitären Habitus öffentlich möglichst verbergen zu müssen, um weiterhin an der Authentizität des Genres zu partizipieren. Der damit einhergehende Spagat bedeutete für die Musiker einerseits, an der egalitären »working class«-Illusion festzuhalten, diese aber andererseits mit dem Streben nach Erfolg, der immer auch finanziell konnotiert war, zu vereinbaren. In einer selten so deutlichen Form machten dies Steve Harris und Paul Di’Anno (Iron Maiden) deutlich: Für sie stand fest, dass sie ihren Hintergrund in der Arbeiterklasse hinter sich lassen wollten: »We take our background for granted, it’s the thing we wanna get away from«, um postwendend zu bemerken: Punk was s’posed to be working class… but most of the people in it were middle class… We’d never fit in with them cos we don’t put on false airs.324 Es ging folglich darum, Wege zu finden, um den Anspruch, sich nicht »aufzuspielen« und authentisch zu bleiben, mit einer Karriere im Musikbusiness in Einklang zu bringen. Während eine Band wie Iron Maiden dabei über mehr als 40 Jahre sehr erfolgreich war, traf die offensichtliche Imbalance beider Anforderungen eine Band wie Metallica in den Augen vieler Fans umso härter.325 321 322 323 324
Interview Scott Reigel, 18.55-19.10 Min. Vgl. Wall, Run to the Hills, S. 99, 140, 152 (hinsichtlich des Verhaltens von Iron Maiden). Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 209. Steve Waksman, This Ain’t the Summer of Love. Conflict and crossover in heavy metal and punk, Berkeley 2009, S. 200. 325 Der entsprechende Wikipedia-Artikel »Selling Out« erwähnt die Band sogar explizit und ausführlich. URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Selling_out (letzter Aufruf 24.11.2021).
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Grundsätzlich hat jeder der interviewten Musiker eine individuelle Art und Weise gefunden, um mit diesem Spagat umzugehen, wobei eine Strategie besonders ins Auge fällt. So wurde es vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Verschiebung der Metal-Kultur in die Mittelklasse tendenziell schwieriger, im gewünschten Licht zu erscheinen, weshalb Musiker, besonders aus den USA und Skandinavien, zwar die »middle class«-Herkunft nicht verhehlen, aber postwendend betonen, dass es sich bei den Eltern dennoch um hart arbeitende Menschen gehandelt habe. In einem wohlbehüteten und finanziell gesicherten Umfeld aufgewachsen zu sein, stellt offensichtlich ein Authentizitätsproblem dar. Rob Yench formulierte in diesem Kontext: »We all kind of came from the same backgrounds. Lower to middle class families. Hard working families. Blue collar.«326 Eric McIntire (Attitude Adjustment) aus Walnut Creek (Kalifornien) meint: »Well, I think all of us were ›working-class‹ to an extent.«327 Und Fred Estby (Dismember) resümiert für Stockholm: I mean, our parents were kind of middle-class, but no one that I knew had parents that were really wealthy, you know. Everybody had parents who worked hard.328 Die Ausbreitung dieser Taktik, die eigene Herkunft zu verhandeln, bedeutete nicht, dass im Laufe der 1980er Jahre sämtliche Musiker einen gutsituierten Mittelklasse-Background aufwiesen. Genauso wie die Szenen als solche blieben auch Bands durchaus von einer Mischung individueller Verhältnisse geprägt, die noch eine Differenzierung zwischen den Klassen rechtfertigten. So gab die Band Massacre aus Orlando 1986 in der Tampa Tribune an: »Half of the band graduated from high school, half didn’t. Half live at home with understanding parents, half don’t. None have ›normal‹ jobs. All are musically self-taught.«329 Und fünf Jahre später wurde ein Redakteur der Tampa Bay Times Zeuge einer Diskussion zwischen den Death Metal-Musikern Kam Lee und Mark Odechuk vor einem Konzert in Tampa: »Most of us don’t come from happy families«, says Kam Lee, vocalist for Massacre, who has traveled from Orlando for the show. »Our parents are split up. I was abused a lot. At 15 and 16, you get rebellious, sometimes too wild, then you learn self-control.« »No, man! You can’t generalize about our backgrounds like that,« says Mark Odechuck of Paineater, sparking a chorus of agreement. An irony is emerging. These are metal musicians and aficionados who hang out on the tip of society, yet part of them wants to be considered, well, normal.330 Auch wenn der Autor die Verhältnisse – »on the tip of society« – überzeichnete, fiel ihm dennoch auch hier die »Ironie« auf, bestimmten Authentizitätsvorstellungen entspre-
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Interview Rob Yench, 38.18-38.28 Min. Interview Eric McIntire, Z. 15. Interview Fred Estby, 04.45-05.01 Min. Greg Fulton, Massacre hopes underground is ticket to top, in: The Tampa Tribune, 23.05.1986, S. 53. Eric Snider, Princes of Darkness, in: Tampa Bay Times, 21.04.1991, S. 65, 70.
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chen zu wollen, die in Florida anscheinend hießen »normal« zu sein. Es wäre zu viel gesagt, dem Eindruck des Autors hier zu folgen und das Bild einer gelangweilten jugendlichen Mittelklasse zu zeichnen, die nach der Highschool an rebellischen Gesten interessiert war. Dazu waren auch die Herkünfte in Florida noch zu divers und die Musikkultur würde zum Instrument des sozialen Status reduziert. Dennoch weist die argumentative Problematik in Florida und auch in Stockholm, den individuellen sozialen Background im Sinne der Szene zu »frisieren«, darauf hin, dass das kulturalisierte Klassenverständnis der Metal-Kultur erhebliche Anpassungsschwierigkeiten hervorrufen konnte. Lee Harrison ging auch aus diesen Gründen nicht weiter darauf ein und beließ es bei der Feststellung, dass es eben »not Bruce Springsteen music«331 gewesen wäre. Zeitlich etwas versetzt zu den Musikern begannen sich auch die sozioökonomischen Grundlagen der Metal-Fans zu verändern. Dies deutete sich bereits in den späten 1970er Jahren an, indem das Publikum einerseits immer jünger wurde. Biff Byford bemerkte etwa mit Saxon »a big influx of schoolkids, young kids, getting into the music.«332 Andererseits veränderten sich auch die Spielstätten und die Tourneen der NWOBHM-Bands führten nun neben den Pubs und Working Men’s Clubs auch durch die Colleges, für die sich ein eigener »college circuit« etablierte. So traten Saxon auf der »Wheels of Steel« Tour 1980 bereits verstärkt in Universitäten und Discos auf333 – Gleiches galt für die Bands im Nordosten und die Hochschuleinrichtungen in Newcastle, Durham und Sunderland.334 Über metal-begeisterte Studenten, die sich als Booker betätigten, fanden die Bands Anschluss an ein neues Netzwerk von Spielstätten, das auch ihre soziale Reichweite deutlich vergrößerte. Alan Jones (Pagan Altar) beschreibt, wie er mit seinem Vater ein solches Engagement erreichte und welche Vorteile damit für die Band verbunden waren: We managed to get on the College circuit in the very late 70's possibly 1979 at Woolwich polytechnic which was quite close to where we lived. Me and my dad went into the college with a tape, Probably Highway Cavalier and the Time Lord and saw the head of bookings for the college who had long hair so we thought we may be in with a chance. He liked the tape and booked us which is pretty much how AC/DC got its core following in this country. If they liked the band you would get the local collages [sic!] then word would spread further. We were supposed to play Manchester Poly in 1980 but had to cancel because my little sister Rachael was born the day before.335 Die Ausbreitung der NWOBHM-Bands in das Studentenmilieu war indes nicht bloß eine quantitative Erweiterung der Hörerschaft, sondern ging – aufgrund der zeitlichen Flexibilität, internationalen Vernetzung und Bereitwilligkeit zur Weiterbildung – auch mit einem kommunikativen Wandel einher: Denn wie in Kapitel 6 gezeigt wird, betätigten sich vor allem Studenten als Tape Trader und Fanzine-Herausgeber, globalisierten die Reichweite der Musik und bildeten »proto-markets«. Neben den Universitäten vermischten sich die »walks of life« um 1980 auch in den entstehenden, auf Heavy Metal 331 332 333 334 335
Interview Lee Harrison, Z. 104f. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 51. Ebd., S. 67. Vgl. Interview Fist, 34.55-35.48 Min. Interview Alan Jones, Z. 28–35.
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spezialisierten Clubs, von denen das Soundhouse in London-Kingsbury den ersten seiner Art darstellte. Neal Kay, der dort zunächst als DJ und dann als Betreiber fungierte, hielt über die Zusammensetzung seiner Besucher fest: The cross section of the audience came from all different walks of life. They were not just working class heroes. The odd thing was that they crossed into hierarchy as well. Hell, we had a rocket scientist. We had a geologist from the oil rigs used to come and see us. We had a total cross section of humanity that expressed a love and desire, a spirit, a total lifestyle given over to rock. […] They came from everywhere. From across the Irish Sea, from Scotland, from Wales, lunatics from Norway, maniacs from Europe.336 Die wenigen Untersuchungen, die zur sozialen Herkunft der Metal-Fans angestellt wurden, häufig aber auf Vermutungen beruhen, weisen darauf hin, dass sich die Zugehörigkeit zu Metal-Szenen während der 1980er Jahre noch weiter an Jugendliche der breiter werdenden Mittelschicht knüpfte, wobei regionalspezifische Dynamiken festzustellen waren – während parallel bereits eine langsame Alterung der Fans zu erkennen war.337 Für all diese Metalheads war – genauso wie für die Musiker – die Bedeutung von Klassenbeziehungen für ihr Denken nicht verschwunden, hatte sich aber von einer materiellen Grundlage zu einem Habitus, der in der Metal-Kultur verhandelt wurde, verschoben. Den entscheidenden Unterschied, der damit im Vergleich zu den 1970er Jahren für die Metalheads einherging, adressiert Chris Pervelis treffend als die Differenz zwischen »blue collar in nature« und tatsächlichen Arbeiterklasse-Backgrounds: As time went by, metal generally attracted people who generally blue collar in nature — or came from blue collar backgrounds. There were certainly exceptions to the rule, I know many upper middle-class kids who fell in love with metal, and I think that had to do with feelings of alienation and a longing for a sense of belonging.338 Der hier skizzierte historische Wandel, für den unter anderem die Ablösung von »Jugendsubkulturen« durch »Jugendkulturen« als Bezeichnung vorgeschlagen wurde,339 ordnete sich in eine Entwicklung der westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften ein, die unter verschiedenem Vokabular und in unterschiedlicher Brisanz diskutiert wurde. So erklärten britische Politiker im Jahr 1990 »Klassen« für tot, während mehr als die Hälfte der Menschen in Umfragen angab, Teil einer »Klasse« zu sein340 und sich klassengesellschaftliche Deutungsmuster erstaunlicherweise besonders unter den
336 Popoff, Wheels of Steel, S. 84. 337 Vgl. Roccor, Heavy Metal, S. 146–151; Vgl. Natalie J. Purcell, Death Metal Music. The passion and politics of a subculture, Jefferson, N.C. 2003, S. 108–113; Vgl. Walser, Running with the Devil, S. 18. 338 Interview Chris Pervelis, Z. 63–67. 339 Vgl. Wilfried Ferchhoff, Jugend und Jugendkulturen, in: Thomas Rauschenbach/Stefan Bormann (Hg.), Herausforderungen des Jugendalters, Weinheim 2013, S. 44–68, hier S. 66f. 340 Vgl. Selina Todd, The people. The rise and fall of the working class, 1910–2010, London 2014, S. 338f.
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Jüngeren verstärkt artikulierten.341 Dass dabei vor allem die »working class« als »mental map« erhalten blieb,342 hatte mit der Eigentümlichkeit der 1970er und 1980er Jahre zu tun, in denen ein Abschleifen struktureller Klassenlagen, ein Missfallen an überkommenen Hierarchien, Individualisierungstendenzen und die Kritik am »Establishment« zusammenfielen343 und damit gewissermaßen ein Identitätsvakuum erzeugten. Musikkulturelle Angebote wie die Metal-Kultur erfüllten in dieser Phase einen durchaus innovativen Zweck, indem sie eine zeitlich nicht gebundene Verlängerung versprachen und das Vakuum dementsprechend füllten. Nilsson hat in diesem Zusammenhang treffend von einer »Neubewertung des kulturellen Kapitals der Arbeiterklasse«344 gesprochen, die besonders die Anti-Respektabilität als symbolisches Aushängeschild positiv umcodierte und auf diese Weise das Narrativ der »proud pariahs« schuf.345 Mit der weiteren strukturellen Entfernung der Metalheads von den zelebrierten Grundlagen der »working class community« driftete die Metal-Kultur schließlich immer weiter in einen Status der Imagination,346 die ihren oppositionellen Elan und Kontinuitäten zu den Vorbildern beschwor, die längst keine Alltags-Basis mehr besaßen und in der das industrielle Zeitalter tatsächlich nie untergegangen war. In den Köpfen seiner Träger blieb Metal daher stets eine Subkultur im Sinne des CCCS und wird bis heute so als Selbstbezeichnung verwendet. Patrick Williams sprach in diesem Zusammenhang von einer Verknüpfung von Mythisierung und Authentizität – mahnte aber zurecht an, diese Konstruktion nicht als Realitätsferne zu disqualifizieren, da es nicht darauf ankomme, auf welcher Grundlage die Vergemeinschaftung stattfindet, wenn ihre Träger sich als solche verstehen und dementsprechend handeln.347 Dass sich die Metal-Kultur hinsichtlich der sozialen Herkünfte als wesentlich inklusiver erwies als hinsichtlich der Faktoren »race« oder »gender« hat schließlich damit zu tun, dass sich letztere Faktoren 341
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Vgl. Rolf Becker/Andreas Hadjar, Das Ende von Stand und Klasse? 25 Jahre theoretische Überlegungen und empirische Betrachtungen aus der Perspektive von Lebensverläufen unterschiedlicher Kohorten, in: Berger/Hitzler (Hg.), Individualisierungen, S. 51–72, hier S. 65–68. Vgl. Ben W. Jones, The working class in mid twentieth-century England. Community, identity and social memory, Manchester/New York 2012, passim.; Vgl. Martina Böse, ›Race‹ and Class in the ›Post-subcultural‹ Economy, in: Muggleton/Weinzierl (Hg.), The Post-subcultures Reader, S. 167–180, hier S. 178. Vgl. Emily Robinson/Camilla Schoefield/Florence Sutcliffe-Braithwaite/Natalie Thomlinson, Telling stories about Post-war Britain. Popular Individualism and the ›Crisis‹ of the 1970s, in: Twentieth Century British History 28 (2017) 2, S. 268–304, hier S. 268, 287, 302. Vgl. Magnus Nilsson, No Class? Class and Class Politics in British Heavy Metal, in: Bayer (Hg.), Heavy Metal in Britain, S. 161–179, hier S. 166f. Vgl. Liam Dee, The Brutal Truth. Grindcore as the Extreme Realism of Heavy Metal, in: Bayer (Hg.), Heavy Metal in Britain, S. 55–70, hier S. 57: »The class-based restrictions of cultural resources was not just a barrier to be overcome but a demarcation to be celebrated in the gritty minimalism of timbre over pretentious melodic excess.« Zur »working class« als Konstruktion, hier der Wissenschaft, vgl. Michael Savage/Gaynor Bagnell/Brian Longhurst, Local Habitus and Working-Class Culture, in: Devine/Savage/Scott (Hg.), Rethinking Class, S. 95–122, hier S. 121. Vgl. Patrick Williams, Myth and Authenticity in Subculture Studies, in: Bart van der Steen/Thierry P. F. Verburgh (Hg.), Researching subcultures, myth and memory, Cham 2020, S. 35–53, hier S. 53. »Subcultures become authentic when young people imagine them as such, and then act on those meanings.«
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im fluiden Geflecht von »sehen« und »gesehen werden« der kulturellen Machtressourcen nicht in gleicher Form manipulieren ließen. In der musikalischen und sozialen Praxis der Metal-Szenen artikulierten sich diese kulturalisierten Klassenfragen in zeitlich und regional sehr unterschiedlichen Arten, von denen hier sieben abschließend kurz beschrieben werden. a.) Vorbehalte gegen »Neulinge« und »Quereinsteiger«. Fragen der »Klasse« wurden in Metal-Bands meistens dann verhandelt, wenn neue Mitglieder aufgenommen werden mussten oder sich Bands erstmals trafen. Entscheidend war dabei, dass die Evaluation nicht nur die naheliegenden Qualifikationen prüfte – technische Fähigkeiten, Performance, Ausstrahlung –, sondern Charakterfragen an die soziale Herkunft knüpfte, empfundene Defizite zur »Klassenfrage« erklärte und generell prüfte, ob sich der Gegenüber im Einklang mit den regional geltenden Authentizitätsvorstellungen befand. Bereits als Glenn Tipton 1974 bei Judas Priest einstieg, führten die Bandkollegen – so Halford – seinen Mangel an Offenherzigkeit und Geradlinigkeit auf seine Herkunft zurück: Background-wise, Glenn was a bit different from us. Where we were all council-estate lads, he came from a nice part of Birmingham and was more middle class. He seemed like a thoughtful guy, slightly apart, who kept his cards close to his chest.348 Wie in Kapitel 4 näher beleuchtet wird, entzündeten sich an Neueintritten häufig Neckereien, die den neuen Bandkollegen »auf Herz und Nieren« prüften und auch oft auf soziale Herkünfte rekurrierten. Als Nigel Glockler 1981 Pete Gill am Schlagzeug bei Saxon ersetzte, sah er sich für eine längere Zeit Scherzen und Sprüchen ausgesetzt, die ihn als Südengländer und ehemaligen Schüler einer »public school« »aufs Korn nahmen«,349 während Rod Smallwood, der Manager von Iron Maiden, mit einem Türschild vom Schnitt des Albums ausgeschlossen wurde, das sagte »No northern managers welcome.«350 Deutlich direkter ging es dagegen zu, als Scott Ian und Dan Lilker (Anthrax), beide aus Queens, einen Schlagzeuger suchten und versuchten, Charlie Benante, der in der Bronx lebte, zu einem Beitritt zu bewegen. Die räumlich-sozialen Vorbehalte des Drummers (»these rich kids from Queens that get whatever they want«351 ), konnte Ian erst ausräumen, indem er nachwies, dass er in Vollzeit arbeiten ging. Während es sich bei diesen Beispielen um gegenseitige Überprüfungen bzw. Tests sozialer Kompatibilität handelte, die lediglich eine Band betrafen, existierten aber auch Musiker, die herausfinden wollten, ob eine andere Band zum sozialen Image der Region passte. Als die Band Holy Moses aus Aachen beispielsweise ihr erstes Konzert im Ruhrgebiet spielte, unterzog der Frontmann von Sodom, Thomas Such, die Sängerin Sabina Classen einem Test in Sachen Traditionsbewusstsein:
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Halford, Confess, S. 65. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 120. Vgl. Wall, Run to the Hills, S. 227. Vgl. Ian, I’m the Man, S. 55.
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Wir haben dann die ersten Shows zum Beispiel mit Sodom zusammen gespielt und damit halt die Bands kennengelernt. Am Anfang, muss ich ganz ehrlich sagen, war das so ein bisschen »Oh, das ist ne Band aus Aachen«, und wir waren halt alle, wir hatten halt alle Abi und ein Teil von uns studierte bereits und im Ruhrpott war das ja eigentlich eher so ne Underground-Szene auch von den Arbeiterkindern. Und wir wurden erst so ein bisschen belächelt nach dem Motto »Oh, die Gymnasiasten da« [lacht], »Gymnasiasten-Thrash«, und dann haben sie aber gemerkt, dass wir jetzt damit nicht anders drauf waren als die. Mein erstes wunderbares Gespräch war eigentlich damals mit Tom Angelripper, als ich ihn kennenlernte, und er so scheinbar ein bisschen überprüfte, wie sind eigentlich die Aachener Thrasher drauf. Und er hat etwas von der heiligen Barbara erzählt und dann hab ich sofort gesagt »Ja, die Schutzpatronin der Bergleute«. Und da war er sehr verwirrt und meinte »Woher weißt du das?« Und ich sag »Mein Vater ist Bergmann gewesen.« Mein Vater war Steiger im Randgebiet vom Ruhrgebiet, in der Selfkant. Er hat halt später studiert und ist Elektroingenieur geworden, aber er hat seine Ausbildungen bis zum Steiger unter Tage gemacht. Und das war so der Moment, wo wir in der Szene im Ruhrpott auch aufgenommen worden sind.352 Der rasante Abbau von Vorurteilen durch gemeinsam geteilte soziale Erfahrungen veranschaulichte in diesem Fall die enge Verknüpfung von musikalischer Authentizität und sozioökonomischer Herkunft in der Metal-Szene des Ruhrgebiets, die sich besonders dort und in den Szenen des »rust belts« im Nordosten der USA auch noch in anderer Form zeigte. b.) »Reclaiming working class culture.«353 Die direkteste Form einer Verbindung von industriegesellschaftlicher Klassenerfahrung und ihrer musikkulturellen Imaginierung findet dort statt, wo, wie im Ruhrgebiet, in Pittsburgh, Newcastle oder Buffalo, Kontinuitätslinien zwischen der »working class community« und der »Metal community« erzeugt werden. Dies fand unter anderem durch »Klanggeographien« statt, die den Lärm der Industriereviere in die Musik zu verlagern versuchen,354 aber auch durch die Nutzung ehemaliger Industriegebäude für Konzerte, und nicht zuletzt durch Interpretationen, die versuchen, die Kultur der Arbeiterklasse »zurückzufordern«. Ein gemeinsames Merkmal dieser letzten Form ist die Tatsache, dass sie in den Narrativen industrieller Vergangenheit lediglich die »Arbeit« durch »Metal« ersetzen und auf diese Weise die Musikkultur als Form der aktiven, aneignenden Erinnerungskultur begreifen. Eine solche Kontinuität betont auch Andreas »Lacky« Lakaw (Darkness) aus Altenessen: Tatsächlich hatten die gerade entstehenden Metalheads und ihre Marotten unbewusst sehr viel Gemeinsames mit zum Beispiel den Kumpeln unter Tage. Man war ein eigener Schlag Mensch und konnte sich meist blind aufeinander verlassen. Man ging rau, aber herzlich und auf eine speziell-respektvolle Art miteinander um. Die
352 Interview Sabina Classen, 10.40-12.39 Min. 353 Sherry Lee Linkon, The half-life of deindustrialization. Working-class writing about economic restructuring, Ann Arbor 2018, S. 131. 354 Vgl. z.B. Harrison, Factory Music.
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Bergleute arbeiteten in einer eigenen Welt, wir Metalheads lebten in einer eigenen Welt.355 Ein weiteres Merkmal dieser Form der Erinnerungskultur ist die Erfahrung eines Verlustes, der aus ökonomischen Ursachen mit der Genese eines sozialen Abstiegs-Stigmas verbunden war und besonders den Nordosten der USA als »rust belt« dauerhaft negativ konnotierte. Da sich Deindustrialisierung in dieser Region sozial besonders als Angriff auf die lokalen »communities« artikulierte,356 nahmen Musiker, die diese Prozesse bei ihren Familien erlebten, eine Umcodierung der negativ konnotierten Label vor und besetzen dadurch Räume neu. Ein Beispiel aus der Metal-Szene Pittsburghs ist dafür die Entscheidung der Band Derketa, ihren musikalischen Stil als »Iron City Death Doom« zu bezeichnen und durch diese Anleihe beim Spitznamen der Stadt das Abstiegsnarrativ einem »rebranding« zu unterziehen.357 Ihren sozialen Kontext erhält diese Entscheidung erst durch die Tatsache, dass fast sämtliche männliche Verwandte der Frontfrau Sharon Bascovsky in den Stahlhütten Pittsburghs gearbeitet hatten, bis ihr Vater und Onkel entlassen wurden. Indem die Band das Stigma kurzerhand umcodierte und den Raum slogan-artig neu besetzte, partizipierte sie an einer Konstruktion, die Sherry Lee Linkon »rust belt chic« nannte358 , die sich unter anderen regionalen Vorzeichen auch in Europa zeigte und in der es darum ging, die regionale Erfahrung vom Label des Verlustes und der Marginalität zu befreien. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu sehen, dass solche Beispiele nicht auf die Zeit des tatsächlichen Niedergangs beschränkt bleiben, sondern den Vergangenheitsbezug auch noch herstellen, wenn – wie im Falle Pittsburghs – ein massiver Strukturwandel dazu geführt hat, dass industrielle Versatzstücke höchstens als eventisierte Freilichtmuseen sichtbar blieben.359 Seit den 1980er Jahren stellen die Metal-Bands aus den Szenen im Ruhrgebiet, in Pittsburgh oder in Birmingham jedenfalls konstant einen optischen und narrativen Anschluss an dieses aufgewertete Deindustrialisierungsnarrativ her. Die vermeintliche »community«-Kontinuität mit der industriellen Vergangenheit, die die soziale Realität der Industrieblütezeit stark romantisiert, dient hier als dauerhafte Machtressource in der Ausgestaltung von Deindustrialisierungsprozessen und beschreibt ein Erinnerungsregime, das sich gegen die Tilgung oder Vereinnahmung einer als wichtig empfundenen Erinnerung wehrt, also auch wesentlich mehr bietet als plumpe Nostalgie.360
355 Interview Arnd Klink/Andreas Lakaw, Z. 50–54. 356 Vgl. Steven C. High, Industrial Sunset. The making of North America’s rust belt, 1969–1984, Toronto 2003, S. 147. 357 Vgl. Interview Sharon Bascovsky, 67.46-70.22 Min. 358 Linkon, The half-life, S. 131f. 359 Vgl. Tracy Neumann, Remaking the Rust Belt. The Postindustrial Transformation of North America, Philadelphia 2016. 360 Vgl. Stefan Berger, Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Das Kulturerbe der Deindustrialisierung im globalen Vergleich, in: Zeithistorische Forschungen/Studies for Contemporary History 18 (2021), S. 93–121, hier S. 109, 120.
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Abb. 2: Dream Death aus Pittsburgh koppeln ihr Album »Dissemination« (2016) optisch an den industriellen Niedergang ihrer Heimatstadt.
Dream Death, Dissemination, Rise Above Records – RISELP198, März 2016. Mit freundlicher Genehmigung des Labels.
c.) Die Verhandlung von Treue und Leidenschaft gegenüber der Musik. Ein zentraler Strang des kulturalisierten Klassenverständnisses in der Metal-Kultur setzte Urteile über die Leidenschaft und Treue gegenüber der Musik und der Szene in einen sozioökonomischen Zusammenhang. Häufig waren dabei Beobachtungen vorausgegangen, bei denen vermeintliche Fans kurzfristig auf neu entstehende Stile oder empfundene Trends reagierten und dadurch – in den Augen ihrer Kritiker – mit der Authentizität ihrer Szene brachen. Im Grunde handelte es sich dabei um übliche Erscheinungen, weshalb solche Aussagen wie die Folgende auch mehr über den Urteilenden als die »Täter« offenbaren. Fasst man das Zitat kurz und griffig zusammen, dann spielte der Background so lange keine Rolle, bis »trend-hopping« zu beobachten war. Wankelmütige Fans mussten dementsprechend aus reichen Haushalten kommen: I don’t know, we were just, a lot of our families were not rich but there’s nothing that really means too much in some ways. It’s just the way it was, you know, and I mean some of the early, I found it, when I first moved and went to Birmingham and saw Napalm Death play before I joined them, I saw a lot of punk kids but I think some of them they came from rich backgrounds and they were kind of rebelling, in my opinion. I thought that back then and I think that even now. Not all of them, not everyone.
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Mikey Harris from Napalm Death, he certainly had a very average background, you know, his mum and dad were not rich, ehm, but I think some of the punks were kinda like, to me, they were rebelling a little bit, because they disappeared very quickly. They came, and they disappeared. They didn’t really stay at the course, you know. For me and a lot of my friends, we were so dedicated, I think but background was, you know, people worked, that’s what it was, not anything out of the norm really.361 Ging es in diesem Beispiel um das »Verlassen« der Szene, verhandelten andere Aussagen den »Einstieg«. Es gehört zu den weit verbreiteten Ansichten von älteren Metal-Musikern, dass auf »organische« und »magische« Anfangsphasen der Musik-Szenen eine Zeit folgte, in der ein »Trend« ausbrach und zu einer sprunghaften Vergrößerung der Anhängerschaft führte.362 Ebenso wie die früh Ausgetretenen, werden auch diese zu spät Eingetretenen regelmäßig als inauthentisch stigmatisiert, obgleich dafür keine ersichtlichen Gründe vorliegen. Da der Eintrittszeitpunkt in die Szene schlecht als Monitum dienen kann, findet deshalb wie auch im Folgenden eine Verknüpfung mit der sozialen Herkunft statt – in diesem Fall aus den Vororten von San Francisco, Inbegriff der weißen Mittelschicht: Well, I think when it started it was, eh, it was everybody, you know. I don’t think it was very exclusive to, you know, there was kids that came from lower income families, there was kids that came from upper income families. You know, there are kids that came from education, there are kids that came from bad parents. I don’t know that it was all one thing, but […] once it became trendy, you know, then there became more suburban kids that kind of mingled into it and stumbled into it.363 d.) Gewalt. Wie in Kapitel 5 gezeigt wird, entluden sich gewalttätige Konflikte vor allem dort, wo Metalheads und Punks bzw. Hardcore Punks nicht nur aufeinandertrafen, sondern sich entgegen der Abgrenzungsversuche musikalische und soziale Überschneidungen entwickelten. Implizit entsprangen viele dieser Auseinandersetzungen auch einem dichotomischen Klassenverständnis, in dem sich Punks in der »working class« verorteten und die Metalheads als »Kinder aus reichem Hause« als inauthentisch brandmarkten, während dies umgekehrt genauso zu beobachten war.364 Da beide Jugendkulturen keinen eindeutigen sozioökonomischen Kern besaßen, kam der Untermauerung des rebellischen Habitus durch die Deutungshoheit über die Arbeiterklassentradition eine umso größere Bedeutung zu. In der sozialen Durchmischung während Hardcore-, Thrash Metal-oder Grindcore-Konzerten in New York, Kalifornien und Mittelengland kam es daher oft zu mehr als nur symbolischen Abgrenzungserscheinungen. So verstand sich beispielsweise die britische Anarcho-Punk-Band Crass als direkt klassenkämpferisch und beeinflusste durch antikapitalistische, vegetarische und generell politisch-soziale Überlegungen auch viele der späteren Grindcore-Bands, die sich an der Schnitt-
361 Interview Shane Embury, 06.05-07.14 Min. 362 Am radikalsten sicherlich bei Gylve »Fenriz« Nagell: »There was no outside attention until all the shit happened – and then the idiots came flooding in.« Halmshaw, Peaceville Life, S. 159. 363 Interview Craig Locicero, 06.18-06.44 Min. 364 Vgl. FN 321; Vgl. FN 361.
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stelle mit dem Death Metal entwickelten.365 Wie sehr sich diese Überzeugungen jedoch im Widerspruch zur sozialen Herkunft ihres Publikums befand, zeigte ein Konzert von Crass, bei dem die Anhänger des »Class War« vor der Halle die Autos demolierten – um später zu erfahren, dass dies die Fahrzeuge gewesen waren, die sich die Jugendlichen von ihren Eltern geliehen hatten, damit sie zum Konzert fahren konnten. Der Abend endete laut Paul Halmshaw in »tears and in-fighting.«366 Bei einem anderen Beispiel aus Los Angeles zeigte sich dagegen, dass nicht alle Handlungen in diesem Kontext auf einem kulturalistischen, d.h. instrumentellen Klassenverständnis beruhten, sondern besonders zu Beginn der 1980er Jahre noch durchaus auf direkten Erfahrungen sozioökonomischer Ungleichheit beruhen konnten. So beschrieb Jeff Hanneman (Slayer) die vermeintlich irrationale Beschädigung des Autos seiner Freundin, die er nachträglich mit dem Neid auf den Reichtum ihrer Eltern begründete: A girlfriend I had at the time was from a really rich family, and I wasn’t, so I was also going through this stupid class-envy thing. I’d take out her car and smash it into things for no reason. I’d look at the car and start thinking, ›Goddammit, rich little – and BANG!''367 Nach Analyse zahlreicher Konzertberichte, Fanzines und Interviews kann aber vermutet werden, dass es sich bei der gewalttätigen Austragung des kulturalistischen Klassenverständnisses um Ausnahmen handelte, die sich nicht innerhalb der Metal-Szenen, sondern eher in Abgrenzung zu den Punk-Szenen ausdrückten. e.) Stigmatisierung von Bildung. Es gehörte weiterhin zu den widersprüchlichen Erscheinungen des Klassenverständnisses der Metal-Kultur, dass – obgleich der Anteil von Metalheads mit Hochschulabschluss beständig stieg – eine offene Zurschaustellung von Wissen beargwöhnt wurde. Vor allem, wenn es sich um Diskussionen in politischen und sozialen Kontexten handelte, erschien eine klare und begründete Position eher als »preachy« – ein Label, das besonders mit der angeblichen Besserwisserei der Punks assoziiert wurde und ebenso als instrumentelles Erbe der »working class« gelten kann.368 Ein eindrückliches Beispiel dafür, dass höhere Bildung ebenso unter musikalischen Gesichtspunkten verhandelt wurde, betrifft eine Interviewerfahrung mit Chris Pervelis (Internal Bleeding) aus Long Island und die Entstehungsgeschichte des »One Dollar Demos« seiner Band. Besonders aufschlussreich ist dabei seine erste Reaktion, die selbst im schriftlichen Interview hervorsticht:
365 Vgl. Stacey Thompson, Crass Commodities, in: Popular Music and Society 27 (2004) 3, S. 307–322. Zur gegenseitigen Beeinflussung von Metal und Hardcore-Punk vgl. Kap. 5. 366 Halmshaw, Peaceville Life, S. 38. 367 D.X. Ferris, Slayer 66 2/3. The Jeff & Dave years, a metal band biography, featuring exclusive vintage photos, recent pictures and lost artwork, o. O. 2013, S. 20. 368 Als Beispiel: Jimmy Bain (Wild Horses): »People are tired of new wave. They like the aggression of that music but not the preaching lyrics. With heavy metal, they get the excitement and drive without being told what’s wrong with the world and what to do to put it right.« Peter Kinghorn, Beyond the new wave, in: The Journal, 16.05.1986, o. S.
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M.S.: There is this story of you finding 300 cassettes in a local college and using them for your first demo. Did you or another band member go to that college? C.P.: hahahah — No! Our first »roadie« (aka a friend we hung out with) was working as a janitor at a university near where we practiced. He »liberated« that box of tapes from a classroom. All the tapes contained lectures from a law class. We were in the studio staring at this box of tapes and that’s where we hit upon making a demo that only cost a dollar. Since we had no overhead (we didn’t have to buy tapes!) we figured it was a brilliant idea. And so the »One Dollar Demo« was born.369 Seine Reaktion ist besonders bemerkenswert, weil die Selbstverständlichkeit, mit der er hier den höheren Bildungsweg für die Bandmitglieder ausschließt und die Umwidmung der Tapes als Befreiung proklamiert, keine Entsprechung in seinem individuellen Arbeitshintergrund besaß (Vgl. Kap. 2.1). Darüber hinaus stellte er die Entscheidung für ein lediglich die Kosten deckendes Produkt im Sinne des DIY ostentativ über den Wert von aufgezeichneten Jura-Vorlesungen, für die die Eltern der Studierenden enorme Beträge aufwendeten. Dass der Roadie der Band dann auch noch als Hausmeister fungierte, stellt die Erzählung klar in die Tradition von Narrativen des »cleveren Underdogs«, prototypisch zum Beispiel im Film »Good Will Hunting«370 und macht sie hochanschlussfähig für eine klassengesellschaftliche Perspektive. f.) Glaubwürdigkeit. Die Glaubwürdigkeit einer Metal-Band in den Augen ihrer Fans war nicht generell an ein bestimmtes Klassenverständnis gekoppelt, spielte aber je nach regionaler Szene durchaus eine tragende Rolle und lässt sich exemplarisch am Ruhrgebiet veranschaulichen. Da die Herkunft der Musiker hier homogener auf Familien von Bergmännern und Stahlarbeitern zurückging als in den anderen Metal-Szenen, konnte sich bereits früh eine enge Verknüpfung von sozioökonomischen Wurzeln und musikkulturellen Merkmalen ausbilden, bei der eine kulturelle Verlängerung des Reviers weit weniger aufgesetzt wirkte als etwa in der San Francisco Bay Area. Zwar bestanden auch hier unter den Musikern bereits Erwerbswege außerhalb der Industrie oder sogar ohne nicht-kreative Erwerbsarbeit,371 doch konnte sich das Gründungsnarrativ der Szene dennoch hervorragend an die Arbeitserfahrungen von Thomas Such, Frank Gosdzik oder Andreas »Stoney« Stein unter Tage sowie an die lupenreine Arbeiterklassen-Herkunft der Eltern binden – und wurde in dieser Weise weitergegeben, instrumentalisiert und fand Verbreitung in der wirkmächtigen Synthese von »harter Musik« und dem Schmutz, Lärm und der Community in der Industriearbeitererfahrung. Der daraus hervorgehende Habitus »wirkte echt« und stellte nicht nur ein Faustpfand für kommerzielle Erfolge, sondern auch für die Konzerterfahrung dar, bei der in einer Art stillschweigender Übereinkunft allen Anwesenden klar war, dass es sich hier um ungeschminkten, geradlinigen,
369 Interview Chris Pervelis, Z. 22–27. 370 Vgl. Gus van Sant, Good Will Hunting, USA 1997, produziert von Lawrence Bender. 371 Etwa Mille Petrozza, der nie über Praktika hinaus arbeitete oder Peter »Peavy« Wagner (Rage). Vgl. Interview Mille Petrozza, Z. 6–9; Vgl. Schmenk/Schiffmann, Kumpels in Kutten 2, S. 55 (andere Beispiele S. 141, 263).
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quasi »echten« Metal handelte, weil die Musiker ebenso authentisch wirkten. Für die Bezeichnung »Poser Metal« war es demnach bisweilen schon ausreichend, nicht aus dem Ruhrgebiet zu kommen, wie Bogdan Kopec deutlich macht: Ich glaube, dass die härtere Musik aus dem Ruhrgebiet glaubwürdiger wirkte. […] Die sogenannten Poser-Metaller kamen eher aus anderen Städten, obwohl es sicherlich auch im Ruhrgebiet welche gab. Aber die erfolgreicheren dieser Bands, die schon einmal 100.000 Platten verkauften, stammten eher aus den besseren Großstädten. […] Im Ruhrpott gab es die meisten echten Arbeiterkinder, die in den Zechensiedlungen aufwuchsen. Dennoch hat man sich gefragt, wieso hier Unterschiede zwischen der Herkunft bestanden. In dieser Zeit sahen alle gleich aus und haben im Grunde genommen für Außenstehende die gleiche Musik gemacht. Wieso verkaufen also die einen so viele Alben und die anderen nicht? Weil sie glaubwürdiger waren. Als NichtFan kann man diesen Unterschied nicht spüren, aber Fans merken bei jedem Lied und jeder Ansage, ob eine Band echt ist oder nicht.372 g.) Lyrics. Songtexte stellen in den meisten Fällen kein wirksames Analyseinstrument für die Sozialgeschichte der Metal-Kultur dar, weil gesellschaftliche Diskurse weniger über die Lyrics verhandelt werden als etwa im Punk, und weil die Texte oft in unklarem Bezug zur Agenda und Erfahrung ihrer Verfasser stehen.373 Dort, wo eine historische Kontextualisierung möglich ist, steigt die Quellenkraft jedoch und kann uns zeitgebundene Deutungshorizonte sozialer Ungleichheit offenbaren. Da die wenigen Songs, deren Lyrics einen direkten Bezug zur Klassenthematik aufweisen, bereits zu genüge interpretiert wurden,374 soll hier mit »Rich City Kids« von Praying Mantis (1981) auf einen der weniger bekannten Titel verwiesen werden. Darin heißt es: As nighttime falls they come alive And show their pretty faces Out come the flash cars And the girls who wait for longed embraces The work they do is short and sweet The money’s there for the taking Well daddy’s rich and he don’t care It’s all part of junior’s making Stay alive like the rich kids Stay alive in the city Stay alive like the rich kids Don’t get shot in the city The esteem they hold has not been earned But money talks so loudly
372 Interview Bogdan Kopec, 34.10-35.30 Min. 373 Etwa bei Nilsson, No Class?, der die m.E. korrekten Interpretationen in den falschen Quellen suchte. 374 Vgl. Roman Bartosch, Lyrics und Intertextualität, Oberhausen 2011; Vgl. Nilsson, No Class?; Vgl. auch die regelmäßig große Bedeutung der Interpretation von Lyrics im Rahmen der Zeitschrift »Metal Music Studies«.
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They walk on ground that’s shared by stars Who’ve climbed their ladders proudly Society holds this place in our dreams For those who ain’t sitting waiting While the rest of us stare in vain It’s all part of junior’s making […]375
Den Ausgangspunkt bildet hier die nächtliche Urbanität und es ist aufgrund der Herkunft der Band davon auszugehen, dass es sich um eine Anspielung auf Londons Nachtleben handelte. Der Klassenkonflikt erscheint auf vielfältige Weise und ist zunächst klassisch-materialistisch, indem die »rich kids« über das Geld ihrer Väter verfügen und dadurch auch deren Selbstverständnis erben (»all part of junior’s making«). In der Folge werden jedoch zahlreiche Merkmale adressiert, die das Verständnis sozialer Ungleichheit kulturalisieren und – denn da liegt das Ziel – unmissverständlich klar machen, dass Personen wie die Kritisierten unmöglich Teil der eigenen Musik-Kultur werden könnten. Dazu zählen etwa die Arbeitsethik und -erfahrung (Vorwurf späten Aufstehens bzw. kurze Arbeitszeit bei leichten Tätigkeiten), die Affektiertheit des Auftretens und die Zurschaustellung von Reichtum (»pretty faces«, »flash cars«) sowie das Urteil, dass sie ihr Geltungsbedürfnis durch nichts verdient hätten. Das skizzierte Bild fungiert dadurch als Gegenentwurf zu oben beschriebenen Authentizitätskonstruktion der MetalKultur, die Erfolg lediglich als verdient anerkennt und darüber hinaus dessen Vereinbarkeit mit dem Arbeiterklassen-Habitus einfordert. Als eine der großen Ausnahmen seitens der NWOBHM-Bands geht der Songtext aber noch weit darüber hinaus und hebt die Beobachtung in den politischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmen. Indem postuliert wird, dass die dominanten gesellschaftlichen Narrative ein Bild der Erreichbarkeit von ostentativem Reichtum nahelegen und dafür die Eigeninitiative (»those who ain’t sitting waiting«) ausreiche, adressiert der Text auch die Deutungsmacht des Human-Capital-Ansatzes und der neoliberalen Politik der Thatcher-Regierung für die Debatte sozialer Ungleichheit. Dass es sich dabei um Luftschlösser handele, macht die Thematisierung der vielen Exkludierten deutlich, die sehnsuchtsvoll aber vergeblich auf die »rich city kids« starren. Die Kernkomponente eines relationalen Klassenkonflikts kultureller Machtressourcen wird hier abschließend überdeutlich. Einige der Beispiele legten bereits nahe, dass sich der Anpassungsdruck an die regionalen Szene-Regeln für Jugendliche im Laufe der 1980er Jahre erhöhte. Jobs, Familienverhältnisse und Alltags-Habitus bewegten sich für den größten Teil der Metalheads in Westeuropa und Nordamerika in eine Richtung, die dem Habitus der musikalischen Helden und älteren Fans zunehmend widersprach. Am Ende der »langen 1980er Jahre« artikulierten sich daher auch nicht zufällig Phänomene wie Black Metal, in denen das Spannungsverhältnis von Szene und Alltag eine bisweilen geradezu lächerliche Qua-
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Praying Mantis, Rich City Kids, LP »Time Tells No Lies«, Arista Records 1981, URL: https://genius. com/Praying-mantis-rich-city-kids-lyrics (letzter Aufruf 24.11.2021).
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lität annahm.376 In ihren körperlichen Praktiken und sozialen Handlungen stellte die Black Metal-Szene eine konsequente Weiterentwicklung der hier beschriebenen Problematik dar – markierte aber auch deren Endpunkt, indem sie offenlegte, was bei einem Übertritt von symbolischer zu juristisch-sanktionierter Authentizität geschehen konnte. Dennoch ist der Spagat, der dort nötig wurde, um als authentisch zu erscheinen, nicht verschwunden, sondern wird in vielen Fällen selbstreflexiver und mit der Fähigkeit zur Selbstironie getätigt.377 Wenn Torsten Sickert, DJ in der Zeche Bochum die Unterschiede zwischen der Metal-Szene der 1980er und 2010er Jahre beklagte, monierte er also weniger eine Veränderung der Szene als der Tatsache, dass es immer offensichtlicherer Methoden bedurfte, um dem alten Ideal der Metal-Kultur zu entsprechen: Wenn du früher auf ein Metal-Konzert gingst, hattest du 90 % Kuttenträger mit 1,8 Promille aufwärts. Heute ziehen die Leute ihr Sakko aus und ein -Shirt drüber. Diese gelebte Szene ist nicht mehr so wie vor 30 Jahren.378 Es ist hier die These vertreten worden, dass die Metal-Kultur um 1980 Versatzstücke einer englischen Arbeiterkultur aufnahm, die dann in Form eines Kontinuitätsversprechens gesellschaftliche Brucherfahrungen abfedern konnten – in der Folge jedoch mit den zunehmenden Widersprüchen einer »imagined community« konfrontiert wurden. Zum Abschluss dieses Kapitels soll schließlich der Frage nachgegangen werden, wie und wo sich dieser Übergang vollziehen konnte, welche Traditionen, Praktiken und Habituselemente genau imaginiert und transferiert wurden und welche folgenreichen Auswirkungen dies auf das Verhältnis der Metal-Kultur zu Fragen von »race« und »gender« hatte.
2.6 Das Genre im Entstehen – Ein Abend in den Working Men’s Clubs in Tyneside 2.6.1 Anfang und Ende des »club circuits« Die Anbindung des Heavy Rock an Symbole, Praktiken und Vorstellungen der Arbeiterklasse fand im Vorfeld und während der NWOBHM, also in etwa zwischen 1975 und 1982, und über jene Heavy Rock-Bands statt, die bereits existierten: Raven, Axe/Fist, Iron Maiden, Samson, Diamond Head, Son of a Bitch/Saxon, Judas Priest, Witchfynde, Lucifer/Angel Witch sowie natürlich Black Sabbath. Jene hervorstechenden Elemente des besonderen Habitus der Metal-Kultur, die bereits beschrieben wurden, waren dabei genauso wie die ostentative Männlichkeit, das Trinkverhalten und der »community«-Gedanke, auf eine Amalgamierung der Musikkultur mit der Arbeiterkultur zurückzuführen, die in der sozialen 376 Vgl. Swiniartzki, Selbststilisierung, S. 460–468; Vgl. Vivek Venkatesh u.a., Eschewing Community. Black Metal, in: Journal of Community & Applied Social Psychology 25 (2015), S. 66–81. 377 Eine solche Tendenz ist besonders bei den Vertretern des schwedischen Heavy Metals zu sehen, etwa Hammerfall oder RAM – gleichzeitig erfreuen sich auch offen karikierende Bands wie JBO oder Knorkator auf Metal-Festivals großer Beliebtheit. 378 Schmenk/Schiffmann, Kumpels in Kutten 2, S. 102.
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Praxis der großen Live-Musik-Szene Großbritanniens stattfand.379 Anders als in den anderen hier thematisierten Szenen, stellte die NWOBHM noch keine Szene, sondern eine sich langsam entwickelnde Verbindung regionaler Aufbrüche dar. Jeder dieser Aufbrüche war darauf zurückzuführen, dass die innovative Musik der jungen Bands, die kaum im Radio gespielt und noch nicht als Platte verfügbar war,380 in einer Mischung verschiedener Spielstätten dargeboten werden konnte. Anders als viele der Metal-Musiker der späteren 1980er Jahre hatten die NWOBHM-Bands noch keine Schwierigkeiten mit mangelnden Auftrittsmöglichkeiten. Sie profitierten von Pubs, Social Clubs, Working Men’s Clubs und Jugendclubs und waren nicht auf spezialisierte Clubs oder öffentlich bereitgestellte Zentren angewiesen. Wie bereits gezeigt wurde, starteten sie dabei als Cover-Bands, in deren Sets mehr und mehr eigene Stücke Einzug hielten und die über einen Gewöhnungseffekt und mit der Hilfe sich bildender Metal-Magazine junge RockFans davon überzeugten, das Genre Heavy Metal als eigenständig anzusehen. Für die Geschichte des Heavy Metals als Selbstbezeichnung und Jugendkultur, die sich vom Mix ihrer frühen Einflüsse emanzipierte, spielten die »club circuits« in Großbritannien und die dort stattfindende Schärfung der musikalischen, stilistischen und habituellen Merkmale also eine entscheidende Rolle. Die Live-Musik-Szene stellte sich für die Bands regional in sehr unterschiedlichen Mischformen dar – im Süden und in London eher in Richtung Pubs und Social Clubs tendierend und im Norden eher dominiert von den Working Men’s Clubs. In Milton Keynes, der Stadt, die Ruth Finnegan untersuchte, existierten in den 1980er Jahren zum Beispiel sieben Working Men’s Clubs mit mehr als 1000 Mitgliedern, etwa 60 Jugendclubs, diverse Social Clubs und viele Pubs, deren Inhaber sich teilweise auf ein bestimmtes MusikGenre spezialisierten.381 Die Infrastruktur für die Verbindung von Musikkultur und Arbeiterkultur stand tendenziell landesweit zur Verfügung, war aber vor allem auf die Pubs und Working Men’s Clubs fokussiert und natürlich dort am eindrücklichsten nachzuverfolgen, wo viele Heavy Rock-Bands und eine regional stark ausgeprägte Arbeiterkultur aufeinandertrafen. Dies war in besonderem Maße im Nordosten Englands und der Region rund um Newcastle (Tyneside) der Fall. Die Gründe, die die Mitglieder der Working Men’s Clubs hatten, die jungen Bands auftreten zu lassen, wurden in Zusammenhang mit dem Strukturwandel der Region bereits an anderer Stelle behandelt und sollen daher hier nicht weiter ausgeführt werden.382 Entscheidend ist, dass die Working Men’s Clubs als genossenschaftliche Institutionen von Arbeitern und für Arbeiter unter dem Druck erodierender Arbeiterklasse-Milieus, die auch mit einer erodierenden Trinkkultur ver-
379 Vgl. Simon Frith/Matt Brennan/Martin Cloonan/Emma Webster, The History of Live Music in Britain, Volume 2, 1968–1984, London 2019, besonders die Kapitel 4, 6, 8 und 11. 380 Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 160. Ihre Angabe, dass in Großbritannien lediglich Tommy Vance »Friday Rock Show« als Radio-Airplay zur Verfügung stand, ist jedoch nicht ganz korrekt. Vgl. Tucker, Neat & Tidy, S. 177, 187 (BBC1's breakfast show with Mike Reid/ECT (Extra Celestial Transmission) oder Eric Cook Television auf Channel 4). Darüber hinaus bestanden regionale Stationen wie Metro Radio in Newcastle. 381 Vgl. Finnegan, Hidden Musicians, S. 222f. 382 Vgl. Swiniartzki, Bruch und Aufbruch.
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bunden waren,383 dazu übergingen, als Teil ihres breiten Unterhaltungsprogramms die regionalen Heavy Rock-Bands auftreten zu lassen – vor allem, um den Jugendlichen, die der Strukturwandel am härtesten traf und die dadurch nicht mehr automatisch in die betrieblich-industriell-vermittelten Sozialnetze der Pubs und Clubs geleitet wurden, ein attraktives Angebot zu machen.384
Abb. 3: Heavy Metal im englischen Norden – Fist und Diamond Head bei »Rock on the Tyne« .
Abb. 4: »Club circuit« und wirtschaftliche Lage – Mythra als Teil einer »North Eastern NWOBHM«.
URL: https://www.ukrockfestivals.com/gateshe Ian Ravendale, Are You Ready for the NENWOBHM?, in: Sounds, 17.05.1980, S. 29. ad-1981.html (letzter Aufruf 23.08.2022).
Auf diese Weise ermöglichte es eine traditionelle Institution der britischen Arbeiterklasse, die vor allem mit älteren Mitgliedern konnotiert war, dass sich eine jugendliche Innovation der Rock-Musik direkt »unter ihrem Dach« abspielte – ein aus deutscher Perspektive höchst eigentümlich anmutender Prozess, der sich vor allem mit einer Verschiebung des britischen Musik-Marktes und seiner Presse in Richtung innovativer
383 Vgl. Klaus Nathaus, Organisierte Geselligkeit. Deutsche und britische Vereine im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2009; Vgl. John C. Everitt/Ian R. Bowler, Bitter-sweet conversions. Changing times for the British pub, in: Journal of Popular Culture 30 (1996) 2, S. 101–122; Vgl. Brian Bennison, Drink in Newcastle, in: Robert Colls/Bill Lancaster (Hg.), Newcastle upon Tyne. A modern history, Chicester 2001, S. 167–192. 384 Vgl. Hollands, From Shipyards to Nightclubs; Vgl. Swiniartzki, Bruch und Aufbruch; Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 07.50-10.32 Min.
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Bands während der 1960er Jahre erklären lässt.385 Rock-Musik, auch die härteren Versionen, waren in Großbritannien jedenfalls kein alleiniges Privileg eines jugendlichen Publikums. Die ersten Bands, die später als Gründerväter des Heavy Metals ex post vereinnahmt wurden – also vor allem Black Sabbath und Judas Priest – spielten ihre ersten Shows bereits in Working Men’s Clubs und ihnen folgten mit einem Abstand von wenigen Jahren besonders die Heavy Rock-Bands aus dem Nordosten des Landes.386 Kein Working Men’s Club bot dabei kontinuierlich, d.h. jeden Abend, Rock-Konzerte an; viele taten dies gar nicht.387 Die Shows fanden im Rahmen von »rock nights« statt, die je nach regionaler Verankerung zwischen einem und sogar vier Mal pro Woche angeboten wurden. Ein sehr wichtiger dieser Clubs für die frühe Heavy Metal-Geschichte war dabei das Legion in South Shields, wo viele der Proto-NWOBHM-Bands wie Axe, Warbeck, Mythra, Fixer oder Morbious auftraten.388 Dass diese »rock nights« einen »pretty good breeding ground«389 darstellten, lag besonders daran, dass sie einen Tournee-Modus ermöglichten. Nachdem beispielsweise Fist an einem Dienstag im Legion gespielt hatten, wechselten sie am nächsten Tag ins Mingles nach Whitley Bay auf der Nordseite des Tyne und nahmen danach Engagements in den Clubs des Kohlefeldes von Durham oder in der Region um Sunderland wahr.390 Die Bands konnten also über sporadische Auftritte hinaus beinahe täglich in den regionalen Etablissements spielen und verdienten dabei (dies kam schon zur Sprache) auch relativ viel Geld. In quantitativer Hinsicht erzeugte der »club circuit« dadurch ein mögliches Erwerbsfeld – diente aber auch der Vernetzung der regionalen Aufbrüche in Großbritannien, wenn sich Bands aus allen Landesteilen (meist nur dort!) trafen.391 Wie stark der »circuit« dabei an die industriell-dominierten Regionen gekoppelt war, zeigt seine geographische Einordnung durch Steve Zodiac: The circuit was huge. All the way in the South from Nottingham all the way up to Newcastle, all the way over to the West to Liverpool and all the way over to the East to Hull, this was a huge sort of section of the Midlands and the North of England. And the working men’s club circuit was the best way to learn the trade and to get in front of an audience. Even if the audience tended to be a little olderly [laughs].392
385 Vgl. Nathaus, Turning Value into Revenue. 386 Vgl. K.K. Downing/Mark Eglington, Leather Rebel. Mein Leben mit Judas Priest, Berlin 2019, S. 49; Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder Than Hell, S. 38, 42; Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 32f. 387 Vgl. Interview John Gallagher, Z. 4f. 388 Vgl. Interview Fist, 00.22-00.42 Min., 06.44-06.51 Min. 389 Popoff, Wheels of Steel, S. 140. 390 Vgl. Interview Fist, 10.53-11.34 Min. 391 Es existierten in den späten 1970er Jahren noch weitgehend regionale »circuits«, die sich um 1980 ausweiteten, sodass der nördliche »circuit« auch von Bands aus dem Süden bespielt wurde – während jedoch keine Angaben darüber vorliegen, ob die Bands aus dem Norden Englands auch in den Pubs oder Colleges Londons auftraten. 392 Interview Steve Zodiac, 19.30-20.07 Min.
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Die größte Dichte der Working Men’s Clubs wies dabei der Nordosten auf, wo diese technisch sehr gut ausgestattet und mit Bühnen versehen waren.393 Bereits um 1976/77 fanden hier zahlreiche Heavy Rock-Konzerte statt, bei denen in der Regel ein Eintritt von zwei Pfund zu entrichten war und die Bands – laut John Roach – bis zu 250 Pfund pro Auftritt verdienen konnten.394 Seinen Höhepunkt hatte der »club circuit« zwischen 1977 und 1981, als die Auftritte, etwa im »Durham coalfield« merklich zurückgingen und sich die Etablierung des »college circuits« voll bemerkbar machte.395 Es ist wichtig zu betonen, dass die Shows in den Working Men’s Clubs und Pubs für die Bands in dieser Phase lediglich eine willkommene Überbrückung bis zu einem – von allen anvisierten – Plattenvertrag darstellten. Denn einmal bei einem Major Label unterschrieben, wurden selbst laufende Verträge mit den Clubs beendet.396 Hinzu kam, dass in der Folge der sich abzeichnenden Transgression der Musik die Zahl der Bands stieg, die die Clubs als Auftrittsmöglichkeiten nicht mehr ins Auge fassten, weil dort musikalische Extreme und Lautstärke nur bis zu einem gewissen Grad toleriert wurden. Dies galt in Newcastle etwa für die Band Venom.397 Darüber hinaus begannen sich bereits um 1980 DIY-Konzert-Organisationen von Bands und/oder Fans anzukündigen, die im Verlauf der 1980er Jahre eine immer größere Rolle spielen sollten. Der wesentliche Grund war dabei das sinkende Alter der Fans, die keine der alkoholausschenkenden Pubs oder Working Men’s Clubs aufsuchen durften. Die Band Mythra bemerkte als eine der ersten, dass sich ein minderjähriger Stamm an Fans entwickelt hatte, der vom »club circuit« ausgeschlossen blieb, und initiierte deshalb Auftritte auf eigene Faust – zum Beispiel im Boldon Lane Community Centre. Die Musiker malten die Plakate selbst und klebten sie an öffentlich frequentierten Orten auf. Als Vorband gewannen sie die befreundete Band Hellanbach und einigten sich auf einen Eintrittspreis von 50 Pence.398
393 Vgl. John Taylor, From self-help to glamour. The working man’s club, 1860–1972, Oxford 1972; Vgl. Interview John Gallagher, Z. 1–4; Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 43.00-43.45 Min. 394 »It seemed like every pit village or every town had half a dozen working men’s clubs which had a big concert room and they would put cover charges on. So, even in 1976/77 you would be expected to pay a two-pound cover charge to go and see a band. So, they used to employ good. Much more than they are paying a band nowadays. And that’s not including inflation. If you totally ignore inflation, you could earn 250 quid for a gig.« Interview John Roach/Maurice Bates, 05.50-06.47 Min. 395 Vgl. ebd., 55.12-57.15 Min. 396 Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 06.52-07.24 Min. Der Rückzug aus den Working Men’s Clubs beendete in solchen Fällen die temporäre Zweckgemeinschaft. 397 Vgl. FN 145, 146. 398 Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 38.38-40.10 Min.
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Abb. 5: DIY-Plakat für eine Show von Mythra und Hellanbach, South Shields (um 1979).
Quelle: http://nwobhm.com/mythra/ (letzter Aufruf 25.11.2021).
Gleichzeitig verschob sich der Schwerpunkt des entstehenden Genres auch deshalb von den Pubs und Clubs in spezialisierte Metal-Clubs oder die Ballrooms, weil die sich formierende Metal-Presse sowohl die Auftrittsmöglichkeiten der Bands verbesserte als auch zu einem eigenständigen Verständnis der Jugendkultur beitrug – abgekoppelt vom Startkapital der Working Men’s Clubs und Pubs.
2.6.2 Der Ablauf eines Abends im Working Men’s Club Ein Abend mit Heavy Rock-Musik lief in den Working Men’s Clubs anders ab als in den Pubs. Während in Londoner Pubs wie dem Ruskin Arms Bands wie Samson, Iron Maiden oder Angel Witch kamen, spielten und irgendwann wieder gingen, war eine Band wie Raven in Newcastle in einen klar festgelegten Ablauf eingebaut, in dem der Musik zunächst lediglich die Funktion der Hintergrundunterhaltung zukam. Anwesende Arbeiter verlangten vor allem Cover-Versionen bekannter Stücke und wollten sich dabei auch noch unterhalten können. Der Ablauf des Abends war jedoch nicht überall gleich, wobei sich die Musiker einerseits an Clubs erinnerten, in denen besonders Comedians als Unterhaltung eine große Rolle spielten. So macht Kevin Riddles – neben den regionalen Besonderheiten – deutlich, dass sich Heavy Rock-Musik in einen Abend der unterschiedlichsten »Attraktionen« einfügen musste: London circuit was really either pubs or colleges. They were the only ones that had the facilities and the size of the venues. Working men’s clubs weren’t really on the rock music scene. They would have their own generic acts. It would always be – no matter
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where you went to a working men’s club – it would always be a comedian, there would be a girl singer, a dancing group, another comedian and then the headliner.399 Andererseits unterschlägt diese Aussage mit dem Bingo-Spiel einen weiteren entscheidenden Bestandteil der Club-Unterhaltung, der dazu führte, dass die Bands nicht ein Konzert am Stück, sondern zwei oder drei »Sets« bzw. »Turns« spielen mussten. Dass sich die stille Ernsthaftigkeit des Bingos nicht unbedingt nahtlos in die erwünschte Wirkung eines Konzerts einfügte, empfanden John Gallagher und seine Bandkollegen als urkomisch: Man hätte, so der Gitarrist, eine Stecknadel fallen hören können und die Musiker saßen in der Umkleide und unterdrückten ihr Kichern.400 Gallagher führt die anfängliche Skepsis gegenüber der Band während des ersten »Turns«, die sich auch in Beschimpfungen und lautstarken Forderungen bestimmter Cover-Versionen niederschlagen konnte, auf einen erst danach steigenden Alkoholkonsum zurück. So wären die Reaktionen ab dem zweiten »Turn« wesentlich besser gewesen und das Publikum hätte sogar geheadbangt.401 Es muss jedoch vermutet werden, dass es sich bei diesen Headbangern nicht um jene handelte, die vorher mit den Älteren Bingo gespielt hatten. Denn anders als an »normalen« Abenden in den Working Men’s Clubs, für deren Besuch man die Mitgliedskarte des Dachverbandes vorweisen musste, durften den »rock nights« auch Nicht-Mitglieder nach Zahlung der »cover charge« beiwohnen. Diese warteten anscheinend den traditionellen Pflichtteil des Abends aus Bingo und Comedian ab und kamen erst zum finalen »Turn«. So stieg pünktlich zum Beginn eines Konzerts von Mythra die Größe des Publikums merklich an: … you cover a rock night at a particular club in Durham and the average attendance would be like 30 people. And then we would go and it would heighten. So, they didn’t criticize you at all, because you’re bringing punters in who are paying the cover charge, who are buying a beer. And that was definitely part of the attraction of booking us as a band. And we knew that as well.402 Roach beschreibt das Verhältnis der Clubs und der frühen NWOBHM-Bands hier als Gewinn für alle Beteiligten, was zunächst einen finanziellen und einen stilistischen Grund hatte. Denn beliebt waren die »rock nights« bei den jugendlichen Nicht-Mitgliedern besonders deshalb, weil in den Working Men’s Clubs qualitativ hochwertiges Bier von Vertragsbrauereien zu einem stark subventionierten Preis ausgeschenkt wurde. So kostete ein Pint in South Shields etwa 26 Pence.403 Stilistisch waren die Konzerte dagegen beliebt, weil sie seitens der Bands als Testfeld genutzt wurden, auf dem neue Songs, Lichtinstallationen, technische Neuerungen oder Innovationen der Performance ausprobiert wurden. Hinzu kam eine wachsende Zahl an Originalen im abendlichen Set, sowie die Tatsache, dass die meisten Bands auch gut eingespielte, technisch versierte und erfahrene Performer waren bzw. wurden. Fast alle Musiker beschreiben den »club circuit« als je399 400 401 402 403
Interview Kevin Riddles, 40.33-41.16 Min. Vgl. Interview John Gallagher, Z. 11f. Vgl. ebd., Z. 12f. Interview John Roach/Maurice Bates, 37.30-38.26 Min. Vgl. ebd., 09.28 Min.
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nen Ort, an dem die Bands »tight« wurden und sich »ihre Sporen« verdient hätten (»cutting teeth«).404 Das stilistische Versuchsfeld in den Clubs gehört zu jenen Orten, an dem sich das Genre Heavy Metal verselbstständigte und sich folglich die Kernmerkmale des Sounds und der Ästhetik im permanenten Austausch mit dem Publikum herausschälten. Viele dieser Merkmale provozierten jedoch kontinuierliche Konflikte mit den Mitgliedern/ Organisatoren der »rock nights«, was darauf schließen lässt, dass es sich beim »club circuit« um eine temporäre Zweckgemeinschaft handelte und sich das entstehende Genre musikalisch von seinen Wurzeln in der Rock-Musik der 1970er Jahre entfernte. Den wichtigsten Streitpunkt bildete dabei die Lautstärke. Da zwei Perspektiven auf »gute« Unterhaltung aufeinandertrafen, die die Rolle der Musik jeweils sehr verschieden interpretierten, schwang für die Bands stets die Gefahr mit, »ausbezahlt« (»paid off«) zu werden, was einem Rausschmiss gleichkam. Zu den häufigsten Erfahrungen der Musiker gehörte daher die Aufforderung, leiser zu spielen. So wurden die Tygers of Pan Tang in einem Working Men’s Club in Wallsend zum Abbruch des Konzerts gezwungen, weil man das Bingo-Spiel, das hier im Nebenraum stattfand, aufgrund der Lautstärke nicht mehr verfolgen konnte.405 Das junge Metal-Genre stand mit seiner Favorisierung sonischer Überwältigung aber anscheinend in einer längeren Tradition von (teilweise später sehr bekannten) Künstlern, die das Arbeiter-Publikum ebenfalls herausgefordert hatten und von den »concert chairmen« mit patriarchalischem Machismo vor die Tür gesetzt wurden: And we heard »Turn it down«, because it was too loud. And the concert chairmen, they were the guys that actually booked the bands. It was interesting, because they always used to say the same thing. I think they thought they would be very original and they would say »You gonna have to turn it down, it’s too loud. You gonna have to turn it down or I pay you off. I give you the offered money and you go home.« And he said »I paid everybody off. I paid Engelbert Humperdinck, I paid Tom Jones, I paid them all off. I had them all here and I paid them all off.« And you’d go to a different club two days later and in a completely different part of the Northeast and the concert chairman would say exactly the same speech. [laughs] So, there was lots of sort of rules.406 Beirren ließen sich die Bands davon laut eigenen Aussagen nicht, obgleich fraglich ist, wieviel nachträgliche Selbststilisierung dabei mitschwingt. Dennoch nutzten die Musiker die Lautstärke als ein Mittel, die Musik stärker in den Mittelpunkt der Veranstaltung zu rücken. Jugendlicher Eigen-Sinn testete dabei die Akzeptanz schrittweiser Transgression und zuckte – im Falle des Konflikts – mit den Schultern oder lachte über die »old chaps«. Im Falle von Harry Hill ging ein spezifischer Vorfall sogar dauerhaft in seinen Spitznamen über:
404 Vgl. Interview Fist, 11.15-11.34 Min.; Vgl. Interview John Gallagher, Z. 5f. 405 Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 04.30-04.51 Min. 406 Interview John Roach/Maurice Bates, 10.40-11.40 Min.
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No, that was South Shields Legion. What happened was, we had the song called »You’ll Never Get Me up!« which was a fast double-bass drum thing with a fast drum start, and a guy was walking past the pa, lots of pints of beer on a metal tray. As he got past the pa, we were starting the set with this song and he threw the tray in the air and all the beer came down crashing and we had to stop for laughing. And he »That was like bloody Hiroshima going off!« And that’s where the name came from, Harry Hiroshima Hill.407 Aufgrund des Testfeld-Charakters des »club circuits« ist davon auszugehen, dass neue Songs oder Innovationen der Performance des Öfteren nicht funktionierten bzw. auf Anerkennung stießen. Musikalisch wusste man selten – so die Musiker – welche Reaktion zu erwarten war, und technisch standen in den Working Men’s Clubs zwar die Voraussetzungen für Eigenbauten von Lichtanlagen oder PAs zur Verfügung,408 doch galt es auch hier, den Bogen nicht zu überspannen. Als beispielsweise Steve Zodiac die »Ziggy Stardust«-Tournee David Bowies in Leeds besucht und dabei zum ersten Mal die Wirkung eines Stroboskops für den Bühneneffekt erkannt hatte, beschloss die Band, ein solches Gerät selbst zu bauen. Sie montierten dazu eine Glühbirnenfassung mit einer 200-Watt-Birne in eine Holzkiste, entfernten den Motor aus einem Lüfter und befestigten ihn derart an einem kleinen Loch in der Kiste, bis das erwünschte schnelle Flackern auftrat. Um jedoch zu vermeiden, dass das Publikum das Gerät bereits vor dem Beginn der Show in einem Working Men’s Club in Batley erkannte, strichen sie die Kiste kurz vorher mit schwarzer Farbe: So, the show’s about to start and the announcer gets on the microphone. ›For your entertainment… Vardis!‹ and the house lights go down. We switch the strobe on. Flashflashflash… fantastic. Absolutely fantastic. We stride on stage and we’re giving it some, cutting all these poses thinking we’re all Mick Ronson and David Bowie. We finish the song and the house lights come on. […] I’m looking at the bassist – covered in black spots. I look at the drummer – black spots. Then I look at the audience. All these old grannies, sat with their bingo cards… black spots everywhere! It was only a small club and there was paint on the walls, on the ceiling… […] We got paid off from that gig. They were furious. They had to give out all new bingo cards as they’d all been marked!409
407 Interview Fist, 21.42-22.30 Min. 408 Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 43.20-43.45 Min. 409 Mosh, Interview – Vardis at Wildfire 2016, in: Moshville Times, 2016, URL: https://www.moshville .co.uk/interview/2016/07/interview-vardis-at-wildfire-2016/ (letzter Aufruf 24.11.2021); Vgl. Interview Steve Zodiac, 24.01-29.42 Min.
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Abb. 6: Mythra live (um 1980). Ein Beispiel für das Experimentieren mit Bühneneffekten.
Quelle: http://nwobhm.com/mythra/ (letzter Aufruf 25.11.2021).
Eskapaden und Praktiken wie diese ließen die Band schließlich sogar glauben, dass es sich bei der Mockumentary »This Is Spinal Tap« aus dem Jahr 1984 um eine Dokumentation handelte – sie hatten schlicht zu viele der dort parodierten Handlungen selbst ausprobiert.410 Andererseits war die Suche nach Alleinstellungsmerkmalen durch die Bands aber auch von dem Wunsch motiviert, den Redakteuren der entstehenden MetalMagazine aufzufallen und auf diese Weise einen Plattenvertrag zu erhalten.411 Neben Experimentierstuben waren die Working Men’s Clubs daher auch Sprungbretter.412
2.6.3 Die Musiker in der sozialen Praxis der Working Men’s Clubs In den Working Men’s Clubs galten informelle soziale Regeln, die bleibenden Einfluss auf die dort über Jahre hinweg auftretenden Musiker ausübten. Die wichtigsten dieser Regeln waren Respektabilität und die Achtung der älteren Mitglieder. Jüngere Mitglieder und erst recht Musiker, die zum Teil gar kein Mitglied eines Clubs und damit der CIU (Club and Institute Union), des Dachverbandes, waren, trafen auf eine patriarchalische Gemeinschaft, in der das Anciennitätsprinzip galt und langjährige Mitglieder über den größten Einfluss verfügten: »And the other thing is it was a very patriarchic society. It was tended to older guys, you know, the old men were the guys who were respected and they were always be sitting there shaking their heads to the music.«413 Aus Sicht von John Roach ging es in diesem Umfeld vor allem darum, sich vor den Älteren nicht zu blamieren und von den Mitgliedern, die zwar den unterschiedlichsten Berufen angehörten,
410 Vgl. ebd. 411 Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 99. So wurden beispielsweise Def Leppard in einem Working Men’s Club von Geoff Barton entdeckt. 412 Die NWOBHM-Band Tysondog aus Newcastle nahm ihr erstes Demo auch deshalb in einem Working Men’s Club in Northumberland auf. Vgl. Gary Alikivi, BACK FOR ANOTHER BITE -with Kev Wynn, bassist with NWOBHM band Tysondog, 2017, URL: https://garyalikivi.com/2017/08/0 5/back-for-another-bite-with-kevin-wynn-bassist-with-nwobhm-band-tysondog/ (letzter Aufruf 24.11.2021) 413 Interview John Roach/Maurice Bates, 11.30-11.40 Min.
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die aber ein »unsichtbares Band« zu einen schien, langsam akzeptiert zu werden.414 Dies bedeutete konkret, dass Alkoholkonsum erwartet wurde und jüngere Mitglieder »ihren Platz« im Sozialgefüge kannten und sich dementsprechend verhielten. Dieses Verhalten konnte sich je nach Veranstaltung deutlich unterscheiden und es liegen Berichte zu den »rock nights« vor, die von mitwippenden älteren Mitgliedern bis hin zu »it was like Wild West some nights« reichen.415 Während die Sitten generell eher rau waren und Wortgefechte, Trinkgelage, Schlägereien, das Spucken auf den Boden und unmissverständliche Ansagen an die Musiker umfassen konnten,416 schienen sich bei den Konzerten einiger Bands alle diese Elemente wie in einem Brennglas zu vereinen. Zu diesen Bands zählte zum Beispiel Son of a Bitch/Saxon. So berichtet unter anderem Biff Byford davon, dass in ein Heavy Rock-Konzert auch Elemente der Comedy eingebaut werden mussten: In vielen Working Men’s Clubs war es vollkommen normal, dass der Sänger einer Band mit herausfordernden und anzüglichen Zwischenrufen konfrontiert wurde und dabei stets die richtige Antwort parat haben musste. Dabei waren die Wortwechsel sehr zum Gefallen der Anwesenden oft sexualisierter Natur und Teil eines Respektabilitäts-Ritus, den Byford als »the singer takes the blame« bezeichnete.417 Die Musiker wurden auf diese Weise auf ihre Kompatibilität mit den Umgangsformen getestet und entwickelten mit der Zeit ein Gespür dafür, welches Verhalten als authentisch galt. Zu den Kriterien gehörte dabei eine hohe Körperlichkeit des Auftretens – etwa, wenn Byford den Soundtechniker spielerisch mit einer Kette verprügelte und unter Beifall des Publikums über die Bühne jagte,418 aber auch in der schweißtreibenden Arbeit an den Instrumenten. Des Weiteren präsentierten sich die Bands als Produktionseinheiten aus technisch-qualifizierten Instrumentalisten und symbolisierten mit der Beherrschung der Technik und einer Gruppenleistung zwei Denkfiguren, die ebenfalls tief in der alltäglichen Industriearbeit der meisten Anwesenden verwurzelt waren. Die Verhaltensweisen waren dabei unmissverständlich männlich codiert, umfassten ausgedehntes Posing, sexualisierte Bewegungen besonders der Sänger, die phallische Symbolik der Gitarre und bisweilen nackte Haut419 genauso wie die Hintergrundbegleitung einer Stripperin. Während erstere Praktiken den sexuellen Aspekt der Vorstellung überließen, handelte es sich bei letzterer um eine direkte Objektifizierung, von der Harry Hill, Steve Zodiac, Kevin Riddles und Biff Byford unabhängig voneinander berichten und die daher zu den durchaus üblichen Unterhaltungsmethoden gehört haben dürfte.420 Byford unter-
414 »So, there was lots of sort of rules. The biggest rules were really the fact that you didn’t want to embarrass yourself as a kid in front of older guys. You’d go to a club and there would be somebody with hair halfway down their back and a big beard and next to him would be a guy in a shirt and a tie, who worked in the shipyards as a blacksmith or something. […] And it was all of those different mixes, totally eclectic, but all of the same class. That was the interesting part of it: It was very, very working-class.« Interview John Roach/Maurice Bates, 11.40-12.17 Min. 415 Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 44. 416 Vgl. Interview John Gallagher, Z. 9f.; Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 46.10-46.29 Min. 417 Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 56, vorher 48f. 418 Vgl. ebd., S. 44f. 419 Vgl. Deena Weinstein, Rock’s Guitar Gods. Avatars of the Sixties, in: Archiv für Musikwissenschaft 70 (2013) 2, S. 139–154, hier S. 152. 420 Vgl. Interview Fist, 49.10-49.21 Min.; Vgl. Interview Kevin Riddles, 36.37-39.57 Min.
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strich die zugrundeliegende Machtbeziehung noch einmal, indem er ein Tape einlegte, um sich mit seiner Band ebenfalls ins Publikum begeben zu können,421 während Steve Zodiac seine Marotte, mit freiem Oberkörper und barfuß zu spielen, auf die Begleitung einer Stripperin zurückführt, mit der er sich solidarisch zeigen wollte.422
Abb. 7: Raven, Northern Counties Club, Longbenton, 1978 (wenige Meilen nördlich von Newcastle).
Mit freundlicher Erlaubnis von John Gallagher.
Das maskuline, körperliche und patriarchalische Umfeld der Working Men’s Clubs diente von der Mitte der 1970er Jahre bis circa 1981/82 als ein wichtiges Rekrutierungsfeld für Heavy Rock-Bands und inspirierte jüngere Musiker, es den Älteren gleichzutun. Zwar weisen die Musiker heute natürlich vor allem auf die technischen Fähigkeiten und die guten Songs ihrer Vorbilder in Fist oder Raven hin, doch ist es unwahrscheinlich, dass dabei nicht auch die sozialen Besonderheiten dieser Etablissements einen Einfluss auf die Vorstellung ausübten, was eine gute Heavy Rock-Band ausmachte – noch dazu, weil Konzerte in den Pubs in ihrem Gender-Aspekt nicht anders abliefen.423 Bezeichnenderweise deutet John Roach die Vorbildfunktion der älteren Bands als Mannwerdungsprozess:
421 Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 44f. 422 Vgl. Interview Steve Zodiac, 42.40-46.28 Min. 423 »It was a very, very big thing that women were not allowed in a bar. Either they would go into a lounge which was very well furnished with soft furnishings, or they would go into a concert room. Some pubs had a ladies’ lounge, but even in pubs… when we were kids, 18–19 years old, girls going into a bar on their own was only a certain kind of girl and they were no good.« Interview John Roach/Maurice Bates, 45.30-46.03 Min.
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From our point of view, we would see Southbound, Axe, Warbeck, Circus, these guys were six, seven years older than us. So, they were men and we were very much boys. And we were trying to be men. And then we just started doing it. We were like kids who would play in the same venues as these guys.424 Diese Beispiele lassen weibliches Publikum auf dem »club circuit« nicht unbedingt erwarten – doch war die Situation band-und veranstaltungsabhängig. So überraschen die Einschätzungen von John Gallagher oder Robb Weir, die das Geschlechterverhältnis als ausgeglichen erinnern.425 Dabei ist zu beachten, dass die »rock nights« eine der wenigen Möglichkeiten dafür darstellten, dass Jugendliche beider Geschlechter, die nicht Discosondern Rockmusik präferierten, einen gemeinsamen Abend verbringen konnten. Noch bevor sich der weibliche Anteil am Publikum auf dem »college circuit« erhöhte,426 erlaubten es die Working Men’s Clubs daher, das patriarchalische Rollenbild temporär zu umgehen, das Frauen den Besuch der Pubs untersagte und in sogenannten Lounges separierte.427 Darüber hinaus scheinen bestimmte Bands, namentlich Tygers of Pan Tang, Def Leppard oder Angel Witch, nicht dafür bekannt gewesen zu sein, die Machorituale einer Band wie Saxon zu bedienen und präsentierten sich überdies in einer gepflegten und kleidungsbewussten Ästhetik, die sich in der Anfangsphase der NWOBHM noch deutlich vom Lack, Leder-und Nieten-Outfit abgrenzte, das später vor allem durch Judas Priest Verbreitung fand.428 Es steht zu vermuten, dass der weibliche Anteil am Publikum hier ebenfalls höher war als bei Konzerten, die im Rahmen eines Programms stattfanden, das unter anderem Stripperinnen beinhaltete. Und nicht zuletzt waren deutliche regionale Unterschiede zu verzeichnen: Die Frage, ob Angel Witch auch in London für eine Stripperin hätten spielen können, verneinte Kevin Riddles entschieden.429 Und auch Jess Cox (Tygers of Pan Tang) verglich eine Stadt wie Newcastle eher mit Liverpool als mit London und führte den persistenten Machismo der Heavy Rock-Musik auf den fehlenden Punk-Einfluss zurück,430 der nicht nur ähnliche Eskapaden verhinderte, sondern auch die Gründung der beiden ersten all-female-Heavy Rock-Bands Englands ermöglichte (Girlschool, Rock Goddess). Insofern ist Vorsicht geboten, die These von einer Übertragung der Praktiken und Vorstellungen in den Working Men’s Clubs auf die Heavy Metal-Kultur zu übertreiben – regionale Unterschiede und das Selbstverständnis bestimmter Musiker und Bands führten zu einem differenzierten Bild, bei dem schon Gary Bushell zwischen
424 425 426 427
Ebd., 23.00-23.56 Min. Vgl. Interview John Gallagher, Z. 19–21; Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 09.30-10.32 Min. Vgl. Interview Fist, 35.34-35.48 Min. Vgl. Hollands, From Shipyards to Nightclubs, S. 55; Vgl. Robert Hollands/Paul Chatterton, Changing times for an old industrial city. Hard times, hedonism and corporate power in Newcastle’s nightlife, in: City 6 (2010) 3, S. 291–315, hier S. 307. 428 Vgl. Halford, Confess, S. 101. Wichtig ist hier, dass Halford das Image als »gemacht« vedeutlicht. 429 Vgl. Interview Kevin Riddles, 40.33 Min. 430 »Liverpool’s a lot like Newcastle in many ways. It’s a hard city, tough really and football mad. In Newcastle you know the punk thing never took off. It always has been rock there. I suppose it’s all down to the macho man appeal of it all.« Peter Trollope, These Tygers just want to get out and play!, in: Weekend Echo, 11./12.10.1980, S. 7.
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London und dem Nordosten trennte: »… maybe those metropolitan attitudes didn’t translate across the whole fan base.«431 Allerdings wäre es ebenso problematisch, den Genderaspekt für die Heavy Rock-Bands aus London zu unterschätzen, wo Bands wie Iron Maiden oder Praying Mantis in den Pubs auf ähnliche Vorstellungswelten trafen und überdies fast gar kein weibliches Publikum anwesend war.432 Es wäre eine spannende Frage für weitere Forschung, zu untersuchen, inwieweit die »heaviness« und Transgression der Musik Einfluss auf die Entscheidung von Frauen hatte, bestimmte Konzerte zu besuchen und andere nicht. Bisher lassen die Aussagen vermuten, dass vor allem »leichtere« Sounds auf den Gefallen der Hörerinnen stießen und zur Anwesenheit bei Konzerten führen konnten, als solche, die den stilistischen Weg in den Extreme Metal ebneten.433 Neben »gender« und »class« gehörte aber auch »race« zu jenen Faktoren, bei denen sich zwischen dem emergenten Genre und den Working Men’s Clubs und Pubs Verbindungen ergaben. Viele der Institutionen gestatteten keine schwarzen Besucher und zementierten das bereits in den 1970er Jahren existente Urteil des Rocks als »weißer Musik.«434 Dennoch kann der Einfluss des »club circuits« auf diesen Faktor als weniger einschneidend vermutet werden als für die Ausgrenzung von Frauen. Für die ethnische Zusammensetzung der Metal-Bands und Fans waren dagegen eher räumliche Segregationen verantwortlich (Kap. 3). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass vor und während der NWOBHM fast jede der Bands, die um 1978/79 begannen, sich dem Genre Heavy Metal zuzuordnen, erste Live-Erfahrungen in den Pubs oder Working Men’s Clubs gesammelt hatten – jenen Etablissements also, in denen mit regionalen Unterschieden ein hauptsächlich männliches Publikum die Musik von männlichen Musikern hörte, bei der sich neben ostentativer Körperlichkeit und Männlichkeit besonders eine raubeinige und alkoholtrinkende Authentizität als Kernelement herausschälte. Vieles davon war keinesfalls neu, sondern in der Rock-Tradition begründet, verband sich aber ab 1978/79 mit dem DIY-Einfluss und der Geschwindigkeit des Punks und wurde 1979 schließlich als »New Wave of British Heavy Metal« gelabelt. Die Reminiszenzen dieses Prozesses an die Praktiken, Räume und Vorstellungen der englischen Arbeiterklasse waren unübersehbar und deren partielle Übertragung auf die Musikkultur schuf einen Rahmen, in dem diese
431 Popoff, Wheels of Steel, S. 187. 432 »There were girls, yeah. But mainly these were wives and things like that. There weren’t so many girls. I mean rock is like that, unless you’re like big hair bands of the 80's, you know, like Bon Jovi and stuff like that (laughs). It doesn’t attract to many girls, the New Wave of British Heavy Metal.« Interview Tino Troy, 01.58-02.18 Min. 433 Die Aussagen lassen bei Bands wie Angel Witch, Def Leppard oder Tygers of Pan Tang mehr weibliches Publikum vermuten als bei Venom, Diamond Head oder Iron Maiden. 434 Weinstein hat vorgeschlagen, in der Beziehung von Heavy Metal und Gender »the delineated meanings of heavy metal music« zu sehen, während die Beziehung von Heavy Metal und »race« »mostly a historical accident« gewesen wäre. Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 67. Falls sie damit andeuten wollte, dass letzteres eher auf Strukturen beruhte, die außerhalb des Einflusses der Musik-Kultur lagen, stimmt dies tendenziell, vernachlässigt aber die Tatsache, dass »race« in der Metal-Kultur, besonders in den USA, auch verhandelt wurde und bestehende Distinktionen verhärtete.
2. Arbeit, Generation, Klasse und Metal
weitexistieren konnten, während ihre sozioökonomische Grundlage zunehmend erodierte. Das verbindende Glied in diesem Übergang war der Community-Gedanke und die Sehnsucht nach einer starken Vergemeinschaftungsgrundlage, die auf der Ebene der Arbeit verloren ging. Es wäre jedoch übertrieben, zu postulieren, dass Heavy Metal nun exakt jenen Platz in der Identitätsarbeit einnahm, den Arbeit zuvor für die Eltern oder Teile der Musiker gespielt hatte. Aufgrund der Komplexität von Identitätskonstruktionen wäre dies eindimensional und überdies fehlte der szenischen Vergemeinschaftung stets der erzwungene Aspekt des Erwerbsverhältnisses.435 Dennoch nahm die Musikkultur einen wichtigen Platz in dieser Konstruktion ein und half, den Wegfall anderer Community-Strukturen zu meistern. Die Neubewertung des kulturellen Kapitals der Arbeiterklasse, in der eine Gemeinschaft, die von außen als anders, aber von innen als gleich bewertet wird,436 auf die musikalische Vergemeinschaftung übertragen und fortan als »proud pariahs« gepflegt wurde, lässt sich demnach als kulturell verarbeiteter Deindustrialisierungsprozess verstehen – auch wenn die Anhänger dieser These bisher an den falschen Stellen nach den Trägern des Prozesses suchten. So war die Genese des Heavy Metals durch die Musiker nicht prekär-defensiv, sondern eher von Qualifizierten aus Aufsteigerfamilien geprägt und bezog sich nicht auf inhaltlich-politische Forderungen, sondern reproduzierte die »working class« vor allem sozial und habituell.
435 Vgl. Stephanie Lawler, Introduction, in: Sociology 39 (2005) 5, S. 797–806, hier S. 797–799. 436 Vgl. John Kirk/Steve Jeffreys/Christine Wall, Representing Identity and Work in Transition. The case of South Yorkshire Coal-mining communities in the UK, in: John Kirk (Hg.), Changing work and community identities in European regions. Perspectives on the past and present, Basingstoke 2012, S. 184–216, hier S. 199.
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3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft Metal-Szenen im (sub-)urbanen Raum
Für jugendliche Metal-Musiker und -Fans spielten die räumliche und die infrastrukturelle Umgebung eine entscheidende Rolle. Der »Raum« der Szenen – in Form von Entfernungen und seiner baulichen, rechtlichen und ökonomischen Ausgestaltung – setzte Grenzen für das Verhalten, die nicht ohne Weiteres übergangen werden konnten. »Raum« bestimmte dadurch maßgeblich über die Parameter der Kommunikation und Vergemeinschaftung. Die »langen 1980er Jahre« kennzeichnete auch in diesem Zusammenhang ein Wandel: Während Metal-Szenen um 1980 noch weitestgehend auf der Grundlage persönlicher Beziehungen beruhten, vergrößerte sich der Einfluss des virtuellen Tape-Trading-Netzwerks (Kap. 6) im Laufe des Jahrzehnts derart, das »Raum« und seine Schranken für die Genese von Netzwerken immer weniger entscheidend wurden. So waren vor allem die Death Metal-Szenen in den USA und in Skandinavien von vornherein von einer Parallelität virtueller und persönlicher Vergemeinschaftung geprägt, bis sich dann im norwegischen Black Metal postalische Kontakte als entscheidend für den Beginn einer Szene erwiesen und die persönliche Vernetzung gewissermaßen nachgeholt wurde.1 Für die Vernetzung in kleinen Gruppen Gleichgesinnter, deren musikalische Praxis und schließlich das Anwachsen zu einer Szene war das räumliche Umfeld also früher oder später von herausragender Bedeutung. Entfernungen, der Nahverkehr und das Wetter spielten dabei eine ebenso große Rolle wie die Struktur der Wohnviertel, deren ethnische und soziokulturelle Vielfalt und die Entwicklung der lokalen Jugendpolitik. »Raum« wirkte sich dabei während des Jahrzehnts vor allem in seiner Imprägnierung mit 1
Zum Unterschied lokaler, translokaler und virtueller Szene-Bildung vgl. Richard A. Peterson/Andy Bennett, Introducing Music Scenes, in: dies. (Hg.), Music Scenes. Local, Translocal and Virtual, Nashville 2004, S. 1–15; Für die Vorteile einer räumlichen Perspektive durch ein Szene-Konzept vgl. Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 19; Vgl. auch Deena Weinstein, Communities of Metal. Ideal, Diminished and Imaginary, in: Varás-Díaz/Scott (Hg.), Heavy Metal Music and the Communal Experience, S. 3–22, hier S. 8f.; Als Plädoyer für eine Erforschung des Szene-Raum-Zusammenhangs vgl. Will Straw, Visibility and convivality in music scenes, in: Bennett/Guerra (Hg.), DIY, S. 21–30.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Aspekten von »race« und »class« aus und determinierte häufig schon vorab, wer sich in Metal-Bands und Metal-Szenen überhaupt zusammenfinden konnte. Hinsichtlich dieses Zusammenhangs vollzog sich in der »westlichen« Metal-Kultur eine Veränderung, die im Kontext des sozioökonomischen Wandels zu lesen ist, und sich als kontinuierliche Suburbanisierung interpretieren lässt. Während sich die Vergemeinschaftungen in Nordostengland, in den West Midlands, East London und im Ruhrgebiet noch im Umfeld von Siedlungen abspielten, deren Zusammensetzung betrieblichen oder familiären Beziehungen entsprungen waren, gestalteten sich die Metal-Szenen der USA von Beginn an als schleichende Suburbanisierung (San Francisco sowie New York/New Jersey) oder war von vornherein rein suburban geprägt (Florida, Pittsburgh, Buffalo). In Skandinavien zeigten sich schließlich enorme Unterschiede zwischen Schweden und Norwegen: Der ausschließlich suburbanen Struktur der Szenen in Stockholm und Göteborg standen eher kleinstädtische oder ländliche Herkünfte in einer räumlich breit gestreuten SzeneLandschaft Norwegens (Oslo, Bergen, Fredrikstad, Sarpsborg usw.) gegenüber. Diese Unterschiede waren weit mehr als nur eine Randnotiz. Sie hatten weitreichende Folgen für das Selbstverständnis der Musiker, beeinflussten sowohl die Ursachen als auch den Stil ihrer musikalischen Transgression und bestimmten über die Erfahrungen mit ethnischer und sozialer Diversität. Darüber hinaus wurde »Raum« – wie in jeder anderen Jugendkultur auch – aktiv angeeignet, d.h. Szenen besetzten bestimmte Räume, füllten diese durch Kleidungsmerkmale, Musik und spezifische Verhaltensweisen aus, trugen dadurch zu einer kulturellen Imprägnierung ihrer Umgebung bei und erzeugten Distinktion. Szenen, so Alan Blum, waren wie urbane Theater und ein großer Teil ihrer Anziehungskraft resultierte aus dem Umstand, gemeinsam gesehen zu werden.2 Die Heavy Metal-Szenen der »langen 1980er Jahre« standen dabei in der jugendkulturellen Tradition ihrer Teddy Boy-oder Rocker-Vorgänger und zeigten mit großen regionalen Unterschieden viele Anzeichen devianter Straßengangs.3 Dem öffentlichen Raum kam eine symbolische Funktion zu, deren Aneignung zu den wichtigen Ressourcen jugendkultureller Vergemeinschaftung gehörte. Besonders dort, wo diese Öffentlichkeit fehlte, hatte dies massive Auswirkungen auf Kommunikationskanäle, Isolationsgefühle und eine politische Aufladung, die aus der gesellschaftlichen Partizipationsrolle des öffentlichen Raums resultierte.4 Jugendkulturell und metal-historisch besetzter Raum tendierte daher vor allem im suburbanen Privatbesitz zu einem »Machtraum«5 , d.h. einer konflikthaften räumlichen Verdichtung um das defizitäre Platzangebot und öffentliche Sichtbarkeit. Insofern ist es verwunderlich, dass dem Szene-Raum-Zusammenhang bisher kaum Beachtung geschenkt wurde. Dietmar Elflein war einer der wenigen, der Zweifel an der verbreiteten urbanen Lesart der Heavy Metal-Kultur äußerte und der darauf hinwies,
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Vgl. Alan Blum, The Imaginative Structure of the City, Montreal 2003. Vgl. Bodo Mrozek, Jugend, Pop, Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019, S. 73f., 454f. Vgl. Kevin D. Murphy/Sally O’Driscoll, Introduction. Public Space/Contested Space, in: dies. (Hg.), Public Space/Contested Space. Imagination and occupation, New York 2021, S. 1–15, hier S. 3f. Zum Konzept vgl. Jan Philipp Altenburg, Machtraum Großstadt. Zur Aneignung und Kontrolle des Stadtraumes in Frankfurt a.M. und Philadelphia in den 1920er Jahren, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 27–35.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
dass in Deutschland zwar 42 % aller Bandgründungen in den 15 größten Städten stattfanden, der Fokus auf den kleinstädtischen und ländlichen Raum aber nicht vernachlässigt werden kann.6 Auch Bettina Roccor merkte mit Blick auf die Herkünfte der MetalFans an, dass diese keineswegs dominant-urban gewesen wären.7 Besonders hinsichtlich der US-amerikanischen und schwedischen Szenen begnügte sich der wissenschaftliche Diskurs dagegen bisher damit, suburbane Strukturen zwar zur Kenntnis zu nehmen, diese aber entweder nicht weiter zu verfolgen oder unter einen großstädtischen Fokus zu subsumieren.8 Doch war die »westliche« Metal-Kultur zum überwiegenden Teil keineswegs urban, sondern in ihren Kommunikationsnetzwerken immer stärker vorstädtisch geprägt und bildete dabei eine späte Folge der sogenannten »white flight«. Die Stadt, d.h. die Innenstadt – falls diese denn überhaupt existierte – blieb jedoch als Bezugspunkt der Musik-Kultur permanent präsent – als Sehnsuchtsort aus suburbaner Perspektive, als Treffpunkt (denn viele Clubs und Plattenläden blieben dort ansässig), aber auch als Ort der Gefahr und Gewalt, die mit Gangkriminalität und ethnischer Segregation einherging. Gleichzeitig markierten die späten 1980er und frühen 1990er Jahre jedoch auch schon die Revitalisierung der durch die »white flight« verödeten Innenstadtgebiete durch neoliberale Großprojekte, die mit dem Ziel der Anlockung einer neuen »creative class«, einer Veränderung der sozialen Struktur und neuen Ungleichheiten verbunden waren.9 Inwieweit sich die Metal-Szenen in dieser mehrdimensionalen Gemengelage entwickelten und wie der Raum durch die Musik-Kultur verhandelt und besetzt wurde, ist Gegenstand dieses Kapitels.
3.1 Metal aus den Zechensiedlungen und Council- House- areas – England und das Ruhrgebiet Die erste Generation von Heavy Metal-Bands, allen voran Black Sabbath aus Birmingham, und die während der 1970er Jahre nachfolgenden Gruppen, die sich an Black Sabbath und
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Vgl. Dietmar Elflein, Restless and Wild. Early West German heavy metal, in: Michael Ahlers/ Christoph Jacke (Hg.), Perspectives on German popular music, London/New York 2017, S. 116–122, hier S. 118–121. Vgl. Roccor, Heavy Metal, S. 148f. Zuletzt Jörg Scheller, Metalmorphosen. Die unwahrscheinlichen Wandlungen des Heavy Metal, Stuttgart 2020, S. 42; Vgl. Kevin Fellezs, Voracious Souls. Race and Place in the Formation of the San Francisco Bay Area Thrash Scene, in: Brown/Spracklen/Kahn-Harris/Scott (Hg.), Global Metal Music and Culture, S. 89–105. Vgl. Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2014, S. 498; Vgl. Richard Florida, The Rise of the Creative Class. Revisited, New York 2019; Vgl. Paul Chatterton/Robert Hollands, Theorising Urban Playscapes. Producing, Regulating and Consuming Youthful Nightlife City Spaces, in: Urban Studies 39 (2002) 1, S. 95–116; Vgl. Tony Champion, City Revival and Rural Growth. Britain in the 1980s, in: Trevor Wild/Philip Jones (Hg.), De-industrialisation and new industrialisation in Britain and Germany, London 1991, S. 83–98; Vgl. Derek Wynne/Justin O’Connor/Dianna Philipps, Consumption and the Postmodern City, in: Urban Studies 35 (1998) 5/6, S. 841–864; Vgl. Edward Glaeser/Karima Kourtit/Peter Nijkamp, Do Urban Empires Rule the World? An Introduction, in: dies. (Hg.), Urban Empires. Cities as Global Rulers in the New Urban World, New York 2021, S. 1–28.
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dem Rock des Jahrzehnts orientierten, stammten aus Bekanntschaftsverhältnissen der Arbeiterklasse-Siedlungen aus bzw. nahe Städten wie Newcastle, South Shields, London, Sheffield oder Birmingham. Urban geprägt waren diese Herkünfte aber auch zu dieser Zeit nur noch teilweise, etwa in East London und im Umfeld der Band Iron Maiden. So stammten Biff Byford und Steve Zodiac aus kleinen Bergarbeiterorten in West Yorkshire, Robb Weir aus Whitley Bay oder Brian Tatler aus Wollaston. Auch Rob Halford und K.K. Downing von Judas Priest kamen nicht direkt aus Birmingham, sondern legten Wert darauf, aus dem »Black Country«, also dem industriellen Umland der Stadt zu stammen.10 Es ist für die räumliche Charakteristik der entstehenden Musik-Kultur bereits bezeichnend, dass Halford es für erwähnungswürdig hielt, dass der neue Gitarrist der Band, Glenn Tipton, nicht nur aus der »middle class«, sondern auch aus der Stadt kam11 – »place«, das wird deutlich, war hier und in der Folge stets mit Zuschreibungen von »class« verknüpft. Auch in London wuchsen die Metal-Musiker nicht in den Innenstadtgebieten oder in Stadtteilen wie Chelsea auf, die als Hotspots des Punks und später des New Wave galten, sondern in städtischen Randlagen wie Brockley, Catford, Hackney oder dem East End.12 Dass die Forschung diese Herkünfte und ihre Bedeutung bisher nicht genauer untersuchte bzw. stets die Großstadtbezeichnung nutzte, ist auch darauf zurückzuführen, dass es für die Musiker im Kontakt mit der Presse einfacher war, auf die Metropole Bezug zu nehmen: I’m still proud to think that Diamond Head, and what we’ve achieved over the years, is all part of that whole Birmingham, Black Country, heavy metal heritage started by Black Sabbath and rolled forward by Judas Priest. When I am abroad I say that Diamond Head are from Birmingham, and in the UK I say Stourbridge, but to be specific all four original members of the band were from the village of Wollaston, a mile outside Stourbridge, in the West Midlands.13 Vielleicht schwang bei Brian Tatler aber auch schon die musikalische Faszination »Stadt« mit, die sich bei Musikern aus Vorstadtverhältnissen während der 1980er Jahren konstant artikulieren sollte. Fest steht jedenfalls, dass bereits die NWOBHM keine Angelegenheit der »industrial towns«14 war. Viele Familien der Musiker waren im Zuge der Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges und der sich anschließenden Hausbauprogramme schon vor der Geburt der Kinder oder bald danach in die entstehenden Vor-
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Vgl. Halford, Confess, S. 38; Vgl. K. K. Downing, Leather Rebel. Mein Leben mit Judas Priest, Berlin 2019. Vgl. Halford, Confess, S. 65. Darunter die meisten Musiker von Iron Maiden, Angel Witch, Praying Mantis, Pagan Altar, Girlschool. Tatler, Am I Evil?, S. 17. Byord, Saxon. Never Surrender, S. 64.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
orte oder Kleinstädte gezogen.15 Prototypisch für solche Familien steht die Erfahrung von Kevin Riddles: I was born in Hackney in East London. But I maybe stayed there for three months. My parents moved down to North London and then very quickly moved out to Essex, to Harlow which was called a new town and was very much a post-war idea of bringing those families who had been affected by the bombing in the war in new homes, to build them new houses out of London. And you had the fantastic situation where – if you got a job in one of the new towns, you automatically got a house.16 Die sich dort ausbildenden Siedlungen aus Eigentumshäusern und (immer stärker ebenfalls gekauften) Council Houses waren kulturelle Transplantationen der (bei Riddles) Londoner Arbeiterklasse, wie sie in East London in den 1960er und 1970er Jahren noch klassisch bestand,17 bildeten sozioökonomisch während der 1970er Jahre jedoch keinesfalls »disadvantaged neighbourhoods«, mit denen man lange negative oder fatalistische Einstellungen und eine Präferenz für Heavy Metal-Musik verknüpfte.18 Die neuen Vororte und auch die behördlich zur Verfügung gestellten Council Houses (mehr als 2 Millionen noch 2001) waren die Orte des »normalen Lebens« in England, aus denen ein sozialer Aufstieg durchaus möglich war (vgl. Kap. 2). In diesen Siedlungen erlebten junge und musikbegeisterte Fans von Bands und Musikern wie Black Sabbath, Free, Status Quo, Rory Gallagher, Led Zeppelin oder Wishbone Ash den Einzug der häuslicher Erholungskultur während der 1970er Jahre. Fernsehprogramme beschränkten zusehends die Ausgangszeit, die man zuvor in der Kirche oder im Pub verbracht hatte und vor allem die Trinkkultur veränderte sich schleichend. Wurden 1960 noch 2 % des Alkohols in Großbritannien zu Hause konsumiert, waren es 1990 bereits mehr als 20 %.19 Die Telekommunikationsrevolution erhöhte die Verfügbarkeit eines Telefons zwischen 1965 und 1985 in der britischen Bevölkerung von 20 auf 80 % und die Zahl der Ortsgespräche verdoppelte sich jeweils in beiden Jahrzehnten. Und auch zum Einkaufen ging man weniger vor die Tür, da Shopping zunehmend zu einer zentralisierten Vorort-Erfahrung wurde.20 Attraktiv war dieser Wandel des Freizeitverhaltens für viele Jugendliche freilich nicht, die in den Vororten kaum Chancen für gemeinsame musikalische Praxis oder Kontaktnetzwerke von Rock-Fans erblickten. Alan Jones, der in Brockley (London) aufwuchs, beschreibt diese Frustration und weist überdies darauf hin, dass es anderen Londoner Bands wie Angel Witch anscheinend nicht anders ging: 15
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Zur Bedeutung des Hausbesitzes für die Politik der Thatcher-Regierung vgl. Sina Fabian, »Popular Capitalism« in Großbritannien in den 1980er-Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 273–295. Interview Kevin Riddles, 00.17-01.30 Min. Vgl. Harrison, Finding a role, S. 86; Zur Londoner Arbeiterklasse klassisch Michael Young/Peter Willmott, Family and kinship in East London, Harmondsworth 1964. Gegen diese Ansicht, die en passant in den subkulturell inspirierten Studien, etwa bei Weinstein oder Harrison, mitschwingt vgl. Keith Kintrea/Ralph St. Clair/Muir Houston, Shaped by place. Young people’s aspirations in disadvantaged neighbourhoods, in: Journal of Youth Studies 18 (2015) 5, S. 666–684, hier S. 679. Vgl. Harrison, Finding a role, S. 403. Vgl. ebd., S. 76.
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You could say Brockley itself was probably the Siberia of London when it came to Music. There was a Reggae band that lived over the road to us and it was hilarious watching them load up their equipment into their van when they were playing any gigs because most of it was made up of large bits of wood nailed badly together with speakers attracted to it. Deptford was just down the hill and Dire Straits lived down there somewhere and Angel Witch lived in Catford. As for Heavy rock we were the only band in Brockley that I knew of.21 Für jene Rock-Fans, die sich während der 1970er Jahre entschlossen, zu einem Instrument zu greifen und sich mit Schulfreunden, Nachbarn oder Arbeitskollegen zu Bands zusammenzuschließen, war eine der drängendsten Fragen in diesen Vororten, einen Proberaum oder schlicht einen geeigneten Treffpunkt zu finden. Da die Wohnung oder das Haus der Eltern für die meisten von ihnen (anders als später) nicht in Frage kamen, wurde häufig jene Wohnung zum Mittelpunkt, die eines der Bandmitglieder, das meist schon etwas älter war, selbst mietete. Wichtige »Absteigen« waren daher Wohnungen wie jene von Ian Hill in Handsworth Wood (Judas Priest), von Sabina und Andy Classen in Aachen (Holy Moses) oder von Thomas Such in Gelsenkirchen (Sodom).22 Die Suche nach Proberäumen war dagegen komplizierter und verlangte Bekanntschaften und teilweise auch finanzielle Mittel. So probten Judas Priest in einer Schulhalle an der Kirche von Wednesbury und Venom verschlissen durch ihren (auch alkoholisch) intensiven Probebetrieb neben anderen Räumen einen kirchlich-gestellten Proberaum in Newcastle.23
Abb. 8: Pagan Altar-Konzert, 1982, St. Peters Church Hall, Brockley, London.
Mit freundlicher Erlaubnis von Alan Jones.
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Interview Alan Jones, Z. 20–25. Vgl. Halford, Confess, S. 53; Vgl. Interview Sabina Classen, 43.40-44.14 Min.; Vgl. Interview Thomas Such, 11.30 Min. Vgl. Halford, Confess, S. 51; Vgl. Tucker, Neat & Tidy, S. 161f.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Besonders in der Frühphase des Heavy Metal-Genres waren Kooperationen zwischen kirchlichen Trägern und jungen Bands nichts Ungewöhnliches und selbst für eigen-organisierte Konzerte zeigten englische Würdenträger erstaunliches Entgegenkommen – das jedoch mit der Erweiterung des Wissensstandes um das Musik-Genre und seine Symbolik und Thematik schnell wieder abflaute: Als Pagan Altar 1982 die St. Peters Church Hall im Londoner Stadtteil Brockley mieteten, freute sich der Vikar zunächst über das Geld, wollte das Konzert der Band jedoch umgehend abbrechen lassen, als er die Bühnen-Requisiten der Band (wozu auch ein Sarg und umgedrehte Kreuze gehörten) erblickte. Erst als ihm humorvoll versichert wurde, dass es zu keinen Opferungen kommen würde und der mündliche Vertrag bereits galt, willigte er (allerdings zum letzten Mal) ein.24 Beliebt waren aber auch Pubs, deren Besitzer die Bands gegen geringe Beträge im Obergeschoss oder Hinterzimmer proben ließen – so etwa der Adam & Eve-Pub in South Shields, wo Hollow Ground an Sonntagen für fünf Pfund probten, die Proben aufnahmen und während der Woche an Verbesserungen feilten, oder das Ruskin Arms als »Stammsitz« von Iron Maiden in der Nähe von Westham Park in East London.25 Im Verlauf der 1980er Jahre blieb der Pub als Treffpunkt und Auftrittsort besonders in England von zentraler Bedeutung und viele Absprachen über neue Projekte, Kooperationen oder Stilfragen wurden bei einem Pint getroffen. Neben einem Pub in Birmingham, in dem die Bands Bolt Thrower und Benediction regelmäßig gemeinsam einkehrten,26 spielte etwa das Frog and the Toad in Bradford als Mittelpunkt der Szene eine große Rolle, wo Bands wie Paradise Lost und My Dying Bride genauso verkehrten wie der Gründer des Labels Peaceville Records. Dieser rekapitulierte: »Marriages were initiated, probably children conceived and business deals struck under the guise of piss up between a bunch of rowdy punky metallers.«27 Die Verknüpfung von Pub(lic Houses) und Metal-Szenen stellte ein spezifisch-europäisches Phänomen dar und nachdem die schwedischen und norwegischen Musiker das nötige Alter erreicht hatten, tranken sie gemeinsam im Elm Street in Oslo oder dem Cityhallen in Stockholm.28 In den Szenen der USA war dieser Zusammenhang dagegen kaum zu beobachten und Vergemeinschaftung blieb bis auf die Konzerte eine weitestgehend private Entwicklung. Dort, wo Pubs oder Jugendclubs nicht zur Verfügung standen, war bei der Suche nach einem Proberaum Einfallsreichtum gefragt und Bands konnten sich in der obsolet gewordenen Bausubstanz der lokalen Industrie einnisten: Def Leppard probten in Sheffield beispielsweise in einer Löffelfabrik, während Kreator in Essen die Zeche Carl oder die Dortmunder Bands das ehemalige CEAG-Gebäude nutzten.29 Waren auch solche Räume nicht vorhanden, es fehlten die finanziellen Mittel für teurer werdende Proberäume oder 24 25 26 27 28 29
Vgl. Mail-Korrespondenz des Verf. mit Alan Jones. Vgl. Gary Alikivi, ROCK OF AGES with Fist vocalist, Glenn Coates, 2021, URL: https://garyalikivi.co m/2021/02/10/rock-of-ages/ (letzter Aufruf 17.12.2021). Vgl. Christian Hillenbrand, Mortuary Mag. Issue 3, Petersberg 1992, S. 59. Halmshaw, Peaceville Life, S. 107. Vgl. Daniel Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 126; Vgl. Andrew Zierleyn, Booklet to Darkthrone’s Black Death and Beyond, Peaceville Records 2015. Vgl. Tony Clayton-Lea, Turning a Def ear. Joe Elliot puts adversity behind, in: The Sunday Tribune, 24.10.1983, S. B5.
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die jeweilige Band geriet in den Ruf, die »rehearsal places« nicht schonend zu behandeln, konnte es durchaus eine Weile dauern bis sich Ausweichmöglichkeiten ergaben. So waren Napalm Death 1989 für einige Zeit von den Proberäumen Birminghams verbannt und besonders einige schwedische und norwegische Bands hatten Raumprobleme.30 Die Beispiele aus den Jahren um 1990 unterstreichen dabei den wichtigen Unterschied zur Lage am Ende der 1970er Jahre: Hatten die Bands damals durchaus Plätze im öffentlichen Raum von Pubs, Jugendzentren, Schulen oder sogar Kirchen gefunden, gestaltete sich die Suche zehn Jahre später schwierig, weil solche Räume weniger zur Verfügung standen oder teure Mieten nötig wurden. Der städtische und suburbane Raum privatisierte sich besonders in Großbritannien und den USA rasant und im Zuge der »urban renaissance« ab den frühen 1990er Jahren war für eine »karikative« Vergabe von Proberäumen an Extreme Metal-Bands kaum noch Spielraum vorhanden.31 Das gemeinsame Musikhören, Trinken in den Pubs und Losziehen zu Konzerten in den Working Men’s Clubs, Pubs oder Konzertsälen, vollzog sich in den 1970er Jahren in England in der Regel ausgehend von den council-house-Gegenden der Vorstädte. Freizeitgestaltung war auch unter den Jugendlichen noch stark mit Klassengrenzen verbunden und man blieb »unter sich.« So verlängerte sich die räumliche Ballung der Arbeiterklasse in diesen Siedlungen auch in die frühe NWOBHM hinein – mit ersten Aufweichungserscheinungen: John Roach, der aus einem wohlhabenderen Teil von South Shields kam, sich und seine Familie aber dennoch zur »working class« zählte, verdeutlicht dies für den Entstehungsprozess der lokalen Gruppe von Heavy Rock-Fans: We didn’t have a community. We lived in a house near the people next time and the people nearside, but they were quite well-to-do. So, you’d go to a council houses area and everybody knew everybody else. […] And we mixed that way.32 Besonders für die minderjährigen Fans in diesen Gruppen war die bereitgestellte Community überaus wichtig, da es zwar stets Grauzonen gab, aber der Eintritt zu den dominanten Spielstätten generell erst ab 18 Jahren gestattet war. Es blieb ihnen lediglich das private Umfeld zur Vergemeinschaftung und jene Räume, in denen »die Musik spielte«, waren verschlossen. Um 1980 zeigte sich, dass die Verjüngung der Fankreise bei gleichbleibender Verknüpfung von Musik und alkoholausschenkenden Etablissements ein wachsendes Problem darstellte und eine Band wie Mythra fand eine DIY-Lösung für die Integration der Minderjährigen (vgl. Kap. 2.6), die in den späten 1980er Jahren die Existenz ganzer Szenen begründete: sie wich in die Jugendclubs und »community centers« aus, organisierte die Konzerte selbst und entkoppelte die Heavy Metal-Musik von
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Vgl. Jon Kristiansen, Slayer 7 (1989), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 159 (Napalm Death); Vgl. Jeff McClelland, Deathvomit. Death Metal Fanzine Collection 1988–1991, Wroclaw 2020, S. 288 (Infestation in Schweden); Vgl. Bård Eithun, Orcustus – The Shadow of the Golden Fire, No. 2, Lillehammer 1992, S. 46 (Occultus über fehlenden Proberaum bei Mayhem). Vgl. die zahlreichen Beispiele (Ruhrgebiet, Birmingham, East London, San Francisco) in Libby Porter/Kate Shaw, Whose Urban Renaissance? An international comparison of urban regeneration strategies, London 2009. Interview John Roach/Maurice Bates, 13.20-13.40 Min.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
den gewerblichen (Pubs) und genossenschaftlichen (Working Men’s Clubs) Institutionen. Die Band wirkte dadurch in zweierlei Hinsicht vorbildhaft: Einerseits bemerkten auch ältere NWOBHM-Bands wie Hollow Ground oder Saracen das Manko und folgten Mythra in die Jugendclubs.33 Andererseits sollte sich die weitere Entwicklung der MetalKultur, vor allem in Deutschland und Skandinavien, in noch viel stärkerem Maße ausgehend von den Jugendclubs bzw. Jugendzentren abspielen und Metal an einen politisch bereitgestellten Raum binden.34 Darüber hinaus war dieser Raum viel weniger durch Klassenbeziehungen konnotiert und erlaubte es den Jugendlichen, sich ungestört vom »jeder-kennt-jeden« der Working Men’s Clubs mit Jugendlichen jenseits der »class«Grenze auszutauschen. In der nordostenglischen Situation in den späten 1970er Jahren handelte es sich dabei zunächst um ein Ausweichen, um die unter-18-jährigen Fans zu integrieren35 – unter den Bedingungen der Verjüngung der Szenen bildete dieser Schritt später eine Notwendigkeit und die Genese der Szenen im Ruhrgebiet oder in Stockholm wäre ohne die Nutzung dieser Räume unwahrscheinlich gewesen.
Abb. 9: Diamond Head, 29.12.1979, Hagley Community Center (ein Dorf nahe Birmingham).36
Mit freundlicher Erlaubnis durch Brian Tatler.
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Vgl. ebd., 24.53-25.40 Min. Zur deutschen Jugendzentrumsbewegung, die sich um 1980 bereits im »Niedergang« befand und zunehmend der Bereitstellung von Raum für »entpolitisierte« Jugendphänomene diente, vgl. David Templin, Freizeit ohne Kontrollen. Die Jugendzentrumsbewegung in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, Göttingen 2015, S. 582–596. Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 43.50 Min. Auffällig sind die professionelle Beleuchtung und Bühnenausstattung, die durch die Bands meist selbst besorgt werden musste.
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Hatte man als Heavy Rock-Fan oder Musiker um 1980 jedoch einmal die Volljährigkeit erreicht, stand eine – metal-historisch einmalige – Bandbreite an Räumen zur Verfügung und es kann vermutet werden, dass diese Mischung, die weder sozial noch gewerblich oder generationell limitiert war, zu den wichtigsten Gründen dafür zählte, dass sich Heavy Metal in England entwickeln konnte. Sämtliche Musiker betonen, dass es um die Jahrzehntwende problemlos möglich war, drei oder mehr qualitativ hochwertige Bands pro Woche zu sehen ohne weit fahren zu müssen.37 Das Spektrum umfasste dabei Bands aller Bekanntheitsgrade und Karrierestufen und ermöglichte groß angelegte Tourneen genauso wie die Auftritte von Newcomern. Neben jenen Konzertsälen, die zu dieser Zeit für die NWOBHM landesweite Berühmtheit erlangten – Hammersmith Odeon, Marquee und Music Machine in London oder die Newcastle City Hall – standen nun weiterhin die Pubs und Working Men’s Clubs, aber auch die Jugendclubs und Colleges zur Verfügung.38 Des Weiteren zeigten sich Spezialisierungstendenzen und es entstanden Clubs, die sich fortan ganz auf die härtere Rock-Musik konzentrierten (das Soundhouse in London-Kingsbury als erster dieser Art). Der entstehende Heavy Metal entwickelte dementsprechend um 1980 spezifische räumliche Zentren. Die Aneignung des öffentlichen Raums indes ging langsamer von statten – denn die jungen englischen Fans in den späten 1970er Jahren waren noch davon entfernt, öffentlich als Heavy Metal-Fans bzw. Metalheads wahrgenommen zu werden. Die Selbstbezeichnung setzte sich gegen die Wurzeln im »Hard Rock« oder »Heavy Rock« erst langsam durch und das gemeinsame Auftreten in der Gruppe erinnerte noch nicht an die homogen gekleideten, langhaarigen und männlichen Jugendlichen, deren jugendkulturelle Präferenz anhand ihrer Insignien umgehend zu erkennen war. Die wenigen vorhandenen Photographien, die nicht eine Band in gestellter Pose und Kleidung zeigen, sondern die Fans in der Alltags-oder Konzertsituation abbilden, machen deutlich, dass sich der markante Kleidungsstil erst entwickelte und das entstehende Genre stilistisch zunächst im Fahrwasser der Rock-Musik der 1970er Jahre bewegte.39 Letzte Andenken an die Hippie-Bewegung wie die Schlaghose verschwanden langsam, während auf der anderen Seite des Rekrutierungsspektrums der NWOBHM auch die Kleidungsstile von Skinheads oder Punks zu finden waren.40 T-Shirts mit Bandlogos, Westen mit Aufnähern, Lederjacken oder die Omnipräsenz langer Haare hatten sich
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Vgl. Interview Fist, 02.44-03.28 Min.; Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 09.10-10.32 Min.; Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 24.53-25.28 Min. Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 07.50-08.30 Min.; Vgl. Interview Fist, 02.44-03.02 Min. So beispielsweise bei John Roach, auf Abb. 6 rechts in weißem Oberteil zu sehen, der im Interview angab, sein Kleidungsstil wäre erst in der frühen 1980er Jahren »rougher and rougher« geworden. Interview John Roach/Maurice Bates, 49.04-51.12 Min. Ein Musiker, der zuvor den Skinheads zuzurechnen war, war zum Beispiel Steve Harris (Iron Maiden), während sich Kevin Riddles kleidungstechnisch weitaus stärker in der Glam-Rock-Tradition bewegte. Generell verliefen in dieser Hinsicht bereits in den Bands Gräben unterschiedlicher jugendkultureller Verortung, die mit der Verselbständigung des Genres in den Heavy Metal eingingen. So auch schon in den späten 1960er Jahren bei Black Sabbath: »We sort of made eye contact, but he was a skinhead and I was a hippie, so we never really talked.« (Geezer Butler über Ozzy Osbourne). Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 30.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
in den späten 1970er Jahren noch nicht voll durchgesetzt und eroberten ab den frühen 1980er Jahren die Bands und Fans mit unterschiedlichen regionalen Verläufen.41 Ein wiederkehrendes Motiv zur Beschreibung der räumlichen Aneignung war ebenfalls ein alter jugendkultureller Bekannter, nämlich die »Gang«, die abendlich umherzog, spezifische Orte wie bestimmte Pubs oder Stadtteile frequentierte und sich vor allem öffentlich nach außen abgrenzte.42 Doch deuten die Aussagen der Musiker auch hier darauf hin, dass diese Gruppen zunächst in ihren musikalischen Vorlieben noch nicht homogen waren – es sich also um die Straßenpräsenz von »working-class«-Jugendlichen handelte, die noch nicht einheitlich als Heavy Metal-Fans zu erkennen waren.43 Der eckenstehende Teddy Boy der 1950er, der Mod auf seiner Vespa der 1960er oder der klar erkennbare Punk der 1970er Jahre hatten noch kein Heavy Metal-Äquivalent und es ist bei aller Vordatierung des Genres auf die Band Black Sabbath und das Jahr 1970 wichtig zu betonen, dass der durchschnittliche NWOBHM-Fan auch 1980 noch aussah wie ein typischer jugendlicher Rock-Fan und sich gleichzeitig viele andere Stilelemente erst zurückzogen. Musikalisch mochte Heavy Metal schon lange existent gewesen sein – sozial und ästhetisch vereinheitlichte sich die Jugendkultur erst ab 1980. Spezifische »Heavy MetalRäume«, die in jeder anderen Szene der 1980er Jahre genauso existierten wie räumliche Aneignungspraktiken, schälten sich in der NWOBHM also erst heraus, weil sich das Genre in seiner Ästhetik und öffentlichen Außendarstellung erst formierte. Wenige Jahre später, ab 1982/83, gestaltete sich dies in England und auch im Ruhrgebiet dann schon ganz anders. Aufgrund seiner räumlichen Besonderheiten stellte das Ruhrgebiet im Kontext der frühen Metal-Szenen einen Sonderfall dar, denn von Vororten im englischen oder gar amerikanischen Sinne konnte hier keine Rede sein.44 So lagen die lokalen musikalischen Aufbrüche, die ab Mitte der 1980er Jahre zu einer Szene zusammenwuchsen, zwar mitnichten in den Innenstädten von Gelsenkirchen, Essen und Dortmund, waren aber dennoch räumlich anders strukturiert als in Nordengland oder im Black Country. Zwar zog auch die Szene im Ruhrgebiet von Beginn an Fans und Bands aus dem Umland an und dieser Einfluss blieb konstant vorhanden – etwa durch Blind Guardian aus Krefeld, Accept aus Solingen, dem Heavy Metal-Fanclub in Velbert oder der Band Morgoth aus dem Sauerland –, doch waren die ersten Bands, die die NWOBHM-Einflüsse hier aufnahmen dennoch ausnahmslos urban beeinflusst. So stammten Mad Butcher, Bullet, Sodom, Kreator, Rage, Darkness oder Despair mitten aus einem der größten Ballungsräume Europas, was sie von allen späteren Extreme Metal-Szenen der »langen 1980er Jahre« unterschied.
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Dabei scheint der genannte Kleidungsstil sich vor allem in England und Deutschland stark verbreitet zu haben, während Fotografien aus den Szenen in San Francisco oder Stockholm andere Stile zeigen (vgl. 4.2.1 und 4.2.4). Zum Beispiel bei Interview Robb Weir/Tom Noble, 13.11-13.48 Min. So bei Tino Troy und Brian Tatler. Vgl. Interview Tino Troy, 11.24-12.03 Min.; Vgl. Interview Brian Tatler, 08.52-09.23 Min. (Tatler beschreibt die Band als werdende Clique entlang musikalischer Vorlieben, die ältere Freunde verdrängte). Zum räumlichen Strukturwandel des Ruhrgebiets vgl. Stefan Goch, Eine Region im Kampf mit dem Strukturwandel. Bewältigung von Strukturwandel und Strukturpolitik im Ruhrgebiet, Essen 2002, S. 35–41 (für die raumbezogenen Interpretationen).
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Kennzeichnend für die frühen Bands aus dem Ruhrgebiet war jedoch ebenso wie in Nordostengland eine Ankopplung an existente Community-Strukturen der lokalen Arbeiterschaft, die sich aus Betrieben und Familien in die Nachbarschaft verlängert hatten und die bis in die 1970er Jahre hinein zu einer Überlagerung von familiärer, nachbarschaftlicher und betrieblicher Solidarität führten.45 Einen filmischen Ausdruck fand dies zum Beispiel in der SWR-Dokumentation »Thrash, Altenessen« (ausgestrahlt in der ARD 1989), in der der Regisseur Thomas Schadt unter anderem zeigte, wie sich die jungen Metal-Musiker der Band Kreator in der Umgebung einer Gartenlaube trafen, die parallel weiterhin von ihren Vätern genutzt wurde.46 Die musikkulturelle Vergemeinschaftung fußte hier auf teilweise jahrzehntelangen Arbeits-und Nachbarschaftsbeziehungen und resultierte im Falle von Kreator direkt aus einer gemeinsamen Schulzeit von Jungen, die in unmittelbarer Nähe zueinander aufgewachsen waren.47 Die Kindheit und frühe Jugend der späteren Musiker ähnelte dabei stark jener ihrer englischen Vorbilder, wie Bernd »Bernemann« Kost, der zwischen 1988 und 1991 bei der Band Crows spielte und in der Dortmunder Nordstadt aufwuchs, zeigt: Als ich klein war, habe ich in einer Sackgasse gewohnt. Sobald ich von der Schule nach Hause gekommen bin, ist der Ranzen in die Ecke geflogen, und dann bin ich sofort runter zum Pöhlen [Kicken auf der Straße, M.S.]. Als wir dann etwas älter waren, haben wir uns immer in der Kirchengemeinde getroffen.48 Sowohl die Bedeutung des öffentlichen Raums, d.h. »der Straße«, als auch des Fußballs und der Kirche, sowie der Tatsache, dass Kost als Sohn eines Bergmanns kontinuierlich nebenbei als Werkzeugmacher arbeitete, stellen dieses Beispiel – wie viele andere aus dem Ruhrgebiet – in die Tradition der ersten Heavy Metal-Hochburgen im Black Country sowie in Nordengland.49 Dass die Metal-Szene des Ruhrgebiets die englischen Vorbilder hinsichtlich ihrer Anknüpfung an eine Arbeiterklassen-Community, Symbolik und schließlich Erinnerungskultur sogar noch übertraf und die Geschichte der Szene bis heute ausgehend von den Hochöfen und Schloten erzählt wird, hatte auch mit räumlichen Faktoren zu tun. So zeigte sich schon früh eine enge Anbindung der Musikkultur an die Hinterlassenschaften des sich deindustrialisierenden Reviers sowie an das Narrativ einer spezifischen Ruhrgebiets-Solidarität: Der Heavy Metal-Fanclub Velbert, der erste Club dieser Art in Deutschland, traf sich ab 1981 beispielsweise einmal pro Woche
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Vgl. Klaus Peter Strohmeier/Volker Kersting, Sozialraum Ruhrgebiet. Stadträumliche Differenzierungen von Lebenslagen, Armut und informelle Solidarpotentiale, in: Reiner Bovermann (Hg.), Das Ruhrgebiet – ein starkes Stück Nordrhein-Westfalen. Politik in der Region 1946–1996, Essen 1996, S. 451–475, hier S. 451. Vgl. Thomas Schadt, Thrash. Altenessen, 1989, URL: https://www.youtube.com/watch?v=R7hvIiHt x7I (letzter Aufruf 17.12.2021), 51.20-55.21 Min. Vgl. Schmenk/Schiffmann, Kumpels in Kutten 2, S. 141. Uwe Schnädelbach, BONDED – My Hometown: Dortmund mit Bernd »Bernemann« Kost, 08.10.2020, URL: https://www.rockhard.de/artikel/my-hometown-dortmund-mit-bernd-bernem ann-kost_554583.html (letzter Aufruf 17.12.2021). Vgl. Schmenk/Schiffmann, Kumpels in Kutten 2, S. 260, 263.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
im Jugendheim der SPD und unterhielt gute Kontakte mit Fans in Essen und Bochum.50 Als Metal-Disco und Auftritts-sowie Probe-Möglichkeit etablierte sich die Zeche Carl, ein von einer Bürgerinitiative gefördertes Kulturzentrum in Altenessen, das einen Einzugsbereich bis nach Gelsenkirchen und sogar ins Umland des Ruhrgebiets entwickelte.51 In Dortmund diente das ehemalige Hauptgebäude der Concordia-Elektrizitäts AG (CEAG) ab 1980 als Probemöglichkeit für buchstäblich alle Metal-Bands der Stadt.52 Und schließlich entwickelte sich die Zeche Bochum, in der ehemaligen Schlosserei der Zeche Prinz Regent, ab 1981 zu einer der zentralen Spielstätten des Ruhrgebiets. Die Metal-Szene zwischen Duisburg und Dortmund bildete durch solche und viele andere Beispiele eine wesentlich engere räumliche Anbindung an das industrielle Krisennarrativ aus als dies etwa in England oder im US-amerikanischen »rust belt« zu beobachten war. Darüber hinaus nutzten die jungen Musiker und Fans im Ruhrgebiet weitaus stärker die bestehenden öffentlichen Einrichtungen wie das Jugendhaus Emscherschule, andere Jugendclubs, Schulaulas oder schulische Proberäume und profitierten auch von behördlicher Unterstützung, etwa als das CEAG-Gebäude schloss und die Stadt Dortmund mit dem Musik-und Kulturzentrum einen Ersatz schuf.53 Für eine Musik-Kultur, die sich vor allem in der Live-Musik-Szene formierte, waren solche Einrichtungen von enormer Bedeutung und markieren den wichtigsten Unterschied zwischen den Thrash Metal-Hochburgen im Ruhrgebiet und der San Francisco Bay Area, wo für die Bands lange das »pay for play« herrschte.54 Die Einstiegsvoraussetzungen gestalteten sich daher vor allem finanziell niedriger als in Kalifornien und lokale Booker wie Bogdan Kopec nutzten die sich bietenden Möglichkeiten der städtischen Budgets reichlich aus: In den späten 1960er und den 1970er Jahren gab es etwa eine Handvoll Plattenfirmen und drei Musikmagazine in Deutschland. Und als Band hatte man im Grunde kaum eine Chance, einen Plattenvertrag zu erreichen oder in einem dieser kommerziellen Musikmagazinen besprochen zu werden. Doch in dieser Zeit gab es in jeder Stadt ein Jugendzentrum mit eigenem Budget, in dem die Bands spielen durften. Die Stadt stellte ein Budget zur Verfügung und dafür konnte etwa einmal im Monat eine Band spielen. Als Booker habe ich davon sehr profitiert. Ich habe etwa alle sechs Monate einfach hunderte Briefe mit Bandinfos an die Jugendzentren der Städte geschickt. Live spielen, um Popularität zu erlangen, um eine halbwegs professionelle Daseinsberechtigung zu erlangen, war oberste Priorität.55
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Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 126. Vgl. Tom Küppers, Special: Metal im Pott, in: Metal Hammer, 15.06.2010, URL: https://www.metal -hammer.de/special-metal-im-pott-440395/ (letzter Aufruf 17.12.2021). Vgl. Klaus Winter, SERIE Nordstadt-Geschichte(n): Die Concordia-Elektrizitäts-AG in Dortmund – 100 Jahre CEAG-Haus, 21.05.2017, URL: https://www.nordstadtblogger.de/ceag/ (letzter Aufruf 17.12.2021). Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 65; Vgl. Küppers, Special; Vgl. Schädelbach, BONDED. Vgl. Joel Selvin, Young Bands Tired of Paying Clubs to Play, in: The San Francisco Examiner, 09.12.1990, S. 269. Interview Bogdan Kopec, 22.40-23.51 Min.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Abb. 10: »Total Thrash«, die Crowdfunding-Dokumentation zur Geschichte des deutschen Thrash Metals.56
URL: https://totalthrash.de/ (letzter Aufruf 17.12.2021). Mit freundlicher Genehmigung durch Daniel Hofmann.
Der große Szene-punkt lag im Ruhrgebiet also in der Verbindung einer urbanen und finanziell bezuschussten Infrastruktur mit einer urbanen, sich aber gleichzeitig national wie global weit vernetzenden Jugend. Die Distanzen waren hier für Metalheads vielleicht nicht kürzer als in New Jersey oder den Vororten von San Francisco, doch es bedeutete praktisch etwas anders, wenn man als Dortmunder Fan mit dem Nahverkehr oder dem Mofa nach Altenessen fuhr als für einen jungen Metalhead in New Jersey, der ein Konzert in New York City besuchen wollte.57 Darüber hinaus profitierte die Szene im Ruhrgebiet schon früh von niederländischen Einflüssen und einer sich jenseits der Grenze rasch herausbildenden Club-und Magazin-Infrastruktur.58
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Links oben die Zeche Zollverein, rechts oben die Zeche Carl. Bogdan Kopec weist zum Beispiel darauf hin, dass bei der bereits im Tournee-Modus befindlichen Band Kreator niemand einen Führerschein besaß und die Musiker auch niemanden mit einem Führerschein kannten, der sie hätte fahren können. Dieser war während der Genese der Szene nicht nötig. Vgl. Interview Bogdan Kopec, 15.30 Min. Auf die Bedeutung der nahen Grenze zu den Niederlanden verweist jeder der westdeutschen Interviewten. Vgl. dazu das Unterkapitel zu Szene-Grenzen in Kap. 6.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Abb. 11: Tresen in der in Kaue der Zeche Carl, 1984.59
Mit freundlicher Genehmigung durch Holger-Werner Kemper.
Dass die Szene im Revier dabei selbst zu einem überregionalen Anziehungspunkt für Metal-Fans aufsteigen konnte, lag vor allem am Mephisto, einer Disco im Gelsenkirchener Schloss Horst, die dem Schwager von Jörg Trzebiatkowski (Kreator) gehörte und die sich durch Metal-Abende schnell zum regionalen Treffpunkt entwickelte.60 Thomas Such beschreibt das Mephisto als »zentrale Anlaufstelle« für Musiker und Fans und weist besonders auf die Besuche internationaler Metal-Fans hin, etwa der norwegischen Band Mayhem.61 Für Waldemar Sorychta handelte es sich um einen Raum, der erstmals exklusiv den Metal-Fans vorbehalten war und der sich daher von den Anfängen in Discos deutlich abhob: Also mit Kreator oder mit Sodom oder mit allen anderen haben wir uns fast alle durch Mephisto [kennengelernt], weil das war glaub ich der erste Laden der so spezifisch nur Metal gespielt hat. Wie ich schon sagte, vorher war es so was wie Rockpalast oder Spektrum, waren so Läden, die einmal in der Woche unter anderem auch so Hardrock und Heavy Metal gespielt haben, aber natürlich im bestimmten Sinne, dass die vielleicht so drei Songs hintereinander gespielt haben und dann war wieder ne Stunde gut. Und dann war wieder nur Rock, aber immerhin war das für uns immer noch angenehmer… also in so ne normale Disco hätte uns glaub ich keiner, noch nicht mal mit Freibier, reinlocken können, da wärn wir jetzt nicht reingegangen.62 Orte wie das Mephisto waren Ausdruck einer fortgeschrittenen Szene-Bildung mit musik-spezialisierten Treffpunkten, die über den öffentlich bereitgestellten Raum in
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An die Stilllegung schloss sich hier die metal-kulturelle Umwidmung an. Vgl. Küppers, Special. Vgl. Interview Thomas Such, 03.14-03.53 Min. Interview Waldemar Sorychta, 32.32-33.15 Min.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Jugendclubs hinausgingen. Die Metal-Szene hatte sich neben ihren musikalischen und ästhetischen Merkmalen nun auch räumlich abgegrenzt und spezifische Orte angeeignet. Es entstanden dadurch Vergemeinschaftungsräume, in denen das Selbstverständnis als eigenständige Jugendkultur gepflegt werden konnte und die von außen auch als eine solche Community wahrgenommen wurden. Ein wesentlicher Unterschied zu den späten 1970er Jahren in England war daher, dass die Szene im Ruhrgebiet sich bereits nach außen klar als Metal-Szene darstellte, relativ klare Kleidungs-sowie Verhaltens-Konventionen entwickelt hatte und den öffentlichen Raum als musikkulturelle Einheit besetzte. Im »Pott« dominierten »denim and leather« und die härteren Vertreter der NWOBHM als Vorbilder.63
Abb. 12–14: Flyer für Heavy Metal-Abende und Eingangsschild zum Mephisto sowie Metalheads auf der »Bangfläche«.
Facebook-Posts Robert Gonnella, Stephan Linneweber und Frank Heavynger.
Die sich um die Bands formierenden Gruppen im Ruhrgebiet traten gemeinsam ebenfalls als »Gang« auf, waren aber nun klar als Metal-Fans zu identifizieren und wurden – und das ist entscheidend – auch von anderen Subkulturen so verstanden. Das temporäre Verbot lokaler Rocker-Gruppen an die Metal-Fans, eigene Westen/Kutten zu tragen, ist dafür ein deutliches Indiz. Die Metalheads umgingen es durch selbstgemachte Shirts.64 Beim Umherziehen, Trinken, bei Partys (etwa unter der Birkentalbrücke bei Velbert65 ) und besonders beim gemeinsamen Besuch von Konzerten beanspruchten die Metal-Fans nun öffentlichen Raum und wurden als eigenständige Jugendkultur sichtbar – und dies durchaus mit Anleihen an deviante Straßengangs, wie Peppi »Grave Violator« Dominik (Sodom) deutlich machte: »Wenn wir alle zusammen ausgegangen sind, wirkte das schon … naja, recht beeindruckend. Was nix Schlechtes sein musste, 63
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Dieser Abnabelungsprozess von der Rock-Musik der 1970er Jahre wird an den genannten musikalischen Vorbildern deutlich: Bei Sorychta, Such, Classen, bei Kreator und Darkness liefen Venom, Slayer und Metallica – die breite Schnittstelle zum Rock, die noch wenige Jahre zuvor in England entscheidend gewesen war, hatte man hier klar hinter sich gelassen. Der musikalischen Verselbständigung des Genres entsprach die stilistische und auf den Fotos der frühen 1980er Jahre, etwa bei Sodom, dominieren bereits Leder und Jeans. Vgl. Küppers, Special. Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 65.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
wenn es denn mal Theater gab.«66 Marodierende Banden bildeten die Metalheads aber nicht und über Schlägereien bestehen unterschiedliche Einschätzungen.67 Vielmehr dürfte es sich um eine ostentative Selbstinszenierung durch öffentliche Sichtbarkeit gehandelt haben,68 bei der sich eine jüngere Alterskohorte rund um Vorbilder wie Venom, Metallica und Exodus von älteren Hard Rockern abgrenzte und die Chancen der Provokation nutzte69 – Störungen der »öffentlichen Ordnung« und vereinzelte Sachbeschädigungen inklusive.70 Es gehört zum Erfolgsrezept der Metal-Szene im Ruhrgebiet, den spezifisch räumlichen Aspekt der Szene-Bildung besser und langfristiger umgesetzt zu haben als jede andere hier beschriebene Szene bzw. Region. Die spannungsreichen Beziehungen zwischen einzelnen Teilen der Region und die enormen stilistischen Unterschiede zwischen den Bands konnten auf diese Weise dauerhaft überbrückt und sozial integriert werden.71 Im Vergleich zu den englischen Verhältnissen bestand der Vorteil – obgleich beide massiv von einer breiten Live-Musik-Szene profitierten – darin, dass die Infrastruktur im Ruhrgebiet noch stärker in Richtung öffentlicher Räume tendierte, sich kulturell mit einem Ruhrgebiets-Narrativ verband, das nicht nur von Metal-Fans geteilt wurde, und darüber hinaus auch nicht auf einer sozial so exklusiven Institution wie den Working Men’s Clubs beruhte, die weitestgehend für erwachsene Männer der Arbeiterklasse reserviert waren. Die Räume der Szene im Ruhrgebiet waren von vornherein jugendlich, immer stärker szene-exklusiv, aber dennoch überwiegend männlich besetzt. Hinsichtlich der Herkünfte bestanden die Bands aus einem Querschnitt der bereits eingesessenen Einwohnerschaft der Zechensiedlungen und umfassten die Kinder, Enkel und Urenkel deutscher, italienischer, polnischer und griechischer Vorfahren. Besonders in dieser
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Vgl. Küppers, Special. Vgl. Frank »Pelle« Below: »Anfang der Achtziger waren Schlägereien auf Konzerten absolut normal.«, in: ebd.; Vgl. Interview Götz Kühnemund, 21.50 Min: »Metalfans untereinander haben sich eigentlich nie geprügelt.« Kühnemund verweist aber auch auf die Konflikte mit Neonazis und Gewalterfahrungen bei den sehr großen Konzerten wie Rock Pop in Concert in Dortmund. Vgl. Joachim Kersten, Sichtbarkeit und städtischer Raum. Jugendliche Selbstinszenierung, Männlichkeit und Kriminalität, in: Wilfried Breyvogel (Hg.), Stadt, Jugendkulturen und Kriminalität, Bonn 1998, S. 112–128. Vgl. dazu auch die Erfahrung von Waldemar Sorychta: »Später wurde das natürlich immer mehr, aber worauf ich hinauswollte, dass damals diese, sag ich mal, typischen Kuttenträger mit Iron Maiden, Judas Priest und allem was so Ende der 70er, Anfang 80er so schon in diesen Metalbereich ging, ich wurde von den Leuten sogar ausgelacht, was ich fürn Dreck hör, was ich fürn Krach hör. Metallica wär keine Musik, das wär für Hirnlose und für taube Idioten und wenn man sich vorstellt, 2020 gilt Metallica als Mainstream, beziehungsweise sogar schon ab den 90er Jahren seit dem »Black Album«, dann sieht man schon den Wandel innerhalb dieser ganzen Szene, die sich quasi selbst als Metal bezeichnet, dass damals noch viel mehr dieses Schubladendenken vorhanden war, dass jemand, der Punkrock hörte, gar nicht richtig zu der Metal-Szene dazugehörte.« Interview Waldemar Sorychta, 14.15-14.58 Min. Vgl. etwa Bußgeldbescheid der Stadt Gelsenkirchen, 10. Juni 1986, Facebook-Post Marky McFly. Dazu zählt auch die Überwölbung von rivalisierenden Fußballvereinen – etwa zwischen Schalkern und Dortmundern bei Waldemar Sorychta und Josef »Peppi« Dominik, Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 26.56-28.57 Min., oder beim langjährigen Engagement des Dortmunders Bernd Kost bei der Gelsenkirchener Band Sodom.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
räumlichen und ethnischen Hinsicht unterschied sich das Revier erheblich von den zeitgleich entstehenden Szenen in den USA.
3.2 Extreme Metal und die »white flight« – Musik aus den Vororten Seit den frühen 1980er Jahren verschob sich der Schwerpunkt der innovativen »westlichen« Metal-Szenen von den Städten in die Vororte, oder genauer gesagt: Flankiert von einem breiten Einzug von Musikern und Fans aus der Mittelklasse wechselte der räumliche Fokus von etablierten Community-Strukturen in council-house-bzw. ZechenSiedlungen zu suburbanen Randlagen. Die Zentren dieser Entwicklung waren die USA, Schweden und zum Teil England.72 Dabei war der Wandel mit einem Prozess verbunden, der gemeinhin als »white flight« bezeichnet wird und in dessen Folge vor allem weiße Mittelschichtsfamilien aus den Städten in die Vororte zogen, während niedrigere Einkommen, die verstärkt mit ethnischen Attributen verknüpft wurden, in den Städten blieben – mit massiven Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit von Infrastruktur, Sicherheit und Sozialpolitik.73 Gleichzeitig läuteten bereits die 1970er Jahre eine neue Ära besonders der US-amerikanischen städtischen Gesellschaften ein, indem sich ein breiter Wandel von öffentlichem zu privatem Konsum bahnbrach: Aspekte des täglichen Lebens wie Wohnen, Transport, Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge durchliefen vor allem in den 1980er Jahren eine dramatische Privatisierung und der Einzug des Wettbewerbs in einst öffentlich organisierte Bereiche veränderte die Art und Weise des urbanen Zusammenlebens grundlegend.74 In unserem Fall bedeutete dies eine wachsende Rolle von Musiker-Herkünften aus weißen und stark privatisierten Vororten von San Francisco, Tampa, New York und Stockholm. Dieser Wandel ging aber nicht bruchartig von Statten; vielmehr konnte man die räumlichen Folgen des Strukturwandels förmlich live anhand der Metal-Szenen beobachten. Die Szenen in der East Bay von San Francisco sowie in und um New York und in England wanderten gewissermaßen mit und wurden über die Wohn-, Schul-und Arbeitsorte ihrer Träger zusehends suburbaner. Zentral für diese Bewegungen waren nicht die Entscheidungen volljähriger Musiker, sondern jene der Eltern minderjähriger Musiker, Fanzine-Herausgeber oder Tape Trader, die die Szene-Bildungen der Dekade klar bestimmten. So wanderte die Familie von Paul Halmshaw, später Gründer von
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Zu den sozialen Folgen der räumlichen Veränderungen in Großbritannien vgl. Harrison, Finding a role, S. 92–96. Viele Beispiele für diese Prozesse in Sako Musterd/Wim Ostendorf/Matthijs Breebaart (Hg.), Multiethnic metropolis. Patterns and policies, Dordrecht 1998; Für die USA vgl. Carl Abbott, The New Urban America. Growth and politics in sunbelt cities, Chapel Hill 1987; Vgl. auch die instruktive Verknüpfung mit musikalischen Jugendkulturen in: Roger Ball, Subcultures, Schools and Rituals. A Case Study of the ›Bristol Riots‹ (1980), in: Keith Gildart u.a. (Hg.), Youth Culture and Social Change. Making a Difference by Making a Noise, London 2017, S. 17–46; Zuletzt vgl. Mikkel Thelle, Modern Urbanization, in: Ole B. Jensen u.a. (Hg.), Handbook of urban mobilities, London/New York 2020, S. 23–30, hier S. 26. Vgl. David Clarke/Michael Bradford, Public and Private Consumption and the City, in: Urban Studies 35 (1998) 5/6, S. 865–888, hier v.a. S. 878, 884.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Peaceville Records, von Savile Town ins drei Meilen außerhalb gelegene Thornhill aus, weil sich Immigranten aus Südostasien in der Stadt niedergelassen hatten, um in der nordenglischen Textilindustrie zu arbeiten.75 Für die jungen Musiker war dieser Umzug dort, wo er bereits in die Phase fiel, in der sich ein musikalisches oder Szene-Engagement anbahnte, eine Katastrophe. Denn sämtliche Entwicklungen, die für die Dezentralisierung der Stadt in den 1970er und 1980er Jahren verantwortlich waren, bedeuteten einen Gewinn für Erwachsene, von dem ihre jugendlichen Kinder wenig bis gar nichts hatten: Die Distanz zu den Treffpunkten in der Stadt stieg und man war für die Mobilität auf die Eltern angewiesen. Während für die Eltern ethnische überlagerte Konflikte sowie urbaner Jobabbau entscheidend waren, um die Stadt zu verlassen, lagen für die Jugendlichen genau dort weiterhin die Clubs und Plattenläden. Der Wunsch nach einem Eigenheim, staatliche Investitionen und reale Einkommensgewinne stellten ebenfalls keine jugendlichen Kernüberlegungen dar. Und schließlich war besonders das homogene Umfeld ein Garant für generationelle Meinungsverschiedenheiten, denn unter den Bedingungen eines aufziehenden Kreativitätsdispositivs, von jugendkultureller Identitätsarbeit und der empfundenen Notwendigkeit, Unterschiede und nicht Gemeinsamkeiten herauszustellen, mussten die Vororte auf die Jugendlichen wie die langweiligsten Orte der Welt wirken.76 Gepflegte Vororte in ihrer räumlichen, sozialen und privaten Struktur galten den dort aufwachsenden Musikern als Inbegriff des Stillstands, chronischer Kontaktarmut, Beargwöhnung gegenüber allem als fremd Empfundenen77 und wiesen aus musikalischer Sicht einen weiteren entscheidenden Nachteil auf: Es handelte sich um ruhige Orte, in denen laute Musik, Partys oder das Erlernen der nötigen Instrumente auf unüberwindbare Hindernisse stoßen konnten.78 Der Zusammenhang von urbaner Dezentralisierung und musikalischem Aufbruch ist jedoch keineswegs deterministisch im Sinne einer Gleichung wie »Langeweile und Frustration + Metal = Transgression« zu interpretieren. Dies würde die mediale Vermittlung genauso vernachlässigen wie die musikalische Vielfalt unter den Jugendlichen dieser Wohnorte.79 Dass die räumliche Entwicklung aber dennoch einen nicht unwesentlichen Teil zur musikalischen Aktivität beigetragen haben dürfte und Extreme Metal aus den Vororten auch die dort anzutreffende jugendliche Frustration verarbeitete, deutet sich an, wenn man einige Merkmale jener Counties der USA betrachtet, die mit Abstand die meisten Thrash-und Death Metal-Bands hervorgebracht haben. Aus ökonomischer Perspektive sind diese Entwicklungen eindrucksvoll und jedes der Counties gehörte um 1980 zu den Gewinnern des wirtschaftlichen Strukturwandels:
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Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 2. Punkte nach William M. Bowen/Deborah Kimble, Edge Cities in Context, in: Richard D. Bingham/ William M. Bowen/Yosra Amara (Hg.), Beyond Edge Cities, Hoboken 2013, S. 3–21. Vgl. M.P. Baumgartner, The Moral Order of Strangers, in: Anthony M. Orum/Zachary P. Neal (Hg.), Common Ground? Readings and reflections on public space, New York 2010, S. 49–55. Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 16. Für Schweden vgl. Mats Trondman, Rock Tastes – on Rock as Symbolic Capital. A Study of Young People’s Music Tastes and Music-Making, in: Keith Roe (Hg.), Popular Music Research. An anthology from NORDICOM-Sweden, Göteborg 1990, S. 71–85, hier S. 78f.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Steigende Bevölkerungszahlen, kräftiges Jobwachstum, hohe Anteile der dienstleistungs-, konsum-und (hier nicht einbezogen) technologiebezogenen Arbeitsplätze. Thrash-und Death Metal, so der erste Eindruck, entstanden in den USA in prosperierenden Regionen.
County
Bevölkerungsentwicklung 1970–1980
JobWachstum pro Jahr 1975–1980
Anteil Einzelund Großhandel an allen Jobs 1980
Anteil Dienstleistungen an allen Jobs 1980
Arbeitslosenquote 1980
Anteil weißer Bevölkerung 1980
Contra Costa (S.F.)
+ 18 %
6,82 %
34,35 %
27,9 %
9%
82,1 %
Orange (L.A.)
+ 36 %
11,14 %
23,86 %
23,27 %
4,3 %
87,2 %
Hillsborough (Tampa)
+ 32 %
3,01 %
40,56 %
42,68 %
5,1 %
84,8 %
Broward (Ft. Lauderdale)
+ 64 %
7,65 %
32,93 %
23,34 %
4,7 %
87,8 %
Suffolk (Long Island, NY)
+ 14 %
5,7 %
21,29 %
26,67 %
6,2 %
92,4 %
Tab. 3: Bevölkerungsentwicklung, Arbeit, Segregation – US-Counties im Vergleich. Zusammenstellung des Verf. nach M. Gottdiener/George Kephart, The Multinucleated Metropolitan Region: A Comparative Analysis, in: Rob Kling/Spencer C. Olin/Mark Poster (Hg.), Postsuburban California. The transformation of Orange County since World War II, Berkeley 1991, S. 31–54, hier S. 40–42.
Doch freilich gestaltete sich die Situation auf der Mikroebene weitaus differenzierter und junge Musiker erlebten die räumlich-sozialen Schattenseiten dieses Aufschwungs. Denn bei vielen Extreme Metal-Hochburgen des Landes handelte es sich um sogenannte »Edge Cities« oder sogar »Edgeless Cities«, d.h. um chronisch zentrumslose und auf Wohnraum, Jobs und Konsum ausgerichtete Räume.80 Gewachsene Nachbarschaftsund Solidaritätsstrukturen wie in England oder im Ruhrgebiet während der späten 1970er Jahre existierten hier eher nicht und die Infrastruktur war auf das Automobil,
80
Zum Begriff der »Edge City« grundlegend Joel Garreau, Edge City. Life on the new frontier, New York 1992; Zum Begriff der »Edgeless Citiy« und dem – hier nicht entscheidenden – Unterschied zur »Edge City« vgl. Robert Lang, Edgeless cities. Exploring the elusive metropolis, Washington 2003.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
das Einkaufen und den Büroraum ausgelegt. Öffentlicher Raum bestand nur sehr selten – teilweise nicht einmal Bürgersteige.81 Die US-weit am stärksten in dieser Form strukturierten Gebiete waren der Norden von New Jersey, die Region Miami/Ft. Lauderdale, San Francisco und Philadelphia82 – allesamt mit herausragenden Punk-und Metal-Szenen ausgestattet. Verglichen mit den Zentren der NWOBHM oder Städten wie Essen oder Dortmund wiesen diese »Edge« bzw. »Edgeless Cities«, in denen die Musiker in endlos scheinenden Vorortsiedlungen lebten, erhebliche soziale und kulturelle Defizite auf, weshalb die Einwohner besonders für kulturelle Angebote auf die nahe Metropole angewiesen blieben.83 Für suburbane Metal-Fans spielte dieser Blickwinkel auf die Stadt eine zentrale Rolle und viele Akteure artikulierten eine regelrechte Sehnsucht nach der Stadt als lautem, aufregendem, abwechslungsreichem und weniger disziplinierendem Raum.84 Der Death Metal-Underground, den die US-Plattenindustrie im Jahr 1994 auf landesweit etwa 60.000 Personen schätzte und den sie als männlich, suburban, weiß und zwischen 14 und 24 Jahren verortete,85 sammelte sich jedoch nicht nur in zentrumslosen und von Privateigentum dominierten Räumen, sondern auch in ethnisch hochgradig segregierten Wohnvierteln. So wiesen bereits die Counties Anteile weißer Bevölkerung von mehr als 80 % auf – Werte, die in den jeweiligen Vororten im sehr hohen 90er-Bereich lagen oder 100 % betrugen. Der »typische« Vorort, aus dem die Metal-Musiker stammten, entsprach dabei einem Umfeld, das George Lipsitz in seiner wegweisenden Studie zum Alltagsrassismus in den USA als »white spatial imaginary« bezeichnete. Es war nicht nur ein »Raum«, sondern eine soziokulturelle Denkfigur: The white spatial imaginary has cultural as well as social consequences. It structures feelings as well as social institutions. The white spatial imaginary idealizes »pure« and homogenous spaces, controlled environments, and predictable patterns of design and behaviour. It seeks to hide social problems rather than solve them.86 Lipsitz beschrieb »weiß« nicht als Farbe, sondern als gesellschaftlichen Zustand und strukturellen Vorteil, der alles als gerecht und erarbeitet-Empfundene als »weiß« und dessen Gegenteil als »schwarz« konnotiere.87 Dabei schwebte ihm insbesondere der weiße Vorort als illusionsbehafteter Ort vor, an dem fremde Elemente marginalisiert und entfernt und wo individualistische Flucht anstatt demokratischer oder kommunikativer Vielfalt gepflegt werden würden.88
81 82 83 84 85 86 87 88
Vgl. Bowen/Kimble, Edge Cities in Context, S. 14. Vgl. Lang, Edgeless cities, S. 69–72. Vgl. Bowen/Kimble, Edge Cities in Context, S. 13–17. Vgl. dazu die zahlreichen Aussagen der Musiker in den nachfolgenden Regionalstudien. Vgl. Gary Graff, Metal spew concussive horror, in: The Post Star (Glens Falls, NY), 13.02.1994, S. 20. George Lipsitz, How racism takes place, Philadelphia 2011, S. 29. Vgl. ebd., S. 3. Zu den Ursachen und Abläufen von Segregation und Ausgrenzung in den USA vgl. Robert M. Adelman/Christopher Mele (Hg.), Race, Space, and Exclusion. Segregation and beyond in metropolitan America, New York 2015. Mit einer auch fotografisch gelungenen Abbildung der »hypersegregated city« Buffalo.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Fernab davon, dadurch rassistisch zu sein, gehörte für die jungen Musiker aus den Vororten der Kontakt mit ethnischen Minderheiten im privaten Alltag zu den absoluten Ausnahmen. Doch ob bewusst oder nicht: Die dauerhafte Trennung führte dazu, das Verhältnis von Musik und Hautfarbe vor dem Hintergrund der »white flight« als Mixtur ethnischer, räumlicher und sozialer Grenzen wahrzunehmen. Karen Milewski aus Philadelphia, die einige Jahre später Metal War Productions gründete, brachte das ganze Dilemma des Extreme Metals der USA auf den Punkt und verdeutlichte die untrennbare Verschmelzung von »race«, »place«, »class« und »gender«, wenn es um die musikalischen Vorlieben ging: I was a kid who absolutely hated school, mainly because I went to a predominantly black public school in the city & being a white female into METAL it wasn’t a very good experience.89 Aus derart segregierten Räumen kommend, war Death Metal in den USA tatsächlich eine »spezifisch ›weiße‹ Mitteilungsform«, wie es 1995 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hieß,90 doch erweiterten andere öffentliche Einschätzungen, vor allem in den USA selbst, das Problem permanent um die Musik und den »class«-Aspekt und gelangten zu dem Urteil, hier musiziere die weiße Unterschicht (»white trash«) – so etwa in der Tampa Bay Times im gleichen Jahr: Under the black T-shirts, death metal is a white thing. Death metalers embrace a sense of white-trash rejection, then magnifiy it a million times. They’re part of a tradition of white-boy rebel rock that stretches back to Lynyrd Skynyrd. But instead of waving Confederate flags and fantasizing about antebellum times, they’ve learned to splatter their misery across CDs and concert stages.91 Dass diese Einschätzung den gesicherten Fakten über die Herkünfte der Musiker widerspricht, wurde bereits in Kapitel 2 deutlich. Darüber hinaus ist es an dieser Stelle wichtig, zwischen Ursachen und Wirkungen in der Mixtur von »race«, »class« und »place« zu unterscheiden. »White music« im Sinne eines rassistischen Selbstverständnisses war der überwiegende Teil des US-Death Metals – und vor allem der überregional bekannte Teil – nie.92 Über den Fakt hinaus, dass die Musiker fast ausschließlich Weiße waren, fanden keine Thesen der »white supremacy« Einzug in die Texte und die Homogenität der Szene wurde durch einen sozioökonomischen und räumlichen Strukturwandel geprägt, der außerhalb des Einflusses der Metalheads lag. Ian Christes These »race
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Chris Forbes, Metal War Productions. Interview with Karen Milewski, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/metalwarprodintv.html (letzter Aufruf 17.12.2021). Peter Kemper, Müllmänner, Metallarbeiter und Dschungelkämpfer. Die aktuellen Stilwirren in der Pop-Szene (II), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.1995, S. 32. Anonym, Tampa U.S.A. How others see us, in: Tampa Bay Times, 17.03.1995, S. 12. Für diese These kann keine Literatur zitiert werden. Es handelt sich um ein Urteil aus langjähriger privater Beschäftigung mit Death Metal-Bands, ihrer Musik, ihren Lyrics und Interviews. Death Metal-Bands aus den USA, die durch rassistische Lyrics auffielen und sich auch nie politisch von ihren Aussagen distanzierten, sind zum Beispiel Angelcorpse oder Arghoslent.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
[…] would always be secondary to talent«93 kann daher hinsichtlich der Äußerungen der Musiker zugestimmt werden. Wie sich innere Überzeugungen und die Positionen der Fans darstellten, kann dadurch jedoch nicht überprüft werden. In den meisten Vororten konnten sie ohnehin nicht auf die Probe gestellt werden. Die Beziehung zwischen Death Metal und »race« war also keine Folge nationaler Entwicklungen der Rassentrennung oder gar von bestimmten ethnischen Dispositionen gegenüber bestimmten Formen populärer Musik, sondern ein Ergebnis räumlicher, sozialer und ethnischer Entwicklungen vor Ort, mit spezifischen Traditionen, Besonderheiten und unter dem Einfluss der Agenda verschiedener Interessengruppen. Dass, wie Natalie Purcell für das Jahr 2000 beobachtete, kaum Afroamerikaner bei Death Metal-Konzerten in New Jersey zu sehen gewesen wären, während das Verhältnis von Schwarzen und Weißen bei einer ähnlichen Show in New York City eins zu eins betragen hätte,94 unterstreicht die Notwendigkeit einer regionalisierenden Perspektive für den Zusammenhang von Metal-Musik und dem »race«-Aspekt. Es ist für den folgenden Vergleich der Szenen darüber hinaus entscheidend, die musikalische Praxis nicht deterministisch an den Niedergang der US-Innenstädte zu knüpfen, sondern zu fragen, wie Stadt und Vororte aus der Perspektive der Musikkultur verbunden blieben, wie die massiven Unterschiede der Orte in den Szenen verhandelt wurden und wie Metalheads die bestehenden Räume besetzten, nutzten und neue Räume erschlossen. Die Metal-Szenen müssen daher auch auf ihre Verbindung zum »new urbanism« befragt werden, denn nach den Niedergangserscheinungen der 1970er und 1980er Jahre begannen Städte wie Pittsburgh, Birmingham, New York oder Stockholm in den 1990er Jahren, wieder Orte des Wohnens und Lebens, der Arbeit und der Freizeit zu werden – nun jedoch nicht mehr als Orte der Produktion, sondern als Arena für die Freizeitinteressen der Mittelklasse, für Konsum, Bildung und unter der Prämisse privater Investitionen.95 Zentral war dabei der Glaube an einen positiven Effekt urbaner Kulturproduktion und die Stadt wurde zunehmend zur Bühne für die Auseinandersetzung um symbolisches Kapital in zahlreichen Lebensstilen, aber auch zu einer Sphäre neuer Ungleichheit, in der erneut ethnische Faktoren, Bildung, das Elternhaus oder der Wohnort über die Teilhabe bestimmten.96 So sprach bereits 1996 Manuel Castells von einer drohenden »dual city«, in der als Folge der Kulturökonomie einer neuen »creative class«, die global vernetzt aber lokal abgekoppelt sei, jene zurückbleiben würden, die schon zuvor die Leidtragenden des urbanen Wandels gewesen wären.97 Inwiefern die Metal-Szenen und ihre Träger vor diesem Hintergrund Gewinner oder Verlierer des »new urbanism« waren und ob sie gar einen Bestandteil seines langfristigen Erfolgs ausmachten, ist bis-
93 94 95
96 97
Christe, Sound of the Beast, S. 206. Vgl. Purcell, Death Metal Music, S. 105f. Vgl. Paul Chatterton/Robert Hollands, Theorising Urban Playscapes: Producing, Regulating and Consuming Youthful Nightlife City Spaces, in: Urban Studies 39 (2002) 1, S. 95–116, hier S. 96 f; Vgl. Harald Bodenschatz/Ulrike Laible, Großstädte von morgen. Internationale Strategien des Stadtumbaus, Berlin 2009, S. 45–65, 109–127; Vgl. Lenger, Metropolen der Moderne, S. 503 u.a. Für Birmingham vgl. Frank Webster, Re-inventing place. Birmingham as an information city?, in: City 5 (2001) 1, S. 27–46. Vgl. Manuel Castells, The rise of the network society, Cambridge 2000, S. 404.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
her ebenfalls nicht untersucht worden und verlässt den Untersuchungszeitraum dieser Studie. Dennoch sollen auch dazu erste Überlegungen angestellt werden.
3.2.1 San Francisco Bay Area An kaum einer anderen Metal-Szene der »langen 1980er Jahre« wird die Verknüpfung von sozioökonomisch-räumlichem Wandel und der sozialen Praxis der Musikkultur so deutlich wie an der ab etwa 1981 entstehenden Thrash Metal-Szene in der San Francisco Bay Area. Es handelte sich dabei um die Folgen einer Suburbanisierung einer Mittelklasse »unter Druck«, die im Vergleich zu den Szenen an der Ostküste darüber hinaus zeigte, dass »whiteness« kein Teil der DNA der Szene, sondern vom Charakter der jeweiligen urbanen Dezentralisierung beeinflusst war. Mit »San Francisco Bay Area Thrash Metal« ist das Netzwerk aus Kommunikation und musikalischer Praxis in den frühen 1980er Jahren im Grunde falsch bezeichnet. Vielmehr war es eine Szene aus der East Bay, deren Zentren nördlich von Oakland in der Städtekette zwischen Berkeley und Richmond, sowie südlich von Oakland und Hayward lagen. Ab Mitte der 1980er Jahre verschob sich dieser Schwerpunkt dann weiter weg von der Stadt in die boomenden Vororte im Contra Costa County, wie Fremont, Walnut Creek, Concord, Antioch oder Dublin. Aus San Francisco selbst stammten sehr wenige MetalMusiker und auch ein großer Teil der Clubs und Treffpunkte entwickelte sich nicht urban, sondern lag in der East Bay mit Berkeley als Gravitationszentrum. Ron Quintana, eine der wichtigsten Figuren dieser Szene, Herausgeber von Metal Mania, einem der ersten Fanzines, sowie Host von »Rampage Radio« bei KUSF, beschreibt in diesem Kontext nicht nur Berkeley mit dem Club Ruthie’s Inn als Zentrum der Gemeinschaft, sondern macht auch deutlich, dass Punks und Metalheads in unterschiedlichen Räumen zu finden waren: Ruthie’s Inn was a really fun place. (laughs) The punks had The Mob in San Francisco, but the metal scene was getting bigger in East Bay where Ruthie’s Inn is in Berkley, CA and those could be some of the craziest, most chaotic shows around. Oh my god there was Exodus, Blizzard, soon to be Possessed, Legacy became Testament and just about everybody would play Ruthie’s and everybody went to Ruthie’s and that was about the center of the metal universe for us out here.98 Dass die Großstadt im Kontext dieser Metal-Szene als Herkunft ausschied und sich auch die Szene-Infrastruktur – nie vollständig, aber doch deutlich – suburban organisierte, lag an der beispiellosen wirtschaftlichen Entwicklung der gesamten Bay Area in den 1980er Jahren und der daraus resultierenden heftigen sozialen Dynamik – einer Mischung aus Bevölkerungszunahme durch Immigration, Privatisierung, räumlicher Ausdehnung sowie wachsender sozialer Ungleichheit. Trotz einer Rezession 1982/83, die vor allem die Industrie in der unmittelbaren East Bay in Orten wie Richmond (Herkunft von Exodus) traf, und einer Krise 1984–1986, in der die Blase der Elektro-und
98
Chris Forbes, Interview with Ron Quintana, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.c om/rq.html (letzter Aufruf 17.12.2021).
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Telekommunikationsunternehmen platzte,99 erlebte die Bay Area ein Bevölkerungswachstum, das doppelt so groß war wie der nationale Durchschnitt und eine viermal höhere Einwanderungsquote aufwies.100 Räumlich fand eine Umverteilung statt: Die Städte Oakland, San Francisco und die East Bay verloren Einwohner, während San Jose durch seine Anbindung an das Silicon Valley boomte und sich besonders die östlichen und südöstlichen Counties wirtschaftlich stark entwickelten.101 In Contra Costa und Alameda County standen bedeutend mehr Jobs zur Verfügung als in San Francisco selbst und Kleinstädte wie Concord wuchsen innerhalb von 20 Jahren zu Großstädten.102 Spätere Initiativen erlaubten es diesen Städten östlich der East Bay Hills wie Walnut Creek, Concord oder Pleasant Hill, lebhafte Stadtkerne zu entwickeln – in den 1960er Jahren handelte es sich jedoch noch um ländliche Gemeinden,103 die in den 1970er Jahren zu Edge Cities anwuchsen und fast alle Metal-Musiker ab der Mitte der 1980er Jahre teilten sich Herkünfte, die wie an der Perlenschnur der Interstate 680 aufgereiht waren (vgl. Abb. 15).104 Ebenso wie in Orange County nahe Los Angeles, von wo die Band Slayer stammte, starteten Karrieren von Thrash Metal-Bands hier in zentrumslosen, konsumorientierten und dienstleistungsbasierten suburbanen Räumen.105 Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch den öffentlichen Nahverkehr des BART (Bay Area Rapid Transit), das seit den 1970er Jahren die Stadt und die Vororte verband und das Berufspendeln ermöglichte.106 Die enorme räumliche Ausdehnung kann als Paradebeispiel der »white flight« gelten und führte dazu, dass sich die afroamerikanische, asiatische und Latino-Bevölkerung besonders innenstädtisch segregierte, während die weißen Städter in die Vororte zogen. 1980 wies Oakland schließlich einen Anteil afroamerikanischer Einwohner von 51 % auf (1950 waren es 12 % gewesen), der sich noch stark auf bestimmte Stadtteile wie West Oakland, South Berkeley oder Hunters Point konzentrierte.107 Mit Blick auf die Verbindung
99 100
101 102 103
104 105 106 107
Vgl. Richard Walker, Another round of globalization in San Francisco, in: Urban Geography 17 (2013) 1, S. 60–94, hier S. 77–82. Vgl. N.G. Leigh, What Happened to the American Dream? Changing Earning Opportunities and Prospects of Middle-Class Californians, 1967–1987, in: California History 68 (1989) 4, S. 240–247, hier S. 240. Vgl. Mel Scott, The San Francisco Bay Area. A metropolis in perspective, 2. Aufl., Berkeley 1985, S. 312. Vgl. ebd. Chuck Billy (Legacy/Testament) zu Dublin: »I remember moving to Dublin California in 1965 driving through a little town that didn’t have much to it one high school a few supermarkets.« Anonym, Dublin Death Patrol Re-Emerges!, in: Sick Drummer Magazine 2007, URL: https: //sickdrummermagazine.com/news/latest-news/dublin-death-patrol-re-emerges/ (letzter Aufruf 17.12.2021). Vgl. Richard Walker, The country in the city. The greening of the San Francisco Bay Area, Seattle 2010, S. 146f. Für Orange County vgl. Spencer C. Olin/Mark Poster/Rob Kling, The Emergence of Postsuburbia: An Introduction, in: dies. (Hg.), Postsuburbian California, S. 1–30. Vgl. Scott, The San Francisco Bay Area, S. 320. Vgl. Donna Jean Murch, Living for the city. Migration, education, and the rise of the Black Panther Party in Oakland, California, Chapel Hill 2010, S. 16; Vgl. Peter Cole, Dockworker Power. Race and Activism in Durban and the San Francisco Bay Area, Champaign 2018, S. 24–30.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
zur Musikkultur war es dabei jedoch entscheidend, dass mehr als 60 % der schwarzen Bevölkerung der East Bay dort ansässig waren, wo die Thrash Metal-Szene in den frühen 1980er Jahren entstand, nämlich zwischen Oakland und Richmond, während Schwarze in den äußeren Ringen der Vororte, von wo Thrash Metal ab Mitte der 1980er Jahre kam, nicht vertreten waren.108 Thrash Metal-Musiker suburbanisierten sich also während des Jahrzehnts zunehmend und wuchsen unter immer stärker segregierten Verhältnissen auf – bis schließlich seit den späten 1980er Jahren der Death Metal aus der Bay Area fast nur noch in den äußeren Vororten entstand.109 Dass die Thrash Metal-Szene aus der East Bay in der Vergangenheit als exzeptionelles Beispiel für die Integration nicht-weißer Minderheiten in die Metal-Kultur angeführt werden konnte,110 während dies für den späteren Thrash Metal und erst recht den Death Metal der Region keinen Sinn ergab, veranschaulicht die enormen Folgen urbaner Dezentralisierung für die soziale Praxis dieser Musikkultur. Der postulierte Zusammenhang von »race« und »place« wird mit Blick auf die MetalSzene der East Bay noch einmal verkompliziert, wenn der »class«-Aspekt berücksichtigt und beachtet wird, dass Suburbanisierung in dieser Region nicht zwangsläufig ein Phänomen wohlhabender Haushalte war. Auch weiße »blue-collar workers«, die in der Bay Area 1980 55 % aller weißen Erwerbstätigen ausmachten, zog es mit ihren Familien massenhaft in die Vororte,111 wo viele von ihnen einen langsamen Abstieg erlebten. Denn auch unabhängig von ethnischen Gesichtspunkten verloren die »unteren« 40 % der arbeitenden Bevölkerung der East Bay in den 1980er Jahren an Einkommen, leisteten mehr Teilzeitarbeit, mehrere Jobs gleichzeitig oder waren von Arbeitslosigkeit bedroht – und auch das Einkommen der »mittleren« 20 % sank um zehn Prozentpunkte,112 sodass der Mittelklassehaushalt mit Alleinernährer langsam verschwand.113 Der Hauptgrund für diesen Verlust war die Entwicklung des Wohnungs-und Immobilienmarktes. Privatisierung und Bevölkerungszunahme ließen die Mieten um 38 % und die Häuserpreise um 62 % steigen. Weniger als zehn Prozent der Bevölkerung konnte sich ein Haus leisten – der niedrigste Wert in den Vereinigten Staaten114 – und ein Wegzug in die äußeren Vororte war häufig ein geeigneter Weg, der Preisspirale zu entkommen. Parallel wuchs das Einkommen der »oberen« 20 % um 15 % und die Bay Area, spirituelles Zentrum der California Yuppies, wurde die reichste Metropolregion der USA;115 inklusive einer schwarzen Mittelschicht, die sich des »Buppie«-Lifestyles bediente, sich vor allem
108 Vgl. Dick Walker/Bay Area Study Group, The Playground of U.S. Capitalism? The Political Economy of the San Francisco Bay Area in the 1980s, in: Mike Davis (Hg.), Fire in the hearth. The radical politics of place in America, London 1990, S. 3–82, hier S. 39: »in the outer rings of the metropolis Blacks are almost invisible.« 109 Vgl. dazu auch die Aussage von Matt Harvey (Exhumed), in: Netherton, Extremity Retained, S. 188. 110 Vgl. Fellesz, Voracious Souls, S. 91–94, 101. 111 Vgl. Richard Walker, California Rages Against the Dying of the Light, in: New Left Review 209 (1995), S. 42–74, hier S. 47. 112 Vgl. ebd., S. 48. 113 Vgl. Leigh, What Happened to the American Dream?, S. 240–244. 114 Vgl. Walker, California Rages, S. 49; Vgl. Walker, Playground, S. 42f. 115 Vgl. Walker, California Rages, S. 47.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
auf die unmittelbare East Bay und San Francisco konzentrierte, aber in der »white heat« der »Edge Cities« nicht zu finden war.116
Abb. 15: Die San Francisco Bay Area.117
Original in: URL: https://ontheworldmap.com/usa/city/san-francisco/san-francisco-bay-area-map. html (letzter Aufruf 17.12.2021). Schnitt und Markierungen des Verf.
Für die gesellschaftliche Einbettung, die sozialen Praktiken und die ethnischen Besonderheiten der Thrash Metal-Szene waren diese Entwicklungen von enormer Bedeutung. Zunächst vor allem deshalb, weil die steigenden Mietkosten eine soziale Grenze zwischen Jüngeren und den älteren Hausbesitzern schuf und jugendliche Musiker daher verhältnismäßig lange bei ihren Eltern wohnen blieben. Das Elternhaus diente da116 117
Vgl. Walker, Playground, S. 26f. Zentren und Herkünfte der Bands der frühen 1980er Jahre gelb/Herkünfte der Bands ab Mitte der 1980er Jahre rot markiert.
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bei vielen auch als Ort musikalischer Praxis und die Garage wurde zum Inbegriff probender Metal-Bands118 – Metallica nannten ihre erste EP (1987) in Erinnerung an die Proben englischer Coverversionen schließlich sogar »Garage Days Re-Revisited.« Im Umfeld des suburbanen Privatbesitzes standen oft schlicht keine anderen Probemöglichkeiten zur Verfügung oder die Bands wichen in möglichst kostenfreie private Quartiere aus. Chuck Billy und Rampage probten zum Beispiel in einem LKW-Anhänger in einem Speditionshof in Oakland.119 Des Weiteren lässt sich der sozioökonomische Schwerpunkt unter den Musikern in etwa in der unteren Mittelklasse verorten, also genau in jener Schicht, die massiv vom Strukturwandel der Bay Area betroffen war. Bis auf wenige Ausnahmen weisen hier alle Aussagen auf Herkünfte hin, in denen abhängige Erwerbsarbeit sowohl bei den Eltern vorhanden als auch von den Kindern erwartet wurde.120 Am Existenzminimum lebte freilich keiner, es handelte sich um eine gesellschaftliche Schicht vor allem weißer Arbeitskräfte, die nicht am offensichtlichen Boom der Bay Area partizipierten. Als solche erlebten sie besonders die räumlich-sozialen Kehrseiten des Aufschwungs – etwa die radikale Gentrifizierung von Downtown San Francisco, wo sich am Ende der 1980er Jahren allein 30 % der Immobilien in den Händen eines Investors befanden, den zunehmenden Tourismus, der Erwerbstätige in Massenapartments oder in die »Edge Cities« trieb, oder die mit ethnischen Konflikten verbundenen Abrisse der »alten« Vororte wie Richmond, wo Häuser weißer Rentner den Unterkünften der Immigranten weichen mussten.121 Als ständige Erweiterung der Grenze der Vororte bedrohten diese Entwicklungen nicht bloß die musikalische Praxis der Jugendlichen und koppelte diese an Mobilität und Garage – und damit die Eltern. Es machte die jungen Musiker auch mit zwei Denkfiguren vertraut, die sich in Interviews und in der erzählten Geschichte dieser Szene bis heute wiederfinden: Einer Mischung aus dem Widerstand der »kleinen Leute«, der als »home-owner populism« die weißen Vororte dominierte,122 und dem älteren Narrativ der Stadt San Francisco als kulturellem und tolerantem Zentrum vieler verschiedener Jugendbewegungen. Die neuen Ungleichheiten sowie die urbane Dezentralisierung und ihre sozialen Folgen standen in krassem Gegensatz zum empfundenen Image einer offenen, egalitären und kulturell diversen Gegend und provozierten – auch durch die große Nähe der Szene zum (Hardcore) Punk – gesellschaftskritische bis antipolitische Positionen unter den Musikern von Bands wie Testament, Metallica, Exodus oder Forbidden.123 118
Als prototypisches Beispiel die Genese der Band Attitude Adjustment in den Vororten: »Well we technically started in Concord, where Chris Kontos parents had a garage. Me (and then later Rick Strahl) were from Walnut Creek.« Interview Eric McIntire, Z. 18–20. 119 Vgl. Dublin Death Patrol Re-Emerges. 120 Bis auf Metallicas Lars Ulrich, der aus der dänischen Upper Class stammte, lässt sich dieses Urteil m.E. generalisieren und trifft auf sämtliche sonstigen Akteure zu, z.B. Holt, Hetfield, Hammett, Hunting, McGovney, Cavestany, Billy, Souza u.a. 121 Vgl. Walker, Playground, S. 41f. 122 Vgl. Robert O. Selt, California’s Industrial Garden. Oakland and the East Bay in the Age of Deindustrialization, in: Jefferson Cowie/Joseph Heathcott (Hg.), Beyond the Ruins. The meanings of deindustrialization, Ithaca 2003, S. 159–180, hier S. 168. 123 Als Beispiel hier Gary Holt: »I think that goes back to our upbringing in the blue-collar working class. […] All that prosperity didn’t trickle down to us. We were the longhaired kids that lived in ghettos and didn’t fit in where we lived.« David Wagner, Fans, bands tout Bay Area’s thrash
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Aus der Sicht von Craig Locicero, der 1985 Forbidden Evil in Fremont mitgründete, stellte Thrash Metal daher auch eine Protestbewegung dar: M.S.: Would you consider politics a crucial part of thrash metal in San Francisco? C.L.: Yes. In a big way. You know, […] to me, what attracted me to metal and music like this was the fact that it could speak of things that were bothering us, you know. So, in our era, in the very beginning of it, what was it? It was nuclear war and Ronald Reagan, you know, and things that where I ›Arrgh‹, you know, you wanted ›Arrgh‹, go against the authority, go against the system and the establishment. And so, when I started writing lyrics, […] I was very anti-politically motivated. I was always questioning authority, questioning life, questioning, question, question, question, more other questions, you know. […] So, the Bay Area and metal and thrash to me have always been politically and anti-politically charged.124 Politische und gesellschaftskritische Einschätzungen wie diese lassen sich – mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen hinsichtlich Religion, Atomkrieg oder Entfremdung125 – auch bei Bands aus den Vororten von Los Angeles ausmachen (Slayer, Megadeth, Dark Angel) und erzeugen eine gesellschaftliche Einordnung der Thrash Metal-Szene, die in den 1980er Jahren zwischen einer kulturell progressiven und einer politisch und sozial konservativen, d.h. die »alte Bay Area« erhaltenden Position lavierte. Als »cosmopolitans from below«126 sind die Musiker daher nicht ganz korrekt verortet – es handelte sich eher um solche, die eine Abwärtsmobilität empfanden und/oder die Widersprüche der neoliberalen Politik mit den traditionellen Werten ihrer Region anprangerten, also um »Kosmopoliten« aus der Mittelschicht, die sozial nach »unten« schauten. Ein wichtiger Aspekt dieser Position war die selbstverständliche Einbeziehung von Musikern, die ethnischen Minderheiten angehörten. Dazu gehörten Eric Peterson und Chuck Billy (Legacy/Testament), Kirk Hammett (Exodus/Metallica), die gesamte Band Death Angel, aber auch Tom Araya (Slayer, aus L.A.), um nur die prominentesten zu nennen. Maßgeblich dafür, dass es dieser Szene wie keiner anderen während der 1980er Jahre gelang, den »race«-Aspekt zu diversifizieren, waren die Bevölkerungsstruktur der Bay Area und kulturelle Atmosphäre von San Francisco, die temporäre Überschneidung von musikalischem Aufbruch und erst einsetzender »white flight« der Musiker in den frühen 1980er Jahren, sowie die Tatsache, dass die Region auch außerhalb der weißen Bevölkerung eine Mittelschicht ausbildete. Die Bay Area Thrash Metal-Szene war daher die sozial heterogenste Szene des Jahrzehnts und wies Akteurskonstellationen auf, die in
metal legacy, in: The San Francisco Chronicle, 12.11.2011, URL: https://www.sfgate.com/bayarea/ article/Fans-bands-tout-Bay-Area-s-thrash-metal-legacy-2393272.php (letzter Aufruf 20.12.2021); Ein weiteres Beispiel ist Chuck Billy, der als Mitglied einer indigenen Minderheit immer wieder auf Ausgrenzung, die Geschichte der Vernichtung und Rassismus hingewiesen hat. 124 Interview Craig Locicero, 19.48-23.01 Min. 125 Sowohl in öffentlichen Aussagen als auch in den Lyrics und Covern übten Dave Mustaine (Megadeth) und Kerry King (Slayer) kontiuierlich Kritik an der großen Bedeutung religiöser Überzeugungen in der US-Gesellschaft (King) sowie Krieg und seinen Folgen (Mustaine). 126 Fellezs, Voracious Souls, S. 93.
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anderen Regionen undenkbar gewesen wären. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist Terrence Kelsey, der als schwarzer Drummer der Band Black Dethe über die Probleme eines Metalheads in der Bay Area berichtete. Bezeichnenderweise hielt er seine Hautfarbe dabei nicht einmal für erwähnungswürdig, sondern fokussierte die Aspekte »class« und »place« als zentrale Merkmale der Szene: Marin [jenseits der Golden Gate Bridge gelegen, M.S.] is one of the richest counties in California […], and it’s not the ideal place for angst-ridden youth. But beneath the surface lies a lot of drug abuse, disenchantment and suicides. Back in the ’80ies, Marin probably had the highest suicide rate in the Bay Area and California in general. And I think that has to do with the fact that the adult establishment neglected the youth. The suburban kids wanted an outlet for them to congregate in various social gatherings. But most places that existed ended up being shut down. And parties in these neighbourhoods were ALWAYS shut down by the Police. […] Bottom line, affluent parents didn’t think that their kids could have any problems. But they did. This is the environment we came from. Being ›Rockers & Metal heads‹, we were considered the dregs of the community. But we saw through all of the upper-class bullshit…127 Vor einer allzu harmonischen Interpretation multiethnischer Zusammenarbeit sollte dennoch gewarnt werden. Die These der kulturellen Offenheit des Thrash Metals aus der Bay Area128 lässt sich mit Blick auf die Musiker verifizieren, weil keine gegenläufigen Beispiele bekannt sind. Terrence Kelsey wäre nach eigener Aussage im Kontext der Szene nie rassistisch beleidigt worden, hätte dies aber durchaus durch Skinheads bei HardcorePunk-Konzerten oder durch »Glam Rockers« in Los Angeles erfahren129 – wobei letzteres auch als intendierte Verschärfung des Gegensatzes zwischen »Glam Metal« aus Los Angeles und Thrash Metal aus San Francisco gelesen werden kann. Fotografien von Konzerten, wie etwa aus dem Ruthie’s Inn oder Wolfgang’s,130 zeigen jedenfalls mitunter auch schwarze Jugendliche, und auch das Ruthie’s Inn selbst wurde von Wes Robinson, einem Schwarzen, geführt. Andererseits bestehen hinsichtlich der breiten Masse der Fans Zweifel, ob sich das tolerante und offene Flair gegen den Alltagsrassismus der weißen Vororte durchsetzen konnte.131 Immer wieder berichteten auch Musiker von Erfahrungen mit ethnisch-konnotierter Gewalt, so zum Beispiel Alex Skolnick (Testament) für die Umgebung des Omni, dem wichtigsten Club für Thrash Metal im Stadtteil Temescal von Oakland, wo viele seiner Freunde angegriffen und ausgeraubt wurden bzw. dem nur knapp entkamen.132 Inwiefern sich dabei die sozialen Folgen der Segregation auf musikkulturelle Perspektiven übertrugen, ist unklar. Auch sollte die Zahl der nicht-weißen Fans selbst in der Bay Area nicht überschätzt werden. Verglichen mit anderen Metal-Szenen gestaltete sie sich dennoch ausgesprochen divers.
127 128 129 130 131 132
Terrence Kelsey, in: Jon Kristiansen, Slayer 19 (2004), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 650. Vgl. Fellezs, passim. Kelsey, in: Kristiansen, S. 650. Vgl. Oimoen/Lew, Murder in the Front Row, S. 183 unten, S. 184 unten. Vgl. Walker, Playground, S. 5. Vgl. Harald Oimoen/Brian Lew, Murder in the Front Row, New York 2012, S. 251.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Die Geschichte der Thrash Metal-Szene in der Bay Area vollzog sich also eingebettet in den räumlichen und sozialen Wandel der Region – entwickelte aber auch musikkulturelle Kontrapunkte zu dessen Herausforderungen. So ist es frappierende Ironie, dass nicht nur im Zuge der Suburbanisierung, sondern auch im Kontext der Szene von »Wellen« gesprochen wird, um die erste »Generation« von Bands aus der East Bay von der zweiten »Generation« zu trennen, die im äußeren Vorortring entstand.133 Die Akteure befanden sich unfreiwillig auf dem Weg weg von der Stadt, blieben aber durch ihre musikalische Fixierung auf Berkeley und die Treffpunkte in San Francisco – The Record Vault als wichtigster Plattenladen oder Clubs wie Mabuhay Gardens oder The Stone – szene-sozial integriert. Es gelang der entstehenden Szene dadurch, die Fliehkräfte der urbanen Dezentralisierung partiell abzufedern. So beschreiben Tape Trader und Fotografen wie Brian Lew ihre soziale Integration als »escape from my suburban teenage life«134 und Kirk Hammett empfand die Gründung von Exodus und seine frühe Zeit bei Metallica als Flucht vor einem »anger of being in a place that just didn’t have too much to offer.«135 Eine Zugehörigkeit zum frühen Szene-Kern half dabei, die räumlichen Beschränkungen der Vororte zu überwinden und ein soziales Netzwerk zu entwickeln, das Anschluss an die Großstadt hielt und schließlich die ganze Bay Area umspannte. »Easteners« und »City Kids«, so Ron Quintana, hätten sich durchaus voneinander unterschieden, wären aber durch ihre musikalische Leidenschaft verbunden geblieben. Auf Partys in den Berkeley Hills folgten Gegenbesuche in der Stadt mit Treffen im Golden Gate Park, wo die Gruppe auf dem Strawberry Hill auch zum ersten Mal Lars Ulrich (Metallica) kennenlernte.136 Eric Peterson (Legacy/Testament) schwänzte dagegen mit Freunden die Schule in den East BayVororten, um die Zeit in San Francisco zu verbringen und traf bei einem dieser Besuche den späteren Drummer Louie Clemente als dieser Drogen kaufen wollte.137 Darüber hinaus traf man sich an den BART-Stationen, um gemeinsam im Record Vault aufzuschlagen oder frequentierte bekannte Häuser von Gleichgesinnten, etwa das »Metallica-Haus« in El Cerrito.138 Während es bei dem frühen Szene-Kern noch um eine buchstäbliche Überbrückung der Bay ging, also eine Überquerung der Bay Bridge, wurden die Distanzen für jüngere Alterskohorten der Musiker und Fans, die aus entfernteren Vororten kamen, immer größer und die magnetische Wirkung der »hubs« in der East Bay und in San Francisco erreichte einen wachsenden Radius. Phil Demmel (Vio-Lence), der genau wie Steve Souza
133 134 135 136 137 138
Etwa bei Harvey, in: Netherton, Extremity Retained, S. 188. Adam Dubin, Murder in the Front Row. The San Francisco Bay Area Thrash Metal Story, prod. von Jack Gulick/Rachéle Benloulou-Gubin, USA 2020, 08.42 Min. Ebd., 11.20 Min. Vgl. Oimoen/Lew, Murder in the Front Row, S. 28. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 244. Vgl. Ian S. Port, Author Brian Lew on the Early Days of Metallica and the Bay Area Thrash Metal Scene, in: San Francisco Weekly, 12.07.2011, URL: https://www.sfweekly.com/music/author -brian-lew-on-the-early-days-of-metallica-and-the-bay-area-thrash-metal-scene/ (letzter Aufruf 20.12.2021); Das »Metallica-Haus« gehörte eigentlich Mark Whitaker, dem Manager von Exodus und späteren Soundtechniker von Metallica. Die Band wohnte dort für drei Jahre. Vgl. Wall, Enter Night, S. 94.
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(Legacy/Exodus) oder Chuck Billy aus Dublin kam, weist auf diese Sogwirkung für die Jüngeren hin: »So we had these older people who we could look up to who kind of brought us into the scene and exposed us to the clubs in and around San Francisco.«139 Die suburbanen Nachzügler aus dem Land hinter den East Bay Hills oder aus dem Süden folgten ihren Vorbildern also durch das BART-System oder die Fahrdienste ihrer Eltern140 in die urbaneren Zentren der Szene. Craig Locicero, der mit seiner Band Forbidden Evil bereits vor der Veröffentlichung des wegweisenden Albums »Bonded By Blood« von Exodus dessen Songs in seiner Highschool spielte, leistete daher nicht nur einen Beitrag zur kulturellen Integration der Bay Area, sondern auch zur Überbrückung der »Generation Gap« der Szene: When we played my high school, it was so life changing for the people that saw. We were playing songs by Exodus, like we were playing »Lesson in Violence« before the first album came out, before »Bonded by Blood« was out, we were already playing it. We knew it, we had an early copy, we heard it, we were playing it. So, people were like, it was like madness, you know, ›Whaaaat is thiiiis?‹. They never heard anything that fast and they just lost their damn minds. So, what that did is we helped bringing the suburban kids of Fremont following us into Ruthie’s Inn in Berkeley.141 Die Highschool-Kids aus Fremont hatten etwa 30 Meilen zurückzulegen bis sie im Stone oder Record Vault ankamen und trafen dort ab Mitte der 1980er Jahre Gleichgesinnte aus San Mateo oder noch entfernteren Orten wie Antioch (etwa 40 Meilen) oder sogar Stockton (etwa 80 Meilen).142 Die attraktive Live-Musik-Szene dehnte sich dank dieser mobilen Unterstützer über die Anfänge in der East Bay aus und umfasste bald die gesamte Bay Area, wobei die Bands die Clubs wechselten und dadurch ebenfalls einen »club circuit« etablierten, dem die Fans folgen konnten. Phil Demmel erinnert sich in diesem Zusammenhang: But it was all super-fucking-cool because it was basically spread across the whole Bay Area. You could go to Oakland or Berkeley or go across the bridge to San Francisco or down to San Jose, and bands would come to the area and play in a few different towns, and people would travel around the Bay and see the same band in different cities and meet new people and all that.143
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Jeff Kitts, »Chaos in a Bottle«: Vio-lence’s Phil Demmel Revisits Bay Area Thrash’s Heyday, in: Revolver Mag 2021, URL: https://www.revolvermag.com/music/chaos-bottle-vio-lences-phil-de mmel-revisits-bay-area-thrashs-heyday?fbclid=IwAR085NX2RVtQjMTfvUQNS3UqaSC0zmC2m OJWg4XKH_Gn9Ol8YniI0BM4W40 (letzter Aufruf 20.12.2021). 140 Vgl. Interview Craig Locicero, 04.08-05.44 Min.: »And that’s funny, cause I drove to that, my mum dropped us off in San Francisco. I’m from a suburb, you know, 30 miles southwest called Fremont, and she dropped off myself and Robb Flynn, you know, he’s at Machine Head now, and a couple of other kids. And then they went and got a different ride home and I stayed and waited for my mum and she picked me up. But that was the beginning of it all for me was The Stone.« 141 Interview Craig Locicero, 12.55-13.31 Min. 142 Vgl. Chris Forbes, Bast Fanzine. Interview with Martha Hughes, in: Metalcore Fanzine, URL: www .metalcorefanzine.com/bast.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 143 Kitts, Chaos in a bottle.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Trotz dieses räumlichen Ausgreifens, neuer Clubs und entstehender Bands, war die Thrash Metal-Szene in Kalifornien dauerhaft mit dem Fehlen von nicht-kommerziellen Infrastrukturen vor Ort, d.h. an den Wohnorten, konfrontiert, die im Ruhrgebiet oder in England in Form von Jugendclubs und anderen Vereinsheimen bestanden. Abseits der regulären Konzerte und besonders in der frühen Phase von ansässigen Bands nisteten sich die Musiker daher in jene Strukturen ein, die zur Verfügung standen und veranstalteten »barn partys« (östlich der East Bay Hills) oder schlicht »house partys« in toleranten oder nicht anwesenden Elternhäusern.144 In dieser Form auf den privaten Raum beschränkt, entwickelten sich in der Bay Area deutliche Anzeichen für ein aggressives öffentliches Auftreten als Gang – etwa durch das sogenannte Slay Team, das im Kreis der Band Exodus operierte und in dem Sänger der Band, Paul Baloff, seinen informellen Anführer hatte. Die Gruppe wirkte während und außerhalb von Konzerten als Szene-Polizei, »überprüfte« die Besucher vor allem anhand der Kleidung und Haare, um »poser«, d.h. Fans von Glam Metal-Bands ausfindig zu machen und übte dadurch eine Art von räumlicher Kontrolle aus, die sich in ihrer Radikalität höchstens im Kontext der Hardcore-Punk-Szene in New York wiederholte.145 Laut dem Fotografen und Szene-Urgestein Harald Oimoen »widmeten« Baloff und das Slay Team aber auch privaten Besitz kurzerhand um: Baloff had these parties where he would invite a bunch of people to somebody else’s house and they’d show up and totally trash the place. He was like the leader of a gang, the Slay Team, and he’d have these guys destroy people’s houses or steal things from them.146 Ein weiteres Beispiel für Gangstrukturen, die den öffentlichen Raum besetzten und ihr Territorium markierten, war die »Dublin Death Patrol«, eine sich in Dublin um Chuck Billy, Willy Lange und deren Freunde herum bildende Gruppe von »thrashers«, die Räume durch ihren Habitus und Ruf aktiv aneigneten und ihr Image in der Verknüpfung von musikkultureller und räumlicher Exklusivität pflegten. Für Willy Lange handelte es sich um eine dezidiert suburbane Gang, die sich von den imaginierten Städtern abgrenzte und die urbane Dezentralisierung dadurch subkulturell überwölbte: We learned quickly that people in the big city were a little different. […] We were out to make a name for ourselves and word spread quick that we were not to be fucked with.147
144 145 146 147
Chuck Billy, in: Dublin Death Patrol Re-Emerges; Phil Demmel, in: Kitts, Chaos in a bottle. Vgl. Kap. 5. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 243. Hervorhebung im Original. Willy Lange, in: Dublin Death Patrol Re-Emerges.
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Abb. 16: Die Ausdehnung der Szene – Frühe Konzertplakate aus San Francisco, Berkeley und Richmond mit den Thrash-Vorreitern Exodus.
URL: https://www.loudersound.com/features/kirk-hammett-interview-the-day-i-joined-metallica (letzter Aufruf 20.12.2021).
Während es gegenüber »Posern« anders aussehen konnte, ging es auch hier eher um die performative Einschüchterung und nicht um die tatsächliche Gewalterfahrung. Als Metallica bei einem Radiointerview einen Witz auf Kosten Willy Langes landeten, fühlte sich Lars Ulrich danach dazu verpflichtet, bei der Gang um Entschuldigung zu bitten und wies dabei auf seinen fehlenden Versicherungsschutz hin – die »Dublin Death Patrol« hatte jedoch nichts dergleichen geplant.148 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Wegbrechen von CommunityStrukturen in den alten Vororten oder der Stadt an eine räumliche Dezentralisierung geknüpft war, die zumindest aus der Sicht der Akteure durch die entstehende MetalSzene zusammengehalten werden konnte. In Räumen zunehmender Privatisierung aufwachsend, stellten Konzerte, Plattenläden und das Auftreten als Gang Aspekte einer räumlichen Aneignung dar und federten Isolationserfahrungen in »Suburbia« ab. Ebenso wie das Ruhrgebiet zeigte die Szene in der Bay Area dabei, dass sich ethnische Diversität in der Szene dort manifestierte, wo sie sich auch ergeben konnte – obgleich man diesen Fakt quantitativ nicht überschätzen sollte. Zumindest in den frühen 1980er Jahren stellte die Thrash Metal-Szene aber dennoch infrastrukturelle und musikalische Ressourcen zur Verfügung, um den Alltagsrassismus und die Segregation der Bay Area zu unterlaufen.149 Der Grad räumlicher Segregation stieg zwar unablässig, je weiter sich die Musiker von San Francisco entfernten, doch ergaben sich in den älteren stadtnahen 148 Vgl. ebd. 149 Zur Frage der Überbrückungsmöglichkeiten von rassistischen Perspektiven und Praktiken in der »Arbeiterklasse« vgl. Michele Lamont/Sadie Aksartova, Ordinary Cosmopolitanisms. Strategies for bridging racial boundaries among working class men, in: Theory, Culture & Society 19 (2002) 4, S. 1–25.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Vororten musikkulturelle Vergemeinschaftungen von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft, die sich in Thrash Metal-Bands niederschlugen – womit diese Bands also eher Ausdruck einer »alten East Bay« waren und nicht ihre postindustrielle Entwicklung verkörperten wie die späteren Death Metal-Bands. Auf dem Weg zum »weißen« Extreme Metal stellte die Thrash-Szene in dieser Region also ein Übergangsphänomen dar. Im Raum New York/New Jersey/Pennsylvania zeigten sich diese Unterschiede zwischen den Sub-Genres ebenfalls.
3.2.2 New York, New Jersey, Pennsylvania Auch die entstehende Thrash Metal-(ab etwa 1981) und dann Death Metal-Szene (ab etwa 1987) im Nordosten der Vereinigten Staaten waren eng mit dem wirtschaftlichen und räumlichen Wandel ihrer Regionen verknüpft, zeigten eine deutliche Suburbanisierung und entwickelten sich unter Rekurs auf eine empfundene soziale Krisensymptomatik. Aufgrund der räumlichen Ausdehnung der Szenen gestaltete sich das Bild hier hinsichtlich der »class«, »place« und »race«-Faktoren jedoch vielfältiger als in der überschaubareren Bay Area. Jene Gegenden, aus denen sich Musiker und Fans zu einer Thrash Metalund schließlich Death Metal-Szene vernetzten, wiesen erhebliche Unterschiede bei der Frage auf, wie, wann und wen der Strukturwandel besonders traf und wie diese Phänomene die Infrastruktur, soziale Praxis und internen Themen der Szenen beeinflussten. Im Folgenden wird versucht, zunächst den Strukturwandel dieser Gegenden und anschließend dessen Zusammenhang mit den Szene-Entwicklungen in New York und New Jersey sowie Pittsburgh und Buffalo zu verdeutlichen. Die urbane Dezentralisierung zeigte sich in den genannten Städten und Regionen bedeutend früher als in den europäischen Szene-Zentren.150 So verlor New York City zwischen 1950 und 1980 zehn Prozent seiner Einwohner, während die Einwohnerzahl der die Stadt umgebenden suburbanen Counties um über eine Million stieg. Die größte Dynamik erlebte diese Verschiebung in der Mitte der 1970er Jahre im Zuge der wirtschaftlichen Krise der Metropole.151 Die Anteile der schwarzen Bevölkerung der Stadt vergrößerten sich in diesem Zusammenhang zwischen 1940 und 1980 von 6,1 auf 25,2 Prozent, jene der Hispanics von 1,6 auf 19,9 Prozent.152 Ein Profiteur dieser Entwicklung war Long Island, mit einem massiven Bevölkerungswachstum in den 1950er und 1960er, und abgeschwächt auch noch den 1970er Jahren, das sich weitestgehend suburban niederließ und die Insel zu »perhaps the definitive suburb« machte153 – ehe sich auch hier mit dem Abbau der Arbeitsplätze beim Flugzeugbauer Grumman, dem rapiden Anstieg der schwarzen, hispanischen und asiatischen Zuwanderung, sowie der Zuspitzung des
150 Dies gilt auch für die Deindustrialisierung und in Neuengland, Teilen von New Jersey oder Städten wie Yonkers, NY (Herkunft von Immolation) gingen industrielle Arbeitsplätze bereits massiv in den 1950er Jahren verloren. Vgl. Tami J. Friedman, »A Trail of Ghost Towns across Our Land«. The Decline of Manufacturing in Yonkers, New York, in: Cowie/Heathcott (Hg.), Beyond the Ruins, S. 19–43. 151 Vgl. Aaron Gurwitz, Atlantic Metropolis. An Economic History of New York City, Cham 2019, S. 449. 152 Vgl. ebd., S. 471. 153 Robert B. McKay/Richard F. Welch, Long Island. An illustrated history, Sun Valley 2000, S. 238.
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Immobilienmarktes zwischen 1985 und 1995 Krisenerscheinungen zeigten.154 ShoppingErlebnis-Malls traten in scharfe Konkurrenz zur Kleinladen-Struktur der Insel, Gegenden wie die East Hamptons entwickelten sich zum Hotspot für Reiche und Prominente und der Kurswechsel der Wirtschaft zu zivilen High-Tech-Firmen zog eine neue Mittelschicht an, die sich ein Leben in gentrifizierten Vierteln leisten konnte – wodurch die Segregation noch weiter verschärft wurde.155 Es wird im Kontext dieser Phasenverschiebung im Strukturwandel von New York City und Long Island offensichtlich, dass die Entstehung von Metal-Szenen zwar nie völlig, aber stets stark von solchen Krisensituationen profitierte. Denn während die PunkSzene um 1975 und die Thrash Metal-Szene der frühen 1980er Jahre in New York City entstanden und damit beide an eine Krise der Urbanität gekoppelt waren, entstand die Death Metal-Szene auf Long Island erst in den späten 1980er Jahren und damit in der Krise der Suburbanität. Dass New Jersey sowohl eine Punk-Szene und Thrash Metal-Szene in den frühen 1980er Jahren als auch eine Death Metal-Szene um 1990 ausbildete, korrespondiert mit dieser Beobachtung ebenfalls. Denn die empfundene Krise von »Suburbia« setzte hier schon bedeutend früher ein. Die größeren Städte des Staates wie Newark, Trenton oder Camden verloren bereits in den 1950er und 1960er Jahren massiv an Jobs und Einwohnern und die Deindustrialisierung und der Wandel zum Dienstleistungssektor schürten das Wachstum der Vororte und der »white flight.« Zwischen 1940 und 1960 stieg die Einwohnerzahl des Staates um 50 Prozent, aber jede Stadt außer Paterson verlor Einwohner – bis zu dem Punkt, wo 1990 mehr als 70 Prozent des Staatsgebiets als suburban eingestuft wurden und auch die Death Metal-Szene entstand.156 Besonders im Norden New Jerseys zementierte der Ausbau des Verkehrssystems eine ohnehin dezentrale Struktur von miteinander konkurrierenden Mittelstädten und nahm der Region dadurch die Vorteile der zentralen Organisation, die etwa in Pittsburgh beobachtet werden konnte. In dieser »crustal urbanization« entstanden besonders viele »Edge Cities« – über Highways verbundene und auf eine Mall fixierte Vororte, deren Entfernung zur Metropole nicht mehr mit Nahverkehrsmitteln zurücklegbar war und die weder verwaltungstechnisch noch kulturell aktiv wurden.157 Urbanität herrschte dort nirgends, während die vorhandenen Städte einen Niedergang erlebten. So bezeichnete die New York Times die Stadt Paterson, Herkunftsort vieler Metalheads, 1995 als »used to be city« sowie »a certain kind of urban America«: This used to be a real city of opportunity – Silk City! – but now there’s nothing. Everything used to be here. It’s a ›used to be‹ city. That’s all. […] Paterson represents a certain kind of urban America - too large to readily make the transition to prettified suburbia, too small to demand the money and attention given 154 155 156
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Vgl. ebd., S. 220–222, 226–228. Vgl. ebd., S. 230, 232, 236. Vgl. Howard Gillette Jr., Suburbanization and the Decline of the Cities. Towards an uncertain future, in: Maxine N. Lurie/Richard Veit (Hg.), New Jersey. A History of the Garden State, New Brunswick 2012, S. 264–285, hier S. 267f. Vgl. Dennis E. Gale, Greater New Jersey. Living in the shadow of Gotham, Philadelphia 2006, S. 64–67.
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to neighbors like Newark or New York City to overcome poverty, drugs and failing schools.158 Während Orte wie Paterson in den 1980er Jahren eine ethnisch überlagerte Armut erlebten, war es in der ethnischen und sozialen Homogenität seiner Vororte schwer, Kontaktmöglichkeiten über die Familie und Schule hinaus zu etablieren und Vergemeinschaftung war stark auf den privaten Raum beschränkt.
Abb. 17: New Jersey, zwischen New York City im Osten und Pennsylvania im Westen.
URL: https://www.nationsonline.org/oneworld/map/USA/new_jersey_map.htm (letzter Aufruf 20.12.2021).
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Clifford J. Levy, Paterson, Used to Struggling, Struggles for Control, in: New York Times, 26.02.1995, S. 1.
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Die Verortung der Metal-Szenen in diesem Strukturwandel wird noch einmal erschwert, wenn man beachtet, dass regionalen Krisen zahlreiche Erfolgsgeschichten gegenüberstanden, die besonders mit boomenden Branchen, der Unterhaltungsindustrie und der neuen »creative class« assoziiert waren. Während dies in der Bay Area vor allem der Tourismus und das »Silicon Valley« waren, zog eine Stadt wie Jersey City neue Investitionen durch die Ansiedlung von Finanzdienstleistern und den Aufbau einer attraktiven »Waterfront« an und Atlantic City konnte seinen Abschwung ebenso umkehren.159 New York City gelang es überdies als einer der wenigen Städte im Nordosten, ab 1980 Einwohner hinzuzugewinnen (bis 2000 17 Prozent) und einen Übergang von der produzierenden Stadt zur »Consumer City«/»Skilled City«/»Creative City« zu gewährleisten, der sonst nur in den »sun belt«-Regionen des Südens und Westens zu beobachten war.160 Aufgrund dieser massiven wirtschaftlichen, räumlichen, sozialen und ethnischen Unterschiede während der 1980er und 1990er Jahre gleicht im Grunde die gesamte Region dem Diktum des »state divided«161 , das ursprünglich nur für die urbane Dezentralisierung New Jerseys geprägt wurde und in dessen sozialer Schärfe die Genese der MetalSzenen zu verorten ist. In den weiter westlich gelegenen Städten Pittsburgh und Buffalo sowie den sie umgebenden Regionen, in denen sich Szene-Strukturen besonders zwischen 1987 und 1990 verdichteten, gestaltete sich der Strukturwandel ebenfalls als einschneidend, war aber deutlich stärker an den Niedergang der Stahlindustrie geknüpft und wies überdies im Vergleich der beiden Städte massive Unterschiede im Krisenmanagement auf – auch hier mit Folgen für die Infrastruktur, soziale Rekrutierung und Praxis der Death MetalSzenen. Pittsburgh, eine der am frühesten und stärksten suburbanisierten Städte der USA,162 in der sich der Rückzug der Stahlindustrie bereits seit den 1960er Jahren vollzog und mit der Schließung von Homestead Works von U.S. Steel im Jahr 1986 abgeschlossen war, hatte durch Initiativen der »public-private partnership« wesentlich früher als Buffalo damit begonnen, den Wandel von der industriellen zur Dienstleistungsstadt aktiv zu lenken.163 Zentrale Bestandteile der Strategie waren dabei die Stärkung des Bildungsstandorts durch Hochschulen, der medizinischen Versorgung und Forschung, sowie der Revitalisierung der »Riverfront«, an der einige Jahre zuvor noch die Stahlwerke gestanden hatten.164 Sowohl Anwohner als auch die Behörden sahen im sichtbaren industriellen Erbe und den abgerissenen Industrieanlagen am Fluss seit Mitte der 1980er Jahre die Möglichkeit, die Community wiederzubeleben, die durch den Industrieabbau und die urbane Dezentralisierung durch Vororte erodierte. Anstatt des Abrisses und des Neubaus von Hochhäusern wurden »authentische« Nachbarschaften gebildet, indem historische Gebäude und industrielle Hinterlassenschaften mit kulturellen Angeboten und 159 160 161 162 163
Vgl. Gillette Jr., Suburbanization, S. 278. Vgl. Gurwitz, Atlantic Metropolis, S. 576–586. Gillette Jr., Suburbanization, S. 279. Vgl. Gurwitz, Atlantic Metropolis, S. 456. Vgl. Alan Dieterich-Ward, Beyond Rust. Metropolitan Pittsburgh and the fate of industrial America, Philadelphia 2016, S. 4, 205. 164 Vgl. Gerald L. Gordon, Reinventing local and regional economies, Boca Raton 2012, S. 83; Vgl. Dieterich-Ward, Beyond Rust, S. 15, 215, 217.
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neuem Wohnraum verschmolzen wurden. Es sollten dadurch jene angezogen werden, die Richard Florida in seiner wegweisenden Studie die »creative class« nannte (die Studie entstand sogar in Pittsburgh während Floridas Zeit an der CMU).165 Die Instrumentalisierung des industriellen Erbes für eine postindustrielle urbane Ökonomie – »mills and malls«166 – sollte den massiven Bevölkerungsrückgang der Stadt (zwischen 1980 und 2000 minus 21,1 Prozent167 ) in die Highway-nahen und Mall-zentrierten Vororte und auch den Wegzug aus der Region des »Steel Valley« unterbinden, der zwischen 1960 und 1980 6.000 Personen und in den 1980er Jahren 20.000 Personen pro Jahr betrug.168 Es handelte sich bei der Umstrukturierung Pittsburghs um einen langfristig ökonomisch-erfolgreichen Prozess, der aber kurz-und mittelfristig die sozialen Ungleichheiten verschärfte und langfristig auch zur Etablierung neuer gesellschaftlicher Spaltungen beitrug. Denn auch hier war mit der urbanen Dezentralisierung eine »white flight« verbunden, die bereits zwischen 1960 und 1980 den Anteil der schwarzen Bevölkerung der Stadt von 9,3 auf 24 Prozent ansteigen ließ.169 Und während es im Arbeitsmarkt der Stadt gelang, die Arbeitslosenquote auf 6,9 Prozent bei weißen Männern und 4,4 Prozent bei weißen Frauen zu senken, betrug sie bei der schwarzen Bevölkerung 14,3 bzw. 20 Prozent. Auch die Bildungsexpansion kam nicht allen zugute und der Anteil von College-Absolventen aus dem Umland der Stadt (Allegheny County) war signifikant niedriger als der nationale Durchschnitt und bei Weißen auch noch einmal doppelt so hoch wie bei der schwarzen Bevölkerung.170 Während der Strukturwandel der Stadt also eine bestimmte Klientel begünstigte und anzog, benachteiligte er andere entlang der »race«-und auch »class«-Linie. Die schwarze Bevölkerung und die obsolet gewordenen Industriearbeiter gehörten nicht zu den Gewinnern des Wandels in Pittsburgh. Für die Art und Weise, wie sich die Metal-Szene der Stadt organisierte und welche Themen sie musikalisch aufgriff, hatten diese Entwicklungen eine besondere Bedeutung – die Szene profitierte dabei von beidem: Dem bröckelnden Industrie-Charme und der Anziehungskraft für Studenten.171 Für die suburbanen Mittelklasse-Jugendlichen waren Metal und Punk also auch attraktiv, weil man hier vom Alten und vom Neuen profitieren konnte. Räumliche Isolationserfahrungen konnten urban reduziert und die zunehmende finanzielle Sicherheit und Hochschulbildung mit einer lebensweltlichen Kontinuität seit der Elterngeneration verbunden werden. Zugespitzt engagierten sich die Profiteure des Wandels mit Verweis auf die imaginierte Industrie-Vergangenheit. Den Verantwortlichen in Buffalo gelang eine solche konzertierte Aktion wie in Pittsburgh nicht, man hielt wesentlich länger an der Idee einer Reindustrialisierung fest und traf überdies Entscheidungen, die die Stadt gegenüber den Vororten noch weiter ins Hintertreffen geraten ließen.172 Dazu gehörte vor allem der Bau des Campus der Sta165 166 167 168 169 170 171 172
Vgl. Dieterich-Ward, Beyond Rust, S. 15f., 84f. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. Gurwitz, Atlantic Metropolis, S. 576. Vgl. Dieterich-Ward, Beyond Rust, S. 202. Vgl. Gurwitz, Atlantic Metropolis, S. 471. Vgl. Dieterich-Ward, Beyond Rust, S. 225. Vgl. dazu Paul Chatterton, University students and city centres – the formation of exclusive geographies, in: Geoforum 30 (1999) 2, S. 117–133. Vgl. Gordon, Reinventing, S. 58–61, 82.
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te University, der nicht in Buffalo, sondern in Amherst abgeschlossen wurde und der die Vorteile der Forschung (vor allem im Gesundheitssektor) hier nicht der Stadt, sondern den Vororten zukommen ließ. Überdies unterließen es die Entscheidungsträger, ein effektives Transportsystem zwischen Stadt und Vororten zu etablieren und gaben die »Waterfront«, auch hier Platz der Stahlindustrie, dem Verfall preis.173 Auf diese Weise konnte sich ein urbanes Niedergangsnarrativ in Buffalo wesentlich länger halten als in Pittsburgh oder New York – es existierte schlicht keine Deindustrialisierungsstrategie. Bethlehem Steel schloss 1982 die letzten Werke in der Stadt und insgesamt gingen zwischen 1970 und 1985 70.000 Jobs in der Fertigung verloren. In den 1990er Jahren sank deren Zahl noch einmal um 30 Prozent, im Einzelhandel sogar um 50 Prozent.174 Bereits in den 1970er Jahren verlor die Stadt 23 Prozent der Einwohner und in den 1980er Jahren nahm der Wegzug in die Vororte oder in südliche Landesteile der USA flutartige Ausmaße an. Mehrere Stadtteile wurden schwarze Nachbarschaften.175 Bis auf einige Unternehmenssitze und Läden war Downtown Buffalo verödet, während Amherst wie keine andere Stadt im Bundesstaat New York wuchs und auch die Vororte wie Hamburg und Cheektowaga, an denen 1981 und 1987 zwei riesige Malls errichtet wurden, von Investitionen profitierten.176 Zwischen 1990 und 1994 verließen jährlich 2.100 Einwohner die Stadt, 1995 bis 1999 waren es 4.500177 – darunter auch Metal-Musiker der Bands Malevolent Creation und Cannibal Corpse, die es genauso wie Kelly Shaefer (aus Cincinnati) aus dem »rust belt« in den »sun belt« nach Florida zog.178 Da ähnliche Migrationen aus Pittsburgh nicht bekannt sind, dürfte es sich neben musikalischen Kriterien dabei auch um eine Flucht vor einer sich selbst überlassenen Stadt gehandelt haben. Wie waren die entstehenden Metal-Szenen nun in diesen Wandel eingebettet und wie verorteten sich die Musiker und Fans in den Veränderungen ihres Umfeldes selbst? In den frühen 1980er Jahren »wanderte« die Metal-Szene in New York und New Jersey, ebenso wie östlich von San Francisco, in die Vororte, blieb dabei zunächst urban fokussiert, bildete aber anders als die kalifornische Szene ab Mitte der 1980er Jahre in New Jersey eigene Infrastrukturen aus und begründete dadurch die erste dezidiert suburbane Metal-Szene überhaupt. Die sich um 1980 andeutenden ersten Einflüsse der NWOBHM-Bands auf die Jugendlichen der tri-state-area, zu denen auch noch der Einfluss der Band KISS kam, der
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Vgl. Diana Dillaway, Power Failure. Politics, patronage, and the economic future of Buffalo, New York, Amherst 2006, S. 195f. und passim. Vgl. Gordon, Reinventing, S. 56, 60. Vgl. Mark Goldman, City on the Edge. Buffalo, New York, Amherst 2007, S. 256. Anfang der 80er Jahre wurden in Buffalo gegen den Widerstand weißer Eltern Maßnahmen durchgesetzt, die eine Durchmischung an den Schulen durchsetzten und die letztlich ohne Komplikationen dazu führten, dass weiße und schwarze Kinder wieder weitaus mehr schulischen Kontakt erhielten. 1981 wurde dadurch erstmals die rassistische Trennung der Stadtteile, die durch jeweilige Schulen zementiert wurde, durchbrochen. Vgl. ebd., S. 301–308. Vgl. ebd., S. 321. Vgl. ebd., S. 362. Vgl. Frank Stöver, Atheist. Interview with Kelly Shaefer, in: Voices From The Dark Side online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/atheist-2/ (letzter Aufruf 20.12.2021).
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vor allem in den USA und Skandinavien für den Einstieg in die Hard-Rock-Musik instrumentell war, trafen sowohl den urbanen Raum von New York City als auch die »alten« Vororte von New Jersey. In beiden Fällen handelte es sich um gewachsene CommunityStrukturen und eine Band wie Overkill aus dem Old Bridge Township in New Jersey (direkt gegenüber von Staten Island), verfügte ebenso wie die dort ansässige »Old Bridge Militia«, ein rocker-ähnlicher Heavy Metal-Fanclub, über eine soziale Verwurzlung, die nichts mit einer Herkunft aus »Edge Cities« zu tun hatte. Parallel zeigten sich die musikalischen Aufbrüche auch in New York City – und zwar durchweg bei den Enkeln von Einwanderern wie etwa Scott Ian (Anthrax) in Bayside, Queens, der die Nachbarschaft folgendermaßen einordnet: Everyone knew everybody else. The rest of the Bayside was Irish, Italian, German, and it ranged from very lower middle class to filthy rich – a mishmash of wealth and ethnicity.179 Entscheidend für die Verbindung zur Genese des Thrash Metals aus New York ist es, dass die Orte, aus denen die ersten Musiker kamen, noch nicht oder erst kürzlich von der urbanen Dezentralisierung erfasst worden waren und diese demnach auch noch nicht sozial nach »race« und »class« homogenisiert hatten.180 Wie in der San Francisco Bay Area auch, formierten sich dadurch Bands aus einer sozialen Mischung von Herkünften – was für den urbanen New York Hardcore-Punk auch noch gelten sollte, als die Zentren der Metal-Szenen längst suburban geworden waren.181 Darüber hinaus fielen die ersten Einflüsse der NWOBHM in den USA auf einen urbanen Boden, der noch nicht von segregierten Stadtvierteln geprägt und durch Gewalt konnotiert war. Dan Lilker ordnet Queens daher vor dem Hintergrund späterer urbaner Entwicklungen in New York als harmlos ein: It wasn’t known for its violence or to be a really bad neighborhood. It was just a fairly typical, urban mix of people: Irish, Italian, Black and us Jews. Like any neighborhood in a large city, you had your borderline-suburban crime like car theft or vandalism, and there would be break-ins here and there, but not to the point where it was in the paper. You didn’t have to worry about getting rolled walking down the street. It wasn’t like [the band] Biohazard; I wasn’t shaped by the violent streets around me or anything.182 Weitere Beispiele für Musiker aus solchen Stadtteilen waren etwa Peter Steele aus Midwood in Brooklyn (Fallout/Carnivore/Type O Negative) oder Mike Usifer (Prime Evil).183 Im 179 Ian, I’m the Man, S. 7. 180 Ian auch: »very Jewish, upper-middle-class-to-rich part of the city. We were certainly not in the upper middle class.« Ebd., S. 7. 181 Vgl. die Herkünfte der Interviewten in: Tony Rettmann/Freddy Cricien, NYHC. New York hardcore 1980 – 1990, New York 2014; Vgl. Alexandros Anesiadis, Crossover the edge. Where hardcore, punk and metal collide, London 2019. 182 Hofer, Perpetual Conversions, S. 8. 183 Zu Peter Steele vgl. URL: https://www.petersteelerocks.com/bio (letzter Aufruf 20.12.2021); Vgl. zu Mike Usifer: Chris Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer, in: Metalcore Fanzine, URL: ww
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Rahmen der wirtschaftlichen Krise der Stadt in den späten 1970er Jahren, deren ethnischer Überlagerung und den neuen sozialen Problemen in den Nachbarschaften nahmen diese urbanen Herkünfte der Musiker im Nordosten der USA jedoch rasch ab und es ist frappierend, wie deutlich bei einem Überblick über die Metal-Bands aus New York City die Zäsur 1982/83 hervortritt. Viele Musiker zogen mit ihren Eltern danach in die Vororte oder wuchsen schon vollständig dort auf. New York Citys Metal-Bands um 1980 waren daher die ersten und für viele Jahre letzten großstädtischen Gruppen dieser Art in den USA und die Bands, die sich in den späten 1980er Jahren gründeten, stammten fast ausschließlich aus Vororten oder die Metropole umgebenden Städten wie Yonkers oder Middletown.184 Für Pittsburgh weist Sharon Bascovsky (Derketa) schließlich lapidar darauf hin, dass »in Pittsburgh, no one actually lived in the city.«185 In Downtown Pittsburgh habe es in ihrer Erinnerung nur »business« gegeben, sodass alle Metalheads aus den Vororten kamen und sich erst finden mussten.186 Ohne dabei eine zeitlich klar-fixierte Grenze ziehen zu können, trennen die Herkünfte und Aussagen der Musiker das Thrash Metal-vom Death Metal-Phänomen hinsichtlich der sozialen Verortung also ganz klar voneinander. Während Peter Steele die Musik seiner Band Carnivore noch als »städtische Mißstandsmusik«187 bezeichnen konnte, findet John McEntee (Revenant/Incantation) für die Musik ab Mitte der 1980er Jahre ganz andere Worte: I think it’s fair to say that in the U.S. mostly death metal and, you know, thrash and hardcore and stuff like that, is a music that is kind of a suburban thing, not an innercity kind of thing like it might be in other parts of the world.188 Für junge Metalheads in den Vororten von New York und Pittsburgh oder in New Jersey ging diese Verschiebung mit dem Problem einher, dass sich die entscheidenden Plattenläden und Clubs zu einem großen Teil weiterhin in der City befanden. Zwei der häufigsten Aussagen der Musiker, nämlich von ihren Eltern gefahren worden zu sein,189 sowie der Verweis auf die Gefährlichkeit des urbanen Territoriums vor allem von New York City, sind eine direkte Folge dieses suburbanen Blickwinkels auf die musikkulturelle Metropole – waren aber keineswegs Ausdruck von Furcht vor einem dreckigen Gewalt-Raum, sondern transportierten eher die Faszination der Flucht vor der monotonen Langeweile
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w.metalcorefanzine.com/pe.html (letzter Aufruf 20.12.2021): Usifer: »Yeah, I’m a born and bred New Yorker. As a kid, I pretty much did my own thing. I never hung out at home much. I was usually out in the streets hanging out and doing whatever. I come from a large Italian family. My grandparents were immigrants to the U.S., so I’m the first one of only the second generation born in the U.S.« Während frühe Thrash Metal-Bands wie Anthrax oder Carnivore noch aus NYC stammten und dies für Metal-Bands an der Schnittstelle zum Hardcore weiterhin galt (z.B. Nuclear Assault), rekrutierten sich Thrash Metal-und dann besonders Death Metal-Bands aus Long Island, aus New Jersey oder den umliegenden mittelgroßen Städten im Bundesstaat New York. Eine der wenigen Ausnahmen war die Band Demolition Hammer aus der Bronx ab Mitte der 1980er Jahre. Interview Sharon Bascovksy, 03.48 Min. Vgl. ebd., 03.48-04.12 Min. Moynihan/Søderlind, Lords of chaos, S. 44. Interview John McEntee, 30.01-30.17 Min. Vgl. etwa Interview Rob Yench, 04.12-04.25 Min.
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der Vororte. Jim Testa, seit 1982 Herausgeber des Punk-Fanzines Jersey Beat, beschrieb die Stadt als Mischung aus großen Problemen und der jugendkulturellen Anziehungskraft kontrollfreier Räume: NYC was a very different place in the 70's. I remember my first trip to CBGB very well and it was terrifying. I was used to Times Square, which also very seedy but at least it was well lit and crowded. The Bowery in those days was a dead zone. NYC was nearly bankrupt. There was a heroin epidemic and junkies were mugging people left and right. They didn’t use the word »homeless people« in 1977; the Bowery was Skid Row, full of bums and vagrants and junkies and prostitutes. The only thing you never saw in that neighborhood was a cop. It was great in a way because clubs like CBGB and Hurrah and Max’s Kansas City could pretty much get away with anything and the cops didn’t care.190 Die hier mitschwingende Faszination eines Raumes, der in jeder Hinsicht einen Gegenentwurf zum suburbanen Alltag darstellte, der sich aber im Zuge der »white flight« auch immer weiter entfernte und sozial ganz andere Probleme aufwies als die eigene Nachbarschaft, beeinflusste maßgeblich die Perspektiven, die die Metal-Musiker ab Mitte der 1980er Jahre zu kanalisieren versuchten – hatte aber auch großen Einfluss auf die Art und Weise, wie man die eigene Szene wahrnahm und welche Treffpunkte und Praktiken sich entwickelten. Zunächst sollte in dieser Hinsicht zwischen verschiedenen Vororten unterschieden werden: So waren Vororte, in denen eine lokale Infrastruktur bestand und in denen sich Communities ausgebildet hatten, als musikalische Orte sogar beliebt. Dies galt sowohl für Long Island oder die alten Vororte New Jerseys als auch für eigenständige Städte wie Yonkers oder Middletown.191 Dabei war es stets wichtig, dass der Vorort noch eine leicht überbrückbare Distanz zur Metropole aufwies, einen Plattenladen hatte und urbane musikalische Erfahrungen ermöglichte – was etwa für North Tonawanda, einen Vorort von Buffalo galt, weshalb die folgende Aussage von Jeremy Smith (Halfmast) auch nur im Kontext der leicht erreichbaren aktiven Szene von Buffalo um 1990 verständlich ist und in der Mitte von New Jersey nicht »OK« gewesen wäre: So, I lived in the same neighborhood nearly the entire time I was growing up. It was very suburban, with the houses all looking the same and evenly spaced, I think it was OK, very average; average house, average upbringing, average grades, average looks with two parents working full-time.192
190 Chris Forbes, Jersey Beat. Interview with Jim Testa, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcoref anzine.com/jersey.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 191 Chris Forbes von Immolation über Yonkers: »Yonkers is not the most spectacular place, but it’s home for us. […] The thing that’s good about it is that it is close to the city. Here it is more suburban, not too hectic and not too slow.« Frank Stöver, Voices From The Dark Side, Nr. 8, in: ders. (Hg.), Voices From The Dark Side, S. 58; Vgl. Auch Chris Forbes, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky, in: Extreminal, 2019, URL: https://www.extreminal.com/derketa/ (letzter Aufruf 20.12.2021). 192 Carlos Ramirez, Jeremy D. Smith (Halfmast, Plagued With Rage, No Reason, The Control, Dead Hearts, Modern Problems), in: No Echo, 2017, URL: https://www.noecho.net/interviews/ jeremy-d-smith-halfmast-plagued-with-rage-no-reason-the-control-dead-hearts (letzter Aufruf 20.12.2021).
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Solche Vororte dagegen, die entweder sehr weit von der Stadt und ihrer Szene entfernt lagen oder gar den »Edge Cities« glichen, waren durchweg negativ konnotiert und provozierten Perspektiven, die die Metal-Musik mit Ausbruchs-und Flucht-Narrativen verknüpften. Vor allem im Kontext des Buches »Teenage Wasteland. Suburbias Dead End Kids« von Donna Gaines (1990), in dem die Autorin den Selbstmordpakt einiger Jugendlicher aus Bergenfield, New Jersey im Jahr 1987 zum Anlass nahm, die Schnittstelle von Hard-Rock-und Metal-Musik mit Entfremdungserscheinungen zu untersuchen, hat diese Interpretation des Vorort-Musik-Verhältnisses breite Adaption erfahren.193 In den Aussagen der hier untersuchten Musiker, aber auch Produzenten, Fanzine-Autoren und Tape Trader, finden sich Erfahrungen, die ein Szene-Engagement als Flucht vor existenziell erdrückenden Verhältnissen kommunizieren, ebenfalls, sind aber selten.194 Ein häufigerer Ansatzpunkt für die Vorort-Kritik ist hier der empfundene Konformitätsdruck, wie etwa bei Brian Lawrence (Dream Death), der zusammen mit seinem Bandkollegen Mike Smail in einer Kleinstadt nahe Pittsburgh aufwuchs, dessen Aussagen aber auch deutliche Anzeichen begradigender Stilisierung aufweisen: Mike and I grew up in a small town outside of the city with fairly small families. We never had family issues growing up but I think we wanted to break out of the town that we grew up in. We were fairly typical metal teens in the sense that we couldn’t stand the conformity and the herd mentality of other groups of people. This led to metal and then to Dream Death.195 Da diese Interpretation des »break out« bei jedoch gesicherter Lebensgrundlage besonders in den »Edge Cities« von New Jersey weit verbreitet war, in denen sich räumliche Desintegration, soziale Homogenität und die Distanz zu jenen Orten, an denen »etwas los war«, zu einem »suburban approach to heavy metal«196 vereinigten, existierte hier die soziale Grundlage für eine Club-Landschaft und Szene, die den etablierten Clubs in New York City – L’Amour, Ritz, CBGBs – kaum nachstand, aber bisher keine eigenständige Beachtung gefunden hat. Zwei Entwicklungen waren dabei zentral: Zum einen blieb der musikkulturelle Fokus auf New York City stets bestehen, schwächte sich aber ab und verschaffte New Jersey als Raum für die Metal-Kultur größeres Gewicht und mehr Eigenständigkeit. Zum anderen war die Club-Landschaft von einer Mischung der unterschiedlichsten Stile geprägt, wobei sich besonders die permanente Beziehung der Metal-
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Vgl. Donna Gaines, Teenage Wasteland. Suburbia’s Dead End Kids, Chicago 1991. Folgenreiche Perspektive für Studien wie Howe, Three Decades Later, oder Arnett, Metalheads. 194 Zum Beispiel Roy Fox, der spätere Gründer von Necroharmonic Productions. Chris Forbes, Necroharmonic Productions. Interview with Roy Fox, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzi ne.com/np.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 195 Chris Forbes, Dream Death. Interview with Mike Smail and Brian Lawrence, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/dd.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 196 Zitat von »His Eminence The Wicked«, Drummer von Hemlock aus New Jersey: »I grew up in New Jersey in the farmland, so I grew up with the suburban approach to heavy metal: I would come to New York, hours away, to see shows at L’amour and the old Ritz.« Hofer, Perpetual Conversions, S. 130.
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Bands zur Punk-bzw. Hardcore-Punk-Szene als wegweisend für musikalische Innovationen erwies. Viele Clubs, die in den 1980er Jahren dazu übergingen, Metal-Konzerte zu ermöglichen, hatten einen Schwerpunkt im Punk und führten die Cover-spielenden Hard Rock-Bands mit der Punk-Musik und DIY-Mentalität zusammen. Dass Thrash Metal als Sub-Genre aus der Mischung der NWOBHM-Einflüsse und dem Punk entstehen konnte, hatte in New Jersey also genau wie östlich von San Francisco auch mit der Frequentierung derselben Räume durch Metalheads und Punks zu tun. Einer der ersten Clubs in New Jersey, der für die entstehenden Thrash Metal-Bands wie Overkill oder Whiplash zum Anlaufpunkt wurde, war The Dover Showplace, circa 30 Meilen westlich von New York City und nördlich von Trenton, wo neben den Ramones und Plasmatics auch nationale Metal-Tourneen auftraten und wo – und dies war stets von großer Bedeutung – der Eigentümer auch junge und unbekannte Bands auftreten ließ.197 Dies war auch im Stone Pony und im Fast Lane, beide in Asbury Park, zwei Klassikern der Musikszene des Staates, der Fall, wo Bruce Springsteen häufig gespielt hatte.198 Beliebig zusammenwürfelbar waren die Acts aus Metal und Punk dabei aber nicht. So macht Bob Petrosino (Oblivion) darauf aufmerksam, dass er den Club Sneakers in Nord New Jersey nicht mochte, weil der Promoter sich an ein einfaches Erfolgsrezept nicht hielt und, anstatt nationale Acts und/oder lokal-bekannte Bands zu buchen, erwartete, dass Oblivion, Ripping Corpse und Lethal Aggression, allesamt von der Küste des Staates, den Club füllen würden.199 Anscheinend war es auch für die Jugendlichen aus den »Edge Cities« im Norden des Staates nicht egal, welche Band spielte und regionale Verwurzelungen und Bekanntheitsgrade spielten eine große Rolle. Zum wichtigsten Club von New Jersey entwickelte sich City Gardens in Trenton. Als Zentrum der Punk-Konzerte und des Hardcores der Region lag der Club etwa gleich weit von New York und Philadelphia entfernt und entwickelte ein Image als der Club in »Suburbia«, mit einer herausragenden Bedeutung für die Jugendlichen der Gegend. Amy Wuelfing, die einen Band mit Erinnerungen über das City Gardens zusammenstellte,200 fasst die suburbane Rolle folgendermaßen zusammen: While most people who are into alternative music know CBGBs and 930 Club, I think City Gardens is significant because it wasn’t located in a big city. It was a big club in the Trenton ghetto, in the middle of nowhere, yet enough people went to support it for 15+ years. The promoter booked dozens of bands who later on went to be huge: R.E.M., Nirvana, Soundgarden. But more than that, it was a place for misfits from the suburbs to come together. Before social media, people who felt like outcasts had nothing. City
197 Vgl. Leslie, Rat Skates. 198 Vgl. Stan Goldstein, Asbury Park’s Fast Lane, where Springsteen and Bon Jovi played, comes to a dead end, in: NJ Advance Media for NJ.com, 12.07.2013, URL: https://www.nj.com/entertainment /music/2013/07/asbury_parks_fast_lane_comes_to_a_dead_end.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 199 Vgl. Chris Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino, in: Metalcore Fanzine, 2017, URL: www .metalcorefanzine.com/oblvion2017.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 200 Vgl. Amy Yates Wuelfing/Stephen DiLodovico, No Slam Dancing, No Stage Diving, No Spikes. An Oral History of New Jersey’s Legendary City Gardens, Scotts Valley 2015.
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Gardens was a place where you go and be yourself. Some people went to the club for show, others went for dance nights, but it was a great diverse crowd.201 City Gardens, so Wuelfing, war also deshalb erfolgreich, weil es einer suburbanen Identität seiner Besucher entsprach und die sozialen Fliehkräfte der Gegend temporär entschärfen konnte. Darüber hinaus lag der Club günstig, um die lokal entstehenden Punkund Metal-Bands zu integrieren und übernahm damit räumlich, was die beiden Radiostationen WPRB und WTSR, beides College-Radio-Stationen, mit DJs wie Randy Now oder Don Rettman kommunikativ vermochten – sie schufen eine Szene-Struktur, die zunächst den Thrash Metal und einige Jahre später den Death Metal in eine regionale »alternative scene«202 integrierte. Zentral für das Szene-Verständnis in New Jersey war der permanente Rekurs auf die gemeinsame Vorort-Erfahrung, nicht auf schlechte berufliche Perspektiven oder Arbeitslosigkeit, sondern auf eine dezidiert räumlich-begründete soziale Entfremdung. Soweit dies hier überblickt werden kann, entwickelten die aus dieser Situation stammenden Musiker, Tape Trader und Fanzine-Autoren ansonsten übliche Biografien, häufig mit College-Abschlüssen, Familien und »normalen« Jobs – waren also weniger chancenlos als vom Gefühl der Isolation motiviert.203 Der gemeinsame Feind, das große Hindernis, das es in der Szene zu überwinden galt, hieß – wie hier bei Henry Veggian – »Suburbia«: »… the scene here has always been healthy, because suburbia spawns kids that hate suburbia and want to make music and party and travel around to clubs.«204 Die auf diese Weise zunehmend als suburban-eigenständig verstandene Szene in New Jersey, war daher auch – im Rahmen der oben beschriebenen »white flight« und urbanen Verödung – an Räume gebunden, die keinesfalls in schönen Nachbarschaften lagen. Besonders der Death Metal ab dem Ende der 1980er Jahre artikulierte sich dort, wo neoliberale Politik ganz offensichtlich gescheitert war. Denn die Clubs waren dort, wo die Probleme waren – in der Stadt, während die Wohnorte der Musiker in den Vororten lagen. John McEntee beschreibt seine räumlich-soziale Wahrnehmung als Jugendlicher als deutlich zwischen Paterson und dem angrenzenden Vorort, aus dem er kam, getrennt: So, we did have our problems, I got my bicycle stolen, because since we lived in the kind of a middleish-class, you know, anywhere from lower to regular middle class,
201 Chris Forbes, City Gardens. Interview with Amy Yates Wuelfing, in: Metalcore Fanzine, URL: www .metalcorefanzine.com/city.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 202 Vgl. Chris Forbes, This Zine Sucks Fanzine. Interview with Robert Conrad, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/sucks.html (letzter Aufruf 20.12.2021); Vgl. auch Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino. 203 »Since graduating from college in December ’92, I have been in the greater Syracuse, NY area. I’ve been married for just about 16 years and the last six have been busy raising our triplets. I’m doing a lot of dad stuff like coaching soccer.« – nur eine von vielen Aussagen über »normale« Lebenswege nach dem Szene-Engagement. Forbes, This Zine Sucks Fanzine. Interview with Robert Conrad. 204 Henry Veggian, in: Frank Stöver, Voices From The Dark Side, Nr. 6, in: ders. (Hg.), Voices From The Dark Side, S. 22.
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other people from the city, which is only about two miles away or some of the crappier cities like Paterson or something like that, no offense to people in Paterson, but it definitely, you know, was a bad area, and at that time especially and we had people come over, you know, they would go to our town to steal, you know, our bicycles as kids. […] Just the northeast in general, you know, there’s nice neighbourhoods and not so nice neighbourhoods and all kind of stacked upon each other, cause it’s such a condensed area, you know.205 Befand er sich aber bei einem Konzert oder spielte mit Revenant und später Incantation selbst, sah er dagegen die »schlimmsten Teile der Stadt«: I even tell people we tour we see like the worst parts of town throughout the world, you know, cause that’s usually where the clubs are at. If it’s a nice part of town, you don’t want this crazy music going on there.206 Diese große Differenz zwischen der Alltagswirklichkeit und dem Szene-Raum deutet für New Jersey zwei wichtige Aspekte für die Szene als soziale Erfahrung an: Denn einerseits musizierten hier immer auch Angehörige einer sozialen Schicht, die nicht durchweg jener ihres Publikums entsprach und durchschnitten mit ihrer Musik räumlich-soziale Grenzen. Dies traf auch auf die Hautfarbe zu, denn schwarzes Publikum sucht man auf den zahlreichen Abbildungen der Clubs in New Jersey meist vergeblich, während schwarze oder jüdische Musiker im Punk, Hardcore-Punk und Thrash Metal häufiger waren. Metal-Konzerte schufen demnach eine kontinuierliche Verknüpfung ansonsten getrennter Räume, wozu auch beitrug, dass die Booker im City Gardens stets musikalischgemischte Spielpläne aufstellten. Zum anderen war diese Verknüpfung enorm konfliktbeladen und führte dazu, dass Konzerte in New Jersey, genauso wie in Washington, New York, Philadelphia und Miami von Tumulten, Schießereien außerhalb der Clubs, Gewalt und dem Auftauchen von Neonazis begleitet sein konnten. Berüchtigt für derartige Vorfälle waren etwa der in Washington gelegene Safari Club oder das G-Willikers in Pennsauken (nahe Camden, NJ), wo unter anderem schwarze Metal-Musiker beschimpft wurden.207 Amy Wuelfing beschreibt das City Gardens überdies als »lawless«, da die Polizei dort schlicht nicht gekommen sei, wenn sie benötigt wurde.208 Bei einem Konzert der Thrash/Hardcore-Band Leeway und der Death Metal-Band Ripping Corpse in Trenton kam es beispielsweise 1990 zu einem Anschlag auf Joe Rowan, Sänger der white-power-Band Nordic Thunder, der sich wie viele andere »Nazi-Skins« regelmäßig beim City Gardens aufhielt.209 Die uninformierte Verwunderung der Berichterstattung über diesen Vorfall in der Trenton Times, bei der sich die Presse völlig überrascht zeigte, dass Rowan als Skin-
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Interview John McEntee, 28.52-29.50 Min. Ebd., 28.30-28.44 Min. Vince Matthews, in: Netherton, Extremity Retained, S. 119f. Vgl. Forbes, City Gardens. Interview with Amy Yates Wuelfing. ON THIS DATE IN CITY GARDENS HISTORY: December 30th, 1990 – The Leeway Riot, in: URL: www.diwulf.com/news/2019/12/30/on-this-date-in-city-gardens-history-december-30th-19 90-the-leeway-riot (letzter Aufruf 20.12.2021).
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head von Skinheads attackiert worden war,210 verdeutlichte, dass im Kontext der Musikkultur in Trenton – genau wie in New York, Pennsauken, Miami oder Berkeley – Jugendliche der unterschiedlichsten politisierten Jugendkulturen aufeinandertrafen. Die ganze politische Bandbreite der Skinhead-Bewegung hörte sich hier gemeinsam mit Punks und Metalheads Konzerte von schwarzen und weißen Musikern aus Ska, Punk, Hardcore, Death Metal, Thrash Metal und Indie an – was starre politische und/oder rassistische Ansichten sowohl verwässern als situativ auch verschärfen konnte. Für Travis Nelson, Sänger der Ska-Band Inspecter 7, der eine Woche vor dem Attentat auf Rowan mit diesem noch eine Diskussion führte, war diese explosive Mischung auf Gefühle der Isolation und den Wunsch der Zugehörigkeit zurückzuführen: I had debate with him. I said, »Hey, you got all this stuff on your jacket—all these swastikas and other assorted symbols—and yet, here you are with me, chilling out in the parking lot, drinking a beer… Not only am I not white, I am your worst nightmare. I’m mixed. I’m everything you supposedly stand against.« He gave me the, »Oh, well you’re different… You’re cool,« response. And I said, »Well, by saying that, you’re taking me on an individual basis… you’re kind of flushing your philosophy down the toilet, don’t you think?« We debated for another 20 minutes. Glaring contradictions kept coming up in what he was saying, but… a lot of times, with that whole white power thing, I don’t think the people even believe it. I think, for a lot of them, it was just something they were looking to belong to. A lot of them were intelligent enough to see the glaring contradictions, and yet they were still involved.211 Die sich im Fahrwasser der Hardcore-Punk-Szene entwickelnden Death Metal-Konzerte waren also de facto punktuell-gefährliche und stark politisierte Orte, erfüllten aber eine nicht zu unterschätzende soziale Ventil-wie auch Überbrückungsfunktion – nicht nur in Hinblick auf »place« und »race«, sondern auch auf »class«. In besonders prekären und vom Strukturwandel gezeichneten Städten blieben sie häufig die einzigen Vergemeinschaftungsmöglichkeiten für Jugendliche. In Allentown, einer vom Rückzug der Stahlindustrie getroffenen Kommune in Pennsylvania, die zu Beginn der 1990er Jahre ein großes Drogen-und auch Nazi-Problem entwickelte,212 schlossen nach und nach die Musik-Clubs, bis nur noch das Acorn Hotel übrigblieb. Allerdings trafen hier Suburbanisierung, das College-Radio der ansässigen Hochschule sowie »freigesetzte« Industriearbeiter aufeinander und Marvin »Skip« Horn, der die Shows im Acorn Hotel organisierte, begriff seine Tätigkeit als aktives Ventil für Veränderungen in einer Stadt, die gefährlicher geworden sei. Vom Publikum der Konzerte meinte Todd Cramer (Dysphoria) »It’s a blue-collar type crowd. They’re not the type to work behind a desk.«213 Metal-Musik stellte hier ein wichtiges Puzzleteil in der Verarbeitung des sozialen Wandels dar – jedoch für Jugendliche, die andere Folgen dieses Wandels erlebten als in den Vororten von New Jersey.
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Vgl. Hank Walther, Victims claim assault by skinheads, in: Trenton Times, 01.01.1991. Wuelfing/DiLodovico, No Slam Dancing, S. 322. Barney Greenway von Napalm Death, in: Richard Johnson, Disposable Underground 1 (1992) 5. Vgl. Joe Warminsky, The Acorn Hotel is picking up where other venues left off, in: The Morning Call (Allentown, PA), 14.01.1995, S. 57, 63.
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Im Nordosten der USA war die Entwicklung der Metal-Musik also an urbane Räume geknüpft, die die Musiker für gewöhnlich als »rough« bezeichnen, die jedoch deswegen keineswegs kritisiert wurden.214 Dabei kamen zwei Aspekte zusammen: Zum einen waren die Clubs – egal, ob man die Perspektive der »suburban misfits«, der »prettified suburbia« oder der »blue-collar type crowd« wählte, jene Räume, an denen Community erlebt, angebahnt und ausgebaut wurde. Zum anderen passten diese Räume auch schlicht hervorragend zur Musik und seiner working-class-Ästhetik. John McEntee und auch Terrence Kelsey deuteten oben bereits an, dass die herausgeputzten Stadtteile weder im Nordosten noch in der Bay Area als Auftrittsorte geeignet waren. Henry Veggian, der in New Jersey aufwuchs, aber auch früh Kontakte nach Pittsburgh aufbaute, gibt sogar an, stets von der rauen und industriellen Atmosphäre der »Iron City« fasziniert gewesen zu sein. Er wäre »obsessed by the steelworks« gewesen und »grew up with this picture of Pittsburgh in my mind.«215 Der heruntergekommene, dreckige und tendenziell kontrollfreie Raum der urbanen Clubs entsprach der Musik und ihrer sozialen Verortung also hervorragend und eine Institution wie G-Willikers wurde nicht etwa als problematisch und gewalttätig, sondern als unverzichtbarer Szene-Bestandteil bewertet216 – und warb sogar mit seinem Image (Abb. 18), indem man »jene Bands hatte, vor denen sich andere Clubs fürchteten.« Gleiches galt auch für das Electric Banana, den wichtigsten Club für Metal-Bands in Pittsburgh, und es ist bezeichnend für die historische Verortung dieser Musik-Szene, dass Musiker wie Henry Veggian, Sharon Bascovsky oder Mark Mastro (Rottrevore) wenig begeistert vom Umbau dieses legendären Clubs waren und auch Ross Dolan und Robert Vigna (Immolation) die Veränderung von New York eher als Verlust empfanden.217 Saubere Innenstädte mit ihrer neuen Klientel boten nach dieser Lesart keine günstige Ausgangslage für Extreme Metal und weisen der Metal-Kultur im Nordosten der USA überdies einen spezifischen historischen Platz in der Stadtgeschichte zu: Sie erlebten ihren Höhepunkt in der Krise der Stadt im Zuge der Deindustrialisierung und der sich anschließenden Krise der Suburbanität für Jugendliche, fügen sich aber räumlich und sozial nur schlecht in den »new urbanism« ein. Dementsprechend schlossen die hier genannten Clubs sämtlich um die Jahrtausendwende oder wurden umfunktioniert, erfüllten jedoch eine wesentliche Rolle in der Revitalisierung der Städte während der 1980er und 1990er Jahre. Dies findet auch Steve Tozzi, Regisseur der Dokumentation »Riot on the Dance Floor: The Story of Randy Now and City Gardens«: The success of venues such as City Gardens are examples of the way art can attract people to the »middle of nowhere,« a way to create a destination out of buildings like
214 Vgl. The Latem Files – Episode 1. The NY/NJ/Pittsburgh connection, 2021, URL: https://www.yout ube.com/watch?v=0ioiD7_G2dQ (letzter Aufruf 20.12.2021). Das Gespräch zwischen Musikern aus NY, NJ und PA offenbart an vielen Stellen die Anbindung der Szene an heruntergekommene Orte. 215 Ebd., 91.20-91.30 Min. 216 Vgl. Interview Alex Bouks, Z. 20–27. 217 Vgl. Latem Files Episode 1, 21.50-23.50, 102.30 Min.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
a run-down car dealership in South Trenton. […] For the cities that are trying to rebuild themselves with culture, like Trenton, City Gardens made a dent in people’s minds.218
Abb. 18: Spielplan des G-Willikers 1990.219
URL: http://metallipromo.com/death.html (letzter Aufruf 20.12.2021).
3.2.2.1 Räumliche Aneignungen im US-Nordosten Die Club-Landschaft war dabei genauso in den urbanen Strukturwandel eingebettet wie die Treffpunkte und Probeorte der Musiker. Dan Lilker war es 1981 noch problemlos möglich, zu den Freunden in der unmittelbaren Nachbarschaft von Queens zu gehen und
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Mike Davis, Documentary on iconic Trenton music venue City Gardens screening in Philadelphia this week, in: Times of Trenton, 22.06.2014, URL: https://www.nj.com/mercer/2014/06/iconic_tre nton_venue_city_gardens_is_subject_of_documentary.html (letzter Aufruf 20.12.2021). Ausdruck des DIY-Stils, mit annähernd allen wichtigen Bands der Death Metal-Szene im Nordosten, und mit einer entscheidenden und inklusiven Regel: Jeder durfte hinein, aber erst ab 21 Jahren Alkohol trinken.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
dort Motörhead kennenzulernen oder einige Jahre später auf Parkbänken herumzuhängen, Bier zu trinken und mit einer Boombox das Album »Morbid Tales« von Celtic Frost zu hören.220 Gleichzeitig probten Anthrax im »Music Building«, einem Mehrgeschosser in New York, der temporär ungenutzt blieb und dadurch dem CEAG-Gebäude in Dortmund glich. Hier probten laut Jon Zazula etwa 50 Bands und auch Metallica kamen dort während ihres ersten Ostküsten-Aufenthalts unter.221 Solche Möglichkeiten reduzierten sich jedoch im Laufe der 1980er Jahre Stück für Stück und Bands aus den Vororten, die für Proberäume nicht zahlen konnten oder wollten, zog es in Lagerhäuser oder ausgefallenere Räume. So probten die Bands Tirant Sin und Beyond Death aus Buffalo, die zu Cannibal Corpse verschmelzen sollten, im »Absolute Storage« und Sathanas aus Pittsburgh nutzten einen Kühlraum für Fleisch im Hinterhof eines Einzelhandels.222 Standen überdies keine eigenen Wohnungen zur Verfügung, die einen dauerhaften Treff-, Hör-und Proberaum boten (wie das »Metal House« in Buffalo, in dem Alex Webster (Cannibal Corpse) als Student zusammen mit Howie Abramson, dem Host der Metal-Show beim CollegeRadio wohnte),223 blieben nur das Elternhaus und die Plattenläden (Kap. 6). Die Revitalisierung der Innenstädte sowie der private Raum der Vororte beschränkten die räumlichen Freiheiten der Extreme Metal-Fans derart, dass sich in den USA zwei buchstäbliche Erinnerungsorte der Metal-Kultur etablieren konnten, die in Europa kaum musikalisch belegt waren: Der Parkplatz und die Mall. Der Kurzfilm »Heavy Metal Parking Lot« (1986), der Metalheads beim »Warmtrinken« vor einem Konzert von Judas Priest in Landover, Maryland zeigt, setzte einem dieser Räume ein 17-minütiges Denkmal und verdeutlichte die Bedeutung der motorisierten Mobilität genauso wie der suburbanen Tatsache, dass »the parking lot« als einer der wenigen öffentlichen Räume übergeblieben war.224 Zwar handelte es sich bei den Szenen um die Vorbereitung eines Konzerts und diese fanden auch in Europa häufig auf Parkplätzen statt, doch ging die Rolle des Parkplatzes auch über die Konzertsituation hinaus. Sathanas gründeten sich in Beaver County, nahe Pittsburgh, aus Bekanntschaften der »school parking lot«225 und Dave Carr (Anvil Bitch) aus Philadelphia beschreibt diesen Raum sogar als gemeinsamen kommunikativen Nenner der Szene an der Ostküste: We seldom went into shows, the action was outside these concerts brought metalheads together in one place from New York to Maryland there was no internet so these concerts and tons of flyers brought other bands and fans all together »meet at the ramp« behind the Spectrum was where it’s at!226
220 Vgl. Interview Dan Lilker, 14.18-15.23 Min. 221 Vgl. Jon Zazula, Heavy Tales, Orlando 2019, S. 40. 222 Vgl. Izzi/Korycki/Stuart, Cannibal Corpse. Centuries of Torment, 09.10 Min.; Vgl. Chris Forbes, Sathanas. Interview with Paul Tucker, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/ sath.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 223 Vgl. Izzi/Korycki/Stuart, Cannibal Corpse. Centuries of Torment, 28.00 Min. 224 Vgl. John Heyn/Jeffrey Krulik, Heavy Metal Parking Lot, USA 1986, URL: https://www.youtube.co m/watch?v=QBryTebK2Og (letzter Aufruf 20.12.2021). 225 Vgl. Forbes, Sathanas. Interview with Paul Tucker. 226 Chris Forbes, Anvil Bitch. Interview with Dave Carr, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcoref anzine.com/anvil.html (letzter Aufruf 20.12.2021).
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Es besitzt eine gewisse Ironie, dass die Metalheads genau jene Räume besetzten, die wie kaum etwas anderes ihre Isolation symbolisierten. Jugendliche Vergemeinschaftung nistete sich notgedrungen in den Pseudo-Ersatz für öffentlichen Raum ein.227 Ein suburbaner Metal-Fan oder -Musiker war in den USA bedeutend stärker auf das Automobil angewiesen als in Europa und so begründen sich auch die zahllosen Äußerungen der Akteure zu der Frage, wer sie wohin gefahren hat – egal, wie sie dazu standen. Dee Snider (Twisted Sister) deutete den Zusammenhang für Los Angeles durchaus positiv: »It’s the perfect breeding ground for heavy metal. Something to do with sitting in your car, driving around, listening to tapes«228 während Terry Heggen (Derketa) in Pittsburgh kritisierte, dass »mindlessly driving around looking for something to do«229 weit verbreitet sei und dass sie eine Band gründen wollte, um dem zu entgehen. Bob Petrosino (Oblivion) und seine Freunde hatten mit Billy Milano, einer respektierten Gestalt im New York Hardcore, sogar einen prominenten und temporär abstinenten »Chauffeur«, weil Milanos Freundin in Toms River (NJ) wohnte und Petrosinos Bekannte war.230 Besetzten die Fans mit der »parking lot« jenen Raum, der die Entfernung der urbanen Dezentralisierung verkörperte, eigneten sie sich mit der Mall ihre halb-öffentliche Kommodifizierung an. Im Podcast »The Latem-Files« (Anagramm und Codewort bei Konzerten für »Metal«), in dem Death Metal-Musiker aus New Jersey, Pittsburgh und New York über die Anfänge ihrer Vernetzung sprachen, zeigten sich bezeichnenderweise alle davon überrascht, dass ihre ersten Bekanntschaften mit Gleichgesinnten in einer Mall stattgefunden hatten.231 So traf John McEntee, der 1987 in einem Plattenladen in einer Mall in New Jersey arbeitete, dort Henry Veggian und Jim Plotkin, bei deren Band Revenant er später einstieg232 und auch Ross Dolan (Immolation) aus Yonkers, NY, meint, dass es nicht viele andere Räume der Vergemeinschaftung außer der Mall gegeben habe.233 Das Einkaufszentrum führte die Jugendlichen aus den verschiedenen Vororten punktuell zusammen und bahnte auf diese Weise zahlreiche Kooperationen im US-Metal an, stand aber in keiner klar erkennbaren inhaltlichen Position zu dem potentiellen Widerspruch mit der anti-kommerziellen DIY-Attitüde des Extreme Metals. Genauso wie bei vielen Jugendkultur-Phänomen zuvor dienten spezialisierte Shops in Einkaufszentren hier punktuell der Versorgung mit Konsumgütern des Lebensstils und der halb-öffentliche Raum wurde sowohl als Treffpunkt wie als Distinktionsraum von anderen Szenen genutzt.234 Anhaltspunkte für eine empfundene Unvereinbarkeit mit DIY-
227 Vgl. Hinsichtlich der Mall, die von der Logik »There’s no other place to go« profitierte: Mark Hutter, Experiencing Cities, 3. Aufl., New York 2016, S. 383f. 228 Christe, Sound of the Beast, S. 165. 229 Bruce Davis, Ripping Headaches, Nr. 12, 1990, S. 20. 230 Vgl. Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino. 231 Vgl. The Latem Files Episode 1, 18.30-18.50 Min. 232 Vgl. Interview John McEntee, 02.00-02.30 Min. 233 Vgl. The Latem Files Episode 1, 19.20-19.50 Min. 234 Vgl. Alexander Sedlmaier, Youth and the Semi-Public Sphere of Large-Scale Retail, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried (Hg.), European Cities, Youth and the Public Sphere in the Twentieth Century, Aldershot 2005, S. 134–149.
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Idealen bestehen nicht und vereinzelte Kritik wurde oft erst im Nachhinein geäußert.235 Überraschen kann dies nicht: Die Vereinigten Staaten waren der Ort, an dem sich das konsum-affirmative Narrativ des »consumer citizen«, das anders als die vor allem europäische Konsumkritik den Einfluss des Verbrauchers anstatt seiner Entmündigung betonte, zuerst ausbilden konnte und das sich seit den 1980er Jahren auch verstärkt östlich des Atlantiks durchsetzte.236 Die Mall als metal-kultureller Raum erregte in den USA keinerlei Verdacht, während Einkaufszentren als Treffpunkte der Metalheads in Europa demnach wohl nicht nur unbekannt waren, weil man ihrer schlicht nicht bedurfte. Neben seinem Einfluss auf Infrastruktur und Vergemeinschaftung wurde der Raum im Nordosten der USA aber auch szene-intern verhandelt, und dies vor allem in Beziehung zu sozialer Ungleichheit. Während einige Akteure die Fähigkeit der Musik-Szene betonten, räumliche Trennungen und regionale Identitäten zu überbrücken,237 spielten »place« und »class« häufiger eine unterschwellige Rolle und verbanden Herkunft mit objektiv nicht begründbaren Werturteilen musikalischer Natur. Raum wurde zum musikalischen Distinktionsfaktor. Als offene Konflikte oder große Zerwürfnisse darf man sich diesen Diskurs nicht vorstellen. Vielmehr überlagerten sich ohnehin existente Vorurteile und Abneigungen bestimmter Akteure mit Aspekten der Authentizität – besonders an der konfliktbeladenen Schnittstelle von New York und New Jersey. Bobby »Blitz« Ellsworth, Sänger von Overkill aus New Jersey, führte Musik beispielsweise als Faktor bei der Verteidigung gegen den Minderwertigkeitskomplex des Bundesstaates an. Durch die Gleichsetzung von New York City mit Manhattan sowie der Fokussierung auf die saubere, teure sowie finanzdienstleistungsbasierte Arbeitswelt des Stadtteils, bringt er die Authentizität von Musikern aus New Jersey ins Spiel, die für ihr Einkommen tatsächlich arbeiten würden und daher auch Musiker mit »attitude« seien: There are five boroughs in New York – they call Jersey ›The Dirty Six‹. The point being is that we built their bridges and their towers, we picked up their garbage. There’s a hell of a work ethic in that. Did being across the water from New York give you an inferiority complex? More like a fucking chip on your shoulder! It was, like, ›Come over here and say that!‹ Seventy per cent of Manhattanites are nowhere near Manhattan when they grow up – they just go there cos that’s where the money is. But the people in Jersey had a great work ethic and a hell of an attitude. It’s the most attitude-fuelled place I’ve ever seen in my life, and I’m used to it. But some great music has come out of Jersey:
235 Vgl. Veggian, in Stöver, Voices From The Dark Side, Nr. 6, S. 23; Vgl. Interview Chris Pervelis, Z. 48–52. 236 Vgl. Andreas Wirsching, Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009) 2, S. 171–199, hier S. 179f., 185. 237 Tom Stevens (Nokturnel): »I remember there being quite the divide between NJ and NY back in the early days. Most of us got along, but looking at bands from NY, like Mortician or Suffocation, compared to NJ like Nokturnel, Ripping Corpse or Human Remains, although we had different personalities, we were still more alike than different.« Netherton, Extremity Retained, S. 124.
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Bruce Springsteen, Bon Jovi, the Skid Row guys. Frank Sinatra for fuck’s sake. It sure produces honest representation in music.238 Genau wie im Ruhrgebiet war »honest representation in music« nichts, was man hören konnte, aber eine für die soziale Verortung der Musik entscheidende Kategorie, die über Geschmäcker entschied und dazu führen konnte, dass bestimmte Musik mit der Identität einer Szene korrespondierte oder eben nicht. Und da Thrash und Death Metal sich gut in das Gefühl der Isolation in den Vororten New Jerseys mit ihrer hart-arbeitenden weißen Mittelschicht einfügten und der Bundesstaat eine eigene Szene-Identität entwickelte, ließen sich Metal-Musiker aus New Jersey auch nicht ohne Weiteres unter eine New Yorker Szene subsumieren, obgleich diese internationale Reputation und finanziell bessere Aussichten ermöglichte.239 Dazu trugen freilich auch die umgekehrten Perspektiven von Musikern aus der Metropole bei: So vergleicht Dan Lilker auf die Frage, was die Metalheads aus der Stadt und den Vororten aus New Jersey unterschieden habe, die Metalheads aus New Jersey mit den Bürgern der ehemaligen DDR, deren »Rückständigkeit« im Moment des Mauerfalls offensichtlich geworden wäre. Er verknüpft dabei weiterhin die angebliche Neigung zu stärkerem Alkoholkonsum mit der Herkunft aus einer »remote area« und bezeichnet das Szene-Engagement als verstört (»unhinged«)240 − keine Meinung, die die gegenseitigen Vorurteile überwinden könnte. Während hier eine traditionelle Rivalität zweier Bundesstaaten musikalisch verhandelt wurde, lassen sich auch viele Beispiele dafür finden, dass Death Metal im Nordosten die Urbanität bzw. die Herkunft aus bestimmten Vororten als Kriterium für authentische Musiker aufnahm. Für John McEntee, dessen Wohnort sich von dem vieler seiner Freunde in Paterson unterschied, bedeutete dies, Spötteleien ausgesetzt zu sein: A lot of my metal friends, you know, were in rougher parts of the area, like a lot of people in Paterson, which is more of a, you know, a more rougher, cityish type town. They used to joke about I live in Mt. Niceville, you know, or everywhere all the grass was always really well done at everyone’s houses. Young people, you know, walking outside, waving to you saying ›Hello, welcome to the neighbourhood!‹ and stuff like that, you know. So, it was really like a positive area I grew up in.241 Aus »Mt. Niceville« zu kommen, ging anscheinend damit einher, die Treue und Aufrichtigkeit gegenüber der Musik besonders herausstellen zu müssen und McEntee beschreibt sich selbst als »musical sponge«, der Szene-Wissen besonders aktiv hortete und sich
238 Dave Everley, Overkill’s Bobby ›Blitz‹ Ellsworth: My Life Story, in: Metal Hammer, 2019, URL: http s://www.loudersound.com/features/overkills-bobby-blitz-ellsworth-my-life-story (letzter Aufruf 20.12.2021). 239 McEntee: »We started out in New Jersey, in Bergen County, right outside of New York City. We were kind of considered a New York death metal band, but we always considered ourselves as an underground band from Jersey. […] It means nothing really, but we were from Jersey, you know?« Netherton, Extremity Retained, S. 15. 240 Vgl. Interview Dan Lilker, 09.55-11.27 Min. 241 Interview John McEntee, 25.18-25.58 Min.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
auch einem sehr extremen musikalischen Stil verschrieb.242 In einem anderen Fall beschrieb Henry Veggian den Plan, eine Aufnahme in einem Studio in einem als reich konnotierten Vorort aufzunehmen, als unangenehme Aufgabe: The studio was in a basement of a large home in a rather upper-class town. In northern New Jersey, Ridgewood is synonymous with the cultural and economic elite, so it was a weird place for us to travel and work, because we were all from humble backgrounds.243 Auch hier fußte die Bemerkung auf Gründen, die den sozialen Raum als ungeeignet für das eigene musikalische Produkt codierten – beinahe, als könne die Musik kontaminiert werden – und Death Metal dadurch einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zuwiesen. Was passieren konnte, wenn Bands diese unsichtbaren Grenzen überschritten, machte Tom Knizner deutlich, der in zahlreichen Death Metal-Bands aus dem Süden Chicagos spielte. Während der Wettbewerb zwischen den »working-class«-Bands des Südens und jenen des Nordens als positiv bewertet und auch den nördlichen Bands Respekt zuerkannt wird, sah dies bei Bands, die aus den Vororten von Chicago oder gar aus Wisconsin kamen, mit brandneuem Equipment auftraten und sich als ChicagoBands ausgaben, ganz anders aus: »We had to go out and get the gear anyway we could, while those bands obviously had a lot of parental support.«244 Die Thrash-und Death Metal-Szenen des Nordostens der USA wiesen verglichen mit der Bay Area also Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf: Die Musikkultur erscheint in beiden Fällen als Betätigungsfeld einer hart arbeitenden, weißen unteren Mittelklasse oder Arbeiterklasse, die sich immer weniger urban, sondern in den Vororten organisierte und die Musik vor dem Hintergrund ihrer räumlichen und sozialen Isolationserfahrungen verhandelte. Die Träger der Szenen verstanden ihr Engagement als zutiefst anti-snobbistisch und reichtumsfeindlich, aber dennoch nicht als prekär im Sinne einer »underclass«, sondern als Befreiung von einem Isolationsdruck und als authentischen Ausdruck ihrer »bescheidenen« Herkünfte, die besonders in Pennsylvania und im Upstate New York auch mit unmittelbaren Deindustrialisierungserfahrungen verbunden sein konnten. Während sich die Entwicklungspfade an West-und Ostküste in den frühen 1980er Jahren noch ähnelten – Urbanität war noch teilweise vorhanden und suburbane Isolation und Segregation noch nicht die Regel –, radikalisierten sich soziale Probleme in der »white heat« der suburbanen Szene in New Jersey weiter, während die Bay Area eine solche Szene-Bildung nicht erlebte. »Place« und »class« wurden im Authentizitätsdiskurs beider Szenen verhandelt, verschärften sich aber an der Ostküste, wurden lokal politisch codiert und auch um den »race«-Faktor erweitert – was letztlich auch zu Kon-
242 Vgl. ebd., 03.35-03.45 Min. 243 Andreyuk, Tape Dealer, S. 61. 244 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 167. Vorher: »Chicago was a very supportive scene at the time, especially the bands on the South Side. It was probably rooted in a kind of working-class pride, but that is not to say that the North Side did not have a good scene as well. There was just a bit of North Side/South Side rivalry going on, that still continues. Nothing bad or anything, just a bit of competition.« Vgl. auch ebd., S. 121 (Vince Matthews über Pittsburgh).
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flikten zwischen den Hardcore-Punks der Westküste und der Ostküste führte, in die sich Metal-Musiker einschalteten (Kap. 5).
3.2.3 Florida Death Metal aus Florida gestaltete sich ebenso extrem wie das gesellschaftliche Umfeld, aus dem seine Bands hervorgingen. Denn für den hier postulierten Zusammenhang zwischen ökonomischer Entwicklung, räumlichem Wandel, der Praxis der musikalischen Vergemeinschaftung sowie der Verhandlung von »place« stellten die Szene-Zentren Floridas einige Rekorde der Metal-Geschichte auf: Am stärksten suburbanisiert, am deutlichsten ethnisch segregiert und wirtschaftlich am erfolgreichsten. Im Gegensatz zum Nordosten der USA wurde Florida als boomende Region mit Entwicklungspotentialen wahrgenommen und dieser Umstand trug erheblich zu den enormen Migrationsgewinnen des »Sunshine State« bei. Denn Floridas Bevölkerung wuchs zwischen 1970 und 2000 um weit mehr als 100 Prozent, wobei besonders die Metropolitan Areas von Miami, Tampa Bay und Orlando profitierten.245 Die Wirtschaft des Staates, quasi prototypisch mit den Wachstumsbranchen des postindustriellen Zeitalters verknüpft (Konsum, Medizin, Bildung, Transport, Tourismus und Unterhaltung), versorgte dabei Migranten aus dem »rust belt« mit Arbeitsplätzen, zu denen auch zahlreiche Musiker und ihre Familien gehörten. In vielen Death Metal-Bands des Staates spielten daher Musiker aus dem Nordosten mit Binnenwanderungserfahrungen – etwa bei Atheist, Cannibal Corpse, Malevolent Creation, Monstrosity, Morbid Angel, Deicide, Death oder Nocturnus. Keine andere Metal-Szene der »langen 1980er Jahre« generierte derartige Anziehungskräfte.246 Auch wenn sich die sozioökonomischen Herkünfte unter den Musikern in Florida nicht ausschließlich auf Familien mit gutbezahlten »white-collar«-Jobs beschränken lassen,247 bestand dennoch in keiner anderen Metal-Szene dieser Studie so wenig Grund, der These Deena Weinsteins zu folgen und Metal als »working-class rebellion« zu bezeichnen. Dass sich in den Aussagen der Musiker kontinuierlich Erfahrungen der Frustration und Wut finden, die diese (nach eigener Angabe) durch ihre Musik kanalisieren wollten,248 hatte daher kaum mit ökonomischer Deprivation, sondern mit anderen Faktoren zu tun. Einer davon war die regelrecht vergemeinschaftungsfeindliche räumliche Struktur der Metropolitan Areas. So gehörten Tampa, Orlando und Miami zu den am schnellsten wachsenden Ballungsräumen der USA, blieben aber (bis heute) vergleichsweise kleine Städte und organisierten den Zuzug fast komplett suburban und dezentral
245 Vgl. Historical Population Change Data, US Census Bureau, URL: https://www.census.gov/data/t ables/time-series/dec/popchange-data-text.html (letzter Aufruf 20.12.2021). 246 Vgl. Swiniartzki, Why Florida?, S. 175f. 247 Eines der wenigen Gegenbeispiele ist Mike Browning (Morbid Angel/Nocturnus). Vgl. Interview Mike Browning, Z. 3–5. 248 Vgl. z.B. Interview Scott Reigel, 13.58-14.30 Min. »I think that for me I was, I suppose, an angry kid, you know. And I didn’t want to [?] the violence towards other people about my anger. So, I found a way to release it in a different way. And I think that whenever we started to getting together as musicians that we all realized that it was probably going on in all of our heads, you know what I mean.«
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im Stile von »Edgeless Cities« – ganz besonders in Miami.249 Der wirtschaftliche Aufschwung im Zuge der Highway-Anbindung ließ die Bevölkerungszahl kleiner Gemeinden innerhalb weniger Jahre stark ansteigen – etwa in Brandon, das als Vorort von Tampa ein Schwerpunkt der Metal-Szene wurde und neben den Szene-Urgesteinen Nasty Savage auch Obituary hervorbrachte. Das sichtbarste »kulturelle« Symbol dieses Ortes bildete eine riesige Mall, auf die die Verkehrsinfrastruktur und Siedlungsform ausgerichtet waren,250 während Temple Terrace, ein anderer Vorort von Tampa, von wo Morbid Angel stammten, räumlich und erwerbstechnisch auf den Campus der University of South Florida zugeschnitten war.251 Für Jugendliche aus diesen Orten machte dies jedoch keinen Unterschied, denn die lose und dezentrale Raumstruktur verkomplizierte in beiden Fällen die Kommunikation, vergrößerte Distanzen und das soziale Klima der Vororte begünstigte eine laute, optisch-deviante und inhaltlich-brutale Musikkultur hier genauso wenig wie in den östlichen Vororten von San Francisco. In Siedlungen, die »auf der grünen Wiese« neu entstanden, stellte sich das Fehlen einer lokalen Community als besonders drastisch heraus und Kam Lee (Mantas), der mit seiner Mutter aus Südflorida in ein solches Gebiet nahe Orlando gezogen war, empfand dies als einen schweren Rückfall und Umzug in ein »farmland«252 ohne musikalischen Anschluss. Ähnlich wie in Kalifornien zwang der suburbane Privatbesitz die Musiker an die Garagen oder Wohnungen ihrer Eltern.253 Darüber hinaus war die Suburbanisierung in Florida stark ethnisch segregiert und schwarze Jugendliche konzentrierten sich etwa in Tampa in Stadtteilen, die sich bereits vor den 1940er Jahren zu schwarzen Nachbarschaften entwickelt hatten. Viele ihrer Vorfahren hatten sich vor dem Zweiten Weltkrieg als Lohnarbeiter möglichst nah an den Wohn-oder Erholungsorten der weißen Bevölkerung angesiedelt, die sie aber nur während der Arbeitszeit betreten durften. So bildeten sich etwa in Ybor City, Spring Hill oder College Hill schon sehr früh schwarze Communities mit eigenen Kirchen, Schulen, Gewerben und auch Freizeiträumen heraus – von den weißen Communities durch unsichtbare Grenzen an bestimmten Gebäuden und Straßen getrennt.254 Der massive Ausbau der Vororte seit den 1970er Jahren zerschnitt diese Nachbarschaften zwar häufig durch den Highway-Bau, änderte aber an der ethnischen Homogenität der Vororte
249 Lang bezeichnete Südflorida als die »edgeless metropolis incarnate« und »most centerless large region in the nation«. 66 Prozent des Büroraums in Südflorida liegen in Edgeless Cities, 17 Prozent in Edge Cities und nur 18 Prozent in Downtowns. Vgl. Lang, Edgeless cities, S. 69. 250 Ein eindrückliches Symptom dieser Struktur ist, dass auf Brandons Wikipedia-Seite tatsächlich eine Mall als wichtigstes Gebäude zuvorderst erscheint. Vgl. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/B randon_(Florida) (letzter Aufruf 20.12.2021). 251 Temple Terrace startete 1984 ein großes kommunales Umbauprogramm, um neue Unternehmen anzusiedeln und erhielt ebenso wie Brandon einen wichtigen Interstate-Anschluss. Vgl. The Tampa Tribune, 29.02.1984, S. 54. 252 Infamous Butcher, Interview with Kam Lee of Massacre, Death, Mantas, in: metal-rules.com, 2017. 253 Erfahrungen mit der Garagen-Probe erscheinen in den meisten Aussagen der Musiker der Bands Death, Morbid Angel, Deicide, Obituary, Brutality, Atheist und anderen. 254 Vgl. Antoinette T. Jackson, Heritage, Tourism, and Race. The other side of leisure, New York/ London 2020, S. 65–71.
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gar nichts, sodass Death Metal-Musiker aus der Tampa Bay Area meistens auf ein Aufwachsen in weißen Mittelklasse-Nachbarschaften zurückblicken können. Scott Reigel (Brutality) führt dies für das suburbane Umland Tampas an: I’d say that we are, most of us, were somewhat middle-class, I suppose. It depends on what you wanna call middle-class. We were in suburban neighbourhoods where it was […] primarily white people, you know.255 Und in Kam Lees Herkunftsort in Miami »One half of the neighborhood was like the black ghetto, the other half was primarily white.«256 Diese sozial-räumliche Struktur der Szene-Zentren in Florida hatte zwei wichtige Folgen: Zum einen rekrutierten sich die Musiker aus einer homogenen weißen Mittelklasse und bildeten in den segregierten Stadtteilen kaum Kontakte zu schwarzen Jugendlichen aus – die Bands bestanden daher ausschließlich aus weißen Musikern. Allein im kulturell hispanisch-geprägten Miami existierten einige Latin Americans in Death Metal-Bands.257 Zum anderen führten die homogenen Herkünfte dazu, dass »place« nicht szene-intern verhandelt wurde wie im Nordosten, sondern dort eine Rolle spielte, wo die Musiker auf Gang-Gewalt oder Neonazis trafen. Zwar waren die Clubs in ihrer Lage nicht derart an den urbanen Niedergang geknüpft wie in New York oder New Jersey und das Side Streets und Ruby’s Pub in Brandon oder The Brass Mug in der Nähe des Campus der University of South Florida wiesen eher suburbane Positionen auf, doch existieren in den Erinnerungen der Musiker auch Clubs wie The Ritz in Ybor City (Tampa) und zahlreiche weitere an der Ostküste des Staates, deren Umfeld entweder als politisch-oder als ethnisch-basierter Gewaltraum konnotiert war. So war es Mark Odechucks erklärtes Ziel, die Musik seiner Band Paineater als kanalisierte Wut über die Gewalt in Ybor City sprechen zu lassen, einen Ort der sich – wie er später anmerkte – stark vom Herkunftsort der Bands in Brandon unterschied: There was some Latin gang tag graffiti that got painted on the fence entranceway of our neighborhood and I knew at that moment that it was time to move out. In Brandon that was never an issue in the 1980's until you went out to the city of Tampa or Ybor City.258 Ähnlich wie City Gardens lagen Clubs wie The Ritz oder TrashCan in Miami in gefährlichen Nachbarschaften, doch weisen die Quellen darauf hin, dass sich diese Brisanz in der Tampa Bay weniger im Umfeld von Konzerten artikulierte als an der Ostküste Floridas. Denn während im Ritz regelmäßig Konzerte oder sogar Preisverleihungen wie die »Tampa Bay Music Awards« stattfanden und von Störungen oder Ausschreitungen keine
255 Interview Scott Reigel, 17.41-18.01 Min. 256 Infamous Butcher, Interview with Kam Lee of Massacre, Death, Mantas, in: metal-rules.com, 2017. 257 Zum Beispiel Paul Masvidal, der in Puerto Rico geboren wurde und 1987 die Band Cynic gründete oder der kubanisch-amerikanische Bassist Tony Choy, der u.a. bei Cynic und Atheist spielte. 258 Bradley Smith, Interview with Paineater, 2014, URL: www.nocturnalcult.com/Paineater2014int.h tml (letzter Aufruf 20.12.2021).
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Rede war,259 existieren zahlreiche Belege über gewalttätige Vorfälle durch Neonazis in Miami oder Hallandale Beach. So wurde beispielsweise die »Slammie«-Preisverleihung in Hallandale Beach 1992 von Neonazis gestört, die französischen Fanzine-Autoren Chris Aubert und Laurent Ramadier vernahmen 1990 in der Nähe des TrashCan Schusswechsel und Jack Owen, 1992 Gitarrist von Cannibal Corpse, berichtete darüber, dass sich die Musiker von Obituary in Miami sogar mit ihren Instrumenten gegen Neonazis verteidigen mussten.260 Es mutet paradox an, dass dies ausgerechnet Anhaltspunkte für eine besondere Vitalität der Szene an der atlantischen Küste waren. Doch beruhten die beiden Szene-Kerne Floridas auf unterschiedlichen Grundlagen, die auch erklären können, warum der Schwerpunkt der schließlich um 1991/92 vernetzten Death Metal-Szene von der »Sun Coast« an die »Gold Coast«, also von der Tampa Bay nach Miami/Ft. Lauderdale wechselte. Die Szene war in Tampa entstanden, weil die Stadt neben einigen ansässigen Bands vor allem von der Zugkraft des Morrisound Studios profitierte, wo fast alle Alben des Florida Death Metals produziert wurden und das der Szene einen »signature sound«, also ein klangliches Alleinstellungsmerkmal verlieh.261 Die Attraktivität des Studios, der sich ansiedelnden Bands sowie des wichtigsten Plattenladens des Staates, Ace’s Records, täuschten aber darüber hinweg, dass die Unterstützung seitens der Fans, d.h. die Anzahl, in der diese zu Konzerten erschienen, in Tampa nicht mehr so groß war wie an der Ostküste. Bereits 1991 sprach die Tampa Bay Times von einem »so-so fan support on the home front«262 , während John Tardy (Obituary) 1992 gegenüber dem South Florida Sun Sentinel äußerte: »Down here seems to be a little better. There are a lot more places to play than in Tampa and the kids are real supportive.«263 Dies war auf ein abebbendes Interesse in Tampa zurückzuführen, wo viele der Bands ab 1990 zu international-tourenden Stars der Metal-Szene aufstiegen und die lokale Live-Musik-Szene dadurch nicht mehr so stark frequentierten – wodurch die musikalische Praxis des Undergrounds in kleinen Clubs nach Südosten wanderte. Es hatte aber auch damit zu tun, dass die sozial-räumliche Grundlage für die Death Metal-Szene an der Ostküste noch anschlussfähiger war. Sie ähnelte stark jener von New Jersey, mit einem sich weiter extremisierenden Grad der urbanen Dezentralisierung, einer breiten weißen unteren Mittelschicht, die eine fehlende Partizipation am wirtschaftlichen Boom der Region empfand, sowie einer jugendkul-
259 Vgl. anonym, The Tampa Bay Metal Awards, in: The Tampa Tribune, 30.08.1991, S. 89. 260 Vgl. Chris Forbes, Interview with Chris Aubert, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzi ne.com/aubert.html (letzter Aufruf 20.12.2021); Vgl. Greg Pratt, That Tour Was Awesome: Complete Control (1992), in: Decibel Magazine, 31.01.2019, URL: https://www.decibelmagazine.com/2 019/01/31/that-tour-was-awesome-complete-control-1992/ (letzter Aufruf, 20.12.2021); Vgl. Jason Cochran, Medals for Metal, in: South Florida Sun Sentinel, 17.07.1993, S. 57. 261 Vgl. Dirk Lammers, Studio enjoys high-volume business, in: The Tampa Bay Times, 30.01.1993, S. 42. 262 Eric Snider, Princes of Darkness, in: The Tampa Bay Times, 21.04.1991, S. 65. 263 Michael Saunders, Florida bands finding local fans, in: South Florida Sun Sentinel, S. 32. Bereits 1989 äußerte Tardy über Tampa: »Ah, there are a lot of bands but the scene here is really boring. If you play a show, there won’t be a big crowd ’cause there’s not that many people that listen to this type of music. The people that do are really into it and most of them form bands and stuff.« Jeff Vanderclute, Metal Meltdown Zine, Nr. 7, Maryland 1989, S. 37.
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turellen Aufsplittung in viele verschiedene (auch politisierte) Jugendkulturen, die musikalische Innovationen in das Sub-Genre einfließen ließen. Infrastruktur war also, wie in Tampa, nicht alles – es bedurfte auch der »Basis.« Im Vergleich mit den Szenen im Nordosten und in Kalifornien begegnet mit dem Klima überdies ein Alleinstellungsmerkmal Floridas, das großen Einfluss auf die musikalische Praxis und Raumauswahl ausübte. Denn während das mediterrane Klima San Franciscos für die in Garagen probenden Bands ideal war und sich im Nordosten eine plausible Tendenz zum »indoor rehearsal« ausmachen lässt, stellten Temperatur und Luftfeuchtigkeit die Musiker, die sämtlich in den Garagen ihrer Eltern oder angemieteten Lagerhäusern probten, vor körperliche Herausforderungen. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob sich dies musikalisch widerspiegelte – als Antriebsmoment für aggressive Musik bildet das Klima jedoch einen konstanten Bezugspunkt in den Aussagen der Musiker, der hinsichtlich der Kälte lediglich noch in Norwegen zu finden ist. Kelly Shaefer beschreibt diesen Nexus folgendermaßen: You know, a lot of people say because of the heat. Listen, I can tell you, rehearsing in Florida when it’s 95 degrees out and a hundred percent humidity, literally you’re writing songs and it’s about 110, 115 degrees, so, you make them fucking angry, you know, and you tend to write some angry music probably. So, if anything, I would maybe say that’s the common denominator that we all have, we were sweating our asses off in garages and in stores warehouses writing our music, you know, night for night [laughs].264 Dass Shaefer mit der These vom gemeinsamen Nenner durchaus recht haben könnte, zeigen ähnliche Aussagen von Frank Watson (Obituary), der vermutete »I really don’t know why Florida was the hot spot for Death Metal. I can only attribute it to the heat.«265 Auch Phil Fasciana (Malevolent Creation) stellte hier einen Zusammenhang her und meinte »The heat in Florida makes you fucking crazy, man. And between that, all the old people, tourists, and the fucking drunks, no wonder everyone wanted to make really extreme music«266 , während auch Paul Masvidal (Cynic) und Scott Reigel (Brutality) – meist humorvoll – auf die klimatische Bürde der Szene hingewiesen haben.267 Im Kontext der körperlich hoch-anspruchsvollen musikalischen Praxis der Schlagzeuger und Gitarristen im Death Metal handelte es sich hier jedoch um ein folgenreiches Strukturmerkmal, dass das Musizieren an klimatisierte Orte oder die Abend-und Nachtstunden knüpfte und die Suche nach Probe-und Treffpunkten in »Suburbia« damit noch weiter verkomplizierte. Die Shopping Mall als Kommunikationsraum, der etwa für die Musiker aus Orlando belegt ist,268 konnte in dieser Situation neben ihrer omnipräsenten Lage noch mit dem Vorteil einer Klimaanlage aufwarten. Darüber hinaus hatte der spezifische 264 265 266 267 268
Interview Kelly Shaefer, 10.30-10.57 Min. Laszlo David, Obituary. Interview with Frank Watson, in: Voices From The Dark Side online. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 469 Vgl. Interview Scott Reigel, 14.19-15.23 Min. Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 10: Vincent Crowley zog 1990 von Pittsburgh nach Orlando und traf in der Mall mehrmals Chuck Schuldiner (Death) beim Rumhängen vor einem Laden für Videospiele.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Kleidungsstil der Bands aus Florida, der das Band-Shirt oft mit Sweatpants oder Shorts mit Turnschuhen verband, eindeutig klimatische Gründe, wurde aber insbesondere von den norwegischen Black Metal-Bands als Symbol für den »sell-out« und den Verlust der Brutalität der Musik bewertet und ab 1992 dementsprechend scharf kritisiert.269 Die klimatischen Bedingungen der Musik-Szene liegen daher an einer spannenden Schnittstelle praktischer, diskursiver und ästhetischer Entwicklungen und sollten in dieser Form in der Forschung stärkere Beachtung finden.270
Abb. 19: Luftholen im People’s Storage in Tampa – Bandprobe bei Eulogy..
Tampa Bay Times, 26.07.1992, S. 67. Foto: Mike Pease.
269 Øystein Aarseth (Mayhem) hinsichtlich des seiner Meinung nach falschen Death Metals: »It’s a big trend today to look totally normal with these goddamn jogging suits and sing about ›important matters‹, and call it Death Metal. These people can die, they have betrayed the scene. Death Metal is for brutal people who are capable of killing, it’s not for idiotic children who want to have a funny hobby after school.« Jon Kristiansen, Slayer 8 (1991), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 209. 270 Die Analogie zwischen musikalischer Praxis und Klima wurde bisher lediglich für kältere Regionen, namentlich Norwegen, angeführt – und dort auch zurecht als Distinktionsinstrument postuliert. Inwieweit klimatische Bedingungen unmittelbare strukturelle Voraussetzungen für Szenen schufen, ist dagegen ein Desiderat. Vgl. Baptiste Pilo, True Norwegian Black Metal. Nationalism and Authenticity in the Norwegian Black Metal of the ’90s, in: Toni-Matti Karjalainen (Hg.), Sounds of origin in heavy metal music, Newcastle 2018, S. 41–69, hier S. 54f.
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Ein Ort, der alle nötigen Vorteile für Bandproben aufwies, war die People’s Storage Warehouse Facility in Tampa (Abb. 19). Der Garagenkomplex war abgelegen und damit unabhängig von Vorwürfen der Ruhestörung, teilweise mit Klimaanlagen ausgestattet, lag in der Nähe der Universität und des Musikladens Skipper’s Smokehouse und war überdies kostengünstig.271 In diesem idealen Raum probten 40 bis 50 Bands, lagerten ihre Instrumente ein und bauten teilweise sogar Studios – darunter Morbid Angel und Eulogy. Die Death Metal-Bands bildeten hier die »death row« und dank Mund-zu-Mund-Propaganda nutzten auch Bands aus Orlando oder Largo den Komplex. Das einzige Problem bestand darin, dass eine Grenze zwischen den »haves« und den »have-nots« verlief, bei der Erstere Klimaanlagen besaßen und dadurch bei Letzteren Stromausfälle verursachten.272 Zusammenfassend lässt sich für die hier behandelten Extreme Metal-Szenen in den USA festhalten, dass Mobilitätszwänge, das Klima sowie die öffentliche bzw. private Struktur des räumlichen Wandels unterschiedliche Anforderungen an die musikalische und kommunikative Praxis der Musiker und Fans stellten. Sozialräumliche Trennungen wurden dabei von den Szene-Strukturen sowohl verlängert als auch überwunden, wobei »race«, »place« und »class« als ineinandergreifende Ebenen des Authentizitätsdiskurses instrumentalisiert werden konnten. Das gemeinsame Problem aller Metalheads im Prozess der Suburbanisierung war die erodierende Community. Ökonomische Entwicklungen wirkten sich zwar entscheidend auf die urbane Dezentralisierung aus und wurden durchaus als soziale Ungleichheit auch szeneintern verhandelt, doch waren die Unterschiede zwischen den Regionen dabei zu groß, um das Entstehen von Szenen kausal an ein bestimmtes wirtschaftliches Setup zu knüpfen. Neben sich deindustrialisierenden Stahlregionen bildeten sich Metal-Szenen auch in Gegenden aus, in denen die Familien der Musiker und auch ihre Kinder dezidiert vom Strukturwandel profitierten. Zentraler ist die Feststellung, dass die Entwicklung der Siedlungsgebiete viele Jugendliche isolierte, die dann nach sozialem Anschluss suchten. Die Vergemeinschaftung im Lebensstil stellte in dieser Situation ein attraktives Angebot dar, das den Kontakt zum urbanen Raum aufrechterhielt, suburbane Praktiken aufwertete und jugendkulturellen Sinn stiftete. Die prototypische Szene befand sich also in einem Prozess der Suburbanisierung, der als Verlust bzw. Problem empfunden wurde, rekrutierte sich beinahe schichtunabhängig aus einer Mischung aus »blue-collar«-und »white-collar«Familien, und war – in den USA frappierend – an die Existenz einer regionalen Studierendenschaft gebunden. Darüber hinaus zeigen die unterschiedlichen Beispiele, dass sich ethnische Zusammensetzungen von Bands und Fans dort differenzierter gestalten konnten, wo dies räumlich möglich war. Der zentrale Unterschied zwischen den Szenen in den USA und in Europa lag indes in der Tatsache, dass amerikanische Metalheads viel stärker an den privaten Raum gebunden waren und öffentliche bzw. städtisch finanzierte Zwischeninstanzen wie Jugendclubs fehlten. Für die weitere Entwicklung der Bands und der Szenen gestaltete sich dies als Bürde, da kaum Vergemeinschaftungsorte ohne kommerzielle Nutzung vorhanden waren. Auftritte waren – wenn nicht in Hauspartys – mit finanziellen Erwartungen verbunden, auf die die europäischen Bands in 271 Vgl. Stephen Hegarty, Jammed Sessions, in: The Tampa Bay Times, 26.07.1992, S. 61, 67. 272 Vgl. ebd.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
ihrer Frühphase nicht achten mussten. Der deutlich höhere Wettbewerbsdruck in den USA (Kap. 6) hatte hier eine seiner Grundlagen.
3.2.4 Schweden Neben Florida und New Jersey war die Death Metal-Szene Stockholms, die sich in den späten 1980er Jahren entwickelte, am deutlichsten suburban geprägt. Alle Musiker stammten hier aus den näheren oder ferneren Vororten der schwedischen Hauptstadt. Die familiären Herkünfte standen dabei in starkem zeitlichem Zusammenhang mit dem »Million Programme«, einer staatlichen Initiative zum Bau von einer Million Wohnungen, die 1965 begann und in deren Folge allein in Stockholm 200.000 Wohnungen errichtet wurden.273 In Stockholm, dessen Suburbanisierung bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatte, dem der Baugrund seiner Vororte selbst gehörte und dessen Verantwortliche zahlreiche visionäre Architekten und Planer hinzuzogen, gestaltete sich urbane Dezentralisierung unter höherem Planungsaufwand als in fast jeder anderen europäischen Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.274 Die Experimentierfreude hinsichtlich der Baukonzepte und der hohe wohlfahrtsstaatliche Anspruch trafen dabei zunächst auf breite gesellschaftliche Akzeptanz, doch kehrte sich dies in der Folge zusehends um. Die Hauptstadt selbst verlor in den 1970er Jahren circa 100.000 Einwohner, vor allem an Vororte wie Bredäng, das ab 1962 gebaut wurde, oder an Kista, zwischen 1973 und 1977 eines der letzten großen Bauprojekte.275 Der wichtigste Unterschied dieser neuen Vororte zu den Siedlungen in Florida, New Jersey oder östlich von San Francisco war, dass sie mit Gemeinschaftszentren für kulturelle und verwaltungstechnische Aufgaben ausgestattet und auch mit öffentlichem Raum versehen wurden. Anders als in den USA war Suburbanisierung in Stockholm nicht zu 100 Prozent auf Konsum, Arbeit und Transport fokussiert. In den 1980er Jahren wurde diese Entwicklung schließlich nicht mehr von Breitenwachstum geprägt, die Innenstadtbezirke wurden wieder attraktiver und eine Spekulationswelle setzte – ähnlich wie in San Francisco – eine Preisspirale und Gentrifizierung von Nachbarschaften in Gang.276 Die Metal-Musiker aus Stockholm gehörten sprichwörtlich zu den »Kindern« des »Million Programme« – mit all seinen Vorteilen und Problemen. Ihre Kommunikation bildete sich in den späten 1980er Jahren in einer Phase der Verdichtung der alten Vororte und einer steigenden Attraktivität der Stadt. Hinzu kamen erhebliche ethnische Spannungen, da viele Zuwanderer in die Mehrfamilienblocks der Vororte zogen und sich in bestimmten Vierteln konzentrierten, während sich die Innenstadtviertel als Lebens-, Arbeits-und Distinktionsraum vieler Yuppies etablierten. Bei den Musikern waren die Vororte durchweg unbeliebt, weil sie anders als viele Bereiche des Zusammenlebens in der Stadt nicht an Lebensstilmustern orientiert wa-
273 Vgl. Musterd u.a., Multi-ethnic metropolis, S. 131; Vgl. Ingrid Bohn, Kleine Geschichte Stockholms, Regensburg 2008, S. 146–155. 274 Vgl. Thomas Hall/Martin Rörby, Stockholm. The making of a metropolis, London 2009, S. 110f. 275 Vgl. ebd., S. 106, 109, 203. 276 Vgl. ebd., S. 200f.
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ren, mit »Anpassungsdruck und Kontaktarmut« assoziiert wurden und sich punktuell zu Problemvierteln entwickelten.277 Der Vorort Täby entwickelte sich auch deshalb zu einem frühen Treffpunkt, weil die Gefahr, dort auf offener Straße angegriffen zu werden, für Metalheads als geringer erachtet wurde.278 Anders als in Tampa wurde auf Erfahrungen mit ethnisch-interpretierter Gewalt in Stockholm daher teilweise mit Fremdenfeindlichkeit reagiert: Christoffer Johnsson (Therion) engagierte sich nach entsprechenden Vorfällen in Botkyrka für die politische Rechte279 und die Herausgeber des finnischen Fanzines Isten transkribierten 1990 folgenden Teil aus einem Interview mit der Band Entombed: -What do you think about refugees coming to Sweden? Uffe: Shit! We kill them! They’re arseholes! Nicke: Shut up! I don’t have anything against them, they are working in Sweden.280 Anders als wenige Jahre später durch vereinzelte norwegische Black Metal-Musiker, wurden Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Stockholmer Szene jedoch nicht als Distinktionsinstrument verwendet und es handelte sich um Einzelfälle. Auch der Band-Name Treblinka ist auf keine Ideologie, sondern eher auf unreflektierte jugendkulturelle Distinktion zurückzuführen und änderte sich schnell zu Tiamat. Unabhängig von der Zusammensetzung der Vororte bezog sich die Kritik der Musiker ohnehin auf einen anderen Aspekt: Christoffer Johnsson, der in Upplands Väsby, dem langfristig erfolgreichsten der Vororte, aufwuchs, ordnete die Gegend beispielsweise so ein: It’s not even a city – it’s a big suburb, big and boring! But who cares? I’m only sleeping and eating here, all my activities I do at other places, such as rehearse etc.281 Die fehlende urbane Qualität von Upplands Väsby machte es ihm nach eigener Aussage 1992 sehr einfach, seinen Herkunftsort zu verlassen,282 während auch Thomas Johnson ähnliche Urteile über den Vorort Rönninge (Botkyrka) trifft, in dem er 1989 die Band Desultory gründete.283 Weitere Herkünfte lagen in Täby, Haninge, Sollentuna und Botkyrka.284
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Lenger, Metropolen der Moderne, S. 482, 506. Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 103. Vgl. ebd., S. 258. Mikko Mattila/Luxi Lahtinen, Isten Fanzine, Nr. 5 (1990), S. 26. Frank Stöver, Voices From The Dark Side, Nr. 1 (1992), in: ders. (Hg.), Voices From The Dark Side, S. 58. 282 Vgl. Christoffer Johnsson, Vinyl Sunday, 2019, URL: https://www.facebook.com/therion/posts/vin yl-sunday-when-i-was-about-to-write-this-text-i-thought-of-one-thingits-weird/1015653500026 3603/ (letzter Aufruf 20.12.2021). 283 Vgl. Frank Stöver, Voices From The Dark Side, Nr. 3 (1994), in: ders. (Hg.), Voices From The Dark Side, S. 18. 284 Die Band Candlemass stammte aus Upplands Väsby, Per Ohlin (Morbid) aus Västerhaninge, Nicke Andersson (Nihilist/Entombed) wuchs in Alby und Varberg auf, Alex Hellid und Leif Cuzner kamen aus Kista, Uffe Cederlund und LG Petrov aus Bredäng, Johan Edlund und Jörgen Thullberg
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Das zentrale Problem für die Jugendlichen war in diesen Vororten nicht das Fehlen öffentlichen Raums als Treff-oder Probeort, sondern die geringe Rolle, die Hard Rock und Metal in der Live-Musik-Szene spielten sowie ein empfundenes Isolationsgefühl. Jörgen Thullberg, der 1988 gemeinsam mit Johan Edlund die Band Treblinka (ab 1989 Tiamat) in Täby gründete, weist beispielsweise darauf hin, dass beide Musiker lange vergeblich versuchten, in Täby Gleichgesinnte zu finden. Als sie ihre Band gegründet hatten, blieben sie nach eigener Angabe mittelfristig unter sich, weil sie die einzige Metal-Band in diesem Vorort waren.285 Erst der Kontakt zu Bands aus anderen Vororten, namentlich Dismember und Nihilist, führte dazu, dass sich zwischen den suburbanen Aufbrüchen Verbindungen in Form von Hauspartys oder gemeinsamen Konzertbesuchen ergaben. Im Kontext dieser punktuellen Gründungen stellte die sich entwickelnde Metal-Szene der Stadt in den 1980er Jahren als eine zunehmende Vernetzung von zunächst atomisierten Vorort-Erfahrungen dar. Den ersten Ansatz dieses Netzwerks bildete der 1981 von Leif Edling (ab 1984 Candlemass) in Upplands Väsby gegründete Verein, der Veranstaltungen organisierte und als Kern der späteren Szene gelten kann, weil bereits einige spätere Musiker darin aktiv wurden.286 Stilistisch fokussierte sich dieser Verein auf die Musik der NWOBHM, aber auch auf Punk, und trug dadurch ab den frühen 1980er Jahren dazu bei, sowohl eine jugendkulturelle als auch eine räumliche Trennung zu überwinden: So hatten sich Ansätze einer Metal-Szene in den späten 1970er Jahren vor allem in den nördlichen Vororten gezeigt, während südliche Vororte wie Rågsved, aber vor allem die Innenstadtbezirke, als Terrain der Punks galten. Pelle Ström, der in der Punk-Band Svart Snö sowie später der Thrash Metal-Band Agony aktiv war, rekapitulierte das Ende dieser Aufteilung: Metalheads lived with their folks in suburban houses, rode mopeds, used snuff tobacco, and played hockey – whereas the punks and their counterculture parents lived in central Stockholm. However, nothing exciting was going on in punk rock in 1986, so the only option for a somewhat dignified existence in alternative rock music was to switch to metal.287 Während der Mitte der 1980er Jahre ließen sich in Stockholm freilich nicht alle, aber jene Punks und Metalheads, die in das Tape-Trading-Netzwerk eintauchten und die »härteren« Sounds präferierten, musikalisch kaum voneinander unterscheiden. Thrash Metal hatte in Schweden generell keine große Rolle gespielt und sich dementsprechend auch nicht in einer distinkten Szene niedergeschlagen, die sich gegen extremere Stile verteidigt hätte, sodass sich die Jugendlichen in einer Gruppe vernetzten, die HardcorePunk-Einflüsse genauso umfasste wie Metal-Musik.288 Die entscheidenden Scharniere
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aus Täby, die Band Carbonized kam aus Spanga. Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 83–106. Vgl. Stephen Willems, Treblinka. Interview with Jörgen Thullberg, in: Voices From The Dark Side Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/treblinka/ (letzter Aufruf 20.12.2021). Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 39. Ebd., S. 41. Vgl. Daniel Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 27–35, 53–65.
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der Vernetzung waren dabei die U-Bahn, der Plattenladen Heavy Sound sowie das TapeTrading-Netzwerk. Uffe Cederlund, der mit Lars-Göran Petrov (beide aus Bredäng) und Per Ohlin (aus Haninge) 1987 die Band Morbid gründete, weist darauf hin, dass alle Konzerte der Band in »Punk squats«289 stattfanden, weil diese als einzige eine Infrastruktur zur Verfügung stellten. Auch stilistisch ließen sich weder Morbid noch Nihilist, wo Petrov und Cederlund später spielten, genau im Spektrum aus Hardcore-Punk und Metal verorten – erst Entombed, die Nachfolgeband von Nihilist, wurde durch eine professionelle Produktion zur Blaupause des schwedischen Death Metals: In these days it was not all about Death Metal. We were into old Hardcore Punk bands also. I guess the reason why it turned out to be NIHILIST/ENTOMBED or the Death Metal thing was that’s what we got the biggest support from. People seemed to like that stuff. The Death Metal thing exploded in like 1991.290
Abb. 20: Stockholms Vororte.
Wikimedia Commons, URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/ 28/Municipalities_of_Stockholm.png (letzter Aufruf 18.07.2022).
289 Laszlo David, Morbid. Interview with Uffe Cederlund, in: Voices From The Dark Side Online, 2011, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/morbid/ (letzter Aufruf 20.12.2021). 290 Ebd.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Räumlich handelte es sich bei einer Band wie Entombed ab 1989 bereits um eine Folge der immer weiter verknüpften Vorortstrukturen: Leif Cuzner und Alex Hellid stammten beide aus Kista, einem Vorort im Nordwesten der Stadt, während Nicke Andersson aus Vårberg im Südwesten und Cederlund und Petrov aus Bredäng kamen. Als Transportmittel nutzte man den Nahverkehr – besonders um zum Heavy Sound in der nördlichen Innenstadt zu gelangen.291 Als Treffpunkt mit den Bands aus Haninge, Täby, Upplands Väsby und anderen Vororten etablierte sich daher nicht zufällig der Hauptbahnhof – genauer gesagt »the map«, eine große Karte der Stadt im Untergeschoss des Gebäudes.292 Die Jugendlichen waren dabei leicht zu erkennen und hoben sich durch Flanellhemden, Jeanswesten, (oft weiße) Turnschuhe und möglichst neuwertige Band-Shirts stark von der rocker-inspirierten Kleidung anderer Szenen ab.293 In diesem Umfeld entwickelte sich aus einer kleinen Kerngruppe, zu der Nicke Andersson, Fred Estby und Uffe Cederlund gehörten, eine anwachsende und vorortübergreifende Gemeinschaft, die sich an Freitagen und Sonnabenden am Verkehrsknotenpunkt der Innenstadt traf, um Bier zu trinken, die neuesten Tapes auszutauschen und Gleichgesinnte im Stadtgebiet ausfindig zu machen. Im Winter trank man in Zügen oder U-Bahnhöfen, im Sommer in Parks, Wäldern oder auf Friedhöfen.294 Zu den seltenen Tournee-Stops internationaler Metal-Bands, wie etwa der Exodus/Nuclear Assault-Tour 1989, gesellten sich auch die Brieffreunde aus Göteborg (um die Band Grotesque) hinzu. Um 1988/89 hatte sich für diese Gang Metal-begeisterter Jugendlicher der Name »bajsligan« eingebürgert, den Fred Estby vorsichtig mit »poop gang« übersetzt. Denn besonders unter den Mitgliedern der Bands Carbonized, Crematory und Afflicted Convulsion breitete sich anscheinend die Marotte aus, fäkalen Humor zu verwenden. Wichtiger war es indes, dass sich im Zuge dieser Gruppe von Musikern Szene-Strukturen ausbildeten, die räumliche Trennungen überbrückten und dadurch vor allem den Treffen von »City Kids« und »Easteners« in San Francisco ähnelten: The poop band or the poop league, I don’t know, it was actually certain people more from the northern suburbs like, you know, people like Richard Cabeza, Matti Kärki, Jonas Deroueche, all the bands, Carbonized and so on, they were mainly from the western and northern suburbs of Stockholm. And it was more an internal joke about, you know, making poop jokes, that made someone started to call them ›Where’s the poop gang?‹, you know. Because we met up in the city, we met up at the Central Station in Stockholm, every Friday or Saturday, all the kids who were into the same kind of music would meet up. Even though we came from the southern parts of Stockholm and they came from the northern parts, we would still meet with those guys, although we didn’t know them that well. They were in bands, we were in bands, we would trade demos, we would hang out and try to find a party, since we were minors, we would
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Vgl. Frank Stöver, Nihilist. Interview with Nicke Andersson, in: Voices From The Dark Side Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/nihilist/ (letzter Aufruf 20.12.2021). 292 Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 108. 293 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 80. 294 Vgl. ebd., S. 123.
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try to find a place where we could hang out, drink alcohol and listen to demo tapes, you know.295 Die regelrechte Explosion an Bandgründungen in Stockholm ab 1990 ist auf die sozialen Grundlagen zurückzuführen, die sich in der »bajsligan« anbahnten. Anders Schultz traf beispielsweise Johnny Hedlund im Park von Gärdet und beide beschlossen dort, die bis heute aktive Band Unleashed zu gründen.296 Parallel dazu wirkten die Mitglieder der Gang auch vernetzend nach Göteborg, Strängnäs (vor allem zur Band Merciless) oder nach Fagersta. Auch Brieffreunde aus der zeitgleich entstehenden Death Metal-Szene im Nordosten der USA nahmen an einem Treffen der Gruppe teil: Die Mitglieder der Bands Immolation und Mortician aus der New Yorker Szene zeigten sich erstaunt über die Tatsache, dass die öffentlichen Alkohol-und Lautstärkeexzesse der »bajsligan« keine polizeilichen Konsequenzen nach sich zogen.297 Die bis 1992 existente Gruppe – die jedoch ab 1990 schon auseinanderfiel, weil die Musiker die Volljährigkeit erreichten und nun verschiedene Kneipen aufsuchten bzw. arbeiteten oder eigene Wohnungen mieteten – zog sogar die Aufmerksamkeit von Fotografen auf sich, woraus eine Ausstellung im Kulturhus resultierte.298 Anders Schultz (Unleashed) hebt in der Rückschau vor allem den Aspekt hervor, dass es ihm die Gang ermöglichte, aus dem »stinkenden Vorort«299 auszubrechen, in dem er aufwuchs. Es reiht sich in die bisherigen Beobachtungen der anderen Szenen ein, dass auch in Stockholm eine szeneinterne Verhandlung von Raum entlang der »class«-Linie abnahm und einer schicht-unspezifischen Lesart Platz machte, die vor allem die suburbane Isolationserfahrung als treibende Kraft hinter den musikalischen Aufbrüchen erkannte. Während die Mitglieder der ersten schwedischen Extreme Metal-Band Bathory noch den sozialen Gegensatz zu ihrem Sänger Tomas Forsberg hervorhoben, indem sie ihre Herkunft aus Bromma, einem reichen Vorort, betonten,300 finden sich in der Folge keine Äußerungen mehr, die die Szene an Phänomene sozialer Ungleichheit geknüpft oder diese zur Distinktion genutzt hätten. Dieser Wandel war auf die räumlichen Folgen einer sozialen Rekrutierung zurückzuführen, die sich ähnlich homogen wie in Florida auf die Mittelklasse beschränkte. Death Metal-Musiker gehörten einer anderen Schicht an als viele ihrer Vorgänger und Fans im Heavy Metal der frühen 1980er Jahre.
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Interview Fred Estby, 09.10.–10.30 Min. Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 123. Vgl. ebd., S. 126. Vgl. ebd. Ebd., S. 127. Tomas Forsberg von Bathory stammte aus Stockholm – seine ersten Bandkollegen kamen aus Bromma, »a protected suburban bubble […] with silver spoons in our mouths.« Johannesson/ Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 50.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Abb. 21: Unleashed bei einer »Metal-Party« in den öffentlichen Verkehrsmitteln Stockholms.
Quelle und Erlaubnis: Johnny Hedlund.
Wie stark dies auch an einen räumlichen Wandel gekoppelt war, bezeugen zwei schwedische Studien: 1984 wurden 1.300 Jugendliche zwischen 15 und 16 Jahren nach ihren musikalischen Vorlieben befragt, wobei man zwischen der Großstadt Malmö, der Kleinstadt Kristianstad sowie dem ländlichen Raum differenzierte. Bei keinem anderen Genre war die Differenz zwischen Stadt und Land so deutlich wie bei Heavy Metal – besonders die rurale schwedische Jugend mochte die Musik. Gleichzeitig wies kein anderes Genre außer Heavy Metal eine negative Korrelation zur schulischen Leistung auf und wurde mit solcher Deutlichkeit vor allem von männlichen Jugendlichen gehört. Heavy Metal habe, so die Studie, ein »distinctly proletarian profile« und werde besonders von den Söhnen ländlicher Arbeiter konsumiert.301 Eine zweite Studie, für die 1.600 Schüler der siebten bis neunten Klasse in einem Vorort von Stockholm, einer südschwedischen Industriearbeiterstadt und dem zentralschwedischen Land befragt wurden, ergab ebenfalls, dass Hard Rock/Heavy Metal und »Mainstream« bei den Söhnen der ruralen Industriearbeiterschaft am beliebtesten waren, während die Mädchen dort lieber DiscoMusik hörten. Allerdings wurden dabei Annäherungen in den jeweiligen Orten bemerkt, die die »class«-Linie überwanden: In der ländlichen Industriearbeiterstadt tendierten die Kinder von studierten Eltern ebenso stärker zu dem dominanten Geschmack des
301 Vgl. Keith Roe, Adolescent’s Music Use. A Structural-Cultural Approach, in: ders. (Hg.), Popular Music Research, S. 41–52, hier S. 44–49, Zitat S. 46.
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Ortes wie dies die Arbeiterklasse-Kinder in den Stockholmer Vororten zu der dort herrschenden Musik (der klassischen Musik) taten.302 Im Kontext dieser Ergebnisse ist eine Metal-Szene aus den Vororten Stockholms höchst erklärungsbedürftig. Zum einen erhärtet sich auch hier die Vermutung, dass sich die sozialen Herkünfte von Musikern und Fans im Laufe der 1980er Jahre voneinander entfernten und der Wandel zur Mittelklasse zunächst von den Musikern getragen wurde. Darüber hinaus existieren viele Aussagen zu dem Umstand, dass die Musiker aufgrund der dominanten Musikgeschmäcker der Vororte als »uncool« wahrgenommen bzw. ausgegrenzt wurden.303 Zum anderen bestätigt sich dies mit Blick auf eine Besonderheit der Szene in der Hauptstadt. Denn neben den Bands, dem wichtigsten Studio und dem wichtigsten Plattenladen wies Stockholm eine chronisch schwache Infrastruktur auf. Anders als in San Francisco, wo ausschließlich Clubs für die Konzerte zur Verfügung standen, fanden die Bands keine Spielstätten, die über kleine Jugendclubs hinausgingen. Folglich beschwerten sich die Musiker in ausländischen Fanzines oft, eine Band wie Tiamat hatte in mehr als zwei Jahren gerade einmal zehn »Konzerte« gespielt und Johnny Hedlund konnte auf der US-Tour von Unleashed einen Club wie das Bayou in Washington, D.C., nur beneiden.304 Für Matti Kärki (Dismember) herrschte daher auch eine deutliche Diskrepanz zwischen der marktbeherrschenden Stellung der Bands aus Stockholm und der Konzerterfahrung: »In certain places, it felt as if we were only playing in front of a bunch of other bands. And the labels kept releasing so much shit.«305 Die Death Metal-Bands aus den Vororten befanden sich in einer Lage, in der sie ihren Erfolg vor allem den guten internationalen Kontakten zu verdanken hatten, während der Rückhalt in ihrem Heimatort nicht existierte. Das Publikum war dementsprechend auch in Schweden an anderen Orten zu Hause. Zu einem der infrastrukturell stärksten Orte entwickelte sich Fagersta, eine von der Stahlindustrie dominierte Stadt etwa 200 km nördlich von Stockholm, wo Peter Ahlqvist Konzerte organisierte, die örtliche Musikorganisation »Tid Är Musik« übernahm, ein altes Kino zum Rockborgen umwandelte und in der Folge das Berglaksrocken veranstaltete, ein Festival, das von vielen internationalen Bands bespielt wurde.306 Andere wichtige Strukturen bildeten sich ausgehend von Roban Becirovic in Norrköping, von Jörgen Sigfridsson in Uppsala, sowie in Avesta und Finspång.307 Für Magnus Forsberg, den Drummer der Band Tribulation und wichtigsten Tape Trader in Schweden, gestalteten sich die Chancen für Auftritte seiner Band in Mit-
302 Vgl. Trondman, Rock Tastes – on Rock as Symbolic Capital, S. 78f. 303 Manne Svensson von Epitaph: »The prevailing opinion at the time was that what we did wasn’t real music, just something misadjusted kids did to rebel against their parents (which is also true, of course). It’s kind of hard to visualize the feeling today, when no one would raise an eyebrow if a 45-year-old would bring their kids to a Cannibal Corpse concert, or whatever.« Andreyuk, Tape Dealer, S. 176. 304 Vgl. Jon Kristiansen, Slayer 7 (1989), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 162; Vgl. Richard Johnson, Disposable Underground Nr. 1 (1991) 2; Vgl. Jeff McClelland, Deathvomit. Death Metal Fanzine Collection 1988–1991, S. 82f.; Vgl. Mattila/Lahtinen, Isten Nr. 5, S. 62. 305 Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 114. 306 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 157–159. 307 Vgl. ebd., S. 120, 166, 247, 253.
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telschweden daher bedeutend besser als in Stockholm, das den »Schweden-Sound« des Sunlight Studios und die Bands, aber keine Infrastruktur hatte: We had a lot of opportunities to play live around the middle part of Sweden. In Västerås, Fagersta, Örebro, Gävle, Uppsala, Stockholm and so on. It wasn’t totally glorious with cool venues everywhere but enough for us to get around, have fun and meet both bands and people into the music.308 Die regionalen Unterschiede bescheinigen den beiden Studien aus den 1980er Jahren also eine weiterwirkende Aussagekraft und stellten die Bands aus den Stockholmer Vororten vor die Aufgabe, infrastrukturellen Ersatz zu schaffen. Ohne die öffentlich-bereitgestellten und mietbaren Etablissements hätte eine Live-Musik-Szene für Extreme Metal und Hardcore-Punk dabei überhaupt nicht existieren können. Dies galt auch schon für Heavy Load, die erste schwedische Metal-Band, die in lokalen Community-Parks auftrat, in denen Bühnen vorhanden waren,309 gestaltete sich für die entstehenden Death MetalBands zehn Jahre später aber noch deutlich schwieriger. Neben den Treffen bei durchkommenden Tourneen (Metallica 1986, Slayer 1988), waren Bands wie Grave oder Morbid auf schulische Räume angewiesen, in denen das Spielen der Instrumente erlernt und Proben organisiert werden konnten.310 Außerhalb der Schulzeit entwickelte sich der Jugendclub, quasi die einzige für Minderjährige vorhandene Institution in den Vororten, zu dem mit Abstand wichtigsten Raum der Szene. Der erste Auftritt von Nihilist fand dementsprechend 1987 im Jugendzentrum von Kista statt, wo sich die Musiker sogar die Fahrtkosten erstatten lassen konnten.311 Andere zentrale Institutionen waren der Sätra Jugendclub, den Morbid, Dismember und Nihilist als Treffpunkt nutzten, der Björkhagsgården-Jugendclub, wo Necrophobic den Proberaum hatten und 1989 mit einem dort aufgenommenen Demo-Tape ihre Karriere begannen,312 sowie der Runan-Jugendclub in Täby, dessen Bedeutung Jörgen Thullberg zusammenfasst: Runan has been very important for the scene in Stockholm. That youth centre was funded by the local government, it was very well equipped and had good material. We even had DISHARMONIC ORCHESTRA and PUNGENT STENCH play there. I also remember a Rock competition that was held there once and where NIHILIST also participated. Nicke had called and asked all his friends to come and vote for them. And I believe that they even won that evening and that the other bands did not agree and were really pissed off because they felt NIHILIST didn’t behave honestly (laughs).313
308 Interview Magnus Forsberg, Z. 47–50. 309 Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 39. 310 Vgl. Caitlin Smith, Grave Interview with Ola Lindgren, in: metal-rules.com, 2013, URL: https:// www.metal-rules.com/2013/12/24/grave-interview-with-ola-lindgren/ (letzter Aufruf 20.12.2021); Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 171. 311 Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 104, 106. 312 Vgl. Andreas Hertkorn, Seven Metal Inches. 40 Years of Picture 7"s in Extreme Metal, Berlin 2017, S. 39; Vgl. Wouter Roemers, David Parland, in: Masterful Magazine, 2013, URL: www.masterful-m agazine.com/interviews.php?intId=716 (letzter Aufruf 20.12.2021). 313 Willems, Treblinka. Interview with Jörgen Thullberg.
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Die Jugendclubs der Vororte dienten demnach sowohl als Treffpunkte und Proberäume als auch als Auftrittsmöglichkeiten für lokale wie internationale Bands und ermöglichten überdies häufig sogar die Aufnahme von Songs.314 Besondere Bedeutung für die Startphase der Szene in Stockholm erlangte das sogenannte Ultrahuset in Handen (Haninge), ein Haus mitten im südlichen Vorort, in dem von 1980 bis 1988 mehr als 2.000 Konzerte von Bands stattfanden, deren Spektrum von Rock über Hardcore-Punk bis Proto-Death Metal reichte.315 Tommy »Tompa Eken« Ekengren und Janne »Bengtsson« Håkansson erreichten als Betreiber die Erlaubnis zur kulturellen Nutzung durch die Kommune und veranstalteten neben Punk-Größen wie Black Flag auch Auftritte von Morbid oder Nihilist. Das Ultrahuset stand exemplarisch für die Parallelität von Punk und Metal und war entsprechend der DIY-Mentalität organisiert: Für einen Auftritt rief man Tompa Eken an und wurde auf die Warteliste gesetzt. Ein Qualitätsnachweis musste nicht erbracht werden – jede Band durfte spielen. Gegen einen sehr geringen Eintrittspreis gelangte man rechterhand in einen kleinen Wohnraum, der mit einer Bühne ausgestattet war, während linkerhand eine Küche lag, aus der ein »hole in the wall«-Cafe betrieben wurde. Alkohol wurde nicht ausgeschenkt und musste außerhalb konsumiert werden. Jeder Auftritt wurde von Tompa Eken aufgenommen.316
Abb. 22: Das Ultrahuset im südlichen Vorort Haninge.
Abb. 23: Morbid im Ultrahuset 1987 – Per Ohlin (l.), LG Petrov (r.).
Foto: Steffe Ståhl, Gula Villan Facebook-Seite, URL: https:// Foto: unbekannt, Earache Records www.facebook.com/gulavillanihanden/posts/2702753716411 Facebook-Seite, 28.06.2019 (letzter Aufruf 20.12.2021). 637/ (letzter Aufruf 20.12.2021).
Die Nutzung des Ultrahuset endete 1988 als die Verantwortlichen der Stadt beschlossen, das Gebäude räumen zu lassen und es dem Amt für kommunale Kultur und Jugend zur Verfügung zu stellen. Mehr als 100 Hausbesetzer wurden nach der Errichtung
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So auch für die Band Nosferatu, die ihr erstes Demo-Tape im Jugendzentrum Strömstad Fritidsgard aufnahm. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 143. Vgl. Anonym, Dödsknarkarna – S/T (1985), in: Swedish Punk Fanzines, URL: www.swedishpunkfan zines.com/?page_id=15318 (letzter Aufruf 20.12.2021). Vgl. Dödsknarkarna – S/T (1985).
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
von Barrikaden und Brandstiftung in Polizeigewahrsam genommen.317 Ebenso wie Ruthie’s Inn in Berkeley oder City Gardens in Trenton war die Existenz dieser Schnittstelle von Punk und Metal an eine Phase der urbanen Entwicklung geknüpft, in unmittelbarer Nähe zu einem Universitätscampus gelegen und endete 1989 mit dem Umbau von Haninge durch ein großes Einkaufszentrum sowie später einen Freizeitpark. Für die jungen Death Metal-Musiker bedeutete die Schließung eine noch stärkere Abhängigkeit von städtisch-finanzierten und -kontrollierten Jugendclubs. Zusammenfassend gestaltete sich die Verbindung von suburbaner Isolation und Extreme Metal-Musik in Stockholm ähnlich eng wie in den US-amerikanischen Szenen – was sich auch für Göteborg nachweisen lässt.318 Doch resultierte die schlechte Infrastruktur für Live-Musik in einer musikalischen Praxis, die sich fast ausschließlich in öffentlichen Einrichtungen abspielte. Während das Fehlen von unkommerziellen Räumen daher ein Problem der amerikanischen Musiker darstellte, war es in Stockholm genau anders herum und die Infrastruktur für Konzerte entwickelte sich in anderen schwedischen Regionen. Die Szene der Hauptstadt wies eine eher schmale soziale Basis auf und teilte sich dies mit Tampa – beide Netzwerke waren auf ein Studio und die Bands, aber weniger auf die Fans ausgerichtet, weshalb man in Orte wie Fagersta oder Miami auswich. Welche langfristigen Folgen eine infrastrukturelle Schwäche haben konnte, zeigt der Vergleich mit dem Ruhrgebiet. Trotz aktiver Bands in allen drei Szenen existiert das Revier als regionaler Szene-Schwerpunkt immer noch, während Stockholm und Tampa eine kurze wirtschaftliche Blüte der Aufmerksamkeit erlebten und die Zentren der Szene danach weiterwanderten. Dass sie diese bemerkenswerte musikalische Aktivität überhaupt entwickeln konnten, lag auch an der starken und frühen Integration der Akteure in das Tape Trading-und Fanzine-Netzwerk (Kap. 6) – und damit in einen globalen Kommunikationskanal, der bei den westlichen Nachbarn in Norwegen sogar noch bedeutender für die Szene-Bildung war.
3.2.5 Norwegen Die norwegische Black Metal-Szene der frühen 1990er Jahre stellte in vielerlei Hinsicht einen Bruch mit den tradierten Methoden, Sounds und Inhalten der Metal-Kultur der 1980er Jahre dar.319 Dies war räumlich betrachtet nicht anders. Während jede andere Sze-
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Vgl. Kristian Borg, Kåken där alla fick lira, in: Stockholms Fria, 25.08.2008, URL: www.stockholms fria.se/artikel/74369 (letzter Aufruf 20.12.2021). Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 109. Vgl. Swiniartzki, Szene-Eliten, S. 450–453; Vgl. Karl Spracklen, True Norwegian Black Metal. The globalized, mythological reconstruction of the second wave of Black Metal in 1990s Oslo, in: Brett Lashua/Karl Spracklen/Stephen Wagg (Hg.), Sounds and the City. Popular Music, Place and Globalization, Basingstoke 2014, S. 183–195; Vgl. Florian Walch, »Was niemals war.« Das Selbstbewusstsein des Norwegischen Black Metal als Konstruktion einer Vergangenheit und Konstitution einer Klanglichkeit, in: Sarah Chaker/Jakob Schermann/Nikolaus Urbanek (Hg.), Analyzing Black Metal. Transdisziplinäre Annäherungen an ein düsteres Phänomen der Musikkultur, Bielefeld 2018, S. 109–128; Vgl. Ross Hagen, Musical Style, Ideology, and Mythology in Norwegian Black Metal, in: Jeremy Wallach/Harris M. Berger/Paul D. Greene (Hg.), Metal Rules the Globe. Heavy Metal Music around the World, Durham 2011, S. 180–199.
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ne der Dekade an Großstädte geknüpft blieb, gestaltete sich die Situation in Norwegen differenzierter, ließ sich in Teilen bereits als Entkopplung von der Stadt verstehen und vollzog die Anbindung an globale Strukturen bereits vor der Ausbildung lokaler Zentren. Die Herkünfte der Musiker und die Vergemeinschaftung zu Bands wiesen hier einen klein-bis mittelstädtischen Fokus auf und waren überdies weitaus stärker über das Land verteilt als in Schweden. Dabei lassen sich drei regionale Schwerpunkte ausmachen, die auch für sehr verschiedene Phasen der norwegischen Metal-Musik stehen: Ein erstes frühes Zentrum lag in der Region Fredrikstad-Sarpsborg in Südost-Norwegen und war bereits über die nahe Grenze zu Schweden mit den Akteuren aus Göteborg und Strömstad vernetzt. Neben der Heavy Metal-Band Artch gehörten dazu die Thrash Metal-Band Equinox und die Death Metal-Band Cadaver, sowie der Fanzine-Autor und Tape Trader Jon Kristiansen. Ein zweites Zentrum bildete sich einige Jahre später ab Mitte der 1980er Jahre südlich von Oslo um die Gemeinden Ski, Langhus und Kolbotn und umfasste Bands wie Mayhem und Darkthrone. Ein dritter und letzter Schwerpunkt entstand in den späten 1980er Jahren in West-Norwegen rund um Bergen und umfasste Bands wie Phobia/Enslaved, Old Funeral oder Gorgoroth. Daneben rekrutierte sich die spätere Szene immer stärker aus Gemeinden in ruralen Bereichen des Landes wie Kvikne, Akkerhaugen, Notodden, Jessheim, Nittedal, Rjukan oder Trysil – umfasste aber auch einige Musiker aus Oslo.320 Die musikalischen Aufbrüche von Jugendlichen fanden in Norwegen daher auch kaum in Vororten statt, sondern in traditionellen Gemeindestrukturen und es ist bemerkenswert, dass die Akteure – obgleich ebenfalls isoliert und lange ohne musikalischen Anschluss – kaum kritische Haltungen gegenüber diesen Herkünften entwickelten.321 Aufgrund der Entfernungen organisierten sich Bands relativ autonom und bei Weitem nicht in so direktem Austausch wie in Schweden oder Deutschland. Roger Tiegs, der 1992 Mitgründer von Gorgoroth war, beschreibt die Band-Bildung folgendermaßen: Sie stammten aus einem ungefähr 20 Kilometer entfernten Dorf. Deshalb lernten wir einander erst mit 16 kennen. Wir wohnten auf dem Land, einer Gegend voller kleiner Dörfer rund drei Stunden nördlich von Bergen, also suchte man sich seinen Umgang genau aus. Die Leute, mit denen man sich abgab, hatten meistens auch einen ähnlichen Musikgeschmack und vielleicht auch vergleichbare Ansichten.322 Maßgebliche Treffpunkte waren auch für die norwegischen Musiker die Schulen und Jugendzentren, in denen sich Bandgründungen anbahnten, in denen geprobt und teilweise produziert wurde. Besonders spätere Black Metal-Bands, die bereits Mitte der 1980er Jahre gegründet wurden, bewegten sich dabei im musikalischen Fahrwasser des Punks, 320 Vgl. Stubberud, The Death Archives, S. 14, 15, 24, 30; Vgl. Patterson, Black Metal, S. 280–283, 450–455; Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 509, 515, 519; Vgl. Moynihan/Søderlind, Lords of chaos, S. 129; Vgl. zum Zentrum um Sarpsborg und Fredrikstad: Moses/Pattison, Glorious Times, S. 153. 321 Die Ausnahme bilden hier Jon Kristiansen, der die Stadt Sarpsborg nach eigener Aussage hasste, sowie einige jener wenigen Musiker, die aus der Großstadt Oslo kamen (Ted Skjellum oder Christoffer Rygg). Vgl. im Folgenden. 322 Patterson, Black Metal, S. 380f.
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waren von lokalen Punks beeinflusst und/oder spielten selbst in Punk-Bands. So spielte Jørn Stubberud vor der Gründung von Mayhem (1984) bereits in der Punk-Band Musta und Eirik Norheim, der als »Messiah« 1985/86 Sänger von Mayhem war, kam aus der Punk-Band Black Spite.323 Bei den Bandgründungen um 1990 war dieser Einfluss kaum noch zu hören und vor allem Musiker aus den ländlicheren Regionen des Landes kreierten ihren musikalischen Stil nicht in einem Schmelztiegel aus Punk und Metal wie in Stockholm, sondern auf der Basis homogenerer Grundlagen des Metals. Abgesehen davon diente auch hier die Band KISS als Einstiegsvoraussetzung für ein wachsendes Interesse an härterer Rock-Musik.324 Der Kern der Bands, die sich in den Schulen und Jugendzentren bildeten, stammte aus nachbarschaftlichen Kontakten in kleinen Gemeinden. Mayhem probten in der Schule von Langhus, wo der Vater des Schlagzeugers der Schulleiter war, wo die Familie Stubberuds die Elektrik und den Teppich legte und einer der Lehrer, Rune Halland, eine nationale Radioshow namens »Skeive skiver« organisierte.325 Stian Thoresen und Ian Åkesson, die sich aus der Schule in Jessheim kannten, lernten Sven Kopperud aus Nannestad 1990 im Jugendzentrum von Jessheim kennen und gründeten 1993 Dimmu Borgir.326 Und Thou Shalt Suffer, die sich 1991 in der Provinz Telemark gründeten und später zu Emperor wurden, trafen sich im Jugendzentrum von Akkerhaugen.327
Abb. 24: Die frühen Mayhem in der lokalen Kontaktzone mit dem Punk.328
Foto: Gary Payton. Quelle: URL: g.acdn.no (letzter Aufruf 23.08.2022).
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Vgl. Stubberud, The Death Archives, S. 24, 39. Vgl. für die Band Emperor: Patterson, Black Metal, S. 279, 282; Vgl. für Enslaved: ebd., S. 586. Vgl. Stubberud, The Death Archives, S. 13, 30. Vgl. Patterson, Black Metal, S. 450. Vgl. ebd., S. 283. Bei »Ingenting for Norge« (»Nichts für Norwegen«) handelte es sich um eine Compilation (1982) der Punk-Bands Allahrm, Terror, Norske Budeier und Fader War.
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Für den räumlichen Aspekt der norwegischen Szene ist es entscheidend, dass über diese verstreuten Bandgründungen hinaus in den späten 1980er Jahren keine physische Szene-Infrastruktur zur Verfügung stand. Vielmehr war teilweise bereits schon vor der Formierung der Bands eine Integration der Musiker in die virtuelle Szene, d.h. das Tape Trading-und Fanzine-Netzwerk zu beobachten. Die spätere Fokussierung auf den Plattenladen Helvete ab 1991 in Oslo, gestaltete sich demnach als nachholende räumliche Integration für ein bereits existentes soziales Netzwerk. Darin kommunizierten Personen, ohne sich je gesehen zu haben und überbrückten damit ihre geografische Isolation und fehlende Infrastruktur. Der erste Kontakt, den Gylve »Fenriz« Nagell (Darkthrone) zu einem Death Metal-Fan aufbaute, gestaltete sich daher auch nicht physisch in der Nachbarschaft, sondern zu Nicke Andersson in Stockholm.329 Seine folgende Aussage unterstreicht überdies sein musikalisches Isolationsgefühl und die Tatsache, dass er »Metalion« (Jon Kristiansen) als Autor des Slayer-Fanzines zwar kannte, aber anscheinend nie gesehen hatte: I met Ronny and Kenneth at the HJULET cafeteria at the direct south end of GJERSJOEN (that fuckin' lake). We drove past with my dad and I saw some heavy rockers hanging out at THE WHEEL. When we parked our car home I took my bicycle down there and brought a tape, and I noticed they had a ghettoblaster while we passed them in our car. Holy shit, OTHER heavy metal people out there in the middle of nowhere!! It was like being on a lone planet and suddenly finding other people. I thought it might be Metalion that was there, so I made sure to find my most obscure demo that I had ordered earlier that year.330 Andere Musiker, für die überregionale und globale Kontakte lange in Briefform vorlagen bevor sie sich persönlich manifestierten, waren zum Beispiel Tomas »Samoth« Haugen, der in der neunten Klasse ein Praktikum in einem Plattenladen in Notodden (Telemark) absolvierte, dort begann, Demo-Tapes und Fanzines zu kaufen und dadurch mit Øystein Aarseth in Kontakt kam, der als Mitgründer von Mayhem als früh-vernetzter Tape Trader in Erscheinung trat.331 Samoths Bandkollege Håvard »Mortiis« Ellefsen gab darüber hinaus ab 1990 das Fanzine Z.A.S.T. heraus.332 Bård »Faust« Eithun, der aus Kvikne in Zentralnorwegen stammte und mit 16 Jahren nach Lillehammer zog, war bereits seit 1987 international vernetzt und erstellte mehrere Ausgaben des Fanzines Orcustus-Shadow of the Golden Fire. Er traf Aarseth nach langer Korrespondenz erst 1989 im Rahmen eines Anthrax-Konzerts in Oslo.333 Generell bahnten sich persönliche Bekanntschaften bei Konzerten größerer Tourneen in Oslo an und führten dazu, dass sich ein räumliches Zentrum in Oslo und südlich der Stadt entwickelte und die national-und international verstreuten Gleichgesinnten integrierte. Erst Schritt für Schritt bildete sich daraus schließlich eine dezidiert norwe-
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Vgl. Zierleyn, Booklet to Darkthrone’s Black Death and Beyond. Ebd. Hervorhebungen im Original. Vgl. Patterson, Black Metal, S. 280. Vgl. Z.A.S.T. ZINE ANTHOLOGY 1990–1992, hg. v. CultNeverDies, o. O. 2021. Vgl. Moynihan/Søderlind, Lords of chaos, S. 73.
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gische Szene. Für Akteure wie »Metalion« in Sarpsborg handelte es sich dabei diesem überlokalen Ausgreifen der Community um einen individuellen Quantensprung: I felt like I was creating my own world, reaching out from Sarpsborg, and finding new people. That played a big part in my progress as a person. To leave Sarpsborg and find like-minded people elsewhere was a completely new experience.334 Er hatte die frühe Mayhem-Besetzung 1985 im Rahmen eines Motörhead-Konzerts in Oslo kennengelernt und den Kontakt über Nahverkehrsmittel aufrechterhalten.335 Die internationalen Tourneen waren auch deshalb so wichtig, weil sich zwischen Mayhems erstem Auftritt 1985 und den Konzerten von Darkthrone im Bootleg oder Follorocken (Ski) 1988/89 kaum eine Integration der Bands aus der Gegend südlich von Oslo in die regionale LiveMusik-Szene ergab. Für Jørn Stubberud besaß Mayhem noch keine norwegische Identität, es bestand keine norwegische Szene und er überlegte sogar, das Land zu verlassen: The fact that we were from Norway wasn’t really on my mind that much. I was rather thinking that we had to move to Germany because we didn’t get to play anywhere in Norway. There was no scene, there was no labels and no press.336 Erst um 1990 spielten Darkthrone regelmäßig im Bootleg und die Veranstaltungen zogen auch Bands aus anderen norwegischen Regionen, wie etwa Cadaver aus Råde/ Fredrikstad, oder internationale Underground-Bands wie Abhorrence aus Finnland an. Bård Eithun schätzte die Größe des Publikums dabei auf 20 bis 40 Personen und es muss vermutet werden, dass es sich dabei um den kleinen Szene-Kern handelte, der ab 1992 einen abrupten Bruch mit dem Death Metal vollzog und den Black Metal in Norwegen etablierte.337 Die räumliche Integration der norwegischen Musiker deutete sich gegen Ende der 1980er Jahre also in der Osloer Region an, erhielt mit dem Haus in Kråkstad, in dem die Band Mayhem ab 1990 für ein Jahr wohnte und das auch Musiker aus WestNorwegen besuchten, einen deutlichen Schub und vollendete sich schließlich in der Eröffnung des Plattenladens Helvete in der Osloer Schweigaardsgate im Jahr 1991.338
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Jon Kristiansen, Slayer 2 (1985) Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 40. Vgl. ebd. Stubberud, The Death Archives, S. 81. Bård Eithun, in: Zierleyn, Booklet to Darkthrone’s Black Death and Beyond. Enslaved aus Bergen gehörte beispielsweise zu den anwesenden Bands in Kråkstad. Vgl. ebd.
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Abb. 25: Der Keller des Helvete in Oslo als Erinnerungsort der Szene.
Foto des Verf., August 2021.
Besonders für die Musiker aus den abgelegenen Regionen waren diese Schritte von großer persönlicher Bedeutung. »Faust«, »Samoth«, »Varg« und »Metalion« lebten zu verschiedenen Zeitpunkten mit Aarseth im Laden – in den Augen von »Faust« war es »the first real physical manifestation of something that was ours.«339 Auch für »Silenoz« von Dimmu Borgir aus Jessheim war der Laden eine Offenbarung, obgleich er aus seiner kleinstädtischen Perspektive auch die »große, böse Stadt«340 verkörperte. »Raum« erfuhr als Kategorie in Norwegen eine hohe symbolische Aufladung und wurde wie in keiner anderen Szene der »langen 1980er Jahre« musikkulturell instrumentalisiert. Er war Teil der Authentizität einer Szene, die behauptete, dass »echter« Black Metal nur aus Norwegen kommen könne.341 Zwei Faktoren waren für diese Aufwertung ausschlaggebend: Zum einen schlugen die Akteure subkulturelles Kapital aus ihrer meist weder urbanen noch suburbanen Herkunft und vermarkteten dadurch implizit auch ein räumliches Alleinstellungsmerkmal. Zum anderen teilte der »black turn«, also jener »Moment« um 1992, der die scharfe und plötzliche Spaltung einer distinkt-norwegischen Black Metal-Szene von ihren Death Metal-Vorgängern markierte,342 auch die Verhandlung von »place« in zwei Phasen: Eine Phase internationaler Zusammenarbeit und Integration und eine Phase der schroffen Abgrenzung. Dabei spielten in Norwegen weder »class« noch »gender« eine Rolle im Szene-Diskurs – der musikalische Raum wurde vielmehr als nationale und rurale Idylle entworfen und scharf entlang des »race«-Aspekts abgeschottet. Während es den norwegischen Bands im Kontext des globalen Tape-Trading Netzwerks und besonders in ihrer Zusammenarbeit mit schwedischen Musikern vor 1992 noch um Entfernungsverkürzung und eine Überwindung
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Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 534. Patterson, Black Metal, S. 451. Vgl. Pilo, True Norwegian Black Metal, S. 41f. Vgl. Ian Reyes, Blacker than Death. Recollecting the »Black Turn« in Metal Aestetics, in: Journal of Popular Music Studies 25 (2013) 2, S. 240–257.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
der geographischen Isolation ging, legten sich die Bands spätestens seit der wegweisenden Veröffentlichung von Darkthrones »A Blaze In The Northern Sky« ein Image von hyperindividualistischen Alleingängern zu, die es nach eigener Angabe vorzogen, in abgeschiedener Misanthropie zu leben.343 Dazu gehörte die permanente Lobpreisung der Vorzüge eines einfachen und ländlichen Lebens fern der Großstadt, in die sich auch Versatzstücke einer imaginierten vorchristlichen Lebenswelt Skandinaviens mischten. Christoffer »Garm« Rygg (Ulver) beschrieb seinen Plan im Slayer-Fanzine wie folgt: Only two of us live in the city, still this is only temporally! I have to finish school and get a reasonable income so that I can get my bodily constitution out of this vast and overpopulated ›hellhole‹ called Oslo. And when this is accomplished I will definitely move out to a more rural district of the old land Noregr.344 Die zentralen Stilmittel zur Pflege dieses räumlichen Isolationswunsches waren Plattencover (Abb. 26–29) und eine elitäre Attitüde durch körperliche Praktiken wie das Corpsepaint oder das Weitertreiben der inhaltlichen Transgression.345 Während der Wald, die Einsamkeit und Kälte ein visuelles Bild vom Rückzug vor der Welt transportierten und dem Image des rauen Individualismus dienten,346 lief auch die Musik der Bands sprichwörtlich davon: nämlich vor dem »Mainstream«, dessen Aufholen durch Plattenverkäufe und ein wachsendes Interesse durch Fans die selbstgewählte Isolation kontinuierlich gefährdete. Dass sich dieser Wettlauf sowohl in Musik und Ästhetik maßgeblich von der Zeit vor 1992 unterschied, verdeutlicht, wie sehr das Spiel mit den räumlichen Bezügen als jugendkulturelle Abgrenzungsmethode fungierte. Fehlende Urbanität, das Klima und die heidnische Vergangenheit ließen sich hervorragend als Hintergrundfolie einer musikalischen Kehrtwende instrumentalisieren – standen jedoch in scharfem Kontrast zur Lebenswelt der Musiker.347
343 Vgl. Venkatesh, Eschewing Community; Vgl. Woodrow Steinken, Norwegian black metal, transgression and sonic abjection, in: Metal Music Studies 5 (2019) 1, S. 21–33; Vgl. dagegen zur Phase vor 1992 die Aussagen von Fenriz in: Morbid/John Hiotellis/Stephan/Photis, Blasphemous Mag 1 (1991), Athen, S. 17f. 344 Jon Kristiansen, Slayer 10 (1995), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 320. 345 Christian »Varg« Vikernes stellte die soziale Praxis ebenfalls in diesen räumlichen Zusammenhang: »Jedes Mal, wenn wir bemerkten, dass uns andere immer noch ›mochten‹ und gern unsere ›Freunde‹ geworden wären, mussten wir den Irrsinn sozusagen weiter hochschrauben und noch krassere Maßnahmen ergreifen, um uns von ihnen zu entfremden.« Patterson, Black Metal, S. 216. 346 Vgl. Imke von Helden-Sarnowski, Norwegian Native Art. Cultural identity in Norwegian metal music, Berlin 2017; Vgl. Pilo, True Norwegian Black Metal, S. 54f. 347 Vgl. z.B. folgende Aussage von Fenriz zur Eröffnungszeit des »Helvete«: »Finally it happened, and it was right by my place of work and not far from Elm Street Rock Cafe either, where I had started hanging out A LOT in June 1991 to make myself a scene. I wasn’t into only black metal, I wanted to relax and drink and socialize with other rockers of all sorts at Elm Street in June 91. And just a couple of months later it was time for Helvete to open.« Zierleyn, Booklet to Darkthrone’s Black Death and Beyond.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Abb. 26–29: „Raum“ auf vier wichtigen Black Metal-Alben aus Norwegen.
Oben links: Emperor »In the Nightside Eclipse« (1994); oben rechts: Burzum »Filosofem« (1996); unten links: Darkthrone »Under a Funeral Moon« (1993); unten rechts: Ulver »Bergtatt – Et Eeventyr i 5 Capitler« (1994).
Es ist in diesem Zusammenhang von Autoren wie Dayal Patterson auf einen »Hang zu Isolation und Eigensinn«348 unter den Musikern hingewiesen worden und in der Tat besaßen Abgeschiedenheit und Individualität durchaus Kontinuitäten mit den regionalen Herkünften. Ted Skjellum und Ivar Enger (beide Darkthrone) kehrten Oslo sogar 1991 langfristig den Rücken und Skjellum begründete dies mit der empfundenen Herdenmentalität und seinem Wunsch nach Ruhe und Einsamkeit.349 Die Art und Weise, wie 348 Patterson, Black Metal, S. 511. 349 »I moved from Oslo to far into the east Norwegian woods, in December 1991. Even though things were fun and dark in Oslo, it was like no one really had their own thoughts and I just despise things like that. Ok, we dressed in black – and I still am mostly – but no one gets to dictate what
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
sein in Oslo verbliebener Bandkollege (Fenriz) diesen Schritt deutete, entlarvt die isolationistische Metaphorik der breiten Masse der Musiker jedoch als Lippenbekenntnis: I feel Ted and Zeph did the right thing by moving away from the whole ›boys club‹ of the Helvete scene. They didn’t have such strong ties to it anyway and proved – by never moving back to Oslo or any other city – they actually LIKE desolation and WERE and ARE bottom line misanthropes.350 Die Musiker nahmen in ihrer vorgeblichen Stadtfeindlichkeit und der Propagierung einer auf traditionellen Wurzeln beruhenden räumlichen und ethnischen Idylle auch regelmäßig Bezug auf den urbanen Wandel – besonders auf die Immigration nach Norwegen und die Einführung vermeintlich fremder kultureller Einflüsse. Das gemeinsame Element aller dieser Aussagen war eine derbe Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit, die sich aus dem Versuch ergab, das individualistische Schwarz-Weiß einer möglichst »totalen« Black Metal-Identität in der gesellschaftlichen Komplexität zu verorten. In vielen Fällen handelte es sich dabei um einen undurchdachten jugendlichen Distinktionsreflex, der sich durch die Medienpräsenz der Musiker ab 1992 plötzlich ungeahnter Verbreitung ausgesetzt sah – etwa bei dem Schriftzug »Norsk Arisk Black Metal« auf der Rückseite der Darkthrone-Platte »Transilvanian Hunger« (1994), der eine Boykott-Haltung der deutschen Magazine auslöste, die Band postwendend zu einer Entschuldigung veranlasste und seit dem keinerlei Anknüpfung im Handeln oder Schreiben der Musiker erfuhr.351 Dennoch bahnte die rassistische und fremdenfeindliche Aufladung in der Verhandlung des »race«-Aspekts in der Szene auch echtes und langfristiges rechtsextremes Engagement an und Kristian Vikernes wirkte bereits während seiner Haftstrafe ab 1994 und darüber hinaus als neuheidnischer Netzwerker, Antisemit und neonazistischer Pseudointellektueller.352 Sein Handeln während der Hochphase der Szene 1991–1994 ordnete er 2008 in der Dokumentation »Until the Light Takes Us« als Vorbereitung eines Bürgerkriegs ein, der seiner Meinung nach notwendig geworden war, weil fremde Einflüsse (er nennt McDonalds) eine empfundene »idyllische Gesellschaft« in West-Norwegen zerstört hätten. Er bezog sich dabei besonders auf eine imaginierte »homogene«, gewaltfreie und öffentliche Stadtgesellschaft Bergens, die er seit seiner Kindheit erfahren habe
I’m supposed to think. The reason why I moved away in ’91 is complex, but I had a not so cool feeling about hanging around metal people. I wanted silence and space to see things in perspective, something that was hard in midst of a city and metal people that became more and more similar. It sucked and! saw it as a weakness.« Zierleyn, Booklet to Darkthrone’s Black Death and Beyond. 350 Ebd. 351 Vgl. Interview Götz Kühnemund, 42.22-47.39 Min. Kühnemund beschreibt den langen Weg vom Boykott der Band bis zur heutigen Zusammenarbeit und Freundschaft mit Fenriz. 352 Vgl. u.a. Norwegischer Rechtsextremist Vikernes zu Haftstrafe verurteilt, in: Der Standard, 08.07.2014; Vgl. Norwegischer Rechtsextremist wegen Verhetzung vor Gericht, in: Der Standard, 18.10.2013. Vikernes verbreitete seine neuheidnische Ideologie durch Bücher und Weblogs und stand auch mit Anders Brevik in Kontakt.
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und deren vermeintlichen Verlust es nun zu rächen galt.353 Die musikalische Transgression war hier ein Teil einer wirren politischen Extremposition im urbanen Strukturwandel, die sich bei einigen norwegischen Musikern in der Mitte der 1990er Jahre nachweisen lässt. Sigurd »Satyr« Wongraven, Gründer der Band Satyricon, formulierte in diesem Kontext 1995 im Slayer-Fanzine: I hate every other fuckin' culture. And especially when they are brought to Norway by people who I would prefer stayed some other place then our true paganistic country. I mean what the fuck has people running around in pink shirts and pig faces, not speaking Norwegian, trying to drown us with every fuckin' exotic religion to do here in the land of the Vikings?? We’re not a racist band at all but exotic cultures can fuck off out of Norway. I’m sick and tired of the whole shit. We even have TV Islam in Oslo! No, take your culture, take your goat and get on the boat. I don’t hate people because of their colour, but it is their attitude. Same thing with white people.354 Dass Metal-Musiker das soziale Verhältnis zu anderen Menschen als Teil ihrer Identitätsund Authentizitätskonstruktion nutzen, war keineswegs neu – die Art und Weise, wie dies in Norwegen entlang des »race«-Faktors vollzogen wurde, stellte jedoch Neuland in der Metal-Kultur dar und seitdem wurde Black Metal, besonders in seiner politisierten Form als »NSBM« (National Socialist Black Metal), als musikkulturelles Element gesellschaftlicher Umsturzphantasien leider in vielen Ländern instrumentalisiert.355 Zusammenfassend markierte die norwegische Black Metal-Szene in ihrer Abhängigkeit, Überbrückung und Verhandlung von »Raum« einen Endpunkt der »langen 1980er Jahre.« Sie profitierte wie alle anderen regionalen Aufbrüche der Metal-Musik zuvor von den sich bietenden infrastrukturellen Angeboten und die Anbindung an den öffentlichen Raum und die Jugendzentren weist sie als europäische Variante des Szene-RaumZusammenhangs aus, von der sich die US-amerikanischen Szenen deutlich unterschieden. Wie ihre Vorgängerinnen verhandelte die Szene den Raum aber auch – vor allem als Stadt-Land-Gegensatz und unter dem Blickwinkel migrationsfeindlicher ethnischer Homogenität. Es fällt vergleichend auf, dass sich eine Raumanalyse sozialer Ungleichheit im Laufe der Dekade mit regional unterschiedlichen Geschwindigkeiten zurückzog. »Class« diente besonders in den Extreme Metal-Szenen von Florida, Stockholm und in
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»I was born in Bergen in 1973. I grew up in an idyllic society, really. Homogenous, no crime, everything was basically perfect. We had stables with girls riding horses. We were playing on the outside.« Aaron Aites/Audrey Ewell, Until the light takes us, USA 2008, 22.07-23.28 Min (ganzes Zitat). 354 Jon Kristiansen, Slayer 10 (1995), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 299. 355 Vgl. Benjamin Hedge Olson, Voice of our blood. National Socialist discourses in black metal, in: Titus Hjelm/Keith Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal. Controversies and countercultures, Sheffield 2013, S. 136–151; Vgl. ders., Burzum shirts, paramilitarism and National Socialist Black Metal in the twenty-first century, in: Metal Music Studies 7 (2021) 1, S. 27–42; Vgl. Laura Wiebe Taylor, Nordic Nationalism. Black Metal takes Norway’s Everyday Racisms to the Extreme, in: Niall W.R. Scott/ Imke von Helden (Hg.), The Metal Void. First Gatherings, Oxford 2010, S. 161–173; Vgl. Christian Dornbusch/Hans-Peter Killguss, Unheilige Allianzen. Black Metal zwischen Satanismus, Heidentum und Neonazismus, Münster 2005.
3. Arbeitersiedlungen, »white flight« und die Suche nach Gemeinschaft
Norwegen nicht mehr als räumliches Abgrenzungsinstrument der musikalischen Gemeinschaft, konnte sich in regionalen Settings mit großen sozialen Unterschieden wie in New Jersey jedoch länger halten und ging in stark von der Deindustrialisierung betroffenen Gebieten in die Sphäre der Erinnerungspolitik der Szene über (so im Ruhrgebiet und in Pittsburgh). Gleichzeitig deutete sich in Norwegen aber auch ein Wandel zu einer Dominanz virtueller Netzwerke an, der sich während der gesamten Dekade verstärkt hatte und sich mit der Ausbreitung des Internets wenige Jahre später noch einmal deutlich beschleunigte. Kommunikative Netzwerke waren dabei immer weniger auf physische lokale Infrastrukturen angewiesen und dementsprechend auch nicht mehr so stark an die Voraussetzungen der Stadt gebunden. So wäre unter den Bedingungen der frühen 1980er Jahre die Genese einer Szene, die sich weitestgehend außerhalb städtischer oder suburbaner Herkünfte und Kontakte vollzog, noch nicht möglich gewesen. Die Herkünfte von Metalheads in der »westlichen« Welt befanden sich also durchaus auf dem Weg aus der Stadt. Die vorgespielte Favorisierung einer ruralen Romantik seitens einiger Musiker in Norwegen kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der städtische Raum mit seiner kulturellen, kommunikativen und unterhaltenden Anziehungskraft dennoch eine persistente Rolle als musikkultureller Bezugspunkt spielte. Denn anders als das in den 1990er Jahren entstehende Metal-Festival, das fast überall an den ländlichen Raum gebunden ist, führte das Weiterbestehen der wichtigen Konzerterfahrung in der Metal-Kultur mit seinen infrastrukturellen Voraussetzungen zu einer kontinuierlichen städtischen Rückkopplung der Metalheads. Als abschließende These und gewonnener Eindruck kann festgehalten werden, dass die hier beschriebenen Szenen vor allem von einem Übergangsstadium zwischen der »labourist city« und dem »new urbanism« profitierten. Viele räumliche Zentren befanden sich dort, wo ein Leerstand temporär neu besetzt werden konnte, sodass sich Metal-Szenen nicht nur sozial und habituell, sondern auch räumlich mit den »working-class«-Relikten verknüpften. Mit der privatkapitalistischen Revitalisierung der Städte verschwanden viele dieser Clubs, Plattenläden und Probeorte. Der an einen festen Lebensstil gebundene Konsum der Metal-Szenen ist jedoch, so mein Eindruck, nicht vollständig aus den »neuen Städten« verdrängt worden, sondern organisiert sich in kreativen urbanen Randlagen, während die Innenstädte einem »passing consumer fancy« gehören.356
356 Vgl. die Studie von Chatterton und Hollands zur urbanen Neuorganisation in Bristol. Chatterton/ Hollands, Theorising Urban Playscapes, S. 99–111.
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4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Die Band bildete die wichtigste soziale Organisationsform der Metal-Kultur.1 Durch sie wurde produziert, was die Jugend-Kultur »im Innersten zusammenhielt.« Die Musik von Bands diente als Vergemeinschaftungsgrundlage der Metal-Fans, schuf die Konzertsituation und bestückte als Produkt die Plattenläden. Band-Namen waren (und sind) überall im Metal: Sie dominierten Fan-Diskussionen über stilistische Veränderungen und Vergleiche, sie prägten Fanzines und Magazine sowohl auf den Covers als auch in der Gliederung, sie zierten Plakate von Konzerten wie auch die Kleidung ihrer Anhänger, und sie stellten als Produktionseinheit auch den kommerziell-entscheidenden Bezugspunkt dar. Ihre Musik bewegte Körper, füllte Räume, begründete Konsumentscheidungen und war maßgeblich an der Genese bestimmter Konstruktionen von Authentizität und Identität beteiligt. Als sozialgeschichtlicher Untersuchungsgegenstand sind Metal-Bands indes besonders interessant, weil sie eine eigentümliche Form der Vergemeinschaftung von Musikern darstellen, die einer Individualisierungsvermutung in der Postmoderne zunächst zu widersprechen scheint.2 Denn die Band, die sich nach einer Phase von popkulturellen Künstler-Individuen in den 1950er Jahren vor allem im Zuge der Rock-Musik zur beherrschenden Form der Musikproduktion in gitarrenorientierten Genres entwickelte,3 wird stets als Singular adressiert. Als »eigentliche künstlerische Einheit«4 war sie in der MetalMusik auf Grund der musikalischen Zwänge in Produktion und Aufführung zwar beinahe alternativlos, verdeckte aber bis zu einem gewissen Grad das kreative Individuum und
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Vgl. dazu grundsätzlich: Weinstein, Heavy Metal, passim.; Vgl. Kahn-Harris, Extreme Metal, passim.; Vgl. Zu den Vorläufern in der Rock Musik: Simon Frith, The Sociology of Rock, London 1978. Zum Zusammenhang von Vergemeinschaftung und Individualisierung vgl. Jürgen Raab/Hans-Goerg Soeffner, Lebensführung und Lebensstile – Individualisierung, Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung im Prozess der Modernisierung, in: Friedrich Jäger/Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2011, S. 341–356. Vgl. Frank Hentschel, Diversifying Composition. Practices of Inventing Music, in: Klaus Nathaus/ Martin Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe. A Handbook, München/Berlin 2021, S. 33–57, hier S. 52. Rainer Diaz-Bone, Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der bourdieuschen Distinktionstheorie, Wiesbaden 2002, S. 246.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
verhinderte dessen volle öffentliche Entfaltung. Selbst der technisch versierteste Virtuose, der brillanteste Songwriter oder der erfolgreichste Performer wurden in der MetalKultur über ihre Band verhandelt – was konsequente Individualisierung aber dennoch nicht unmöglich machte. Darüber hinaus erschöpfte sich die Bedeutung der Band für ihre Mitglieder nicht in der Musik, sondern war bedeutend breiter angelegt: Die Band galt als »Künstlerfamilie«, »Solidargemeinschaft« und »soziale Produktionseinheit«,5 sie begründete im Studio, im Proberaum oder auf Tour ein enges Zusammenleben nicht-musikalischer Dimension, und entwickelte sich im Falle von Plattenverträgen zu einem gemeinsam-geteilten Erwerbsfaktor. Die soziale Bandbreite der Band-Funktion und ihr inhärentes Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv führte in den hier besprochenen Szenen dazu, dass Metal-Bands zwischen den Polen einer freundschaftlichen Zusammenarbeit und einer »Notwendigkeitskooperation« lavieren konnten.6 In einer unüberschaubaren Fülle an Band-Biografien standen jahrzehntelang stabile Besetzungen neben Gruppen, deren Mitgliederverzeichnis ganze Seiten füllt – es standen tatsächliche Verwandtschaften und quasi-familiärer Zusammenhalt neben jahrelangen Rechtsstreiten um BandNamen – und es standen gütliche Trennungen neben medial-verbreitetem und unversöhnlichem Groll. Sowohl die Kohäsionskräfte wie auch die sozialen Sprengkräfte waren dabei auf die bandintern vollzogenen Verhandlungen von vier zentralen Problemen der Soziologie von Metal-Bands zurückzuführen. Die Metal-Band ist erstens eine kommunizierte Einheit, die eine intern möglicherweise viel diffusere Sozialbeziehung nach außen zum Singular erklärt. Streit, Uneinigkeit und Probleme persönlicher und musikalischer Natur müssen intern geregelt werden und dürfen mit der Beständigkeit eine wesentliche diskursive Anforderung, die vor allem durch Magazine postuliert wird, nicht verletzen.7 In Metal-Bands herrscht daher ein hoher Anpassungsdruck auf das Künstler-Individuum, das lernen muss, damit zu leben, dass der Produktionsprozess zwar von seiner Kreativität und Mitsprache profitiert, das Produkt selbst jedoch mit der Gruppe assoziiert und dadurch gewissermaßen kollektiviert wird. Dieses Spannungsverhältnis sozial reibungslos und erfolgreich zu meistern, setzt von Musikern in Bands ein »Inklusionsarrangement«8 voraus, also ein gemeinsam abgestimmtes Vorgehen, dass sämtliche Mitglieder in den Schreib-, Produktions-und vor allem Verwertungsprozess gemäß ihrer erbrachten Leistung einbezieht. Metal-Bands konnten zweitens während der »langen 1980er Jahre« eine enorme soziale Dynamik und interne Brisanz aufweisen, weil auf ihre Binnenbeziehungen keinerlei kodifizierte Regelungsmechanismen oder anderweitig gültige Agreements Anwendung fanden (bis auf das geltende nationale Recht natürlich). Anders als Unternehmen oder Vereine haben Bands zu ihrem Beginn weder Statuten noch Vereinbarungen zur 5 6
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Ebd., S. 252. Ein von Alf Lüdtke geprägter Begriff, um die Handlungsoffenheit sozialer Systeme zu beschreiben. Vgl. ders., Betriebe als Kampffeld. Kontrolle, Notwendigkeits-Kooperation und »Eigensinn«. Beispiele aus dem Maschinenbau, 1890–1940, in: Rüdiger Seltz u.a. (Hg.), Organisation als soziales System, Berlin 1986, S. 103–139. Eine instruktive Darstellung dieser Beziehung bei Diaz-Bone, Kulturwelt. Armin Nassehi/Gerd Nollmann, Organisationssoziologische Ergänzungen der Inklusions-/ Exklusionstheorie, in: Soziale Systeme 3 (1997) 2, S. 393–411.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Konfliktlösung und sind deshalb in der Regel dem »freien Spiel« der beteiligten Musiker unterworfen. Besonders dieser Aspekt hat vor dem Hintergrund einer deutlichen Verjüngung der Metal-Musiker dazu geführt, dass Strategien der Konfliktvermeidung und -lösung parallel mit der Band-Entwicklung erlernt wurden und besonders die frühen Phasen der Band-Biografien von teils gnadenlosen Machtbeziehungen und wenig rücksichtsvollen sowie schlecht kommunizierten Besetzungswechseln geprägt waren. Damit eng zusammenhängend, waren Metal-Bands drittens Lernprozessen sowie Professionalisierungstendenzen unterworfen, die die anfänglich erhebliche Kontingenz langsam in berechenbarere Bahnen lenkte. Das »freie Spiel« der Beteiligten wurde von internen Aufgabenbereichen einzelner Mitglieder ersetzt, die sich nun beispielsweise vor allem um den Kontakt zu den Medien, das Songwriting, die Verträge mit Labels und Agenturen oder das Tape-Trading kümmerten. Da jedoch in keiner Band alle Mitglieder dieselbe Entschlossenheit zeigten, sich auch mit den nicht-musikalischen Belangen zu befassen oder sich weniger am Produktionsprozess beteiligten als ihre Kollegen, bildeten sich interne Hierarchien heraus. Oft, aber keineswegs immer war die Führungsposition dabei mit dem Gründer oder den Gründern der jeweiligen Band besetzt und an einen Diskurs geknüpft, der sich als die Frage, wem eine Band »gehört«, sehr häufig in Konfliktsituationen artikulierte. Grundsätzlich bietet es sich hier an, Anleihen bei der Mikropolitik zu suchen und den internen Aushandlungsprozess in Bands als Spiel um Einfluss und »subkulturelles Kapital«9 zu betrachten, in dem alle Beteiligten auf sehr unterschiedlich ausgeprägte Machtpotentiale zurückgreifen konnten.10 Das wichtigste dieser Potentiale war freilich die musikalische Qualität und es existierten einige Beispiele dafür, dass der BandSingular durch das herausgehobene spielerische Können eines Mitglieds durchbrochen wurde.11 Dessen Bedeutung für den Sound und das Alleinstellungsmerkmal der Gruppe begründete dann auch interne Leitungsansprüche. Andere entscheidende Qualitäten und Machtpotentiale, durch die sich Musiker in Bands unabkömmlich machen konnten, waren vor allem Geschäftssinn und generell die (unter Musikern) wenig beliebte Sorge um die »Schreibtischangelegenheiten«, bestimmte körperliche und ästhetische Praktiken, mit denen die Band assoziiert wurde, oder schlicht die Tatsache, von Beginn an dabei gewesen zu sein. Die sich in diesem Zusammenhang herausschälenden Hierarchien in Metal-Bands waren demnach ein Ergebnis eines Prozesses, in dem eines oder mehrere Mitglieder Autorität über ein zentrales Feld der Band-Tätigkeit erlangte. Eine Fokussierung auf ein bestimmtes Instrument ist dabei nicht zu erkennen.12 Den Lackmustest dieser Entwicklung bildete meist der schnelle Wandel, der sich an den Übergang 9 10 11
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Vgl. zur Verknüpfung von subkultureller Theorie mit Bourdieus Feldansatz: Sarah Thornton, Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital, Hoboken 2013. Vgl. Oswald Neuberger, Mikropolitik und Moral in Organisationen. Herausforderung der Ordnung, 2. Aufl., München/Stuttgart 2006. Dies war zum Beispiel bei der Stilisierung Rob Halfords zum »Metal God« zu beobachten – ein Titel, den er sich sogar schützen ließ – oder betraf Trey Azagtoths Komposition und Technik des Gitarrenspiels bei Morbid Angel. Band-Leader finden sich an jedem Instrument und finden sich sowohl dort, wo man sie zunächst vermuten würde (im Gesang und an der Gitarre), als auch sehr oft am Bass (Lemmy, Harris, Riddles, Lilker, Dolan, Such usw.) und am Schlagzeug (Estby, Reifert, Fenriz, Ulrich, Hoglan usw.).
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in die »Professionalität« anschloss – also die Herausforderung des bestehenden Bandgefüges durch vertragliche Verpflichtungen in Produktion, Zusammenarbeit, Tour und medialer Kommunikation. Die sich dabei ergebenden Veränderungen enttäuschten als Ambivalenz von künstlerischer Freiheitsvermutung und gelebter interner Autorität oft Erwartungen und motivierten individuelle Rückzüge.13 Viertens verstärkte sich während einer Band-Entwicklung der Konflikt zwischen ihrer »Binnenrationalität«14 und den von außen an die Band herangetragenen Zwängen und Erwartungen. Dies betraf zunächst den Kontakt mit den Medien und der dort formulierten Erwartung an eine familiäre Beständigkeit sowie musikalische Treue – was den Wandel freilich nicht ausschloss, doch war das Konzept, das Bands dabei diskursiv eingeschrieben wurde, auf eine evolutionäre Veränderung, auf Balance-Wahrung und die Verhältnismäßigkeit des Wandels ausgerichtet.15 Bruchhafte Sprünge wurden sanktioniert und kamen einem Frevel oder Verrat gleich. Die Aufgabe, dies zu bewerten, lag sowohl bei der Metal-Presse wie bei den Kaufentscheidungen der Fan-Gruppen, die beide versuchten »die Narration der künstlerischen Tätigkeit fortsetzbar zu machen«16 , d.h. mit dem musikalisch-vermittelten und in Kapitel 3 beschriebenen sozialen Kontinuitätsversprechen zu vereinbaren. Andererseits war diese Veränderungslogik aber auch in die Mechanismen des Marktes einzugliedern, wo der offensichtliche Wunsch nach kommerziellem Interesse den Ausverkaufs-Stempel nach sich ziehen und der Wunsch nach Massengeschmack zum Authentizitätsverlust führen konnte. Diesem Antagonismus, der Erfolg stets mit Risiko belastete, konnte sich keine Band entziehen, sodass die »Binnenrationalität« der Band – wie etwa musikalische Ideen und Wünsche, Experimente im Sound und Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, Verwertungsinteressen und interne Probleme – auf pragmatische Weise mit den externen Erwartungen vereinbart werden musste.17 Jon »Metalion« Kristiansen brachte diesen empfundenen Widerspruch zweier sozialer Ebenen folgendermaßen auf den Punkt: But there is also something called »musical progression« so it might be a bit difficult for a non band member to see what’s going on in the actual band. Something weird to us might be completely natural to the bands.18 Obgleich solche Entwicklungen in der Metal-Kultur rar sind, existiert mit der Band Metallica ein eindrückliches Beispiel für den sozialen Fluchtpunkt dieser Ambivalenz: James Hetfield, Gründer, Gitarrist und einer von zwei Band-Leadern, brachte in dem Film »Some Kind of Monster« (2004), der vor allem die bandinternen Querelen zum Thema hatte, zum Ausdruck, dass er den Anpassungsdruck an ein »beast« empfand, »that sucked a lot of me into it.« Währenddessen artikulierte Kirk Hammett, der Gitarrist der
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Vgl. Kap. 4.4.2 Die Band als Hierarchie. Diaz-Bone, Kulturwelt, S. 252. Vgl. ebd., S. 253. Ebd., S. 255. Vgl. ebd., S. 257–259. Mikko Mattila/Luxi Lahtinen, Isten 5, Finnland 1990, S. 44.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Band, den Druck, sein Ego hintanzustellen, um den Anderen ein Vorbild zu sein.19 Implizit zeichneten beide dabei das Bild einer kommerziell sehr erfolgreichen Band, die jedoch den Musikern entglitt und ihnen verstärkt als verdinglichte und objektive Gegebenheit entgegentrat. Äußere Zwänge überlasteten dadurch das interne Bandgefüge, ließen die naheliegendste Lösung (die Auflösung der Band) gar nicht aufkommen und führten zu der bisher einmaligen und bespöttelten Erscheinung, dass eine Metal-Band aus der Tatsache, dass sie einen Band-Psychiater aufsuchte, auch noch kommerziellen Erfolg zu schlagen versuchte.20 Die selbst-geschaffene Struktur wendete sich hier gegen ihre Macher und verdeutlichte den besonderen band-soziologischen Spagat. Metal-Bands waren demnach dezidierte »soziale Handlungsfelder«21 , in denen wechselnd zusammengesetzte Gruppen mit unterschiedlichen Machtressourcen um Formen des Agenda-Settings (Stilfindung, kommerzielle Ausrichtung, PerformancePraktiken usw.) rangen, dabei spezifische Formen der Kooperation aushandelten und sich gegenüber ihren Arbeitgebern (Plattenfirmen) sowie den Intermediären (Produzenten, Soundtechniker, Manager) positionieren mussten. Diese soziale Perspektive auf die Geschichte von Metal-Bands während der »langen 1980er Jahre« wird im Folgenden entlang einer »standardisierten« Band-Biografie analysiert. Dazu wird zunächst darauf eingegangen, wie die späteren Musiker, Tape-Trader und Fanzine-Autoren seit den späten 1970er Jahren mit härterer Rock-bzw. Metal-Musik erstmals in Kontakt kamen und über welche sozialen Kanäle sich diese vereinzelten »Erweckungserlebnisse« schließlich in der Gründung von Bands niederschlugen – aber auch mit welchen Vorprägungen für die Bands dies bereits verbunden war. Anschließend wird sich mit Blick auf diese frühen Karrieren auf Ursachensuche für den Umstand begeben, dass die Metal-Band fast ausschließlich eine männliche Formation war und sowohl weibliche Künstler wie weibliche Bands bis heute zu den Ausnahmeerscheinungen gehören. Schließlich widmet sich die Analyse der Suche nach dem »Inklusionsarrangement« der Bands anhand der Aspekte Machtbeziehungen, musikalische Veränderung, Professionalität, Konfliktaustragung und gemeinsamen Praktiken. Hinsichtlich der Praktiken werden der Bandalltag des DIY, das Songwriting sowie der Produktionsprozess exemplarisch untersucht und mit dem Produzenten einer der wichtigsten Intermediäre vorgestellt. Den Abschluss bildet eine kurze Darstellung der vielfältigen Gründe, eine Metal-Band vollständig aufzulösen.
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Joe Berlinger/Bruce Sinofsky (Reg.), Metallica: Some Kind of Monster, USA 2004. Zitate bereits im Trailer, vgl. URL: https://www.youtube.com/watch?v=bL0M_IVgvog (letzter Aufruf, 04.02.2022). Vgl. etwa die Kritik durch Roger Ebert, Aging Rock Band is indeed a »Monster«, 30.07.2004, URL: https://www.rogerebert.com/reviews/metallica-some-kind-of-monster-2004 (letzter Aufruf 02.02.2022). Ebert erfasste die Zwänge auf die Musiker treffend, hatte aber verständlicherweise wenig Mitleid: »Why work with people you can’t stand, doing work you’re sick of, and that may be killing you? Lots of people have jobs like that, but Metallica has a choice.« Vgl. Thomas Welskopp, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze der Industrie-und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996) 1, S. 118–142.
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4.1 »Erweckungserlebnisse« von Metal- Musikern You hear something that inspires you that then you become part of a… almost in spite of yourself you become part of that hive should we say. You get drawn in, you get stuck in. And the first that really did that to me was Zeppelin. The first thing I ever heard of Zeppelin… it took a week for the scars to heal after a jaw hit the floor [laughs]. It was just the most extraordinary thing I ever heard.22 Für die Frage, wie sich Bands gründeten, welche Erwartungen die Musiker damit verbanden und wie der Spagat aus Individualisierung und Vergemeinschaftung (nicht) bewerkstelligt wurde, sind »becoming-a-fan«-Erzählungen von entscheidender Bedeutung.23 Sie können Auskunft darüber geben, wie der Prozess der Fanschaft angestoßen wurde, wie und über welche Kanäle sich eine musikbezogene Identität entwickelte und wie die Selbstwahrnehmung als Fan mit ihren vielen Wendungen zu einem Selbstnarrativ führte, das in Bands Bestätigung oder Konflikte hervorrufen konnte.24 Mit den Musikern steht dabei ein Sonderfall dieser Narrative im Fokus, denn bei weitem nicht bei allen Fans führte der »Erstkontakt« zu Erzählungen von lebensverändernder Selbsttransformation, sondern spielte sich mittelfristig wohl eher als routinisierter Umgang mit Popmusik ein. Abgesehen von den Folgen für den Erwerbswunsch durchliefen aber sowohl spätere Musiker als auch »gewöhnliche« Fans bestimmte Stadien des Fantums und/oder entdeckten ihre musikalische Leidenschaft sogar durch Wechsel der Fanzugehörigkeit.25 Die nachträglichen Selbstaussagen über diese Prozesse sind problematische Quellen, die seltsam geglättet erscheinen und oft als bruchlose Transgression der Hörgewohnheiten im gegenwärtigen Musikstil kulminieren.26 Sie können in ihrer Ambivalenz des Individuums als »Arrangeur« und »Arrangierter« seiner selbst eher als biografische Zeugnisse der Selbststilisierung angesehen werden – eine durch die vielen sozialen Zwänge der Metal-Kultur beeinflusste »Selbst-Technik«27 , die Hörgewohnheiten und Fan-Zugehörigkeiten chronologisch kontinuisiert und für die Erzählung einer authentischen Genre-Biografie nutzbar macht. Popkulturelle »Ausreißer« findet man in dieser selektiven Retrospektive daher kaum und höchstens in der Rückschau bei gestandenen GenrePersönlichkeiten.28 Viel eher wurde das Narrativ von der eigenen Hör-Biografie als Dis22 23
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Interview Kevin Riddles, 09.31-10.11 Min. Vgl. Anna Baka, The Forming of a Metalhead. Constructing a subcultural identity, in: Toni-Matti Karjalainen/Kimi Kärki (Hg.), Modern Heavy Metal. Markets, Practices and Cultures, Helsinki 2015, S. 55–63. Vgl. Matt Hills, Returning to »Becoming-a-fan«-Stories. Theorising Transformational Objects and the Emergence/Extension of Fandom, in: Linda Duits/Koos Zwaan/Stijn Reijnders (Hg.), The Ashgate research companion to fan cultures, Farnham 2014, S. 9–21. Vgl. ebd., S. 10, 19. Vgl. etwa Sean Frasier, Possessed Since Dawn: An Interview with Immolation’s Ross Dolan, in: Decibel Magazine 2017, URL: https://www.decibelmagazine.com/2017/07/05/possessed-since-da wn-an-interview-with-immolation-s-ross-dolan/ (letzter Aufruf 02.02.2022). Vgl. Kapitel 3 in Tia DeNora, Music in Everyday Life, Cambridge 2010. Sehr offen mit ihren popkulturellen Wurzeln und (bei Halford) lebenslangen Vorlieben gingen beispielsweise Lemmy Kilmister und Rob Halford um – Akteure, die szeneintern über jeden Zweifel erhaben waren. Vgl. Halford, Confess, S. 187 (er bezeichnet sich als »pop tart«).
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
tinktionsinstrument verwendet, um sich von als inauthentisch empfundenen Entwicklungen abzugrenzen.29 Da Metal-Musiker sehr gern ihren individuellen musikalischen »Bildungsroman« kommunizieren, liegen dementsprechend zahlreiche Vergleichsfälle vor, die sich in etwa in folgendem Drei-Stufen-Modell zusammenfassen lassen: Erstens der schicksalhafte »Erstkontakt« als Offenbarung, meist in der Kindheit, zweitens eine Transgression des Geschmacks über bestimmte zentrale Bands und Musiker über einen längeren Zeitraum während der Jugendphase, und drittens die Entdeckung einer als wegweisend empfundenen Veröffentlichung für das eigene musikalische Schaffen. Zwei situative »Erweckungserlebnisse« rahmten demnach eine evolutionäre Entwicklungsphase ein. An den »Erstkontakt« erinnert sich dabei fast jeder Musiker mit beinahe ehrfurchtsvoller Wertschätzung als zentraler biografischer Moment – wobei Metal-Musik freilich gar keine Rolle spielen musste. Für die Musiker während der NWOBHM gehörten vor allem Elvis Presley, The Beatles, The Monkees und die Rolling Stones, Chuck Berry oder Jimmy Hendrix zu den persönlichen Erinnerungsorten, die den ersten »Aha«-Effekt auslösten.30 Um eine Genese handelte es sich dabei nicht: Für Dave Murray (Iron Maiden) war die Entdeckung von Hendrix »totally black and white« und es existierte »no gradual process getting into music.«31 An dieses einschneidende Erlebnis schloss sich eine Sozialisation mit der Rock-Musik der 1970er Jahre an, wobei wie bei Steve Harris (Iron Maiden) Bands wie Jethro Tull, Genesis oder Yes als besonders wirkmächtig erschienen, während dies für Brian Tatler (Diamond Head) eher Black Sabbath, die frühen Judas Priest oder Deep Purple waren.32 In diese Phase fiel auch die Entscheidung, das favorisierte Instrument selbst zu erlernen. Das dabei entwickelte Engagement war oft beträchtlich zeitintensiv und führte etwa dazu, dass sich der jugendliche Steve Zodiac wie ein »Einsiedler« in sein Zimmer verkroch und auch Tino Troy jede freie Minute an seinem Gitarrenspiel arbeitete.33 Im Laufe der 1980er Jahre wiederholte sich dieser musikalische Sozialisations-und Lernprozess bei später geborenen Jugendlichen stets aufs Neue, setzte aber an späterer Stelle ein und verlor die Einflüsse aus Pop und Rock langsam aus dem Blick. Als entscheidende Triebkraft erwies sich dabei die auf einem Distinktionswunsch beruhende Transgression, die von den Nachzüglern eine stilistische Überbietung der Vorgänger verlangte. In einem mehrere Fan-Alterskohorten anhaltenden Ablösungsprozess genügte sich Heavy Metal daher als Einfluss in immer stärkerem Maße selbst, was auch den abnehmenden Einfluss des Blues Rock auf die Metal-Musik der 1980er Jahre mit erklärt.34
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Vgl. den Song »Raised on Rock« von Darkthrone (2007) (URL: https://genius.com/Darkthrone-ra ised-on-rock-lyrics, letzter Aufruf 18.01.2022): »You have nothing in common with me/You think old-school is 1993/Ha! I’ve been a thrasher since ’84/Almost nothing sounds true anymore/I’ve made my own code/Sold my soul to Manilla Road/Modern metal I don’t give a fuck/UH! I was raised on rock«. Vgl. Halford, Confess, S. 38; Vgl. Interview Steve Zodiac, 05.49-07.23 Min.; Vgl. Interview Kevin Riddles, 04.45-05.30 Min.; Vgl. Interview Fist, 01.54-02.12 Min. Wall, Run to the hills, S. 40. Vgl. ebd., S. 20; Vgl. Interview Brian Tatler, 00.37-01.10 Min. Vgl. Interview Steve Zodiac, 11.10 Min.; Vgl. Interview Tino Troy, 19.00-19.56 Min. Vgl. Weinstein, Heavy Metal; Vgl. Walser, Running with the Devil; Vgl. Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 2.
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Nach dieser empfundenen Reifung des Geschmacks erlebten viele Musiker einen zweiten Offenbarungsmoment, der sie zu einer Entscheidung über den Stil ihrer eigenen Band motivierte. Am Beispiel von Brian Tatler lässt sich exemplarisch zeigen, dass es sich dabei sowohl um eine Phasenverschiebung von Alterskohorten als auch um durch die älteren Verwandten initiierte Prozesse handelte: Als Elfjähriger begleitete er seinen älteren Bruder 1971 zu einem Konzert von Black Sabbath in der Town Hall von Birmingham und erlebte dort seinen »Erstkontakt«. Als sich der Bruder 1974 die Gibson SG, wie sie Toni Iommi spielte, kaufte, gab er seine erste Gitarre an Brian Tatler weiter und half dem jüngeren Bruder überdies beim Erlernen des Gitarrenspiels. Die Gründung seiner Band Diamond Head erfolgte schließlich 1976 exakt in jenem Jahr, in dem der junge Brian Tatler mit dem Song »Problem Child« von AC/DC seine »epiphany« erlebte: »AC/DC blew me away and changed my life« war also gleichbedeutend mit dem Narrativ eines zweiten »Erweckungserlebnisses«.35 Wie sehr sich diese Erzählungen vergleichend ähneln und zeitlich an den »neusten Stand der Transgression« gebunden waren, wird etwa deutlich, wenn Dan Lilker, viereinhalb Jahre jünger als Tatler, seine Band Anthrax 1981 gründete und dafür Iron Maiden, Motörhead und Angel Witch als »eye-opening experience«36 angab. Er machte dabei überdies auf den nicht zu unterschätzenden Aspekt aufmerksam, dass diese Vorbilder nun nicht mehr als Hard Rock, sondern als »sufficiently metal« wahrgenommen, bezeichnet und für die jugendkulturelle Abgrenzung eingesetzt wurden.37 Für die »becoming-a-fan«-Narrative der Musiker existieren demnach meist drei zentrale Namen: Eine Band aus der Kindheitserinnerung, eine Band die für die Ausprägung eines gitarrenlastigen Geschmacks verantwortlich war, sowie das zunehmend »metallische« »Erweckungserlebnis« im unmittelbaren Vorfeld der Band-Gründung. Die mit Abstand wichtigste Band für den mittleren Teil waren in den USA und in Skandinavien KISS. Scott Ian wurde nach eigener Angabe durch ein Konzert von KISS in New York von einem Fan zu einem Jungen, der unbedingt in einer Band spielen wollte. Als unmittelbare Einflüsse für Anthrax gab er genau wie sein Bandkollege Lilker Iron Maiden und Motörhead an.38 Bob Petrosino besuchte 1979 ein KISS-Konzert in Philadelphia mit seiner älteren Schwester und bildete im Anschluss eine KISS-Cover-Band mit den Freunden aus der Nachbarschaft.39 Der Tape Trader, Fanzine-Autor und Sänger der Band Doomstone, Jeff McClelland aus Virginia, gehörte ebenso zu den großen KISS-Fans wie die Gründungsmitglieder von Enslaved aus Bergen, was neben KISS-Sammelkarten in Wundertüten, die in der Schule getauscht wurden, auf die hohe Präsenz der Band in Werbung und Fernsehen zurückzuführen war.40 Als weiteres Beispiel für die transitorische Funktion der Band sei abschließend Magnus Forsberg zitiert, der KISS als seinen Weg in Richtung »heaviness« in Surahammar (Schweden) beschreibt:
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Vgl. Tatler, Am I Evil?, S. 18, 19, 28. Hofer, Perpetual Conversion, S. 18. Vgl. ebd. Vgl. Ian, I’m The Man, S. 29f. Vgl. Chris Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino, in: Metalcore Fanzine, 2016. Vgl. Jeff McClelland, Deathvomit, S. 1; Vgl. Patterson, Black Metal, S. 586, 565.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
As most guys born late 60s/early 70s the way to heavy music was through KISS. I guess that is the standard answer you get from pretty much everyone and that it escalated from there with Saxon, Judas Priest, Motörhead etc. A janitor at my school was a hardrocker and the rumour was that he had records with Venom. I approached him and gave him a tape that he recorded »Welcome to Hell« and »Black Metal« on. From then the hunt was on.41 Was Forsberg hier als die Eröffnung der Jagd beschreibt, wurde nicht zufällig von einer Band wie KISS vorbereitet und zu einer Blaupause für Band-Gründungen durch Venom verarbeitet: Beide Bands können als Meister der Selbstinszenierung und Selbststilisierung gelten, die durch genaue Marktbeobachtung und Wettbewerbsmentalität eine erfolgreiche Platzierung ihres transgressiven Produkts realisierten. Sie werden im Drei-Stufen-Modell der Musiker-Biografie daher oft in den beiden letzten Schritten verknüpft.42 Die eröffnete Jagd symbolisiert also die Suche nach weitergehender »heaviness«, artikulierte sich aber auch als buchstäbliche Jagd nach neuen Tapes und Bands und steht damit Pate für eine immer stärkere Involvierung in den Extreme Metal-Underground. Für junge Musiker und ihre Fan-Biografie bedeutete dies freilich in den frühen 1980er Jahren etwas anderes als zehn Jahre später, oder um es an einem konkreten Beispiel festzumachen: Je später die Musiker geboren wurden, desto eher manifestierte sich der Einfluss einer Band wie Iron Maiden auf ihren Musikgeschmack. Die Transgression in dieser mittleren Phase war nicht bei allen Akteuren gleich lang und während einige Musiker nach kurzer Zeit bereits ihren favorisierten Sound gefunden hatten und sich andere von vornherein lediglich am Stil ihrer Vorbilder orientieren wollten, existierten auch jene, die der musikalischen Radikalisierung durch die 1980er Jahre folgten und daher sehr ausgedehnte »becoming-a-fan«-Narrative konstruieren.43 Welche Zugehörigkeiten man dabei hervorhebt, ist nur zum Teil eine musikalische Entscheidung, sondern stets auch von wechselnden Distinktionsmöglichkeiten in der Gegenwart abhängig – Hör-Biografien befinden sich demnach auch stets im Fluss und sind keine exakte Wiedergabe der Vergangenheit. Vor einem Konzert seiner Band Dissection bezeichnete der Bandgründer Jon Nödtveidt gegenüber Jon Kristiansen das Album »Altars of Madness« der Band Morbid Angel als das »Reign in Blood« (Slayer) ihrer Generation.44 Er postulierte damit einen Generationenunterschied anhand zweier Alben, deren Erscheinen nicht einmal drei Jahre 41 42
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Interview Magnus Forsberg, Z. 12–16. Dies zeigt sich unter anderem auf zahlreichen Fotografien von jungen Metal-Musikern, bei denen Venom-Shirts zu den oft getragenen Stücken gehörten. Vgl. etwa bei Lew/Oimoen, Murder in the Front Row, S. 22, 34, 41, 42, 133, 136, 168, 192 usw. Vgl. Bill Nocera, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/derketa/ (letzter Aufruf 02.02.2022); Solche Hörbiografien finden sich jedoch häufiger bei Fans und im Erwerbsfeld der Metal-Kultur tätigen Akteuren: Vgl. Chris Forbes, Metal War Productions. Interview with Karen Milewski, in: Metalcore Fanzine; Vgl. auch die Hörbiografie von Matt Jacobson (Relapse Records): »I certainly didn’t go from pop radio to Napalm Death. It was like Black Sabbath and ZZ Top into Mötley Crüe and Iron Maiden, then Slayer, and then Napalm Death. Everyone needs transition.« Christe, Sound of the Beast, S. 328. Vgl. Jon Kristiansen, Slayer 7 (1989). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 147.
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trennte (1986/1989) und verdeutliche dadurch nicht nur die Erhöhung der Schlagzahl der Transgression in den 1980er Jahren, sondern auch die altersbedingte Wahl eines möglichst distinkten »Erweckungserlebnisses«. Für die Gründung und erfolgreiche Kooperation in einer Band war es nun entscheidend, wie sich diese »becoming-a-fan«-Narrative in »becoming-a-band«-Narrative übersetzen ließen. So ist die Vorgeschichte vieler Bandgründungen bereits in der Transgressionsphase des Musikgeschmacks der späteren Mitglieder anzusetzen, weil »becoming-a-fan«-Narrative als soziales Ereignis erlebt und kommuniziert wurden. Besonders in der mittleren bis späteren Schulzeit fanden sich Gruppen nach Hörgewohnheiten zusammen und trennten sich von anderen Cliquen und peer-groups ab.45 Zum Fan wurden die Jugendlichen also in der Interaktion und durch die Entwicklung gemeinsamer Praktiken, die sich je nach den lokalen Möglichkeiten unterscheiden konnten, aber in der Regel das Hören der neuesten Errungenschaften, das »talking metal« während des Abhängens, den Besuch von Plattenläden und Konzerten sowie die Informationsgewinnung durch Fanzines und Magazine umfassten.46 Die sozialen Kontakte waren dabei nicht stabil, sondern schälten sich langsam entlang von geteilten Geschmäckern heraus, aus denen sich die Entscheidung für eine gemeinsame Band ergeben konnte. Viele Bands blicken daher auf regelrecht sozial synchronisierte »becoming-a-fan«-Narrative zurück und wiesen darüber hinaus nur sehr selten interne Altersunterschiede auf.47 Die durchschnittliche Metal-Band der »langen 1980er Jahre« bildete sich demnach nicht aus fertig geformten musikalischen Vorlieben, sondern aus Fans in der gemeinsamen Stilfindung. Eine eklektische Ausrichtung gehörte deshalb auch zu den Kernmerkmalen junger Bands, die über Cover der Vorbilder und durch eine Orientierung am aktuellen Stand der Transgression versuchten, ein Alleinstellungsmerkmal zu entwickeln. In vielen später sehr erfolgreichen Metal-Bands fand dabei eine gegenseitige Beeinflussung von Jugendlichen statt, die vor ihrem Kennenlernen unterschiedlichen Musikstilen gefolgt waren. Dies trifft auf Metallica, wo Ulrich ein NWOBHM-Fan und Hetfield eher ein Punk-Hörer war, genauso zu wie auf Slayer, wo sich Kerry King und Jeff Hanneman dasselbe Spektrum teilten.48 Auch in Florida spielte diese Verbindung aus NWOBHM und Punk eine wichtige Rolle: Rick Rozz und Kam Lee gründeten Massacre,
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In den USA vor allem während der High School: Vgl. Bret Stevens, Morbid Angel. Interview with Mike Browning, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.d e/interview/morbid-angel-2-2/ (letzter Aufruf 02.02.2022); Vgl. Laurent Ramadier, Terrorizer. Interview with Pete Sandoval, in: ebd., URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/terr orizer/ (letzter Aufruf 02.02.2022). Vgl. Ramirez, Rob Yench, in: No Echo 2014; Für Henry Veggian vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 61; Vgl. Interview John McEntee, 03.35-03.43 Min.; Vgl. Clinton/Wallach, Talking Metal, S. 42f. Metal-Musiker halten es daher i.d.R. für erwähnenswert und wichtig, dass eines der Band-Mitglieder älter oder jünger als die Anderen war und sich damit implizit andere Perspektiven ergaben. Vgl. Nick Ruskell, Ihsahn: »A Black Metal Artist Allowing Someone To Tell Them What To Do? Nobody Wants That…«, in: Kerrang Magazine 2020, URL: https://www.kerrang.com/features/ih sahn-a-black-metal-artist-allowing-someone-to-tell-them-what-to-do-nobody-wants-that/ (letzter Aufruf 02.02.2022). Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 59f.; Vgl. D.X. Ferris, Slayer 66 2/3, S. 11–13.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
nachdem sie sich im Kunstunterricht getroffen hatten (Lee zeichnete gerade Iron Maidens Maskottchen Eddie) und die bis dahin getrennten Einflüsse aus Motörhead und Anvil mit den Punk-Einflüssen des Anderen verknüpft wurden. Den Ausschlag in Richtung einer Transgression gaben auch hier Venom, die perfekt verstanden hatten, dass sich Jugendliche ihre Platten anhand des Plattencovers aussuchten und mit den Alben »Welcome to Hell« und »Black Metal« zu Blaupausen der Metal-Kultur in Europa und Nordamerika aufstiegen.49 In dieser Absorptionsphase der jungen Bands konnten es zwar auch einzelne Konzerterfahrungen oder der Einfluss eines bestimmten Musikers sein,50 doch meist war es schließlich eine einzelne Veröffentlichung, die die interne Frage der Stilistik schlagartig beendete und als Grundlage der weiteren Bandentwicklung anerkannt wurde. Für Executioner/Obituary war dies zum Beispiel das Album »Morbid Tales« von Celtic Frost (1984), Morbid Angel hoben »Scum« von Napalm Death hervor (1985) und für Mantas/Death spielte »Seven Churches« von Possessed (1985) für diesen Schritt die zentrale Rolle.51 Ross Dolan, der ebenfalls Possessed hervorhebt, beschreibt sowohl das Drei-Stufen-Modell als auch den situativen Verbindungsmoment aus »becoming-a-fan« und »becoming-a-band« geradezu prototypisch für seinen Weg zu Immolation: Ever since I was a child, I always had a great passion for music. Regardless of whether I was listening to early classic rock or movie soundtracks, I was obsessed in absorbing every bit of music I could get my hands on. My musical journey was like so many others, starting with classic heavy metal like Iron Maiden and Judas Priest, then getting into the earlier thrash bands, and then eventually discovering heavier and more extreme music. At that time in the mid 1980s, I was already into a lot of the bands that inspired so many others like ourselves such as Slayer, Destruction, Mercyful Fate, Sodom, Kreator etc. But I would say it was Possessed’s Seven Churches that really put it all into perspective for me and pointed us down the path we ultimately chose musically. This was the music I was searching for, and it was something you felt, something that touched you deep within. It was angry, dark, evil, haunting, heavy and extreme. It was unlike anything that had come before, and although it evolved out of the same bands we were all more or less listening to, it took on a life of its own and became its own thing.52 Die wachsende Bedeutung der globalen Kommunikation durch das Tape Trading-Netzwerk und die Etablierung spezialisierter Magazine und Fanzines führten jedoch dazu, dass sich die individuelle Hör-Biografie von persönlichen Kontakten entkoppeln konnte 49
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Vgl. Infamous Butcher, Interview with Kam Lee; Großen Einfluss erlangten Venom – auch durch ihre Konzerte an der US-Ostküste – auf Bands wie Metallica und Anthrax, in Deutschland etwa auf Sodom und in Norwegen schließlich als imaginierte Blaupause für den norwegischen Black Metal. Vgl. Alex Websters (Cannibal Corpse) Aussagen zu seinem ersten Voivod-Konzert: Netherton, Extremity Retained, S. 88f.; Vgl. auch Websters Nacheiferung des Bassspiels Dan Lilkers: Hofer, Perpetual Conversions, S. 36. Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 60, 76, 80. Frasier, Possessed since dawn.
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und sich auch Bandgründungen nicht mehr als allmähliche Synchronisierung von FanNarrativen manifestieren mussten. Die Metal-Kultur erreichte nun auch abgelegene und ländliche Regionen und ermöglichte Entdeckungen der Musik und Involvierungen in die Szene, die gänzlich ohne persönliche Beziehungen abliefen. Beispiele finden sich dafür besonders in Norwegen, wo Jon Kristiansen zum Beispiel angab: In Norwegen passierte um diese Zeit herum gar nichts. Ich entdeckte diese Musik ganz für mich allein, ohne den Einfluß anderer. Niemand wußte, daß ich an dieser Musik interessiert war. Es dauerte einige Jahre, bis ich Leute traf, die genauso viel Interesse an dieser Musik hatten wie ich.53 Auch Gylve »Fenriz« Nagell, der 1981 als Zehnjähriger Black Sabbath entdeckte und fünf Jahre später die Band Darkthrone gründete, versorgte sich in der Zwischenzeit musikalisch selbst und wurde in seiner Hör-Biografie nicht durch eine lokale peer-group in bestimmte Bahnen, d.h. Subgenres gelenkt. Die erste Besetzung der Band entpuppte sich auch deshalb nur als vorübergehende Lösung, bis er mit Ted Skjellum 1988 einen kompatiblen Partner fand, sie die Band allein weiterführten und die Synchronisation ihrer individuellen Narrative 1992 unter Beweis stellten, indem sie den wohl radikalsten musikalischen Bruch in der Geschichte des Extreme Metals vollzogen.54
Abb. 30: Asynchrone Narrative: Die Death Metal-Band Thou Shalt Suffer, aus der nur zwei Mitglieder 1991 die Black Metal-Band Emperor gründeten.
URL: http://darkwindss.blogspot.com/2013/02/thou-shalt-suffer.html (letzter Aufruf 02.02.2022).
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Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 52. Vgl. Patterson, Black Metal, S. 253–264; Vgl. Reyes, Blacker than Death; Vgl. Swiniartzki, SzeneEliten, S. 450–453.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Zusammenfassend ist das Verhältnis aus individuellen »becoming-a-fan«-Narrativen und der gemeinsam verhandelten »becoming-a-band«-Erzählung deshalb so wichtig, weil darin das Künstler-Individuum versucht, seine musikalische Kontinuität und Identität mit jener des Band-Kollektivs zu vereinbaren. Wo dieser Spagat gelang, hatten im Vorfeld häufig ein gemeinsames Kennenlernen der Musik, das Erlernen der Instrumente sowie das Eruieren einer gemeinsamen stilistischen Nische für eine Verständigungsgrundlage und Planungssicherheit gesorgt, sodass eine musikalische Kooperation stabil funktionieren konnte. Geteilte »becoming-a-fan«-Erfahrungen und das Wissen um den Stand des Narrativs der jeweils Anderen bildeten gute Grundvoraussetzungen für Metal-Bands. Wo sich diese individuellen Erzählungen zu weit voneinander entfernten, endeten Bands dagegen schnell oder gingen mit jenem Teil, der kompatible Selbstverortungen aufwies, in anderen Bands auf. Rob Yench beschreibt diesen Vorgang für die Vorgeschichte seiner Band Morpheus als Bruch im Sozialisationsverhalten aufgrund unvereinbarer Hörgewohnheiten: I wanted to play death metal. Of course, many of my friends would make fun of it, but a few started to pick up on it, too. I started hanging out with those people more and more, and less with my friends that liked thrash. It wasn’t long after that I quit the band I was in and formed a band with other guys that shared the same desire I had to play death metal. In October of 1990, we formed Morpheus.55 Wie in diesem Fall auch, handelte es sich bei Brucherfahrungen im Band-Gefüge um eine Form der Verhandlung von musikalischem oder ästhetischem Wandel, die sich meistens im Übergang zwischen Sub-Genres artikulierte. War es bei Yench der Wechsel von Thrash zu Death Metal, trat dieses Phänomen auch oft beim Wechsel von Death zu Black Metal auf. Das erste Lineup von Incantation endete beispielsweise 1990, weil John McEntee mit den Ideen seines Bandkollegen Paul Ledney nicht einverstanden war, die Black Metal-Ästhetik freier Oberkörper und geschminkter Gesichter auf Fotos zu bedienen. Ledney verließ mit den übrigen Mitgliedern die Band und gründete Profanatica.56
4.2 Kennenlernen und Formation von Bands Für den ersten und oft auch bereits entscheidenden Kontakt zwischen späteren BandMitgliedern existierten viele verschiedene Möglichkeiten, wobei die Schule und die Nachbarschaft am häufigsten anzutreffen waren – gefolgt von Partys, Treffen über gemeinsame Freunde und Verwandtschaften. Mit der Verselbständigung der MetalKultur bzw. einzelner Sub-Genres in bestimmten Räumen kamen Plattenläden und Konzerte als wichtige Kontakträume hinzu. Die Bekanntschaften ergaben sich dabei meist sehr unkompliziert und schnell anhand der Kleidung und ihren Erkennungszeichen wie Westen, Shirts, Patches, aber auch den langen Haaren. Der Gesprächsstoff war umgehend vorhanden und in einer öffentlichen Umgebung, in der in den frühen 1980er
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Ramirez, Rob Yench, in: No Echo 2014. Vgl. Interview John McEntee, 38.22-45.01 Min.
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Jahren kaum Metalheads anzutreffen waren, entwickelte sich rasch eine Gesprächsatmosphäre »von-gleich-zu-gleich.« Die offene Zurschaustellung der Fan-Zugehörigkeit machte es dabei relativ einfach, den Gegenüber auf Kompatibilität zu prüfen: 1985 traf Nick Bullen, Gründer von Napalm Death, den 14-jährigen Justin Broadrick auf dem »Rag Market« von Birmingham, einer Markthalle für gebrauchte Kleidung, in der auch Bootleg Tapes verkauft wurden. Nach einer kurzen Unterhaltung über den Geschmack des Anderen beschloss man, Napalm Death gemeinsam weiterzuführen und dafür eine Mischung der neuesten Entdeckungen, der Hardcore-Punk-Band Siege aus Boston und der Metal-Band Celtic Frost aus der Schweiz, anzupeilen.57 Eine solch umgehende persönliche Verständigung im »melting pot« der extremen Musik der 1980er Jahre erlebte auch Shane McLachlan, der ein Shirt der Punk-Band Discharge trug und über ein Shirt der Death Metal-Band Death mit dem zukünftigen Drummer ihrer Band Phobia ins Gespräch kam: ›Hey, man, you like death metal?!‹ ›Yeah man!‹ So we started talking and it was on. It was hard to find other people into extreme stuff, so you made it work out. When you found someone, it was a tight bond; the passion and the integrity was unrivaled. There was no drama; it was more like everyone appreciated being at the party, and appreciated creating our own scene.58 Beide Beispiele machen zwei allgemeine Tendenzen deutlich, denn zum einen gestaltete sich ein erstes Kennenlernen späterer Band-Kollegen seit den frühen 1980er Jahren oft an der Schnittstelle von Metal-Musik und (Hardcore) Punk-Musik und spricht für eine konstante stilistische Offenheit der Musiker. Zum anderen handelte es sich in den Frühphasen von regionalen Szenen oft um seltene Möglichkeiten der Vergemeinschaftung über den kleinen Bekanntenkreis hinaus, die es festzuhalten und zu pflegen galt. Als Ihsahn, der spätere Sänger von Emperor, auf dem Blues Festival der norwegischen Stadt Notodden 1989 auf seinen späteren Gitarristen Samoth traf und sich beide aufgrund von Iron Maiden-Patches und langen Haaren erkannten, war dies für beide kein üblicher Kontakt eines weiteren Heavy Metal-Fans, sondern die womöglich einzige Chance, eine Bandgründung zu realisieren.59 Selbst in Städten mit einigen Punk-und Metal-Bands war in den 1980er Jahren ein rasches Auftreiben der fehlenden Band-Mitglieder nicht selbstverständlich, weil das regionale Reservoir überschaubar war. Alex Bouks, der in Philadelphia die Band Infamy gegründet hatte, trank um 1987 mit Freunden in der Nachbarschaft Bier und bemerkte den vorbeilaufenden Chris Gamble aufgrund seines Celtic FrostShirts. Bouks trug ein Destruction-Shirt und beide kamen ins Gespräch, bei dem nicht nur die Grundlage für eine jahrzehntelange Zusammenarbeit in der Band Goreaphobia gelegt wurde, sondern sich auch herausstellte, dass Gamble der Bruder des Drummers von Bouks Band war.60 Metalheads mit Interesse am Extreme Metal waren – das wird auch hier deutlich – eine regional kleine und nicht nur musikalisch verknüpfte Gruppe.
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Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 27. Netherton, Extremity Retained, S. 94. Vgl. Ruskell, Ihsahn: A Black Metal Artist. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 144f.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Durch die Verstetigung dieser Kontakte, durch gemeinsames Hören und Tauschen und durch die gegenseitige Beeinflussung durch die individuellen Fan-Biografien konnten sich gemeinsame Leitlinien entwickeln, entlang derer sich der Stil einer Band ausrichten ließ. Vollständige Synchronisierung erlangte dabei wie gesagt keine junge Band – es dürfte sich aufgrund des Musiker-Mangels wohl eher um die Festlegung eines kleinsten gemeinsamen Nenners gehandelt haben. Für die Jugendlichen hatte die Aufrechterhaltung der Kontakte dennoch enorme Vorteile: Die kostenlose Erweiterung des musikalischen Spektrums durch die Tapes der Anderen, die eine NWOBHM-Band wie Mythra bereits so organisierte, dass kein Album doppelt erworben wurde,61 war dabei genauso wichtig wie die Ermöglichung des Probens. Weil diese Beziehungen deshalb als besonders bedeutend empfunden wurden, fiel in die Formationsphase von Metal-Bands eine Homogenisierung der Freundeskreise. Als Robert Walser und Deena Weinstein in den frühen 1990er Jahren ihre ersten Bücher zur Metal-Kultur schrieben, erkannten sie bereits, dass jeder ihrer jugendlichen Gesprächspartner über einen fast ausschließlich heavy-metal-orientierten Freundeskreis verfügte und beschrieben einen zentralen Vorgang der Sozialisation eines Metal-Fans.62 Bekannte oder Freunde wurden dabei zugunsten von Metalheads zurückgedrängt und das soziale Leben wechselte die Bezugspunkte – was für eine Band, die über den Fan-Status hinaus auch eine Arbeitseinheit war, als noch einschneidender empfunden wurde. Brian Tatler umschrieb diesen konstanten Verdrängungsprozess: »I probably had normal friends, left over from school, things like that. But once you’re in a band, you do keep yourself quite tight. That becomes your gang, your clique.«63 Auch Tom Noble sprach hinsichtlich der Tygers of Pan Tang von einer »gang«, die neben den Musikern, den Roadies und ihm als Manager auch aus den Freundinnen bestand. Die erweiterte Produktionseinheit der Band wurde hier zu einer regelrechten Existenzform stilisiert, die – und das bestätigen auch viele andere Akteure64 – während der NWOBHM anders als in den späteren Szenen einen Kontakt mit anderen Bands meistens ausschloss: That was a whole line of people, and that was our gang. That’s how we existed. In a pub on a Friday night, it was our gang. We never went out with other bands, we never talked to other bands, and if we actually played with other bands, that usually led to bad feelings (both laugh).65 Die Verdrängung alter Kontakte im Zuge der Vereinnahmung durch den Lebensstil dominierte schließlich viele Lebensbereiche und die Band wurde zum gemeinsamen Kontinuum einer sich rasch wandelnden Biografie. Aus der Sicht von Sabina Classen »drehte sich [das Leben] eigentlich komplett um Holy Moses«: Sie heiratete den Gitarristen der 61 62 63 64
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Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 03.35-03.50 Min. Vgl. Walser, Running with the Devil, S. 18; Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 94–105. Interview Brian Tatler, 08.52-09.00 Min. Vgl. Interview Brian Tatler, 27.55-28.06 Min.: »We knew a couple of bands, but there was no tape trading and as I say, we were pretty much kept ourselves to ourselves, we were weary of the competition.«; Vgl. Interview Gary Pepperd Spur 1, Spur 6; Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 87.46-89.21 Min. Interview Robb Weir/Tom Noble, 13.11-13.48 Min.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Band Andy Classen 1983 nach eigener Angabe so früh, damit er weder zur Bundeswehr noch zum Zivildienst eingezogen wurde. Auf diese Weise konnte er seine langen Haare behalten und seine Freizeit der Band widmen. Den Drummer der Band lernten beide in der Informatik-Vorlesung während des Studiums kennen. Die Band Holy Moses begleitete ihre Mitglieder durch die Abiturzeit und das Studium, bestimmte die Gäste in der gemeinsamen Wohnung und spielte sogar auf der Hochzeit des Paares.66 In den frühen 1980er Jahren handelte es sich bei den Community-Strukturen, die sich rund um die Bands entwickelten, noch um kleine Gruppen in einer regionalen Vernetzung und die Bands benötigten von vornherein oder durch das Ausscheiden einzelner Mitglieder häufig Personal, das vor Ort nicht zu bekommen bzw. noch nicht gefunden worden war. Nur wenige Bands entstanden komplett aus existenten Freundeskreisen.67 Aus diesem Grund entwickelte sich das Inserat in einer lokalen Tageszeitung oder einer Musikzeitschrift während der Dekade zu einer häufig gewählten Methode zur Gewinnung neuer Musiker. So inserierten etwa Steve Harris oder die Band Saxon im Melody Maker oder Gary Pepperd im Bristol Evening Post.68 Auch die Death Metal-Bands ab der Mitte der 1980er Jahre wählten teilweise noch diesen Weg, konnten dabei aber viel stärker auf spezialisierte Periodika und die Verteiler-Funktion der lokalen Plattenläden zurückgreifen.69 Das wohl bekannteste dieser Inserate schaltete Lars Ulrich 1981 im Recycler auf der Suche nach Mitmusikern für seine Band Metallica.70 Das Inserat in zunehmend global-vertriebenen Magazinen und Fanzines ist ein wichtiges Beispiel für die wachsende Vernetzung der Metal-Szenen über regionale Grenzen hinaus und wurde in seiner Vermittlungsfunktion ein Bestandteil eines informellen Arbeitsmarktes für Musiker, der durch zirkulierendes Wissen über den aktuellen Stand bestimmter Bands funktionierte und an dessen Entstehung sich neben den Tape Tradern und Fanzine-Autoren auch die Indie Labels, Magazine und Radio-DJs beteiligten. Nicht immer waren dabei globale Kanäle entscheidend und oft reichte die Telefonnummer eines anderen Bandleaders in derselben Stadt aus, um das Angebot zu erfragen.71 Doch im Laufe der Dekade ermöglichte es das Informationsnetzwerk über 66 67
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Vgl. Interview Sabina Classen, 42.06-44.14 Min. So etwa Dark Tranquillity in Göteborg aus Nachbarschaftsverhältnissen der oberen Mittelklasse. Vgl. Stefan Löns, Witchcraft Magazine 1 (1993), S. 35; Vgl. auch den Gründungsprozess bei Nunslaughter in Pittsburgh: McClelland, Deathvomit, S. 108–110. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 51; Vgl. Wall, Run to the Hills, S. 48, 118; Vgl. Interview Gary Pepperd, Spur 3. Vgl. Chris Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer, in: Metalcore Fanzine; zur Rolle der Plattenläden in diesem Prozess, etwa für schwedische Bands wie Morbid oder Entombed vgl. Kap. 6. Vgl. Wall, Enter Night, S. 26. Etwa als Kevin Riddles einen Sänger für seine Band Tytan suchte und Paul Samson anrief: »I was very lucky to find Kal Swan, who just had something about him. And I got him, because Bruce Dickinson had left Samson to join Iron Maiden, and Paul Samson was auditioning singers at the same time I was looking for a singer. So, I rang Paul and I said – he just got Nicky Moore in the band, fantastic voice – and I said ›Did you see anybody, who is not right for you but has a really good voice?‹ And he said ›No, they were all shit. There was this one guy though, […] when I asked him to send me a tape, he sent me a brand spanking new TDK C90 cassette unopen, still wrapped up and I thought ›He’s either that good or that stupid, but he came from up north, I think he was a northerner.‹ So, that was Kal.« Interview Kevin Riddles, 67.10-67.59 Min.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
internationale Mund-zu-Mund-Propaganda, dass Musiker von vakanten Positionen in angesehenen Bands erfuhren und ihren Lebensmittelpunkt in andere Städte, Länder und sogar Kontinente verlagerten. Trey Azagtoth gelangte auf diese Weise an die Telefonnummer von Pete Sandoval und überredete diesen, für den Anschluss an Morbid Angel von Los Angeles nach Florida zu ziehen.72 Napalm Death rekrutierten Jesse Pintado aus Los Angeles und Mitch Harris aus Las Vegas, die beide nach Birmingham zogen, und Mayhem verpflichteten Per Ohlin aus Stockholm, der nach Norwegen zog ohne des Norwegischen mächtig zu sein.73 Michael Amott verließ Växjö in Südschweden und wurde Gitarrist bei Carcass in Liverpool,74 während Chuck Schuldiner in San Francisco und Toronto nach Mitgliedern für seine Band Death suchte, um dann wieder nach Hause in die Nähe von Orlando zu ziehen.75 Der regelrechte Exodus von Musikern aus dem »rust belt« nach Florida kam bereits in Kapitel 3 zur Sprache. Die Formation von MetalBands wurde also zunehmend zu einer internationalen Angelegenheit, die über Migrationsbewegungen organisiert wurde – auch wenn der durchschnittliche Ortswechsel der Musiker eher geringere Entfernungen umfasste.76 Für den Erfolg eines Inserates oder einer informelleren Suche über die Fanzine-Kanäle war es wichtig, auf die Reputation der eigenen Band, aber auch auf regionale SzeneStrukturen verweisen zu können. Während Bands wie Morbid Angel in Florida oder Napalm Death in Birmingham in dieser Hinsicht keinerlei Schwierigkeiten hatten, bemühte sich Thomas »Quorthon« Forsberg lange vergeblich um einen Schlagzeuger. Obgleich er mit seiner Band Bathory zu den unbestrittenen Pionieren des Extreme Metals gehörte und jedem Metalhead ein Begriff war, entwickelte sein Standort in Stockholm 1986 noch keine Anziehungskräfte. Carsten Nielsen von der dänischen Band Artillery sagte genauso ab wie Christian »Witchhunter« Dudek von Sodom aus Gelsenkirchen, der aber wenigstens für Proben nach Schweden kam.77 In einem Interview rekapitulierte Forsberg 1993 lapidar: »Ich hätte eben an einem anderen Ort wie San Francisco oder London geboren werden sollen, wo es mir leichter gefallen wäre, eine solche Band zusammenzusetzen.«78 Offenbar mussten das Umfeld und die Arbeitsbedingungen auch in einem derart informellen Arbeitsmarkt für Kreative passen, damit ein Stellenangebot Erfolg hatte. Wer in dieser Gemengelage bereits in einer Region mit einer Metal-Szene lebte und musizierte, war nicht gezwungen, die Heimat zu verlassen. So kann eine Band wie Autopsy seit 35 Jahren in San Francisco bestehen, weil es dem Band-Gründer Chris Reifert möglich war, das attraktive Angebot Chuck Schuldiners, bei Death in Florida fest einzusteigen (1987), abzulehnen. Reifert war es in Florida schlicht zu feucht.79 72 73 74 75 76
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Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 77. Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 245f. Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 150f. Vgl. ebd., S. 60–88. Beispiele für kürzere Entfernungen sind Bill Steer, der aus Wirral (nahe Liverpool) nach Birmingham zu Napalm Death zog, genauso wie Shane Embury, der dafür aus Broseley in den Midlands wegzog. Metallica zogen 1982 von Los Angeles nach San Francisco und Grave von Gotland nach Stockholm. Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 46. Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 35. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 466.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Für eine Band, die ein weiteres Mitglied benötigte, existierte ein Rekrutierungsweg vor dem Inserat, bei dem die Band bereits einen Musiker ins Auge gefasst hatte und es auf die Überzeugungsarbeit ankam (so auch geschehen bei Metallica oder Exodus80 ), und ein Rekrutierungsweg nach dem Inserat, bei dem sogenannte Auditions veranstaltet wurden. Als metal-kulturelle »Bewerbungsgespräche« wurde bei diesen Veranstaltungen geprüft, ob der Bewerber einerseits musikalisch und andererseits persönlich zur Band passte, was neben gemeinsamem Proben auch Gespräche beinhaltete. Für ausgedehnte Auditions waren vor allem Bands bekannt, die in längerfristigen Verträgen mit Plattenfirmen gebunden waren – etwa Iron Maiden, Saxon oder Motörhead81 –, und die um 1980 große Erfolge feierten. Denn mit der Zunahme der globalen Szene-Kommunikation und ihrer regionalen Verdichtung seit den frühen 1980er Jahren wurden Auditions immer seltener nötig. Die Information über die Kompatibilität eines Musikers musste nicht erst gewonnen werden, denn im Idealfall war dieser bereits mit einer lokalen Band im Tape Trading hervorgetreten. Shane Emburys Einschätzung der Mitgliedergewinnung bei Napalm Death verdeutlichte diesen Wandel 1993: How people come into Napalm, it’s all through a friend, sort of basis. There’s no great auditioning or anything stupid like that. It’s like, you just come in through friends. You’re usually selected straight away.82 Die Historisierung der Rekrutierung und Formation von Bands erlaubt daher eine spannende Perspektive auf die transnationale Verbreitung und regionale Verdichtung der Metal-Kultur in den 1980er Jahren. Überdies verdeutlicht sie auch die wachsende jugendkulturelle Emanzipation des Heavy Metal von seinen zahlreichen Vorgängern. Denn während mit Geezer Butler und Ozzy Osbourne noch ein Hippie und ein Skinhead an der Gründung von Black Sabbath beteiligt waren und auch bei Iron Maiden ein Ex-Skinhead und ein Punk zusammentrafen,83 wurden die jugendkulturellen Gegensätze geringer, beschränkten sich in den frühen 1980er Jahren auf Punk und Metal und gingen schließlich langsam vollständig in »metallische« Einflüsse auf neue Bands über. Als sich die Band Maelstrom 1988 in Long Island gründete, trafen Hör-Biografien aus amerikanischem Thrash und Speed Metal auf solche aus europäischem Thrash, doch man fand mit Slayer umgehend einen gemeinsamen Nenner.84 Und als sich Derketa im
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Auf diese Weise rekrutierten beispielsweise Metallica Cliff Burton oder Exodus gewannen Steve Souza. Vgl. Listen to Bruce Dickinson’s Iron Maiden Audition Tape From 1981, in: Kerrang Online, 14.04.2019, URL: https://www.kerrang.com/listen-to-bruce-dickinsons-iron-maiden-audition -tape-from-1981 (letzter Aufruf 04.02.2022); Vgl. Guitarist Phil Campbell On MOTÖRHEAD Audition – »You Need To Learn 18 Songs By Friday«, in: bravewords, 17.03.2012, URL: https://brav ewords.com/news/guitarist-phil-campbell-on-motorhead-audition-you-need-to-learn-18-songs -by-friday (letzter Aufruf 04.02.2022). Richard Johnson, Disposable Underground 1 (1992) 2. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 30; Vgl. Wall, Run to the Hills, S. 56f., 132. »I learned some of the songs they wanted to do and they learned some of mine. They had a little more American thrash/speed tastes – Overkill, Testament, Flotsam and I had a little more European likes – Kreator, Destruction, Celtic Frost. But we ALL agreed on SLAYER!« Chris Forbes, Mael-
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
selben Jahr in Pittsburgh formierten, war die drängendste Frage zwischen den Gründerinnen, ob der Gesang nach Kam Lee oder nach dem Sänger der Band Fates Warning klingen solle.85 Stilistische Kompromisse dieser Art sollen hier keinesfalls unterschätzt werden und selbstverständlich stand die Entwicklung einer Band nach der Gründung musikalisch auch nicht still, doch in der schlaglichtartigen Betrachtung der ersten Bandzusammensetzung und ihrer Selbst-Narrative offenbarte sich ein eigenständiges Genre populärer Musik, das sich von den diffusen jugendkulturellen Anfängen in den 1960er und 1970er Jahren emanzipiert hatte.
4.3 Die Metal- Band als männliche Formation? Does it bother them that their success comes from the Motorhead association? Yeah, we do feel a little resentful about it. We were slogging away doing exactly the same thing for two years before anyone took any notice… We’re sort of fashionable now.86 Enid Williams (Girlschool), 1981 im NME-Interview mit Paul Morley In other respects, things haven’t changed that much. To give you an example, a few years back, we wanted to play a festival in Scandinavia that, in the past, we had gone down very well at. The manager we had at the time was also managing another all-female band who were booked to play the same festival. The organizers turned around and said to him, about us, ›Oh, no, we’ve already got our female band.‹ And that’s in Scandinavia where half the government are women and it’s generally pretty good for gender equality!87 Enid Williams (Girlschool), 2016 Hat sich an der Repräsentation von Frauen im Heavy Metal-Genre in den vergangenen 40 Jahren etwas geändert? Und wenn ja, was? Wie ist die geringe Anzahl der Musikerinnen zu erklären, während der Frauenanteil an den Fans für alle sichtbar deutlich gestiegen ist? Warum schlug sich die deutliche weibliche Dominanz beim jugendlichen Instrumentalspiel nicht in diesem Genre nieder?88 Wieso macht es immer noch einen Unterschied, ob im Metal ein Mann oder eine Frau auf der Bühne steht? Diese Fragen bilden den Gegenstand der hitzigsten Debatten innerhalb der »Metal Music Studies«
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strom. Interview with Gary Vosganian, in: Metalcore Fanzine, URL: https://www.metalcorefanzin e.com/maelstrom.html (letzter Aufruf 02.02.2022). Vgl. Aleks, An NCS interview: Derkéta (Sharon Bascovsky), in: No Clean Singing 2018, URL: h ttps://www.nocleansinging.com/2018/07/17/an-ncs-interview-derketa-sharon-bascovsky/ (letzter Aufruf 02.02.2022) Paul Morley, Black Leather at St. Trinians, in: New Musical Express, 02.05.1981, S. 14f., 45. Stewart-Panko, Girlschool Interview. Vgl. Walter Scheuer, Die Einstellung Jugendlicher zum Instrumentalspiel. Eine empirische Untersuchung in einer norddeutschen Großstadt, Mainz 1988, S. 280f. Demnach spielten um 1986 etwa doppelt so viele Mädchen im Schulalter ein Instrument wie Jungen und ihr Anteil war in den höheren Schulformen – aus denen sich das Genre zunehmend rekrutierte – auch deutlich höher als in den Hauptschulen.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
und haben von Beginn an zum Kern der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Genre gehört.89 Im Zentrum der Auseinandersetzung standen auch hier die Thesen Deena Weinsteins, die dem Genre eine »kulturelle Maskulinität« bescheinigte, die frei von biologistischen Zügen auch für Frauen funktioniere und als »empowerment« von Jugendlichen in der Thatcher-Ära zu verstehen sei, deren Männlichkeitsideale zunehmend erodierten. Heavy Metal sei nicht misogyn und die offensichtliche Wertschätzung von männlich codierten Charaktereigenschaften und Verhaltensmustern spiegele nicht die Akzeptanz von Geschlechterrollen oder sexuellen Orientierungen wider.90 Weinstein aktualisierte und historisierte ihre Thesen in der Folge, postulierte einen Zusammenhang zwischen der Schwächung einst hegemonialer gesellschaftlicher Genderrollen mit der »broken masculinity« der Metal-Kultur, die sie mit dem Bild von »beauty and the beast« in Band-Formationen erfüllt sah, und zog ein optimistisches Fazit für die Weiterentwicklung des Genres, das in einer post-gender-Phase angekommen sei.91 Seitens einiger »feminist academic scholars« wurde sie für diese Einschätzungen heftig kritisiert, wobei ihr (in einer Art und Weise, die deutlich über den Rand des Statthaften in der akademischen Debatte hinausging) vor allem vorgeworfen wurde, den immer noch gängigen Sexismus des Genres und die Bedeutung feministischer Theorie zu unterschlagen.92 Die Beteiligung von Frauen – so die These – sei nicht gleichbedeutend mit einem Wertewandel.93 Der dabei ins Feld geführte Diskriminierungsvorwurf bleibt – schaut man auf Zitate wie das obige oder die geringe Anzahl der Musikerinnen – in der Tat ein wichtiges Untersuchungsfeld und sollte keinesfalls relativiert werden. Andererseits eröffnet ein historisierender Blick auf die Entwicklung der Ungleichheit der Geschlechter im Genre einige Perspektiven, die der stark theoretischen und auch gegenwartsbezogenen Debatte leicht verborgen bleiben können.94 Es ist an dieser Stelle daher das Ziel, die Entwicklung und die Gründe für die schlechte weibliche Repräsentation in den Bands historisierend zu analysieren. Einige wichtige Aussagen dazu sind bereits getroffen worden: So entstand Heavy Metal seit den späten 1970er Jahren zunächst an durch und durch maskulin-geprägten 89
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So bereits bei Walser, Running with the Devil. Power, gender, and madness in heavy metal music (1993). Als wichtige Veröffentlichungen weiterhin: Vgl. Rosemary Lucy Hill, Gender, Metal and the Media. Women Fans and the Gendered Experience of Music, London 2016; Vgl. Pauwke Berkers/ Julian Schaap, Gender Inequality in Metal Music Production, Bingley 2018; Vgl. Florian Heesch/ Niall Scott (Hg.), Heavy metal, gender and sexuality. Interdisciplinary approaches, London/New York 2016. Vgl. Deena Weinstein, The Empowering Masculinity of British Heavy Metal, in: Gerd Bayer (Hg.), Heavy Metal Music in Britain, Farnham 2009, S. 17–31, hier S. 19–28. Vgl. Deena Weinstein, Playing with gender in the key of metal, in: Heesch/Scott (Hg.), Heavy metal, gender and sexuality, S. 11–25, hier S. 12–23. Vgl. Amanda Digioia/Lyndsay Helfrich, ›I’m sorry, but it’s true, you’re bringin‹ on the heartache‹: The antiquated methodology of Deena Weinstein, in: Metal Music Studies 4 (2018) 2, S. 365–374. »The success of these women is merely a crack in the façade of sexism. Women can participate in metal, and in every other aspect of life such as voting, but that does not mean that the values promoted by feminism are no longer needed.« Ebd., S. 371. Dieses Potential scheint zum Beispiel auf bei Simon Jones, Kerrang! magazine and the representation of heavy metal masculinities (1981–95), in: Metal Music Studies 4 (2018) 3, S. 459–480.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Orten voller patriarchalischer Gesten und testosteronbeladener Praktiken und leidet auch hinsichtlich der Repräsentation von Frauen unter dem Charakter einer durch die britische Arbeiterklasse inspirierten »imagined community.« Besonders vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Heavy Metal eine Anknüpfung an den Machismo der RockMusik darstellte, darf die große Bedeutung solch tradierter Gender-Perspektiven auf das Genre nicht unterschätzt werden.95 Für viele aufeinanderfolgende »Generationen« von weiblichen Teenagern dürfte durch Hörensagen, TV und gedruckte Periodika von vornherein klar gewesen sein, dass Heavy Metal als Männerdomäne galt, in der Frauen eine Ausnahme darstellten. Inwiefern solche Narrative durch Familie, peer-group, Schule und Medien tradiert wurden, wäre ein spannendes historisches Forschungsfeld, das – ähnlich wie bereits bestehende Forschung zu den Reaktionen der Eltern auf die popmusikalischen Vorlieben ihrer Kinder96 – dazu beitragen könnte, die wichtigsten Kommunikationskanäle, Strategien und Akte der Aufweichung wie Persistenz dieser Narrative zu beleuchten. Eine wichtige Frage ist es überdies, inwieweit dieses männliche Narrativ absichtlich und aus kommerziellen Interessen prolongiert wurde. Forschungen zu anderen Genres wie Country oder Queer Music haben gezeigt, dass die Musikindustrie ihre Produkte durch Werbung, Marktplatzierung und andere Strategien an eine möglichst eng umrissene soziale Klasse knüpfte und durch die Bestärkung des Bildes der Ungleichheit von einem »imagined other« profitierte.97 Man versuchte, Profit aus der Annahme zu schlagen, dass etwa Country gerade deswegen von der ruralen, weißen Arbeiterklasse gekauft werde, weil das Genre bei Schwarzen oder generell der Mittel-und Oberklasse durchfiel. Heavy Metal – so die vorsichtige These – könnte ebenfalls ein Feld solcher Praktiken gewesen sein, in diesem Fall der kommerziellen Maskulinisierung. Enid Williams jedenfalls legte eine solche Möglichkeit nahe: In terms of respect, we’ve always had enormous respect from the bands that we played with, they’ve always treated us really well and as equals and we’ve always been respected by audiences. It’s just been that within the business itself, you do get some people who see women as second-class citizens.98 Des Weiteren wurde bereits deutlich gemacht, dass die Voraussetzungen für Musikerinnen im Heavy Metal sowohl regional-wie zeitgebunden waren. An der Schnittstelle zum Punk und in einer Stadt wie London gestalteten sich die Einstiegsvoraussetzungen etwas besser als etwa in Nordengland oder im Ruhrgebiet. Generell spielte der Einfluss
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Vgl. Deena Weinstein, Rock’s Guitar Gods – Avatars of the Sixties, in: Archiv für Musikwissenschaft 70 (2013) 2, S. 139–154, hier S. 151f. Vgl. Gillian Mitchell, Adult responses to popular music and intergenerational relations in Britain, c.1955-1975, London 2019. Vgl. Travis D. Stimeling, »Lord Have Mercy on the Working Man«: Country Music, Respect(ability), and Social Class, in: Ian Peddie (Hg.), The Bloomsbury Handbook of Popular Music and Social Class, New York 2020, S. 369–386; Vgl. Kirsten Zemke, Music, Class, and Sexuality. Women’s Music, #20GAYTEEN, and Lesbian Hip-Hop: Shifting Voices of Class, Race, and Sexuality in WSW’s Popular Musics, in: ebd., S. 205–230. Stewart-Panko, Girlschool Interview.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
des Punks und später des Hardcore Punks eine enorme Rolle für die Entwicklung eines Selbstverständnisses als Musikerin und die Metal-Kultur dürfte den Umstand, dass sich weibliche Bands überhaupt formierten, der konstanten, aber regionalspezifischen Reibungsfläche mit der Punk-Kultur verdanken (vgl. Kap. 5).99 Enid Williams bezeichnete die »co-attitude« des Punks beispielsweise als die Grundvoraussetzung für die Entscheidung vieler weiblicher Teenager, Instrumente wie Gitarre oder Schlagzeug zu erlernen.100 Darüber hinaus habe die Punk-Welle mit einer sexualisierten Vermarktung von weiblichen Bands wie The Runaways gebrochen: Therefore, it became something women felt they could have a go at and that mindset became open to women. […] From ’75 to ’78, when Girlschool officially began and we hit the road, it became a completely different world in that short space of time.101 Diese emanzipierende Bedeutung des Punks spürte auch noch Sharon Bascovsky um 1990, die die »punk and crust guys« als von maskulinen Attitüden viel weniger beeinflusste Musiker bezeichnete, für die »gender and race« eine deutlich geringere Rolle spielten – während sie besonders die Transgression der Metal-Musik und ihren Wettlauf um »heaviness« als Ursache für patriarchale Verhaltensweisen der Musiker im Metal adressierte.102 Zwischen der Zunahme der Metal-Musikerinnen und den (Hardcore)-Punk-Szenen bestand in den 1980er Jahren daher auch ein regionaler Zusammenhang: Bereits die beiden ersten »all-female«-Metal-Bands Girlschool und Rock Goddess waren auf die PunkWelle in London zurückzuführen, Doro Pesch und Warlock stammten aus dem deutschen Punk-Epizentrum Düsseldorf, während bei Sabina Classen (Holy Moses) in Aachen kein regionaler, aber ein musikalischer Einfluss zu erkennen ist.103 Die rein weiblichen Death Metal-Bands der späteren 1980er und frühen 1990er Jahre entstanden sämtlich in Hotspots des Hardcore Punks: Derketa und Mythic in Pittsburgh, Demonomacy in Miami, Dracena in Göteborg – während dies bei den Musikerinnen in sonst männlichen Bands nicht anders war: Jo Bench (Bolt Thrower) in Birmingham, Mary Ciullo (Prime Evil) in New York, Lori Bravo (Nuclear Death) in Phoenix, Jill McEntee (Funerus) in New Jersey oder Kim August, die Derketas erstes Tape mit einspielte und das Ultimatum Zine herausgab, in New York.104 Bei Angela Gossow (Asmodina/später Arch Enemy) in Leverkusen und Corinne von
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Zum emanzipatorischen, hier körperlich verstandenen, Aspekt des Punks vgl. Bodo Mrozek, Punk, in: Netzwerk »Körper in den Kulturwissenschaften« (Hg.), What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2012, S. 191–196. Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 68. Stewart-Panko, Girlschool Interview. Vgl. Jim Kelly, DERKETA INTERVIEW: »WE’RE NOT GIRLY GIRLS«, in: Iron Fist Heavy Metal Magazine, 2012, URL: www.ironfistzine.com/2012/08/20/derketa-interview-were-not-girly-girls/ (letzter Aufruf 02.02.2022). Vgl. Interview Sabina Classen, 48.13-49.37 Min. Für Angaben zu den Band-Biografien sei grundsätzlich auf die »Encyclopaedia Metallum. The Metal Archives« verwiesen. URL: https://www.metal-archives.com/ (letzter Aufruf 02.02.2022).
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
den Brand (Acrostichon) in Tilburg ist dieser Zusammenhang dagegen nicht so offensichtlich.105
Abb. 31: Demonomacy im Miami Herald, 2. April 1993.106
Howard Cohen, Demonomacy: fast, furious, female, in: Miami Herald, 02.04.1993, S. 97.
Zwei Aspekte fallen dabei auf: Zum einen wurden Frauen in den »langen 1980er Jahren« vor allem im Extreme Metal zu Band-Mitgliedern oder gründeten Bands und zum anderen übernahmen sie in nur drei der dargestellten Fälle »nur« den Gesang. Beides steht in Widerspruch zu Forschungsergebnissen, die besonders den Extreme Metal als »boy’s club« interpretierten und die gegenwärtig zu beobachtende Dominanz des Gesangs als weiblichem Part zum Metal-Kernmerkmal des »beauty and the beast« erhoben.107 Eine Verteilung auf die Instrumente ist also genauso zu erkennen wie der deutliche Repräsentationsvorsprung im Extreme Metal gegenüber den »klassischen« Heavy Metal-sowie Glam Metal-Bands der 1980er Jahre. Der mit weiblichem Klargesang assoziierte Heavy Metal, der bis heute zu einer deutlichen Fokussierung auf die weibliche Stimme geführt hat und mit Bands wie Nightwish oder Within Temptation (beide ab 1996)
105 Vgl. ebd. 106 An den Shirts der schwedischen Band Grave und der österreichischen Band Pungent Stench wird der Death Metal-Stil unmissverständlich klargestellt. 107 Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 116; Dies., Playing with gender, S. 21.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
verbunden wird, hatte zwar in Doro Pesch durchaus ein historisches Vorbild, entsprach aber keineswegs der Metal-Musikerin vor der Mitte der 1990er Jahre.108 Die Gründung von Metal-Bands durch Musikerinnen wies keine lineare Chronologie auf. Während Thrash Metal (bis auf Sabina Classen) eine männliche Domäne blieb, entwickelten sich die vielen Spielarten des Death Metal seit den späten 1980er Jahren zum bevorzugten Sub-Genre der Musikerinnen. Der Black Metal wies schließlich ab circa 1992 wiederum keine weiblichen Bandmitglieder auf. Dafür auf ästhetische Ursachen hinzuweisen, ist problematisch: So könnte argumentiert werden, dass die hyperindividualistische Attitüde von unsicheren Teenagern im Black Metal gemeinsam mit den körperlichen Praktiken und der überzogenen Distinktionsstrategie junge Musikerinnen abschreckte – während der zunächst noch spandex-behoste Speed Metal der frühen 1980er Jahre im Thrash Metal eine Renaissance der trinkfesten und pöbelnden Männlichkeit der Arbeiterklasse imaginierte und junge Frauen dadurch abstieß. Für beide Perspektiven besteht ein Anfangsverdacht, jedoch keine mir bekannten Quellen. Auch würde dies die Gore-und Splatter-Lyrics vieler Death Metal-Bands verkennen, die sich zum Teil in Gewaltphantasien gegen Frauen ergingen und ebenso die Tatsache ausblenden, dass sich Thrash und Death Metal über einige Jahre in szene-spezifischen Mischungsverhältnissen artikulierten.109 Um sich den Bedingungen für den langfristigen, aber genre-spezifisch durchbrochenen Anstieg der Zahl der Musikerinnen zu nähern, sollte daher zunächst auf die Aussagen zur Formation von Bands verwiesen werden: Das Szene-Engagement als Fan, die Entdeckung neuer Musik und die szenische Kommunikation fanden als Teil der Sozialisation Jugendlicher etwa zwischen dem zehnten und achtzehnten Lebensjahr statt. Der wissenschaftliche Diskurs hat in dieser Hinsicht völlig zurecht darauf verwiesen, dass in dieser Lebensphase vorwiegend gender-homogene Bezugsgruppen bestanden und auch durch die Eltern eine genderspezifische Erziehung zum Alltag gehörte.110 Sharon Bascovsky und einige andere Musikerinnen brachten diesen Umstand zum Ausdruck, indem sie sich selbst in den 1980er Jahren als »tomboy« (jungenhaftes Mädchen/Wildfang) bezeichneten111 – die Gründung einer Metal-Band widersprach auch aus ihrer Sicht den gesellschaftlichen Rollenbildern. In den Gründungsregionen des Heavy Metals in den 1970er Jahren war dies erst Recht der Fall und Jungen wurde
108 Ein Überblick über die gegenwärtige weibliche Beteiligung in Metal-Bands verrät diese zeitliche Differenz: Vgl. URL: https://www.last.fm/de/tag/female+fronted+metal/artists (letzter Aufruf 02.02.2022). 109 Zu denken wäre hier an die Lyrics einer Band wie Cannibal Corpse, aber auch zahlreicher anderer Band im Death Metal Underground. Musikalisch gestaltete sich die Genese des Death Metals nicht abrupt, sondern als langsame Transgression des Thrash Metals über Mischungsverhältnisse, etwa bei der Band Possessed. Spätere Death Metal-Bands orientierten sich in ihren frühen Phasen, teilweise noch unter anderen Namen, zunächst an den Vorbildern des Thrash Metals. 110 Vgl. Deena Weinstein, Rock: Youth and its music, in: Jonathan S. Epstein (Hg.), Adolescents and their music. If it’s too loud, you’re too old, New York 1995, S. 3–23, hier S. 16f.; Vgl. Mary Ann Clawson, Masculinity and Skill Acquisition in the Adolescent Rock Band, in: Popular Music 18 (1999) 1, S. 99–114, hier S. 106–112. 111 Vgl. Bill Nocera, Derketa, Interview with Sharon Bascovsky; Vgl. für Schweden: Johanesson/ Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 288.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
deutlich häufiger als den Mädchen erlaubt, gesellschaftliche Grenzen auszutesten und einen öffentlichen Bewegungsradius zu entwickeln.112 Einer Erziehung zum »männlichen Macher« stand die ruhige Pflege der Häuslichkeit gegenüber, was männliche Jugendliche – so die These – eher dazu qualifizierte, die öffentliche Initiative einer Bandgründung zu ergreifen – noch dazu für eine Musik, die vollständig maskulin codiert war. Noch vor Kurzem hat Michael Ramirez die Auswirkungen der Geschlechtertrennung während der musikalischen Sozialisationsphase hinsichtlich des Indie Rocks auf die Phrase zugespitzt »Boys want to become their rock stars; girls want to marry them.«113 Während der Status eines Fans bei Jungen heißt, dem Vorbild nachzueifern und sich zu verbessern, bauen Mädchen – so Ramirez – einen Schrein und ersehnen eine romantische Beziehung mit dem Musiker. Es ist aus diesen Beobachtungen der Schluss gezogen worden, bei Metal-Bands handele es sich um inhärent maskuline Organisationen, die unter Rekurs auf bestimmte Vorbilder und kulturelle Codes der Bereitstellung und Zurschaustellung einer maskulinen Identität und Macht dienten.114 Mädchen und Frauen kommt in dieser Perspektive vor allem die Funktion der Freundin zu, die als »hübsches Anhängsel« ihres FanFreundes oder als vermännlichter Fan auftrat. Die Erzählungen über den Einstieg von jungen Frauen in Metal-Bands scheinen dies auch zunächst zu bestätigen: Jo Bench trat Bolt Thrower als langjährige Freundin des Gitarristen Gavin Ward bei115 und auch Sabina Classen kam als Freundin des Holy Moses-Gitarristen Andy Classen spontan und unvermittelt zu ihrem Posten in der Band: Dann hatten sie noch einen anderen Sänger und als sie sich dann von dem getrennt haben, weil ich halt sowieso immer im Proberaum mit dabei war, haben sie mich dann gefragt, ich soll singen. Ich hab gesagt »Ich kann nicht singen!« [lacht], und um das zu beweisen, hab ich einfach ins Mikro gebrüllt und der Bassist und Chef der Band damals hat gesagt »Genau das isses!« Und da war ich sehr verwirrt, weil ich ja erst gedacht hab, der macht einen Spaß und daraus hat sich das dann weiter entwickelt und da gabs dann auch überhaupt keine Vorlage, also auch für mich vom Gesang.116 Dass sie das Fehlen eines Orientierungspunktes für ihren Gesangsstil hervorhebt, stützt die Annahme, dass ein musikalisches Engagement von jungen Frauen aus Gründen einer tradierten Genre-Erzählung zunächst ausgeschlossen wurde und hebt gleichzeitig dessen konstruktivistischen Kern hervor. So bleibt die geringe Repräsentation von Musikerinnen im Metal unbestritten richtig, kann aber auch nicht verdecken, dass ihre Zahl seit den 1980er Jahren erheblich gestiegen ist. Die Pionierfunktion einzelner Musikerinnen
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Dies merkt auch Biff Byford für seine Kindheit in Yorkshire explizit an: Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 9; Vgl. Weinstein, Rock: Youth and its music, S. 16. Ramirez, Destined for Greatness. Passions, Dreams, and Aspirations in a College Music Town, New Brunswick 2018, S. 8. Vgl. Clawson, Masculinity and Skill Acquisition, S. 110. Vgl. Interview with Gavin Ward, in: Maelstrom. The Underground Music Magazine 8 (2002), URL: https://web.archive.org/web/20050510210948/www.maelstrom.nu/ezine/complete_iss8.ht m (letzter Aufruf 02.02.2022). Interview Sabina Classen, 04.11-05.22 Min.
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trug dabei zum Abbau narrativer Hürden genauso bei wie die langfristige Abschwächung patriarchalischer Erziehungsmethoden und Rollenbilder in der spätmodernen Familie der »westlichen« Gesellschaften.117 Angela Gossow, die als langjährige Sängerin von Arch Enemy erheblich an diesem Wandel partizipierte, verweist daher auch besonders auf die gestiegene Offenheit der Mädchen, die nicht vollständig von ihren Müttern aufgezogen wurden und sich auch nicht unter eine männliche Hegemonie stellen mussten.118 Deena Weinsteins optimistisches Fazit ist demnach teilweise verständlich, sollte jedoch nicht zu dem Schluss einer gender-egalitären Metal-Kultur verleiten. Solange es Printund Online-Medien sowie Fans für erwähnungswürdig erachten, dass eine »all-female«-Band wie Nervosa aus Brasilien das Cover des Decibel-Magazins ziert (Ausgabe 02/21), ist ein ausgewogener Idealzustand nicht erreicht119 – der aber vermutlich aufgrund der Widerstandsfähigkeit der »imagined community« und ihres kommerziellen Profits so schnell nicht eintreten wird. Hinsichtlich der szene-internen Verhandlung weiblicher Musiker fällt auf, dass die Metal-Band als männliche Organisation unzutreffend bezeichnet ist. Denn Bands wiesen viel eher den diskursiven und praktischen Hang zur Einheitlichkeit auf, der unter anderem dazu führte, dass die »homogene« Band in vielen Fällen den Vorrang vor »gemischten« Bands genoss. Auch dies kann auf Sozialisations-und Erziehungsregimes verweisen, genauso wie die gegenwärtige Tendenz zur Gender-Heterogenität die Abschleifung von Rollen-Konventionen andeutet. Die ersten Metal-Musikerinnen spielten jedenfalls in reinen Frauen-Bands, was laut Kim McAuliffe bei Girlschool daran lag, dass die männlichen Bekannten und sogar Verwandten eine Beteiligung an einer Band mit Frauen ablehnten.120 Auch Mary Ciullo (Prime Evil) berichtet von einer solchen Weigerung.121 Hatte sich die rein weibliche Besetzung jedoch gegenüber der Presse und den Fans etabliert, schlossen einige »all-female«-Bands die Besetzung vakanter Positionen durch Männer auch aus.122 Die Bands funktionierten nun unter umgedrehten Vorzeichen ebenso gender-homogen, die Musikerinnen tranken, hatten Freunde in der Crew und »male groupies«123 – wobei die Annäherungspraktiken der männlichen Fans 117
Zur gegenwärtigen deutschen Situation vgl. Sabine Böttcher, Nachholende Modernisierung im Westen: Der Wandel der Geschlechterrolle und des Familienbildes, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 15.10.2020, URL: https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-d er-deutschen-einheit/316321/geschlechterrollen-und-familienbild (letzter Aufruf 02.02.2022). 118 Vgl. Johanesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 229. 119 Vgl. Cover des Decibel Magazine, Ausgabe Februar 2021. 120 Vgl. INTERVIEW: Kim McAuliffe from GIRLSCHOOL: Lemmy, The Music Business, and that 1st Tour with Maiden, in: hearsheroars.com 2019, URL: https://www.hearsheroars.com/post/interview -kim-mcauliffe-from-girlschool-lemmy-the-music-business-and-that-1st-tour-with-maiden (letzter Aufruf 02.02.2022). 121 Vgl. Chris Forbes, Prime Evil. Interview with Mary Ciullo, in: Metalcore Fanzine. 122 »Once we established ourselves it would have been odd to have a bloke in – although we did a few gigs with my then boyfriend Nick Lashley when Kelly couldn’t make ›em and found that the girls down the front were quite appreciative!!« INTERVIEW: Kim McAuliffe from GIRLSCHOOL, in: hearsheroars.com. 123 Vgl. Popoff, This Means War, S. 49; Vgl. Reini, Girlschool: Enid Williams, in: stormbringer.at The Austrian Heavyzine 2015, URL: https://www.stormbringer.at/interviews/1813/girlschool-enid-will iams.html (letzter Aufruf 02.02.2022)
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
ungleich schüchterner ausfielen als jene der weiblichen.124 Als Derketa 1989 für die Aufnahme eines Demo Tapes und Konzerte ein weiteres Mitglied benötigten, vermittelten befreundete Musiker von sich aus nur Musikerinnen an die Band. Sharon Bascovsky resümierte diesen Prozess als »people were almost encouraging it to be all-female« bzw. »it was pushed to be all-female by friends«, während Don Crotsley von der befreundeten Band Nunslaughter den Sinn dieser Entscheidung sehr gut verstand und von »a gimmick without being a gimmick« sprach.125 Die bisher wichtigste Forschungsarbeit in diesem Feld von Berkers und Schaap ordnet solche Beispiele in eine Gender-Ambivalenz der Metal-Kultur ein, in der eine weibliche Beteiligung als »zweischneidiges Schwert« erscheint: Demnach führen Musikerinnen zwar häufig zu erhöhter Aufmerksamkeit und können bei musikalischem Können und authentischer Verhaltensweise sowohl kommerziell erfolgreich wie szeneintern angesehen sein. Andererseits werden Musikerinnen dagegen auch aufgrund ihres Geschlechts bewertet und unterliegen einer stärkeren Kontrolle, bei der implizit stets der Gender-Vorbehalt mitschwingt.126 Beide Perspektiven können sich durchaus langfristig die Waage halten, führen aber dennoch zu einer Ungleichbehandlung, die sich vor allem in empfundenen Probephasen niederschlug. Daraus ergibt sich eine innere Widersprüchlichkeit, die für jene, die aufgrund langer Zugehörigkeit außer Kritikverdacht stehen, Grenzen dahinschmelzen lässt, die für Newcomer unüberwindbar erscheinen und zu Rückzügen führen.127 Ähnlich wie bei Rob Halfords Coming Out, das in einer Szene, in der Homosexualität als so undenkbar erschien, dass sich heterosexuelle Sänger als Frauen kleideten und vor anderen Männern auftraten, erstaunlicherweise zu keinerlei Beschädigung des Images Halfords führte,128 verhält es sich auch mit der Verhandlung von Weiblichkeit im Metal: Sexismus ist dort, wo die »Metalness« außer Frage steht, plötzlich kein Thema mehr, trifft aber Frauen zu Beginn ihrer Karriere umso stärker. Keith Kahn-Harris, der diese Positionierung gegenüber Sexismus, Rassismus und Homophobie in der Metal-Kultur als »reflexive anti-reflexivity«129 bezeichnete, die mit »es wissen, aber entscheiden, es nicht wissen zu wollen« treffend übersetzt ist, lieferte damit die bisher überzeugendste Erklärung der bisweilen haarsträubenden Widersprüchlichkeit gegenüber Fragen der Politik, Hautfarbe oder Gender in der MetalKultur.
124 »Auch als wir anfingen, wir waren 20, 21 Jahre alt, unser männliches Publikum war damals jünger, sie stellten uns schon nach, aber sie waren viel zu schüchtern um sich uns zu nähern. Natürlich gab es auch in unserer Karriere Male-Groupies, aber es ist irgendwie anders als bei männlichen RockStars. Die bestimmten Vorteile hatten wir aber natürlich auch. Frauen schmeißen sich Männern, vor allem Rock-Stars, aber ganz anders zu Füßen, das passierte im Umkehrschluss bei uns nie in dieser Art und Weise.« Ebd. 125 Interview Sharon Bascovsky, 22.38-23.23 Min. 126 Vgl. Berkers/Schaap, Gender Inequality, S. 106. 127 Vgl. Keith Kahn-Harris, »Coming Out«. Realizing the possibilities of metal, in: Heesch/Scott (Hg.), Heavy metal, gender and sexuality, S. 26–38, hier S. 28–36. 128 Die implizite Verwunderung darüber spielt in Halfords Autobiografie, die durchzogen ist von der Angst entdeckt zu werden, eine permanente Rolle. Vgl. Halford, Confess, passim. 129 Vgl. Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 142–145.
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Die Aussagen der Musikerinnen weisen darauf hin, dass sie in diesem gender-selektiven Prüfungsprozess besonders von der Unterstützung arrivierter Bands profitierten. Girlschool, das zeigt auch das Eingangszitat aus dem NME von 1981, erlangten dabei vor allem durch ihre Tournee mit Motörhead eine anhaltende Aufmerksamkeit, auf der das Label Bronze Records aufbauen konnte. Julie Turner von Rock Goddess arbeitete für den Song »Women in the Frontline« sogar mit der Band Tytan von Kevin Riddles zusammen.130 Doch die Erringung von Aufmerksamkeit unterschied sich deutlich von jener der männlichen Kollegen: Waren diese aus der großen Vielfalt lokaler Rock-Bands als »Sieger« aus den Pubs und Working Men’s Clubs hervorgegangen, konnten Girlschool nicht auf den Rückhalt der »Basis« bauen, wurden durch ihre Weiblichkeit und die Assoziation mit Motörhead bekannt und vermarktet, und mussten sich die Anerkennung der Fans in einem langen und schweren Prozess erst verdienen. Kevin Riddles beschreibt die anfängliche Stimmung gegenüber der Band folgendermaßen und veranschaulicht dadurch auch die ungleich höheren Einstiegsvoraussetzungen einer weiblichen Metal-Band: The problem was rock music – music generally – was very chauvinistic at that time. You had to be exceptional as a female artist no matter what genre you were in. Not only in music – it was difficult for women to be accepted. So, for them to be an allgirl band, a rock band, it must have been really hard for them at first, because people didn’t really give them a chance. It was only when they got going and they had some couple of singles out, people actually saw them on the road. Actually, they are really good. But a lot of people wouldn’t give them that chance. You would quite often hear the phrase »Did you see Girlschool? It’s a great band, Girlschool.« – »Nah, girls, nah. Can’t have girls, nah.« People just wouldn’t have it. They wouldn’t give them the chance. It must have been really hard for them at that time.131 Der Chauvinismus des Heavy Metal-Genres ist genau an dieser Stelle anzusetzen: Beweisen mussten sich alle Bands, doch weiblichen Musikern wurde teilweise nicht einmal die Chance gegeben und erhielten sie diese dennoch, dauerte die Bewährungsphase ungleich länger als bei männlichen Musikern. Der dabei nötige Spagat zwischen Aufmerksamkeit und Authentizität führte bei allen Musikerinnen zu Anpassungsstrategien verbaler, humorvoller oder ästhetischer Art, die im Gespräch als Verhandlung der eigenen Weiblichkeit unter dem Druck der Genre-Konventionen erscheinen und vor allem von dem großen Zwang zur permanenten Selbstreflexion zeugen. Sharon Bascovsky erwähnte beispielsweise in einem Interview mit der weiblichen Offenheit gegenüber »deeper emotions« einen möglichen Beitrag zur Erweiterung des Genres, um umgehend nachzuschieben »I’m not saying I have done that«132 – als wäre sie über die mögliche Verknüpfung von Gefühlen mit Death Metal erschrocken gewesen. Vor allem im Kontakt mit den männlichen Interviewern von Metal-Magazinen benötigten Musikerinnen die Fähigkeit zur glaubhaften Kaschierung von Frustrationsgefühlen. So wäre kein Gesprächspartner je auf die Idee gekommen, männliche Bandleader zu fragen, ob sie sich über
130 Vgl. Interview Kevin Riddles, 30.19-31.00 Min. 131 Interview Kevin Riddles, 27.25-28.20 Min. 132 Aleks, An NCS interview: Derketa.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
ihr Aussehen auf der Bühne sorgen würden, während dieses Thema direkt oder implizit an Musikerinnen herangetragen wurde.133 Der Grund hätte jedoch bestanden, denn laut Alexandra Balogh, die im schwedischen Black Metal mit vielen Musikern vernetzt war, waren ihre Haare, wie man sie pflegte und wie man Spliss verhinderte, gängige Gesprächsthemen der männlichen Musiker.134 Der Karriereweg als Metal-Musikerin setzte also voraus, als Frau verhandelt zu werden, während dies für männliche Bands in keiner Weise der Fall war. Jamie Avery, die mit ihrer Band Demonomacy 1993 von einem Redakteur des Miami Herald interviewt wurde, forderte verständlicherweise »respect in a maledominated genre«, nur um gleich anzumerken, dass viele Fans zu den Konzerten kamen, um eine Frau in dieser Weise singen zu hören. Der dabei gewählte Ausdruck »genderneutral roars« zeigte auch hier, dass man zwar Aufmerksamkeit, aber keineswegs Respekt damit erkaufte, eine Frau zu sein.135 Berkers und Schaap haben mit der Herausstellung des Grundproblems einer MetalMusikerin zwischen Aufmerksamkeitsvorsprung und Authentizitätsproblem demnach ein geeignetes Analyseinstrument der historischen Entwicklung von »gender inequality« entworfen, das Terri Heggen (Derketa) 1990 prototypisch umriss und auch den inhärenten Selbstzweifel ansprach: Well, we’ve gotten attention because we’re girls. It’s something different and there’s not too many girls who involve themselves into the d.m. scene. But now I think we’ll be getting more attention due to our music. If we really sucked, I don’t think people would still support us as much as they do.136 Die bohrende Frage, ob man aufgrund der eigenen Fähigkeiten oder lediglich als Frau in einem Männer-Genre beachtet wurde, hatte Konstellationen zur Folge, in denen etwa Mary Ciullo für die Band Prime Evil die Öffentlichkeitsarbeit erledigte und als Bassistin tätig war – als weiblicher Aufmerksamkeitsgarant also eingespannt wurde –, ansonsten aber den männlichen Codes des Genres völlig zu entsprechen hatte. Die Musikerin in einer ansonsten männlichen Band war so lange gern gesehene Exotin, so lange sie dem Bild der akzeptiert-gekleideten und metal-begeisterten Schwester entsprach.137 Ein »girly girl«,138 wie es Sharon Bascovsky ausdrückte, war im Extreme Metal unmöglich. Auf diesen sozialen Zwang, nicht durch Weiblichkeit auffallen zu dürfen, weist auch Sabina Classen noch für die Gegenwart hin: Ich glaub es ist für die Frauen immer noch schwierig, so ihren eigenen Style, also eigenes »Ich bin Ich« in dieser Szene zu finden. Und da ist bestimmt immer noch trotz allem so eine Gender-Sache, die eine Rolle mitspielt, die Frau in einer Band ernst zu
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Vgl. ebd. Vgl. Johanesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 224f. Vgl. Howard Cohen, Demonomacy: fast, furious, female, in: Miami Herald, 02.04.1993, S. 97. Bruce Davis, Ripping Headaches 12 (1990), S. 21. »Mary liked the same heavy music and wore jeans, tour shirts, and leather jackets like we did. She was not only an amazing bass player and musician, but she was the same type of person we all were.« Chris Forbes, Prime Evil. Interview with Mary Ciullo, in: Metalcore Fanzine. Jim Kelly, Derketa Interview, in: Iron Fist Heavy Metal Magazine 2012.
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nehmen. Also dass sie wegen ihrer musikalischen Kompetenz oder auch wegen ihrer Natürlichkeit noch stärker geprüft wird ob sie das wirklich macht, weil da so n Herzblut drinsteckt oder um einfach nur – auffallen ist das falsche Wort – also etwas zu machen, um sich darzustellen.139 Während es verpönt war, durch die Nutzung weiblicher Reize aufzufallen, war die Instrumentalisierung männlicher Sexualität problemlos möglich, weil die Überlegung einer homosexuellen Erscheinung undenkbar war. Allerdings spielten die Praktiken des Posings und der ostentativ zur Schau gestellten Männlichkeit auf der Bühne lediglich noch während der NWOBHM und dann vor allem im Glam Metal eine tragende Rolle, während dies im Thrash Metal stark zurückging und im Death Metal und Black Metal anderen Inszenierungen wich.140 Die empfundene Grenze zwischen Extreme Metal Underground und »Mainstream« spielte für die Bewertung gender-bezogener Ästhetik jedenfalls eine große Rolle und wurde bisher von der Forschung als Möglichkeit der »gender inequality« kaum gewürdigt. Anders als bei der »Vermännlichung« von Musikerinnen existierten auch Fälle, in denen Musikern die »Verweiblichung« vorgeworfen wurde und der Authentizitätsverlust drohte. Tom Noble sprach den Verlust von männlichen Fans bei den Tygers of Pan Tang ausdrücklich an und postulierte diese Erscheinung auch für die Band Def Leppard.141 In den Augen der Anhänger hatte sich die Band einer allzu offensichtlichen Anbiederung an das weibliche Publikum schuldig gemacht und damit gegen die kulturellen Codes der »imagined community« verstoßen. Inwieweit die Verhandlung von Sexualität zur konstanten Spaltung zwischen »Underground« und »Mainstream« führte, wäre daher eine weitere spannende Forschungsfrage. Gleiches gilt für die Auswirkungen der tatsächlichen biologischen Unterschiede, die vom Training und der Schonung der Stimme, den weiblichen Strategien zur Anpassung an die Genre-Ästhetik bis zur lapidaren Feststellung reichen, dass »all-female«-Bands nur funktionierten, wenn Schwangerschaften verhindert wurden. Enid Williams beschreibt es als die conditio sine qua non für die Existenz Girlschools,
139 Interview Sabina Classen, 37.09-39.57 Min. 140 Dies ist ein Eindruck basierend auf hunderten Fotos und Konzertmitschnitten, müsste jedoch noch eingehender untersucht werden. 141 Tom Noble: »Part of the thing with the Tygers was that it almost became a thing. Because the band all looked great and dressed well and in a way, you were never Motörhead [R.W.: No.], never down and dirty and when John Sykes joined and when John Deverill joined the band, it was a band that could’ve been a pop star band, because they looked just so good. And that in a way, that worked against them as it did against Def Leppard, because some of the guys thought ›I don’t that, if all the girls like that.« Interview Robb Weir/Tom Noble, 11.08-12.03 Min.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
dass keine der Musikerinnen Mutter wurde,142 während Rock Goddess auseinanderfielen, als »mother nature came along.«143 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Metal-Band keine inhärent männliche, sondern eher eine homogene Organisationsform darstellte, die jungen Frauen aber deshalb viel weniger offenstand, weil die Sozialisations-und Erziehungserfahrungen, die tradierte Maskulinität des Metals, die wahrscheinlich intendierte Verlängerung dieses Bildes durch Industrie und Medien, sowie die interne Tradition der »proud pariahs« dieses Engagement lange wirksam verhinderten. Waren weibliche Bands einmal gegründet, waren sie überdies einem längeren Spießrutenlauf der Authentizitätsprobe ausgeliefert und viel stärker zur konstanten Reflexion ihrer Wirkung gezwungen. Diese Prozesse wirken auch gegenwärtig, werden aber – das legen die empirischen Befunde nahe – in immer stärkerem Maße herausgefordert.
4.4 Das »Inklusionsarrangement« von Metal- Bands 4.4.1 Die Band als »Familie« und »Ehe« A band is like a family. Yet, ultimately, the music comes first.144 Rob Halfords Aussage hat den Hang zum Oxymoron. Denn obgleich sein Vergleich oft bemüht wurde, kann man sich Familienmitglieder nicht aussuchen. Das wankelmütigfluide Band zwischen Bandmitgliedern dagegen ließ reichlich Spielraum für Agenda und macht deutlich, dass sich Musiker vielleicht als Familie fühlen, aber niemals eine solche sein konnten (abgesehen von Verwandtschaften zwischen Band-Kollegen natürlich). Musiker, die dieses sprachliche Bild nutzten, taten dies dann auch oft, um eine nachfolgende Einschränkung ihrer Aussage rhetorisch vorzubereiten und zu relativieren – viel häufiger aber wahrscheinlich, um dem Idealbild einer verschworenen Produktionseinheit zu entsprechen.145 Dort, wo tatsächliche Verwandtschaftsbeziehungen vorhanden waren, trat der Begriff kaum auf, sondern es wurde ein durchaus konflikthaftes, aber dennoch zum freundschaftlichen Kompromiss neigendes Bild eines blinden Verständnisses entworfen, dass mit dem Älterwerden immer gesitteter ausfiel.146 Tino Troy be-
142 »In the first instance, none of us have kids and this is a really, really massive part of why we are as we are. Generally speaking, with female bands, someone will go off and have a kid or you get to your 30s and boyfriends and husbands don’t like their women to be on the road all the time. I don’t know why, maybe they have some kind of problem using the cooker? [laughs] Generally, men find it difficult for their women to be on the road a lot and to be left to their own devices and when kids come into the equation, I don’t know many men who are staying home with a couple of kids while the woman is out touring.« Stewart-Panko, Girlschool Interview. 143 Moffitt, Rock Goddess Interview. 144 Halford, Confess, S. 81. 145 Vgl. Diaz-Bone, Kulturwelt, S. 250f. 146 So ist beispielsweise in keinem mir bekannten Interview mit den Brüdern John und Donald Tardy (Obituary) der Begriff der »family« als Selbstbezeichnung gefallen.
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schreibt ein solches Verhältnis zu seinem Bruder Chris, der ebenfalls in Praying Mantis spielte: Well, you’ve got an understanding of each other for starts, you know, where the songs coming from and how you work together, but, you know, you can have your ups and downs and arguments as well, you know. A few punches and stuff like that (laughs). But now, we’re an actually quite well-behaved band. In our history there were maybe three or four situations where, you know, in the forty years… not too bad, no (laughs). Once every ten years, every decade you got to explode (laughs). [M.S.: So, when is the next one?] Imminent (laughs).147 Treffender wurde die Einordnung der Band deshalb, wenn von einer »Beziehung« oder einer »Ehe« gesprochen wurde. Rob Cavestany empfand das Verhältnis zu seinen Mitstreitern bei Death Angel, die auch seine Cousins sind, als beides: »It’s exactly like a relationship – I’m married to this group, and trying to make the best of it.«148 Auch Jeff Beccera (Possessed) sprach von einer Ehe mit »3 ugly women.«149 Der Vergleich mit einer Ehe entsprach in vielen Metal-Bands – abgesehen vom romantischen Aspekt – durchaus der Alltagsrealität. Als Produktionseinheiten und häufig auch als Freunde, die sich der Entdeckung eines Lebensstils widmeten und den hohen Zeitaufwand der DIY-Mentalität gemeinsam organisierten, wohnten Band-Mitglieder in einigen Fällen in der Frühphase ihrer Bands zusammen. Tendenziell nahm diese Erscheinung mit der Entwicklung des Extreme Metals zu und war um 1980 noch kaum anzutreffen.150 Bald sah der Tagesablauf vieler junger Musiker – vor allem in den USA mit den üblichen »day jobs« – aber so aus wie jener von Bob Petrosino und George Machuga, die 1984 Oblivion gründeten und in Seasight Heights, NJ, wohnten: Wie ihr Sänger Mike Sica auch arbeiteten beide in Vollzeit als Landvermessungsingenieure,151 kamen um 16 Uhr nach Hause und fokussierten sich danach komplett auf die Band. Ihr Apartment bauten die zu einer »thrash metal home base« aus, in der jegliche bekannten wie unbekannten Metalheads gerne willkommen waren, wo permanent Tapes überspielt wurden, man sich fünf Tage in der Woche für vier bis fünf Stunden der Fan-Post widmete und wo natürlich konstant Metal-Musik lief.152 Rat Skates, der langjährige Drummer der Band Overkill aus New Jersey, setzte dieser Wohnform 2007 als Schreiber der Rockumentary »Born in the Basement« ein eindrückliches Denkmal.153 Das Szene-Engagement beherrschte in diesen Fällen die gesamte disponible Zeit und wurde im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Lebensstil. 147 Interview Tino Troy, 10.25-11.12 Min. 148 Tom Lanham, Five Cousins from Concord Making it Big in Heavy Metal, in: San Francisco Examiner, 14.01.1990, S. 166f. 149 Frank Stöver, Possessed. Interview with Jeff Beccera. 150 Ein gemeinsames Wohnen wurde von keinem interviewten Musiker der NWOBHM erwähnt und ist mir auch aus keinen anderen Interviews bekannt. Dies korrespondiert einerseits mit dem höheren Szene-Einstiegsalter als auch mit der verbreiteteren Erwerbstätigkeit dieser Musiker im Vergleich zu den Extreme Metal-Szenen der 1980er Jahre. 151 Vgl. Chris Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino, in: Metalcore Fanzine, 2016. 152 Vgl. ebd. 153 Vgl. Lori DeAngelis-Kundrat (Reg.), Born in the Basement, USA 2007.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Das Narrativ und der Alltag einer Band-»Ehe« hatten zwei wichtige praktische Implikationen: Zum einen waren Bands kaum als Fernbeziehungen aufrechtzuerhalten und Ortswechsel der Mitglieder konnten zu Problemen führen. Besonders, da es sich meist um junge Musiker im Ausbildungs-oder Studienalter handelte, bestand diese Gefahr oft und führte in vielen Bands zu frühen Verabschiedungen.154 Das Wissen um eine räumlich wie sozioökonomisch wechselhafte Lebensphase dürfte in vielen Bands den Impetus zur Professionalität und das Ziel eines Plattenvertrages noch weiter bestärkt haben, um einerseits die Sozialkontakte und die Band zu erhalten und andererseits, um die verhassten »day jobs« zu umgehen. Zum anderen wurden die Sozialbeziehungen in Bands von echten romantischen Beziehungen oder Ehen stark herausgefordert. In frühen Band-Phasen ohne Plattenverträge war dies meist unproblematisch. Kjetil Manheim verließ beispielsweise Mayhem, weil er eine feste Freundin hatte und aus dem Haus der Eltern ausziehen wollte.155 Kam Lee verließ Mantas 1984, weil er und Chuck Schuldiner, bei dessen Eltern beide wohnten, ein Auge auf dieselbe Frau geworfen hatten und sich darüber verstritten.156 In beiden Fällen befanden sich die Bands noch nicht in einem professionellen Zustand und die völlige Kontingenz der Situation mochte das Ausscheiden zwar schmerzhaft gestalten, doch gab es hier noch nichts zu bereuen. Traten Probleme mit den Partnern der Mit-Musiker jedoch in arrivierten Bands mit festen Verträgen auf, stand ungleich mehr auf dem Spiel. Nachdem etwa Entombed 1990 mit dem Album »Left Hand Path« die Blaupause für den schwedischen Death Metal aufgenommen und über Earache Records, ein britisches Indie Label, finanziert hatten, entließ der Band-Gründer und Drummer Nicke Andersson den Sänger Lars-Göran Petrov kurzerhand in der Vorbereitung des zweiten Albums »Clandestine«, weil er davon ausging, Petrov hätte mit seiner Freundin geflirtet.157 Der Anteil des Gesangs ließ sich freilich schlechter kompensieren als die Instrumentalisten, der kurzfristige Ersatz sagte Andersson nicht zu und er entschied sich, das Album selbst einzusingen, obgleich es ihm bis heute nicht gefällt und bevor er nach vorsichtigen Einwänden der Band-Mitglieder Petrov zurückholte.158 Obwohl es sich bei Earache Records um ein Indie Label handelte und mit Besetzungswechseln lockerer umgegangen wurde als bei Major Labels,159 bedrohte hier die spontane Band-Beziehung das Investment des Labels, wurde aber von der Band nicht entschieden kritisiert, weil Andersson zwei Jahre zuvor bereits den Bassisten Johnny Hedlund entlassen und dafür den Band-Namen von Nihilist zu Entombed gewechselt hatte.160 Neben der Chemie in der Band und dem Geld des Labels riskierte Andersson aber auch die einheitliche Außendarstellung der Band, ihre Glaubwürdigkeit und nachvollziehbare musikalische Entwicklung – um die Folgen 154
Vgl. Frank Stöver, Voices From The Darkside 6, in: ders. (Hg.), Voices, S. 7 (Interview mit Lee Harrison); Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 61 (Interview mit Marc Grewe). 155 Vgl. Patterson, Black Metal, S. 182. 156 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 465. 157 Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 205. 158 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 206, 209. 159 So wurde der Besetzungswechsel von Jess Cox zu John Sykes bei den Tygers of Pan Tang vom Label MCA sehr kritisch betrachtet und setzte laut Tom Noble mittelfristig eine Entfremdung in Gang. Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 18.58-19.29 Min. 160 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 99.
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dieses Schritts zu kaschieren, enthalten die Credits von »Clandestine« bis heute einen Sänger, der an der Produktion vermutlich kaum mitwirkte. Für das »Inklusionsarrangement« der Bands und ihren kommerziellen Erfolg konnte Eifersucht daher durchaus problematisch werden, wurde in diesem Fall aber aufgrund autoritärer Bandführung zugelassen. Ein weiteres Beispiel betrifft die Band Derketa: Als Sharon Bascovsky nach der Trennung von der Schlagzeugerin die Band mit einem männlichen Drummer weiterführen wollte, scheiterte dies an der Eifersucht von dessen Freundin.161 Während das Objekt der Eifersucht nicht immer eine Frau war, enthielt der oft getätigte Vorwurf, die Freundin oder Ehefrau untergrabe die Band-Chemie, eine dezidiert antifeministische Stoßrichtung. Es spielte dabei unterschwellig stets der Verdacht eine Rolle, dass sich das männliche Künstler-Individuum im Kollektiv der Band nicht genügend repräsentiert fühlte und dass das Säen und Bestärken dieses Zweifels zu den weiblichen Strategien der Aufmerksamkeitsgewinnung gehörten. Ian »Lemmy« Kilmister brachte diesen zur Regel erhobenen Verdacht auf den Punkt: Und außerdem liegen eine Menge Ehefrauen ihren Männern in den Ohren, ›die anderen Typen wären ohne dich gar nichts. Du bekommst nicht die Aufmerksamkeit, die dir zusteht.‹ Das führt zu einer Menge Meinungsverschiedenheiten und kann eine Band zerstören.162 Diese Perspektive ist deshalb antifeministisch, weil die Partnerin zum Sündenbock für einen Prozess erklärt wurde, der ursächlich gar nichts mit ihr zu tun hatte. Viel eher steht zu vermuten, dass der Beziehungsfaktor instrumentalisiert wurde, um bereits bestehende interne Konflikte eskalieren zu lassen, weil reine Unzufriedenheit als Begründung für den Ausstieg nicht ausreichte oder die Musiker schlicht nicht in der Lage waren, diese Problematik konfliktfrei zu diskutieren. So lagen die Ursachen bei Motörhead auf anderem Gebiet und auch bei Slayer bediente man sich bei der Trennung von Dave Lombardo 1987 der Freundin als gern gesehenem Katalysator für den bandinternen Unmut. Lombardo war unzufrieden, weil er nicht in gleicher Weise an den Rechten des Songwritings beteiligt wurde, während der Rest der Band sei abfallendes Spielniveau bemerkte.163 Dass Lombardo als einziges Bandmitglied seine Freundin auf die »Reign in Blood«Tournee mitnahm, war ungewöhnlich, wurde aber zum großangelegten Bruch mit der »brotherhood« der Band stilisiert und seitens der Band für die Trennung verantwortlich gemacht, während auch Lombardo zugab, den Zeitpunkt seines Abgangs absichtlich vor der Tournee angelegt zu haben.164 Dass man die Freundin – ungeachtet ihres anscheinend schwierigen Charakters – von beiden Seiten vorschob, weil die Musiker Probleme lieber verdrängten als sie zu besprechen, verweist an dieser Stelle auf die tief im patriarchalischen Rollenbild verwurzelte Verknüpfung von Weiblichkeit mit Emotionen. Die sich dabei manifestierende Unreife und Feigheit, die sich im Folgenden auch daran zeigte, dass die Kommunikation unbequemer Entscheidungen gerne vermieden
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Vgl. Aleks, An NCS interview. Ian Kilmister, White Line Fever, S. 161. Vgl. Ferris, Slayer 66 2/3, S. 102, 106. Vgl. ebd., S. 100–102, 118.
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oder delegiert wurde, weist die junge Metal-Band nicht nur als wankelmütige, sondern auch als stark musikfokussierte Beziehung aus.165 Lebensweltliche Probleme, die über den Zweck der Band hinausgingen, waren dabei eher störend, und wurden im Falle einer Trennung durch ein Nachtreten in Interviews auch häufig zu Brüchen im Bandgefüge erklärt, die man bereits von Anfang an gespürt habe.166 Jeff Hanneman kommentierte die Trennung von Lombardo in diesem Zusammenhang folgendermaßen: Jon Kristiansen: Are you guys still friends? Hanneman: No, I haven’t talked to him since. […] Well, we had trouble with him right from the beginning. So, it would have happened sooner or later. Our morals, our values are completely different than his. So, it’s like, we never really hung out anyway when we were together. It was like us three and then, oh, there is Dave… But he fit in as a drummer and it’s too bad he had to leave.167 Ob nun in der »Ehe« oder in der »brotherhood«: Die Beziehung zum musikalischen Zweck der Band wurde überhöht und totalisiert und führte dort zu Zweifeln an der Einsatzbereitschaft, wo romantische Beziehungen Zeit beanspruchten und bereits Risse in der Gruppenbeziehung existierten. Selbst gegenüber einer Elternrolle von BandMitgliedern verhielten sich die Kollegen nicht immer verständnisvoll.168 Wie man sich bei solchen Entscheidungen vermeintlich richtig verhielt, zeigte Lars Ulrich in einem Interview mit dem San Francisco Examiner 1991: But really, my companion is the band. I have realized now that’s why my marriage didn’t work out. For her to wait 18 hours for me to take my mind off the band for 5 minutes and worry about her was just not right. I haven’t told anybody else this, but for a little while, the working title of this album was ›Married to Metal‹.169 Das Band-Konzept der »brotherhood« wurde ebenso auf die Probe gestellt, wenn neue Mitglieder eintraten – besonders, wenn diese jünger, sozioökonomisch von anderer Herkunft oder in sonst einer Art und Weise auffällig waren. Selten liefen Beitrittsprozesse als reibungslose Integration ab.170 Der »us-against-the-world«-Anspruch, der die Band weit über ihre Produktionsfunktion hinaus deutete, verlangte Initiationsriten, testete die Geduld, die Ekeltoleranz und den Geldbeutel der Neuen und wies dabei frappierende Ähnlichkeit zu körperlichen Neckereien und Spielpraktiken in Betrieben auf, die ihren Grund ebenfalls in der Kompatibilitätsprüfung und nicht in der Degradierung
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Zu Metal-Szenen und »care« vgl. Keith Kahn-Harris, Do Metal Scenes Need Retirement Homes? Care and the Limitations of Metal Community, in: Varas-Díaz/Scott (Hg.), Heavy Metal Music and the Communal Experience, S. 171–184. So auch bei Trey Azagtoth nach dem Ausscheiden David Vincents bei Morbid Angel. Vgl. Frank Stöver, Voices From The Darkside 10, in: ders. (Hg.), Voices, S. 43. Jon Kristiansen, Slayer Mag 5 (1987), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 106. Vgl. Patterson, Black Metal, S. 460. Barry Walters, Metallica finds itself on soldered ground, in: San Francisco Examiner, 06.10.1991, S. 33. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 52.
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hatten.171 Freilich nicht in allen Fällen, aber häufig reichten diese Aufnahmeriten von einfachen Neckereien, kleineren körperlichen Stänkereien und Sticheleien bis hin zu Fällen, in denen der Authentizitätsbeweis jahrelang bitter erkauft wurde.172 Sie konnten sich umso länger hinauszögern, je größer die Fußstapfen des Vorgängers ausfielen. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass private Unterstützung und Solidarität nicht zu den Kernkompetenzen von Metal-Bands gehörten.173 Der Zusammenhalt war musikbezogen und endete in vielen Fällen mit der Musik. Die Einschätzung Shane Emburys zu den internen Problemen von Napalm Death in den späten 1980er Jahren steht daher beispielhaft für Prozesse, die so oder so ähnlich auch die »brotherhood« anderer Bands prägten: We were a bit younger, and we didn’t know how to discuss things. Back then we were so isolated as members we weren’t friends in the rational sense. Something would spark up an argument, not even over a musical thing, and someone would get up and leave the band rather than work it out.174 Es muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es selbstverständlich auch Metal-Bands gab, die aus langjährigen Freundschaften resultierten und diese auch über die Band-Geschichte hinweg aufrechterhielten. Auch nahmen die Kontingenz und Dynamik der frühen Band-Entwicklung mit wachsender Erfahrung deutlich ab. Aber dennoch war die interne Beziehung von Bands ein fragiles Aushandlungsobjekt, das schnell an seine Grenzen geriet, wenn Probleme auftraten, die sich musikalisch nicht lösen ließen. Möchte man Metal-Bands wirklich mit Ehen vergleichen, dann handelte es sich oft um Paare, die viel zu früh geheiratet hatten.
4.4.2 Die Metal- Band als Hierarchie Metal-Bands waren keine Demokratien. Es wurde nicht gewählt, wer das Sagen hatte und eine unabhängige Einspruchsstelle bestand auch nicht. Und da das individuelle Geltungsbedürfnis mit dem Eintritt in eine Band auch nicht endete, existierten deutlich mehr Machtkämpfe und Animositäten als reibungslose Kooperationen. Die BandChemie war daher eine hochsensible und störanfällige Balance aus persönlichen Interessen, stilistischen Verortungen, internen Traditionen, technischen Qualifikationen und medialem wie ökonomischem Knowhow. Es bestanden Bands, die sich kurz-oder auch langfristig zu gut funktionierenden Einheiten entwickelten, während andere chaotische
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Ausgedehnte Initiationsriten durchliefen etwa Jason Newsted bei Metallica oder Robb Flynn bei Vio-Lence. Zum Konzept der Spiele als Initiationsriten in Betriebsgemeinschaften vgl. Marco Swiniartzki, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband 1891 bis 1933. Eine Gewerkschaft im Spannungsfeld von Arbeitern, Betrieb und Politik, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 68–70. Einige Beispiele bereits in Kap. 2.5.3. Barney Greenways Äußerungen zur Alkoholkrankheit seines Bandkollegen Jesse Pintado gehörte bereits zum höchsten der Gefühle in einem öffentlich fast vollständig von der Musik dominierten Diskurs: »We tried to help as much as we could as friends. I love Jesse to bits, but we couldn’t help him, because he didn’t want to help himself.« Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 502. Christe, Sound of the Beast, S. 189.
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Findungsphasen durchliefen oder sogar nie in der Lage waren, die Gruppe zu stabilisieren.175 Innerhalb dieser Gemengelage gab es in der Regel einen oder zwei Wortführer bzw. Band-Leader aufgrund informeller Übereinkunft – meist die Gründer der Band und/oder jene Mitglieder, die die musikalische Vision, das mediale Engagement oder die Entschlossenheit der Interessendurchsetzung an den Tag legten. Der Prototyp des Musikers, der all diese Faktoren quasi in Form eines »Alleinherrschers« verkörperte, war Steve Harris in »seiner« Band Iron Maiden. Sämtliche Beobachter und Mitmusiker beschrieben ihn als den ambitionierten, leidenschaftlichen, widerstandsfähigen und kontrollfokussierten Führer der Band, für den es nur »100 % or nothing« hieß.176 Dies umfasste den Aufbau und die Pflege von Kontakten zu einflussreichen Vermittlern, das finanzielle Engagement für die Band (er kaufte etwa der ersten Tourtruck von den Ersparnissen seiner Tante), sein fehlendes Vertrauen in kurzfristige Trends wie die NWOBHM, und seine Funktion als »Seismograph« hinsichtlich der Hingabe seiner Mitmusiker.177 Es hebt ihn von vielen jugendlichen Musikern im Extreme Metal der 1980er Jahre ab, dass er seine Entscheidungen auch selbst durchsetzte und kommunizierte: So entließ er zum Beispiel Doug Sampson aufgrund seiner Krankheiten, die die Tournee gefährdeten, genauso wie Paul Day und Dennis Stratton, weil dieser nicht den Eindruck erweckte, vollkommen Teil des Band-Kollektivs sein zu wollen.178 Während Stratton eine »age gap« für die Entfremdung anführte, verwies Harris auf den nötigen Charakter der »family.«179 Es gab über den Führungsanspruch bei Iron Maiden also keine zwei Meinungen. Dennoch verstand Harris früh, dass sich seine Ziele des Plattenvertrags und Wachstums nicht allein durchsetzen ließen und traf ab 1979 sämtliche wichtigen Absprachen mit dem Manager der Band Rod Smallwood – ohne jedoch auch hier Kontrolle abzugeben: Harris war jederzeit über die Verträge und geschäftlichen Ziele informiert, traf dabei die endgültige Entscheidung und ließ bei allem Vertrauen zu Smallwood die Band von anderen Anwälten vertreten als das Management.180 Harris bildete dadurch den Prototyp des vernetzten, wettbewerbsorientierten, visionären und kompromisslosen Künstlers, der vielleicht nicht in dieser Strenge, aber grundsätzlich in jeder langfristig erfolgreichen Metal-Band anzutreffen war. Da er darüber hinaus auch zu den einflussreichsten Bassisten der Metal-Geschichte gehörte, ist sein Status als »leader of the gang« bei Iron Maiden auch nie angefochten worden.181
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Vgl. für chaotische Phasen Mudrian, Choosing Death, S. 154, 203f., 210. Als Ausdruck einer (freilich auch nur mittelfristigen) Stabilisierung genauer Rollen in der Band vgl. die Einschätzung Abo Alslebens zur Band-Chemie bei Mayhem: Abo Alsleben, MAYHEM live in Leipzig. Wie ich den Black Metal nach Ostdeutschland brachte, Leipzig 2020, S. 33. Sie umfasste den »Chef der Band«, den »kreativen Kopf«, das »schrille Aushängeschild« und den »freundlichen Rock’n'Roller«. 176 Wall, Run to the hills, S. 14f. 177 Vgl. ebd., S. 29, 59, 94. 178 Vgl. ebd., S. 122. 179 Vgl. ebd., S. 158–162. 180 Vgl. ebd., S. 29, 116f. 181 Vgl. zuletzt Johanna Huber, Steve Harris wird 65 Jahre alt: Ein Blick auf sein Leben, in: Metal Hammer Online, 12.03.2021, URL: https://www.metal-hammer.de/steve-harris-wird-65-jahre-alt-einblick-auf-sein-leben-1680039/ (letzter Aufruf 04.02.2022).
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Harris’ Methode machte Schule. Zu den wichtigsten Imitatoren seines Führungsstils gehörte Lars Ulrich, der seine Inspiration durch Harris nie verhehlte und eine bandinterne Demokratie für Metallica von vornherein ausschloss.182 Anders als bei Iron Maiden war Ulrich bei Metallica jedoch in ein Führungsduo eingebunden und hatte sich mit James Hetfield zu arrangieren. Während für die anderen Mitmusiker klar war, dass es sich um »James and Lars band«183 handelte, die interne Grundausrichtung also völlig Ulrich und Hetfield oblag, wurde Dave Mustaine, dem sie zwar einen musikalischen Fortschritt und Song-Ideen verdankten, der die Führungsspitze jedoch herausforderte, 1983 unangekündigt und taktlos entlassen.184 Die sich herausbildende Rollenverteilung bemerkten die Beobachter bereits in den frühen 1980er Jahren: Ulrich fungierte als »ringleader«, als durchsetzungsstarker und visionärer »orchestrator of his destiny«, der wettbewerbsorientiert die aktuellsten Entwicklungen beobachtete und sich um Verträge und Finanzen kümmerte.185 Hetfield, der mit der geschäftlichen Seite der Band nichts zu tun hatte, wirkte dagegen als musikalischer Initiator und war – anders als Ulrich – auch ein einflussreicher Musiker.186 Sämtliche anderen Band-Mitglieder hatten sich dieser Doppelspitze seitdem anzupassen.187 Dave Mustaine, der seine Entlassung viele Jahre lang nicht verkraftete, adaptierte für seine Band Megadeth dieses Prinzip und formulierte nicht zufällig als Band-Credo: »Fuck democracy. Democracy doesn’t work in a band. I had to have my own band and make music exactly the way I wanted to hear it, with no compromises to anybody else’s ego whatsoever.«188 Mit solchem Getöse musste eine Band-Hierarchie freilich nicht einhergehen und dass dieser Anspruch auch ohne seine explizite Äußerung erhoben und ohne große Brisanz vertreten werden konnte, belegen etwa die Tygers of Pan Tang, wo sich Richard »Rocky« Lawes um die »strategies for publicity« kümmerte und Robb Weir der kreative Kopf war (»the one, visionary mind that says ›This is the band that I started and we’re gonna make it successful‹«189 ). Zu den weiteren kreativen und marktfokussierten Künstlerfiguren in der Metal-Geschichte, die mediale Aufmerksamkeit, internationale Vernetzung und klare musikalische wie kommerzielle Vorstellungen verknüpften, gehörte auch Miland »Mille« Petrozza. Bogdan Kopec, der Petrozzas Band Kreator managte, beschreibt den Gitarristen vor allem als genauen Beobachter des Marktes: Er habe sich früh im Tape Trading engagiert,
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Vgl. Wall, Enter Night, S. 32: Ulrich merkte auf seiner England-Reise im Kontakt mit Iron Maiden, dass Harris der unangefochtene Chef der Band war und folgerte »True democracy doesn’t work in a band.« So Ron McGovney, in: Wall, Enter Night, S. 54. Die Folgen verkraftete Mustaine viele Jahre nicht. Ein frühes Beispiel der Verbitterung in: Peter Zohren/Mike Trengert, Speed Attack. German Metal Fanzine 2 (1985). Vgl. Wall, Enter Night, S. 106f.; Brian Tatler beschrieb die Notwendigkeit dieses Musiker-Typus in einer Band: »But if you don’t have a strong, business minded person like that in your band well that’s tough competition right there. Diamond Head didn’t have that. None of us had that kind of drive and vision.« Interview Brian Tatler, 38.10-38.25 Min. Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 42. Vgl. Wall, Enter Night, S. 121, 273. Ebd., S. 147. Interview Robb Weir/Tom Noble, 29.36-30.33 Min.
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Kontakte in die USA aufgebaut und den unbedingt notwendigen Umgang mit der englischen Sprache erlernt.190 Er habe stets genaue Ideen davon besessen, welche aktuell einflussreichen Extreme Metal-Bands als Vorbands bei Kreator-Tourneen in Frage kamen und auf diese Weise wichtige Bands wie Death oder Biohazard gegen das Management durchgesetzt: Mille war ein Musiker, der den Trend genau beobachtete. Er wusste stets genau, welche Bands bereits sehr bekannt oder im Trend waren, aber noch nie in Europa gespielt hatten. Er war auch ein Beispiel für Musiker, die sich mit Ideen und Forderungen meistens durchsetzten. Wenn er für seine Tourneen eine Band im Vorprogramm haben wollte, die er schätzte und die in den USA schon bekannt war, versuchte ich, ihm das auszureden, weil man z.B. Bands aus den USA schwer finanzieren konnte. Es gab oft keinen finanziellen Toursupport der jeweiligen Plattenfirma. In Deutschland dagegen haben oft Plattenfirmen die Finanzen für Live-Auftritte vorgeschossen und eventuelle Verluste mit deren Lizenzen verrechnet. Die Kosten wie Flüge, Hotels, Verpflegung usw. musste dann halt auch der Hauptact übernehmen. Das brachte immer ein enormes finanzielles Risiko ein. Aber somit haben Bands nach unseren Tourneen auch in Europa Karriere gemacht, wie z.B. Biohazard, die mit Kreator unterwegs waren oder Sepultura, die mit Sodom getourt sind.191 Petrozza scheute auch hinsichtlich der Durchsetzung seiner Studio-Wünsche nicht die Auseinandersetzung mit der Plattenfirma und dem Management.192 Obgleich er also weder der Alleingründer der Band war und sich keine Anzeichen für eine ähnlich hierarchische Band-Beziehung in der Frühphase finden lassen wie bei Iron Maiden oder Metallica, avancierte er durch die Praxis zur Führungsfigur der Band. Kreator stehen damit beispielhaft für einen mittelfristigen Hierarchisierungsprozess, der sich auch in vielen anderen Metal-Bands zeigte.193 Es mag auch an dieser Prozesshaftigkeit liegen, dass Petrozza seinen Führungsanspruch noch heute eher vorsichtig formuliert und den Einfluss der Mitmusiker in der Bandentwicklung nicht ausschließt: Als Songwriter bin ich offen für Vorschläge und Ideen von den anderen Mitgliedern. Kreator ist trotzdem eindeutig meine Band, was nun aber nicht heißt, dass ich diktatorisch arbeite. Alle Musiker in der Band verstehen das Konzept und wollen dasselbe wie ich: Die Musik und die Kreativität vorantreiben.194
190 Vgl. Interview Bogdan Kopec, 24.10-26.14 Min. 191 Ebd., 54.10-56.15 Min. 192 »Mille war stark an anderen Bands orientiert. Wenn ihm eine Band gefiel, müssten auch das Studio oder deren Produzent gute Arbeit geleistet haben und er wünschte sich diese für seine nächste Produktion auch. Es wurde dann für hohe Summen in z.B. auch Amerika produziert und man musste mit der Plattenfirma Sparmöglichkeiten finden, etwa bei den Hotels und den Flügen. Aber meistens hat er immer alles durchgekriegt [lacht].« Interview Bogdan Kopec, 47.37-48.15 Min. 193 Ähnliche Prozesse ließen sich bei Bands wie Sodom, Morbid Angel, Exodus, Anthrax oder Grave beobachten. 194 Interview Mille Petrozza, Z. 25–28.
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Die Bedeutung der vorgestellten Musiker bestand darin, die kommerziellen Potentiale einer strategisch angelegten DIY-Mentalität für die Frühphase ihrer Bands umfassend verstanden und instrumentalisiert zu haben. Ihr Erfolg hing neben dem »Quäntchen Glück« vor allem von selbständigen Weichenstellungen und deren Durchsetzung ab. Dort, wo die Mitsprache oder die Investition Außenstehender notwendig wurden, behielten sie ein Höchstmaß an Kontrolle und kümmerten sich über die musikalischen Aspekte hinaus auch um die kommerzielle Entwicklung der Band. Auch ohne ein entsprechendes Dokument wurden sie daher von ihren Band-Kollegen als Führungsfiguren anerkannt. Die Existenz einer informellen Hierarchie, die sich als geteiltes Wissen darüber artikulierte, welchem Mitglied die Band gehörte, stieß für die Mitmusiker dort an ihre Grenzen, wo die Unterordnung als ungerecht empfunden wurde. Auch in dieser Hinsicht bestanden starke Ähnlichkeiten zwischen Bands und betrieblichen Arbeitsgruppen: Das Autoritätsprinzip war nicht grundsätzlich verpönt, sondern musste als verdient anerkannt werden, d.h. dass sowohl Meister wie Band-Leader solange akzeptiert wurden, wie ihre Leistungen außer Frage standen.195 War dies nicht der Fall, manifestierte sich der wachsende Unmut seltener in Widerstand als entweder im Austritt aus der Band oder im individuellen Gewöhnungseffekt. Eindrücklich belegt ist dieser Prozess beispielsweise für Motörhead: Gründer und Chef der Band war Ian »Lemmy« Kilmister und seine Richtlinienkompetenz zeigte sich neben seiner äußerlichen Identifikation mit der Band unter anderem dadurch, dass sich der Gitarrist Eddie Clark an Lemmys Spielweise (ein Lead-Bass) anpasste, indem er von einer Fender Stratocaster auf eine Les Paul-Gitarre wechselte, um die Kompatibilität des Sounds zu gewährleisten.196 Während er diesen nicht unwesentlichen Wechsel selbstverständlich durchführte, entstand seine Unzufriedenheit dadurch, dass er gemeinsam mit dem Drummer Phil Taylor zwar viel probte, experimentierte und Songs schrieb, dieses Engagement bei Kilmister aber vermisste. Überdies war er stärker in die Verträge der Band eingeweiht und übernahm auch große Teile der Pressearbeit. Seine langsam gewachsene Unzufriedenheit kulminierte in der Entscheidung Kilmisters, eine Single mit Wendy O’ Williams aufzunehmen. Clark trat aus, weil er die Glaubwürdigkeit der Band gefährdet sah – der wahre Grund dürfte dagegen die endgültige Unvereinbarkeit von Kilmisters Führungsanspruch und seinem tatsächlichen Engagement für die Band gewesen sein.197 Auf die allzu offensichtliche Führungsinitiative des späteren Drummers Pete Gill reagierte »Lemmy« schließlich sogar aktiv mit einem Rauswurf: »Er war einer von vielen, [Pete Gill] die sich nicht damit zufriedengeben können, einfach in der Band zu sein. […] Ich weiß, das hört sich belanglos an, aber die meisten Streitigkeiten in einer Familie sind das, oder? Und eine Band ist eine Familie.«198 Auch hier wurde die Familienmetapher instrumentalisiert,
195 Vgl. Swiniartzki, Metallarbeiter, S. 58–61. 196 Vgl. Popoff, This Means War, S. 26f. 197 Vgl. ebd., S. 116; Eine ähnliche Konstellation führte zum Ausscheiden von Frank Gosdzik bei Sodom. Vgl. Jon Kristiansen, Slayer 17 (2002), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 576. 198 Ian Kilmister, White Line Fever, S. 205.
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während er Gill aus einem heruntergekurbelten Autofenster heraus die Entscheidung mitteilte und stehen ließ.199 Zu den Musikern, die eine Band verließen, weil sie sich als degradiert, ungerecht behandelt oder musikalisch limitiert fühlten, kamen solche, die ihre Zusammenarbeit aufgrund unvereinbarer Charaktere und/oder Vorstellungen mit dem/den Band-Leader(n) beendeten. In dieser unspezifischen Kategorie reichte das Spektrum von Differenzen in der Genre-Zuordnung,200 permanenten Mitgliederwechseln, bei denen sich neueintretende Musiker nach unterschiedlichen Zeiträumen wieder von den Band-Leadern trennten,201 über Abwerbungen durch andere Bands202 bis hin zu solchen, in denen der Weggang umgehend in die langfristigen Gründung einer neuen Band mündete.203 Methodisch war dabei zwischen freundschaftlichen Trennungen und abrupten Brüchen alles vertreten.204 Es bestand eine Vielzahl möglicher Gründe dafür, sich einer BandHierarchie nicht mehr unterordnen zu wollen – genauso, wie es viele Gründe dafür gab, dass sich Bands und ihre Führungsfiguren von einem Band-Mitglied trennten. Während die Rückzüge eher geräuschlos abliefen, gehören Entlassungen zu den am häufigsten wiederholten Einzelheiten der Szene-Erzählungen, weil sich dabei rücksichtslose Methoden, unklare Begründungen, nachtragendes Verhalten und langfristige Zerwürfnisse manifestierten. Bands entließen nach internen Ränkespielen ihre Mitgründer, trennten sich von Musikern, die diesen Schritt nicht antizipierten und zuvor viel Engagement in die Band investiert hatten, und es fanden sogar Umbenennungen unter dem Vorwand statt, einem Band-Mitglied die Auflösung der Gruppe vorzuspielen.205 Die Band Corpse aus Gotland spielte beispielsweise mit ihrem Bassisten Jörgen, den sie seit der ersten Klasse kannten. Anstatt ihm die Bedenken hinsichtlich seiner Qualifikation mitzuteilen, 199 Vgl. ebd., S. 206. 200 So etwa bei Rock Goddess, vgl. Moffitt, Rock Goddess Interview, oder bei Whiplash, vgl. Chris Forbes, Deathrash. Interview with Pat Burns, in: Metalcore Fanzine, URL: https://www.metalcore fanzine.com/deathrashinterview.html (letzter Aufruf 02.02.2022). 201 So etwa bei Death, bedingt durch die Person Chuck Schuldiners, vgl. Jon Kristiansen, Slayer 6 (1988), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 134; Vgl. den Personalwechsel bei Malevolent Creation im Stile einer »revolving door«, vgl. Greg Pratt, That Tour Was Awesome: Complete Control (1992), in: Decibel Magazine, 31.01.2019, URL: https://www.decibelmagazine.com/2019/01/31/that-tourwas-awesome-complete-control-1992/ (letzter Aufruf 02.02.2022). Ebenfalls eine starke Fluktuation wiesen Bands wie Sodom oder Incantation auf – beide mit selbstbewussten Band-Leadern. 202 Abwerbungen fanden beispielsweise beim Wechsel von Cliff Burton oder Kirk Hammett zu Metallica, Steve Souza zu Exodus oder (das legte jedenfalls der kurzfristige Wechsel nahe) Frank Goszdik zu Kreator statt. Um einen Stil »feindlicher Übernahmen« handelte es sich dabei jedoch nicht. 203 Die wichtigsten Beispiele im Untersuchungszeitraum sind dabei die Bands Megadeth, Unleashed und Incantation. 204 Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 140f. (Jeff Walker); Vgl. David Laszlo, Possessed. Interview with Brian Montana, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside. de/interview/possessed/ (letzter Aufruf 02.02.2022); Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 87 (Mustaine). 205 Johan Axelsson reagierte auf seinen unerwarteten Rauswurf bei Carnage fassungslos: »The following 6 months after my departure, I had a really hard time. Emotionally it was a desaster, because I did so much for the band, I built it up, created it from the beginning & then you don’t fit anymore, so it was very hard for me, but it’s all in the past by now.« Frank Stöver, Voices From The Darkside 5, in: ders. (Hg.), Voices, S. 30.
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änderten sie ihren Namen vor ihrem ersten Konzert zu Grave, entwarfen ein neues Logo und spielten fortan mit einem anderen Bassisten. Der Geschasste war bei der Show jedoch zugegen und sah seine Band unter anderem Namen.206 Es handelte sich dabei um eines vieler Beispiele, bei denen sich der indirekte Lösungsweg aus Furcht vor der direkten Konfrontation als kontraproduktiv herausstellte.207 Freiwillige Rücktritte und auch Entlassungen führten oft dazu, dass sich die soziale Funktionslogik einer Band von bipolaren Entscheidungsstrukturen zu klaren Band-Leadern wandelte: Durch Kirk Hammetts Wechsel von Exodus zu Metallica rückte Gary Holt 1983 in die Position des Haupt-Songschreibers und Band-Führers auf,208 durch die Entlassungen Bob Rusays und Chris Barns bei Cannibal Corpse (1993/95) verlagerte sich ein empfundenes soziales Gleichgewicht in Richtung eines Band-Leaders Alex Webster209 und mit dem Abgang aller anderen Band-Mitglieder zu Profanatica war John McEntee 1990 der unangefochtene Kopf der Band Incantation geworden: »with Incantation, there was a certain way I wanted the things to be, and everybody either agreed with me or respected my opinion.«210 In vielen, aber nicht in allen dieser Fälle fand dabei die Verlagerung auf das noch verbleibende Gründungsmitglied statt. Ein Paradebeispiel für diese Hierarchieentwicklungen, in denen sich bandintern wechselnde Koalitionen und Ziele artikulieren konnten, ist die frühe Phase der Band Anthrax aus New York. Die 1981 gegründete Band stellte 1982 den Sänger Neil Turbin ein, der es als sein Ziel betrachtete, die Bestrebungen des Gründungsmitglieds und Gitarristen Scott Ian »to be the central figure in the band«211 zu unterbinden. Laut Turbins Selbstverständnis musste der Sänger auch der Frontmann der Band sein. Aus Gründen, die zwischen Humor-Differenzen, Drogenkonsum, Unzuverlässigkeit und der Körpergröße lavierten, entließ Turbin den Bassisten und das Gründungsmitglied Dan Lilker 1984, ohne den Rest der Band zu informieren. Scott Ian ließ daraufhin Lilker fallen – im bandinternen Machtspiel hatte sich Turbin mit der schweren Ersetzbarkeit markanter Sänger gegen Lilkers Gründungsargument durchgesetzt. Auf der folgenden Tournee verschoben sich die Koalitionen abermals und die Band erkannte, dass sie mit Turbin einem bandintern isolierten »dictator«212 durch die Entlassung Lilkers eine Bestätigung seines Anspruches ermöglicht hatten. Gemeinsam entließen sie Turbin und Ian begründete diesen Schritt im Nachhinein mit einem Verstoß gegen den demokratischen Grundsatz der Band.213 Neben der Tatsache, dass die frühen Phasen von Metal-Bands schwer berechenbare und dynamische Entwicklungen nahmen, veranschaulicht dieser Einzelfall eine Beobachtung, die sich bereits hinsichtlich des »family«-Vergleichs andeutete: Sprachen Musiker von »family«, dann oft im Zusammenhang mit der Durchsetzung von Autorität und 206 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 79. 207 Als Anthrax 1992 ihren Sänger Joey Belladonna entlassen wollten, betrauten sie Jon Zazula damit, weil sie sich nicht trauten. Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 155. 208 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 217. 209 Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 133. 210 Andreyuk, Tape Dealer, S. 155. 211 Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 233. 212 Ebd. 213 Vgl. Ian, I’m the man, S. 45.
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wurde die »Demokratie«-Metapher bemüht, dann um einen Machtanspruch zu untermauern. Denn das Ergebnis der ausgebooteten Musiker bei Anthrax war keineswegs eine Band-Demokratie, sondern das Aufrücken Scott Ians zum verbliebenen Gründungsmitglied, Songschreiber und zur Führungsfigur der Band. Dass er sich dabei am Führungsstil von Steve Harris orientierte, machte auch er deutlich.214 Insgesamt ordnen die konstanten Verweise auf soziale und politische Systeme in konflikthaften Situationen das soziale Handlungsfeld der Metal-Band als Verhandlungsort des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft ein, wobei Revolutionen, Systemwechsel und Intrigen ebenso möglich waren wie demokratische Methoden. Es verdeutlicht die Vielfalt möglicher Hierarchieentwicklungen in Metal-Bands, dass sich Deutungshoheiten und informelle Führungsansprüche aber auch gänzlich ohne konflikthafte Besetzungswechsel ausprägen und auch zwischen Musikern wechseln konnten. Aus Sicht von Brian Tatler war dies bei der Band Diamond Head der Fall und hing von der Gründungsfigur, dem Proberaum, der musikalischen Qualifikation und der Involvierung Dritter ab: I would say at first it was myself, we rehearsed in my bedroom at first. Later on, when Colin joined, we used to rehearse in his dad’s factory in Cradley Heath on a Sunday afternoon, but I think we still rehearsed in my bedroom as well. We would probably do two rehearsals a week. But as Sean became more and more involved in the writing and obviously, he’s the front man, so people wanted to hear what Sean has got to say. It became a sort of balance, where it was me and Sean. We did all the writing pretty much and so we were very good together, we complemented each other. He was very good at lyrics, I’d be good at riffs, but we would also work on arrangements together and could get a song up and running quite quickly. But then once management got involved the power base shifted over to Sean. Eventually it was Sean’s mother involved and Sean’s mother’s boyfriend, Reg, and everything was based at Sean’s house. So, then the rest of us would go to Sean’s house. That’s when Sean became more powerful than myself. I’m not an aggressive a person. I’m fairly laid back and easy going. […] That is probably one of the reasons we lasted as long as we did because we weren’t constantly fighting and arguing.215 Indem Tatler beschreibt, dass es unter anderem vom subkulturellen Kapital von Sean Harris als Sänger sowie an seiner familiären Vernetzung mit dem Management abhing, dass er seine Position als Band-Leader langsam verlor, verweist er auf zwei wichtige Entwicklungsaspekte der internen Beziehungen von Metal-Bands: Zum einen stellte der Einfluss von Plattenfirmen, Medien und Managements eine neue Herausforderung dar, die häufig mit der Frühphase einer Band abschloss (Kap. 4.4.3). Zum anderen konnte ein musikalisches Alleinstellungsmerkmal eine Unverzichtbarkeit begründen und den jeweiligen Musiker in eine starke bandinterne Position bringen.
214 Vgl. ebd., S. 46. Andererseits macht Ian auch ganz klar, dass er sich an Harris und Iron Maiden orientierte und einen Führungsanspruch in der Band behauptete: Wenn es um die Band geht, wird er eine andere Person. – »Ich bin nicht eure Mutter. Ihr könnt machen was ihr wollt, solange es nicht die Leistung beeinflusst.« Ebd., S. 141. 215 Interview Brian Tatler, 09.39-11.33 Min.
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In einer Ballung bestimmter Instrumente bei Frontmännern wirkte sich dies nicht aus – hier war jedes Instrument vertreten –, sondern resultierte besonders in der Konkurrenz der Gitarristen. Vor allem seit der Etablierung des »twin-guitar«-Sounds von Bands wie Judas Priest oder Iron Maiden stellte die Gitarre das einzige mehrfach in einer Band vertretene Instrument dar und war konstanter Anlass für musikalische Revierkämpfe. So lesen sich die Erinnerungen von K. K. Downing wie eine späte Abrechnung mit Glen Tipton und zeugen von der internen Rivalität der beiden Gitarristen bei Judas Priest um Bühnenpositionen, Solo-Vergabe und Aufmerksamkeit.216 »Lemmy« betonte in seiner Autobiografie sogar, nur mit einem Gitarristen gespielt zu haben, weil er die Gefahr einer Rivalität nicht in Kauf nehmen wollte und endete in der nur sozial verständlichen Aussage »…mit nur einem Gitarristen kann man alles machen.«217 Und auch zwischen den beiden Gitarristen von Saxon, Paul Quinn und Graham Oliver, herrschten Spannungen.218 Obgleich die Aussagen von Bassisten, einer Rock-historisch chronisch Gitarristen-kritischen Gruppe, in diesem Zusammenhang zusätzlich zu hinterfragen sind, spricht doch vieles dafür, Kevin Riddles zu folgen und die soziale Reibungsfläche zwischen den Gitarristen auf die herausgehobene Bedeutung des Instruments für die Heavy Metal-Musik und die Performance zu betonen: But there is a reason why there are 20 guitar players to each bass player. And that is because the guitar is so much more accessible and acceptable. […] Fans can identify more easy with a guitar player. Guitar player generally spend a lot of time making what they do look easy.219 Die Entscheidung für die Gitarre wäre – auf diese Weise verstanden – also stets auch eine soziale Entscheidung gewesen, die viel über Öffentlichkeitsdrang und Geltungsbedürfnis verriet und im Falle von Rivalitäten zu Entfremdungserscheinungen von den Mitmusikern führen konnte. Im Fall der Band Saxon manifestierte sich dieses Degradierungsgefühl von Graham Oliver in einem Rückzug ins Private, dem Ende der »gang mentality« und der Eifersucht auf die medienwirksame Positionierung des Sängers Biff Byford.220 Das Beispiel deutet dadurch an, dass es nicht mit musikalischen Qualitäten oder Rollen zusammenhängen musste, dass Musiker mehr subkulturelles Kapital akkumulierten als ihre Band-Kollegen. Besonders in kommerziell erfolgreichen Bands etablierten sich »Sprachrohre« mit den Medien, deren Präsenz in Magazinen, Fanzines und teilweise im Fernsehen zu einer visuellen Verschmelzung des Band-Images mit einem BandMitglied führen konnten. Beispiele dafür sind etwa Bruce Dickinson, Rob Halford, Lars Ulrich, Kerry King oder eben Biff Byford. Andere Methoden der individuellen Reputation konnten körperliche Praktiken sein, durch die Medienpräsenz und vor allem Legendenbildung einsetzte. Indem Glen Benton (Deicide) auf der Bühne ein umgedrehtes Kreuz in
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Vgl. Downing, Leather Rebel, S. 76f., 80, 210–213. Kilmister, White Line Fever, S. 117. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 107. Interview Kevin Riddles, 14.10-15.50 Min. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 107, 163, 173.
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seine Stirn brannte oder bei einem Interview angeblich ein Eichhörnchen erschoss,221 indem Per Ohlin (Mayhem) seine Unterarme auf der Bühne derartig tief einschnitt, dass er beinahe verblutete222 oder indem Bruce Dickinson eine unnachahmliche Kommunikation mit dem Publikum entwickelte: Auch bei konsequenter und erfolgreicher Etablierung einer traditionell-geschätzten oder einmalig-erinnerungswürdigen Bühnenerfahrung konnten sich Band-Mitglieder unverzichtbar machen.
Abb. 32: Trey Azagtoth (Morbid Angel) 1989 – Ein frühes Beispiel selbstverletzenden Verhaltens auf der Bühne.
Foto: unbekannt, URL: https://mundus-absconditus.tumblr.com/post/ 65617297231/trey-azagthoth-of-morbid-angel-bleeding-for-the (letzter Aufruf 10.02.2022).
Zusammenfassend kennzeichnete das Nebeneinander von Kooperation und unklaren Kompetenzen, von Autorität und kreativer Freiheit, von wechselnden Koalitionen, sowie von Erfolg und Misserfolg die soziale Organisationsform der Metal-Band als hochdynamisches Spiel um Einfluss-und Machtpotentiale, als Lern-und Professionalisierungsprozess, aber auch als eigentümliche Mischung aus Individualisierungsmöglichkeit und enger Vergemeinschaftung. Viele Musiker kehrten diesem Prinzip früher oder später enttäuscht, erschöpft, frustriert, betrogen oder ausgebootet den Rücken oder wunderten sich über dessen irrational anmutende Funktionsweise. Jim Whiteley bezeichnete bei seinem Ausscheiden aus Napalm Death die Band etwa als »diktatorisch geführte Demokratie.«223 Viele andere Musiker vereinbarten die Arbeit mit der Band mit »day jobs« oder zunehmenden musikbezogenen Erwerbsmöglichkeiten und nahmen dadurch dem Erwartungsdruck die Schärfe und lernten sich als Gemeinschaft kennen. 221 Vgl. Swiniartzki, Why Florida?, S. 183. 222 Eindrücklich beschrieben bei Alsleben, MAYHEM live in Leipzig, S. 71–73. 223 Mudrian, Choosing Death, S. 138.
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Für sehr wenige dagegen war die Band das Sprungbrett einer konsequenten Selbstverwirklichung als visionäre »Unternehmer ihrer selbst« und mit großen kommerziellen Erfolgen. Der »Moment«, an dem sich diese Wege trennten, war oft der als bruchartig empfundene Beginn der Professionalität, verbunden mit dem Einzug der Finanzen in die Funktionslogik der Band.
4.4.3 Die Professionalität als Wendepunkt A lot of these bands, who came through in the early 90's and in the end of the 80's, were really driven and hard-working musicians. And it’s very important, […] all the bands, who did not put the work or the effort in, those bands are gone today. But all the bands, who put really everything on the line and who didn’t care about their own wealth or whatever, they did it because it was fun and they liked what they were doing, they still are around and they are still playing, most of them, today, if they’re all alive and well. And that’s important to remember, that that type of drive and determination is still kind of the trademark for all those bands.224 Diese Aussage von Fred Estby (Dismember) ist keine Selbststilisierung oder Eigenlob, sondern entspricht den historischen Band-Entwicklungen. Metal-Bands, dies wurde bereits deutlich, verdienten zum allergrößten Teil wenig bis gar kein Geld und ihre Musiker waren auf »day jobs« angewiesen. Die enormen Anstrengungen, die in ihre Bands investiert wurden, tätigten sie aufgrund einer leidenschaftlichen Herangehensweise, die Spaß machen musste. Dass es sich dabei um Selbstausbeutung handelte, wurde daher klar, wenn sich der musikalische Fokus und die DIY-Vorgehensweise weiteten und plötzlich Verträge einschlossen, die ökonomische Zwänge, die Kontrolle Dritter oder sogar Versuche der musikalischen Beeinflussung beinhalteten. Für das soziale Gefüge der Band ging dieser Übergang in die Professionalität mit starken Belastungen einher, was vor allem an einer Ambivalenz aus dem Wunsch nach einem Plattenvertrag und der häufig defizitären Kenntnis über dessen Folgen zusammenhing – denn auf Selbstausbeutung folgte nicht selten Ausbeutung durch Andere. Zunächst intendierten aber alle Bands einen Plattenvertrag – trotz der anti-kommerziellen Vorbehalte, die zum Säbelrasseln der Rock-Tradition gehörten (Kap. 7). Nur der Vertrag mit einem Plattenlabel ermöglichte langfristig ein volles Einkommen aus der Musik, die Verbreitung der Songs über das DIY-Netzwerk hinaus sowie die Verwirklichung als kreative Künstlerfigur. Brian Slagel, der Gründer von Metal Blade Records aus Los Angeles, verpackte diese Bedingung in seiner Autobiografie als: »It generally comes down to ecenomics. A major label has the ability to offer a group the kind of money that young men can’t refuse, and it’s great for those bands to get that opportunity.«225 Selbst im Extreme Metal wurde aus der Unausweichlichkeit eines Plattenvertrags in der Regel kein Hehl gemacht.226 Aussagen, die diese Intention zurückwiesen, waren entweder frühen Bandphasen mit sehr jungen Musikern geschuldet, verarbeiteten Misserfolge 224 Interview Fred Estby, 25.20-26.13 Min. 225 Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 75. 226 Vgl. Zierleyn, Booklet to »Black Death« (Fenriz/Darkthrone); Vgl. Forbes, Prime Evil (Mary Ciullo); Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 52 (Matt Olivo/Repulsion).
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oder gehörten in den Bereich der anti-kommerziellen Selbststilisierung,227 deren Widersprüchlichkeit besonders von Label-Gründern gerne bespöttelt wurde. Denn individuelle Aufmerksamkeitssuche und eine vollständig DIY-organisierte Produktion und Distribution waren unter Prä-Internet-Bedingungen noch nicht vereinbar – was Bogdan Kopec als kreative Konstante formulierte: »Es gibt niemanden, der eine Band gründet und nicht berühmt werden will. […] Wenn du das nicht willst, dann schnapp dir eine Wandergitarre und spiel am Lagerfeuer.«228 In Antizipation eines bevorstehenden Plattenvertrags zu leben gestaltete sich um 1980 anders als um 1990. Für die NWOBHM-Bands, die geregelten Arbeitsverhältnissen nachgingen, nebenbei in Clubs, Pubs und Colleges auftraten und zum überwiegenden Teil schnell bei kleinen Indie Labels wie Neat Records oder Guardian Records unterschrieben hatten, waren diese Verträge finanziell bedeutungslose Dokumente, die der Anbahnung eines Vertrags mit einem Major Label dienten. Für die jüngeren Musiker in den Extreme Metal-Szenen der frühen 1990er Jahre war dagegen der Vertrag mit einem Indie Label das Ziel, der auf eigene Faust bei kleinen Studios aufgenommene Demos als vollwertige Produktionen ermöglichen sollte und den einzig offenen Weg zum »Ruhm« darstellte. Lebensweltlich und hinsichtlich des Band-Gefüges waren dies sehr verschiedene Situationen. Während Bands wie White Spirit oder Fist mittelfristig von der NWOBHM profitierten, Platten veröffentlichten, aber nicht daran verdienten, um schließlich in geregelte Erwerbsverhältnisse zurückzukehren, befanden sich um 1990 viele junge Metal-Bands in gespannter Erwartung eines Durchbruchs, den sie aufgrund der großen Wirkung ihrer Demos im Tape Trading-Netzwerk erhofften – der aber biografisch die Aus-oder Weiterbildung durch ein massives DIY-Engagement für die Band gefährdete.229 Das Ausbleiben eines Vertrages nach einer Zeit in der Schwebe enttäuschte diese Erwartungen und führte in vielen Fällen zum Wechsel in den Arbeitsmarkt oder ein Studium.230 Eine Thrash Metal-Band wie Maelstrom aus New York kennen daher heute nur noch wenige Metalheads, obgleich sie 1990/91 Band-Wettbewerbe gewann, qualitativ-hochwertige Demos in Studios produzierte, in den Top Ten des Reader-Polls von Metal Forces sowie im Tape Trading-Netzwerk und vielen Radiostationen vertreten war.231 Es handelte sich um eine Band, die es trotz größter Anstrengungen nicht geschafft hatte und dadurch zerfiel. Die gespannte Erwartung und aufopferungsvolle Suche nach dem »record deal« fiel also in prekäre biografische Situationen und hatte großen Einfluss auf die Stimmung und den Zusammenhalt einer Band. Exemplarisch lässt sich diese Phase an der Band Prime Evil aus New York veranschaulichen, die zwischen 1986 und 1992 bestand und die bis 1990 einen erfolgreichen und DIY-organisierten Weg aus Demos und Konzerten gegangen war – nun aber die Investition durch einen Plattenvertrag benötigte, um die
227 So etwa Jess Cox, in: Popoff, Wheels of Steel, S. 189; Vgl. zum Narrativ des »We didn’t do it for the career« Tomas Lindberg, in: Jon Kristiansen, Slayer 20 (2010), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 702. 228 Interview Bogdan Kopec (2), 33.30 Min. 229 Vgl. Tucker, Neat & Tidy, S. 42–46, 71–95 (mit vielen Band-Beispielen aus der NWOBHM). 230 Vgl. Forbes, Prime Evil. Interview with Mary Ciullo. 231 Vgl. Forbes, Maelstrom. Interview with Gary Vosganian, in: Metalcore Fanzine.
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kommerziellen Grenzen des DIY zu überwinden. Die Band gehörte zu den erfolgreichsten im Underground, spielte als Vorband für viele nationale Tourneen in New York und war bestens vernetzt. Aufgrund ihrer Veröffentlichungen, so Bandgründer Mike Usifer, »almost everyone in the underground was saying that we were going to be the next big band.«232 Es spricht sowohl für die tiefe Verwurzelung im DIY als auch für das Selbstbewusstsein, dass die Band mehrere Angebote von Indie Labels ablehnte, weil die Verträge keine qualitative Verbesserung der bisherigen Lage versprachen und die Band die Urheber-und Verlagsrechte hätte abgeben müssen – was für Usifer nicht in Frage kam.233 Im Netzwerk aus den Bands sowie A&R-Agenten der großen Indie Labels, in dem jeder jeden kannte, ließen Prime Evil nichts unversucht: Gene Hoglan, Drummer der Band Dark Angel aus Los Angeles, brachte Jim Welch, den A&R von Combat Records eigens zu einem Konzert, um einen Vertrag anzubahnen, doch das Label verpflichtete aktuell keine Bands. Die befreundete Band Demolition Hammer, ebenfalls aus New York, empfing die Besitzer des Indie Labels Century Media aus Dortmund, die das neueste Material von Prime Evil aber als zu technisch ansahen und lieber Demolition Hammer unter Vertrag nahmen.234 Die Band sandte ihr Demo Tape an etwa sieben andere Labels und erhielt ein Angebot von Kraze Records, die unter anderem die befreundete Band Ripping Corpse unter Vertrag genommen hatten. Man verhandelte sechs Monate über den Vertrag und Prime Evil nutzte sogar den Anwalt, der auch die befreundete Band Suffocation vertrat, doch als die Unterzeichnung anstand, meldete das Label Konkurs an. Die letzte Veröffentlichung organisierte die Band schließlich über die Fanzine-Kanäle beim neugegründeten Label Rage Records zweier einflussreicher Fanzine-Herausgeber im Jahr 1992.235 Das soziale Band-Gefüge erodierte während dieses Prozesses: Bereits 1990, so Usifer, »the morale of the band was in decline.«236 Im November 1991 verkündete Todd Gukelberger, der Drummer der Band, bei einer Bandprobe seinen Ausstieg und gab als Begründung den geplatzten Vertrag mit Kraze Records an. Er war es leid, Geld in die Band zu investieren und die Zurückweisung der Musikindustrie zu ertragen. Er schrieb sich an einem Graduate Art College ein. Seine Band-Kollegin Mary Ciullo musste in dieser Situation die lebensweltliche Rationalität mit der Binnenrationalität der Band vereinbaren: »Although I hated what he was saying and I knew what him quitting the band meant, I could hardly argue his point.«237 Der Schlagzeuger war der Band jedoch nur zuvorgekommen: Die Band war ohne Label-Investition weit gekommen, hatte sich jedoch in einer Mischung aus Prinzipien und falschem Timing verpokert und konnte den Stand der Band mit dem Zwang zum Lebensunterhalt nicht mehr vereinbaren: Those of us that stuck it out to the end were no longer in school or living with parents. We all had full time jobs, our own places, and plenty of bills. Without any backing, it 232 233 234 235
Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer, in: Metalcore Fanzine. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Dies waren Ed Farshtey (Book of Armageddon Fanzine) und Joe Pupo (Rage of Violence Fanzine) mit der ersten Veröffentlichung ihres neuen Labels (1.000 Exemplare). 236 Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer. 237 Forbes, Prime Evil. Interview with Mary Ciullo.
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was getting harder for us to afford to keep going at the level we were at back then. Our next step was to record and release a full length album, but we couldn’t do that on our own. We had a show in July of 1992 at The Marquee in NYC with Brutal Truth, Incantation, and Pungent Stench. We knew that there were going to be record label’s A & R at the show, and we decided that if we didn’t get any interest, that would be our last show. We didn’t make any announcements, and we didn’t get any offers…. It was just over.238 Im Fall von Prime Evil war der Beginn der »Professionalität« daher nicht der Beginn des Wandels der Band-Chemie, sondern führte aufgrund seines Ausbleibens bereits zum Ende der Band und dürfte ein Beispiel für viele Band-Biografien sein, in denen sich die prekäre Unsicherheit des Vor-Vertrags-Zustandes nicht mehr aufrechterhalten ließ. Metal-Bands, die dagegen Plattenverträge unterschrieben hatten, machten andere soziale Erfahrungen, die aber zu den gleichen Ergebnissen führen konnten. Der Einstieg ökonomischer Interessen schuf Neufokussierungen auf nicht-musikalische Aspekte, erzeugte den Eindruck der Ausbeutung durch Dritte, die im schlimmsten Fall nicht einmal musikalisch interessiert waren und machte die Musiker mit einem Kreislauf aus Investition und Reinvestition bekannt, der nach einer anfänglichen Euphorie wenig Geld übrigließ. Einige Musiker begegneten dieser neuen Form der Kontrolle proaktiv, ließen sich über alles informieren, bildeten sich vertragsrechtlich weiter, handelten günstige Konditionen aus und betrachteten die Situation pragmatisch als notwendigen Schritt zum Erfolg.239 Wesentlich häufiger breiteten sich mit der neuen Funktionslogik der Band aber Unzufriedenheit und Frustration aus. Donald Tardy (Obituary) beschreibt diese Entwicklung als direkte Folge der Unterschrift unter einen Plattenvertrag: If you have ever been in a band for a year or more, it’s fun, but there are some strange relationships that come along. After you get signed, and the business aspect of it becomes a factor, that can be both stressful and frustrating when you are trying to just write and play music.240 Während Tardy den Wandel des Fokus von der Musik auf den »business aspect« problematisiert und damit noch ein eher mildes Urteil über die vertraglichen Verpflichtungen fällte, formulierten viele andere Musiker die Folgen dieses Schritts als Objektifizierung ihrer selbst und ihrer Musik in einem Geschäft, dem es nach ihrer Ansicht gar nicht um die Musik ging und von wo es argumentativ bis zum Betrugsvorwurf nicht weit war. John Roach erlebte dieses Gefühl, als er nach seiner Zeit bei Mythra als Gitarrist bei Fist einstieg: I came to the realization when I was in Fist, as part of the Neat Records stable, that the business of music – it’s been called music business for the whole time – that I was
238 Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer. 239 Zur kontrollierten Band vgl. Glen Pillsbury, Damage Incorporated. Metallica and the production of musical identity, New York 2006, S. 60f.; Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 42; Vgl. Wall, Run to the Hills, S. 116f. 240 Netherton, Extremity Retained, S. 436.
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involved in it. That was the first time that I actually realized that there is a business and the business is music, but the music is a very, very small part of the business. And everybody gets their slice and what’s left is for the band. So, the band has to be enormous to actually become financially viable from that.241 Trotz seiner Ernüchterung über das »Business« erkannte Roach dennoch klar, wie es idealerweise funktionierte: In einer ökonomischen Gleichung, in der die Umsätze für Tourneen, Merchandise und Platten enorm waren, die Gewinne aber letztlich klein ausfielen, war konstantes Wachstum der einzige Weg zu einem auskömmlichen Leben als Musiker. Die dafür verwendeten Methoden der Label standen jedoch in krassem Widerspruch zu der bisherigen Erfahrung der Bands. Gewinne wurden konsequent reinvestiert, wozu die Plattenlabel jedes vertragliche Recht hatten.242 Die vorhandenen Aussagen legen nahe, dass die jungen Musiker die Verträge entweder nicht richtig verstanden oder nicht lasen und dass daraus spätere Missverständnisse und Konflikte resultierten. So war es beispielsweise üblich, dass ein Budget zur Produktion eines Albums zum Teil als erstattungsfähig (»recoupable«) zur Verfügung gestellt und im Falle des Verkaufserfolgs eingezogen wurde. Für die Musiker bedeutete dies, dass das Budget auch ihren Lohn enthielt, später verrechnet oder bei Misserfolg zurückgefordert wurde. Dan Lilker verdeutlicht das fehlende Wissen um diese Klauseln seitens vieler Musiker mit dem Hinweis auf deren anscheinend verbreitete Gewohnheit, sich vom Platten-Budget erst einmal ein Auto zu kaufen.243 Auch Biff Byfords Erinnerungen sind durchzogen von einer mangelnden Beschäftigung mit den als intransparent empfundenen Methoden des Labels Carrere und seiner Meinung, dass letztlich all das Geld, das eine Band erzeugt, auch ihr eigenes Geld sei. Eine solche Herangehensweise konnte nur enttäuscht werden: Vor dem Album »Denim and Leather« (1981) erhielt die Band 25.000 ₤ für die Produktion und jeder der Musiker 4.000 ₤ – das erste echte Einkommen, das Byford nach bis dahin drei Alben vom Label erhielt. Zwischen 1979 und 1981 war die Band ein reines Reinvestitionsprojekt gewesen. Carrere Records setzte die Musiker schließlich ab 1981 auf ein monatliches »salary« von 400 ₤, während keiner der Musiker am Erlös der Platten oder des Merchandise beteiligt wurde. Erst mit dem Wechsel der Band zu EMI stieg der »Lohn« auf 1.000 bis 1.500 ₤ pro Monat.244 Da dieses Vorgehen nicht der wirtschaftlichen Funktionsweise der Band vor dem Vertrag entsprach, in der die Bezahlung für Konzerte oder Demo-Verkäufe als Einkommen betrachtet und behalten wurde, waren viele Musiker schockiert, wie wenig sie schließlich nach Vertragsunterzeichnung vom Label erhielten. Barry »Baz« Thomson, Gitarrist bei Bolt Thrower von 1986 bis 2016, gab 1991 gegenüber dem Putrefaction Fanzine an, aus dem Vertrag mit Earache Records kein Geld zu verdienen, da sämtliche Gewinne in die Bandentwicklung zurückflossen.245 Die Liste der Metal-Musiker, die aus diesen
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Interview John Roach/Maurice Bates, 72.17-72.50 Min. Vgl. Interview Bogdan Kopec, 50.24-53.03 Min.; 21.10-32.27 Min. (zweites Interview). Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 45. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 127, 129, 167. Vgl. Tomas Nyqvist, Putrefaction 5 (1991), Strängnäs, S. 4.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Gründen aus vertragsgebundenen Bands austraten, ist lang und manche beendeten sogar jegliches musikalisches Engagement endgültig.246 Dort, wo Bands zusammenhielten, schufen die Folgen der Reinvestitionspraxis neue Konfliktfelder und Feindbilder. Eine dieser potentiellen Konfliktlinien verlief durch die Band und resultierte aus der ungleichen Verteilung der vertraglichen Gewinne. Diese konnte leistungsbedingt gerechtfertigt sein oder nicht, war aber in beiden Fällen eine häufige Ursache für Unzufriedenheit und Spaltung. In einem Interview gaben die Musiker von Sodom 1992 an, einen Verdienst »wie ein Facharbeiter« zu erhalten, der gut zum Leben ausreiche, während einige der Ex-Musiker jedoch als Austrittsgrund die finanzielle Verteilung ansprachen.247 Zum zentralen Feindbild avancierten aber die Label-Chefs, die als Verkörperung für die empfundene Diskrepanz zwischen musikalischen und geschäftlichen Interessen den Prellbock im Lernprozess der Musiker bildeten.248 Besonders offensichtlich wurden diese Vorwürfe während und nach Tourneen, weil dort der empfundene Bruch mit der selbstorganisierten Phase vor dem Vertrag massiv ausfallen konnte: Auch vor ihren Plattenverträgen unternahmen viele MetalBands seit den späten 1970er Jahren selbstgeplante und eigenfinanzierte kurze Tourneen, wobei sie Absprachen mit lokalen Promotern und Bookern, die Miete der Vans und die Beschaffung des Equipments gemeinsam mit Freunden übernahmen. Dieses Vorgehen hielt auch während der 1980er Jahre an und glich dort, wo es geographisch möglich war, oft einem ökonomischen Nullsummenspiel. Was die Band für die Auftritte verdiente, gab sie auf der Tour wieder aus oder es blieb ein kleiner Gewinn übrig. Die Planungssicherheit war dabei vergleichsweise hoch, das finanzielle Risiko niedrig und die Abhängigkeiten gering. Das Leben einer konstant tourenden Band wie etwa Saxon war deshalb nicht weniger entbehrungsreich, entsprach aber vollständig einem selbstgewählten und unabhängig-authentischen Ideal – Saxon werden daher, wie auch 246 Vgl. Tommy Sandmann bei Destruction, vgl. Jon Kristiansen, Slayer 13 (2002), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 413; Vgl. Matti Kärki über den Ausstieg Richard Cabezas bei Dismember: »Then our bass player, Richard, left because of personal things. He couldn’t take it anymore because of a botched-up tour. We’re not making enough money to live off the music, everybody has regular jobs. He couldn’t just take (the uncertainty) anymore. He just left the band, but there’s no hard feelings.« DISMEMBER Interview with Matti Kärki, 2000, URL: https://www.angelfire.com/mi/de monzine/dismember.html (letzter Aufruf 02.02.2022); Vgl. Rob Yenchs Ausstieg bei Incantation: »Also, financially my dedication to the band was really taking its toll. I needed to generate income, to make a living and prepare for some kind of future. Just surviving was no longer a game plan for me. I had an education and a strong background in technology, so I decided to depart in order to work on these more self-centric goals.« Ramirez, Rob Yench, in: No Echo.; Vgl. Colin Kimberleys Ausstieg bei Diamond Head und aus der Musik generell: »I mean Colin left the band in 1983. He’d already wanted to leave in ’81 but we persuaded him to stay. Then he left again. […] He sold his gear, he took on a day job, he obviously wasn’t interested in playing bass guitar. It wasn’t like he joined another band and continued to play. He almost didn’t want anything to do with music.« Wojtek Gabriel, Diamond Head – Interview with Brian Tatler, 2017, URL: www.noizzeater.net/int /diamond-head-interview-brian-tatler-2017.php (letzter Aufruf 02.02.2022). 247 Vgl. Roland Mattes (Reg.), Lords of Depravity, 136.10 Min. 248 Vgl. etwa Jim Welchs Aussage (in den 1990er Jahren Earache-Chef in den USA) über Chuck Schuldiner: »From day one, he thought the record company was ripping him off and that he was owed all this money. He was actually broke and in debt, but he didn’t understand that.« Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 467.
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hier durch Maurice Bates (Mythra), als der Inbegriff einer Band bewertet, die »es sich verdient hat« und deren Schrullen zu stilprägenden Anekdoten avancierten: The first time we supported Saxon was at the Mayfair. It used to be the second biggest gig in Newcastle. […] We went backstage and there’s Saxon all sitting there. And they had a big cylindrical water boiler and they were drinking tea. […] And I ask Biff »What are you drinking tea for? You can have a rider.« And he says »We’re skins. We make no money of this whatsoever. If someone offers us a rider, we will ask for the money rather than the rider. And we drink tea, because we can’t afford to drink beer.« They were constantly touring, you know.249 Durch die Plattenverträge, die in der Regel Tourneen zur Promotion der Veröffentlichungen enthielten, veränderte sich diese Praxis schlagartig: Tourneen waren geographisch viel breiter angelegt (vor allem wenn sie die USA umfassten), zogen durch größere Spielstätten und erzeugten ob ihrer Ausstattung mit Nightlinern bei den Musikern den Eindruck, es endlich geschafft zu haben. Eine tägliche »Bezahlung« von 5 $ oder einen Wochenaufschlag von 20 auf 25 ₤ (bei einem Major Label wie MCA!) nahm man in Kauf, weil sich die abendlichen Auftritte vor hunderten oder tausenden zahlenden Besuchern schon lohnen würden.250 Mit der größeren Reichweite und den stark steigenden Organisationsausgaben, zu denen vor allem Personalkosten für Crew und Tourmanager gehörten,251 stieg jedoch auch das finanzielle Risiko und während bei einigen Tourneen durchaus größere Beträge zusammenkommen konnten, existieren viele Beispiele für eine bankrotte Tour-Rückkehr, die erheblich das Selbstbewusstsein dämpfen und Fragen nach der Verantwortlichkeit aufwerfen konnte.252 Mitch Harris rekapitulierte in diesem Zusammenhang eine Tournee von Napalm Death: … but then you realize ›Oh … how much does this bus cost?‹ You’d get to the end of the tour and you’d think, ›What do you mean there is no money?‹ So they say, ›Well, you brought a crew, a lighting guy, a sound guy, a guitar and a drum tech, and you paid them in English wages.‹253 Bei der Tournee handelte es sich daher um einen teilweise schmerzlichen Lernprozess, der nur durch familiären Rückhalt oder flexible Erwerbsverhältnisse in anderen Bereichen abgefedert werden konnte. Donald Tardy (Obituary) erinnerte sich beispielsweise daran, in Europa jeden Abend vor etwa 900 Fans zu spielen und etwa 500 $ pro Auftritt zu verdienen, aber dennoch ohne jeglichen Gewinn nach Florida zurückzukehren. Er beschreibt diese Erfahrung aber auch als Initialzündung für ein wachsendes Bewusstsein
249 Interview John Roach/Maurice Bates, 74.54-76.11 Min. 250 Vgl. Jack Owen (Cannibal Corpse), in: Pratt, That Tour Was Awesome; Vgl. Interview Robb Weir/ Tom Noble, 24.18-25.04 Min. 251 Vgl. Interview Bogdan Kopec, 10.35-19.28 Min., 42.00-50.20 Min. 252 Für gute Gewinne vgl. Terry Butler, in: Netherton, Extremity Retained, S. 312, sowie Rick Rozz, in: ebd., S. 316; Vgl. auch Interview Bogdan Kopec, 50.24-51.00 Min. 253 Netherton, Extremity Retained, S. 349.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
in der Band für die multiplen Abhängigkeiten und als Startschuss für ein finanziell-einträgliches Vorgehen auf Tourneen.254 Bogdan Kopec weist überdies darauf hin, dass viele Musiker anscheinend nicht wussten, dass ihnen Verluste auf Tourneen – ebenso wie bei Produktions-Budgets – als verrechenbarer Vorschuss angerechnet wurden und zu späteren Rückforderungen berechtigten. Der Einzug ökonomischer Zwänge wurde in diesen Fällen umso mehr als Bruch mit der DIY-Mentalität empfunden und die Schuldigen schnell ausgemacht: Es gab erfolgreiche Tourneen, aber auch Tourneen die Verluste brachten. Die Plattenfirmen haben das übernommen und als verrechenbaren Vorschuss betrachtet (je nach Vertragsvereinbarung), sodass die Bands es am Ende ihre Verluste teilweise selbst getragen haben. Den Bands war das häufig zunächst egal, weil sie eher das Tourleben interessierte. Später entstand daraus jedoch viel Ärger. Plattenfirmen, die investiertes Geld zurückforderten, sind plötzlich in Ungnade gefallen. Man muss aber bedenken, dass ohne diese Tourneen und die erforderlichen Investitionen keine Band weitergekommen wäre. Kaum eine Band oder deren Management konnte diese Gelder aufbringen, das musste man in Kauf nehmen.255 Die Tournee bildete aber nicht nur aus ökonomischer Sicht den Lackmustest der BandChemie, denn erst hier lernten sich viele der Band-Kollegen richtig kennen. Kurztrips und lokale Shows hatten zuvor zu kürzeren Sozialisationsphasen der Band geführt. Nun lebte man jedoch im wahrsten Sinne des Wortes für einige Wochen auf engstem Raum zusammen. Positive Resultate waren dabei genauso möglich wie das Gegenteil und einige Bands rauften sich nach anfänglichen Problemen auf einer Tournee zusammen, lernten, wer mit wem gut auskam und teilten die Zimmer (wenn nicht im Bus geschlafen wurde) dementsprechend auf. Dies betraf unter anderem die Thrash Metal-Band Vio-Lence aus der San Francisco Bay Area, auf deren erster Tour sich eine Rollenverteilung im Alltagsleben etablierte, die die Beteiligten als eine Form der »disfunctional family«256 einordneten. Der Sänger Sean Killian entwickelte sich zum Spaßmacher der Gruppe, während der Drummer Perry Strickland sein »Publikum« bildete. Beide teilten sich stets ein Zimmer und die Späße gingen nicht selten auf Kosten des (von Forbidden Evil) neueingetretenen Gitarristen Robb Flynn. Aus Sicht der Akteure war dies die Grundlage eines Lern(»we grew a lot in that van together«) und Arbeitsprozesses (»something we had to work on«).257 Auch Donald Tardy hebt die vielen Kleinigkeiten eines Tour-Prozesses hervor, an die sich die Band-Mitglieder erst gewöhnen mussten und mit denen es verantwortungsbewusst umzugehen hieß. Die Metal-Band wurde aus dieser Sicht erst auf der Tour zu einer sozialen Einheit:
254 Vgl. ebd., S. 323, 325 »I was not until after that when we realized that, ›Hey, our albums are selling, we have a popular following; let’s set this up so we can go on tour and come home to pay our bills.‹ Then we got smart about what shows we did, who we toured with, and who we supported.« 255 Interview Bogdan Kopec, 50.28-51.42 Min. 256 Vgl. Jerry Allen (Reg.), Vio-Lence: Blood and Dirt, USA 2006, ab 25 Min. 257 Ebd., 29.10 Min.
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That tour [was] the learning process of how to be a band, how to be a good band member, and being responsible enough to not get left behind and miss shows, lose passports, or just become a complete idiot and get fired from a band. It was one of those things where it was a learning process but it was a great experience just to figure out that it’s awesome being on stage together, but it’s that travel, living together, you’re basically married to four other people in your band and you have to make that work for it to be successful.258
Abb. 33: Schlafplätze im Van auf einer Tour von Unleashed.
Quelle und Erlaubnis: Johnny Hedlund.
Wenn das Band-Gefüge die Herausforderungen der Tour überstand, konnte sich das permanente Reisen auch zu einer willkommenen Abwechslung entwickeln, die etwa Musiker wie Dan Lilker ausgiebig zum Kennenlernen fremder Orte, Küchen und Kulturen nutzten.259 Bands, die bereits in DIY-Manier getourt waren, hatten es dabei einfacher
258 Pratt, That Tour Was Awesome. 259 Vgl. Nathaniel Colas, Nuclear Assault. Interview with Danny Lilker, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/nuclear-assault-2/ (letzter Aufruf 02.02.2022).
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
und als Gruppe schon »Lehrgeld gezahlt«. Girlschool tourten beispielsweise wie viele andere junge Bands auch zu sechst mit sämtlichem Equipment in einem Bedford-Van und übernachteten im Bed & Breakfast.260 Andererseits legte die Tour aber auch schonungslos die Inkompatibilität bestimmter Charaktere offen. Peter Hansson von der schwedischen Band Therion (bis 1993) bezeichnete 1990 im Isten Fanzine das Kennenlernen der »defects« der Anderen wie auch der eigenen »defects« als Grundvoraussetzung des Band-Alltags und wunderte sich keineswegs, dass viele Bands diese Phase nicht überstanden.261 Auf der Tour gab es dafür jede Menge Anlass: Bestimmte Musiker gingen sich einfach auf die Nerven, beschwerten sich über »naggin‹ and cryin‹«262 und die Unzufriedenheit wie schlechte Laune. Ruhigere Personen kamen mit der »quirkyness« lebhafterer Charaktere nicht zurecht oder man warf sich gegenseitig mangelnde Leistung oder Einsatzbereitschaft vor.263 Hinzu kamen auch Probleme mit der Crew.264 Es existierten daher Band-Zusammensetzungen, die sich »on the road« derartig entfremdeten, dass sie sich nach dem Ende der Tour umgehend trennten. »Inklusionsarrangements«, die man sich in der sporadischen und oft lediglich musikalischen Kommunikation und Zusammenarbeit in der Heimat aufgebaut hatte, überdauerten die dauerhafte Notwendigkeitskooperation der Tournee in solchen Fällen nicht. Andere Gründe waren auch Heimweh, das fehlende Geld oder Konflikte mit einer anderen Band.265 Dennoch überdauerten natürlich mehr Bands die TourHerausforderung als dass Musiker ersetzt oder Bands aufgelöst wurden. Es zogen Gewöhnungseffekte der Band-Kommunikation ein, das Maß der Kontingenz in den frühen Bandphasen schwächte sich ab und nach einigen Jahren hatten viele Bands relativ stabile Lineups gefunden. Zu den Kernaspekten dieses Lernprozesses gehörte die Herausbildung und Pflege gemeinsamer Praktiken, von denen im Folgenden der Band-Alltag, das Songwriting sowie die Produktion näher beleuchtet werden.
260 Vgl. Enid Williams, in: Stewart-Panko, Girlschool Interview. 261 Vgl. Mattila/Lahtinen, Isten 5 (1990), S. 5. 262 Vgl. Phil Fasciana über die Entlassung von Jeff Guszkiewicz bei Malevolent Creation. Richard Johnson, Disposable Underground 1 (1991) 2. 263 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 312, 314 (James Murphys Ende bei der Band Death); Vgl. Frank Stöver, Massacre, in: Voices From The Darkside 5, in: ders. (Hg.), Voices, S. 47f. (Kam Lee und Rick Rozz über das Ende von Bill Andrews und Terry Butler bei Massacre – es fehle ihnen an »devotion and enthusiasm« und es bewahrheite sich, dass erfolgreiche Bands nicht mehr als zwei »Gravitationszentren« besäßen). 264 Interview Bogdan Kopec: »Bei einer längeren Tournee musste u.a. auch der Tourfrieden gewahrt werden. Ich habe die Tourneen immer wieder zwischendurch in diversen Städten besucht, um mit allen Beteiligten, Musikern, Crew, Tourmanager die Lage zu besprechen. Manchmal gab es Streit, zum Beispiel zwischen den Roadies und der Band. Manchmal hatte auch der Roadie recht, aber in diesen Fällen musste man auf der Seite der Musiker sein [lacht]. Wenn zwei Bands gemeinsam auf Tour waren und die eine Band im Vorprogramm des ›Headliners‹ spielte, gab es ebenfalls manchmal eifersüchtiges Verhalten und man musste zwischen den Leuten schlichten« 45.28-46.10 Min. 265 Vgl. Jonas Torndals Ausstieg bei Grave (1992). Frank Stöver, Voices From The Darkside 1 (1992), in: ders. (Hg.), Voices, S. 38; Vgl. Steve Asheim (Deicide) und die Probleme mit der deutschen Band Atrocity auf Tournee. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 335.
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Abb. 34: Napalm Death am Flughafen in Seoul nach der ersten Japan-Tournee 1989.266
Foto: Martin Nesbitt, URL: www.homeofmetal.com/the-archive/napalm-deathphotograph-1989/.
4.4.4 Gemeinsame Praktiken der Bands – Do- It- Yourself I’d never been heard before. It was always, you’d aim for a record deal, a big record deal. You had your EMIs and CBSs. But certainly, with Rough Trade and all these tiny labels, it gave it a different idea that you can make your own record and get a distributor. You can sell it yourself and sell it to specialist record shops.267 (Brian Tatler) Die Praktiken von Metal-Bands kennzeichnete während der »langen 1980er Jahre« eine konstante Zunahme des DIY-Aspekts. Viele Tätigkeiten einer Band – Proben, Auftritte, Songwriting, Kommunikation – blieben zwar gleich wichtig, wechselten in ihrer Organisation und Durchführung aber stärker in den Aufgabenbereich der Musiker und ihrer unbezahlten Freunde und Bekannten. Gleichzeitig erweiterte sich aber auch das Feld um Praktiken wie Tape Trading, selbstorganisierte Tourneen, Interviews mit Fanzines sowie den Kontakt mit Indie Labels, College-Radiostationen und spezialisierten Plattenläden. Die Bands und ein kleiner regionaler Kreis leidenschaftlicher Fans initiierten und organisierten sämtliche Schritte der Szene-Bildung selbst und hatten dabei auch deshalb einige Jahre Vorsprung vor den etablierten Playern der Musikindustrie, weil unter den frühen Szene-Gestaltern und Musikern viele waren, die nicht nur Bands, sondern auch Label, Distros, Magazine und Studios aufbauten.
266 Das Foto fängt den Entfremdungsprozess der Musiker ein, der kurz danach in der Trennung mündete. 267 Popoff, Wheels of Steel, 157f.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Der Beginn dieses wichtigen und folgenreichen Aufbruchs lag auch hier in England während der Jahre der NWOBHM, zeigte sich bei den Musikern aber erst zaghaft. Besonders das Tape Trading und das Austesten der Reichweite des DIY gehörten um 1980 noch nicht zu den ausgeprägten Praktiken von Bands.268 DIY war zwar in der Frühphase vorhanden – etwa durch selbständige Produktionen, selbstorganisierte Konzerte oder den Kontakt mit Fanzines –, der Fluchtpunkt der Tätigkeit als Musiker lag jedoch in den Verträgen mit Major Labels, die diese Schritte selbst übernahmen. DIY etablierte sich daher immer auch ausgehend von den vielen Aufgaben, die die Fans für eine Band übernehmen konnten, zum Beispiel Fanclubs, die Organisation von Konzerten oder die Herausgabe eines Fanzines. Seinen umfassenden Durchbruch erlebte die DIY-Mentalität bei den Musikern erst in jenen regionalen Szenen, die sich an die NWOBHM anschlossen. Im Ruhrgebiet erlebte Götz Kühnemund dies als Drang, etwas beizutragen: Wir hatten halt aus der NWOBHM gehört, dass alle irgendwie Teil sind davon. Der eine macht eine Band, der andere macht einen Fanclub, der Dritte ist ein Manager, der Vierte bringt Singles raus, der Fünfte macht ein Fanzine. Das gab es eben alles in England. Und wir wollten dazugehören und wollten auch irgendwas Eigenes machen.269 »Irgendwas Eigenes« zu machen, einen Beitrag zu leisten und sich einzubringen waren zentrale Antriebsmomente für ein immer umfassenderes DIY-Szene-Erlebnis, das sich im Laufe der 1980er Jahre auf sämtliche Aspekte musikalischen Schaffens, Vermittelns und Erlebens ausdehnte. Die Bands bildeten dabei als Produktionseinheiten den zentralen Bezugspunkt dieser Praktiken und standen im Mittelpunkt eines wachsenden Kommunikations-und Handlungsnetzwerks. Sie regelten die Beschaffung von Proberäumen, die Produktion, die Distribution, den medialen Kontakt, das Merchandise und Management, sowie Booking und Promotion in der Frühphase der Bands in enger Kooperation mit ebenso Metal-begeisterten Freunden. Wie lange diese Organisationsform anhielt, hing stark davon ab, ob es der Band gelang, einen Plattenvertrag zu erreichen und wie die Absprachen dabei genau aussahen. Durchschnittlich dehnte sich diese Phase im Laufe des Jahrzehnts in der Metal-Kultur jedoch aus. Während einige Bands während der NWOBHM nur kurze Zeit voll DIY-organisiert arbeiteten und dann Verträge unterschrieben, die unter anderem Pressebeauftragte, Produzenten, Booker und Manager einsetzten,270 blieb dieser Einfluss in den Sub-Genres des Death und Black Metal sehr gering bzw. war gar nicht existent. Aggressives DIY als selbstständige Promotion der eigenen Band entwickelte sich vom Startkapital zum langfristigen Erfolgsgarant, aber schlicht auch zur Notwendigkeit. Kelly Shaefer reagierte auf die Frage nach den Gründen für die wachsende Selbstorganisation seiner Band Atheist mit einem lapidaren »we
268 Vgl. Interview Brian Tatler, 27.40-28.15 Min. 269 Vgl. Interview Götz Kühnemund, 05.35 Min. 270 So berichten Robb Weir und Brian Tatler von »press officers« bei MCA: »When we signed to MCA, they hired a press officer and suddenly we had tons of press, we were in everything. Up until then we would get the odd little bit of press in Sounds but now we were in Jackie and girls-magazines and everything once MCA got involved. It’s expensive to pay for a press officer but they would do it for each of their acts.« Interview Brian Tatler, 04.12-04.55 Min.
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didn’t have a choice.«271 Chris Pervelis, der diese Praktiken mit seiner Band Internal Bleeding in den frühen 1990er Jahren ebenfalls anwendete, rekapituliert den dabei geltenden Anspruch als unabhängige und selbstbestimmte Vorgehensweise gegen alle Hindernisse, aber auch als einzige Chance: If you wanted something done, you had to put your nose to the grindstone and do it yourself. I knew that hard work and relentless self-promotion were the only way to get your name out, and I was quite aggressive when it came to promotion and growing the fanbase. […] Looking back, it definitely paid off for the band and even though today we have management, a booking agency and a label, we still do a lot of work ourselves. After all, at the end of the day, no one is going to care more about your product than you are.272 In Musik-Szenen, deren »Standard-Produkt« derart von bis dahin bekannten und als vermarktbar akzeptierten Sounds abwich, war DIY die einzige Möglichkeit einer MetalBand, nach außen zu wirken. Für die Musiker war es dabei wichtig, die zentralen regionalen Schaltstellen über Freunde zu besetzen, ständig auf dem Laufenden zu bleiben und vor allem ein großes Maß an Entschlossen-wenn nicht sogar Rücksichtslosigkeit zu entwickeln. Denn der DIY-Weg stand allen offen und gestaltete sich nicht wettbewerbsärmer als zwischen den Produktionen der Plattenindustrie (Kap. 6). Weil die Musiker einer Band die Vielfalt der anfallenden Aufgaben nicht allein übernehmen konnten, integrierte sich die soziale Organisationsform der Band immer stärker in ein übergreifendes Netzwerk, das als »Szene-Kern«273 den Auftakt jeder Szene bildete. Die Metal-Band als überschaubare »Gang« oder gar die Band »unter sich« waren Geschichte und mussten aufgrund des Fehlens der kommerziellen Investition eigenständig kommunizieren und über den lokalen Bereich hinaus Erfolgsstrategien entwickeln. Während der NWOBHM war dies nur bedingt nötig, weil die Major Labels die Musik für einige Jahre als investitionstauglich erachteten und sich die Struktur der Indie Labels noch nicht voll im Heavy Metal etabliert hatte. Seit der Thrash Metal-Welle aus New York, San Francisco und dem Ruhrgebiet galt dies nicht mehr, weshalb dieses Sub-Genre auch enger regional zusammenwachsen musste als dies für die regional separierten Aufbrüche der NWOBHM galt. Hinsichtlich der Einbettung der Bands bedeutete dies einerseits, dass die Grenze zwischen Musiker und Tape Trader oder Fanzine-Autor immer stärker aufweichte, und zum anderen, dass sich die Bands untereinander auch zunehmend überregional gut kannten. In einigen Fällen mussten Bands regelrechte Post-Termine vereinbaren, um sich gemeinsam um Fanpost, Fanzine-Anfragen und allerlei andere postalische Anliegen zu kümmern. Die Freizeit des »mail guy«, also jenem Musiker, der die Band-Post erledigte, reichte schlicht nicht mehr aus und in nicht wenigen Fällen
271 Interview Kelly Shaefer, 07.10 Min. 272 Interview Chris Pervelis, Z. 12–21. 273 Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, S. 27f.
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kapitulierten die Musiker sogar vor dieser Flut.274 Wie stark sich dies von der regionalgebundenen NWOBHM unterschied, macht John Roach deutlich. Seine Aussage, im englischen Norden nie von der Londoner Band Iron Maiden beeinflusst worden zu sein, wäre im Rahmen der Kommunikationskultur der Extreme Metal-Szenen der 1980er Jahre unmöglich gewesen: When we were kids, who the hell is Iron Maiden? We saw them in Sounds. Samson were a much bigger band, a much bigger profile in the press. [M.B.: And Saxon] The thing is, at the time, ’cause somebody asked me »You must have been influenced by Iron Maiden«, and I said »No!« We put out everything that we had and certainly wouldn’t have travelled down to London to see a band that I’ve never heard of. […] We were influenced by Raven. I certainly wasn’t influenced by Iron Maiden.275 In echten Szenen kannte dagegen anfangs tatsächlich jeder jeden und die alltägliche Praxis der Bands war in eine kooperative Handlungsstruktur eingelassen. Dies galt etwa für das Proben, das als tägliche Arbeit der Band den Haupt-Sozialisationsraum der Gruppe ausmachte, als »Versicherung« für Live-Shows galt und bei dem viele Gruppen im Extreme Metal mit drei bis sechs Proben pro Woche eine bemerkenswert zeitintensive Praktik an den Tag legten – vor allem wenn man ihre »day jobs« bedenkt.276 Auch bei den »rehearsals« wurde der soziale Rahmen der Band immer öfter überschritten: Es probten viele Bands gemeinsam in alten Warehouses, Fabrikanlagen oder Jugendclubs in New York, Dortmund, Buffalo, Stockholm, San Francisco oder Tampa,277 was den gegenseitigen Austausch, aber auch die Konkurrenz förderte. Darüber hinaus verringerte sich in der neuen Netzwerkstruktur die Distanz zwischen Musikern und Fans derart, dass viele Proben eine regelrechte Konzertatmosphäre aufweisen konnten, weil entweder Freunde oder Bekannte aus dem Szene-Netzwerk oder sogar ausländische Besucher eintrafen.278 Die frühen Auftritte waren schließlich nur eine etwas öffentlichere Möglichkeit der Bandprobe und entwickelten sich durch selbstgemachte Flyer und Plakate zu zunächst lokalen und später regionalen Treffpunkten. Dies galt beispielsweise für die Zeche Carl in Essen, wie Andreas Lackaw (Darkness) aus Essen erinnert: In den Anfangstagen wurden in den Teestuben der Jugendzentren ein paar Tische zusammengebunden, das war dann die Bühne, und los ging es für die kleinen Bands. Da waren dann meist die Kumpels vor der Bühne, aber wenn man für ein paar Groschen selbstgemalte Flyer kopierte und verteilte, kamen auch schon mal Zuschauer aus den 274 So war Rob Yench beispielsweise der »mail guy« von Morpheus (Vgl. Ramirez, Rob Yench) – eine Position, die es so ähnlich in jeder Underground-Band gab. Zur Methode, Aufgabenteilung und Kapitulationserscheinungen vgl. Kap. 6 zu »connecting scenes«. 275 Interview John Roach/Maurice Bates, 87.46-89.21 Min. 276 Vgl. Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer; Vgl. Rob Yench zur nötigen »dedication« bei den Proben: Chronicle of the Shadowed One: An interview with Rob Yench of Morpheus Descends/ Mausoleum, in: People of the Black Circle, 2012, URL: http://peopleoftheblackcircle.blogspot.co m/2012/07/chronicle-of-shadowed-one-interview.html (letzter Aufruf 03.02.2022). 277 Vgl. Kap. 3 zum CEAG-Gebäude, der Zeche Carl und ähnlichen Probeorten in den USA und Skandinavien. 278 Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 21.32-26.37 Min.; Vgl. Interview Thomas Such, 03.14-03.53 Min.
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angrenzenden Städten. Die Zeche Carl entwickelte sich in Altenessen vom normalen Jugendzentrum zur anerkannten Konzertlocation, mit einer Kapazität von ca. 600 Leuten.279
Abb. 35: Gemeinsames Trinken im Proberaum bei Unleashed (um 1991).
Foto und Erlaubnis: Johnny Hedlund.
Die Bands nutzten dabei jede sich bietende Chance, vereinbarten Auftritte in Schulaulas (bei denen sie, wie die Schweden Grotesque, durchaus die Schulleitung über ihren Stil im Dunkeln ließen280 ), spielten in Jugendclubs und Discos genauso wie in behördlich-bereitgestellten Sälen281 – laut Garry Pepperd (Jaguar) einfach überall, wo man sie haben wollte.282 Die beiden zentralen Anleihen bei der Punk-Kultur waren dabei die völlig irrelevante Bezahlung sowie die Tatsache, dass zu Beginn kaum jemand sein Instrument beherrschte283 – beide Aspekte gewannen im Vergleich zur NWOBHM während der Dekade deutlich an Bedeutung. Vom Drang aufzutreten oder der Begeisterung der Anwesenden hielt dies freilich nicht ab. Der Schritt in die Öffentlichkeit besaß für die jugendlichen Musiker eine magische Anziehungskraft aus Distinktion, kreativer Verwirklichung, Anerkennungswunsch und der leisen Hoffnung, entdeckt zu werden.
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Interview Andreas Lackaw, Z. 115–120. Vgl. Jon Kristiansen, Slayer 20 (2010), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 702. Vgl. Interview Magnus Forsberg, Z. 1–11. Vgl. Interview Garry Pepperd, Spur 1. Mick Harris über die Bezahlung von Napalm Death (1987): »We do get paid every now and then, usually £1 each. The other week at ENGLISH DOGS we got £1.20 each. Yes, we have been taken for a ride but this will have to stop. We don’t ever ask for money unless we have travelled, in that case we only ask for travel costs, and we’ve missed out on that many a time.« Bill Steer, Phoenix Militia 7 (1987), Wirral (UK).
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Abb. 36: Konzert der Band Scandium, Hauptschule Essen-Carnap, 7. Juni 1985.
Foto: unbekannt, Quelle: Marjan Widmar, Facebook-Post.
Denn selbst für die anfänglich schlechtesten Musiker war diese Möglichkeit aufgrund der DIY-Kommunikation nicht mehr ausgeschlossen: Die 1988 von Olve Eikemo, Tore Bratseth und Jan-Atle Aserod in Lysekloster, Norwegen, gegründete Band Old Funeral produzierte nach Aserods Meinung bei den ersten Auftritten (nur sechs Monate nach Gründung) »a hell of a mess«284 und war kaum fähig, die Covers von Celtic Frost und The Mentors zu Ende zu spielen. Über ein erstes Demo 1989 und eine Studioaufnahme eines Demos 1990, aber vor allem durch Bratseths guten Kontakt zu Kristiansens SlayerFanzine, entwickelte sich die Band bis 1992 zu einem Sprungbrett ihrer wechselnden Musiker, die in Bands wie Immortal, Burzum oder Hades Almighty aktiv wurden.285 Die Herausforderungen für die öffentliche Spiel-Praxis junger Bands waren dabei regional wie national sehr unterschiedlich und hingen von der Existenz von Clubs und deren kommerzieller Struktur ab. Es wurde in diesem Zusammenhang bereits deutlich, dass besonders in England sowie im Ruhrgebiet breite Live-Musik-Szenen entstehen konnten, die DIY-organisierte Shows in Jugendclubs und Etablissements von Punks und Bürgerinitiativen genauso umfassen konnten wie größere Spielstätten. In Stockholm existierten dagegen kaum Strukturen jenseits der Jugendclubs und besonders in Kalifornien gestaltete sich die Situation exakt umgekehrt. Während an der Ostküste der USA eine Auswahl auf Metal spezialisierter Clubs entstand, die auf der DIY-Organisation beruhten und sogar kleinere und mit Freunden über das Tape Trading und Telefon abgestimmte Tourneen ermöglichten,286 hieß die Hürde der jungen Bands in San Francisco »pay for play«. 1990 erreichte diese Praxis sogar die bürgerliche Regionalpresse und der 284 Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 131. 285 Zu Old Funeral gehörten zeitweise Olve Eikemo (a.k.a. Abbath bei Immortal), Christian »Varg« Vikernes (Burzum, Mayhem) sowie Jørn Inge Tunsberg (Hades Almighty). 286 Kam Lee über Massacres eigenfinanzierte Tour 1987 vgl. Infamous Butcher, Interview with Kam Lee; Massacre 1987; Vgl. Morbid Angels erste Tour 1988 in die Tri-state-area: Mudrian, Choosing Death, S. 78f.
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San Francisco Examiner berichtete unter dem Titel »Young Bands Tired of Paying« über die verbreiteten Absprachen zwischen Bands und Clubs.287 Bekannte Clubs wie das Omni oder The Stone seien, so der Leiter des Stone, auf eine Garantie der Bands angewiesen: Würden nicht zwischen 80 und 100 Tickets verkauft, beschlagnahme man die Instrumente. Viele junge Bands stünden dadurch bei den Clubs in Schulden, hätten aber keine andere Möglichkeit für öffentliche Auftritte und die Gewinnung einer regionalen Anhängerschaft. Seitens der Clubs greife man zu diesen Mitteln, weil weniger HeadlinerTourneen in der Stadt spielten, aber dennoch ein dichtes Programm aufrechterhalten werden soll. Darren Travis, der mit seiner Band Sadus die »pay for play«-Absprachen erlebte, bestätigt, dass die Band in Clubs wie Berkeley Square sowohl das Booking als auch den Verkauf einer Mindestzahl der eigenen Tickets übernehmen musste.288 Die Umstände der Ausprägung von Live-Qualitäten einer Metal-Band waren daher je nach Szene sehr unterschiedlich ausgeprägt. In San Francisco wurden die Bands stärker zu einer auch kommerziell wirksamen DIY-Methode gezwungen als in Westeuropa, erreichten bei Erfolg aber auch ein wesentlich größeres Publikum. Es ist in dieser Hinsicht wenig verwunderlich, dass mit Metallica jene Band, die wie keine andere für die Forcierung und konzertierte Anwendung des DIY-Gedankens steht, ihren Durchbruch in der Bay Area erlebte. 1986 fiel dies – nach fünf Jahren Band-Entwicklung – auch der nicht-musikalischen Presse auf und im San Francisco Examiner erwähnte man anerkennend, dass Metallica ihren Weg bis zum dritten Album »Master of Puppets« gänzlich »without industry support«289 gegangen waren. Das Album erreichte Gold-Status und hielt sich viele Monate in den US-Album-Charts, war aber weder durch die Investition eines Major Labels noch durch breite Werbung oder Radiosendezeit unterstützt worden. Da sich der Werdegang der Band für die Entwicklung späterer Metal-Bands als sehr instruktiv erwies, werden die Band-Praktiken von Metallica hier genauer unter die Lupe genommen: Die Entwicklung der Band hatte 1981 begonnen und war lange zur Gänze DIY-organisiert. Besonders über ihren umtriebigen, wettbewerbsorientierten und medienaffinen Schlagzeuger Lars Ulrich hatte die Band das Prinzip in seinen ökonomischen Potentialen umfassend verstanden und dabei vor allem von der musikalischen Qualität und geschickten medialen Vermittlung profitiert. Nachdem Ulrich über eine Anzeige Hetfield und McGovney gefunden hatte, lernte er (durch das Interesse an seinem Saxon-Shirt – die Band kannte an der Westküste kaum ein Fan) unter anderem Brian Slagel kennen, der in Los Angeles bei Oz Records arbeitete und das Fanzine The New Heavy Metal Revue herausgab. Über diesen Kontakt erweiterten sich die Tape Trading-Kontakte deutlich und Ulrich machte mit Ron Quintana Bekanntschaft, der in San Francisco ebenfalls ein Fanzine herausgab und bei der Radiostation KUSF-FM die aktuellen MetalVeröffentlichungen vorstellte. In Los Angeles fühlte sich die Band mit ihrer Mischung aus NWOBHM-und Punk-Einflüssen nicht angenommen und legte ihren Fokus immer stärker auf die Bay Area, wo sie etwa für ihre ersten Konzerte Anzeigen in Bay Area Music
287 Vgl. Joel Selvin, Young Bands Tired of Paying Clubs to Play, in: San Francisco Examiner, 09.12.1990, S. 269. 288 Vgl. Interview Darren Travis, Z. 9–14. 289 Vgl. Tom Lanham, Rise of the Bay Area’s Heavy Metallica. Album hits charts without industry support, in: San Francisco Examiner, 05.06.1986, S. 341.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
schaltete und dort auch andere Bands wie Exodus kennenlernte. Vor allem Ulrich entwickelte in der Folge eine starke Initiative, ermöglichte bei Slagel die erste Veröffentlichung der Band auf dessen Sampler »Heavy Metal Massacre«, zog mit Hetfield und Mustaine endgültig nach San Francisco, um den versierten Bassisten Cliff Burton von der Band Trauma abzuwerben und bildete fortan im »Metallica house« in El Cerrito einen regionalen Metal-Treffpunkt in der East Bay.290 Die Band produzierte ihr Demo »No life ′til leather« und ließ es durch ihren Freund Patrick Scott in alle Welt versenden – da Scott Kontakte zu »Metal Mike« vom Aardschock Magazine und zu Bernhard Doe bei Metal Forces besaß, erreichte das Tape frühzeitig England, die Niederlande und auch Deutschland. Weitere wichtige Multiplikatoren besaß die Band mit Xavier Russell beim Kerrang! sowie mit Dave Constable, der sowohl bei Metal Forces als auch im Londoner Plattenladen Shades aktiv war.291 Während die etablierte Rock-Presse in den USA Metallica nicht kannte, besaßen nach wenigen Monaten die Fans in Europa das Tape genauso wie an den beiden US-Küsten, Fanzines berichteten über die Band und die Mund-zu-Mund-Propaganda erreichte im Grunde jeden regional etwas vernetzten Metalhead. Durch diese rasante Ausbreitung erfuhr auch Jon Zazula, ein ebenso DIY-inspirierter und -organisierter Indie Label-Gründer (Megaforce Records) aus New Jersey, von der Band und entschloss kurzerhand, sie unter Vertrag nehmen zu wollen. Bereits in dieser frühen Phase ohne eine offizielle Veröffentlichung zeigte die Band deutliche Professionalisierungstendenzen: Mit K. J. Daughton hatte Ulrich eine szene-integrierte Kontaktperson auf dem Tape platziert, die Zazula anrufen musste, während die Absprache über potentielle Shows an der Ostküste bereits über den »Tour-Manager« Mark Whitaker lief und sich Ulrich letztlich um alle Details selbst kümmerte.292 Trotz erheblicher Finanzierungsprobleme veröffentlichte die Band 1983 mit »Kill ′Em All« die Studio-Version ihres Demo-Tapes und wurde nach einem Konzert im New Yorker Roseland Ballroom 1984 von Elektra Records unter Vertrag genommen, während die europäische Lizenz Music For Nations erhielt.293 Ohne nennenswerte finanzielle Mittel war die Band innerhalb von zwei Jahren steil aufgestiegen und hatte sich der arrivierten Rock-Presse und den Major Labels geradezu aufgedrängt. Metallica stehen dabei für den erfolgreichsten Fall einer DIY-Organisation eines Band-Alltags. Sie wirkten dadurch beispielhaft für jede weitere Metal-Band der »langen 1980er Jahre« und erlangten eine sozialgeschichtliche Bedeutung weit über ihr musikalisches Schaffen hinaus. Band-intern gestaltete sich diese Phase bruchhaft und wild, erlebte die Ersetzung McGovneys durch Burton und die Entlassung Mustaines, sowie 1986 den Unfalltod Burtons in Schweden, auf den ein Paradebeispiel unentwegter Initiationsriten beim neuen Bassisten Jason Newsted folgte.294 Hinzu kam eine exzessive Abgrenzung nach außen: Einerseits gegenüber den »Glam«-Metal-Bands und deren 290 291 292 293 294
Vgl. Wall, Enter Night, S. 20–26, 76, 94f. Vgl. ebd., S. 67, 142f., 179f. Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 37f. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 229. James Hetfield dazu: »[We] took a lot of our resentment, a lot of our grief, a lot of our despair around Cliff’s death out on Jason. Right from the beginning there was a lot of hazing that just separated him, and he was always thought of as ›the new guy.‹ I wish that that didn’t have to happen. I guess we wanted to toughen him up, we wanted him to be as tough as us. We were brutal with him. And it never ended, really.« Dave Lifton, Why Metallica Struggled to move on
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als »Poser« angefeindeten Fans und andererseits auch gegenüber stil-ähnlichen Thrash Metal-Bands wie Slayer.295 Die Tatsache, dass keine fremden Investoren Kontrolle ausübten, machte die Band-Chemie keineswegs stabiler. Der Wettbewerbsdruck war auch in DIY-Systemen hoch und die Erringung von Aufmerksamkeit führte zu Zerreißproben der Vergemeinschaftung, die solange anhielten, bis jedes Band-Mitglied »seinen Platz«, d.h. die eigene Individualisierungs-Nische im Band-Kollektiv gefunden hatte. Zu diesem Lernprozess gehörte vor allem eine gruppeninterne Einübung des Songwritings.
4.4.4.1 Songwriting In den frühen Phasen einer Metal-Band war das Songwriting in der Regel noch kein entscheidender Faktor, da fast jede Band als Cover-Band begann. Der daraus resultierende und bedeutende Einfluss der »Rückschau«, der sich als Verehrung und Ehrerbietung der musikalischen Einflüsse, als Cover, als Tribute-Platte oder im Respekt bei Interviews artikulierte, bildet bis heute eine wichtige soziale Konstante der Metal-Kultur und ist letztlich die spezifisch »metallische« Version einer im Pop allgemeineren Erscheinung, die Simon Reynolds als »Retromania« bezeichnete.296 Die Cover-Version wurde von den Bands unterschiedlich verhandelt und eingesetzt: Handelte es sich um einen Titel einer Band, der man sich stilistisch nicht verbunden fühlte, lehnten es die Band seit dem »Aufstand der Amateure« in den späten 1970er Jahren ab – was nicht nur künstlerischem Selbstverständnis geschuldet, sondern auch als Deutungshoheit über die stilistische Verortung der eigenen Band zu verstehen war. Im Laufe der Dekade wurde dieser Aspekt zunehmend als Distinktionsinstrument verwendet und in die Verhandlung musikalischen Wandels eingebunden: Wer als würdig empfunden wurde, die Grundlagen der eigenen Band zu bilden, entschieden Musiker nach bestimmten Gesichtspunkten der Authentizität (Kap. 7). Das Cover wurde dabei Teil einer Geschichtspolitik der Bands, wobei bestimmte Einflüsse hervorgehoben, andere jedoch verschwiegen wurden. Das Cover war aber auch Teil eines Informationsvorsprungs: Nicht allen Fans, nicht einmal allen Musikern, war immer bewusst, ob eine Live-Performance ein Original der spielenden Band oder ein Cover war. Metallica setzten diesen Effekt mit Cover-Versionen der in den USA wenig bekannten NWOBHM-Bands wie Diamond Head geschickt ein.297 Gleiches gilt für die Band Exodus und Stücke von Iron Maiden und später die Band Immolation mit Stücken von Autopsy und Sepultura.298 Am Puls der Zeit und Teil eines Tauschnetzwerkes zu sein, konnte hier klare Wettbewerbsvorteile mit sich bringen. Ein eindrückliches Beispiel für die wichtige Funktion des Covers, aber auch für dessen Tücken und die Frage, wie bestimmte Songs zu szene-integrierenden Verbindungen werden konnten und schließlich ein »Eigenleben« entwickelten, bildet die Geschichte des Songs »Name, Rank and Serial Number« in den späten 1970er Jahren. Ursprüng-
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with Jason Newsted, Ultimate Classic Rock, 08.11.2015, URL: https://ultimateclassicrock.com/me tallica-first-jason-newsted-show/ (letzter Aufruf 04.02.2022). Vgl. Timo Weber u.a., Raise The Dead 1 (1984), Frankfurt a.M., S. 8; Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 104. Simon Reynolds, Retromania. Pop Culture’s Addiction to its own Past, New York 2011. Vgl. Interview Brian Tatler, 33.58-34.15 Min. Vgl. Dubin (Reg.), Murder in the Front Row, 89 Min.; Vgl. Ross Dolan, in: The Latem-Files 1, 34.1534.30 Min.
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lich um 1974/75 von Keith Satchfield geschrieben, gehörte der Song zum Set von dessen Heavy-Rock-Band Warbeck und prägte deren Shows in den regionalen Working Men’s Clubs in Nordostengland. Bei einem dieser Auftritte löste das Stück einen kreativen AhaEffekt bei John Roach aus und bestärkte ihn darin, mit seiner Band Mythra selbst in das Songwriting einzusteigen.299 Etwa drei Jahre später besuchte er dann ein Konzert der Band Axe im Legion in South Shields und bemerkte den Song erneut. Er hielt es für eine Cover-Version und fragte Satchfield, ob er den Song mit Mythra interpretieren dürfe. Dieser willigte ein, da es sich um seinen Song handelte, und er diesen lediglich von Warbeck zu Axe mitgenommen hatte. Dass Axe 1978 zu Fist wurden, verkomplizierte die Zuordnung zusätzlich.300 Satchfield schrieb die Lyrics für Roach und Bates sogleich auf und Dave Irwin, der Gitarrist bei Axe, zeigte ihnen backstage im Umkleideraum, wie man den Song spielte.301 Beim nächsten Konzert von Axe brachten Roach und Bates einen Recorder mit, nahmen den Song live auf und versuchten, auf dieser Grundlage eine eigene Version zu entwickeln. Dies erwies sich insofern problematisch, als dass die Aufnahmetechnik (wie auch bei überspielten Tapes) mit einem Mono-Cassette-Player einerseits dazu führte, dass man nur »Fragmente« eines Songs hörte und nachspielte – den Song also veränderte.302 Andererseits hatten Axe bei ihrer Live-Show den Song in einem Backto-Back mit einem Instrumentalstück gespielt und Roach und Bates gingen nun davon aus, dass es sich bei »Name, Rank and Serial Number« um ein sehr langes Stück handele. Sie integrierten den Song daher in einer Form in ihr Live-Set, die der Version von Axe kaum noch entsprach. Sie spielten den Song so oft, dass das Publikum schließlich annahm, es handele sich um ein Mythra-Original.303 Über das »Eigenleben« dieses Stückes hinaus, das in ähnlicher Weise auch die Verarbeitung der NWOBHM-Songs durch die späteren Thrash Metal-Bands kennzeichnete, bestärkte der Song die Musiker bei Mythra in der Einsicht, dass Kreativität ein wenig voraussetzungsreiches Unterfangen war und der Eigenkomposition gar keine Grenzen gesetzt waren: So, we were still playing this and called it »Name, Rank and Serial Number«, what was actually two songs. It was an instrumental song called »Big Rick« that we played beforehand, but yeah, happy days [laughs]. So, playing our own songs, writing our own songs, that was, I don’t know why, I’m sure I was seeing Axe, that these are all original songs and that we could do that. We can write songs. So, I wrote a song and it wasn’t very good. And I wrote another one, a little bit better. Then I wrote another one. Five or six songs and they were all my songs and then Maurice wrote »UFO«, a song which I would prefer to any of the songs that I had written, because instead of
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Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 33.32 Min. Vgl. Harry Hill, in: Interview Fist, 38.32-39.18 Min. Vgl. John Roach, in: Interview John Roach/Maurice Bates, 34.30-34.50 Min. Vgl. John Roach: »And of course, one of the funny things for me I didn’t realize for years that I heard Judas Priest riffs and solos from a mono cassette player and the fidelity is rubbish. So, I’m only learning fragments of it, ’cause I can’t hear the rest of it. [laughs] And that became part of the style of the guitar playing. Later on, when you get a more high-fidelity equipment, I would think »I never heard that bit before, so I never ever played that bit«. Interview John Roach/Maurice Bates, 03.50-04.40 Min. 303 Vgl. John Roach, in: ebd., 35.06 Min.
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being riff-driven it was harmony-driven. But by then, we had five or six songs in our set which were displacing the less popular.304 Generalisierende Aussagen über den Entschluss von Musikern und Bands über den zeitlichen Beginn des Songwritings lassen sich nicht treffen und mit Tribute-Bands bestehen sogar solche, die diesen Schritt nie gegangen sind. Die Cover-Version blieb aber auch deshalb wichtig, weil sie zunächst eine Pflicht auf dem »club circuit« darstellte und später davon profitierte, dass die musikalischen Fähigkeiten bei der Gründung von Metal-Bands auf deutlich niedrigerem Niveau lagen als in den 1970er Jahren. Als biografischer Moment wird der Einstieg in das Komponieren von Stücken seitens der Akteure als »awakening«, magischer Augenblick und Offenbarung beschrieben, weil er symbolisch den Schritt vom Performer zum Künstler auszudrücken schien. In den meisten Fällen war dabei – wie bei Henry Veggian und seiner Band Revenant – nicht Qualität, sondern Hingabe entscheidend: »We initially started playing original material which was not very good, but driven by a maniacal energy.«305 Rob Yench erinnert diesen Moment als schlagartige Bewusstseinswerdung seines eigenen kreativen Potentials. Er war »bit by the bug« und die Band legte eine ansteckende Energie und Leidenschaft in den Entstehungsprozess neuer Songs, während sie – wie viele andere Bands auch – weiterhin Cover-Versionen beliebter Stücke spielte.306 Alle Akteure weisen darauf hin, dass es vor allem die plötzliche Einsicht in die niedrigen Hürden des Songwritings war, die sie faszinierte und dass darüber hinaus der individualistische Aspekt des Kompositionsprozesses eine befriedigende Wirkung hatte – »klassisch« erzählt als »I can do that!«307 Kevin Riddles erlebte diesen Moment bereits im jungen Alter und gründet auf diese Entdeckung seinen weiteren Lebensweg als Musiker: I suddenly realized that for now I had played things that other people had written, I could do it myself. I would be tinkling on the piano. I used to call it inventing. I remember that phrase: »I invented a music.« Because this was mine. Nobody had ever heard this before. This stupid little thing I was playing on the piano, that was unique. It was like moondust, you know. […] And I think it was probably the first time that I realized that something that you invent is uniquely yours. And nobody else had ever done it before and nobody else had ever heard it before. And that excited the hell out of me. I could do this. […] And that’s where new songs come from, because their imagination is constant and persistent. It’s always there. […] It’s a constant thing, but it was that realization I had when I was 9 or 10 that I could do that. That was really exciting. […] And that was an awakening if you like. It sounds very dramatic, it’s only looking back on it that it sounds as dramatic. That was where it started.308
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John Roach, in: ebd., 35.50-36.44 Min. Chris Forbes, Revenant. Interview with Henry Veggian, in: Metalcore Fanzine. Interview Rob Yench, 23.34 Min. John Roach: »We can write songs.«; Kevin Riddles: » I could do that. I can actually write stuff like that.«; Steve Zodiacs Erkennen der DIY-Möglichkeiten: Interview Steve Zodiac, 11.10-12.37 Min. 308 Interview Kevin Riddles, 06.10-09.18 Min. Auslassungen verzerren hier nicht den Inhalt der Aussage, sondern wurden aufgrund der ausschweifenden Begeisterung des Interviewten nötig.
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Wenn Metal-Bands diese kreative Unmittelbarkeit als soziales Ereignis arrangieren konnten, entwickelte sich das Komponieren und schließlich auch Produzieren von Songs zu wichtigen sozialen Kohäsionskräften in einer Band. Der gemeinsame Spaß an der kreativen Freiheit bestärkte die Gruppe über den Aspekt der Produktionseinheit hinaus. Während Aussagen in diesem Zusammenhang oft von jenen Musikern getroffen werden, die als Hauptverantwortliche des Songwritings ohnehin die Kontrolle hatten und dementsprechend zu hinterfragen sind, bot das Interview der gesamten Band Fist die Möglichkeit, genauere Einblicke in die soziale Interaktion zu erhalten. Songwriting war hier Teamarbeit und jedes Band-Mitglied fühlte sich in seinen Ideen wertgeschätzt. Ein Letztentscheider existierte nicht und musikalische Arrangements konnten sich verändern, solange »it is for the better of the song: great. If it doesn’t work, we will push it on side and think something else. It’s always for the better of the band.«309 Diese Perspektive, die das Beste für den Song als das Beste für die Band begreift und damit die zentrale Rolle dieses Prozesses für den Band-Zusammenhalt untermauert, fand sich unter anderem auch bei Napalm Death,310 setzte jedoch unprätentiöse Teamplayer voraus, die sich einordnen und auch potentiell zurücknehmen und überzeugen ließen. In der Band-Realität dürften diese Arrangements daher selten gewesen sein – gerade, weil sich Hierarchisierungserscheinungen und Rollenverteilungen besonders anhand dieses wichtigen Tätigkeitsbereichs der Band entwickelten. Die Bandbreite möglicher Beziehungen war dabei groß und reichte von Band-Leadern, die sich situativ zurücknahmen und beeinflussen ließen – den Schreibprozess also als angeleitete Teamarbeit begriffen311 –, über solche, die klare Rollen und Einflussbereiche absteckten,312 bis hin zu Band-Gefügen, in denen Musiker freiwillig zurücksteckten und die Initiative anderen überließen.313 Bands konnten sich also intern auf viele verschiedene Aufgabenverteilungen einigen. Problematisch wurde es indes dort, wo sich einzelne Musiker trotz anderslautender Zusagen alleine gelassen fühlten, Mitglieder mit entscheidender musikalischer Stellung keine Leistung erbrachten oder schlicht die professionelle Einstellung fehlte.314 309 Glen Coates, in: Interview Fist, 43.47-44.05 Min., 42.22-43.17 Min. 310 Mitch Harris: »We didn’t give a shit who did what; we just wanted to make it work, as long as we got the album done and it was as good as possible.« Netherton, Extremity Retained, S. 229. 311 Interview Kelly Shaefer, 14.58-15.49 Min.: »I have always been sort of the leader of the band, you know. I think Steve would agree with it. You know, but everybody had a role, I wouldn’t say everybody had a role, but I mean we all had the same driving motivation to try, to we would come in every night, we would rehearse like six nights a week and everybody had an important role. So, I would come in with a couple of riffs, Roger Patterson would come in with these insane riffs and we would write around them, you know. We kind of learned to play with each other.« 312 Trey Azagtoth bei Morbid Angel. Vgl. Albert Mudrian, Precious Metal. Decibel Presents the Stories Behind 25 Extreme Metal Masterpieces, Cambridge 2009; Vgl. auch die Aufteilung der »Writing Credits« bei Metallica bis 1991: Hetfield 46, Ulrich 45, Hammett 19, Burton 11, Mustaine 6, Newsted 2. 313 So etwa Tom Araya bei Slayer. Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 73. 314 Vgl. Arnd Klink zu den Arbeiten an »Defenders of Justice« (1988): »Was man auch in Betracht ziehen muss ist, dass es bei den Aufnahmen schon Risse im Bandgefüge gab. Olli war sehr viel mehr auf Party bedacht als auf die Arbeit an der Musik. Er hat zum Album keinen einzigen kreativen Beitrag geleistet, weder musikalisch noch textlich. Als wir im Studio waren, hatte er nicht eine Ge-
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Dagegen sind Aussagen darüber, dass sich Musiker nicht auf einen Stil einigen konnten, sehr selten, was die Herausforderung des Songwritings eher als methodisch denn als inhaltlich ausweist. Eine Band, die versuchte, die allzu diverse individuelle Stilvielfalt ihrer Mitglieder zu vereinen, lief Gefahr, sich nicht mehr kategorisieren lassen zu können, was Probleme sowohl mit der Presse als auch mit den distinkten Fanidentitäten evozieren konnte.315 Magnus Forsberg attestiert seiner Band Tribulation aus der Rückschau dieses Defizit: Somehow all that crept into the music and it became really schizophrenic, and less thrash/death for every month. Something we thought was cool and fun but in the end our music was over the place and we were too young to understand that we had to keep it all together a little more.316 Forsbergs Aussage eröffnet eine Perspektive auf eine Kernfrage des »production of culture«-Ansatzes:317 Dort wird unter anderem postuliert, dass Produzenten von – in diesem Fall – Musik keinen Einblick in den Geschmack der Rezipienten besitzen, sondern für eine imaginierte Zielgruppe veröffentlichen, der sie sich höchstens mit Mitteln der Marktforschung nähern können.318 Entscheidend sei nicht der »Zeitgeist«, sondern die Bedingungen der Produktion im ökonomischen, sozialen und machtpolitischen Sinne, wo sich Konventionen um bestimmte Stile verdichten und zur Genre-Bildung führen.319 Wie noch gezeigt wird (4.4.4.2) spielten die Person des Produzenten, die
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sangslinie, die habe ich ihm als Pilotgesang vorgegeben. Als Sänger war er bei den Aufnahmen als letzter an der Reihe und nach dem ganzen Suff und den Studiopartys war er gesundheitlich kaum in der Lage, seinen Part vernünftig zu singen.« Interview Arnd Klink, Z. 141–154; Vgl. auch Frank Goszdiks Unzufriedenheit bei Sodom: Kristiansen, Slayer 17 (2002), S. 576. Vgl. etwa Waldemar Sorychta zu den Problemen einer Band, die sich weder im Punk noch im Metal eindeutig verorten ließ: »Das war leider das Problem von Despair, denn dann bei den Konzerten, waren wir für die Punkrocker zu Metal und für die Metaller waren wir zu Punk. Da war auch so ein bisschen die Geburtsstunde auch so von diesem, was man heutzutage so nennt, Crossover, heutzutage ist das völlig normal, damals hatten aber Bands wie wir damit wirklich so gut zu kämpfen, zumal wir dann auch noch technisch, sag ich mal, wenn ich das heute anhöre würde ich das anders betrachten, aber damals galten wir auch noch als technisch sehr gute Band, was auch zu dem richtigen Punkrock auch nicht so richtig passte, und wir waren wirklich auch so der Anfang von dem, was man Crossover nennt, was heute aber völlig normal geworden ist.« Interview Waldemar Sorychta, 15.30-16.19 Min. Interview Magnus Forsberg, Z. 82–85. Vgl. Klaus Nathaus/C. Clayton Childress, The Production of Culture Perspective in Historical Research. Integrating the Production, Meaning and Reception of Symbolic Objects, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013) 1, URL: http s://zeithistorische-forschungen.de/1-2013/4433 (letzter Aufruf 03.02.2022). Vgl. Klaus Nathaus, Auf der Suche nach dem Publikum. Popgeschichte aus der »Production of Culture«-Perspektive, in: Geisthövel/Mrozek (Hg.) Popgeschichte, Band 1: Konzepte und Methoden, S. 127–153; Vgl. ders., Nationale Produktionssysteme im transatlantischen Kulturtransfer. Zur »Amerikanisierung« populärer Musik in Westdeutschland und Großbritannien im Vergleich, 1950–1980, in: Werner Abelshauser/David Gilgen/Andreas Leutzsch (Hg.), Kulturen der Weltwirtschaft, Göttingen 2012, S. 202–227, hier S. 203. Vgl. Nathaus, Auf der Suche, S. 136–139.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Technik, die vorhandene Finanzierung, der anvisierte Markt und die Studioatmosphäre tatsächlich eine entscheidende Rolle bei der allmählichen Kreation von Soundkonventionen bestimmter Szenen. Im Vorfeld der Produktion, die sich zeitlich wie räumlich teilweise kaum vom Songwriting unterschied, manifestierte sich dies bereits in einer bewussten oder unbewussten Orientierung der Musiker an erfolgreichen Mustern der Band bzw. bestehenden Konventionen des Metal-Genres. Weil die künstlerische Freiheit jedoch genauso wie die Skepsis gegenüber einem imaginierten Mainstream untrennbar mit der Gründungserzählung des Heavy Metals verbunden sind, wird diese Orientierung – wenn überhaupt – nur verklausuliert geäußert. Glen Tipton gab für das Songwriting von Judas Priest an, dass die Band dabei machte, was sie wollte, um jedoch gleich anzufügen, dass man sich vom sogenannten »code of heavy metal« nicht beschränken lassen sollte.320 Aussagen über den Entstehungsprozess von Metal-Songs enthalten daher stets auch Authentizitätsideale, denn dem Vorwurf eines Dienstleisters an einer ominösen Fan-Masse ließ sich kein Musiker gerne aussetzen.321 Im Jahr 1992 ordneten etwa die Musiker von Sodom ihr neuestes Album »Tapping the Vein« ein, das zwar nicht wie der Vorgänger »Better Off Dead« (1990) der Selbstverwirklichung als Musiker galt, aber dafür die »Kids« im Blick habe, die einen solchen Sound eher bevorzugen würden. Eilig nachgeschoben wurde, es sei aber alles so »gemacht, wie wir es wollten.«322 Mit völlig unverstellter Ehrlichkeit fasste nur »Fast Eddie Clark« von Motörhead die Crux eines bestehenden Song-Role-Models für die Band zusammen: You start scrutinizing everything and you start disallowing things because you don’t want to piss the fans off. We can’t do this, we can’t do that, and then at the end of the fucking day you’ve shot yourself up the ass.323 Es spielte für die Frage, wie sich eine Band mit ihren neuen Songs selbst verortete und welches Publikum sie dabei im Blick hatte, natürlich eine große Rolle, ob die Band bereits mit einer erfolgreichen Songstruktur, Songlänge, bestimmten Lyrics oder dem Arrangement der Instrumente hervorgetreten war. Junge Bands, die überdies tief im Tape Trading verwurzelt waren, sendeten ihre Demo Tapes teilweise nicht einmal an Labels. Der Underground, wo sie aufgrund ihrer Vernetzung gut antizipieren konnten, was Erfolg haben bzw. Aufsehen erregen könnte, bildete hier sowohl das Instrument der »Marktforschung« als auch den Adressatenkreis.324 Die Meinung anderer Bands war wichtiger
320 Glen Tipton in Popoff, Wheels of Steel, S. 65: »We just did what we wanted to do. […] You shouldn’t be restricted by the so-called code of heavy metal.« 321 Zu beobachten bei Kim McAuliffe (Girlschool): »Because, as I said, we didn’t actually make any effort to sound any particular way. When we would write the songs and rehearse them, that is just how we ended up sounding.« Popoff, Wheels of Steel, S. 68. 322 Roland Mattes (Reg.), Lords of Depravity, 134 Min. 323 Popoff, Wheels of Steel, S. 99. 324 Vgl. Joakim Sterner (Necrophobic), in: Frank Stöver, Voices From The Darkside 2 (1993), in: ders. (Hg.), Voices, S. 49: »No. This is because we wanted to get a big following in the underground. We didn’t send the UNHOLY PROPHECIES demo to any label at all.«; Bei Grotesque vgl. Kristiansen, Slayer 20 (2010), S. 702.
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als jede andere Kritik. So kursiert zum Beispiel das Gerücht, der große Unterschied zwischen der A-Seite und der B-Seite des wegweisenden Albums »Scum« von Napalm Death rühre daher, dass der Drummer Mick Harris die B-Seite im letzten Moment veränderte, weil er von der Kritik der niederländischen Punk-Band Lärm erfahren hatte, die Napalm Death als zu metal-orientiert einstuften.325 Zielte die Band mit Produktionen, die von Labels finanziert wurden, auf ganze Subgenres bzw. Szenen ab, hatten sich Songs dagegen an den Vereinbarungen zu orientieren, die bei Vertragsschluss getroffen wurden und mussten eine evolutionäre BandIdentität mit dem Streben nach Erfolg vereinbaren können. Als beispielsweise Darkthrone, die 1991 bei Peaceville Records ihr erstes Album »Soulside Journey« ganz im Stil des Death Metals veröffentlicht hatten, für das zweite Album aber mit Tapes an das Label herantraten, die einen kompletten Stilwechsel zum Black Metal vollzogen, schrillten bei Paul Halmshaw und seinen Mitarbeitern die Alarmglocken und es wäre beinahe zum Labelwechsel gekommen.326 Die musikalische Entwicklung einer Band wie Darkthrone war zwar kennzeichnend für den »black turn« der norwegischen Bands ab 1992,327 doch die große Mehrheit der Metal-Bands der »langen 1980er Jahre« hatten nach einer oder zwei Veröffentlichungen in der Regel eine distinkte Nische für ihre Band gefunden, ihr der sie sich dann nur noch graduell und langsam weiterentwickelten. Hinsichtlich des Songwritings bedeutete dies, dass nach kurzen Findungsphasen ein spezifischer Stil als Orientierungspunkt vorhanden war und die Musiker durch den Einfluss auf kleinere Stellschrauben einen Unterschied zum Vorgängermaterial realisierten. Songs wurden etwas schneller oder langsamer, grooviger oder direkter, länger oder kürzer, aber blieben dem eigenen Stil treu – durften sich aber auch nicht ständig wiederholen. Weitere dieser Stellschrauben waren etwa die Frage, ob ein Song zu einem großen »pit«, also Bewegung im Publikum, führen würde328 oder ob die Songtitel genügend Aufmerksamkeit und Unterscheidbarkeit von anderen Bands generieren könnten.329 Der größte Teil der Metal-Songs im Untersuchungszeitraum entstand vor dem Hintergrund dieser im Grunde limitierten Spielräume durch bereits existente Sub-Genre-wie auch Band-Konventionen, konnte aber durch die Produktion völlig unerwartete Wendungen und Resultate nehmen.330 Das gemeinsame Schreiben von Songs, mochte es noch so harmonisch ablaufen, entwickelte aber oft erst dann eine Brisanz, wenn es um die Rechte an den Songs und damit verbunden auch um die Tantiemen ging. Nach der Meinung von Rob Halford wären über diesen Streitpunkt mehr Bands auseinandergebrochen als über jeden anderen – weshalb die Band Judas Priest bereits in den späten 1970er Jahren unveränderlich 325 Shane: »Mickey was always changing, and I heard the B-side change because one of Mickey’s favorite bands was a band called Lärm from Holland and they didn’t like Napalm Death, they said it was too metal. And I heard, Mickey changed the songs on the B-side because he wanted to be more punk, that’s what I hear.« Interview Shane Embury, 21.43-22.03 Min. 326 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 157f. 327 Vgl. Reyes, Blacker than Death; Vgl. Swiniartzki, Szene-Eliten. 328 Dave Craiglow (Baphomet), in: Netherton, Extremity Retained, S. 290. 329 Rob Yench, in: Bret Stevens, Interview: Morpheus Descends (Rob Yench), 2013, URL: www.death metal.org/news/interview-morpheus-descends-rob-yench/ (letzter Aufruf 03.02.2022). 330 Vgl. Kap. 4.4.4.2.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
dazu überging, »Tipton/Halford/Downing« anzugeben, um Konflikte um die Royalties zu vermeiden.331 Es bestehen noch einige andere Beispiele dafür, dass die frühzeitige Regelung der Vergabe der Songrechte in Metal-Bands zu einer Beruhigung der sozialen Beziehungen führte. Indem »Lemmy« und »Fast Eddie Clark« bei Motörhead entschieden, mit den Verlagsrechten einen Teil der Urheberrechte durch drei zu teilen und den Drummer Phil Taylor einzubeziehen, empfand dieser den Schritt als zentralen Beitrag zum Band-Frieden.332 Bei der englischen Band Tank lautete die Angabe in den Credits bei jedem Song »Brabbs/Brabbs/Tucker/Ward«, weil die Musiker trotz unterschiedlicher Rollen beim Songwriting den Prozess als »full band effort« und demokratisches Prinzip verstanden.333 Der Weg bis zu solchen Arrangements war steinig: Laut Bogdan Kopec, der seine Selbstständigkeit auch als Musikverleger begann, bestand das größte Problem in einer mittelfristigen Veränderung der bandinternen Erwartungen: Junge Musiker, so Kopec, »teilen immer alles«334 und übernahmen aus der Phase als DIY-Jugendband auch die Praxis der gleichen Teilung der – falls es diese gab – Gewinne. Im Zuge der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Urheberrecht und den oben skizzierten ungleichen Rollenverteilungen beim Songwriting waren viele Musiker jedoch nicht mehr zu einer egalitären Lösung bereit. Die frühzeitige Klärung dieses Spaltpotentials verhinderte laut Kopec die nachträgliche Auseinandersetzung bei Besetzungswechseln der Band und führte auch zu einer gerechteren Abbildung der tatsächlich erbrachten Leistung beim Songschreiben: Songwriting war so eine Sache, junge Bands teilen sehr oft die Kredits zunächst gleichmäßig untereinander zu gleichen Teilen auf, egal wer was zu einem Titel beigetragen hat. Später jedoch sehen die Komponisten und Texter, die die meiste Arbeit oder das größere Talent zum Schreiben haben, es nicht mehr ein, alles gleich auf zu teilen. Es geht um Zeit und Arbeit, Investment und natürlich auch um Geld. Die Schreibfaulen musste man dann immer wieder animieren, einen ernsthaften Beitrag zu leisten.335 Diese Einschätzung teilte auch Biff Byford, der bei Saxon ebenfalls beobachtete, dass eine freundschaftliche Teilung der Songwriting-Credits anfangs unproblematisch funktionierte, während die ungleichen Beiträge der Musiker dauerhaft zu einem internen Gerechtigkeitsproblem wurden.336 Wie eine Band mit dem alten Problem umging, dass Urheberrechte auch an solche gehen, die mit dem Song gar nichts zu tun haben,337 gehörte daher zu den wesentlichen Faktoren eines »Inklusionsarrangements.« Eine bemerkenswerte Perspektive auf diesen Zusammenhang entwickelte Fred Estby bei Dismember, wo er nach dem zweiten Album »Indecent & Obscene« (1993) das Konfliktpotential in
331 Vgl. Halford, Confess, S. 127. 332 Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 229. 333 Vgl. Frank Stöver, Tank. Interview with Mark Brabbs, in: Voices From The Darkside Online, URL: h ttps://www.voicesfromthedarkside.de/interview/tank/ (letzter Aufruf 03.02.2022). 334 Interview Bogdan Kopec, 46.35 Min. 335 Ebd., 46.58-47.12 Min. 336 Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 106. 337 Vgl. Simon Frith, Commodifying Music. Tickets, Copies, and Licenses, in: Klaus Nathaus/Martin Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 145–165, hier S. 159.
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der Tatsache erkannte, dass er zwar als Band-Leader und Songschreiber fungierte und dementsprechend die geringen Tantiemen erhielt, diese Verteilung aber nicht den realen Beitrag der Musiker zum Vorankommen der Band widerspiegelte. Die Rechte gäben weder die erbrachte Leistung beim Proben oder bei Konzerten wieder, noch könne man mit einer Stoppuhr den Aufwand beim Songschreiben messen. Darüber hinaus sei seiner Meinung nach zu beachten, dass die Entscheidung, einen Song auf einem Album zu platzieren, ebenfalls der Führungsfigur der Band zukam und sich Songwriting-Credits dadurch automatisch bei Band-Leadern bündelten.338 Für Estby erscheine dieser Umstand »almost like a dictatorship.«339 Um die niedrigen »mechanical royalties«, also die Tantiemen aus der Vervielfältigung der Musik, die nicht über das Label liefen, besser zu verteilen, ermutigte er seine Band-Kollegen zum Songwriting: And I didn’t want that to become a problem to the band. So, I more or less encouraged the guys like ›You know what, if everybody writes songs, then everybody will get paid.‹ Cause we didn’t see any royalties for, regular royalties for albums, because all that money went into supporting bigger bands. All the money that came in from selling any albums through Nuclear Blast went into tours, because they had to put money out for us to tour and that costed a lot of money for us to go on tour, you know. We couldn’t afford it. And to go on tour, we had to quit our jobs. So, we didn’t have any money. We went on tour and came all broke and then, if I got a payment, you know, from the MCB, which is the Scandinavian control center for people who write music, then I got a check for a hundred Euros and the other guys didn’t have anything and no one had a job, I mean of course this kind of feel crappy for everybody, you know. So, by the third album I encouraged everybody to at least write one song each for the album.340 Die Implementierung dieser Absprache funktionierte in der Folge gut, verbesserte das soziale Klima in der Band und wurde von Estby als band-politische Maßnahme (»kind of democracy«) gedeutet.341 Ein derartiges Maß an Reflexion wurde natürlich dadurch erleichtert, dass es bei den meisten Extreme Metal-Bands um niedrige Beträge ging. Wie dagegen die internen Absprachen bzw. wahrscheinlich Verträge bei kommerziell sehr erfolgreichen Metal-Bands aussahen, wäre eine spannende Frage für weitere Forschung.
4.4.4.2 Produktion Die Analyse von Produktionsprozessen von Metal-Musik ist ein Forschungsfeld, das weit über die Sozialbeziehungen innerhalb von Bands hinausgeht, jedoch auch verdeutlichen kann, dass sich die Band als »soziales Handlungsfeld« einer zunehmenden Herausforderung ihrer »Binnenrationalität« ausgesetzt sah.342 Der bereits unter be338 339 340 341 342
Vgl. Interview Fred Estby, 22.20-22.40 Min. Ebd., 22.47 Min. Ebd., 23.34-24.38 Min. Ebd., 24.52 Min. Zur Literaturübersicht vgl. Jan-Peter Herbst/Mark Mynett, (No?) Adventures in Recording Land: Engineering Conventions in Metal Music, in: Rock Music Studies 2021, S. 1–20, hier S. 1–3; Zur historischen Einordung vgl. Michael Abesser, Sounds, Tracks, and Signals. Recording Music, in: Nathaus/Rempe (Hg.), Musicking, S. 189–210.
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stimmten Prämissen und Erwartungen geschriebene Song empfing in der Produktion seine endgültige Gestalt durch den Arbeitszusammenhang von Musikern, Produzenten und Sound-Technikern, stand bisweilen unter dem Erwartungsdruck und den stilistischen Einschränkungen der investierenden Label, wurde durch bestimmte technologische Ausstattungen und Arrangements beeinflusst und war schließlich an der Genese spezifischer Szene-Sounds beteiligt – die daraufhin als erfolgreiche Konventionen andere Produktionen beeinflussen konnten und Bestandteil von Authentizitätsund Distinktionsdiskursen wurden.343 Die von der Forschung stark betonte Möglichkeit, die Produktion immer stärker studio-unabhängig und digital zu organisieren344 hatte in der Metal-Kultur der 1980er Jahre bereits eine DIY-Vorgeschichte. Bands traten im Tape Trading-Netzwerk zunehmend mit Tapes auf, die sie in den Garagen und Kellern ihrer Eltern mit 4-Spur-Geräten oder gar nur Boom-Boxen aufgenommen hatten und bei denen sie jeden Produktionsund Distributionsschritt selbst durchführten: Kassetten wurden überspielt und versandt, was nicht nur einen enormen Zeitaufwand bedeutete, sondern eine Band wie etwa Deceased dazu »zwang«, leere Kassetten zu stehlen, um der Nachfrage gerecht zu werden.345 Die dabei stark involvierten Freunde der Bands oder leidenschaftliche Fans taten es den Musikern gleich. Andreas Stein, der um 1980 noch unter Tage arbeitete, kam von der Schicht und überspielte Tapes von Tormentor (Umbenennung zu Kreator 1982) bis es Abendessen gab, um danach weiterzumachen,346 während Götz Kühnemund angibt, die Hälfte seiner Jugend vor dem Tapedeck verbracht zu haben.347 Neben der Vervielfältigung von Hand diente der Copyshop in der Produktionsphase der Tapes als zweite Heimat, es wurden Muster entworfen, mit Schere und Kleber arrangiert und per Drucker kopiert, um sie dann als Tape-Cover zu nutzen. Auch erste Poster und Plakate entstanden auf diese Weise.348 Den Verkauf regelte man schließlich während Konzerten (vor allem von anderen Bands) und gewann sogar Fans auf anderen Kontinenten für diese Aufgabe – Erlöse flossen in Bar und per Post zurück.349 Bei vielen Bands zeigte sich bereits in dieser DIY-Phase der Produktion eine deutliche Professionalisierung, die sich vor allem in der selbstfinanzierten Nutzung besser ausgestatteter Studios niederschlug. In Schweden, wo die Produktion sogar in kleinen
343 Zur Frage der Entwicklung von Sound-Konventionen mit spezifischen regionalen Bezügen vgl. Jan-Peter Herbst, The formation of the West German power metal scene and the question of a ›Teutonic‹ sound, in: Metal Music Studies 5 (2019) 2, S. 201–223; Vgl. ders./Mark Mynett, Nail the Mix: Standardization in Mixing Metal Music?, in: Popular Music and Society 44 (2021) 5, S. 628–649. 344 Zur »delocalization of the recording studio« vgl. Abesser, Sound, Tracks, and Signals, S. 198. 345 King Fowley, in: Andreyuk, Tape Dealer, S. 38. 346 Vgl. Küppers, Special: Metal im Pott. 347 Vgl. Interview Götz Kühnemund, 13.17 Min. 348 Vgl. Forbes, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky, in: Metalcore Fanzine; Vgl. Tom Angelripper über die Herstellung der ersten Sodom-Demos, in: Andreyuk, Tape Dealer, S. 29. 349 Vgl. Chris Forbes, Insaniac. Interview with CJ Scioscia, in: Metalcore Fanzine, URL: https://www.m etalcorefanzine.com/insaniac.html (letzter Aufruf 03.02.2022). Die Band vertrieb ihre Kassetten durch Jürgen Hegewald in Deutschland.
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Studios in Jugend-oder Gemeindezentren angeboten wurde, lagen die Hürden dafür besonders niedrig und eine Band wie Tribulation verbesserte sich von Demo zu Demo erheblich: Als die Band noch Pentragram hieß, nahmen sie im Musikspektrum, einem Haus in ihrer Heimatstadt Surahammar, das erste Demo auf und wurden selbst in dieser Phase bereits von einem »old blues rocker, [who] thought we were crazy kids making noise but agreed to record us«350 produziert. Das erste Demo unter dem Namen Tribulation wurde dann in einem größeren und professionelleren Studio der Stadt produziert und für das letzte Demo vor der LP fuhr die Band in ein professionelles Studio nach Falun.351 Der Einfluss der Produzenten wurde dabei größer. Die ersten Demos entstanden in der Regel in nicht spezialisierten lokalen Studios, in denen die Produzenten weder mit Heavy Metal-Musik noch mit ihren extremeren Formen vertraut waren. Der Entstehungsprozess der ersten Songs ist daher auch Bestandteil vieler Szene-Anekdoten, die von der süffisanten Gegenüberstellung der musikalischen Transgression und überforderten Produzenten profitieren. Anders Schultz berichtete über den Produzenten des ersten Unleashed-Demos in Stockholm: »The guy who ran it had no understanding of what we wanted to achieve, and basically thought we sucked. Hated us, rather. And he refused to put his name on the demo saying that would destroy his reputation, haha.«352 Dagegen rekapitulierte Mike Smail das erste Demo von Dream Death (»More Graveyard Delving« 1987) in Pittsburgh etwas reflektierter, indem er den Lernprozess auf beiden Seiten verortete: That was our first time in a »real« studio. We had no idea what we were doing for sure and it was new territory for us. I’m not sure the guy working there knew what to really do with us either. I think we were his first really heavy/metal band so it was rather a feeling out kinda thing. At the time it was definitely a step up from our home brew 1st demo. Yep, we dubbed them all ourselves and Xeroxed the covers. Not sure about numbers.353 Trotz des gegenseitigen Unverständnisses existierten auch positive Eindrücke und Mark Odechuck empfand die Entstehung des ersten Demos seiner Band Paineater im Hayes Studio in Tampa als positiv, weil der »guy who did the recording« (wohlgemerkt nicht der »producer«!) seine Sache trotz völliger Unkenntnis extremen Metals gut machte.354 Existierten dagegen in der Region bereits anerkannte kleine Studios für Metal-Produktionen oder übernahmen erfahrene Musiker bzw. Freunde der Band diesen Schritt, war die Befremdung natürlich geringer. Eines dieser Studios, die sich in jeder hier besprochenen Szene etablierten, war etwa Border City in Niagara Falls, wo zwischen 1986 und den frühen 1990er Jahren der »go to place« der Death Metal-Bands aus Buffalo lag.355 Es handelte sich bei den dortigen Produktionen eher um eine gemeinsame Arbeit von Bekannten oder Freunden, die ebenfalls tief in der anvisierten Szene integriert waren 350 351 352 353 354 355
Interview Magnus Forsberg, Z. 31f. Vgl. ebd., Z. 31–38. Andreyuk, Tape Dealer, S. 162. Forbes, Dream Death. Interview with Mike Smail, in: Metalcore Fanzine. Andreyuk, Tape Dealer, S. 156. Vgl. ebd., S. 213.
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und dementsprechend ein ganz anderes Arbeitserlebnis für die Bands ermöglichten. So beispielsweise auch bei der Band Derketa für ihr Demo »The Unholy Ground« (1989): Bob from Alternative Studios went to high school with Jeff Cherep (DoomWatch) so he was aware of the underground punk and metal sound. He didn’t treat us weird or anything, it was a great recording experience. He was easy to work with and we had a lot of fun recording that demo. I recently found the receipt for it, it was $6/hour.356 Sharon Bascovsky spricht mit den sehr niedrigen Kosten von 6 $ pro Stunde einen wichtigen Aspekt bei der Studiowahl an: Schon während der NWOBHM versuchten Bands, möglichst günstige Studiozeiten zu gewährleisten und buchten wenig attraktive Daten und Uhrzeiten, um den Stundenpreis herunterzuhandeln. Iron Maidens erstes Demo entstand zu Silvester 1978 innerhalb von 24 Stunden im Spaceward Studio in Cambridge für 200 ₤.357 Paineater bezahlten 15 $ pro Stunde und insgesamt etwa 200 $ in Tampa.358 Die Band Sadus finanzierte die Kosten ihres ersten Tapes in San Francisco (60 $ pro Musiker) durch die Teilnahme an medizinischen Experimenten.359 Verglichen mit den späteren, auf Extreme Metal spezialisierten, Studios wie Morrisound oder Sunlight waren dies winzige Beträge. Malevolent Creations erstes Demo kostete 1.000 $ für zwei Tage Studiozeit im Morrisound Studio in Tampa, wo der Stundenpreis im kleinen Studio 1993 bei 60 bis 85 $ und im großen Studio bei 95 bis 125 $ lag.360 Während es sich bei den ersten Demo-Produktionen in der Regel um eine Kooperation mit Hobby-Produzenten handelte, trafen die Bands nach der Unterzeichnung eines Plattenvertrags mit Indie Labels – und erst recht bei den Major Labels – auf einen anderen Produzenten-Typen und eine andere Technik. Seit den 1960er Jahren hatten sich Studios zunehmend technisiert, sodass ab 1973 beispielsweise 24 Spuren für die Aufnahme in den Londoner Studios zur Verfügung standen (die Beatles hatten lediglich vier nutzen können) und bereits erste Schritte in Richtung Automatisierung erkennbar waren. Die getrennte Aufnahme der Instrumente wurde möglich, konnte ab den 1970er Jahren mit computergestützten Mischpulten zunehmend bearbeitet und gespeichert werden, während ab den 1980er Jahren Sampler, Drum Computer und digitale Synthesizer hinzukamen. Digitale Aufzeichnungsmedien und Festplattenrekorder ebneten schließlich ab den frühen 1990er Jahren den Weg für die vollständig digitale Aufnahme.361 Mit der Spezialisierung der Studios auf bestimmte Genres ging ein Wandel des Berufsbildes des Produzenten einher. Ähnlich wie die NWOBHM-Musiker nahmen sich diese seit den 1970er Jahren nicht mehr als bloße Dienstleister wahr, sondern entwickelten das Selbstverständnis professioneller Qualifizierter, die als Künstler aktiv in die
356 357 358 359 360 361
Forbes, Derketa. Vgl. Wall, Run to the Hills, S. 66f. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 156. Vgl. Kristiansen, Slayer 20 (2010), S. 688. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 148; Vgl. Dirk Lammers, Studio enjoys high-volume business, in: The Tampa Tribune, 30.01.1993, S. 42. Vgl. David Waldecker, Musizieren im Tonstudio: zur Soziologie von Musik, Raum und Technik in der Musikaufzeichnung, Online-Vorabfassung 2020, S. 28f.
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Entscheidungen im Studio eingriffen und einen spezifischen Stil pflegten.362 Innerhalb dieser Qualifikationen ergab sich überdies eine Verschiebung von der musikalischen zur technischen Expertise und damit eine zunehmende Verschmelzung der Tätigkeitsfelder von Produzenten und Toningenieuren.363 Der »artist-mixer«364 – immer stärker mit dem Stil der Musiker sozialisiert und selbst musikalisch aktiv – steuerte als technischversierter Praktiker die Produktionsprozesse und brachte sich kreativ ein. Beide Prozesse artikulierten sich auch in der Produktion von Metal-Musik, wobei sich in der Frühphase des Genres Heavy Metal sowie zu Beginn der jeweiligen Sub-Genres Lern-und Anpassungserscheinungen zeigten. Zunächst befanden sich die »artistmixer« von Thrash-, Death-oder Black Metal-Bands in »uncharted waters«365 – für einen Toningenieur wie Chris Bubacz, der Metallicas erstes Album »Kill ’em All« verantwortete, existierten hinsichtlich des Sounds genauso wenig Referenzen wie bei den ersten Aufnahmen von Morbid Angel, Napalm Death, Entombed oder Sodom. Die musikalische Transgression sowie der Distinktionswunsch der Bands konnten sich auf keine »accepted ideal HM production«366 stützen. Für Bands existierten in dieser Situation verschiedene Produzenten-Typen, die sich entlang einer musikalischen Grenze (mit Metal-Musik vertraut oder nicht) sowie einer Grenze des beruflichen Selbstverständnisses unterschieden (Künstler oder Dienstleister). Produzenten, die nicht mit Metal-Musik vertraut waren und sich als Dienstleister verstanden, arbeiteten vor allem in kleinen Studios, in denen die Bands ihre Demo Tapes aufnahmen. Der nicht Metal-erfahrene Künstler-Produzent dagegen wurde vor allem von den Major Labels verpflichtet, hatte zuvor bereits bekannte Musiker oder Bands produziert und besaß den Auftrag, einen als gewinnbringend empfundenen Sound zu realisieren. Solche Produzenten hatten eigene Vorstellungen von einem geeigneten Produkt, griffen weit über den Sound hinaus in die Produktion ein und traten den Musikern mit dem Selbstbewusstsein des Erfolgs entgegen. So verkörperten Akteure wie Robert John »Mutt« Lange, der aufgrund seiner Arbeit mit AC/DC von Polygram verpflichtet wurde, um Def Leppards Album »Pyromania« (1983) zu produzieren, oder Bob Rock, der Metallicas selbstbetiteltes Album (1991) produzierte, den Aufstieg dieses kreativen Berufszweiges. Neben ihrer technischen Qualifikation besaßen sie einen individuellen Stil und großes Durchsetzungs-bzw. Überzeugungsvermögen. Die Musiker von Def Leppard äußerten dementsprechend, bis zu diesem Zeitpunkt noch nie so hart gearbeitet zu haben, während sich auch der Produktionsprozess bei Metallica mit Bob Rock als viel länger und intensiver herausstellte als zuvor gewöhnt.367
362 Vgl. Abesser, Sounds, Tracks, and Signals, S. 199. 363 Vgl. Waldecker, Musizieren, S. 31. 364 Vgl. Edward R. Kealy, From Craft to Art, in: Sociology of Work and Occupations 6 (1979) 1, S. 3–29, hier S. 20. 365 Zazula, Heavy Tales, S. 44. 366 Niall Thomas/Andrew King, Production perspectives of heavy metal record producers, in: Popular Music 39 (2019) 3, S. 498–517, hier S. 515. 367 Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 73; Vgl. die Gewöhnung an die Zusammenarbeit zwischen Bob Rock und Metallica, in: Matthew Longfellow (Reg.), Metallica. The Black Album, USA 2001, 07.30-11.10 Min.
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Star-Produzenten bildeten in der Geschichte der NWOBHM und dann besonders im Extreme Metal aber eine Seltenheit – einerseits aufgrund der Finanzknappheit in immer stärker DIY-organisierten Szenen, andererseits aber auch, weil mit Produzenten wie Lange, Rock oder Dennis MacKay eine starke musikalische Beeinflussung der Musiker in Richtung eines empfundenen Mainstream-Sounds verbunden war.368 Denn für Bands, die eine musikalische Beeinflussung durch den Produzenten ausschlossen und für die eine erwünschte Marktkompatibilität, die sich als Bruch im Stil gezeigt hätte, nicht verhandelbar war, bedeuteten bestellte Produzenten ein Problem. Aus der Zeit um 1980, der großen Phase des Major-Label-Engagements im Heavy Metal, existieren daher einige Beispiele für Bands, die sich mit Produzenten überwarfen, weil sie als Eindringlinge in den Stil der Bands verstanden wurden, autoritär auftraten und – hier lag der zentrale Aspekt – selbst keinen Metal hörten. Biff Byford adressierte einen Produzentenwechsel daher als Entfremdung von der bandinternen Tradition bei Saxon: »But there was a sense that they were bringing in producers to produce us, whereas before it was more of a team – a team of mates, really, making records.«369 Auch die Tygers of Pan Tang wechselten 1981 für ihr drittes Album »Crazy Nights« den Produzenten und griffen nicht mehr auf Chris Tsangarides, der die ersten Alben produziert hatte, zurück. Der neue Produzent, für den sich die Band selbst entschied, war Dennis MacKay, der unter anderem David Bowie, Judas Priest oder Pink Floyd aufgenommen hatte. Der Grund war ein Wunsch der Band: »All of us said, we think we need the sound, we need a producer, who will change things, modify things and make the sound more interesting.« Die Produktion in den Trident Studios in London endete jedoch in einem »absolute disaster«370 : Die Band und der Manager bemerkten Desinteresse bei MacKay, vermissten Qualifikationen, die sie bei Tsangarides als selbstverständlich erachtet hatten und beschwerten sich vor allem darüber, dass der Produzent Künstler-Allüren an den Tag legte – etwa, indem er angetrunken zur Produktion erschien.371 Die Zusammenarbeit blieb nur eine Episode und die Band bereute den Wechsel von der zurückhaltenden aber kompetenten Arbeit des Metal-erfahrenen Tsangarides zu MacKay. Aus der historischen Rückschau hatte die Band bereits zuvor den idealen Metal-Produzenten gefunden, dessen Merkmale sich in den 1980er Jahren breit durchsetzten. Darüber hinaus schwangen bei der Produzenten-Kritik einiger britischer Musiker anti-amerikanische Ressentiments mit. Die dezidiert »britische« Komponente der NWOBHM wendete sich dabei gegen als poliert empfundene und für den amerikanischen Massenmarkt produzierte Alben und adressierte diese als unbritisch, charakterlos und im Falle von Byford als sterilisiert:
368 Byford, Saxon. Never Surrender, S. 135: » Def Leppard established themselves by turning into an American band; ›Pyromania‹ is a fantastic album, a pinnacle in rock music history, but there’s nothing British in it, no British influence at all.« Amerikanisierung war hier gleichbedeutend mit Charts-Tauglichkeit. 369 Popoff, Wheels of Steel, S. 219. 370 Interview Robb Weir/Tom Noble, 04.01 Min. 371 Vgl. ebd., 03.33-04.34 Min (zweite Datei).
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Wheels of Steel [Album von Saxon, 1980, M.S.] isn’t streamlined and sterilised for Stateside consumption; rather it’s loud, proud, as British as bangers and mash and a towering testimony to the revitalisation of UK raunch’n'roll.372 In Anlehnung an die musikalische »British invasion«373 der USA in den 1960er Jahren begriffen diese Kritiker die NWOBHM als auch produktionstechnischen britischen Aufschlag in einem jahrzehntelangen populärmusikalischen Tennisspiel zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich und stellten – wie Tino Troy – der amerikanischen Seite (»the whole American thing was too polished«) eine aus der Punk-Tradition stammende »echte« Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit entgegen (»more rough and ready«374 ).375 Zusätzlich zu der Furcht vor »sell-out«-Vorwürfen und den persönlichen Konflikten mit den Star-Produzenten bildete die »Britishness« deshalb eine um 1980 diskutierte Hintergrundfolie für die Erwartungen an die Produktion seitens der Bands. Seit den frühen 1980er Jahren bildete sich schließlich eine von den Musikern akzeptierte, kleine Gruppe von spezialisierten »artist-mixern« an der Schnittstelle von Produzent und Ton-Ingenieur heraus, die mit den Preisvorstellungen, Arbeitsweisen und Authentizitätskriterien der Musiker vertrauter wurden. Innerhalb des oben skizzierten Schemas identifizierten sie sich einerseits stark mit dem Genre und den Bands, bildeten andererseits aber eine praxisorientierte Mischung aus Künstler und Dienstleister. Die hervorstechendste Eigenschaft dieser Produzenten war in den Augen der Musiker ein als unprätentiös empfundenes Auftreten als Dienstleister, das jedoch mit szenerelevantem und technischem Wissen einherging und durchaus stilistische Urteile und Eingriffe begründen konnte. Die entstehenden Spezialisten vereinten ihre Rolle als Verwirklicher der Band-Wünsche mit ihrem kreativen Probiertrieb.376 Es galt, einen spezifischen Sound für Band und Produzent zu finden. Einige der wichtigsten Akteure waren dabei Alex Perialas, Chris Tsangarides, Scott Burns, Thomas Skogsberg, Dan Swanö, Harris Johns, Rick Rubin, Colin Richardson oder Andy Sneap. Johns, der im MusicLab in Berlin unter anderem Bands wie Sodom, Kreator, Voivod und später Immolation produzierte und am Ende der 1980er Jahre für anderthalb Jahre ausgebucht war,377 gehörte dabei ebenso zu den pionierhaften Szene-Produzenten wie Siggi Bemm in Hagen oder Alex Perialas, der in Ithaca, NY, ein Studio betrieb und unter anderem Anthrax, Raven, Overkill, Testament oder Holy Moses produzierte. Die Aufgabe dieser Metal-Produzenten glich einer Gratwanderung: Einerseits mussten sie als technisch-beschlagene und szene-intern vernetzte Kenner von den Musikern anerkannt werden, wobei keine Erfahrung mit Pop-Größen, sondern der Katalog der Metal-Produktionen zählte. Andererseits durften sie ihre eigene Kreativität 372 Byford, Saxon. Never Surrender, S. 76. 373 Vgl. Egbert Klautke, Die »britische Invasion« der 1960er Jahre, in: Dietmar Hüser (Hg.), Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre, Bielefeld 2017, S. 107–125. 374 Interview Tino Troy, 25.55-26.51 Min. 375 Vgl. Simon Zagorski-Thomas, The US Vs the UK Sound: Meaning in Music Production, in: ders./ Simon Frith (Hg.), The Art of Record Production, Farnham 2012, S. 57–76. 376 Vgl. Herbst/Mynett, Nail the Mix, S. 644. 377 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 250.
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und ihre vorhandenen Vorstellungen gegenüber der Band nur derartig kommunizieren, dass diese nicht als autoritäre Eingriffe verstanden wurden. Sabina Classen beschreibt diese Mixtur aus Anerkennung der Binnenrationalität der Band und akzeptierter Veränderung bei Alex Perialas: Ich muss sagen, Alex Perialas hat uns wirklich als die Band gesehen, die wir waren, ohne uns verändern zu wollen. Er hat uns aber unterstützt, Dinge nochmal mehr auf den Punkt zu bringen. Er hat wirklich drauf geachtet, dass das perfekt und gut ist, was aber schon immer die Ausrichtung von Holy Moses war ab »Finished with the dogs«. Also technisch das perfekt zu machen, sehr auf den Punkt zu sein, sehr strukturiert zu sein. Und das haben wir auf jeden Fall noch mal von Alex wirklich gelernt.378 Es galt also die Band besser zu machen, aber nicht den Rahmen zu überschreiten, den sich diese selbst gesetzt hatte und darüber hinaus darauf zu achten, dass Bands oft bereits mit einem spezifischen Sound am Markt vertreten waren und dass auch Erwartungen der Plattenfirmen bestanden.379 Die Aufgabe bestand darin, eine als kooperativ empfundene Zusammenarbeit zu gewährleisten, die nicht als übergriffig erschien, gleichzeitig die existenten Codes des Sub-Genres und der Band zu beachten und das potentielle Veto-Recht der Investoren im Auge zu behalten. Die Bewerkstelligung dieses Spagats setzte Lernfähigkeit seitens der Produzenten und der Musiker voraus und musste aufgrund des musikalischen »Flusses« in Richtung »heaviness« stets neu verhandelt werden – konnte bei Erfolg aber auch darin münden, dass Produktionen eines bestimmten Studios zunehmend selbst als Produktions-Code anerkannt wurden. Mit dem Morrisound Studio in Temple Terrace, Tampa, sowie dem Sunlight Studio in Stockholm gelang dies zwei für Death Metal-Produktionen bekannt gewordenen Institutionen beispielhaft. Ersteres wurde 1981 von Jim, Tom und Laurel Morris sowie Rick Miller gegründet und baute in den späten 1980er Jahren eine hervorragende Reputation bei jungen Extreme Metal-Bands auf. Besonders der Ton-Ingenieur Scott Burns verkörperte viele der von den Bands geschätzten Eigenschaften: Er hörte und mochte selbst Metal-Musik, experimentierte, um den besten Sound für die Bands zu gewährleisten und entsprach in seiner Herangehensweise ganz der Mischung aus Dienstleister und kreativem Geist.380 Mit den Musikern teilte er die stark musikalische Fokussierung, sodass es für ihn beispielsweise nicht zählte, ob eine Band bekannt und erfolgreich war oder nicht, solange ihre Leistung überzeugte.381 Dies beinhaltete auch die vorläufige Akzeptanz der Tatsache, dass viele der jungen Musiker Songs schrieben und aufnehmen wollten, die ihre musikalischen Qualifikationen überschritten. Das Morrisound Studio war
378 Interview Sabina Classen, 22.15-22.58 Min. 379 Vgl. Jan-Peter Herbst, Teutonic Metal: Effects of Place- and Mythology-based Labels on Record Production, in: International Journal of the Sociology of Leisure (2021) 4, S. 291–313, hier S. 308: » In Bauerfeind’s experience, record companies rarely explicitly discuss genre labels with producers and bands if records are successful; if not, they analyse what has caused audience dissatisfaction. The production aesthetic will be questioned, and the producer asked to explain the concept, often followed by a change of the production team.« 380 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 222. 381 Jason Gobel (Cynic), in: Andreyuk, Tape Dealer, S. 161.
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also mit der DIY-Mentalität durchaus kompatibel, wie auch einer seiner Gründer, Jim Morris, anmerkte: They were playing like half a song, and then they couldn’t play anymore. They were playing just beyond their level of competence. […] The blast beat especially was a challenge, mostly because they were often just not played correctly. It was very difficult, and 90 % of the drummers were not doing it correctly. […] They really wanted to be better than they could really [physically] do. […] They had the vision in their head and they knew what the music was supposed to be about. […] because death metal, especially when it started, was played not because you thought you were going to get paid; you played it because you had to.382 Auch seine Arbeitsmoral gegenüber der Musik überschnitt sich mit der der Musiker: In einem Akt langjähriger Selbstausbeutung arbeitete Burns oft sieben Tage in der Woche für zwölf bis 16 Stunden und schlief oft im Studio – was sich erst mit steigenden Produktionsbudgets der Bands änderte.383 Hinzu kam, dass er frei vom Verdacht kommerzieller Motivation blieb: Er schätzt, dass er zwar 5.000 $ pro Album und damit mehr als die Musiker erhielt, dafür aber auch an keinerlei Tantiemen beteiligt wurde. In zwei Fällen gab er seine bewilligten Tantiemen an die Band weiter, weil er empfand, diese seien von der Plattenfirma getäuscht worden.384 Burns betätigte sich mitunter sogar als Vermittler und ermöglichte im Kontakt mit den Labels beispielsweise der Band Malevolent Creation einen raschen Vertrag bei Roadrunner Records, nachdem er deren Demo produziert hatte – um praktischerweise zwei Monate später auch ihr erstes Album zu produzieren.385 Burns konnte für die Jahre zwischen 1989 und 1993 zum Vorbild des neuen Extreme Metal-Produzenten aufsteigen, weil er den Bands glaubhaft vermittelte, am selben Ziel interessiert zu sein und dabei für die Bands zu arbeiten. Dass Morrisound zu »THE studio to record at«386 und zum Erfolgsgaranten für Death Metal-Bands avancierte, war neben dieser Dienstleistungseinstellung und den relativ günstigen Studiokosten387 aber genauso auf die zweite Fertigkeit seiner Mitarbeiter zurückzuführen: Das Studio erwies sich dazu in der Lage, den rohen Sound der Demo-Tapes aus den Garagen und Kellern in der Studioproduktion so abzubilden, dass sich die Musiker immer noch verstanden fühlten. Dies betraf mit der Realisierung des Schlagzeug-Sounds besonders ein Grundproblem der Death Metal-Produktion, an dem Burns durch vielfältige Anordnungen, technische Hilfsmittel und Einstellungen experimentierte.388 Der Ton-Ingenieur generier382 Jim Morris, in: Netherton, Extremity Retained, S. 219f. 383 Vgl. Thomas Ehrmann, Scott Burns, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voic esfromthedarkside.de/special/scott-burns/ (letzter Aufruf 03.02.2022). 384 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 472. 385 Phil Fasciana, in: Andreyuk, Tape Dealer, S. 148. 386 Interview Mike Browning, Z. 30. 387 Das Studio wurde in den frühen 1990er Jahren auch von europäischen Metal-Bands gebucht, weil es – aus Sicht der französischen Band Loudblast (1993) etwa – sowohl günstiger war als die europäischen Studios als auch eine bessere Unterstützungspraxis für die Bands aufwies. Vgl. Lammers, Studio enjoys high-volume business, S. 42. 388 Die Aufnahme des Schlagzeugs dominierte den Produktionsprozess zeitlich: Vgl. Herbst/Mynett, Nail the Mix, S. 636.
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te dadurch einen deutlichen Wettbewerbsvorteil für das Studio, den auch Lee Harrison, der mit seiner Band Monstrosity im Morrisound aufnahm, als entscheidend beschreibt und durch den sich das Studio nicht nur von anderen Metal-Studios, sondern von allen Studios unterschied: They were able to get clarity from the drum sounds that most other studios couldn’t. Even some big studios just didn’t have a clue how to record death metal drums. So that was a big advantage for Florida.389 Indem Scott Burns und auch Jim Morris den Drum-Sound klar und präzise realisieren konnten und auch hinsichtlich der anderen Instrumente eine Strategie technischer Sauberkeit präferierten,390 trugen sie dazu bei, dass sich der Sound von Bands wie Obituary, Deicide, Morbid Angel, Death oder Atheist – obgleich alle musikalisch verschieden – zu einem Erfolgsgarant und Markenzeichen entwickeln konnten: Und zwar nicht der jeweiligen Bands, sondern – wie Harrison es anmerkt – des Staates Florida und »seiner« Death Metal-Szene. Darüber hinaus machten sie dadurch auch deutlich, dass die Rolle des Produzenten gegenüber der Band nicht im Durchwinken der Wünsche der Musiker bestand. Die Dienstleisterfunktion hatte ein Pendant in der technischen Leitungsfunktion des Produzenten, der zunehmend klarer hervortretende Produktions-Codes des Szene-Sounds umsetzte. Wenn diese Umsetzung nicht funktionierte, konnte sich auch die Studioatmosphäre und die Beziehung zwischen Musikern und Produzent rasch ändern: Als beispielsweise Napalm Death 1990 ihr drittes Album »Harmony Corruption« im Morrisound Studio von Scott Burns produzieren ließen, traf der Schlagzeug-Stil von Mick Harris, der im Hardcore-Punk bzw. Grindcore verwurzelt und daher rasend schnell aber eher ungenau war, auf die Vorstellungen der Drum-Präzision von Scott Burns. Das Timing von Harris ließ sich dabei kaum an den Drum-Sound von Burns anpassen. Als Harris an einem Morgen noch dazu nicht im Studio erschien, eskalierten die sowohl bandintern als auch zwischen Band und Studio bestehenden Spannungen und das Studio informierte das Label der Band (Earache Records) über das Ende der Zusammenarbeit. Erst eine Auszeit und das Insistieren des Label-Gründers Digby Pearson ermöglichte die Fertigstellung des Albums.391 Wie bei kaum einer anderen Produktion veranschaulichte das Album die Notwendigkeit eines Arrangements zwischen Band und Studiomitarbeitern, die Wechselseitigkeit der Anforderungen und die Tatsache, dass die Wahl des Studios zu den entscheidenden Fragen der stilistischen Verortung einer Band gehörte. Ein weiteres Beispiel des sich selbst ausbeutenden und kreativen Produzententyps, der die Arbeitsauffassung der Musiker teilte, war Thomas Skogsberg im Sunlight Studio in Stockholm. Während Scott Burns den Schlagzeug-Sound perfektionierte und als Markenzeichen regionalisierte, wirkte Skogsbergs Arbeit vor allem hinsichtlich des Gitarrensounds als stilprägend.392 Durch die zufällig entdeckte stark verzerrende Wirkung
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Interview Lee Harrison, Z. 41–45. Vgl. Herbst, Teutonic Metal, S. 297f. Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 145f. Vgl. Herbst, Teutonic Metal, S. 297.
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eines übersteuernden Boss HM-2 Pedals und dessen Einsatz bei den ersten wichtigen Veröffentlichungen des schwedischen Death Metals von Nihilist/Entombed, Carnage und Dismember wiesen viele der von ihm produzierten Bands einen verwaschenen und sägenden Sound auf, der sich maßgeblich von Morrisound-Produktionen unterschied. Skogsberg erhielt in dieser Phase sogar den informellen Titel des »Königs der Mitten«393 und kreierte aufgrund dieser Fähigkeit für viele schwedische Bands den unverwechselbaren, bald als »schwedisch« assoziierten Sound. Auch Skogsberg produzierte vergleichsweise günstig,394 verfügte über Erfahrung durch jahrelanges Experimentieren und wies in den Augen der Musiker genau wie Burns eine soziale Kompetenz auf. Für Fred Estby war er der erste Produzent, der die Band wirklich ernst nahm und sich von den Metal-unerfahrenen Produzenten unterschied: I mean, he was the first and only person, who did not kind of scoff and trying to belittle our music and our attempts of playing, what we did, you know. He understood what we were going for and he was interested in making our sound as good as possible. And he was not looking down at us, even though he was like ten years older than us, you know. A lot of the people who did recordings and back then, they were older and they were just like ›Oh, what are you guys doing here? You just can’t play and you’re into this music that’s horrible and I don’t understand you guys, so I don’t give a shit really.‹ So, that was the mentality. And he was the first and only person, who would actually be supportive.395 Genau wie Burns symbolisierte Skogsberg die Genese eines spezifischen Death MetalProduzenten, der die DIY-Mentalität der Bands und ihren musikalischen Transgressionsdrang ernst nehmen, aber dennoch in produzierbare Bahnen lenken musste. Estby hebt dementsprechend auch hervor, dass Skogsberg sowohl geduldig als auch fordernd auftrat. Er dämpfte überzogene Erwartungen und teilte ehrlich seine Meinung mit, versuchte aber auch, das Produkt »as good as humanly possible« zu gestalten.396 Der Metal-Produzent im Stile von Burns und Skogsberg war daher eine Mixtur aus »Mädchen für alles« und kreativer Künstler-Figur, aus Sound-und Sozialarbeiter – Letzteres vor allem deshalb, weil mangelnde Professionalität bei den Musikern im Produktionsprozess genauso zur Tagesordnung gehören konnte wie die Nicht-Eignung einzelner Musiker oder bandinterne Konflikte397 – Ersteres dagegen, weil beide durch ihre Arbeit und den Erfolg der produzierten Bands Konventionen der Produktion erzeugten, die durch Aufträge weiterer Bands verbreitet wurden und sich medial vermittelt an spezifische Szenen knüpften. Bis heute werden etwa Markenbezeichnungen wie »Old School Swedish Death Metal«, »HM2-Death Metal« oder gar »Elchtod« verwendet, um auf den
393 394 395 396 397
Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 94. Vgl. Ola Sjöberg, in: Andreyuk, Tape Dealer, S. 136. Interview Fred Estby, 15.05-15.54 Min. Ebd., 16.52 Min. Zu Angst im Studio vgl. Halford, Confess, S. 67; Zum jugendlichen Überschwang hinsichtlich des Alkohols vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 234; Zum Streit im Studio vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 77; Zur Nichteignung unter Studiobedingungen vgl. Tatler, Am I evil?, S. 96.
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spezifischen Sunlight-Sound hinzuweisen.398 Skogsberg und Burns standen beispielhaft am Beginn der Erzeugung von »geographically associated sonic signatures«399 , die als »Szene-Sounds« Distinktions-und Authentizitätsvorteile versprachen und überdies den »country-of-origin-effect«400 und damit ein sehr spezifisches mediales wie kommerzielles Branding ermöglichten. Konventionen in der Produktion konnten sich auf diese Weise zu Hör-Gewohnheiten entwickeln, trugen zur Verfestigung von Stilen und Szenen bei und prägten die Kommunikation – teilweise bis zu dem Punkt, an dem man – wie hier Adam Jarvis (Misery Index) – andere Produktionen als »unhörbar« empfand: My ears were very much conditioned by those early Morrisound productions, to the point that in the years after I would hear punk or black metal albums and often, I’d find them unlistenable.401 Die geografisch festlegbaren Szene-Räume waren jedoch nie deckungsgleich mit einem spezifischen Sound aller Bands:402 Unter den Bedingungen des nicht digitalen Produzierens, bei dem – glaubt man den Produzenten und Musikern – jedes Studio einen spezifischen Sound aufwies,403 wurden die erfolgreichen Produktionskonventionen von Burns oder Skogsberg nach nur kurzer Zeit in den Szene-Diskurs um musikalischen Wandel einbezogen. In einer Form ambivalenter Kommerzialisierung (Kap. 7) wurden beide Produzenten zwar weiterhin als wichtige Akteure gewürdigt, die zu zentralen Alben der Metal-Kultur beigetragen hatten, jedoch zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, Einheitsware herzustellen. Beide Studios erzeugten schließlich heftige Gegenbewegungen und Unmutsäußerungen über den vermeintlichen Einheitsbrei, über die sich neue Bands und Produzenten abgrenzen und etablieren konnten. So entwickelten sich etwa die Woodhouse Studios im deutschen Hagen mit ihrem Inhaber Siggi Bemm zu einer gern genutzten Alternative für jene Bands, die sich von der empfundenen Konventionsbegrenzung des Sunlight Studios lösen wollten. Sowohl Mark Grewe von der deutschen Band Morgoth als auch Johnny Hedlund, der dort mit Unleashed
398 Vgl. etwa die Rezensionen für Neuerscheinungen in Deaf Forever (2021) 4, S. 119, 129. 399 Jan-Peter Herbst, Sonic Signatures in Metal Music Production. Teutonic vs British vs American Sound, in: Online publications of the Gesellschaft für Popularmusikforschung 18 (2020), S. 1–26, hier S. 3. 400 Toni-Matti Karjalainen, Tales from the north and beyond. Sounds of Origin as Narrative Discourses, in: ders. (Hg.), Sounds of origin in heavy metal music, Newcastle 2018, S. 1–39. 401 Netherton, Extremity Retained, S. 287. 402 Vgl. Sam Dunn, Lands of Fire and Ice. An Exploration of Death Metal Scenes, in: Public 29 (2004), S. 120f. 403 Vgl. Jan-Peter Herbst, The formation of the West German power metal scene and the question of a ›Teutonic‹ sound, in: Metal Music Studies 5 (2019) 2, S. 201–223, hier S. 216. Zur Diskussion der Standardisierung-Frage vgl. auch Herbst/Mynett, Nail the Mix, sowie dies., (No) Adventures, S. 16f.: Demnach habe es zweifellos Standardisierung durch Technisierung gegeben, diese habe aber die Spontanität der Produktion nicht vollständig verdrängt. Die Historisierung dieses Prozesses als Teil der Authentizität des Genres und seiner Verhandlung von Wandel bleiben demnach weiterhin wichtig.
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produzierte, wiesen auf dieses vorübergehende Distinktionsprofil des Studios hin.404 Dan Swanö, 1989 Gründer der Band Edge of Sanity, etablierte sein Unisound Studio in Finspång ebenfalls aufgrund eines Abgrenzungswunsches vieler neuer Bands gegenüber dem Stockholmer Studio.405 Zur gleichen Zeit entschieden sich Kam Lee und Rick Rozz dagegen, weiterhin das Morrisound Studio zu nutzen, produzierten mit Massacre lieber in einem kleinen, als »unverbraucht« adressierten Studio und nahmen dafür sogar Qualitätseinbußen in Kauf.406 Schließlich dienten den Black Metal-Musikern und ihren Fürsprechern im Tape Trading-Netzwerk die Genre-Konventionen dieser Studios sogar zur argumentativen Untermauerung eines kompletten Stilwechsels hin zu einer vermeintlich glorreichen und weniger technisierten Produktionsvergangenheit. Jon Kristiansen sprach im Slayer Fanzine entsprechend von einem »Morrisound sindrome«, wobei nach einigen Meisterwerken lediglich »clones« folgen würden und propagierte seine Sicht von einer produktionsbedingten Langeweile im Death Metal um 1990 in einigen Ausgaben.407 Solche Angriffe hatten in ihrer Gesamtheit durchaus Gewicht und die Entscheidung, beide Studios nicht mehr zu nutzen, ging in der Folge zunehmend von den Plattenfirmen aus, die Scott Burns angeblich sogar ausspionieren ließen.408 Burns beendete seine Arbeit im Studio letztlich 1996 genervt und frustriert. Die Anfeindungen, die beiden Produzenten entgegenschlugen, waren jedoch ungerechtfertigt. Beide dienten als einfache Integrationsfigur eines viel differenzierteren Produktionsprozesses, in dem existente Konventionen und ihre mediale Verbreitung, finanzielle Fragen, Erwartungen an die Band und Erwartungen an den Produzenten am Ende zusammenliefen. Die dokumentierte Tatsache, dass beide Produzenten auch Aufträge anzunehmen bereit waren, die andere Stile und Mixe beinhalteten, weist die Problematik von lauten Abgrenzungen gegen vermeintlich starre Konventionen eher in den Aufgabenbereich der Bands und Plattenfirmen. So überlegte man auch bei der Band Grave lange über eine Produktion bei Skogsberg, weil die Musiker unbedingt den »Entombed-Sound« vermeiden wollten. Der Produzent verwies die Band jedoch darauf, dass viele Bands gleich klängen, weil sie es genauso wünschten und fand für Grave schließlich auch eine distinkte Sound-Nische.409 Auch Daniel Strachal (Lobotomy) bemerkte einsichtig, dass es Aufgabe der Bands sei, negativen Implikationen von SoundLabeln aus dem Weg zu gehen: The sad thing is, that people seem to label a band from which country they are from. It seems like the market is open for brutal music, but it ain’t for swedes. That sucks, even though it’s our own fault. […] We’ve got over 300 bands sounding the same.410
404 Vgl. Marc Grewe, in: Netherton, Extremity Retained, S. 264; Vgl. Johnny Hedlund, in: Drowned Magazine 2 (1991), Spanien. 405 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 237–239. 406 Vgl. Frank Stöver, Massacre, in: Voices From The Darkside 5, in: ders. (Hg.), Voices, S. 49. 407 Vgl. Jon Kristiansen, Slayer 8 (1991), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 188, 197, 208, 209–211. 408 Jim Morris, in: Netherton, Extremity Retained, S. 222–224. 409 Vgl. Frank Stöver, Voices From The Darkside 7, in: ders. (Hg.), Voices, S. 11. 410 Frank Stöver, Voices From The Darkside 2 (1993), in: ders. (Hg.), Voices, S. 34.
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Strachal artikulierte die mittelfristige Folge einer zeitlichen Überlappung von KonventionsKritik bei parallel immer noch existenter kommerzieller Zugkraft und medialer Aufmerksamkeit des jeweiligen Regional-Labels. Nachfolgende Bands präferierten dabei einen etablierten Sound, um von einem Label zu profitieren, führten in ihrer Masse aber zu einem Überschuss ähnlicher Veröffentlichungen und dem Weiterziehen der Aufmerksamkeit auf dem medialen Kampffeld der Neuigkeiten. Die Endphase eines solchen Verlagerungsprozesses beschrieb Jim Morris vom Morrisound Studio hinsichtlich der frühen 1990er Jahre: When the death metal thing began, the bands intentionally were trying not to be like each other. I am talking about the original bands that I saw, like Death, Obituary, Morbid Angel, and Cannibal Corpse. […] Later, those original bands became standards, to the point where people would come in here and tell me, ›Hey, we have to sound like these guys, or nobody is going to like us.‹ I was like, ›You are missing the point, dude!‹ The point is not to sound like anyone else; it was to find your own way to be brutal and outrageous. […] I think that is what actually ended up killing the market for death metal: the bands just all ended up sounding too much alike. […] It just got to the point where people were expecting death metal to be recorded within certain exact parameters, and if you didn’t you were a poser.411 Aus der Produktionsperspektive erscheinen die »langen 1980er Jahre« als Phase von kürzer werdenden Wellenbewegungen von Sound-Konventionen, deren Etablierung und anschließender Herausforderung. Mit der Durchsetzung digitaler Produktions-und Abspielmedien, die studiobedingte Soundunterschiede eher verhinderte, suchte sich das zugrundeliegende Distinktionsstreben der Musiker folglich einen neuen argumentativen Bezugspunkt. Zahlreiche Künstler legen seit dem Wert darauf, den »menschlichen Faktor« der Musik in der Produktion abzubilden und grenzen sich als Traditionalisten gegenüber der empfundenen Technisierung der Studioarbeit ab. Bereits auf dem LiveAlbum »100 M.P.H.« (1980) der Band Vardis hieß es auf dem Cover »Guaranteed No Overdubs«, Harry Hill verwies in dieser Hinsicht auf Schlagworte wie »human factor«, »human touch« oder »back to basics«412 , die Band Darkthrone postulierte unentwegt den Zusammenhang von »trueness« mit anti-technizistischen Produktionsmethoden und Bob Petrosino hinterließ mit Oblivion sogar absichtlich kleinere Fehler auf dem Tape: The studio allows you to fix a mistake, not like today where you can Pro-tool every millisecond of the song to perfection but we had a razor and a reel. We left a few mistakes on all of our recordings to give it something of a human element. It’s music, it’s art, you do not need perfection, you need to hit an emotion.413 Die Einbettung der Produktion in die Verhandlung von Distinktion und Authentizität macht überdies deutlich, wie groß der Einfluss von Produzenten, Toningenieuren, medialer Vermittlung und Label-Erwartungen auf produzierende Metal-Bands war. 411 Netherton, Extremity Retained, S. 218f. 412 Interview Fist, 62.40 Min. 413 Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino, in: Metalcore Fanzine 2016.
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Das Endprodukt entsprach keinesfalls den Songideen aus den bandinternen Absprachen, sondern unterlag Veränderungen, deren Bezugspunkt stets existente oder zu überwindende Konventionen waren. Musikalischer Wandel wurde keinesfalls »im stillen Kämmerlein« durch Künstler erfunden – die Pläne und Vorlieben der Musiker wurden von technischen Zwängen und Grenzen, Investoren-Vorgaben und den mächtigen Regional-Labels eines Szene-Sounds überlagert, entsprangen oft dem Zufall und sprechen für eine konstante Abhängigkeit der Band von außenstehenden Interessen.
4.5 Die Auflösung von Metal- Bands Like we said many times, the problem with playing in a rock band is life gets in the road, you have to do other things to exist.414 Die Metal-Band bildete ein eindrückliches Beispiel für die Herausforderungen zwischen individuellem Kreativitäts-und Aufmerksamkeitsdrang und den Anforderungen einer Vergemeinschaftung, die weder (wie eine Betriebsbelegschaft) durch Arbeitsverträge erzwungen, noch traditionsbasiert (wie etwa die Zugehörigkeit zu einer konfessionellen Gemeinschaft) war. Es war diese besondere Freiwilligkeit, die gepaart mit einer geteilten musikalischen Leidenschaft und der Mentalität des DIY, den raschen Anbahnungs-, Gründungs-und Produktionsprozess von Bands so dynamisch und aus Sicht der Musiker »magisch« machte. Der gemeinsame Band-Alltag und vor allem der Übergang in die »Professionalität« generierten jedoch Zwänge der Notwendigkeit, die die anfängliche Kontingenz rasch abschwächten. Ob sich Bands vor diesem Hintergrund schnell wieder trennten oder jahrelang bestanden, hing also davon ab, ob sie diesen Übergangsprozess untereinander erfolgreich moderieren konnten. Alles in allem ist es vielen Metal-Bands überraschend gut gelungen, dieses Ende der Kontingenz zu verarbeiten, wozu vor allem im Extreme Metal beigetragen haben dürfte, dass musikalische Leidenschaft in den meisten Fällen neben anderen Erwerbsformen organisiert und der Druck auf vollprofessionelle Bands verhindert wurde. Zahlreiche Metal-Bands bestehen seit 30 oder mehr Jahren oder existieren nach langjährigen Pausen erneut. Trotz des Quellen-Vorbehalts hinsichtlich der Dunkelziffer gescheiterter Bands wies diese spannungsreiche Vergemeinschaftungsform anscheinend eine hohe soziale Kohäsionskraft auf, die nahelegt, dass die gesellschaftliche Individualisierung nicht in atomisierten Individuen mündete, sondern neue Verknüpfungen mit lebensstilbasierten Vergemeinschaftungen eingehen konnte. Der soziale Innendruck der Metal-Bands zeigte sich daher auch eher als Besetzungswechsel und gefährdete seltener das verdinglichte Band-Bild, das durch Logos, eine eigene Erzählung, einen Veröffentlichungskatalog, Verträge und Fans sogar komplette Lineup-Wechsel schadlos überstehen konnte. Rechtsstreite um Bandnamen wie Immortal oder Gorgoroth zwischen ehemaligen Bandkollegen, die geführt werden wie
414 Harry Hill, in: Interview Fist, 09.45-09.51 Min.
4. Die Band als »soziales Handlungsfeld«
Sorgerechtsverhandlungen, symbolisieren diesen Band-Charakter sehr anschaulich.415 Eine Band vollständig aufzulösen, war derart voraussetzungsreich, weil damit nicht nur eine Tätigkeit, sondern ein Teil des Selbstverständnisses der Musiker endete und das Eigen-Narrativ umgeschrieben werden musste. Gemengelagen, in denen unüberbrückbare persönliche Probleme entstanden, weil sich Musiker nicht wertgeschätzt fühlten oder individuelle Potentiale in der Gruppe nicht verwirklichen konnten, begründeten deshalb meist nicht das Ende einer Band, sondern die zusätzliche Gründung einer neuen Gruppe. Wurden Bands dennoch aufgelöst, handelte es sich dagegen meistens um eine gemeinsame Entscheidung der Mitglieder, die sehr verschiedene Ursachen haben konnte: Sie fielen auseinander, weil die Musiker ob ihrer Jugend oder anderer Faktoren nicht in der Lage oder gewillt waren, gemeinsame Konfliktaushandlungsstrategien zu entwickeln. Die einflussreiche schwedische Band Grotesque endete, weil die Musiker – so der Sänger Tomas Lindberg – keine Vorstellung von »Höflichkeit und Demokratie«416 hatten. Damit eng zusammenhängend überforderten auch Alkohol oder andere Drogen die nötige Planungssicherheit einer Metal-Band.417 Der Beschluss zu einer Auflösung konnte aber auch aus Gründen der Mitglieder-Fluktuation und mangelnden Kontinuität, aufgrund von Ermüdungserscheinungen nach langjähriger Zusammenarbeit418 oder wegen unvereinbarer Führungsansprüche erfolgen.419 Anderen fehlte nach Beendigung von Plattenverträgen schlicht das nötige Geld um weiterzumachen420 oder die Musiker konnten sich nicht auf eine gemeinsame stilistische Linie einigen.421 In den meisten dokumentierten Fällen dürfte jedoch eine wachsende Unvereinbarkeit mit
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Vgl. die Band-Biografie von Gorgoroth: URL: https://www.laut.de/Gorgoroth (letzter Aufruf 03.02.2022); Vgl. Simon Bauer, IMMORTAL – Demonaz und Horgh in Rechtsstreit über Nutzung des Bandnamens involviert, in: RockHard Online, 04.08.2020, URL: https://www.rockhard.de/arti kel/immortal-demonaz-und-horgh-in-rechtsstreit-ueber-nutzung-des-bandnamens-involviert_ 515473.html (letzter Aufruf 03.02.2022). Mudrian, Choosing Death, S. 105. Etwa beim Schlagzeuger von Angel Witch (Hogg), der dem Band-Ende vorausging. Vgl. Popoff, This Means War, S. 40. Vgl. Ramirez; Rob Yench: »We broke up for the same reasons so many other bands have broken up over. Eight years of working hard and trying to keep things moving, it is a lot of work. Also to maintain good working relationships with 4 – 5 people is a skill unto itself. We had gone through band members here and there and all of this combined together put strains on the friendships within the band. We needed a break and to do something different.« Alex Bouks zum Ende von Goreaphobia, in: Chris Forbes, Goreaphobia. Interview with Alex Bouks, in: Metalcore Fanzine, URL: https://www.metalcorefanzine.com/goreaphobia2.html (letzter Aufruf 03.02.2022): »The wrong people we had involved like our old guitar player John Arcucci. He caused a lot of problems in the band. He wanted control over the band. And also I blame myself. I let things happen. I was supposed to be the leader. And the leader can’t lead his troops into battle if he is a mess. So just poor decision making and ego shit. Being young and jumping to conclusions without working threw our problems. Every band has problems but we were just the worst.« Vgl. Interview Brian Tatler, 16.50-17.37 Min. Vgl. Bob Petrosino, in: Forbes, Oblivion: »Bands need every member to have the same goal, drive and dedication from every member. I assumed everyone wanted what I wanted but we never created a Mission Statement, we should have made sure we were all on the same page. I had a plan that if I did not make it by 21 then go to college, so I did that.«
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privaten und nicht-musikalischen Verpflichtungen ausschlaggebend gewesen sein, die sich als parallele Beruhigung einer jugendkulturellen Euphorie und Dynamik422 und einer zunehmend familiären Bindung zeigte. Musiker geben in diesen Fällen an, gar nicht so genau zu wissen, warum die Band endete und in einigen Fällen wurde dazu auch kein gemeinsamer Beschluss gefasst.423 Bands »fizzled out« oder »drifted apart«424 , verloren sich aus den Augen oder Musiker zogen in andere Gegenden. Denn so sehr die wachsende DIY-Organisation und das Ideal der Treue gegenüber der Musik diesen Umstand auch kaschieren mochten – musikalische Praxis blieb permanent tief eingebettet in nicht-musikalische soziale Netzwerke, mit denen sie zeitweise im Einklang sein, aber auch konkurrieren konnte. Dass Musiker ihre Bands teilweise nach Jahren reaktivierten, spricht demnach für die individuelle Suche nach der Vereinbarung des Lebensstils mit der familiären oder erwerbstechnischen Notwendigkeit.
422 Vgl. Mille Petrozza, in: Kristiansen, Slayer 17 (2002), S. 576: »You know, it’s always when you start a band everyone is very enthusiastic, but all of a sudden they get married, get kids and all that stuff. They are rebellious a period of their time, and then it’s over like it never happened.« 423 So etwa Fred Estby über die Auflösung von Carnage. Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 180. 424 Norman Appleby and Glenn Coates, in: Interview Fist, 57.55-58.55 Min.
5. Die Crossover- Dekade Reibungsflächen von Metal und Punk
Kurt Brecht, der Sänger der Band D.R.I. (Dirty Rotten Imbeciles), die wie kaum eine andere die konsequente Verbindung von Einflüssen aus Punk-und Metal-Musik verkörperte, erinnerte sich an folgenden Vorfall in San Francisco: 1983 lagen sich zwei wichtige Spielstätten, Mabuhay Gardens und The Stone, an der Broadway Street fast unmittelbar gegenüber. Erstere gehörte zu den festen Größen der lokalen Punk-Kultur, letztere veranstaltete viele Konzerte der ersten (später so titulierten) Thrash Metal-Bands wie Exodus und Metallica. An einem nicht näher bestimmten Abend fanden in beiden Clubs solche Konzerte statt. Während sich auf der einen Seite ausschließlich Langhaarige zum Warten postierten, gehörte die andere Straßenseite den wartenden Punks und beide Fraktionen nutzten die Gelegenheit, nicht nur Worte fliegen zu lassen. Brecht beschrieb die Situation als »completely segregated«, kommt aber schließlich zu einem überraschenden und erklärungsbedürftigen Schluss, denn nur wenige Jahre später, »by 86 or 87«, »it was pretty integrated.«1 Seine Erinnerung steht dabei sinnbildlich für den Anbahnungsprozess einer musikalischen und lebensstilistischen Verschmelzung von Punk und Metal, die in den Aussagen der Protagonisten meistens als »Crossover« bezeichnet wird.2 Die Forschung und zahlreiche populärwissenschaftliche Veröffentlichungen haben diesen Prozess für bestimmte Phasen oder Regionen der 1980er Jahre präzise herausgearbeitet.3 Ihr Fokus lag dabei jedoch meistens auf einem musikalischen Endprodukt, dass sich bei Bands wie D.R.I., Agnostic Front, Biohazard oder Napalm Death als hörbare Amalgamierung punkiger und metallischer Einflüsse niederschlug. Gegenseitige musikalische Anziehungskräfte wie 1 2
3
Vgl. Ferris, Slayer 66 2/3, S. 53. Crossover soll hier als Quellenbegriff Verwendung finden, obwohl der Begriff ursprünglich die Platzierung eines Musikstücks in mehreren getrennten Hitparaden adressierte. Vgl. URL: https:// de.wikipedia.org/wiki/Crossover_(Musik) (letzter Aufruf 14.03.2022). Für die übliche Nutzung für die Verbindung von Metal und Punk vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 177f. Vgl. Steve Waksman, This Ain’t The Summer of Love. Conflict and crossover in heavy metal and punk, Berkeley 2009; Alexandros Anesiadis, Crossover the Edge. Where hardcore, punk and metal collide, London 2019; Tony Rettman/Freddy Cricien, NYHC. New York hardcore 1980–1990, New York 2014.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
etwa das harte Riffing und Drumming oder die Geschwindigkeit haben dabei zu Mixturen im Sinne echten »Crossovers« geführt – also einer Musik, die weder der einen noch der anderen Seite eindeutig zugeordnet werden konnte.4 Dieser Ansatz ist verdienstvoll und hat viel dazu beigetragen, die starren jugendkulturellen Selbstzuschreibungen hinsichtlich der gelebten musikalischen Praxis zu hinterfragen. Dennoch ist er sehr eng gefasst und lässt die sozialen Beziehungen und Lern-und Abgrenzungseffekte zwischen Metal und Punk eher unberücksichtigt. Gleichzeitig werden Musiker und Bands, die sich um 1980 noch nicht hörbar als Crossover einordnen ließen, aber dennoch stark durch den Punk beeinflusst wurden, genauso vernachlässigt wie jene, die dies nie taten, aber Einflüsse des Punks vor allem methodisch verarbeiteten. Erweitert man die Perspektive also über musikalische Attribute hinaus und bezieht Sozialbeziehungen, Praktiken, die Körpergeschichte und Gender-Fragen mit ein, gewinnt das Verhältnis von Metal und Punk eine umfassendere Dynamik und zeitliche Entgrenzung. Dieser Ansatz rechtfertigt es – dies soll im Folgenden deutlich werden – überdies auch nicht mehr, von einer Kontaktgeschichte zweier etablierter musikalischer Jugendkulturen zu sprechen, die Crossover auf jene Bands beschränkt, die sich an der musikalischen Schnittstelle postierten. Die Geschichte des gesamten Metal-Genres seit der NWOBHM in den »langen 1980er Jahren« ist vielmehr als Crossover-Phänomen zu verstehen. Der Aufbruch der NWOBHM und die Emanzipierung vom Hard Rock im »Aufstand der Amateure« genauso wie die Formierung des Thrash Metals wären ohne den Punk bzw. Hardcore Punk undenkbar gewesen.5 Beide Genres entstanden miteinander in einer gemeinsamen Kontaktzone, bildeten aber dennoch genügend Unterschiede für eine Trennung heraus. Punk gehört also zur DNA des Metals und es ist an der zukünftigen Forschung herauszuarbeiten, wo sich dieser Platz im Genom des Genres mit seinen vielen regionalen Unterschieden genau identifizieren lässt. Diese Beobachtungen verweisen überdies auf ein grundsätzlicheres Merkmal der Metal-Kultur. Bereits Deena Weinstein charakterisierte den Heavy Metal der 1970er Jahre treffend als musikalische wie lebensstilistisch-ästhetische »bricolage« aus Hard Rock, Blues, Psychedelic Rock und den Ausläufern der Hippie-Bewegung.6 Heavy Metal war für sie von Beginn an ein auch soziales Crossover-Phänomen – was sich freilich in unterschiedlichen Zusammensetzungen auch für andere der Jugendkulturen sagen lässt.7 Die Besonderheit der Metal-Kultur ist jedoch darin auszumachen, dass dieser »bricolage«-Charakter in ihrer langen Existenz nie abgeschlossen war. Bis heute wirkt
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Vgl. etwa Waksman, S. 264–280. Vgl. grundlegend zum Hardcore Punk Marc Calmbach, More than music. Einblicke in die Jugendkultur Hardcore, Bielefeld 2015. Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 1–8 und auch im Weiteren. Vgl. Mrozek, Jugend, Pop, Kultur, S. 61–73 (für Teddy Boys und Rocker). Auch andere Jugendkulturen wie die Mods wiesen eine stilistische Findungsphase auf, die in feste Merkmale und Zuordnungen mündete, aber zunächst vielfältige existente Einflüsse verarbeitete. Gleiches gilt etwa auch für die Entstehung der Skinhead-Kultur aus den jugendkulturellen Vorläufern, etwa bei den HardMods. Vgl. Heike Jenß, Sixties Dress Only. Mode und Konsum in der Retro-Szene der Mods, Frankfurt a.M. 2007, S. 52–62, 129–140; Vgl. grundlegend auch Dick Hebdige, Subculture. The meaning of style, London 1979.
5. Die Crossover- Dekade
das übergeordnete Genre ausgesprochen inklusiv und integriert beispielsweise Einflüsse aus der Folk Music, der elektronischen Musik und des Hip Hops genauso wie aus der Klassik – mit teilweise deutlichen Anleihen an die Merkmale nationaler wie regionaler Geschichte, Musik und Sprache.8 Was die Jahre zwischen der NWOBHM und der norwegischen Black Metal-Szene in dieser Hinsicht integrierte, war die konstante Reibungsfläche und gegenseitige Befruchtung mit dem Punk und Hardcore Punk, was die »langen 1980er Jahre« im Grunde zu einem originären Crossover-Jahrzehnt dieser beiden Subkulturen machte. Die Beziehungen beider Jugendkulturen waren dabei von fünf übergeordneten Aspekten geprägt: Erstens waren die sozialen Beziehungen zwischen den Punk-und Metal-Musikern durchschnittlich deutlich konfliktärmer als zwischen den Punk-und Metal-Fans. Auch hier spielten »becoming-a-fan«-und »becoming-a-band«-Narrative eine zentrale Rolle. Die wettbewerbsorientierte Band suchte einen Sound bzw. einen Stil, der eine Nische unverwechselbar besetzte, rekrutierte sich daher im Laufe der Dekade immer stärker aus Musikern beider »Lager« und wies durch die Konzertsituationen und vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Labels, die sowohl Punk-als auch Metal-Bands führten, eine permanentere räumliche Verbindung mit dem stilistischen Gegenüber auf. Für die Musiker, unter denen viele Loyalitäten gegenüber beiden Genres aufwiesen,9 waren Metal bzw. Punk und Hardcore Punk Möglichkeiten, den Sound der eigenen Band distinkter und kreativer zu gestalten, während die dem Punk entliehene DIY-Mentalität eine willkommene Eigenständigkeit und erhöhte Distinktionschancen abseits der LabelVerträge ermöglichten. Für Fans gestaltete sich Distinktion (zunächst) jedoch nicht integrativ, sondern exkludierend in der Übernahme eines möglichst vollständig den tradierten Szene-Codes entsprechenden Stils in Kleidung, Musik, Ästhetik und Verhalten. Fans stürzten sich in ein idealisiertes und festes Bild dessen, was zu dem Zeitpunkt ihres »becoming-a-fan«-Prozesses einen »guten Fan« ausmachte, während diese Positionen für neue Bands als bereits besetzt gelten mussten.10 Der Impetus, sich am Punk stilistisch zu orientieren, war daher zwischen beiden Seiten sehr ungleich verteilt. Für John Tucker, der als Metal-Fan der »ersten Stunde« in England die zunehmende Verschmelzung von Metal-und Punk-Audiences schreckhaft während eines Metallica-Konzerts erlebte, bildeten Fan-und Musiker-Perspektive daher ebenfalls einen deutlichen Gegensatz: As fans, I’d say pure hatred. I think the bands probably recognized that they were both doing something different and there was room for everyone and they could 8
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Vgl. etwa Imke von Helden-Sarnowski, Norwegian Native Art. Cultural identity in Norwegian metal music, Berlin 2017; Vgl. Keith Kahn-Harris, How Diverse Should Metal Be? The Case of Jewish Metal, Overt and Covert Jewishness, in: Scott/Helden (Hg.), The Metal Void, S. 95–104; Vgl. Herbst, Teutonic Metal; Vgl. Mark LeVine, Heavy Metal Islam. Rock, resistance, and the struggle for the soul of Islam, New York 2008. Vgl. die Beispiele in Kap. 5.2 und 5.3. In Anlehnung an die Beobachtungen von Matt Hills, Returning to »Becoming-a-Fan« Stories, S. 19; sowie Winfried Gebhard, Fans und Distinktion, in: Jochen Roose/Mike S. Schäfer/Thomas SchmidtLux (Hg.), Fans. Soziologische Perspektiven, Wiesbaden 2017, S. 161–180.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
co-exist. In terms of fans, it was completely bloody tribal warfare as far as I was concerned. So much so that the first Metallica gig I went to at the end of ’84, that was the first time I’d be in the company of so many punks – and skinheads come to think of it – and I was terrified as I went to the venue because these were people I’d routinely bottled by, spat at by, and being a mild-mannered person, I’d been hassled to no end. So, in terms of fandom, we had nothing in common whatsoever. The bands… because you’re living around the same circuit, you’re going to run into each other occasionally. So, I think the bands had mutual respect for each other.11 Der punktuell aufflammende Konflikt zwischen Metalheads und Punks war demnach nicht per se musikalisch begründet, sondern entsprang verschiedenen Disktinktionsstrategien. Bobby »Blitz« (Overkill) erlebte entsprechend in New York und New Jersey keine Auseinandersetzungen zwischen Metal-und Punk-Musikern – wohl aber, wenn er als Fan unterwegs war.12 Und für eine Band wie Saxon galt es als unproblematisch, einen Drummer einzustellen, der zuvor in einer Punk-Band gespielt hatte, während dies viele Fans gar nicht goutierten.13 Der musikkulturellen »Agenda« eines Fans und eines Musikers lagen unterschiedliche Triebkräfte zugrunde – auch, wenn alle eigentlich auf »dieselbe« Musik standen. Sich als Band in dieser Gemengelage zu positionieren, konnte deshalb auch mit Problemen verbunden sein. Dort, wo sich die »Binnenrationalität« der Band nicht mit den Anforderungen an klare Zuschreibungen seitens der Fans verbinden ließ, drohte die Nichtbeachtung beider Seiten. Waldemar Sorychta beschrieb diese Kategorisierungsproblematik etwa für seine Band Despair aus Dortmund, wo er sich genau wie der Mitgründer Robert Kampf sowohl Metal wie Punk zugehörig fühlte.14 Ähnliches hielt Billy Graziadei fest, der mit der Band Biohazard in New York in beiden Lagern anzukommen versuchte, zunächst aber an den Fan-Narrativen scheiterte und durchfiel: We didn’t exactly fit in anywhere. When we played with bands like Exodus and Slayer, we got the vibe that we weren’t metal enough. Then, we would play with hardcore bands and we were too metal. We were outcasts.15 Sowohl die musikalische Inklusion wie die lebensweltliche Exklusion gingen auf soziale Erfahrungswerte zurück, die sich ändern konnten und dabei zahlreiche Möglichkeiten ließen: Idealisierte Feinbilder von »den Punks« oder »den Metalheads« wurden mit unterschiedlicher Dauer und Intensität von Fans gepflegt, aber auch von Musikern postuliert, die sich im Sinne eines »reinen Stils« dogmatisch von einer empfundenen Gegenseite abgrenzten, während sich diese Narrative an den räumlichen Kontaktzonen schnell abschliffen. Individuelle Positionierungen in diesem Fluidum existierten viele,
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Popoff, Wheels of Steel, S. 49. Vgl. Dave Everely, Overkill’s Bobby ›Blitz‹ Ellsworth: My Life Story, in: Metal Hammer 2019, URL: h ttps://www.loudersound.com/features/overkills-bobby-blitz-ellsworth-my-life-story (letzter Aufruf 10.03.2022). Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 120. Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 12.57-16.29 Min. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 297.
5. Die Crossover- Dekade
während sich der inhaltliche Kern der imaginierten Feindbilder auf wenige politische und kommerzielle Gesichtspunkte eingrenzen lässt, die man jeweils auf der anderen Seite nicht erfüllt sah. Der Hauptvorwurf der Punks an die Metalheads lautete politische und kommerzielle Indifferenz und viele Musiker und Fans arbeiteten sich verbal an einem vermeintlichen Metal-Szene-Hedonismus ohne gesellschaftspolitische Verantwortung ab.16 Dean Jones, der Sänger der Band Extreme Noise Terror aus Ipswich, der sich später ebenfalls in Richtung des Grindcores, also einer stärkeren Einbeziehung von MetalEinflüssen, bewegte, kritisierte am Metal 1987 genau diese Punkte: I can’t see how it’s negative to criticise Metal when there is nothing more negative than Metal. It stands for everything Punk is against: high door prices, mindless lyrics, mindless followers, monotoneous, repetitive music. […] Punk once and still does mean a helluva lot to me and I hate to see the »ex-Punks« idolizing the moneygrabbing bastards we once laughed at.17 Dass er diese Kritik später etwas relativierte, ist durchaus typisch für den langsamen Annäherungsprozess.18 Im Moment der Äußerung entsprang das Feindbild vor allem dem vorübergehenden Unverständnis gegenüber der empfundenen Metal-Freundlichkeit anderer mittelenglischer Hardcore Punk-Bands. Der Vorwurf vieler Metalheads an die Punks lautete dagegen, sie seien »preachy«: Bereits 1980 und im Zuge der NWOBHM und des entstehenden »New Wave« kritisierten Metal-Musiker die Punk-Bands ausdrücklich nicht für ihre Musik, sondern für den als nervend empfundenen Versuch, die Musik mit politischer Aufklärung und Propaganda zu verbinden.19 Beide Perspektiven entfalteten dabei eine erstaunliche historische Persistenz und noch Ende der 1990er Jahre berichtete Harris Berger aus seinem Interviewprojekt im Norden der USA davon, dass Dogmatismus und Indifferenz immer noch zu den Kern-Faktoren der gegenseitigen Kritik gehörten, während man die Konzerte oft gemeinsam besuchte.20 Zweitens wechselten die Abwehrhaltungen. Die während der NWOBHM aufrechterhaltene Abgrenzungsfassade vieler Metal-Musiker gegenüber dem kurzzeitigen PunkErfolg 1977/78, die als Verteidigung des Heavy Rock verstanden wurde, wich zusehends der Furcht der Punks vor der Integrationskraft des Metal-Genres.21 Bereits das obige Zitat von Billy Graziadei machte deutlich, dass sich Punks, vor allem im amerikanischen Hardcore, stilistisch bedroht sahen. Fälle, bei denen Bands bei einem Metal-Konzert »too punk« oder bei einem Punk-Konzert »not punk enough« erschienen, sind mir nicht bekannt, während der Vorwurf des »too metal« häufig kommuniziert wurde. Dass Me-
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Vgl. die Beispiele in Kap. 5.4. Dean Jones, in: Bill Steer, Phoenix Militia 7 (1987), Wirral. Vgl. die Aussagen zu wachsenden Kontaktzonen in Kap. 5.2 sowie erodierenden Abgrenzungen in Kap. 5.4. Vgl. etwa Peter Kinghorn, Beyond New Wave, in: The Journal, 06.05.1980, wo Jimmy Bain (Wild Horses) die »preachy lyrics« der Punks kritisiert. Weitere Beispiele vgl. Kap. 5.4. Vgl. Berger, Metal, rock, and jazz, S. 66. Vgl. zu diesem Wandel die Beispiele zur NWOBHM in Kap. 5.2 sowie zum Hardcore Punk in Kap. 5.3 und 5.4.
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talheads Gefallen an der Musik und Attitüde des Hardcore Punks fanden und immer häufiger zu den Konzerten in New York erschienen, traf auf die Perspektive einer kleinen Hardcore-Community, die diesen Schritt als Beginn einer feindlichen Übernahme fürchteten. Aus Sicht des Gitarristen der Band Cro-Mags, Kevin Mitchel Mayhew, waren die Metalheads eine »faceless invading army«, die die »echten« Hardcore-Fans zahlenmäßig schnell übertrafen. Die Gewalt gegenüber diesen Eindringlingen bezeichnete er als geplant, in »defense of our turf«, doch machten Spott und körperliche Angriffe schnell dem resignierenden Eindruck Platz, dass eine anonyme Masse tape-tradender Metalheads die eigene Szene »geschluckt« (»devour«) hatte.22 Was Mayhew als die Zähmung der Wildnis des Hardcores durch Metalheads bezeichnete, artikulierte sich also vor allem als Furcht vor der potentiell viel größeren kommerziellen Kraft der Metal-Szene – verschweigt aber, dass sich viele Hardcore-Musiker (auch die Cro-Mags) gerne auf die gegenseitige Beeinflussung und die neuen Chancen einließen. Viel eher kann vermutet werden, dass eine Stilisierung als Opfer kommerzieller Interessen im Rückzugsgefecht gegen die Metal-Kultur eine willkommene Ressource für die Szene-Integration des Hardcore Punks darstellte und dass deshalb so exzessiv lamentiert wurde. Drittens wiesen die Beziehungen von Metalheads und Punks eine Beschleunigung und Intensivierung durch nachkommende Alterskohorten auf. Es trafen dabei keine starre Metal-Kultur auf einen festgefügten Punk-Monolithen, sondern jüngere Musiker und schließlich auch Fans verorteten sich auf beiden Seiten kontinuierlich neu und entdeckten die Schnittmengen beider Jugendkulturen durch Experimente ihres ausgeprägten Disktinktionsdrangs. Obgleich dieser Begriff hier nicht korrekt ist, empfanden sich Akteure mit einem Altersunterschied weniger Jahre bereits als Angehörige einer anderen »Generation«, die neue Schwerpunkte in Sachen Szene-Außenpolitik setzte. Während diese »Generationalität« der Distinktion im Metal vor allem mit der Entwicklung der Sub-Genres Thrash, Death und Black Metal verbunden war, etablierten sich in Folge des Punks verschiedene Hardcore-»Generationen«, die sich verschieden dogmatisch oder flexibel dabei erwiesen, mit der empfundenen Herausforderung durch die Metal-Kultur umzugehen. Beide Erscheinungen waren miteinander verflochten und sowohl der Szene-Purismus des »straight edge«, der in New York und Kalifornien vor allem in der ersten Hälfte der 1980er Jahre gepflegt wurde, als auch die anschließende Flexibilisierung der Positionen mit weniger dogmatischen Haltungen hatten genauso viel mit einer Verhandlung der Beziehung zum Metal zu tun, wie die Etablierung neuer Sub-Genres im Metal mit dem Hardcore zu tun hatte.23 Jüngere Musiker gingen dabei zunehmend selbstverständlicher mit dem stilistischen Angebot musikalischer Transgression um – was bis zu dem Punkt reichen konnte, am dem keine lebensweltlichen Unterschiede zwischen Metal und Punk mehr empfunden wurden24 –, trafen dabei aber 22 23
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Vgl. Anesiadis, Crossover the Edge, S. 27. Zur »Generationalität« der Distinktion im Hardcore vgl. Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, S. 77f.; Zu den dabei vorhandenen Fraktionen, Praktiken und Verbindungen mit der Metal-Kultur vgl. Michael Atkinson, Straightedge Bodies and Civilizing Processes, in: Body & Society 12 (2006) 1, S. 69–95. So formulierte Uffe Cederlund etwa über die Genese der Band Nihilist in Stockholm: »In these days it was not all about Death Metal. We were into old Hardcore Punk bands also. I guess the reason why it turned out to be NIHILIST/ENTOMBED or the Death Metal thing was that’s what we got
5. Die Crossover- Dekade
auf das Unverständnis älterer Musiker mit ihren existenten Kategorisierungsvorstellungen. Versatzstücke aus Metal und Punk gingen in diesem Prozess neue Verbindungen ein, die ältere Szene-Mitglieder anders deuteten oder nicht verstanden. Eine Band, die maßgeblich für diese »Generationalität« steht, war zum Beispiel Carcass aus Liverpool, wo Jeff Walker die Perspektive des Crust Punks in die Band einbrachte, während Bill Steer vor allem die Metal-Einflüsse verkörperte. Zusammen ließ sich der Stil kaum noch kategorisieren – was auch für Napalm Death und amerikanische Bands wie Terrorizer oder Brutal Truth zutraf – und entwickelte sich zum Grindcore. In dessen Kern stand ein als szene-»generationell« kommuniziertes Verständnis von einem Verhältnis zwischen Metal und Punk, wie Jeff Walker deutlich machte: People presume that just because we’ve got long hair we’re into Judas Priest and Iron Maiden. That really isn’t the influence at all. [Grindcore] is the result of growing up in a time when bands like that were pop music, and we went for things that were more underground and obscure, be it hardcore punk or extreme death metal or whatever.25 Begreift man den »Crossover« der 1980er Jahre als Distinktionsspirale jüngerer Musiker und Fans gegenüber ihren älteren Vorgängern, wird auch deutlich, warum Extreme Metal-Szenen mit ihrem Punk-Fundament dort entstanden, wo noch keine starke Metal-Szene bestanden hatte. Regionale Verflechtungen aus Metal und Punk konnten sich besonders gut entfalten, wenn der daraus resultierende experimentelle Stil nicht gegen eingesessene Szene-Traditionen verteidigt werden musste. Dies gilt für Death Metal-Szenen in Florida, Stockholm, Mittelengland und Pittsburgh, die starke PunkSzenen,26 aber keine Szene-Vorläufer im Thrash Metal aufzuweisen hatten, ebenso wie für das Ruhrgebiet und die San Francisco Bay Area, wo starke Thrash Metal-Szenen die Ausbildung ebenso vitaler Death Metal-Szenen verhinderten.27 »Generationalität« im Geflecht von Metal und Punk war also durchaus szene-politisch und als Frage von stilistischen Einflussbereichen zu verstehen. Viertens machte es einen großen Unterschied, aus welcher Perspektive die Annäherung stattfand. Im Thrash Metal, Death Metal und Black Metal wurden Punk-und Hardcore Punk-Elemente in ein bestehendes Metal-Gerüst eingebaut, während im Grindcore vor allem Punk-Bands Aspekte der Metal-Musik inkorporierten.28 Die Einordnung bestimmter Bands in diese Kategorien ist teilweise umstritten und es bestehen Beispie-
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the biggest support from. People seemed to like that stuff.« David Laszlo, Morbid. Interview with Uffe Cederlund, in: Voices From The Dark Side Online 2011, URL: https://www.voicesfromthedar kside.de/interview/morbid/ (letzter Aufruf 10.03.2022). Ian Christe, Sound of the beast, S. 186. Zur Existenz einer breiten Punk-und Hardcore Punk-Szene, aber keiner Thrash Metal-Szene in Schweden vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 27–35, 53–65; Zu Florida vgl. Matt Walker, Gainesville Punk. A history of bands & music, Mount Pleasant 2016. Zum Fehlen der Thrash Metal-Szene in Florida bei paralleler Nichtakzeptanz der Death MetalBands in San Francisco vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 461 (Aussagen von Rick Rozz und Chris Reifert). Vgl. Liam Dee, The Brutal Truth. Grindcore as the Extreme Realism of Heavy Metal, in: Bayer (Hg.), Heavy Metal Music in Britain, S. 55–70.
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le auf beiden Seiten des Atlantiks, sodass die englische Einordnung des Grindcores und die amerikanische Verortung des Death Metals lediglich grobe Tendenzen bilden.29 Gleiches gilt für die müßige, aber szeneintern natürlich relevante Frage, welcher Stil und welche Bezeichnung älter ist.30 Die Implikationen waren dabei aber nicht nur musikalisch und geografisch, sondern auch politisch und sozial, sodass eine Ablehnung fiktionaler Lyrics, ausgeprägter Vegetarismus, gender-heterogenere Anhängerschaft und politische Aussagen im Grindcore eher anzutreffen waren als im Death Metal.31 Wie sich eine Band selbst einordnete, war daher auch eine wichtige Entscheidung, die ihre öffentliche Wahrnehmung und gesellschaftliche Verortung beeinflussen konnte. Doch auch hier wurden selbstgewählte Zuordnungen und Benennungen durch medial vermittelte und auf Kategorien zugeschnittene Sub-Genre-Begriffe durchaus unterlaufen – wo sich Bands im enger werdenden Gefüge aus Metal und Punk einordneten, oblag ihnen nur bedingt selbst und Bands wie Bolt Thrower aus Coventry beschwerten sich über die unklaren und zwischen USA und England differierenden Bezeichnungen genauso wie Danny Lilker monierte, dass man seine Grindcore-Band Brutal Truth aus New York permanent mit Napalm Death aus Birmingham verglich.32 Es ging ihm dabei durchaus um musikalische Unterschiede, aber eben auch um die Tatsache, dass sich Napalm Death um 1990 zunehmend zu einer Death Metal-Band entwickelt hatten, während Lilker die Selbstverortung im Grindcore als eigenständige und distinkte Szene verstand (»We were just like the third rail of the train.«33 ). Die in den Grindcore gegossenen Einflüsse aus Punk und Metal verselbstständigten sich also und fügten den vielen Distinktionsebenen im Geflecht der beiden Jugendkulturen eine weitere hinzu. Fünftens waren die Schnittstellen von Metal und Punk in urbane und/oder regionale jugendkulturelle Traditionen eingebettet, die mit darüber entschieden, wie CrossoverEntwicklungen abliefen. So war die New York Hardcore-Szene in ihrem Kontaktbereich mit dem Thrash und Death Metal in eine Krise der Urbanität und die Abwehr gegen die Disco-Bewegung eingelassen, die sich maßgeblich von den Wurzeln der PunkSzene San Franciscos und deren Reibungsfläche mit der Hippie-Kultur unterschied und sich wiederum deutlich von den Punk-Szenen Südkaliforniens abhob.34 Es gilt darüber hinaus für die Punk-Szenen ebenfalls das, was in den Kapiteln 2 und 3 für die Metal-Szenen beschrieben wurde: Sie unterschieden sich nach sozioökonomischen und 29 30
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Vgl. ebd., S. 57. Vgl. etwa Dan Lilker, in: Hofer, Perpetual Conversions, S. 72: »Grindcore was around before death metal really came into its own. Death metal was sort of around back then, but it was still on that bridge between thrash and death metal in the late ’80s.« Parallel dazu setzt die Genregeschichte des Death Metals mit Bands wie Possessed und Death dabei andere Schwerpunkte. Vgl. dazu die Beispiele und die Entwicklung in Kap. 5.3 und Kap. 5.4. Vgl. Richard Johnson, Disposable Underground 1 (1991) 3; Vgl. Interview Dan Lilker, 40.52-42.43 Min. Interview Dan Lilker, 44.20 Min. Vgl. Ryan Moore, Sells Like Teen Spirit. Music, youth culture, and social crisis, New York 2009, S. 50–70; Vgl. James Lull, Thrashing in the Pit. An ethnography of San Francisco Punk subculture, in: Thomas R. Lindlof (Hg.), Natural audiences. Qualitative research of media uses and effects, Norwood 1987, S. 225–252; Vgl. Hugh Wyatt, Still Another Try For Punk, in: Daily News, 15.01.1982, S. 247; Zur gemeinsamen Ablehnung des »disco movements« in New York durch Punks, Rocker und Metalheads vgl. Ian, I’m the Man, S. 24.
5. Die Crossover- Dekade
räumlichen Strukturen erheblich voneinander – Strukturen, die noch viel stärker als im Metal zu Spaltungen entlang der class-Linie führten und für eine Kooperation mit den zeitgleich entstehenden Metal-Szenen förderlich oder hinderlich sein konnten. Zu nennen sind hier zum Beispiel die großen sozialen Unterschiede zwischen den eher aus der weißen Mittelklasse stammenden Hardcore Punks aus Boston oder Washington D.C. und der – reichlich für die Szene-Distinktion instrumentalisierten – Herkunft der New Yorker Punks aus der »marginalisierten urbanen Arbeiterklasse«. Ähnliche Brisanz wies der räumliche Unterschied zwischen suburbanen Herkünften der Punks in Kalifornien und ihrer städtischen Basis in New York auf.35 Für den Erfolg von CrossoverPhänomenen war es entscheidend, wie diese sozioökonomischen Faktoren, die sich noch dazu im Wandel befanden, zur Entwicklungsrichtung der Metal-Szenen und ihrer Akteure passten. Die sozioökonomische Schnittmenge wurde dabei größer: Während eine Verflechtung von Metal und Punk in Nordengland oder in Boston in den frühen 1980er Jahren noch als undenkbar erschien,36 auch weil sich Metal erst langsam in Richtung Mittelklasse bewegte und noch schlecht zu den College-Studenten im regionalen Punk passte, gestaltete sich dies ab Mitte der 1980er Jahre in Mittelengland, in New York, New Jersey und Kalifornien bereits anders. In Florida und Stockholm waren die MetalSzenen schließlich so weit in die Vororte und die Mittelklasse gewandert, dass sich Gesprächsgrundlagen, Selbstverständnisse und räumliche Kontaktzonen noch weiter synchronisierten und eine Abgrenzung erschwerten. Die dort entstehenden MusikSzenen entwickelten ihr spezifisches Profil erst spät und entstanden in einer sehr engen Verbindung punkiger und metallischer Einflüsse netzwerkartig um räumliche Zentren wie Plattenläden oder Clubs.37 Kapitel 3 hat in dieser Hinsicht bereits gezeigt, dass es dabei besonders auf die Möglichkeit gemeinsam geteilter Räume ankam. Aussagen wie die folgende von Scott Reigel (Brutality) für Tampa belegen daher, dass für die Entstehung von Extreme Metal-Szenen um 1990 kaum noch die strengen Abgrenzungen vom Punk galten wie zehn Jahre zuvor: I would say that the influence of punk rock in this area had a lot to do with the sounds that we started here, with a lot of the bands, because we all were into extreme music when we were younger, so we really didn’t choose to be death metal bands. So, it’s not like we woke up and said ›Let’s be a death metal band.‹ There wasn’t any death metal bands, you know. So, even when Brutality first started there was more hardcorish, punkrockish sounding music, because in reality we were all a bunch of kids, who didn’t know how to play the instruments and just locked ourselves up in our parent’s garage, you know.38
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Vgl. Rettmann/Cricien, NYHC, S. 117–121. Vgl. Chris Forbes, Post Mortem. Interview with John Alexander, in: Metal Core Fanzine, URL: www .metalcorefanzine.com/ (letzter Aufruf 10.03.2022). Zum Netzwerkcharakter um räumliche Zentren, den sich Metalheads und Punks als Ansatz teilten, vgl. Nick Crossley, Networks of sound, style and subversion. The punk and post-punk worlds of Manchester, London, Liverpool and Sheffield, 1975–80, Manchester 2015, S. 98–148. Interview Scott Reigel, 04.04-04.50 Min.
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Vor dem Hintergrund dieser fünf Aspekte intensivierte sich die Beziehung von Metal und Punk in den hier untersuchten Szenen während der 1980er Jahre deutlich. Im Folgenden soll dieser Prozess zunächst in seinen Anfängen während der NWOBHM beschrieben werden, wo sich ein noch weitgehend sozial getrennter und indirekter Einfluss beobachten ließ, um daraufhin die wachsenden Kontaktmöglichkeiten von Metalheads und Punks nachzuverfolgen, die sich bandintern, in gemeinsamen Läden, auf Konzerten, Tourneen und schließlich in Szenen manifestierten. Die sich dabei vollziehenden Anpassungs-und Lernprozesse werden anschließend anhand der Konzert-Situation exemplarisch beschrieben, wo unterschiedliche Körperregime, Gender-Vorstellungen und Respektabilitätsnarrative teilweise gewaltförmig aufeinandertrafen. Den Abschluss bildet schließlich der Versuch, die anhaltende Diskussion um den größten Streitpunkt der beiden Musikkulturen – die Politikhaltigkeit bzw. »social awareness« – in ihrer Entwicklung zu umreißen und zu fragen, wie sich die Reibungsfläche mit dem Punk auf die politische Verortung der Metal-Kultur auswirkte.
5.1 Punk in der NWOBHM Im August 1977 vermerkte The Journal, eine Tageszeitung aus Newcastle upon Tyne, anerkennend: »Anybody who thinks that Heavy Metal Kids are jumping on the punk rock bandwagon had better think again.«39 Die »Heavy Metal Kids« – eine übrigens sehr frühe Nutzung der Genre-Bezeichnung – hätten bewiesen, dass sie nicht ganz unrecht hätten (»prove to have a point«), wenn sie Punk zwar beobachteten und auch hörten, diesen aber nicht selbst spielten und sich auch ästhetisch nicht am Punk orientierten. Der anonyme Autor erwies sich durch diese Aussagen als genauer Beobachter mit viel Lokalkolorit: Denn einerseits traf es definitiv zu, dass die Heavy Rock-Bands die medial inszenierte Punk-Welle ab 1977 genau studierten, aber nicht auf Punk umschwenkten. Die Einflüsse waren zunächst weniger musikalisch, als vielmehr methodischer Natur. Andererseits war der Stolz des Artikels auch darauf zurückzuführen, dass hier eine Zeitung aus Nordengland schrieb – eine Region, in der Punk nie derartig Fuß fassen konnte wie etwa in London.40 Viele Musiker aus nördlichen Heavy Rock-Bands waren dem Aufruhr, den die Punk-Welle verursachte, keineswegs abgeneigt, empfanden aber, dass die Ästhetik und Politikhaltigkeit des Punks auf dem »club circuit« kaum auf Gegenliebe stießen. Biff Byford bezeichnete Punk als durchweg großstädtisches Phänomen, das in den Hochburgen der relevanten Clubs, also im Norden und in Südwales, keine Rolle spielte, weil das Publikum dort schlicht keinen Bezug zum Punk entwickelte. Für ihn war die gesellschaftspolitische Fokussierung der Punk-Bands überdies nicht mit dem vorherrschenden Motiv der zahlenden Gäste vereinbar: »If people went out on a Friday or Saturday night they wanted to listen to rock music, not to some twat screaming on about police brutality in London.«41 Ähnliche Aussagen, die die Entspannungsfunktion des »club circuits« gegen
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Ano., Kids out to prove a point, in: The Journal, 19.08.1977, S. 6. Vgl. Jess Cox (Tygers of Pan Tang), in: Peter Trollope, These Tygers just want to get out and play!, in: Weekend Echo, 11./12.10.1980, S. 7. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 73.
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die politische Qualität des Punks in Stellung brachten, aber durchaus die musikalische Energie lobten, finden sich bei einigen Musikern der frühen NWOBHM.42 Während sich die NWOBHM im Norden Englands zwar beobachtend, aber meist nicht in physischem Kontakt mit dem Punk beschäftigte, waren die Kontaktzonen in der Hauptstadt bei einigen Musikern bereits deutlich ausgeprägter. Durch gemeinsame Pubs im Stadtteil Chelsea beschrieb Motörheads Phil Taylor die Beziehung zu PunkBands wie The Damned als direkten freundschaftlichen Austausch und als »a social thing as well as a musical thing.«43 Seine Aussage ist jedoch als Ausnahme einzustufen: Motörhead bestanden seit 1975 und waren bereits vor der NWOBHM erfolgreich. Sie bildeten stets einen musikalischen Bezugspunkt für die entstehende Bewegung, hatten aber sozial wenig mit den jungen Bands zu tun, die nun aus dem »club circuit« hervortraten. Für diese Bands gestaltete sich der Kontakt mit dem Punk wesentlich konflikthafter – vor allem, weil die jungen Heavy Rock-Bands ab 1977 auf eine medial ungleich präsentere Punk-Bewegung trafen.44 Bands wie The Sex Pistols waren nicht jahrelang durch Pubs und Working Men’s Clubs getourt, sie waren – in den Augen von John Tucker – »manufactured; they didn’t come from nowhere.«45 Durch die erfolgreichen medialen Strategien von Multiplikatoren wie Westwood, McLaren, des New Musical Express und bald auch der Major Labels gewann Punk rasch eine öffentliche Präsenz, die Heavy Rock nie besessen hatte und die deutliche Neidreaktionen begründete. Punk – so tröstete man sich letztlich nicht zu Unrecht – sei lediglich ein »hype« und der Rummel um die vermeintlichen Retorten-Bands und ihren unverdienten Erfolg werde sich bald wieder legen. Prototypisch finden sich diese Reaktionen bei Iron Maidens Steve Harris, der Punk rundheraus ablehnte, an die unversöhnliche Gegnerschaft von Mods und Rockern erinnerte und sagte: »The unification, was again, against the punk thing. It was a reaction against that.«46 Nachdem Londoner Bands wie Iron Maiden, Angel Witch, Praying Mantis, Girlschool oder Pagan Altar seit Mitte der 1970er Jahre versucht hatten, einen Plattenvertrag zu realisieren, mussten sie nun zusehen, wie Heavy Rock um 1977/78 durch das Ausbleiben medialen Interesses implizit für tot erklärt wurde. Kevin Riddles beobachtete beispielsweise, wie ein Pub und Club nach dem anderen, in denen Angel Witch zuvor aufgetreten waren, nun lieber Punk-Konzerte ermöglichte.47 Aus der Sicht Rob Halfords war Punk ab 1977 plötzlich überall und die Aufmerksamkeit für Judas Priest endete seitens der Presse abrupt.48 Was die Bands in dieser Phase aber bestärkte, an ihrem Stil festzuhalten, war, dass ihre Musik einerseits in vielen industriell geprägten Landesteilen der beliebteste gitarrenbasierte Musik-Stil blieb und andererseits auch in London die Konzerte in etwas kleinerem Maßstab weiterliefen. Bruce Dickinson, der zunächst bei Samson und ab 1981 bei Iron Maiden den Gesang übernahm und Teil der Londoner Heavy Rock-Szene war, 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. Interview Steve Zodiac, 37.10-38.20 Min.; Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 21.40-22.54 Min.; Vgl. Interview Brian Tatler, 02.50-03.21 Min. Popoff, Wheels of Steel, S. 48. Vgl. Matthew Worley, No Future. Punk, politics and British youth culture, 1976–1984, Cambridge 2017. Popoff, Wheels of Steel, S. 60. Ebd., S. 60, 79, 149. Vgl. Interview Kevin Riddles, 52.30-52.40 Min. Vgl. Halford, Confess, S. 91, 127.
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merkte beispielsweise an, dass die Heavy Rock-Bands tatsächlich nur in der medialen Aufmerksamkeit ersetzt wurden. Rockkonzerte waren weiterhin ausverkauft, was – und darauf weist er völlig zu recht hin – nicht nur an der musikalischen Treue lag. Der Pub und das dort stattfindende Konzert waren in London als sozialer Treffpunkt unersetzbar und führten dazu, dass die lebensweltliche Reichweite der medialen Punk-Inszenierung relativ gering blieb.49 Gleichzeitig bahnten sich aber auch erste geteilte Räume an und Tino Troy erinnert sich unter anderem an das Western Counties gegenüber Paddington Station, wo seine Band Praying Mantis zum ersten Mal auftrat und wo sonst viele PunkBands spielten. Seine Beziehung zum Punk war dabei – wie bei vielen anderen Heavy Rock-Musikern auch – ambivalent: Well, the only relationship I had was listening to them on the radio, having it thrown at me from every angle. And some of them I liked, you know. […] I loved the energy about it, that’s what I loved. And we still try and do that on stage anyway, even at our ages (laughs).50 Indes reagierte er auf die Frage nach Freunden in der Punk-Bewegung mit »No. No. Not really, no. Apart from Paul Di’Anno (laughs).«51 Es wäre jedoch weit gefehlt, den langfristigen Einfluss des Punks auf den Heavy Rock zu unterschätzen. Denn der Eindruck, temporär ausgebootet worden zu sein, begründete bei vielen Musikern Reaktionen, die sich auf vielen Ebenen ihrer Tätigkeit niederschlugen und die zu den wichtigen Ursachen der NWOBHM gehörten. Musikalisch gestaltete sich die Lage zunächst uneinheitlich: Bands wie Tygers of Pan Tang, Raven, Jaguar oder Mythra erhöhten die Geschwindigkeit der Stücke und auch Rob Halford gab zu, dass die Entscheidung bei Judas Priest für schnellere und kürzere Songs auf dem Album »British Steel« (1980) auf die Einflüsse der Punk-Bewegung zurückging.52 Paul Quinn verspürte bei Saxon den Drang, der empfundenen neuerlichen Ablehnung durch eine Erhöhung des »aggression levels« zu begegnen, um die Punk-Welle musikalisch herauszufordern,53 während sein Band-Kollege Byford die »snappy riffs and straight to the point aggression« hervorhebt, wenn es um die direkten Lerneffekte der Band ging.54 Über die musikalischen Elemente hinaus betonten die Musiker außerdem durchweg, dass sie die mit dem Punk einhergehende Innovation klar begrüßten: Brian Tatler beschrieb dies als die Entfernung von Totholz (»got rid of the deadwood«), Steve Zodiac lobte die »rawness« und den Fokus auf das Wesentliche – auch wenn er die politische Botschaft für »bullshit« hielt – und auch Byford und Robb Weir konnten sich mit dem aufrüttelnden Momentum des Punks gut identifizieren.55 Es wurde in Kapitel 4 bereits erwähnt, dass trotz der Erhöhung der Geschwindigkeit und der Begrüßung der Innovationsfreude besonders die technische Qualität der Musi49 50 51 52 53 54 55
Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 20. Interview Tino Troy, 08.08-08.59 Min. Ebd., 09.01-09.10 Min. Vgl. Halford, Confess, S. 127. Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 28. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 72. Vgl. Tatler in Popoff, Wheels of Steel, S. 46; Vgl. Interview Steve Zodiac, 36.00-38.20 Min.
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ker im Punk auf wenig Verständnis seitens der Heavy Rock-Bands traf. Musiker wie Alan Jones lehnten daher jegliche Anpassung ihres Stils ab. Er sah keinerlei Veranlassung, an seinen künstlerischen Grundüberzeugungen und auch den Wurzeln seiner Band Pagan Altar irgendetwas zu ändern: To me Punk was something that happened to other people. I just didn’t get it. All my friends at school loved it and all went out and got ridiculous haircuts. How I saw it at the time was that I had spend years trying to perfect an instrument to the best of my ability to have a load of idiots who could barely string three chords together properly get record deals. I was about 15 when Punk took off.56 Punk und seine geringen Einstiegsvoraussetzungen waren aus Sicht der späteren NWOBHM-Musiker nicht mit dem Narrativ des technisch versierten Instrumentalisten vereinbar und buchstäblich alle – unter anderem John Gallagher, Robb Weir, Graham Oliver und Steve Harris – betonten die »poor music« bzw. »bad music« als das wesentliche Manko der Punk-Musik.57 Mit der Professionalisierung des Instrumentalspiels, die im Heavy Metal stets große Bedeutung hatte, brach die Punk-Bewegung völlig und der Verdacht, dass dabei auch Punk-Musiker absichtlich unterhalb ihres möglichen technischen Niveaus spielten, machte die Diskrepanz zur Virtuosität der Rock-Wurzeln nur noch größer. Die egalitäre Authentizität des Punks war mit dem Selbstverständnis des Heavy Rocks und schließlich der NWOBHM musikalisch gesehen nur bedingt in Einklang zu bringen. Kevin Riddles führte diesen Faktor schließlich auch für den Umstand an, dass die Punk-Welle anders als die NWOBHM nur sehr wenige Bands und Songs hervorbrachte, die dauerhaft im Gedächtnis blieben: Musically, I always felt and still feel that punk is very heavy metal very badly played. What I’ve never been able to work out is whether this was on purpose, whether people deliberately jumped on that punk bandwagon and played well below the standards or whether they were just terrible musicians. I’m not absolutely sure to this day. There’s a reason why there was a thousand punk bands and only maybe ten or twelve are still in the consciousness: Because they weren’t very good. And they didn’t write very good songs. And the ones that were pretty good and wrote good songs are still with us now. You know, The Buzzcocks, Stranglers et al., and like The Damned, they’re still there, they were writing good songs all the time.58 Neben der »poor music« war die Ästhetik des Punks ein weiterer Stein des Anstoßes für Heavy Rock-Musiker und -Fans. Die konfrontative Wirkung des Äußeren spielte im Punk eine wesentlich größere Rolle. Auch die langen Haare oder der Denim & LeatherLook der Metalheads konnten provozieren,59 konnten aber mit der Schockwirkung
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Interview Alan Jones, Z. 51–55. Vgl. Zitate in Popoff, Wheels of Steel, S. 27, 49, 55, 59. Interview Kevin Riddles, 51.25-52.15 Min. Grundsätzlich zu den Haaren vgl. Nicole Tiedemann, Lange Männerhaare als jugendkulturelles Zeichen nach 1945, in: Christian Janecke (Hg.), Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 233–250.
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bunter Mohawks, Nasenringen und der generell möglichst transgressiven Symbolik des Punks weder mithalten noch ließen sie sich fürs Erste damit vereinbaren. Die wahre Trennlinie zwischen Metal und Punk empfand Biff Byford demnach auch nicht in der Musik, sondern in der Motivation des Punks, ein »against society-type movement« sein zu wollen und dies auch in Körper, Kleidung und Verhalten zu kommunizieren.60 Es könnte ein spannendes Untersuchungsfeld kommender Forschung sein, zu fragen, ob und inwieweit es auf die Rolle des Punk-Einflusses zurückzuführen war, dass das entstehende Genre Heavy Metal um 1980 seine früheren Anleihen bei der Hippie-Bewegung aufgab und zu einem weniger glamourösen »down-to-earth«-Stil überging.61 Grundsätzlich spricht es für die Vermutung einer permanenten Wechselbeziehung beider Jugendkulturen, dass sich in ihrer parallelen Entwicklung stets neue Mixturen der Ästhetik ergaben, wenn sich auch auf der anderen Seite Veränderungen abzeichneten, die frühere Mischungen und ihre Träger herausforderten. Während der NWOBHM ließ sich dies unter anderem daran beobachten, dass sich NWOBHM-Bands wie Girl bei der Weiterentwicklung des Punks in Richtung »New Romantic« bedienten und plötzlich androgyne Erscheinungen stilisierten, die in krassem Widerspruch zur Ästhetik einer Band wie etwa Saxon standen.62 Sowohl Punk als auch Metal standen eben nicht still, sondern entwickelten konstant neue Stil-Experimente, die sich an der Gegenseite orientieren und auch reiben konnten. Es ist daher auch bezeichnend, dass Steve Harris die Beziehung von Heavy Rock und Punk um 1977 als Wiederaufleben der Konflikte von Mods und Rockern empfand und Biff Byford dies für die fünf Jahre später empfundene Differenz von NWOBHM und »New Romantic« ebenso einordnete63 – gleichzeitig aber beide mit diesen Aussagen nicht die Gesamtheit ihres Genres vertraten. Der Seitenhieb Byfords, der von einem »fashion orientated faddy thing«64 sprach, wurde zweifellos nicht von allen NWOBHM-Musikern geteilt und unterstreicht die Beobachtung, dass hier stets keine kompletten Genres oder Jugendkulturen aufeinandertrafen, sondern Individuen und Bands eine distinkte Position in einem sich wandelnden Kontaktbereich der imaginierten Idealkonstruktionen Metal und Punk suchten, die sich mit ihrem bisherigen Stil evolutionär in Einklang bringen ließ – in diesem Fall auf Kosten eines sich abzeichnenden »Glam Metals«. Die zentrale Methode in der selbstständigen Verortung innerhalb dieses Fluidums hieß Do-It-Yourself. Für John Gallagher (Raven), der Punk nach eigener Aussage hasste und sich auch in körperlichen Auseinandersetzungen mit Punks wiederfand, war diese Methode die wichtigste Anleihe, die die entstehende NWOBHM vom Punk bezog – er
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Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 28. Vgl. zu den Wurzeln in der Rocker-und in der Hippie-Kultur: Weinstein, Heavy Metal, S. 127–129. Vgl. Macmillan, The N.W.O.B.H.M. Encyclopedia, S. 239–243; Zum Phänomen, von dem sich Byford abgrenzen wollte vgl. James Rovira, Rock and Romanticism. Post-Punk, goth, and metal as dark romanticisms, Cham 2018; Vgl. auch stark theoretisch David Wilkinson, Agents of Change: Cultural Materialism, Post-Punk and the Politics of Popular Music, in: Keith Gildart u.a. (Hg.), Youth Culture and Social Change, London 2017, S. 147–173. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 69. Ebd.
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sprach sogar von einem Diebstahl von den Feinden.65 Seine Ablehnung der Punks gehörte zum distinkten Profil seiner Band – seine Wertschätzung des DIY ist dagegen generalisierbar: Denn wenn die Punk-Bewegung die Heavy Rock-Bands irgendetwas mit Sicherheit lehrte, dann die eigene Karriereplanung aktiv selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht auf die Investitionen Dritter zu verlassen. Ansatzweise fand sich die DIYMethode daher bereits bei allen NWOBHM-Bands und verstärkte sich im Zuge der Extreme Metal-Sub-Genres der 1980er Jahre erheblich.66 Um 1980 hatte keine Band die Potentiale dieser Herangehensweise besser verstanden als Iron Maiden: Mit energischem Management, aktivem Zugehen auf die Major Labels, offensiver Medienpräsenz – etwa bei Top of the Pops oder der Friday Rock Show von Tommy Vance – sowie der Etablierung eines Maskottchens (Eddie), wie es auch von einer PunkBand hätte stammen können, fuhr die Band, die allein 1980 55 Konzerte in Großbritannien spielte, nunmehr zweigleisig.67 Sie hielten Kontakt zur »alten Garde« der Pubs und Clubs, waren im Soundhouse vertreten, wirkten aber auch anziehend in Richtung der »street punk credibility« durch Eddie, entsprechende Plattencover oder Titel wie »Running Free«. Gleichzeitig beeinflussten sie das öffentliche Bild der Band so gut es ging selbst. Ihr – vom Bandbiographen Mick Wall herausgestelltes – Credo »Maiden are what the fans think they are« hatte klassenspezifische Deutungsmuster und die Exklusivität der Prä-Punk-Ära hinter sich gelassen und von der erfolgreichen medialen Inszenierung des Punks gelernt.68 Dass Steve Harris nicht müde wurde, Punk offen abzulehnen, hatte höchstens mit musikalischer Kontinuität und dem Wunsch zu tun, nicht als Trittbrettfahrer angesehen zu werden. In Sachen Selbststilisierung, aggressivem DIY und medialer Präsenz adaptierten sie die Punk-Bewegung wie kaum eine andere NWOBHMBand. Auch in punkto »approachability«69 etablierte die Band einen als egalitärer empfundenen Kontakt zu den Fans, der sich von den Stadion-Rock-Bands der 1970er Jahre abgrenzte und das gemeinsame Erlebnis von Band und Fans betonte.70 Während die Band also mit der Auflösung der Bedeutung technischer Qualifikation nichts zu tun haben wollte und die Performance weiterhin deutliche Solistentendenzen erkennen ließ, 65
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Vgl. Interview John Gallagher, Z. 44–48: »it was a distinctly British era really… all the kids who loved rock… and basically hated punk… but stole their ›DIY‹ ethos and formed bands to play the music they loved.« Vgl. zum DIY: Andy Bennett/Paula Guerra, Rethinking DIY culture in a post-industrial and global context, in: dies. (Hg.), DIY Cultures and Underground Music Scenes, Milton 2018, S. 7–18; Zur damit eng verbundenen Debatte um Prosumenten vgl. Kai-Uwe Hellmann, Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte, in: Birgit Blättel-Mink/ders. (Hg.), Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden 2010, S. 13–48. Vgl. Wall, Run to the hills, S. 134f., 141. Vgl. ebd., S. 99, 140. Der zugrundeliegende soziale Anspruch an die Band in den Worten der Musiker von Benediction aus Birmingham: »I think it’s the approachability of the band, on both a musical level as well as a personal one. I remember we never turned fans away if they came to us at a show with a question, and we’d never just sit locked up in the backstage room waiting to go out and play. We’d always go stand at the bar or the merchandise stand and mingle with everyone. It was more like going to someone else’s show rather than playing your own.« Andreas Hertkorn, Seven Metal Inches. 40 Years of Picture 7"s in Extreme Metal, Berlin 2017, S. 49. Vgl. Popoff, This Means War, S. 27.
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wurden Einheit und Gemeinschaft als zentrale Elemente einer Punk-Show zumindest in die After-Show-Phase der Konzerte aufgenommen. Die Punk-Bewegung versorgte die Heavy Rock-Bands also mit neuen Perspektiven auf die eigenen Handlungsoptionen und war maßgeblich mit dafür verantwortlich, die Fokussierung auf die Arbeiterklasse und bestimmte Regionen durch neue Kommunikationsmethoden aufzubrechen. Dies galt – entgegen landläufiger Einschätzungen der zeitgenössischen Presse sowie der Forschung – auch für die politische Verortung des musikalischen Schaffens. Besonders durch die »Subcultural Studies« inspirierte Studien postulierten lange Zeit das Bild eines apolitischen Genres und schrieben dadurch die Einschätzung am CCCS, dass es sich bei Heavy Metal gar nicht um eine »echte« Subkultur handele, fort.71 Unklare Klassenzuschreibungen und das Fehlen politischer Lyrics hatten dort dazu geführt, sich dem Genre überhaupt nicht zuzuwenden.72 Die Forschung zur Popgeschichte hat seitdem genauso wie die Post-Subcultural Studies herausgearbeitet, dass es keiner politischen Anbindung bedurfte, um sozial wirksam und schon gar nicht, um individuell bedeutsam zu werden.73 In der sozialgeschichtlichen Verortung des Heavy Metals innerhalb der »Metal Studies« ist diese Perspektive jedoch nur bedingt angekommen und die wenige nichtkulturwissenschaftliche Forschung, die in diesem Bereich betrieben wird, liest sich weiterhin wie eine Verteidigung gegen den Vorwurf der gesellschaftlichen Irrelevanz, wie er durch die punk-fokussierte Rock-Kritik der frühen 1980er Jahre erhoben wurde.74 Fernab dieser Neujustierung ist die Beobachtung der Politiklosigkeit des Metals auch schlicht falsch. Vor dem Hintergrund der korrekten Feststellung, dass Heavy Metal und Extreme Metal nie mit einem politischen Programm auftraten oder sich eindeutig politisch oder gesellschaftskritisch vereinnahmen ließen, verdeckte die zeitgleiche starke Politisierung des Punks den Blick auf die zahlreichen existenten Verhandlungen politischer Probleme im Heavy Metal-Genre, die sich bis in die Jahre der NWOBHM (und darüber hinaus bis zu Black Sabbaths »Warpigs« 1970) zurückverfolgen lassen. Soweit dies bisher überblickt werden kann, traten die Bands dabei durchaus anklagend, aber nie fordernd oder gar umstürzlerisch auf und viele Lyrics lassen sich auch eher implizit vor der
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Vgl. Andy R. Brown, Heavy Metal and Subcultural Theory: A Paradigmatic Case of Neglect?, in: Muggleton/Weinzierl (Hg.), The Post-subcultures Reader, S. 209–222. Vgl. ebd., S. 209–213. Hinsichtlich der »Subjektwerdung« vgl. Alexa Geisthövel, Lebenssteigerung. Selbstverhältnisse im Pop, in: dies./Bodo Mrozek (Hg.), Popgeschichte. Band 1: Konzepte und Methoden, Bielefeld 2014, S. 177–195, hier S. 180, 185, 188. Zum Perspektivwechsel hinsichtlich »subkultureller« Phänomene in ihrer Relevanz für die Gesellschaften der Zeitgeschichte vgl. im selben Band: Bodo Mrozek, Subkultur und Cultural Studies. Ein kulturwissenschaftlicher Begriff in zeithistorischer Perspektive, S. 101–125, hier S. 119–121; Ebenfalls hinsichtlich einer Neubewertung des »subkulturellen« Potentials vgl. Bart van der Steen/Thierry P. F. Verburgh (Hg.), Researching subcultures, myth and memory, Cham 2020. Besonders ausgeprägt bei Keith Kahn-Harris, The »failure« of Youth Culture. Reflexivity, music and politics in the black metal scene, in: European Journal of Cultural Studies 7 (2004) 1, S. 95–111; Was angesichts seiner Kritik an der durch das CCCS beeinflussten Lesart der Metal-Kultur überrascht: Vgl. ders., Unspectacular Subculture? Transgression and Mundanity in the Global Extreme Metal Scene, in: Andy Bennett/Keith Kahn-Harris (Hg.), After Subculture. Critical studies in contemporary youth culture, Basingstoke 2004, S. 107–118, hier S. 109.
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Kulisse der politischen und sozialen Konflikte Großbritanniens interpretieren. Ein Plattencover wie jenes von Iron Maiden, auf dem Eddie Margarete Thatcher ermordet hatte, war daher eine Ausnahme, zeigt aber auch schon, dass selbst eine Band mit Major Label-Vertrag und großen kommerziellen Plänen klar politisch Position bezog und den Angriff der Thatcher-Administration auf die »working-class-community« entsprechend aufgriff: Ein weiteres Beispiel betrifft das Album »British Steel« von Judas Priest, das keineswegs zufällig den Namen des Staatskonzerns trug, dessen Reprivatisierung zu massiver Arbeitslosigkeit führen sollte.75 Laut des Gitarristen Downing sollte das Album als Signal an ein »down-spirited UK« dienen und auch der Sänger Rob Halford betonte die eingehende Beschäftigung mit dem Thema der sozioökonomischen Entwicklung während der 1970er Jahre.76 Obgleich sich Halford als unpolitisch verstand, wollte er auf empfundene Ungerechtigkeiten hinweisen, bezeichnete den Song »Breaking The Law« als »almost a political protest song« und den Song »Grinder« als Widerstand gegen das Establishment.77 Die Quintessenz war hier jedoch nicht der Aufruf zum Widerstand, sondern der Wunsch nach stärkerem Zusammenhalt und damit eine geschickte Verknüpfung von Metal-Musik und Arbeiterklassen-Solidarität, die die Band auf dem »club circuit« jahrelang aufgesogen hatte. Eine Band, die diese Verknüpfung ebenfalls gut beherrschte und Heavy Metal-Hymnen schrieb, deren Gemeinschaftsgedanke sich auch politisch lesen ließ, waren Saxon. Biff Byford hatte als Gewerkschaftsmitglied die »closed shops« erlebt und sich vom als selbstherrlich empfundenen Auftreten vieler Gewerkschaftsführer entfremdet. Er betrachtete den Aufruhr und die Streiks im Vereinigten Königreich jedoch als willkommenen Anlass, sich gegen den Angriff konservativer Politik auf die Arbeiterklassen-Community zur Wehr zu setzen.78 Seine Songtexte verhandelten diesen Wunsch und sind allein durch den Umstand, dass sie keine nihilistische oder revolutionäre Handlungsaufforderung enthielten, nicht weniger politisch als die Songs der zeitgleichen PunkBands. Byfords Ideen des »stand up, stick together«79 , die sich in Songs wie »Denim & Leather« prototypisch mit der Metal-Kultur verbanden, wurden daher auch nicht als Wunsch nach politischem Eskapismus adressiert, sondern boten viel spezifischere Momente der sozialen Krisen-Thematisierung. Zu den oft nihilistischen und offen widerständigen, aber letztlich utopischen Texten im Punk setzten Bands wie Judas Priest, Saxon oder auch die Tygers of Pan Tang (z.B. »Gangland«) einen Kontrapunkt, der spürbare Kritik mit Hoffnung, der Weigerung zum Aufgeben und dem Einstehen für die gemeinsamen Rechte verknüpfte. In eine ähnliche Richtung tendierten auch Lyrics wie »Running for 75
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Vgl. Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl, S. 69, 71, 80; Vgl. David Keeble, De-industrialisation, new industrialisation processes and regional restructuring in the European Community, in: Trevor Wild/Philip Jones (Hg.), De-industrialisation and new industrialisation in Britain and Germany, London 1991, S. 40–65, hier S. 46. Vgl. Downing, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 90; Vgl. Halford, Confess, S. 128f. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 90. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 63: »I have to say that I hated the Thatcher years. I think Margaret Thatcher and her cabinet of yes-men totally destroyed the country. She certainly completely wiped out the whole communities.« Byford, Saxon. Never Surrender, S. 64.
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Tomorrow« von Praying Mantis oder »Running Free« von Iron Maiden. Chris Bradley, der sich mit der Band Savage ebenfalls dieser Perspektive in den Songtexten bediente, bezeichnete sein Vorgehen als »socially aware«, aber nicht als »political«. Es ginge ihm um die »real things«, aber nicht um dogmatische Aufforderungen.80 Parallel verarbeitete eine Band wie Witchfinder General die Bedrohung eines Atomkriegs in ihrem Album »Soviet Invasion«,81 während Mythra mit einem Song wie »England« ebenfalls klare politische Kritik mit einem Solidaritätswunsch kommunizierten.82 Diese Beispiele, die sich deutlich erweitern ließen, wenn die »Metal Studies« die gesamte musikalische Bandbreite des Genres einbeziehen würden, rechtfertigen es natürlich keineswegs, den Heavy Metal während der NWOBHM als unpolitische Flucht vor der bedrückenden Wirklichkeit einzustufen und von einer vermeintlich politischeren Punk-Kultur abzugrenzen. Was beide Jugendkulturen freilich unterschied, war die eher instrumentelle Verbindung von politischer und sozialer Gegenwartskritik mit Reminiszenzen an eine untergehende Arbeiterklassen-Solidarität im Metal, was sowohl Profit von der Krise als auch die Anbindung an das genre-spezifische Kontinuitätsversprechen ermöglichte. Die frühe Punk-Bewegung stand dem mit nihilistischen Aussagen zunächst oft schroff entgegen, bediente sich aber einige Jahre später ebenfalls häufiger einer integrativen Methodik hinsichtlich Lyrics und Gruppenzusammenhalt. Zu nennen sind hier beispielsweise Songs wie »Solidarity« von Angelic Upstarts und vor allem die Lyrics des Hardcore Punks.83 Den Metal-Bands stand dabei jedoch stets der Rückzug in mythologische Welten, brutale Gewaltphantasien und andere fiktionale Sujets zur Verfügung, da Politik nie den Markenkern einer Metal-Szene bildete – was sie überdies vor einer allzu offensichtlichen Widersprüchlichkeit von Anspruch und Wirklichkeit schützte und mit dazu beigetragen haben dürfte, dass es vermutlich viel mehr alte Metalheads als alte Punks gibt.84 Sowohl Punks als auch Metal-Musiker nutzten politische Kritik daher instrumentell und als Bestandteil der Erzeugung einer popkulturellen »InGroup«, doch während politischer Bezug im Punk zum Obligatorischen tendierte, wies Heavy Metal seit der NWOBHM eine fakultative Politikhaltigkeit auf.
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Vgl. Popoff, This Means War, S. 129. Vgl., ebd., S. 130. Mythra: »England« (1980): »Prejudiced illusions, obscene policies/Rule this country’s ignorant but I’ll not be deceived/I know your atrocities I know the things you plan/But as long as there’s an England together we must standCall yourself a saviour, an age old English dream/Where all the land is painted white with no minorities/Can’t you see within yourself try to understand/As long as there’s an England together we must stand.« URL: https://www.songtexte.com/songtext/myth ra/england-33516c49.html (letzter Aufruf 10.03.2022). Zu den Lyrics in Punk und Hardcore Punk grundsätzlich: Gerfried Ambrosch, The Poetry of Punk. The meaning behind punk rock and hardcore lyrics, London/New York 2018. Vgl. Andy Bennett/Paul Hodkinson (Hg.), Ageing and Youth Cultures. Music, style and identity, London/New York 2012; Zur Idee des »Durchgangsstadiums« des Punks vgl. Dieter Baake/Wilfried Ferchhoff, Von den Jugendsubkulturen zu den Jugendkulturen, in: Neue Soziale Bewegungen 8 (1995) 2, S. 33–46; Vgl. auch Peter Kuhnert, »Ich hab’ nun mal ’ne ganze Ecke meines Lebens auf dem Gitter verbracht.« Punks im Revier, in: Wilfried Breyvogel (Hg.), Land der Hoffnung-Land der Krise. Jugendkulturen im Ruhrgebiet 1900–1987; Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin/Bonn 1987, S. 250–257.
5. Die Crossover- Dekade
5.2 Wachsende Kontaktzonen Die Verbindung von musikalischen Punk-und Metal-Einflüssen und die Verstärkung der sozialen Beziehungen beider Jugendkulturen begann um 1980 in den Bands. Besonders in jenen Metal-Bands, die mit dem Einsetzen der Punk-Welle noch nicht auf eine längere Geschichte zurückblicken konnten oder die sich erst danach gründeten, ließen sich beide Bezüge oft nicht mehr trennscharf unterscheiden. Dies bedeutete freilich nicht, dass Jaguar, wo der Gitarrist Garry Pepperd Metal genauso liebte wie Punk,85 Rock Goddess, wo die Musikerinnen die Punk-Welle fasziniert verfolgten,86 oder Venom, die sich ohnehin von der NWOBHM und den etablierten »Club«-Bands abgrenzten,87 keine Metal-Bands mehr gewesen wären. Viel eher verschwammen die klaren Selbstzuordnungen dadurch, dass Punk-Einflüsse der Hörbiografien der Musiker in ein Heavy Metal-Fundament diffundierten. Dass es sich bei einigen dieser Bands, namentlich Jaguar und Venom, um direkte Vorläufer späterer Extreme Metal-Sub-Genres wie Speed Metal oder Black Metal handelte, war deshalb auch kein Zufall: Denn jedes sich an die NWOBHM anschließende Metal-Sub-Genre formierte sich im intensiven Kontakt aus regionalen Punk-und MetalEinflüssen. Dabei veränderten sich die Kontaktzonen zunächst insofern, als dass es nun nicht mehr nur noch ein oder zwei Mitglieder einer Band waren, die Punk-Geschmäcker musikalisch verarbeiten wollten. Punk und Metal prägten zunehmend auch regionale Freundeskreise, waren auf Konzerten zusammen vertreten und spätestens mit der Etablierung des Thrash Metals in den frühen 1980er Jahren musikalisch und sozial sehr nah aneinandergerückt.88 Diese Intensivierung war im Ruhrgebiet bereits ab 1982/83 zu beobachten.89 Thomas Such, der mit Sodom eine der frühesten deutschen Extreme Metal-Bands in Anlehnung an das Venom-Vorbild gründete, kaufte laut eigener Aussage Metal-und PunkPlatten zu gleichen Anteilen. In seiner eigenen Wohnung fanden Partys statt, zu denen selbstverständlich auch Punks kamen und in der Pappschachtel, dem Jugendheim in Gelsenkirchen-Buer, fanden kleine Konzerte statt, bei denen es »überhaupt keine Konkurrenz« gegeben hätte: »… im Gegenteil, also auch viele Punker haben Metal gehört, ne.«90 Auch Waldemar Sorychta verfolgte in der Frühphase der Band Despair aus Dortmund Metal und Punk gleich intensiv und wies einen entsprechenden Freundeskreis auf: So im normalen Leben, waren wir ganz klar, da gings nicht darum, ob jemand lange Haare hatte oder so, unsere Vision und unsere Vorgehensweise und so weiter, das war definitiv hundert Prozent Punk. Insofern waren auch die meisten Freunde von mir oder beziehungsweise von uns Despair, waren wirklich waschechte und Punkrocker seit Jahren und weniger diese Schicki-Micki-Metaller.
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Vgl. Interview Garry Pepperd, Spur 7. Vgl. Moffitt, Rock Goddess. Vgl. Conrad Lant, in: Frank Stöver, Voices From The Dark Side 9, in: ders. (Hg.), Voices, S. 12f. Sowohl in der Auswahl der besprochenen Bands als auch in deren personeller Entwicklung ablesbar im lexikalischen Band: Garry Sharpe-Young, Thrash Metal, New Plymouth 2007. Zum Punk im Ruhrgebiet vgl. Helge Schreiber, Network of friends. Hardcore-Punk der 80er Jahre in Europa, Duisburg 2011, S. 45–48. Vgl. Interview Thomas Such, 11.07-12.53 Min.
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Wir haben natürlich in allen Lagern Freunde, aber so menschlich gesehen wurden wir eher, also warn wir eher Punk, musikalisch warn unsere Wurzeln so in beiden Lagern.91 Sein Band-Kollege Robert Kampf, der später das Label Century Media gründete, verbrachte seinen 18. Geburtstag in einem besetzten Haus der Hardcore Punk-Szene in San Francisco und wollte eigentlich gar nicht mehr von dort zurückkehren,92 während Arnd Klink (Darkness) aus der Altenessener Perspektive sogar davon sprach, dass Metal und Punk im Revier »mehr oder minder eine Szene« waren. Die wichtigsten Schnittmengen verortete er im Gitarrensound, »viel Bier« und einer zunehmend gemeinsamen Konzertorganisation, etwa im Rahmen einiger Konzerte unter dem Motto »Metal meets Punk.«93
Abb. 37: Plakat für ein »Metal Meets Punk«-Konzert in der Zeche Carl (1987).
Quelle: Facebook-Seite »Alte Zeiten. Mephisto, Zeche Carl…« Post von Robert Gonnella, 28.11.2013.
Empirisch spricht bisher vieles dafür, die Verbindung von Metalheads und Punks im Ruhrgebiet – besonders verglichen mit den zeitgleichen amerikanischen Ereignis-
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Interview Waldemar Sorychta, 13.03-13.54 Min. Vgl. Christian Krumm, Century Media – Do It Yourself. Geschichte eines Labels, Oberhausen 2012, S. 20. Interview Andreas Lackaw/Arnd Klink, Z. 55–60.
5. Die Crossover- Dekade
sen – als relativ konfliktarmes Crossover-Phänomen zu interpretieren, das vor allem über viele geteilte Räume und gemeinsame Freundeskreise wirkte, aber auch davon profitierte, dass sich hier keine stark politisierte Hardcore Punk-Szene ausbildete, die ihren »turf« aggressiv verteidigte.94 Thomas Such bezeichnete den Punk in eigener Erinnerung entsprechend eher als »Lebenseinstellung«95 und weniger als politisch motivierte Verhaltensweise – wozu der ebenfalls starke DIY-Aspekt der Metal-Szene im Ruhrgebiet ebenso passte wie die gemeinsam geteilte sozioökonomische Grundlage der Szenen im deindustrialisierten Revier, dem noch dazu suburbane Trennungen fremd waren.
Abb. 38: Geteilte Räume – Ein junger Punk auf der Bühne bei einem MetalKonzert von Possessed, Voivod und Deathrow in der Zeche Bochum (13.11.1986).
Quelle: Facebook-Seite »Alte Zeiten. Mephisto, Zeche Carl…« Post Marky McFly, 12.07.2018.
Parallel zum Ruhrgebiet intensivierten sich auch die Beziehungen von Metalheads und Punks in der San Francisco Bay Area und mündeten in die zweite große Thrash Metal-Szene. Der Beginn der gegenseitigen Aufmerksamkeit lässt sich hier ebenso auf musikalische Schnittmengen, räumliche Kontaktzonen und gemeinsame Freundeskreise zurückführen, ziemlich genau auf die Jahre 1983/84 datieren, war aber stärker als im Ruhrgebiet von einer linkspolitischen Hardcore-Szene dominiert.96 Laut Ron Quintana, der den Crossover-Prozess als Radiomoderator und eifriger Konzertgänger verfolgte, bahnte sich die gegenseitige Orientierung bereits bei den ursprünglichen
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Vgl. Dietmar Osses, Provokation, Spaß und schnelle Töne. Punk im Ruhrgebiet, in: ders./Katarzyna Nogueira (Hg.), Einfach anders! Jugendliche Subkulturen im Ruhrgebiet, Essen 2014, S. 61–71; Vgl. Kuhnert, Ich hab’ nun mal ’ne ganze Ecke, S. 250–257. Interview Thomas Such, 12.53 Min. Vgl. Peter Belsito/Bob Davis, Hardcore California. A History of Punk and New Wave, Berkeley 1983.
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Punk-Bands der Bay Area in den späten 1970er Jahren an, wo besonders deren Riffing große Ähnlichkeiten mit den schnelleren Metal-Bands aufwies. Als sich Punk ab etwa 1981 stärker in Richtung Hardcore Punk entwickelte, vergrößerte sich diese musikalische Gemeinsamkeit noch weiter und Quintana hebt hervor, dass dies »long before thrash was around« war – auch hier finden sich also Ansätze für die Beobachtung eines Crossover-Prozesses bereits in der Entstehung des Sub-Genres. Allerdings machte er auch die wichtigste Trennlinie deutlich: »The lyrics were pretty political, which doesn’t excite a metalhead too much.«97 Der zentrale Katalysator waren auch in der Bay Area gemeinsame Konzerte. Eric McIntire, Gitarrist der Band Attitude Adjustment aus Walnut Creek, erinnert sich, dass diese Praxis zu Beginn der Hardcore Punk-Szene, zu der er gehörte, noch nicht existierte. 1981 hatte Crossover seiner Meinung nach noch nicht stattgefunden. Er bemerkte eine Annäherung erst 1984, als Metal-Bands plötzlich Hardcore Punk hörten und umgekehrt98 und begannen, sich vor allem im Umfeld des Clubs Ruthie’s Inn in Berkeley zu treffen. Seinem Band-Kollegen Chris Scapparo wurde dieser Prozess bei einem Konzert von Slayer, Exodus, Possessed und Vermin in eben jenem Club 1983 bewusst: Er hatte das Gefühl, »einer von vielleicht sieben Punks« unter 400 Fans zu sein, bemerkte aber, dass sich die Stimmung untereinander verändert hatte: Ruthie’s Inn, all headbangers and fists in the air – but just enough people in the metal scene had ventured out of the box and had been to punk shows too, they were into that scene and those bands and were stage diving and slam dancing. And from that show on, I was far more aware of metalheads at punk shows; they were starting to morph into some of the look, hair and fashion too – as well as punks growing their hair and looking more metal!99 Vor allzu romantischen Überzeichnungen dieses sozialen Crossover-Prozesses muss allerdings gewarnt werden. Einerseits wurde bereits angemerkt, dass Musiker diesen Prozess in der Regel als reibungsloser empfanden als die Fans, andererseits blieben auch viele starre Feindbilder zwischen Thrash Metal und Hardcore Punk in Kalifornien bestehen und führten – dies wird in Kap. 5.3 deutlich – zu teilweise heftigen Abgrenzungserscheinungen. Crossover war in den Vereinigten Staaten ein deutlich konflikthafteres Phänomen als in Deutschland oder in Skandinavien, wofür vor allem die Konkurrenz verschiedener regionaler und aggressiver Hardcore-Szenen verantwortlich war. Dies war auch und besonders in New York der Fall, wo sich ebenfalls ab 1984 eine Verbindung beider Richtungen anbahnte. Wie auch in San Francisco hebt Dan Lilker für New York hervor, dass erst »the speed metal thing«, also die Transgression der NWOBHM-Vorbilder durch Bands wie Anthrax, Whiplash oder Exodus, ab 1984 dazu geführt habe, dass Hardcore Punks die Metal-Bands überhaupt wahrnahmen.100 In der Folge hätten dann jedoch viele der Hardcore-Bands »a little metal edge« aufgenommen 97
Chris Forbes, Interview with Ron Quintana, in: Metal Core Fanzine, URL: www.metalcorefanzine. com/ (letzter Aufruf 10.03.2022). 98 Vgl. Interview Eric McIntire, Z. 1–3. 99 Anesiadis, Crossover the Edge, S. 199. 100 Vgl. Bill Parber/Rik Martinez, Ultranoize Fanzine 2 (1987), Mesa (AZ), S. 27.
5. Die Crossover- Dekade
und eine breite »speedcore/crossover category« in der urbanen Szene begründet, zu der neben seinen eigenen Bands Nuclear Assault und S.O.D. auch Carnivore sowie später Agnostic Front, Cro-Mags oder Biohazard zählten.101 In diesem Prozess waren Musiker wie Peter Steele (Carnivore), Dan Lilker, Billy Milano (S.O.D./M.O.D.), Charlie Benante und Scott Ian (Anthrax) die Schrittmacher, indem sie aktiv die räumliche Nähe in den entsprechenden Clubs sowie die Zusammenarbeit in Bands suchten. Denn die Metal-Kultur hatte ihr New Yorker Zentrum eigentlich im Club L’Amour, wo lokale Acts spielten und nationale Tourneen Halt machten. Die inoffizielle Hochburg der Hardcore Punks war dagegen das CBGBs, ein bereits durch die Auftritte der Ramones seit der Mitte der 1970er Jahre legendärer kleiner Club, der vor allem durch die jahrelange »Hardcore Matinee« großen Einfluss ausübte.102
Abb. 39: Frühes Agnostic Front-Konzert in New York.103
URL: https://www.magazine.awayfromlife.com/the-new-york-hardcorechronicles-interview/ (letzter Aufruf 10.03.2022).
Ab 1984 überwanden jedoch vor allem die Metal-Musiker wie Lilker und Ian diese Trennung und fühlten sich vom CBGBs angezogen, nahmen auch Gäste von der Westküste wie Metallicas James Hetfield oder später Kirk Hammett mit in den Club und freundeten sich nach einigen Anfangsschwierigkeiten mit Hardcore Punk-Musikern, deren Blickwinkel ebenso breiter wurde, an.104 Zwischen Bands wie Agnostic Front, Anthrax, S.O.D., Carnivore und Whiplash, die alle im Crossover-Kontinuum sehr verschiedene
101 Vgl. ebd., S. 28. 102 Vgl. Rettman/Cricien, NYHC, Kap. »CBGB Matinee«. 103 Die Band gehörte zu den wichtigsten Vertretern des Crossovers aus NYHC und Metal. Der soziale Einzugsbereich der Band wird an Fotos des Publikums deutlich: Neben langhaarigen Metalheads und Punks finden sich vor allem die für den NYHC typischen Skinheads. 104 Vgl. Rettman/Cricien, NYHC, S. 236f., 239.
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Stile einnahmen, entstanden zahlreiche personelle Zusammenarbeiten.105 Räumlich nahmen auch die Kontaktzonen in den Clubs zu, die nun stärker zweigleisig fuhren: Während das L’Amour in Brooklyn neben »reinen« Metal-Bands nun auch CrossoverKonzerte von Bands wie Carnivore oder einige Hardcore-Konzerte veranstaltete, nahm man im CBGBs ebenso die neuen Mixturen wahr und setzte Bands wie Nuclear Assault oder Whiplash auf den Spielplan. Tony Portaro (Whiplash) zählte beispielsweise 18 Gigs seiner Band im L’Amour und 13 im CBGBs. Überdies trat die Band, die musikalisch wenig mit Hardcore Punk zu tun hatte, oft mit Carnivore auf, weil beide bei Roadrunner Records unter Vertrag standen – ein untrügliches Zeichen, dass Crossover auch kommerzielle Grundlagen hatte.106 Auch hier gilt aber die obige Feststellung: In New York bekamen selbst Musiker wie Ian oder Hammett anfänglich große Probleme im Hardcore-Umfeld und mussten regelrecht in Schutz genommen werden.107 Zwischen den Fans gestaltete sich die Beziehung in den neuen Kontaktzonen bisweilen gewalttätig und Crossover war ein buchstäblich schmerzhafter Lernprozess (Kap. 5.3). Die in diesen drei Szenen geknüpften Sozialbeziehungen, gegenseitigen musikalischen Einflüsse und ästhetischen Mixturen setzten fortwährend Lernprozesse in Gang, die nachkommende Alterskohorten bereits als Sozialisationsgrundlage zum Fan aufnahmen, die sich also verselbstständigten und sowohl zu breiteren sozialen Kontakträumen als auch zu Bands führten, deren Musik nun »echter« Crossover war und bei deren Einordnung es auf die Fan-Perspektive ankam. Selbst Metalheads, deren Orientierung bisher vollständig auf NWOBHM-Bands gelegen hatte, kamen zwangsläufig mit dem PunkEinfluss in Kontakt. Als Glenn Evans, der 1983/84 als Drummer bei der Heavy Metal-Band TT Quick spielte, nach dem Ausstieg gefragt wurde, ob er bei Nuclear Assault (O-Ton der Anfrage: »they’re like a hardcore band«) einsteigen könne, dachte er zunächst an einen pornografischen Scherz, weil ihm Hardcore-Bands schlicht unbekannt waren – ab 1986 nahm er dann alle Alben mit dieser relevanten Crossover-Band auf.108 Besonders ausgehend von den Szenen der großen Städte wie New York, San Francisco, Pittsburgh, Birmingham und im dichten suburbanen Netz New Jerseys wuchsen durch dieses Networking Freundeskreise aus Metalheads und Punks zusammen und eine Abgrenzung gehörte nicht mehr zu den wichtigen »becoming-a-fan«-Narrativen.109 Zu Kelly Shaefers (Atheist) Freunden in Sarasota gehörten beispielsweise auch die Musiker der Punk-Band 105 Ein zentraler Akteur in diesem Prozess war etwa Billy Milano, der als Bassist bei der Punk-Band Psychos Roger Miret ersetzte, Roadie bei Anthrax war, als Songwriter für Agnostic Front arbeitete, S.O.D. mitgründete, später mit M.O.D. und als Manager ebenso dem Crossover treu blieb. Vgl. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Billy_Milano (letzter Aufruf 20.03.2022); Vgl. auch seine eigene Website URL: https://milanomosh.com/ (letzter Aufruf 10.03.2022). 106 Vgl. Chris Forbes, Whiplash. Interview with Tony Portaro, in: Metal Core Fanzine, URL: www.met alcorefanzine.com/ (letzter Aufruf 10.03.2022). 107 Vgl. Rettman/Cricien, NYHC, S. 236, 239. 108 Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 44. 109 Zur Rolle urbaner Lebensräume in diesem Prozess vgl. Cricien: »Again, it was the early ’90s and there was still a lot of ignorance with regard to scenes mixing. Believe it or not. In the bigger cities, not as much. It was more prevalent in the smaller cities, towns etc. I think bigger cities were already getting a taste of this kind of stuff. In NYC, metal and HC shows weren’t totally uncommon. Not to say there wouldn’t be violence sometimes… It was all part of the learning process.« Pratt, That Tour Was Awesome.
5. Die Crossover- Dekade
Belgian Penguins, die mit D.R.I., The Exploited oder The Accüsed Konzerte spielten.110 Jeremy Smith, der sich 1989/90 in Buffalo als »a dork into thrash metal and some punk and crossover« bezeichnete und Freunde in der »straight edge«-Bewegung fand, beschreibt die soziale Crossover-Komponente sehr anschaulich: I also still hung out with my »metal« friends, though eventually we all congealed into a big friendship circle, at first it was like, hang out with these three dudes Friday, these other four dudes on Saturday, ya know? I’d go to hardcore shows with one group of guys and thrash/death metal shows with another. I was caught in between for a while until we all just started hanging out together.111 Die von Smith beschriebene Vermischung fand voraussichtlich nicht in jedem Fall so umfassend statt, übersetzte sich aber mittelfristig deutlich in die Zusammensetzung des Publikums bei Konzerten. Als Dream Death, die erste überregional erfolgreiche MetalBand aus Pittsburgh, 1986 ihr erstes Konzert im Electric Banana spielten, traten sie vor einer Punk-Band auf und überzeugten mit den Songs ihres Demo-Tapes und einem Cover von Angel Witchs »Angel of Death« auch die Punks. Die Band hatte unabhängig von jugendkulturellen Zugehörigkeiten einen »small buzz going on in Pittsburgh.«112 Etwa zur gleichen Zeit spielte Pete Sandoval mit seiner Band Terrorizer in der hispanischgeprägten Szene von East L.A. und gab an, dass die Konzerte zu gleichen Teilen von Punks und Metalheads besucht seien.113 Für Scott Reigel in Tampa und für Uffe Cederlund oder Nicke Andersson in Stockholm war dieser Umstand ebenso selbstverständlich – nicht nur, weil sich Metal und Punk hier die Spielstätten teilten, sondern weil in der Frühphase der Bands noch gar nicht klar war, ob es Metal-oder Punk-Bands werden sollten.114 Erst im Laufe der musikalischen Tätigkeit schälten sich für den Stil solcher Bands überhaupt Begriffe und Kategorien heraus, die dann Szene-Einordnungen begründeten. So überrascht es auch nicht, dass besonders in Skandinavien viele spätere Death-oder Black Metal-Musiker als Punk-Musiker begannen. Tomas Forsberg (Quorthon) war vor der Gründung von Bathory Punk-Musiker, Mayhem gründeten sich 1984 aus einer Punk-Band heraus, 1988 wurden Disaccord zu Carnage und 1991 wurde aus Moses die Band Marduk.115 Es herrschten bei diesen Beispielen also nicht nur enge persönliche Kontakte von Metalheads und Punks, gemeinsame Konzerte und eine internationale Vernetzung – diese Musiker waren im Grunde beides und markierten den Endpunkt des Crossover-Prozesses, der in der NWOBHM begonnen hatte. Während sich für die oben genannten Musiker und Bands durch ihre musikalische Entwicklung die Zuordnung zum Death Metal-Sub-Genre ergab, zeichneten sich in der vielfältigen Crossover-Landschaft Mittelenglands sowohl Wege in Richtung Grindcore 110 111
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Vgl. Interview Kelly Shaefer, 06.15-07.02 Min. Carlos Ramirez, Jeremy D. Smith, in: No Echo 2017, URL: https://www.noecho.net/interviews/ jeremy-d-smith-halfmast-plagued-with-rage-no-reason-the-control-dead-hearts (letzter Aufruf 10.03.2022). Vgl. Forbes, Dream Death. Interview with Brian Lawrence, in: Metal Core Fanzine. Vgl. Laurent Ramadier, Terrorizer. Interview with Sandoval, in: Voices From The Dark Side Online. Vgl. Uffe Cederlund, in: Mattila/Lahtinen, Isten Fanzine 5 (1990), S. 24; Vgl. Laszlo, Morbid. Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 35.
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als auch in Richtung Death Metal ab – die jedoch lebensweltlich als Kategorien kaum noch von Bedeutung waren. Denn aus der bunten musikalischen Mischung aus Metal und Punk entstanden in Städten wie Bristol, Birmingham, Nottingham, Ipswich und London Szenen, in denen sich die musikalische Verortung der jeweiligen Band zunehmend von der jugendkulturellen Zugehörigkeit zu Skinheads, Punks, Hardcore Punks, Crust Punks, Psychobillies, Metalheads usw. abkoppelte. Erwünscht war, was im »melting pot« der Musikstile musikalische und körperliche Entgrenzung versprach und leidlich politisch vereinbar erschien – unabhängig von Frisur, Kleidung, Geschlecht und Verhalten. Besonders in Bristol, wo etwa Bands wie Chaos UK oder Onslaught gemischte Fangruppen anzogen, und in London wiesen die Konzerte eine große jugendkulturelle Vielfalt auf.116 Als Jon Kristiansen 1988 eine Englandreise unternahm und ein Konzert von Carcass und Doom in London besuchte, fühlte er sich vor seinem norwegischen Hintergrund eingeschüchtert. Er kannte die Musik und ordnete sie für sich als Metal ein, hatte aber nicht mit einem solch »unmetallischen« Publikum gerechnet: Doom had quite a different audience than what a stupid metalhead like me was used to. I was scared by all those crust punks. I hadn’t really seen walls of spikes and mile-high mohawks before, and it was quite intimidating. I knew about bands like Discharge and Extreme Noise Terror, but only the music – I’d never experienced the scene. The venue was just a typical English pub, but filled with punk people like I’d only seen on TV, like big fat girls with bright purple mohawks. They were slam dancing violently, and I’d never seen that before, either.117 Dass in Kristiansens Sicht die musikalische Erwartung nicht der szenischen Erfahrung entsprach, ist ein deutliches Indiz für – regional wie national unterschiedlich ablaufende – Crossover-Prozesse, die Beobachtung, dass sich Mixturen von Metal und Punk stets im Fluss befanden und schließlich auch dafür, dass exklusive Fan-Zugehörigkeiten zu einzelnen Stil-Kategorien nicht jede regionale Szene gleichsam prägten. Populärmusikalische »Omnivoren«, die sich über ein möglichst breites Wissen über möglichst viele Stile distinguierten, waren die Akteure in Mittelengland jedoch nicht.118 Viel eher kann vermutet werden, dass die enorme Stilvielfalt bei gleichzeitiger großer räumlicher Vernetzung dazu führte, dass musikalische Kategorien innerhalb des Metal-Punk-Kontinuums ihre Aussagekraft verloren. Bei sehr geringen Eintrittspreisen, genre-übergreifend vernetzten Freundeskreisen und der Nutzung derselben Venues waren die sozialen Zugkräfte eher entscheidend als die Frage, ob eine Grindcore-, Crust Punk-oder Death Metal-Band spielte. In einem weiteren mittelenglischen »hot bed«, dem Mermaid
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Vgl. Anesiadis, Crossover the Edge, S. 321. Jon Kristiansen, Slayer 6 (1988). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 117. Vgl. Irmak Karademir Hazir/Alan Warde, The cultural omnivore thesis. Methodological aspects of the debate, in: Laurie Hanquinet/Michael Savage (Hg.), Routledge international handbook of the sociology of art and culture, London/New York 2016, S. 77–89. Ebenfalls in diesem Band die Kritik von Modesto Gayo, A critique of the omnivore, S. 104–115; Zuerst bei Richard A. Peterson, Understanding audience segmentation. From elite and mass to omnivore and univore, in: Poetics 21 (1992) 4, S. 243–258.
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Pub in Birmingham, nutzten dementsprechend Fans mit den unterschiedlichsten Frisuren, Kleidungsstilen und politischen Orientierungen die Konzerte von so verschiedenen Bands wie Napalm Death, English Dogs, Heresy, Doom, Concrete Sox oder Sacrilege dazu, genre-unabhängig »die Sau rauszulassen.«119
Abb. 40: Plakat für ein Konzert in Nottingham am 1. Oktober 1987.120
Quelle URL: https://hardcoreshowflyers.net/?p=30914 (letzter Aufruf 10.03.2022).
Gleichzeitig waren Musiker wie Mitch Harris, der ursprünglich aus Las Vegas stammte, erstaunt über die musikalische Vielfalt in den »rock clubs« von Birmingham und Nottingham, wo auf mehreren Etagen sowohl Metal und Hardcore als auch 119 Vgl. Anesiadis, Crossover the Edge, S. 325–335. 120 Mit D.R.I., Heresy, Holy Terror und Napalm Death spielten Bands unterschiedlicher Crossover-Stile – Die Amerikaner D.R.I. näher am Thrash Metal und der Skater-Punk-Bewegung, Holy Terror aus Los Angeles als Speed-/Thrash Metal-Band, Heresy und Napalm Death als frühe Vertreter des englischen Grindcores.
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Classic Rock und Glam gespielt wurden, aber alle Besucher miteinander auskamen.121 Die Erfahrungen von Kristiansen und Harris spiegeln wider, dass sie beide jeweils ihr eigenes Crossover-Verständnis mit nach England brachten und auf eine sozial akzeptierte Praxis des Crossovers trafen, die der empfundenen Trennung ihrer Heimatregion nicht entsprach. Auch in Mittelengland verloren »Punk« und »Metalhead« dabei nicht ihre individuelle Bedeutung für die Selbstbeschreibung und bestimmte Elemente wie die Politikhaltigkeit blieben ein Spaltpotential, wohl aber wurden Hürden in der jugendkulturellen Praxis Stück für Stück abgebaut.
Abb. 41: Sacrilege live in Leeds 1985.122
Quelle URL: https://punk.fandom.com/wiki/Sacrilege (letzter Aufruf 10.03.2022).
Was diese Entwicklung neben räumlichen und sozialen Faktoren generell begünstigte, waren Gemeinsamkeiten in Musik und Mentalität. Bereits frühe Thrash Metal121 122
Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 65. Die Band stellte in vielerlei Hinsicht ein englisches Crossover-Paradebeispiel dar: Mit einer Frontfrau Lynda »Tam« Simpson, die klar zu sehen im Punk verwurzelt war, einem Gitarristen wie Damian Thompson, der sich ästhetisch wie musikalisch eher dem Thrash Metal zuordnete und einer Musik, die durch das Riffing des Thrash Metals mit einem Punk-Sound und Simpsons Stimme keine Zuordnung mehr zuließ.
5. Die Crossover- Dekade
Musiker wie Thomas Such, Rat Skates oder John Connelly betonten die wichtigen Wurzeln ihrer Bands Sodom, Overkill und Nuclear Assault in der Geschwindigkeit, Energie und Härte der Punk-Musik sowie ihrer kompromisslosen Herangehensweise.123 Connelly wies überdies darauf hin, dass beide Seiten von einem aktiven und partizipierenden Publikum abhängig waren – reine »onlookers« gäbe es in keinem der Stile.124 Dass PunkBands Gefallen an Metal-Bands wie Slayer oder Metallica fanden, während Metal-Bands Discharge oder Black Flag entdeckten, hatte mit »Neugier«125 nach einer anderen Jugendkultur zu tun, in der man viele der eigenen musikalischen Vorlieben wiederfand und mit der man auch gemeinsame Räume teilte.126 Es handelte sich dabei erst einmal um eine »musical cross pollination«127 : Holy Moses inkorporieren beispielsweise in Aachen vor allem die musikalische »Punk-Attitude«, während sie sozial mit dem lokalen Punk-Bild des drogenabhängigen Gammlers nichts zu tun haben wollten,128 während English Dogs in Grantham in den East Midlands zur gleichen Zeit frühe Thrash-und Speed MetalEinflüsse inkorporierten – »without leaving the punk stuff behind.«129 Dieser Crossover profitierte mentalitätsgeschichtlich bzw. gegenkulturell von einer geteilten Erzählung einer vom Mainstream und der Gesellschaft verachteten Subkultur, die von den Akteuren beider Seiten als Verständigungsgrundlage später immer wieder ins Spiel gebracht wurde: John Connelly sprach von zwei Subkulturen, deren Träger »on the fringes of society«130 angesiedelt wären und Roger Miret (Agnostic Front) beschwor das Bild von marginalisierten Gruppen »out of step with society«131 , in denen sich das Gefühl des »you didn’t fit in« in einer gemeinsamen »fuck you«-Attitüde manifestiere. Mitch Harris (Napalm Death) beobachtete darüber hinaus, dass Metalheads um 1990 auch am »No Future!«-Narrativ der Punk-Bewegung partizipiert hätten und führte das Entstehen einer gemeinsamen Szene auf eine Situation zurück, in der »the future was a question mark.«132 Hinzu kam ein antikommerzielles Moment, das sowohl den Hardcore Punk von den kommerziellen Erfolgen der Sex Pistols, als auch die Death Metal-Bands von den Erfolgen des Glam Metals abgrenzte und zu einer gemeinsamen DIY-Anstren-
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Vgl. Rat Skates: »The punk drummers just played, they didn’t have too much of a refined technique, but their power, and the speed they played at and the attitude was so reckless it was great, and it really inspired us.« Chris Forbes, Interview with Rat Skates, in: Metal Core Fanzine, URL: w ww.metalcorefanzine.com/ (letzter Aufruf 11.03.2022); John Connelly in: Anesiadis, Crossover the Edge, S. 90; Vgl. Interview Thomas Such, 11.07-12.53 Min. 124 Anediadis, Crossover the Edge, S. 90. 125 Damien Thompson, in: ebd., S. 330. 126 Jeff Walker, in: ebd., S. 58f. 127 Jon Pickering von der Crust Punk-Band Doom aus Birmingham, in: ebd., S. 450. 128 Vgl. Interview Sabina Classen, 48.13-49.37 Min. 129 Adrian Bailey von der Band English Dogs aus Grantham, in: Anesiadis, Crossover the Edge, S. 323. 130 Anesiadis, Crossover the Edge, S. 90. 131 Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 267. 132 Mitch Harris, in: Pratt, That Tour Was Awesome; Zur diesbezüglichen Schnittmenge mit dem Punk vgl. Worley, No Future, S. 4–15. Zum Wandel des Zukunftsdenkens »nach dem Boom« grundsätzlich: Fernando Esposito, Von No Future bis Posthistoire. Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom, in: Doering-Manteuffel/Raphael/Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart, S. 393–423.
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gung zwang.133 Mit der Transgression des Extreme Metals, die größtenteils außerhalb des Radars der Major Labels ablief, entwickelte die Metal-Kultur daher eine Schnittstelle mit dem Hardcore Punk, die sowohl methodisch als auch im antikommerziellen Selbstverständnis über die musikalischen Gemeinsamkeiten hinausging und in dieser Form während der NWOBHM noch nicht vorhanden gewesen war. Jörgen Thullberg beobachtete diese stärker werdende Schnittmenge mit den Punks in Stockholm: Everybody had a very developed ›do it yourself‹ attitude at that time. We made our own fanzine, we recorded and released our own demos and singles. No one else was going to do it for us. Almost everyone in the scene in Stockholm was inspired by the Punk scene. The Punk bands we knew pressed their own singles and also distributed and sold them by themselves. We also played our first gigs in houses that were squatted by Punks.134 Beide – Extreme Metal wie Hardcore Punk – charakterisierte nun die Verteidigung gegen etwas, was Paul Stanley, Gitarrist der Band KISS, vor dem Hintergrund der ersten Punk-Welle ausschließlich für den Punk reserviert hatte, nämlich das eingebaute kommerzielle Verfallsdatum, das mit dem Erfolg automatisch kommen müsse: Punk has a built-in obsolescence in the fact that you’re singing about being a havenot. Then success makes you a have, and the idea of being angry because you’re poor is buried very quickly when your record sells. The idea is great, and the anger and emotion is great, but ultimately you have to move on, and the music’s going to have to do the talking.135 »Anger and emotion« konnten aufgrund des »Desinteresses« der Major Labels und des DIY nun in Dauerschleife laufen und schufen ein gemeinsames Narrativ der beiden Szenen, weil keiner dem anderen (bis auf wenige Ausnahmen) begründet den Sell-out vorwerfen konnte.136 In solch enger Weise verbunden, wurden in den 1980er Jahren zwischen Metal-und Hardcore-Bands auch gemeinsame Tourneen anberaumt, die oft auf gemeinsame Label zurückzuführen waren. Motörhead und später Venom waren dabei die ersten Beispiele und um 1992 hatten sich Tourneen eingespielt, die auch zwischen den Fans beider Lager leidlich funktionierten.137 Dass es in der Zwischenzeit bei Crossover-Tourneen, etwa 133
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Katon de Pena: »What was different about the crossover bands and a lot of the metal bands was that they really did do it DIY. They were booking their own tours, surviving on the road, selling their own merchandise, screening their own T-shirts, pressing their own vinyl. Those bands taught a lot of other bands how to run their own business.« Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 281; Vgl. Richard Button (Concrete Sox), in: Anesiadis, Crossover the Edge, S. 333. Steven Willems, Treblinka. Interview mit Jörgen Thullberg, in: Voices From The Dark Side Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/treblinka/ (letzter Aufruf 11.03.2022). Christe, Sound of the Beast, S. 29. Vgl. Worley, No Future, S. 4–15. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 293f.; Vgl. John Tardy zur Tour von Obituary mit Agnostic Front: »I think it was groundbreaking, whether we knew it or not, because those types of fans normally, they’d get along, but they just didn’t probably think they would get along. But that
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von Helloween mit Cro-Mags, von Anthrax mit Biohazard oder von Megadeth und Cro-Mags, sogar zu handfesten Problemen zwischen den Musikern gekommen war, hatte jedoch nur vordergründig etwas mit der Typenfrage zu tun.138 Die Auseinandersetzungen verdeutlichen vielmehr den zentralen Zusatz zu den bisher als relativ reibungslos beschriebenen Verbindungen von Metal und Punk: Denn zwischen den Musikern und vor allem zwischen den Fans spielte sich ein konfrontativer und oft gewalttätiger Lernprozess ab, der sich um die Aspekte der Respektabilität, Gewalt, Politik und um Geschlechterrollen entwickelte. Der spezifische Ort dieses Lernprozesses war das Konzert.
5.3 Konzert, Respekt, Körper, Gewalt Das Publikumsverhalten bei Metal-Konzerten änderte sich mit dem Einzug der SubGenres Thrash und Death Metal und ihrer sozialen Schnittmenge mit dem Hardcore Punk während der 1980er Jahre erheblich. Deena Weinstein beschrieb die Konzertatmosphäre der 1970er Jahre noch in einer Form, die als habituelle Verlängerung der Shows in den Pubs und Working Men’s Clubs erscheint: Ein Kontakt zwischen den Fans und den Bands sei nicht vorgesehen gewesen, körperliche Praktiken beschränkten sich auf Head-oder Fistbangen und als wichtigste soziale Regel habe das »Do Not Touch!« gegolten – für Körperkontakt galt es, sich zu entschuldigen.139 Die bereits beschriebenen Verläufe von Konzerten auf dem »club circuit« bestätigen diesen Eindruck im britischen Fall: Das Publikum saß hier mehrheitlich und betrachtete die Show als Hintergrundunterhaltung für den eigentlichen Zweck des Abends, nämlich des gemeinsamen Alkoholkonsums bzw. des Bingos.140 Die Bands hatten sich in diesen Etablissements den Regeln einer Institution anzupassen, deren Existenzzweck gar nichts mit Musik zu tun hatte und dies bedeutete – in den Worten Neal Kays – »to identify yourself as one of the audience was the name of the game.«141 Körperkontakt innerhalb des Publikums, generell starke Körperbewegung und der exzessive Ausdruck des eigenen Empfindens gehörten in dieser respektablen Atmosphäre distanzierter Männlichkeit nicht zu einem Abend mit Metal-Musik. Mit dem Wandel hin zu jüngerem Publikum während der »rock nights« in den Working Men’s Clubs, den Colleges und erst recht bei größeren Shows im Rahmen von Tourneen begann diese unsichtbare Fassade jedoch zu bröckeln. Bereits während der NWOBHM existierten Konzerte, bei denen Fans die Bühne betraten oder Musiker »die Seiten wechselten«. John Gallagher beschrieb, dass nach einigen Jahren auch in den Working Men’s Clubs geheadbangt wurde142 und in einem Konzertbericht im The Mercury hieß es 1980 über ein Konzert von Girlschool im Birmingham Odeon: tour definitely proved that the hardcore kids and the real death metal fans can actually coexist in a venue together without there being fights or anything and actually enjoy each band as they were on stage.« Pratt, That Tour Was Awesome. 138 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 293f. 139 Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 199, 200, 208, 211, 218f., 229, 230. 140 Vgl. Halford, Confess, S. 57. 141 Popoff, This Means War, S. 37. 142 Vgl. Interview John Gallagher, Z. 12–13.
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One of the highlights of the evening was when the lead guitarist got dragged into the crowd and a couple of guys got onto the stage. The roadies ran on and booted these two off, and pushed the girl back to the stage. She was badly shaken, but continued to play.143 Ob der Rezensent diesen Vorfall auch als »highlight« bezeichnet hätte, wenn ein männlicher Musiker ins Publikum gezogen worden wäre, sei dahingestellt – was hier im Zusammenhang zählt ist die langsame Entwicklung stärker körperlich transgressiver Praktiken bei Metal-Konzerten. Ein Indiz für diesen Wandel sind die Beschreibungen des Publikumsverhaltens und der Veränderung des Interieurs von Konzerträumen: Biff Byford erinnerte sich unter anderem an die Versuche des Veranstalters bei einigen Saxon-Konzerten, das Publikum zum Sitzenbleiben zu bewegen, während er es unentwegt antrieb und wenigstens zum Aufstehen bewegen wollte.144 Judas Priest hatten seit 1984 für lange Zeit Hausverbot im New Yorker Madison Square Garden, nachdem bei einem Konzert der Band fast die gesamte Bestuhlung zerstört worden war.145 Generell brach sich in den frühen 1980er Jahren der Versuch einer Aktivierung des Publikums bahn, den die Bands sowohl durch Aufforderungen als auch durch Showelemente forcierten: Venom, die besonders bekannt waren für den exzessiven und zunächst auch sicherheitstechnisch bedenklichen Einsatz von Pyrotechnik, setzten dadurch 1983 im Paramount Theatre von Staten Island nicht nur die Vorhänge in Brand, sondern verursachten auch das Abbröckeln der Decke, die dann teilweise ins Publikum stürzte.146 Auch wenn Venom ein Extrembeispiel sind, wurde durch den Wandel des technischen wie körperlichen Show-Aspekts im Laufe der 1980er Jahre irgendwann auch dem letzten Veranstalter klar, dass Bestuhlung, Vorhänge und wertvolles Interieur in einer Spielstätte für Metal-Konzerte schlecht aufgehoben waren.147 Weder passten diese zur selbstgewählten gesellschaftlichen Einordnung des Genres, noch konnte für ihre Sicherheit garantiert werden. Je stärker die Entwicklung der Extreme Metal-Stile voranschritt, desto häufiger spielten Bands nun in einem puristischen Ambiente, wie es heute die allermeisten Spielstätten auszeichnet. Wenn Booker für diesen Umstand kein Gespür entwickelten und beispielsweise eine Band wie Suffocation auf ihrer ersten Tour 1993 für die teilbestuhle Patriotic Music Hall in Los Angeles buchten, waren Probleme vorprogrammiert: Die Fans zerstörten die ersten Sitzreihen, »were climbing on the PA and diving, just killing each other, banging into us on the stage, and just not giving a fuck.«148 Der Veranstalter ließ die Band im Anschluss festsetzen, rief die Polizei und verlangte einen umgehenden
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Tim Humphries, Entertainment… with a bang!, in: The Mercury, 13.06.1980, S. 12. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 98f. Vgl. Halford, Confess, S. 175f. Vgl. Chris Forbes, Interview with Ray Dorsey, in: Metal Core Fanzine, URL: www.metalcorefanzin e.com/ (letzter Aufruf 11.03.2022). 147 Die Metal Music Studies haben sich der historischen Entwicklung der Performance und deren sozialer Qualität kaum angenommen. Die beste Darstellung des Wandels der frühen 1980er Jahre stammt immer noch von Deena Weinstein, die das Eindringen neuer körperlicher Praktiken beschreibt. Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 228–231. Vgl. zur Rezeption in der DDR: Nikolai Okunew, Red Metal. Die Heavy-Metal-Subkultur der DDR, Berlin 2021, S. 74–78, 199–203. 148 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 326.
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Schadensersatz. Doug Cerrito, Gitarrist der Band, resümierte das Publikumsverhalten dennoch mit »That was the best experience for me.«149 Für die Transgression, die sich bereits in diesen wenigen Beispielen abzeichnet, war die gemeinsame regionale Praxis von Metalheads mit der Punk-Kultur ausschlaggebend. Der Anteil des Heavy Metals an dieser Mischung waren das Headbangen und das Fistbangen, beide mit unterschiedlichen regionalen Schwerpunkten. Ron Quintana beobachtete bei Heavy Rock-Konzerten in Kalifornien in den späten 1970er Jahren fast ausschließlich die »raised fist«, während er bei Konzerten in England und den Niederlanden bemerkte, dass die Fans nur zwischen den Songs auf die Musiker schauten – während der Songs widmete man sich dem Headbangen.150 Zeitgleich entwickelte sich in Kalifornien und New York der Pogo als typische Tanzform der Punk-Szene zum Slamdancing weiter. Das »up and down« und der eher harmlose Körperkontakt des Pogo wichen härteren Formen des Aufeinanderprallens, die oft in Circle Pits organisiert wurden und zu denen sich das Stagediving gesellte.151 In den frühen 1980er Jahren und ausgehend von den sich stärker beobachtenden Szenen der Hardcore Punks und Metalheads in Kalifornien und New York vermischten sich beide Einflüsse zusehends und brachten das Moshing hervor, bei dem sich exzessives Headbangen mit dem Slamdancing, den Mosh Pits, Circle Pits und dem Stagediving verbanden.152 Es ist dabei wichtig, dass es sich keinesfalls um trennscharfe Begriffe handelte, in unterschiedlichen Szenen und durch verschiedene Akteure auch differierende Bezeichnungen vorhanden waren und ältere Praktiken situativ durchaus weiterbestanden. Die Bandbreite möglicher Stile erweiterte sich in diesen Jahren enorm, aber nicht jeder partizipierte an jeder dieser Formen. Darüber hinaus diffundierten manche Praktiken wie etwa das Gobbing, also das Bespucken der Musiker, das in der frühen Punk-Welle durchaus geläufig war, nie in irgendeinen Teil der Metal-Kultur,153 während durch den Widerstand der Musiker Praktiken wie das Stagediving auch nicht bei allen Metal-Konzerten Einzug hielten. Das Niederreißen der Grenze zwischen Künstler und Publikum traf bei jenen Musikern, die stärker an einem Rock-Musiker-Bild der 1970er Jahre festhielten, auf Unverständnis. Bereits John Gallagher lehnte Stagediving um 1980 für Konzerte von Raven ab und merkte an: »I’ve spent the better part of seven or eight years of my life working on my trade, so when I’m up here I own it.«154 Gleiches galt für Glen Benton, der bei Konzerten seiner Band Deicide sogar auf »Springer« losging.155 Auf Seiten des Publikums kam für Ron Quintana, der etwas Höhenangst hatte, Stagediving dagegen aus anderen Gründen nicht in Frage und er gehörte eher zu den 149 Ebd. 150 Vgl. Waksman, This Ain’t The Summer of Love, S. 279f. 151 Vgl. William Tsitsos, Rules of Rebellion. Slamdancing, moshing and the American alternative scene, in: Andy Bennett/Barry Shank/Jason Toynbee (Hg.), The popular music studies reader, London 2006, S. 121–127. 152 Vgl. Forbes, City Gardens. Interview with Amy Wuelfing, in: Metal Core Fanzine; Vgl. Lull, Thrashing in the Pit. 153 Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 60. 154 John Gallagher, in: ebd., S. 81. 155 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 477f.
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Headbangern. Seinen einzigen Knockout erlebte er als der Sänger der schwedischen Band Candlemass, weit über 100 Kilogramm schwer, einen Stagedive vollführte und er beim Headbangen zu spät nach oben schaute.156 Dan Lilker war dagegen zeitgleich in New York ein passionierter Stagediver – mit seiner Körpergröße »like a plane taking off«157 – moshte jedoch kaum und beschreibt unter anderem die Probleme, die ein Moshpit im CBGBs hervorrufen konnte, wenn bei Harndrang die Toiletten hinter der Bühne lagen. Es galt dann, im richtigen Moment durch die rotierende »Waschmaschine« moshender Hardcore Punks zu kommen.158 Seiner Meinung nach moshten die Fans in New York darüber hinaus eher zu den langsamen Teilen der Songs von Bands wie Agnostic Front oder Murphy’s Law, während Moshing an der Westküste eher die schnelleren Bands und Songs von Bands wie D.R.I. oder Exodus betraf.159 Unter den Metal-Bands gehörten Exodus in San Francisco und Anthrax in New York zu den ersten, bei deren Konzerten sich diese neuen Mischungen in der Praxis artikulierten. Unabhängig von der Frage, welche Metal-Band nun die ersten moshenden Fans hatte (Scott Ian beanspruchte dies für Anthrax bereits 1987160 ), handelte es sich um eine genuin amerikanische Neuerung, die sich von den Szenen der Ost-und Westküste aus langsam auch in die Metal-Szenen Europas ausbreitete, für die amerikanischen Musiker aber in der Heimat auch um 1990 noch stärker zu beobachten war als östlich des Atlantiks.161 Für Ron Quintana standen die Etablierung der Metal-Szene in Kalifornien und die körperlichen Praktiken sogar in einem Kausalzusammenhang: Mit dem Einzug des Slamdancings in den Hardcore Punk ergaben sich neue Schnittmengen mit der zeitgleich entstehenden Thrash Metal-Musik und dem auch dort existenten Wunsch, über die etablierten Headbanging-und Fistbanging-Praktiken hinauszugehen.162 Besonders über Mitglieder des »Slay Teams« der Band Exodus, die – wie Toby »Rage« Staniford oder Andy Anderson – selbst aus der Punk-Szene kamen, beschleunigte sich der Wandel zum Stagediving, Headwalking, Crowdsurfing und zu generell viel intensiveren Kontaktformen zwischen den Fans.163 Da jedoch viele Bewegungselemente dezidiert aus dem Punk kamen und für Metalheads ungewohnt waren, handelte es sich auch hier um schrittweise Lern-und Anpassungsprozesse. Gene Hoglan, der Drummer von Dark Angel aus Los Angeles, beschrieb seine erste Erfahrung mit einem Moshpit als Aufeinandertreffen der Körperkultur des Punks mit dem »Do Not Touch!« der Metal-Konzerte. Im Rahmen eines Slayer-Konzerts im Jahr 1984 kam es dabei zu Konflikten:
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Vgl. Forbes, Ron Quintana, in: Metal Core Fanzine. Interview Dan Lilker, 27.19 Min. Vgl. ebd., 25.24-26.20 Min. Vgl. ebd., 26.39-27.15 Min. Scott Ian: »We were really the first metal band in New York to have it. All of a sudden everybody knows this word ›mosh‹ out of nowhere. ›Mosh‹ came from New York, it’s from CBGB’s. Vinnie Stigma from AGNOSTIC FRONT made that word up years ago.« Bill Steer, Phoenix Militia Fanzine (1987). Vgl. Kyle Severn, in: Purcell, Death Metal Music, S. 33; Vgl. Ian, in: Steer, Phoenix Militia Fanzine (1987). Vgl. Waksman, This Ain’t The Summer of Love, S. 279f. Vgl. Oimoen/Lew, Murder In The Front Row, S. 32.
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I can tell you the first song where a stage dive and a pit broke out. That was during »Necrophiliac«, I think they were playing somewhere in South Gate, or maybe Pomona. […] A dude jumps on stage, dives off, starts a little pit, and the crowd didn’t know what to do. The crowd was really shocked, like »What is this guy doing?« And people wanted to beat him up for bumping into them.164 Die Gewalt, die hier offenbar einem Fan angedroht wurde, der sich nicht an die informellen Verhaltensregeln bei einem Metal-Konzert hielt und die individuellen Grenzen der Anderen überschritt, dürfte in ähnlicher Weise vielen widerfahren sein, die bei anderen Shows einen ersten Stagedive oder ersten Moshpit initiierten. Für Gene Hoglan handelte es sich um einen durchweg positiv besetzten Erinnerungsort, der sinnbildlich für den Wandel des Publikumsverhaltens stand – es ist jedoch damit zu rechnen, dass viele Metal-Fans anders empfanden. Grundsätzlich hatte bei dem Einzug neuer Körperlichkeit bei den Konzerten deshalb jeder die Wahl: Fotos zeigen durchweg einen großen Teil des Publikums, der die Musik weiterhin stehend und headbangend verfolgte, während sich vor allem direkt vor der Bühne nun andere Praktiken durchsetzten, die bei Hardcore Punk-Konzerten bereits etabliert waren. Die Äußerungen einiger Akteure aus der Hardcore Punk-Szene legen aber nahe, dass dabei keine einfache Übernahme stattfand, sondern Metalheads die Praktiken bei PunkShows vor dem Metal-Hintergrund eher interpretierten: Besonders in der Übergangszeit existierten individuelle Grenzziehungen und die Atmosphäre gegenseitiger Distanz weiter, sodass Moshing und Stagediving nun teilweise das kollektive Potential vermissen ließen, das sie in der Punk-Kultur ausmachte. Für Dan Lilker verstanden die Metalheads beispielsweise nicht, dass das Stagediving einer »revolving door« gleichen sollte: Man kletterte auf die Bühne und sprang wieder zurück ins Publikum, wodurch ein Kreisel von Springern entstand. Einige Metalheads im CBGBs verließen die Bühne jedoch nicht mehr und gingen eher von einer individuellen Praktik aus.165 Laut John Joseph (Cro-Mags) mangelte es den Metalheads bei Crossover-Konzerten dagegen besonders am Verständnis für die Funktion eines Moshpits: Für Joseph ging es um eine »art form«, die auf den ersten Blick brutal wirkte, tatsächlich aber einer »civilized anarchy« (Scott Ian) glich und in der Körperkontakt nicht feindselig zu verstehen war. Man lotete in einer kollektiven Praktik aus, wie weit das Individuum körperlich zu gehen bereit war – es ging nicht darum zu klären, wer der Stärkere war.166 Metalheads – so Joseph – wussten zunächst nichts damit anzufangen, dass ein Moshpit eine Art zu feiern darstellte und wurden etwa im CBGBs von akzeptierten Szenegrößen wie Jimmy Gestapo wegen überzogen brutalen Moshings zur Räson gebracht.167 Auch Eric McIntire beobachtete in San Francisco, dass die Verhaltensweisen bei den frühen Thrash Metal-Konzerten durchweg brutaler ausfielen als zeitgleich im Hardcore Punk – die Adaption der »crowd action« fand vor dem Hintergrund der Männlichkeitsvorstellungen des Metals statt, beteiligte deshalb zunächst auch keine Frauen und war anscheinend häufiger gegeneinander gerichtet.168 Die zugrun164 165 166 167 168
Gene Hoglan, in: Ferris, Slayer 66 2/3, S. 51. Interview Dan Lilker, 28.34 Min. John Joseph, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 274. Vgl. Rettman/Cricien, NYHC, S. 209. Vgl. Interview Eric McIntire, Z. 4–7.
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deliegende soziale Logik des gewaltsamen Miteinanders fand erst langsam Einzug in die Extreme Metal-Sub-Genres. Das »level of danger«, das beispielsweise John Saltz (Lethal Aggression) den CrossoverShows in New Jersey attestierte,169 sollte dennoch keinesfalls dazu verleiten, das Verhalten des Publikums als völlig regellos zu interpretieren. Fallende wurden in der Regel geschützt, Fotografen sowie die »zine guys« (so im CBGBs) nicht in die Körperlichkeit einbezogen170 und tendenziell immer häufiger der individuellste Weg der Vergemeinschaftung gesucht.171 Ausgehend von Clubs wie CBGBs, Ruthie’s Inn oder City Gardens, wo sowohl Metal-als auch Hardcore Punk-Bands spielten und sogar an denselben Abenden auftraten, diffundierte dieses Narrativ eines geregelten Chaos auch in das Publikum von MetalKonzerten172 – zunächst bei den Thrash Metal-Bands wie Exodus, Dark Angel, Nuclear Assault oder Death Angel, später auch bei den Death Metal-Bands. Trotz dieser Lernprozesse und der Existenz ungeschriebener Gesetze gestaltete sich der Grat zwischen einer Individualität mit den Anderen und einer Individualität auf Kosten der Anderen in der mehrjährigen Übergangsphase ab Mitte der 1980er Jahre ausgesprochen schmal: Bei einem Napalm Death-Konzert im Mermaid Pub in Birmingham existierte »no concern for health or safety issues«173 , wenn mehrere Moshpits im City Gardens gleichzeitig ausbrachen, richtete sich das Verhalten sicherlich nicht nach Szene-Konventionen, sondern war eine Folge des Augenblicks174 und es bildeten sich auch stets Praktiken Einzelner heraus, die von vornherein nicht das Wohlergehen des Gegenübers intendierten (beispielsweise das Moshing im »kung fu«-Stil ab etwa 1990 in New Jersey175 ). Dies schreckte viele Fans nicht ab: Für Sherwood Webber, Sänger der Band Skinless aus Glenns Falls, N.Y., waren die Konzerte in den frühen 1990er Jahren »notoriously violent, but not in a bad way, and kids would come out bleeding or missing teeth, but the vibe was there.«176 Blut, Schrammen und Brüche waren dabei kein Hinderungsgrund, sondern Trophäen und auch in Birmingham wurde es nicht als Vorfall interpretiert, wenn Napalm Death ein Konzert aufgrund kampfähnlicher Szenen im Publikum unterbrechen mussten. Die Fans kamen auch nach einem »bloodbath« beim nächsten Mal selbstverständlich wieder.177 Blutige Szenen spielten sich Mitte der 1980er Jahre auch bei den Konzerten von Exodus in San Francisco ab: Laut Lee Althus (Heathen/später Exodus) lief dabei jeder blutig herum, hatte aber dennoch Spaß.178 Die Band nutzte die sich darum bald entspinnende Aura in der Folge auch kräftig für die
169 Chris Forbes, Lethal Aggression. Interview with John Saltz, in: Metal Core Fanzine, URL: www.me talcorefanzine.com/ (letzter Aufruf 11.03.2022). 170 Vgl. Forbes, Jersey Beat. Interview with Jim Testa, in: Metal Core Fanzine. 171 Vgl. Gabrielle Riches, Embracing the chaos. Mosh pits, extreme metal music and liminality, in: Journal for Cultural Research 15 (2011) 3, S. 315–332, hier S. 317. 172 Vgl. mehrere Aussagen von Steve Lodovico und Amy Wuelfing, in: Forbes, City Gardens, in: Metal Core Fanzine. 173 Nicholas Barker, in: Netherton, Extremity Retained, S. 76. 174 Steve Lodovico, in: Forbes, City Gardens. 175 Dave Witte, in: Netherton, Extremity Retained, S. 123f. 176 Sherwood Webber, in: ebd., S. 207. 177 Justin Broadrick, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 491. 178 Lee Althus, in: Forbes, Heathen. Interview with Lee Althus, in: Metal Core Fanzine.
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Pflege des eigenen Images: Mit Songs wie »A Lesson in Violence« oder »Toxic Waltz«, der Kontrollfunktion des »Slay Teams« und unentwegten Interview-Verweisen betrieben vor allem Gary Holt und Paul Baloff eine erfolgreiche Selbststilisierung: Our entire image from the day the band became mine and Paul’s was based on violence, and the crowd lived up to the musical imagery. At Ruthie’s, there was a lot of blood. We had members of our inner circle that were referred to as the Slay Team, and they were legendary for the amount of destruction they would commit at a show. If someone pissed the band off, they would just start beating them in front of everybody. […] We all got into the violence thing as well. […] I guess we kind of encouraged violence.179 Was Gary Holt hier als die Instrumentalisierung von körperlicher Gewalt für die musikkulturelle Distinktion andeutet, spielte als Verhandlungsmethode eine große Rolle in der Konfrontation von Metalheads und Hardcore Punks. Die offensichtliche Annäherung der Musiker und das Anwachsen der Kontaktzonen wurden vor allem seitens der Punks (weniger seitens der Metalheads) diskutiert, wobei sich die Angst vor der Infiltration durch die als unpolitisch und kommerziell verstandenen Metalheads und deren äußerer Merkmale in der Konzertsituation als Kampf um Respekt niederschlug. Die einfache Ablehnung einer Metal-Band oder ihrer Fans durch Nichtbeachtung180 oder die ostentative Umdeutung körperlicher Merkmale waren dabei noch harmlos.181 Laut Paul Halmshaw zogen sich die Gräben in Mittelengland vielmehr durch ganze Freundeskreise zwischen solchen, »to them it was absolute, no crossover«182 , und solchen, für die starre SzeneGrenzen eine geringere Rolle spielten – wodurch nicht nur Gewalt zwischen Punks und Metalheads, sondern auch Brüche innerhalb der Punk-Szene entstanden. D.R.I. spürten dies in San Francisco beispielsweise an den »fights, usually punks with metalheads«, aber auch daran, dass einige Punks zum Boykott der crossover-affinen Band aufriefen und deren Plakate entfernten.183 Gary Meskil (Pro-Pain) empfand zeitgleich in New York eine Form der jugendkulturellen Grenzkontrolle: Hardcore Punks beschuldigten die Metalheads eines unbefugten Eindringens in die enge Hardcore-Community, wodurch »some friction, an occasional altercation« bei den Konzerten entstanden seien.184 Andersherum
179 Gary Holt, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 241f. 180 Mike Usifer: »We usually always got a good reaction, with the exception of the first time we played CBGB’s in ’87 with PMS (all girl band) and Dirge (who got signed that night before any of us left the club). We were put right in the middle of 2 other openers who were hardcore, and with the exception of about 5 or 6 metalheads that were there for us, the hardcore crowd just stood there with their arms folded during our entire set. That was definitely NOT the reaction we were hoping for ha ha!« Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer, in: Metal Core Fanzine. 181 Laut Richard Button (Concrete Sox) wollten Crust Punks gerne lange Haare, aber nicht als Metalheads erscheinen – die Folge war ein Ausbleiben des Haarewaschens bei den »Crusties.« Vgl. Anesiadis, Crossover the Edge, S. 333. 182 Paul Halmshaw zur Lage in Mittelengland: »It was an uncomfortable time and saw many previously harmonious friendships suffer under the pressure put on them by others to conform to one or the other.« Halmshaw, Peaceville Life, S. 59. 183 Felix Griffin, in: Anesiadis, Crossover the Edge, S. 144. 184 Gary Meskil, in: ebd., S. 32f.
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suchten, so Rob Yench, aber auch Straight Edge Punks im L’Amour Streit mit Metalheads und legten überzogene körperliche Praktiken an den Tag. Er hielt es bei einigen Konzerten sogar für besser, die langen Haare unter einem Basecap zu verstecken.185 Im Rahmen der sozialen Vermengung zweier Szenen spielten diese Haare eine wichtige Rolle und wurden zum regelrechten Lackmustest für die Authentizität: Wer, wie etwa Dan Lilker, die langen Haare behielt, den Respekt der Hardcore-Community aber dennoch gewann, wurde auch als Metalhead in der Szene anerkannt, während Metalheads, die sich nach Abgrenzungserfahrungen kurzerhand die Haare abrasierten, um bei den Hardcore Punks akzeptiert zu werden, nur umso deutlicher ausgegrenzt wurden.186 Die »weak ass metal dudes shaving their heads to fit in at hard core shows«187 konnten derart zum Feindbild stilisiert werden, weil es sich einerseits um ein Verhalten handelte, dass andersherum nicht möglich war (also keine Gegenkontrolle stattfinden konnte), und weil es andererseits durch Bands wie Anthrax oder S.O.D. zu einer brennenden Frage in der Hardcore-Szene wurde, ob Metalheads lediglich »auf Punk machten« oder tatsächlich der »Punk-Attitude« entsprachen. Auch dabei zeigten sich wieder die partiellen Deutungsunterschiede zwischen Musikern und Fans: Während Kirk Hammett (Metallica) beispielsweise bei einem Konzert der Crumbsuckers im CBGBs von der Band auf die Bühne geholt wurde, wurde er aus dem Publikum bespuckt und mit dem ultimativen Vorwurf der Hardcore-Szene – als »rock star« – betitelt.188 Der Gitarrist wehrte sich, indem er Zwischenrufer sogar mit seinem Instrument schlug.189 Bei Scott Ian (Anthrax) artikulierte sich der Widerstand noch wesentlich zäher und drastischer: Die Band S.O.D., an der er unter anderem mit Lilker und Milano beteiligt war, stieg im New York Hardcore und auch in der englischen Szene zur meistgehassten Band auf, weil sie sich – so der Vorwurf – mit ihrem humorvoll zu verstehenden Album »Speak English or Die« (1985) nicht nur als Metal-Band musikalisch beim Hardcore bediente, sondern weil Musiker der Concrete Sox, von Sore Throat oder Naftia die Texte des Albums wörtlich nahmen und ein politisches Tabu erkannten. Ob die Lyrics »tongue-in-cheek«-Humor oder tatsächlich rassistisch und sexistisch waren, spaltete die Szenen und als Ians Metal-Band Anthrax 1986 auch noch das Logo des New York Hardcores in das Logo der eigenen Band einbaute und vom Tod des NYHC sprach, ging sein Verhalten für einige Hardcore-Fans zu weit:190 Ian und einige seiner Bandkollegen bekamen Probleme. Der Musiker erhielt Drohungen, die er auf radikalisierte Überläufer aus der Metal-Szene zurückführte, die sich beweisen wollten und bat einen »elder statesman« der NYHC-Szene, Jimmy Gestapo, um Vermittlung. Dieser bekundete bei einem Konzert im CBGBs öffentlich Ians »Unschuld« und die Drohungen endeten umgehend.191 185 Vgl. Interview Rob Yench, 16.55 Min. 186 Vgl. Interview Dan Lilker 24.50-25.20 Min. Zur Bedeutung eines Frisurenwechsels in der Geschichte früherer Jugendkulturen vgl. Mrozek, Jugend, Pop, Kultur, S. 686–693. 187 Chris Fesette, in: Forbes, Oblivion, in: Metal Core Fanzine. 188 Barney Greenway zur Frage, ob Napalm Death Rock-Stars seien: »We don’t like to be treated as god’s – we are no different to others but to be called rockstars is a big insult to us and very untrue.« Frank Stöver, Voices From The Dark Side 1 (1992), in: ders. (Hg.), Voices, S. 7. 189 Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 179. 190 Vgl. Anesiadis, Crossover the Edge, S. 46, 48. 191 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 134f.
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Auch wenn die Akteure dies wahrscheinlich niemals zugegeben hätten, wies die Hardcore Punk-Szene also durchaus hierarchische Strukturen auf, die auf anerkannte Respektspersonen unter den Musikern zugeschnitten waren. Diese boten eine Orientierungsfunktion für die Fans und bestimmten maßgeblich darüber, was sozial erlaubt war und was nicht. Heftiger Widerstand gegenüber Metalheads konnte sich durch ihr Verhalten sowohl entzünden als auch spontan abmildern. Ian »Lemmy« Kilmister (Motörhead) beschrieb einen solchen Vorfall bereits während der frühen Punk-Welle in London: Um sich ein Bild von der Punk-Bewegung zu machen besuchte er das Roxy, wo ihn die Besucher »with entire suspicion« betrachteten und als offensichtlich langhaarigen Heavy Rocker ablehnten. Als ihn jedoch Johnny Rotten (The Sex Pistols) ansprach und bekundete, dass er Kilmisters Ex-Band Hawkwind mochte, war dem Widerstand sofort die Grundlage entzogen (»So, I was cool then, see.«).192 Überdies karikierte Kilmister die Widersprüchlichkeit der sozialen Abgrenzung sehr geschickt, indem er betonte, dass Motörhead durchaus eine »punk audience« besaßen, diese jedoch daraus resultierte, dass die Punks die Band stets zuerst hörten: »So, they liked the music, and then they saw we had long hair, but it was too late, because they liked the music.«193 Die Beziehungen zwischen Metalheads und Punks waren also von Beginn an in ein kompliziertes und widersprüchliches Geflecht aus musikalischen Gemeinsamkeiten, ästhetischen Gegensätzen und gesellschaftspolitischen Zielstellungen eingebettet, in dem es durch die wachsenden räumlichen Kontaktzonen schwierig werden konnte, sich zu positionieren: Einerseits wurden die Gemeinsamkeiten, andererseits aber auch die Gegensätze offensichtlicher und manifestierten sich in einem Nebeneinander von Kooperation und Konfrontation. Freunde unter den Szene-Größen zu haben, konnte dabei enorm von Vorteil sein: Dan Lilker, der bei Anthrax entlassen worden war und mit seiner neuen Band Nuclear Assault bereits ein erstes Demo veröffentlicht hatte, machte sich vor seinem ersten Besuch im CBGBs durchaus Gedanken über mögliche gewalttätige Reaktionen auf ihn als »longhair«. Auf beiden Seiten existierten – so seine Einschätzung – viele »cynical people«, die die Unsicherheit über die gegenseitigen Abgrenzungen im Crossover dadurch kaschierten, dass sie möglichst puristisch und exklusiv auftraten. Auch hatten Metalheads, die zur nächsten »Hardcore Matinee« plötzlich mit rasiertem Schädel erschienen, Metal-Bands, die das Publikum mit »come on all you punkers« animieren wollten, oder (später) der Konflikt um S.O.D. nicht dazu beigetragen, solche Befürchtungen zu reduzieren.194 Er erlebte jedoch das exakte Gegenteil: Anwesende Skinheads erkannten ihn und lobten das Demo von Nuclear Assault, luden ihn zu Bier und Gras ein und man erwies sich »mutual respect.« Dan Lilker und sein BandKollege John Connelly empfanden dabei, dass ihre Band nicht als Metal-Band, sondern als »Danny and John’s band« wahrgenommen wurde, die überdies bald mit anerkannten Bands wie Corrosion of Conformity oder Crumbsuckers im CBGBs auftrat.195 Die anderswo starren Abgrenzungen schwanden dabei rasch, weil ein regionaler Bekanntheitsgrad in die Waagschale geworfen werden konnte und weil Lilker und Connelly außerdem
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Popoff, Wheels of Steel, S. 52. Ebd., S. 204. Vgl. Interview Dan Lilker, 22.00-24.50 Min. Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 41.
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keine Kompromisse machten: Sie konnten ohne die verhasste Anbiederung glaubhaft versichern, die Musik zu lieben und gaben keinen »Seitenwechsel« vor.196 Dennoch wurden sie »auf Herz und Nieren« geprüft und bestimmten Test-Verfahren unterworfen, denen Fans ohne ihren Musiker-Status deutlich intensiver ausgeliefert waren. Für John Connelly bestand dieses »testing« etwa darin, dass er einige Male im Moshpit absichtlich von Ellenbogen am Hinterkopf getroffen wurde – nicht, um ihn zu verletzen, sondern um zu sehen, wie er reagierte. Es ging also um die richtige Einstellung: »When I demonstrated that I could take a hit and not get bend out of shape, I was treated with respect.«197 Zeitgleich musste man sich laut Eric McIntire (Attitude Adjustment) auch in Ruthie’s Inn durch Resilienz den Respekt des »Slay Teams« erwerben – einmal geschafft, waren sie wie eine »Familie.«198 Ein weiterer Teil der »Prüfung« umfasste das korrekte Verständnis der körperlichen Praktiken: Sämtliche Akteure betonten stets, dass es sich trotz des Scheins um regelbasierte Tanzformen handelte, die mit »violent dancing« nichts gemein hatten und bei denen Szene-Urgesteine auf allzu aggressive Teilnehmer achteten.199 Auch wenn man dies mit Blick auf Connellys Erfahrungen bezweifeln mag, lag der Zweck dieser Authentizitäts-Kontrolle schlicht in dem Wunsch, Neuankömmlinge mit einem Ideal vertraut zu machen, das man in dieser Form in der Metal-Kultur nicht erfüllt sah und bei dem sich in der Crossover-Atmosphäre für die Hardcore Punks die »Spreu vom Weizen« trennte: Es ging um das Idealbild eines stiltreuen Individualisten, der zu seinen Entscheidungen stand und dementsprechend nicht vorgab, (temporär) auf den authentischen Hardcore Punk zu stehen. Da jedoch freilich keine Fragebögen ausgeteilt werden konnten, artikulierte sich die Prüfung auf diese Eigenschaften vor allem körperlich in der richtigen Ausübung bestimmter Praktiken. Untrennbar damit verbunden war auch die Akzeptanz eines deutlich stärker von Frauen frequentierten Punks und Hardcore Punks seitens der Metalheads.200 Für Dan Lilker handelte es sich dabei um einen zentralen Konfliktherd mit einem männlichen Selbstverständnis im Metal, das er als »sexist« bezeichnete und von dem sich ein »more open-minded« Hardcore sowohl in der Anzahl der beteiligten Frauen als auch in der Beziehung der Geschlechter abhob.201 Dies begann seiner Meinung nach schon bei den Musikern, die zwischen sich und den Fans keine sozialen Rock-Star-Grenzen aufbauten, die sich dann in Form von Backstage-Pässen oder Groupies niederschlugen. In einer Argumentation, die sich erneut stark der vermeintlichen Klassengegensätze zwischen den sozial privilegierten Metal-Musikern und ihrem Arbeiterklassen-Pendant im Hardcore
196 Vgl. Interview Dan Lilker: »They can tell the difference. They can tell who is genuine and who is only pretending to be. It was the same thing with black metal in the 90s and all this Norwegian guys. […] They can tell that I enjoy the music.« 22.32-22.58 Min. 197 Anesiadis, Crossover the Edge, S. 90. 198 Vgl. Interview Eric McIntire, Z. 6–7. 199 Vgl. Rettman/Cricien, NYHC, S. 209f. 200 Vgl. Helen Reddington, The Lost Women of Rock Music. Female Musicians of the Punk Era, Florence 2007; David A. Ensminger, Punk Women. 40 years of musicians who built punk rock, Portland 2021. 201 Interview Dan Lilker, 53.20-53.35 Min.
5. Die Crossover- Dekade
Punk bediente, wurden Gender-Differenzen auch als Folge eines sozioökonomischen Hintergrunds interpretiert: There wasn’t a wall between the musicians and the crowd. It was all about coming up and stage diving. With metal, a lot of the kids who got into it wanted to be rock stars and fuck chicks. For us, we had to start playing music or we would have gone crazy; another thing similar to the hardcore bands. So we latched on to hardcore pretty naturally.202 Unabhängig von der Tatsache, dass die Aussage über die Intention des Spielens auch viele Metal-Musiker unterschrieben hätten, die sozialen Grenzen zwischen Bands und Fans im Zuge des Extreme Metals seit den frühen 1980er Jahren stark bröckelten, und auch Punk ein ganz praktisches Gender-Problem hatte,203 forderte die Crossover-Atmosphäre viele Metalheads in ihren Rollenbildern zu Beginn definitiv heraus. Auch im Hardcore Punk bestand eine »tough guy attitude«, doch konnte diese viel häufiger auch weiblich codiert sein. So bestanden im Umfeld der Szene in der San Francisco East Bay dezidierte Mädchen-Gangs von Punks, die eigene »turfs« im öffentlichen Raum markierten und kontrollierten und geschlechterunabhängig auch gewalttätigen Streit suchten. Diese offene Zurschaustellung eines »we love fucking with people«204 durch eine weibliche Bande besaß kaum Schnittmengen mit den zeitgleich im Thrash Metal entstehenden Gangs von Metalheads, in denen die öffentliche Sichtbarkeit maskulin geprägt war. Ausgehend von einigen Kontakträumen in Kalifornien, New York und in England drang dieses gewandelte Rollenbild in das Publikum von Crossover-Bands ein und wirkte auf den uneingeweihten Metalhead ungewohnt. Jon Kristiansen hob ausdrücklich die »fat girls with purple mohawks«205 während seines Konzertbesuchs in London hervor, die er aus Skandinavien auch unabhängig vom Leibesumfang nicht kannte. Darüber hinaus wirkten die unterschiedlichen Rollenbilder auch bis in den Moshpit hinein: Alexa Poli-Sheigert, die Produzentin des »The NYHC Chronicles Films« (2017) erlebte diesen Konflikt nach eigener Aussage in New York oft: These metal guys got in the pit and knocked me down on purpose because I was a girl. So, I pulled their hair off. Around that time, I started getting groped a lot in the pit – a lot of people went down for that. Grab my tit and I’ll fuck you up! […] The metal people danced liked chickens. They weren’t a part of what I wanted to be part of.206
202 Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 237. 203 Ein guter Gradmesser für die Problematik spannungsreicher Gender-Verhältnisse bei Punk-Konzerten sind die Leserbriefe an Magazine wie Maximumrocknroll, wo sich Erfahrungen von Ausgrenzungen und Misogynie, wie man sie der Metal-Kultur gerne vorwarf, ebenso dauerhaft finden. Vgl. etwa die Ausgaben 30 (1985), 35 und 37 (1986) oder 47 (1987), aber auch viele andere. Einsehbar und durchsuchbar unter URL: https://archive.org/details/maximumrnr (letzter Aufruf 14.03.2022). 204 Vgl. Corbett Redford (Reg.), Turn it around. The Story of East Bay Punk, USA 2018, 24–25.20 Min. 205 Kristiansen, Slayer 6 (1988), S. 117. 206 Rettman/Cricien, NYHC, S. 241.
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Das Feld körperlicher Praktiken, das sich hier für Frauen öffnete, in dem sich aber nur die wenigsten am Moshing beteiligten,207 wurde also punktuell für sexuelle Belästigungen instrumentalisiert, gehörte andersherum aber auch zum festen und starren Bestandteil des Bildes von den Metalheads in Punk-Magazinen wie Maximumrocknroll.208 Inwieweit diese Aussagen für die US-Szenen generalisierbar, zeitlich eingrenzbar und vielleicht auch auf den Hardcore Punk selbst anwendbar ist, harrt jedoch noch einer Überprüfung durch weitere Forschung.209 Fest steht, dass sich der Anteil weiblicher Fans im Zuge des Crossovers nachweislich erhöhte und Rollenbilder einen wichtigen Verhandlungsgegenstand im körperlichen Aufeinanderprallen der beiden Jugendkulturen ausmachten. Das Metal-Genre kam an dieser Schnittstelle erstmals mit der Flexibilisierung von Gender-Mustern in Kontakt, die sich vor allem in der nun auch weiblichen Körperlichkeit niederschlug. Es wurde bisher deutlich, dass Crossover-Konzerte situative Gratwanderungen waren, die von gemeinsam kanalisierten Gewaltformen auch in das Gegenteil umschlagen konnten. Besonders die Szenen, in denen sich das Phänomen zuerst zeigte, wiesen dabei viele Shows auf, bei denen Gewalt das auch durch eingefleischte Fans akzeptierte Maß überstieg. Jerry Allen, der langjährige Produzent des Video-Magazins »Tales from the Pit«, ordnete die Konzerte in der San Francisco Bay Area als »violent« ein, sprach aber für Konzerte im Raum Los Angeles von Szenen »beyond violent.«210 Bei Slayer-Konzerten im Paladium oder im Country Club in Reseda wurde das Interieur zerstört und einige Fans schlugen »the shit out of each other.« Ähnlich wie bei einem eskalierenden Konzert von Anthrax in Los Angeles (1986), das in tumultartigen Massenschlägereien endete,211 waren dabei oft Konflikte rivalisierender Straßengangs für die Gewalt verantwortlich. 1991 starb in Reseda sogar ein Zuschauer durch Messerstiche während eines Konzerts von Napalm Death.212 Auf der Crossover-Tour von Malevolent Creation mit Agnostic Front waren es 1992 nach Meinung von Phil Fasciana ebenfalls nicht die Metalheads, die sich an den Eruptionen beteiligten, sondern die anwesenden Skinheads, die den Moshpit dazu nutzten, »[to] beat the living shit out of people.«213 Ed Warby, der Drummer der niederländischen Death Metal-Band Gorefest, zeigte sich im Rahmen einer Tour mit den amerikanischen
207 Vgl. Interview Eric McIntire, Z. 7. Auch auf den zahlreichen Fotografien von Hardcore-und Crossover-Konzerten finden sich sehr selten Frauen in den Moshpits. 208 So fragte sich Tim Yohannan 1985 in MRR hinsichtlich der Veröffentlichung von »Beyond the realms of madness« der Band Sacrilege, ob die Metalheads eine Sängerin akzeptieren würden: »I guess the main problem for the metalheads will be the female singer.« Maximumrocknroll 30 (November 1985), S. 69. 209 Zu anderen Beispielen vgl. Yvonne Niekrenz, Boys in Black, Girls in Punk. Inszenierungen von Geschlecht in der Gothic-Szene und im Hardcore Punk, in: Hella Ehlers u.a. (Hg.), Körper-GeschlechtWahrnehmung. Sozial-und geisteswissenschaftliche Beiträge zur Genderforschung, Berlin 2013, S. 189–202; Vgl. gleich einige Beiträge in Matt Grimes u.a. (Hg.), Punk identities, punk utopias. Global punk and media, Chicago/Bristol 2021. 210 Chris Forbes, Tales From The Pit. Interview with Jerry Allen, in: Metal Core Fanzine, URL: www.m etalcorefanzine.com/ (letzter Aufruf 11.03.2022). 211 Vgl. Duncan Strauss, Sonic Ugliness, in: The Los Angeles Times, 28.04.1986, S. 85. 212 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 350; Vgl. Forbes, Tales From The Pit. 213 Phil Fasciana, in: Netherton, Extremity Retained, S. 333.
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Kollegen von Deicide schockiert über das Ausmaß der Gewalt während der US-amerikanischen Konzerte, das das Publikumsverhalten in Europa bei weitem überstieg.214 Ein Grund dafür dürfte in der stärkeren jugendkulturellen Durchmischung des amerikanischen Crossover-Phänomens gelegen haben, das zu einem Abgrenzungsraum sowohl von Metalheads und Hardcore Punks als auch von Skinheads avancierte und in dem überdies die vor allem deutsche und medial-verbreitete Verbindung aus Skinhead-Bewegung mit Neo-Nazis noch nicht so stark ausgeprägt gewesen zu sein schien. Skinheads wurden im Kontext der New Yorker Szene genauso wie in ihren englischen Wurzeln nicht zwangsläufig als rechtsextrem angesehen, sondern traten stärker in ihren ästhetischen und besonders körperlichen Merkmalen und Verhaltensweisen hervor, zu denen auch massive Gewaltbereitschaft gehörte.215 In Kalifornien änderte sich diese Perspektive dagegen schneller (Kap. 5.4). Götz Kühnemund machte diesen Unterschied sehr deutlich: Auch im Ruhrgebiet drohten Metal-Konzerte gewalttätig zu werden, wenn Skinheads auftauchten, doch »entsorgten«216 die Metalheads diese beispielsweise in der Zeche Bochum (Accept 1983) gemeinsam und erlebten ein gewaltfreies Konzert, wobei sowohl die geringere Größe der Spielstätte (bei großen Konzerten war dies weniger möglich) als auch der Umstand beitrug, dass Skinheads anscheinend in Deutschland auf stärker politische Ablehnung durch Metalheads trafen als in den USA. Als Kühnemund jedoch nach New York reiste, um den Frontmann von Carnivore, Peter Steele, zu interviewen, tauchten etwa 200 Skinheads im Club auf, um Konflikte mit den Metalheads zu schüren und Kühnemund flüchtete sich backstage zum Interview.217 In den USA war die politische Grenze im Crossover kaum zu ziehen und eine Band wie Carnivore rechnete sich zu Karrierebeginn genauso zur Skinhead-Bewegung wie der Hardcore Punk auch zahlreichen Skinheads einen Vergemeinschaftungsraum bot. Der durch die Band Dead Kennedys geschriebene und durch Napalm Death prominent gecoverte Song »Nazi Punks Fuck Off«, der in Amerika die politische Durchmischung der Hardcore-Bewegung problematisierte, hatte schlicht keine deutsche Entsprechung und führte zu retrospektiven Aussagen wie jener von Robb Flynn (Forbidden Evil/VioLence/Machine Head) zur Konzertpraxis in San Francisco, die der Gewalt-Glorifizierung einer Band wie Exodus diametral entgegensteht: There’s this kind of myth about the thrash thing that it was all friendly violent fun, but it wasn’t. There was such an element of danger, such an element of violence. It wasn’t safe to go to.218
214 Vgl. ebd., S. 310. 215 Zur Entwicklung der rechtspolitischen Verbindungen der deutschen Skinhead-Szene vgl. Klaus Farin, Skinheads, 7. Auflage, München 2014; Vgl. ders., Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland, Berlin 2012; Ganz anders im britischen Fall der späten 1970er Jahre: Vgl. Dick Hebdige, The skinheads and the magical recovery of community, in: Stuart Hall (Hg.), Resistance through ritu als. Youth subcultures in post-war Britain, London 1977; Für die Verbindung von Skinheads und white power movement in USA und UK vgl. Robert Forbes/Eddie Stampton, The white nationalist skinhead movement. UK & USA, 1979–1993, Los Angeles 2015. 216 Vgl. Interview Götz Kühnemund, 21.29-21.59 Min. 217 Vgl. ebd., 24.43-26.37 Min. 218 Wall, Enter Night, S. 150.
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Die Gewaltformen an der Schnittstelle von Metal und Hardcore Punk hatten praktische Folgen auf mindestens vier Ebenen: Erstens existierten Fans, die die Konzerte aufgrund ihrer Erfahrungen mieden. Fans, die die Clubs im Krankenwagen verließen oder »sociopathic skinheads«, wie sie Jim Testa beschrieb219 sowie die häufig auftretenden Schlägereien220 trafen keineswegs bei allen Beobachtern auf Zustimmung und es ist sogar anzunehmen, dass der größte Teil derer, die Interesse am Crossover empfanden, so dachten wie Joe Pupo im Raum New York/New Jersey: I have to admit, I tried to avoid hardcore shows. Those skinheads would start so much trouble with anyone with long hair. They used to just show up to metal shows and fuck with everyone. What a nightmare. I’ll never forget the riot at Club Bene during a Ripping Corpse set. It was pure mayhem like a Western including chairs flying through the air.221 Zweitens zogen die Ausschreitungen auch Konsequenzen für die Clubs nach sich. City Gardens konnte nach 1994 nicht mehr weitergeführt werden, weil die Versicherungssumme in Folge von Verletzungen exorbitant gestiegen war,222 Gilman Street, der wichtigste Club im East Bay Punk San Franciscos, öffnete 1986 unter dem Motto »no fights!« als direkte Folge der Extremisierung des regionalen Hardcore Punks223 und auch das Ende der »Hardcore Matinees« im CBGBs hing direkt mit der Gewalt bei Konzerten zusammen.224 Es zeigte sich an beiden Küsten eine Aufsplittung der Szene entlang einer Akzeptanz von Gewaltformen bei Konzerten und laut Jimmy Gestapo waren es nicht die Metalheads, sondern die Gewalt, die zum Ende des »close knit underground« führte.225 Ein weiteres Problem waren Sachbeschädigungen und es sei hier eine Beschreibung eines Death Metal-Konzerts von Nokturnel, Deceased, Human Remains und fünf anderen Bands 1991 im Safari Club in Washington D.C. zitiert, um zu veranschaulichen, worauf sich Clubs bei solchen Veranstaltungen einzurichten hatten: It was all-out insanity! Gunshots heard constantly outside, underage kids being served beer left and right, and underneath where the bathroom was, they were selling chicken wings, soda, potato chips, and heroin. No security. Kids went nuts thrashing and moshing. I remember someone tearing down some tiles off the ceiling. Best of all for us, we went into Revenge of the Corpse and a bunch of people went to the front and thrashed like maniacs. There was also a huge fight between two locals outside that was quite epic. One hell of a night all around!226
219 Forbes, Jersey Beat. Interview with Jim Testa, in: Metal Core Fanzine. 220 Chris Fesette, in: Forbes, Oblivion, in: Metal Core Fanzine. 221 Chris Forbes, Joe Pupo, in: Metal Core Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/ (letzter Aufruf 11.03.2022). 222 Vgl. Forbes, City Gardens. 223 Vgl. Redford (Reg.), Turn it around, 67–68.29 Min. 224 Vgl. Rettman/Cricien, NYHC; Vgl. Anesiadis, Crossover the Edge. 225 Vgl. Jim Farber, Punk Profiles Encourage Mosh Mania, in: Daily News, 31.10.1994, S. 115. 226 Tom Stevens, in: Netherton, Extremity Retained, S. 319.
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Spielstätten wie der Safari Club oder City Gardens hatten freilich nach wenigen Jahren einen Ruf zu verlieren und tolerierten Praktiken, die anderswo undenkbar gewesen wären, doch auch unter der Prämisse einer vollständigen DIY-Praxis mit Clubbetreibern, die selbst Fans waren, stellte sich stets die Frage der Haftung, des Jugendschutzes, und nicht zuletzt auch der Aufrechterhaltung der Infrastruktur. Eine Band wie Vital Remains aus Rhode Island, die 1989/90 komplett selbst-organisierte Konzerte in gemieteten Hallen durchführte, musste nach kurzer Zeit sogar auf Hallen hinter der Staatsgrenze in Massachusetts ausweichen, weil die anwesenden 400–500 Jugendlichen die Mietgebäude im Heimatstaat zu stark in Mitleidenschaft gezogen hatten.227 Clubs, das wird hier deutlich, wurden durch die neuen Mixturen körperlicher Praktiken vor große Herausforderungen gestellt. Drittens war die Gewalt gegen Menschen und gegen Gegenstände auch für die Musiker mit unterschiedlichen Problemen verbunden. Die Musiker von Ripping Corpse aus New Jersey äußerten, dass der »shit at shows«228 bisweilen zu Abbrüchen und Unterbrechungen führte, dass Ausschreitungen Sachbeschädigungen nach sich zogen und mutwillige Körperverletzungen auch die Frage nach dem Verantwortungsbereich der Bands aufwarfen. Gleiches galt für Cannibal Corpse.229 Bei Ripping Corpse sprach man darüber hinaus von »countless violent confrontations (a lot of times between band members) that led to numerous visits to the emergency room«, also von einer Verlängerung der Gewalt in die Band hinein.230 Auch wenn dafür meines Wissens nach bisher keine anderen Belege vorliegen, war Gewalt demnach keine exklusive Erscheinung des Publikums und konnte den Auftritt auch auf der musikalischen Seite bedrohen. Viertens entwickelte sich mit den Auswirkungen des Crossovers ein neuer Aufgabenbereich und Typ des Türstehers bzw. »bouncers.« Eines der größten Probleme vieler junger Metalheads waren nämlich um die Mitte der der 1980er Jahre nicht die körperlichen Praktiken der anderen Fans, sondern die Tatsache, dass die »Security«, die oft aus lokalen Rocker-Gruppen bestand, nicht zwischen den vielen Nuancen exzessiver Praktiken unterscheiden konnte. Von einem Exodus-Konzert in Osnabrück hieß es etwa im Battlefield Fanzine (1985), dass der »beauftragte Motorradclub – mal wieder« das Gedränge vor der Bühne »für eine Revolte oder einen Bühnensturm hielt.«231 Die Rocker traten von oben in die vordersten Reihen und empfanden dabei – so der Beobachter – ein »unheimliches Vergnügen.« Seine Forderung jedenfalls war klar und fand sich in ähnlicher Form in vielen Konzertberichten der Zeit: »Und da trägt der Veranstalter einen gewissen Teil der Schuld, denn es wäre besser gewesen, erfahrene Leute, die unterscheiden können, wann Fans nur thrashen, und wann sie verrückt spielen, einzustellen.«232 Thomas Such äußerte hinsichtlich eines Konzerts von Sodom im belgischen Kerksken 1985, dass »der Stagemanager […] sie nicht alle stramm«233 habe, weil er das Betreten der Bühne sowie 227 228 229 230 231
Tony Lazaro, in: ebd., S. 128. McClelland, Death Vomit Fanzine, S. 64. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 477f. Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 132. Backhaus/Nolzen/Rössel/Zimmermann, Battlefield. The Ultimate German Speed-/Thrash-and Hardcore-Metal Mag 5 (1985), S. 7. 232 Ebd. 233 Ebd., S. 35.
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das Stagediving in Antizipation von Problemen gänzlich untersagte, während Kirk Hammett den zentralen Vorteil des Ruthie’s Inn darin sah, dass der Club keine gewalttätigen Ordner beschäftige, so wie es im The Stone üblich sei.234 Laut Götz Kühnemund griff das Stagediving im Ruhrgebiet erstmals beim Konzert von Possessed und Deathrow in der Zeche Bochum (1986) um sich, worauf die Ordner einzelne Fans verprügelten. Aufgrund eines spontanen »Solidarisierungseffekts« enterten die Fans die Bühne und die Ordner flohen aus der Halle. Durch Vermittlung des Inhabers wurde »ein Pakt geschlossen zwischen den Fans und den Ordnern«, das Equipment blieb intakt und die Gewalt der Ordner blieb fortan aus. Von da an »war das Stagediven im Ruhrpott erlaubt.«235 Während die Gewalt der Ordner hier ein relativ kurzes Intermezzo war, blieb sie vor allem in den USA länger ein wichtiges Thema. Noch 1988 schlugen Ordner bei einem Konzert von Exodus und S.O.D. in Detroit einige Fans von der hohen Bühne, was Billy Milano, der Sänger von S.O.D. und mit starker Nähe zum Hardcore Punk, dazu veranlasste, einen Ordner von hinten von der Bühne zu treten. Das Konzert wurde unterbrochen, backstage gab es ein Handgemenge, bei dem auch Pistolen gezogen wurden und die Band musste den Club nach Eintreffen der Polizei verlassen. Die Fans zerstörten auf diese Nachricht große Teile der Inneneinrichtung der Spielstätte.236 Mittelfristig setzten aber auch in den USA Lerneffekte ein, die vor allem darauf zurückzuführen waren, dass hinsichtlich der Gewalt der Ordner die Fans dennoch am längeren Hebel saßen und die Clubinhaber Sachbeschädigungen gerne verhindern wollten. Dan Lilker beschreibt diese Gewöhnung für das L’Amour, wo die riesigen Türsteher den Einzug des Moshings und Stagedivings wie einen »culture shock« empfanden und ersteres für einen Kampf hielten. Doch – so Lilker – »after a couple of shows they learned that these idiots are just having fun.«237
5.4 Politik und »social awareness« Bereits hinsichtlich der NWOBHM wurde deutlich, dass Metal und Punk neben musikalischen, räumlichen und körperlichen Schnittstellen auch inhaltliche Berührungspunkte entwickelten, die sich vor allem um die Frage der Einbeziehung gesellschaftskritischer bzw. politischer Themen in die Lyrics konzentrierten. Schon um 1980 partizipierten viele Metal-Bands an dieser Praxis, während sich jedoch eher eine fakultative Politikhaltigkeit der Texte herausschälte – ein großer Teil der Metal-Bands blieb also stets auch vollkommen unpolitisch motiviert. In den Sub-Genres Thrash und Death Metal intensivierte sich dieses Phänomen noch weiter und brachte an den regionalen Schaltstellen mit den Hardcore Punk-Szenen in New York, New Jersey, Kalifornien und England einige MetalBands hervor, die politische Lyrics verfassten und sich auch als dezidiert politisch verstanden.238 In der Forschung haben diese Gruppen bisher kaum eine Rolle gespielt und 234 235 236 237 238
Vgl. ebd., S. 27. Vgl. Interview Götz Kühnemund, 21.59-24.20 Min. Vgl. Anesiadis, Crossover the Edge, S. 49. Interview Dan Lilker, 27.48 Min. Beispiele sind unter anderem Nuclear Assault, Forbidden Evil (dort vor allem Craig Locicero), Cryptic Slaughter, Fear Factory sowie Megadeth – dazu Ansätze in den Lyrics bei Metallica, Exodus, Tes-
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man konzentrierte sich vor allem auf das offensichtlichere Gegenteil: Metal-Bands, die in ihrer gesellschaftlichen Verortung in Form einer »reflexiven Anti-Reflexivität« Tabus und Grenzen, um deren Existenz sie genau wussten, absichtlich durchbrachen – besonders hinsichtlich der Gender-Stereotype und rechtsradikaler Äußerungen.239 Die Reflexion, die dabei stattfand, ist jedoch eine andere als bei den hier adressierten Bands, die sich durchaus aktiv in gesellschaftlichen Fragen positionierten und auch dementsprechende Praktiken entwickelten – also auch mit einem Veränderungsanspruch auftraten. Es wäre daher meiner Meinung nach dringend geraten, die von Keith Kahn-Harris 2007 entwickelten Kategorien »unreflexiv« (es nicht besser wissen), »anti-reflexiv« (es nicht wissen wollen) und »reflexiv anti-reflexiv« (es wissen, aber sich entscheiden, es nicht wissen zu wollen) um die »reflexiven« Metal-Musiker zu erweitern.240 Es handelte sich bei diesen Musikern voraussichtlich nie um die Mehrheit einzelner Szenen und der Wandel, den ihre Lyrics und Interview-Aussagen für die Metal-Kultur einläuteten, ging während der 1980er Jahre nur schrittweise voran. Doch das Diktum des unpolitischen Metals, wie es einige Forschungen in ihrer Verteidigungshaltung durchzieht, entsprach dennoch nicht der Realität des Jahrzehnts.241 »Der unpolitische Metal« und der »politische Punk« waren idealisierte Denkfiguren, für die sich in ihrer Reinheit durchaus Beispiele finden lassen, die aber der Komplexität beider Jugendkulturen nicht gerecht werden. Dabei spielt auch eine wichtige Rolle, dass Songtexte, an denen dieser Diskurs bisher vor allem festgemacht wurde,242 keinen guten Gradmesser für die Politisierung eines Individuums darstellen. Es machte Metal-Musiker nicht zu unpolitischen Menschen, wenn sie ihre Lyrics politikfrei formulierten, genauso wie es Beispiele für dezidiert unpolitische Hardcore Punk-und Grindcore-Bands gibt.243 Wertet man ersteres jedoch als die Regel und letzteres als eine Ausnahme, sitzt man den idealisierten Narrativen jugendkultureller Abgrenzung auf und reproduziert ein sozial, musikalisch und politisch sehr limitiertes Bild sowohl der Metal-als auch der Punk-Kultur. Mit Blick auf
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tament, Slayer und Death Angel, sowie in den Interviewaussagen vor allem von Kerry King (Slayer), Chuck Billy (Testament) und Dave Mustaine (Megadeth). Vgl. Keith Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 145–156. Vgl. ebd., S. 142–145. Auf diese Haltung spielte unter anderem an: Niall W. R. Scott, Heavy metal and the deafening threat of the apolitical, in: Titus Hjelm/Keith Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal. Controversies and countercultures, Sheffield 2013, S. 228–243; Als Haltung lokalisierbar bei Kahn-Harris, The failure of Youth Culture; Andy Brown mahnte überdies an, die Nichtbeachtung durch die Subkulturforschung nun nicht dadurch »nachzuholen«, dass junge Wissenschaftler, die selbst Teil der MetalKultur sind, dem Phänomen nachträglich politische Bedeutung bescheinigen. Vgl. Andy R. Brown, A manifesto for metal studies: Or putting the ›politics of metal‹ in its place, in: Metal Music Studies 4 (2018) 2, S. 343–363, hier S. 346. Wohin dies – noch dazu bei einer Fokussierung auf wenige bekannte Bands – führen kann, zeigte Moore, The Unmaking of the English Working Class, S. 152f., wo der Autor das vermeintliche Fehlen von gesellschaftlichem und politischem Bezug in den Lyrics damit erklärt, dass an diesen Punkten gerade das Problem der Metal-Kultur gelegen hätte – das Fehlen also die Bedeutung erkläre. Pete Hurley von Extreme Noise Terror (1987): »Politisch ist keiner in der Band wirklich interessiert, weil es so todlangweilig ist und außerdem Zeitverschwendung, daher bringen wir auch keine Politik in unsere Texte ein.« Backhaus/Nolzen/Rössel/Larsen, Battlefield. The alternative Hardcore Zine 7 (1987).
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die Quellen bedeutet dies, dass die gerne zitierten Anfeindungen der Punks gegenüber der Metal-Kultur stets nur einen Teil der Musiker und Bands adressierten und wichtige Gegenbeispiele (wissentlich oder nicht) ausließen, um Distinktion zu erzeugen. An den mittelenglischen und US-amerikanischen Kontaktzonen von Metal und Punk lässt sich dieser Aspekt gut nachverfolgen: Jim Whiteley von Napalm Death bezeichnete die Kernmerkmale des Metals 1987 als »hirnlose Texte, dummes Macho Gehabe, hohe Preise für Gigs und Platten« und empfahl den »HC Bands«, sich nur musikalisch zu orientieren.244 Calvin »Kalv« Piper von der Band Heresy aus Nottingham meinte im selben Jahr, dass »Hardcore weitaus intelligenter [ist] als Metal«, dass er Bands wie Slayer und Kreator zwar musikalisch möge, aber über ihre Lyrics dachte: »die Texte sind totale Scheiße, die sagen überhaupt nichts aus, es ist wie bei den alten Rock&Roll Sachen, genau die selben alten Fallen.«245 Und auch für die Szene in Ipswich hielt Dean Jones von Extreme Noise Terror fest, dass man den lokalen Kollegen von Annihilated den »Wechsel« vom Punk zum Metal nur durchgehen ließ, weil »some of their lyrics are decent and they’re a lot better than most Metal bands.«246 Whiteley, Piper und Jones standen in ihrer Kritik den amerikanischen Hardcore Punks in nichts nach, wo etwa Al Quint, Herausgeber des Suburban Voice Fanzines aus Boston, die »social message« der »crossover audience« einer »more mainstream metal audience« gegenüberstellte und postulierte, die Metalheads »weren’t always the most progressive-minded people.«247 Laut Billy Milano waren die Hardcore Punks in New York zwar eine fragmentierte Gruppe, aber in ihrer Ablehnung der »longhairs« immer einig,248 während man auch seitens des einflussreichen Magazins Maximumrocknroll (MRR) in Kalifornien gerne und oft die vermeintlich fehlende Reflexion der Metal-Bands aufgriff.249 Dan Lilker resümierte schließlich 1987 in Bill Steers Fanzine Phoenix Militia: Metal is just a different mentality than H.C., it’s escapism, a fantasy world free of responsibility. You have to know where they’re coming from. It doesn’t make it a joke, just meaningless, it’s purely for listening pleasure. What do ya think we’re trying to change, Metal apathy sucks!250
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Ebd. Ebd. Bill Steer, Phoenix Militia Fanzine 7 (1987). Chris Forbes, Suburban Voice. Interview with Al Quint, in: Metal Core Fanzine, URL: www.metalc orefanzine.com/ (letzter Aufruf 11.03.2022). 248 Billy Milano, in: Ian, I’m the Man, S. 97. 249 Vgl. ein Interview mit Gary Tovar (Goldenvoice), in: Maximumrocknroll 30 (November 1985), S. 24: »A lot of the kids at 15–16 think they know it all, but the people that I respect the most are the average fan that you don’t hear about. The groupies-l don’t like them. But the average Joe who’s not asking for a backstage pass, that pays and enjoys the show, doesn’t fight-those are the ones I like. I gave a guy a ride home from the Olympic the other night. A good kid. I like 'em thinking. They’re not like metalheads. Metalheads are just airheads. Punks, if I tell them something, they might say ›Fuck you, I don’t believe it.‹ I’d rather have them questioning. I can’t stand metal, traditional metal. I despise it because… those are my age people, those metal people…«; Vgl. zum MRR auch Schreiber, Network of friends, S. 167–173. 250 Bill Steer, Phoenix Militia. Underground death/thrash ›zine 8 (1988).
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Mit Blick auf die obigen Thesen lassen sich dabei zwei Aspekte herausstellen: Zum einen war der Sell-out-Vorwurf partiell nicht von der Hand zu weisen und bezog sich besonders auf die wenigen kommerziell sehr erfolgreichen Metal-Bands wie Iron Maiden, Metallica, Judas Priest oder Slayer – die, und daher stammte wahrscheinlich auch der Hintergrund für die Schärfe der Kritik, mit dem kommerziellen Erfolg etwa der Sex Pistols oder später der Cro-Mags durchaus Entsprechungen in der Punk-Geschichte hatten. Zum anderen beinhalten einige der Äußerungen um 1986/87 bereits individuelle Abmilderungen der Kritik gegenüber der Metal-Musik und zogen den Crossover durchaus in Betracht, hielten aber weiter an einer Denkfigur des unreflektierten Metals fest. Es ist dabei in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts und in den angesprochenen Regionen zu beobachten gewesen, dass die lebensweltliche Grundlage dieser Opposition zunehmend erodierte. Bill Steer bemerkte 1987 gegenüber dem Fanzine No Trend Press: »Da gibt es eine Art Anti-Metal (Anti-Crossover) Trend zur Zeit, der, wie ich finde ziemlich kindisch ist, besonders, wenn H.C.’s auf all diejenigen von uns hinunterschauen, die Metal bevorzugen.«251 Steer, der als Gitarrist von Napalm Death und Gründer von Carcass maßgeblich an dieser Erosion beteiligt war, machte vor allem mit seinem Einschub in Klammern deutlich, worum es bei der Kritik wirklich ging: Denn der Widerstand der Hardcore Punks entzündete sich nicht per se an den Merkmalen der Metal-Musik oder Metal-Kultur, sondern an der Tatsache, dass man Crossover-Phänomene als soziale Angriffe auf die eigene Szene verstand. Es war eher die Beziehung zum Metal als dessen Inhalte, die zu den oben zitierten Äußerungen führten – denn jeder der zitierten Akteure war sich als international-vernetzter Musiker vollkommen darüber im Klaren, dass der Vorwurf des Ausverkaufs und fehlender »social awareness« bei vielen Extreme MetalBands nicht mehr zutrafen und überdies auf ein Publikum abzielten, das zunehmend in beiden Lagern zu Hause war. Da das Feindbild des kommerziellen und inhaltlich bedeutungslosen Heavy Metals mit der Entwicklung des DIY-Metal-Undergrounds im Death Metal und Grindcore zunehmend an Boden verlor, zeigten sich sogar regelrechte Kehrtwenden einiger Akteure: Noch 1985 schrieb Digby Pearson, der Gründer von Earache Records aus Nottingham, im MRR davon, dass es ihn traurig mache, die »once great punkthrash bands like D.R.I. and C.O.C« bei Metal-Labels unterschreiben zu sehen. Er verachte es, wenn sich englische Bands wie Onslaught oder English Dogs bei den Metalheads anbiedern würden, um in Hochglanzmagazinen zu erscheinen und »meaningless lyrics about warriors, swords and Satan« zu schreiben. Gleichzeitig würden Bands wie Sacrilege oder Concrete Sox zwar ihren Idealen treu bleiben, aber ebenfalls Anschluss an die Metalheads und breitere Käuferschichten suchen, indem sie den »crossover into the HM buyers« bringen würden, »without sacrificing any ideals they may have about lyrical content or music-biz involvement.«252 Dieser Digby Pearson, der die vermeintliche »marriage« von Metal und Punk in einer Scheidung zu Ungunsten der Punk-Bewegung enden sah und schlussfolgerte, dass Punk frei bleiben solle von der »whole metal/rock mentality«, etablierte Earache Records in den folgenden Jahren vor allem als Label für Metal-Bands, namentlich für solche, die die Speerspitze des frühen Death Metals ausmachten (Entombed, Morbid Angel, Napalm Death, Carcass, Bolt Thrower usw.) – ein untrügliches Zeichen für 251 Kadlicek/Grivel, No Trend Press (1987), S. 27. 252 Vgl. Maximumrocknroll 30 (November 1985), S. 16.
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die auch seitens der Punks steigende Vereinbarkeit ihrer Szene mit extremen und DIYorganisierten Metal-Bands. Um im mittelenglischen Rahmen zu bleiben: Steer und Pearson waren beileibe nicht die einzigen Grenzgänger. Shane Embury wurde 1987 Mitglied von Napalm Death, nachdem er als Metalhead zu den aktivsten Tape-Tradern Englands gehört hatte, aber gleichzeitig auch in frühen Crossover-Bands wie Unseen Terror spielte.253 Steers Band-Kollege bei Carcass, Jeff Walker, trat der Band bei, nachdem er bei der Band Electro Hippies entlassen worden war – einer Band, in der die Musiker für Tierrechte, als Vegetarier, Atomkraft-Gegner und Kritiker multinationaler Konzerne hervortraten.254 »Social awareness«, wie sie seitens der Hardcore Punks eingefordert wurde und die je nach Band und Szene sehr unterschiedliche Themen aufgreifen konnte, aber stets mit der reflektierten gesellschaftlichen Verortung der Texte einherging, ließ sich sogar noch früher in der großen Anzahl amerikanischer Crossover-Bands wie Suicidal Tendencies, Cryptic Slaughter, Corrosion of Conformity, Attitude Adjustment, Cro-Mags oder Nuclear Assault ausmachen. Themen wie Rassentrennung, Gewalt, Atomkrieg oder kapitalistische Ausbeutung spielten in den Lyrics dieser Bands eine große Rolle und diffundierten von dort aus verstärkt in gesellschaftskritische Texte von Bands, die musikalisch klarer in der Metal-Kultur angesiedelt waren. Chris Scapparo (Attitude Adjustment) folgerte schließlich aus seiner kalifornischen Erfahrung: But the lyrics in metal became far more political and self-aware; I think metal grew up a lot as a result of crossover. Metallica, Slayer, Anthrax and Megadeth all showed greater maturity and broader lyrical content after crossover.255 Auch an dieser Stelle muss auf die unvollständige Ausbreitung dieser Inhalte bei MetalBands hingewiesen werden, die Politikhaltigkeit der Freiwilligkeit überließ, doch rechtfertigte der Wandel im Zuge des Hardcore Punks nun endgültig kein pauschales Urteil mehr. So existierte zwar stets eine große Zahl an Bands, in denen der Text der Musik klar untergeordnet blieb,256 in denen die Metal-Kultur, der Lebensstil und fiktive Welten thematisiert wurden und – so etwa bei der Band Mayhem – in denen bisweilen politische
253 Interview Shane Embury, 08.10-08.59 Min: »I came from a heavy metal background, thrash background then I crossed over in the early 80's and when I went there it was, I had never seen nothing like it, but it was very cheap tickets to see a lot of bands, very friendly atmosphere and some bands that were pretty fast and pretty extreme, which was what I was crossing over into.« 254 Vgl. Anesiadis, Crossover the Edge, S. 346f. 255 Ebd., S. 197. 256 Eine prototypische Aussage für dieses Phänomen von Ola Lindgren (Grave): »Also ich denke, dass die Musik schon immer das wichtigste bleiben wird. Aber ich sehe den Gesang als solchen als zusätzliches Instrument für mich. Es ist nicht wirklich wichtig, was ich dann singe, aber natürlich muss es auf irgendeine Weise Sinn machen, und ich versuche, Worte zu finden, die gut zum Song und in dessen Struktur passen. Für mich ist es wie gesagt nicht essenziell was ich singe, aber es kommen immer kurze Geschichten über die dunklen Seiten des Lebens heraus, oder das Nachleben oder so etwas.« Marius Mutz, Interview mit Ola Lindgren von Grave, in: metal1.info. Wir schreiben Musik seit 2002 (2010), URL: https://www.metal1.info/interviews/grave/ (letzter Aufruf 11.03.2022).
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Inhalte dezidiert abgelehnt wurden, um sich von der »social awareness« der Punks möglichst umfassend abzugrenzen.257 Dem standen jedoch Texte gegenüber, die Scott Ian als »ethnic obligation«258 hinsichtlich seiner jüdischen Herkunft erklärte, die sich als direkte Kritik an der Politik der Reagan-Administration verstanden wissen wollten,259 die Krieg, Folter und Unterdrückung thematisierten oder die atomare Bedrohung verarbeiteten.260 Auch befanden sich diese Themen und Schwerpunktsetzungen je nach Band im Fluss und nahmen überdies Bezug auf das punk-kulturelle Gegenüber: Die Band Nuclear Assault schrieb zunächst »klassische« Metal-Lyrics, wechselte im Zuge des NYHC in Richtung Gesellschaftskritik, blieb aber stets eine Metal-Band.261 Die zugrundeliegende Intention sowie die Inspiration beschrieb Lilker mit: »We didn’t plan on changing the world, but we WERE in a unique position to make people think a little. I really enjoyed all those mad British bands, of course.«262 Gleichzeitig bestanden Bands aus politisch stark interessierten und informierten Musikern, die diese Themen jedoch nie in den Songtexten verarbeiteten.263 Und nicht zuletzt umfasste das Panorama der Selbstverortungen auch Musiker, die mit stark gesellschaftskritischen Positionen hervortraten, aber der erwarteten Kritik durch Metalheads zuvorkommen wollten. Seitens der Grindcore-Band Malediction aus Middlesbrough formulierte man 1991 im Deathvomit Fanzine: Basically, we are into real life situations and issues as they tend to be more horrific than anything you can think of. […] I’d just like to say though that we are not preach-
257 Øystein Aarseth (Mayhem) in Kristiansen, Slayer Mag 8 (1991): »I leave to the Punks to write about that in the the [sic!] lyrics. Nowadays tons of bands are writing ›social awareness‹ lyrics, and they still dare to call it Death Metal. BULLSHIT! […] Bands who claim to play Death Metal and are not into death itself, are fakes, and can start to play Punk instead. It’s a big trend today to look totally normal with these goddamn jogging suits and sing about ›important matters‹, and call it Death Metal. These people can die, they have betrayed the scene. Death Metal is for brutal people who are capable of killing, it’s not for idiotic children who want to have a funny hobby after school.« 258 Ian, I’m the Man, S. 91. 259 Interview Craig Locicero (Forbidden Evil): »To me, what attracted me to metal and music like this was the fact that it could speak of things that were bothering us, you know. So, in our era, in the very beginning of it, what was it? It was nuclear war and Ronald Reagan, you know, and things that where I ›Arrgh‹, you know, you wanted ›Arrgh‹, go against the authority, go against the system and the establishment.« 260 So etwa bei Nuclear Assault oder Sodom. 261 Dan Lilker in Hofer, Perpetual Conversions, S. 42: »The socially-aware direction the lyrics eventually went in was a direct result of hardcore. It was a way to make the lyrics interesting instead of them just being accompaniment. That was another reason I thought hardcore was so intriguing: there was this really aggressive music but something meaningful in the lyrics to boot. Not a lot of other metal bands were doing that at the time, but it wasn’t like, ›Ooh, an angle!‹ Nuke was never an image-conscious band, either. We never crafted anything in a contrived way. We just had our jeans and t-shirts.« 262 Nathaniel Colas, Nuclear Assault. Interview mit Danny Lilker, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/nuclear-assault-2/ (letzter Aufruf 11.03.2022). 263 Vgl. Jon Kristiansen, Slayer Mag 5 (1987), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 97.
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ing. These songs are our point of view. I hope everybody feels free to disagree… these songs are the world as we see it!!!264 Um die Vielfalt der Themen und Positionierungen zu unterstreichen, die sich in Songtexten niederschlagen konnten, aber nicht mussten, lohnt darüber hinaus auch ein Blick in Fanzine-Interviews. Allein die Ausgabe 5 des Fanzines Disposable Underground aus dem Jahr 1992 umfasste folgende Interviews und Themen: In einem Interview mit der Band Unleashed gab der Frontmann an, gegen die EU zu sein, weil diese für das reiche Land Schweden nur Belastungen mit sich bringe. Er lehne die EU nicht rundheraus ab, sehe sie aber für sein Heimatland als eher hinderlich an. In einem Interview mit Barney Greenway von Napalm Death ging es unter anderem um die Politik des Prime Ministers John Major und die Tories, um Polizeigewalt, die Lage in Birmingham und das Nazi-Problem während Konzerten in den USA. Mit Roger Miret (Agnostic Front) sprach der Herausgeber Richard Johnson über die US-Justizphilosophie, die US-Wahlen und seine kubanische Herkunft, mit Bill Steer über den Feminismus in Großbritannien, während weitere Ausgaben des Fanzines unter anderem den christlichen Einfluss auf die US-Politik, die Einwanderungspolitik oder die soziale Lage in Brasilien zum Thema hatten.265 Es ist dabei zu beobachten, dass die klare Meinungsäußerung nicht nur bei jenen Bands und Musikern hervortrat, die man aufgrund ihrer Verortung im Hardcore Punk oder Grindcore vermutet hätte. Nahezu alle Befragten geben ein informiertes Interesse an politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen kund und keine der Antworten fällt kurz oder gar abweisend aus. Sprachlich und inhaltlich handelt es sich freilich um harte und oft zynische bis resignierende Aussagen, aber dennoch nicht um unreflexiv-eindimensionale Opposition, sondern um durchaus abwägende Positionen. Apolitisch waren diese Musiker jedenfalls nicht und es ist zu bezweifeln, ob man das Fehlen politischer Lyrics bei einigen dieser Bands überhaupt für eine Bewertung ihres musikalischen Schaffens heranziehen kann.
5.4.1 Abwehrhaltungen der Punk- Presse Die hier skizzierte Erosion der Grenzen zwischen den Szenen, die personell, räumlich, inhaltlich und musikalisch von Statten ging, traf ab 1985 auf teilweise erheblichen publizistischen Widerstand durch Punk-Magazine, besonders aus Kalifornien.266 Für das Verhältnis zum Crossover waren als »generationell« empfundene Grenzen innerhalb der Punk-Bewegung dabei genauso folgenreich wie das politische Selbstverständnis der Herausgeber. Während sich das wichtige Magazine Flipside aus Los Angeles eher auf die älteren Punks konzentrierte, seine Wurzeln bei den »sixties survivors«267 in der Hippie-Bewegung hatte und kaum crossover-kritisch hervortrat, artikulierten die
264 McClelland, Death Vomit Fanzine, S. 312 (Hervorheb. im Original). 265 Vgl. Richard Johnson, Disposable Underground 1 (1992) 5. 266 Jim Testa, in: Forbes, Jersey Beat: »Well, the metal/hardcore crossover was a huge debate in the scene back in the Eighties«; sowie die obigen Zitate von Paul Halmshaw zur Spaltung von Freundeskreisen. 267 Testa, in: Forbes, Jersey Beat.
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Ausgaben von MRR heftige Kritik.268 Tim Yohannan, einer der Herausgeber des MRR, dessen Leserkreis vor allem die jüngeren Punks und damit jene, die den Kontakt mit der Metal-Kultur besonders erlebten, umfasste, hatte – so Jim Testa – »a very precise idea of what ›punk‹ should be.«269 Yohannans Meinung nach standen Punk und Hardcore Punk in einer linkspolitischen Tradition, die es musikalisch zu kanalisieren galt, was er in sehr dogmatischer Weise auch in seine Artikel einfließen ließ,270 obgleich seiner Einschätzung in Leserbriefen und Kolumnen auch durchaus widersprochen wurde. Um die Reichweite seiner Kritik, die sich besonders an den Bands des NYHC entzündete, zu verdeutlichen, muss darauf hingewiesen werden, dass MRR ein nahezu US-umfassendes Verbreitungsgebiet und viele internationale Leser besaß, dass Artikel des MRR politische Diskurse in den Szenen stark beeinflussten und nachhaltigen Effekt auf Karrieren ausüben konnten.271 Yohannans Angriffe in dieser »punk bible« konzentrierten sich auf eine politisch-musikalische Gemengelage, in der die musikalischen Kontaktzonen zur Metal-Kultur oft untrennbar mit einer gesellschaftspolitischen Kritik verknüpft wurden. Einerseits war er ein klarer Befürworter der kommerziell-unpolitischen Denkfigur hinsichtlich der Metal-Kultur, andererseits stieß er sich am Image einiger Hardcore-Bands aus New York. MRR boykottierte die Band Cro-Mags aufgrund des als homophob empfundenen Covers des Demos »Age of Quarrel«,272 erkannte in der starken Vermischung der Skinhead-mit der Punk-Kultur in New York ein politisches wie ästhetisches Tabu und ließ keine Gelegenheit aus, die Metal-Bands an der Schnittstelle zum Hardcore Punk abschätzig zu begutachten. Yohannan warf der Band S.O.D. »semifascist beliefs« vor und adressierte den empfundenen Widerspruch aus Einigkeitsplädoyers der Szene und hintergründigem Hass in den Lyrics auch für andere »Crossover«Bands wie Agnostic Front oder Cro-Mags.273 Dan Lilker äußerte, dass man sich bei MRR besonders von den »big skinny bald guys with tattoos« abgestoßen fühlte und »some questions about their politics« hatte.274 Auch wenn für Lilker fest stand, dass es sich bei Bands wie Cro-Mags oder Agnostic Front selbstverständlich nicht um »any fucking nazis or anything like that«275 handelte, provozierten dennoch die Anhaltspunkte für eine 268 Zu den beiden – und vielen anderen – Punk-Magazinen vgl. Kevin Mattson, We’re not here to entertain. Punk Rock, Ronald Reagan, and the Real Culture War of 1980s America, New York 2020. 269 Ebd. 270 Noch 1997 kritisierte Jello Biafra, Sänger der Dead Kennedys und damit einer Institution im kalifornischen Punk: »Tim [Yohannan of Maximum Rock N’Roll] is also a music fan and keep in mind that fan is short for the word ›fanatic.‹ There are certain sounds he likes and other stuff he doesn’t. He has allowed the fan side to cloud the political side, and somebody who makes music that doesn’t fit his narrow definition of punk is considered politically incorrect.« David Grad, Interview with Jello Biafra, in: Bad Subjects 30 (1997), URL: https://web.archive.org/web/20110523060 608/http://bad.eserver.org/issues/1997/30/grad.html (letzter Aufruf 11.03.2022). 271 Testa: »I think MRR really had far more influence. Back before there was an Internet, the letters and columns in MRR were as close to a national (even worldwide) ›community‹ of punk as you could imagine. Stuff that got written there reverberated through local scenes and could affect the careers of bands and labels.« 272 Vgl. Matthias Mader, New York City Hardcore. The way it was, Berlin 1999, S. 67–70. 273 Vgl. Maximumrocknroll 35 (April 1986), S. 14. 274 Interview Dan Lilker, 29.36 Min. 275 Ebd., 29.58 Min.
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eben nicht deutlich linkspolitische Haltung, genauso wie die Skinhead-Ästhetik, eine fortwährende Abgrenzungshaltung des MRR.276 Die deutlichen Metal-Einflüsse auf die Bands des NYHC eröffneten dabei einen musikalischen Nebenkriegsschauplatz und wurden nicht selten dazu genutzt, das Image des NYHC genauso wie der Metal-Kultur pauschal zu vermengen.277 Für Lilker war klar: »They also did not like the crossover scene, because they thought metal was stupid. So, skinheads and metalheads were not their favourite people back then.«278 Dan Lilker ist in diesem Zusammenhang deshalb ein wichtiger Akteur, weil er als einer der wenigen Metalheads den Austausch mit den Kritikern in den Hardcore PunkBands suchte und auch öffentlich Stellung gegen die Anschuldigung des MRR nahm. Zunächst rief er telefonisch bei »Kalv« Piper von der Band Heresy an. Die Engländer hatten gemeinsam mit der Band Concrete Sox eine Split-LP veröffentlich, auf deren Label es hieß: »Guaranteed NO members of Cro-Mags, Agnostic Front, Crumbsuckers, Murphy’s Law, SOD or Nuclear Assault appear on this album!« – sowohl eine Anspielung auf die kollegiale Produktionspraxis der Bands im NYHC als auch eine politische Kritik, denn einer der Songs hieß »Speak Siberian or Die« und postulierte, dass die Band S.O.D. ihren fremdenfeindlichen Hass lediglich hinter ihrem Humor verstecke (»Your hate is articulate/you hide behind your ›wit‹«). Piper zog sich nach Lilkers Aussage jedoch sofort selbst auf die Position zurück, bei der LP habe es sich nur um einen Spaß gehandelt.279 Auch gegenüber Tim Yohannan, der im Record Vault in San Francisco arbeitete, verschwanden die Probleme »face-to-face« sehr schnell und als Lilker mit Nuclear Assault in der Stadt spielte, stellte er diesen dort zur Rede und lud ihn zum Konzert ein. Der Redakteur verwies kleinlaut auf die Entfernung zu New York und die fehlenden Beziehungen, zog sich im persönlichen Gespräch aber ebenso vollständig von seiner Abgrenzungshaltung zurück.280 Beide Beispiele verweisen auf den Kern des Problems in der jugendkulturellen Distinktion, die bei enger werdenden Sozialbeziehungen viel von ihren idealisierten Denkfiguren des Gegenübers aufgab. Lilker empfand die Haltung des MRR, einerseits Toleranz und selbständiges Denken einzufordern, andererseits aber die Metal-und Crossover-Bands pauschal zu verurteilen, als heuchlerisch. Er formulierte daher einen Leserbrief an die Redaktion des MRR, worin unter anderem folgender Abschnitt zu lesen war:
276 Zu den problematischen Aussagen einiger NYHC-Bands vgl. Robert A. Winkler, Generation Reagan Youth. Representing and resisting white neoliberal forms of life in the U.S. hardcore punk scene (1979–1999), Trier 2021. 277 Allein die Ausgabe 37 (Juni 1986) von Maximumrocknroll enthielt 53 Mal die Bezeichnung »metal«, was einerseits als Zeichen für die persistente empfundene Bedrohungshaltung der Punkund Hardcore-Punk-Szenen gegenüber der Metal-Kultur interpretiert werden kann. Andererseits spiegelte sich dabei vor allem in den Leserbriefen und in den Fragen der Interviews eine Auswahl, die den Schluss nahelegt, es habe sich um eine Redaktionspolitik gehandelt, die Extrempositionen gegenüber Metal-Bands und Metalheads goutierte und durch ihre Arbeit verstärkte. 278 Interview Dan Lilker, 30.23 Min. 279 Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 30. 280 Interview Dan Lilker, 34.02 Min.
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The whole point is that we’re taking intense, powerful music and putting intelligent, anti-nuclear lyrics (obviously our main topic) to the music so we’re reaching all the metalheads that might not get into the Dead Kennedys ’cause they’re not »heavy« enough. So, we could be making more of an impact than a lot of hardcore bands who look down on us because we’re bringing in a new audience and hopefully educating them.281 Sein Statement bildet in vielerlei Hinsicht den sozialen Fluchtpunkt des Crossovers aus Metal und Hardcore Punk in den 1980er Jahren: Einerseits sprach hier offensichtlich der Musiker einer Metal-Band, die sich stets musikalisch wie inhaltlich, aber nie ästhetisch, an der Hardcore Punk-Szene orientierte. Lilker war in beiden Szenen anerkannt, liebte die Musik beider Szenen gleichermaßen, teilte aber den pädagogischen Anspruch der Hardcore Punks hinsichtlich der Songtexte völlig. Auch für ihn kamen Songs über Sex, Drugs and Rock’n’Roll nicht in Frage. Für den Crossover beider Szenen galt für ihn daher: »It was making metalheads smarter. We were getting exposed to socially oriented lyrics.«282 Seine öffentliche Kritik an jenen, die diesen empfundenen Erziehungsprozess jedoch nicht erlaubten und starre jugendkulturelle Grenzen zwischen den Szenen fortschrieben, um Einflusssphären abzustecken, formulierte er ausgesprochen schlüssig und vor allem konkret-persönlich. Er nutzte dabei jene Kanäle direkten sozialen Kontakts, die für das Gelingen des Crossover-Experiments in den 1980er Jahren generell ausschlaggebend waren. Ein zweites Feld erodierender Abgrenzungen betraf neben der Politikhaltigkeit also die soziale Praxis: Bands wie Despair aus Dortmund, die trotz verschiedener Label-Angebote auf eine empfundene Fremdbestimmung verzichteten und für ihr Debut-Album (1988) lieber ein eigenes Label gründeten,283 provozierten nicht nur Fragen hinsichtlich der vermeintlichen Gegensätze – mit dem Verschwimmen der sozialen Grenzen beider Jugendkulturen in einigen regionalen Szenen wurde der Kritik der Punks die Grundlage entzogen. Gleiches galt für Bands, die ebenso tief im Tape-Trading involviert waren wie die Hardcore Punks und aufgrund ihrer musikalischen Stile und antikommerziellen Attitüden das Musik-Geschäft kritisierten, sowie für gemeinsame Tourneen von Metal-und Hardcore Punk-Bands, die trotz einiger Differenzen auch kommerzielle Erfolge wurden.284 Im englischen Fall einte viele dieser Akteure im Crossover auch eine vegetarische Praxis, die als Folge des Wunsches größtmöglicher Selbstbestimmung bei maximaler Distinktion von Punk-Bands wie Crass inspiriert wurde. Sowohl Halmshaw als auch Steer belegen deren breite Existenz,285 für Shane Embury waren sie als Metalhead zunächst etwas Ungewohntes, das er direkt auf den Punk-Einfluss zurückführte286
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Maximumrocknroll 47 (April 1987), S. 9. Interview Dan Lilker, 31.38 Min. Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 43.24-45.01 Min. Vgl. Pratt, That Tour Was Awesome (Jack Owen (Cannibal Corpse) über die Tour mit Agnostic Front); Vgl. Johnson, Disposable Underground 1 (1991) 2 (über das Eintrittspreis-Problem auf der Tour von Napalm Death und Sick of it All). 285 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 19. 286 Interview Shane Embury, 16.31-17.20 Min.: »I’ve never been a political kind of person, it’s not that I don’t care, I keep my opinions to myself. I never really came from that background, so I was very
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und selbst Abo Alsleben beschreibt in seiner Schilderung der Leipziger Szene in den frühen 1990er Jahren den verbreiteten Vegetarismus in der gemeinsamen Szene.287 Es handelte sich dabei jedoch lediglich um regionale Ausbreitungseffekte auf jüngere Metalheads, die nicht alle Metal-Szenen erfassten: Jon Kristiansen und die Musiker von Mayhem empfanden den Vegetarismus der Napalm Death-Musiker auf ihrer England-Reise als ungewohnt, sodass Kristiansen in seinem Slayer Fanzine 1989 explizit nach den Gründen fragte und von Bill Steer folgende Antwort erhielt: I think the reason for this apparent social awareness is that the ›roots‹ of a lot of people into HARDCORE/THRASH lie in earlier H.C. Punk bands like ICONS OF FILTH and so on, who were very much against animal abuse, racism, sexism etc. A lot of people got into these views and have stuck with them, which is great as they’ve spread to a lot of people who are somewhat newer to the scene. When I first got into Hardcore in ’84 (having been into nothing but metal until then) I couldn’t understand why so many people were vegetarian, but the more I thought about the subject, the more I appreciated their point of view… and after reading a lot about the meat & dairy industry, I became vegan 2 years ago.288 Ein vergleichender Blick auf diese gesellschaftskritisch motivierte Wahl der Ernährungsweise und damit auf einen wichtigen Bestandteil der gemeinsamen regionalen Praxis von Metalheads und Punks setzt einen historischen Kontrapunkt gegenüber der lange Zeit verbreiteten Suche nach politischen Inhalten in Songtexten, die man – inspiriert durch die Rock-Kritik – mit der gesellschaftlichen Relevanz von Jugendkulturen gleichsetzte. Der – wenn überhaupt – höchstens indirekten Wirkungsweise von Lyrics standen dabei lebensweltliche Praktiken gegenüber, die gängige gesellschaftliche Produktions-, Vermarktungs-, Ernährungs-und generell Sichtweisen viel nachhaltiger untergruben und verdeutlichten, wie stark sich die Beziehung zwischen Metal und Punk seit der NWOBHM lokalspezifisch geändert hatte.
interested when I met the punks in the 80's, because it was, especially vegetarian, that was a new thing for me and that came from Crass I think. Crass were very instrumental in like bringing to people’s attentions the torture of animals and the vivisection.« 287 Vgl. Alsleben, Mayhem live in Leipzig, S. 88: »Die Metalszene war überhaupt dicht besiedelt mit Vegetariern und Veganern.« 288 Jon Kristiansen, Slayer Mag 7 (1989), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 175.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften Kommunikation und Wettbewerb im Szenebildungsprozess
Während die Band die zentrale Produktionseinheit der Metal-Kultur darstellt(e), entwickelten sich Metal-Szenen meist um diese Bands herum als lokale Vergemeinschaftungen von Musikern und Fans – sie inkludierten also neben den musikalischen auch die medialen, kommerziellen und organisatorischen Tätigkeitsfelder, die dafür sorgten, dass Heavy Metal eine soziale Erfahrung werden konnte. Es besteht mittlerweile eine kaum noch überschaubare Fülle von Szene-Definitionen und -Konzepten, sodass theoretische Überlegungen kaum weiterführen.1 Ohnehin teilen sich alle Szene-Ansätze einen entscheidenden gemeinsamen Nenner: Szenen sind kurz und knapp Kommunikationsräume von Fans – alle anderen attestierten Merkmale sind letztlich nur Verfeinerungen dieser Aussage und unterscheiden sich je nach empirischem Fall voneinander. Für eine sozialgeschichtliche Perspektive bietet die »Szene« die großen Vorteile der räumlichen Eingrenzung sowie der Fokussierung auf zwischenmenschliche Beziehungen und eine gemeinsame Praxis.2 »Szenen« ermöglichen es deshalb hervorragend, kulturelle und soziale Aspekte lebensstilbasierter Gemeinschaften in empirisch-festzulegenden räumlichen Koordinaten zu verknüpfen und sind überdies neutraler als die Interpretationsangebote der »Subkulturen« oder »Neo-Tribes.«3 1
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Vgl. Ronald Hitzler/Arne Niederbacher, Leben in Szenen. Formen juveniler Vergemeinschaftung heute, 3. Aufl., Wiesbaden 2010; Andy Bennett/Richard A. Peterson, Music scenes. Local, translocal and virtual, Nashville 2004; Das Szene-Konzept zuerst bei: Will Straw, Communities and Scenes in Popular Music [1991], in: Ken Gelder (Hg.), The subcultures reader, London 1997, S. 469–478; David Hesmondhalgh, Recent concepts in youth cultural studies. Critical reflections from the sociology of music, in: Paul Hodkinson/Wolfgang Deicke (Hg.), Youth Cultures. Scenes, subcultures and tribes, New York 2008, S. 37–50; Andy Bennett/Ian Rogers, Popular Music Scenes and Cultural Memory, London 2016, S. 11–35. Vgl. zu den Vorzügen des Konzepts Kahn-Harris, Extreme Metal, S. 19–21; Jeremy Wallach/ Alexandra Levine, I want you to support local metal. A theory of metal scene formation, in: Titus Hjelm/Keith Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal. Controversies and countercultures, Sheffield 2013, S. 117–135, hier S. 118f. Zur Kritik am Subkultur-Begriff kürzlich Andy Bennett, Situating Subculture. On the Origins and Limits of the Term for Understanding Youth Cultures, in: van der Steen/Verburgh (Hg.), Researching subcultures, myth and memory, S. 19–34; Zur Kritik am Neotribalismus-Modell vgl. Massim-
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Eine grundsätzliche Beobachtung, die bereits zur Band-Soziologie getroffen wurde, verlängerte sich in den hier besprochenen Regionen in den Szenebildungsprozess hinein: Wie auch die Band war die Szene ein sozialer Raum sowohl der Vergemeinschaftung als auch der Individualisierung und wies zahlreiche Spannungsfelder zwischen diesen beiden Triebkräften auf.4 Metal-Fans teilten sich einerseits eine gemeinsame Leidenschaft für die Musik und entwickelten Räume ihrer Pflege und Zelebrierung. Andererseits wurden die dabei entstehenden sozialen Bande permanent dadurch herausgefordert, dass diese Beziehungen in einen medial vermittelten Kommerzialisierungsprozess eingebettet waren und die Herausstellung von Distinktion erforderten. Soziale Abgrenzung wurde in Szenen daher sowohl nach außen – gegenüber »Gegen-Szenen« und dem »Mainstream« – praktiziert, als auch nach innen gegenüber Gleichgesinnten in anderen Bands, mit anderen ästhetischen Präferenzen, vermeintlich zu spät Gekommenen oder zu früh Gegangenen, anderen Labels oder anderen Medien. Beides lief, und das verkompliziert die Einschätzung sozialer Beziehungen in Szenen noch einmal erheblich, oft gleichzeitig ab. Die Forschung hat Szenen in der Vergangenheit vor allem in ihrer Abgrenzungsfunktion analysiert und dabei entsprechend das Gemeinsame der Szene-Akteure hervorgehoben, das gegen jene in Stellung gebracht wurde, die man außerhalb der Szene verortete. Besonders in den »Metal Music Studies« herrscht diese Perspektive vor und reproduziert dabei stark die Selbsterzählung einzelner Szenen und ihrer Akteure.5 Dass Szenen jedoch auch nach innen sehr spannungsreiche Gebilde sein konnten, in denen Individuen um Alleinstellungsmerkmale, mediale Aufmerksamkeit, Deutungshoheiten und kommerzielle Gewinne konkurrierten, ist zwar Common Sense der soziologischen Forschung, aber in Betrachtungen der Metal-Kultur kaum beachtet worden.6 Die beiden
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iliano Livi, Neotribalismus als Metapher und Modell. Konzeptionelle Überlegungen zur Analyse emotionaler und ästhetischer Vergemeinschaftung in posttraditionalen Gesellschaften, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017), S. 365–383. So z.B. hinsichtlich des diagnostizierten Mangels an »care« in Metal-Szenen. Vgl. Keith Kahn-Harris, Do Metal Scenes Need Retirement Homes? Care and the Limitations of Metal Community, in: Nelson Varas-Díaz/Neill W.R. Scott (Hg.), Heavy Metal Music and the Communal Experience, London 2016, S. 171–184. Entsprechend beherrscht die (berechtigte) Frage, was genau Metal-Vergemeinschaftungen zusammenhielt und welche Gemeinsamkeiten hier Individuen zusammenschweißten, die Forschung. Vgl. etwa Wallach/Levine, I want you to support local metal; Emma Baulch, Making scenes. Reggae, punk, and death metal in 1990s Bali, Durham 2007; Vgl. Purcell, Death metal music; Vgl. Nathan Snaza/Jason Netherton, Community at the extremes. The death metal underground as being-in-common, in: Metal Music Studies 2 (2016) 3, S. 341–356. Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2000 (Dort etwa auf S. 78: »Weder Kollektivität noch Individualität sind grenzenlos« und bleiben auch in Szene relational aufeinander bezogen); Zu erkennen auch in der wichtigen Unterscheidung von »Szene-Kern« und »Szene-Gängern« bei Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen; Siehe auch die von Reckwitz postulierte Suche nach »unverwechselbarer Individualität« in der »post-bürokratischen Subjektkultur«: ders., Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, 2. Aufl., Weilerswist 2012, S. 563f. (zu Rock-Szenen vgl. S. 479).
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
gegenläufigen Strukturprinzipien gingen in Szenen ein auf Dauer gestelltes Spannungsverhältnis ein, führten zu eigentümlichen sozialen Mischungen – etwa einer »healthy competition«7 bzw. freundschaftlichen Konkurrenz –, und lassen sich als Suche nach einem postmodernen Oxymoron interpretieren: Einer gemeinsam geteilten Individualität.8 Die Metal-Musiker und -Fans loteten im Laufe der »langen 1980er Jahre« ständig neue Methoden der Aufmerksamkeitsgenerierung aus, die davon geprägt waren, dass sich die Sub-Genre musikalisch bedingt von den Investitionen der Major Labels lösten. Extremere Musik garantierte in diesem Prozess die erwünschte Abgrenzung, konfrontierte die Akteure aber auch mit der Notwendigkeit, Kommunikations-und Kommerzialisierungsalternativen für Leistungen zu finden, die zuvor von den Major Labels übernommen worden waren. Die Entwicklung von der NWOBHM bis zum norwegischen Black Metal war dabei von sechs miteinander verbundenen Prozessen gekennzeichnet: Erstens weitete sich der Do-It-Yourself-Anspruch bis in die nebensächlichste Praxis von Metal-Szenen aus und umfasste mit der selbständigen Produktion, Organisation und Finanzierung den Band-und Fan-Alltag in einer bis dahin kaum gekannten Intensität. Wie in Kap. 2 bereits beschrieben, wurden viele dieser Initiativen im Laufe der 1980er Jahre selbst zum Erwerb und begründeten das kommerzielle Netz, das sich um die regionalen Szenen aufbaute. Zweitens erodierten in diesem Prozess die Unterschiede zwischen Produzenten, Konsumenten und Vermittlern derartig, dass sich besonders der Death Metal-und Black Metal-Underground aus Akteuren rekrutierten, die jeden dieser einst spezialisierten Abschnitte parallel verwirklichten. Drittens fand eine kommunikative Verdichtung statt, die weit über Freundes-und Bekanntenkreise hinausging. Die weitgehend getrennten regionalen Aufbrüche im Rahmen der NWOBHM wurden dabei schnell von einem Jeder-kennt-jeden in den Thrash Metal-Szenen der USA und Deutschlands übertroffen, die erheblich von den intensiveren Kommunikationsbeziehungen im Tape Trading profitierten. Viertens virtualisierte sich die Szene-Kommunikation seit den frühen 1980er Jahren in rasanter Weise und überspannte die lokalen und translokalen Netzwerke durch den Postverkehr von Akteuren, die sich nie gesehen hatten, während sie die Verknüpfung ihrer lokalen Szenen ermöglichten.9 Die Etablierung des Internets seit der Mitte der 1990er Jahre knüpfte dann an diesen Netzwerken an, wurde aber ambivalent aufgenommen – einerseits erleichterte und beschleunigte das World Wide Web viele der Kommunikationsprozesse erheblich, andererseits ging genau damit für viele Akteure der subkulturelle Reiz verloren. Was jeder sofort haben konnte, war zur exklusiven Distinktion nicht mehr geeignet.10
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Vgl. bei James Hetfield, in: Dubin (Reg.), Murder in the Front Row, Bonus Material 00.52 Min. Vgl. auch ausführlich Kap. 6.2.3. Vgl. auch bei Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, 2. Aufl., Berlin 2014, S. 873–875, 890f. Vgl. Richard A. Peterson/Andy Bennett, Introducing Music Scenes, in: dies. (Hg.), Music Scenes, S. 1–15. Zur Bedeutung des Internets vgl. Kap. 7 und 8.
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Fünftens wiesen die Kommunikationsbeziehungen im Laufe der 1980er Jahre alle Anzeichen von glokalen Netzwerken auf. »Glokalisierung« verweist dabei auf eine gegenseitige Verschränkung unterschiedlicher Handlungs-und Wahrnehmungsebenen in der sich globalisierenden Moderne, worunter vor allem zu verstehen ist, dass globale und lokale Ebenen keinen Widerspruch, sondern sich bedingende – daher »glokale« – Aspekte einer Entwicklung darstellen. Im Einzelfall ist daher oft von der gegenseitigen Bedeutung des Nahen und Fernen füreinander gesprochen worden.11 Hinsichtlich der Geschichte von Metal-Szenen ist damit gemeint, dass jegliche Szenestruktur aus lokalen – häufig urbanen und/oder regionalen – Anfängen der Kommunikation resultierte. Die dort entwickelten stilistischen Besonderheiten in Musik, Fankultur, Ökonomie, Journalistik, Infrastruktur etc. gingen jedoch bereits zu Beginn ihrer Genese eine kommunikative Verbindung zu anderen lokalen Strukturen ein und nahmen dadurch ferne Anregungen auf. Dies geschah im Falle des Metals durch persönliche Kontakte, Tape Trading-Kanäle und/oder geschäftliche Beziehungen, i.d.R. aber hoch dynamisch und mit großer Leidenschaft seitens der Akteure. Der sich daraus entwickelnde Zusammenhang globalisierte sich also, behielt aber auch weiterhin bestimmte lokale Distinktionsmerkmale bei, die wohl am ehesten in der wichtigen regionalen Verortung von Metal-Bands weiterbestehen. Glokalität war demnach sowohl mit der kommunikativen Verdichtung als auch mit dem gestiegenen Wettbewerbsdruck verbunden. Und sechstens verschoben sich im Laufe des Untersuchungszeitraums die Methoden des szene-internen Wettbewerbs durch die kommunikative Verdichtung. Eine Konkurrenz – etwa zwischen Bands – über unpersönliche Kanäle laufen zu lassen, war immer noch möglich und üblich, wurde aber von der sozialen und räumlichen Integration im Szenebildungsprozess herausgefordert. Im Kapitel zum Crossover mit der Punk-Bewegung wurde in diesem Zusammenhang bereits deutlich, dass sich starre und konfrontative Zuordnungen schnell entschärfen konnten, wenn persönliche Nähe ins Spiel kam. Im Wettbewerb in Metal-Szenen führte dies einerseits dazu, dass zwischen vielen Musikern und Bands sehr harmonische, unterstützende und freundschaftliche Verhältnisse herrschten. Andererseits schwanden aber auch die Chancen, um sich aus dem Weg zu gehen, was eine soziale Polarisierung begünstigte: Entweder man kam sehr gut oder gar nicht miteinander aus. Für Bands in langfristigen Plattenverträgen, die den lokalen Szene-Rahmen verließen, mochte dies dann weniger gelten – für die Phase der Genese lokaler Szenen mit aufsteigenden Bands bedeutete es dagegen oft die Wahl zwischen Kooperation oder Konfrontation. Betrachtet man die Szenebildung vor dem Hintergrund dieses Wandels als Mischung sozialer, kultureller, medialer und kommerzieller Faktoren und wählt eine empirischerfahrungshistorische Perspektive, dann änderte sich an den jeweiligen »Szene-Chronologien« bzw. den »trajectories«12 im Untersuchungszeitraum nichts Grundsätzliches. 11
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Vgl. Roland Robertson, Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone/ Scott Lash/Roland Robertson (Hg.), Global modernities, London 2010, S. 25–44; Imke von Helden, Glocal Metal. Lokale Phänomene einer globalen Heavy Metal-Kultur, in: Rolf F. Noor/Herbert Schwaab (Hg.), Metal matters. Heavy Metal als Kultur und Welt, Münster 2012, S. 379–388. Vgl. Jennifer C. Lena/Richard A. Peterson, Classification as Culture. Types and Trajectories of Music Genres, in: American Sociological Review 73 (2008), S. 697–718; Vgl. auch Jennifer Lena, Banding together. How Communities Create Genres in Popular Music, Princeton 2012. Für Lena
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Kommunikations-und Konkurrenzbeziehungen intensivierten sich aber fortlaufend innerhalb eines Entwicklungsbogens, der für alle Metal-Szenen in etwa folgendermaßen aussah: 1. Am Anfang lokaler Kommunikationsnetzwerke standen zeitgleiche gemeinsame Erfahrungen jugendlicher Akteure, die diese als musikalische Erweckung empfanden und dementsprechend erinnern. Für den Band-Gründungsprozess sind diese Erweckungen bereits beschrieben worden und führten dazu, dass Jugendliche entweder zu Musikern wurden oder ein existentes Instrumentalspiel deutlich verbesserten – sich parallel aber auch nach Gleichgesinnten umschauten und auf diese Weise Freundeskreise entwickelten, die häufig die Organisationselite des späteren »Szenekerns«13 markierten. Für Fans, für die ein Instrument nicht in Frage kam oder die erkannten, dass es ihnen an Talent fehlte, offenbarte sich dieser Erweckungsmoment ebenso bedeutend, manifestierte sich aber in dem Wunsch »irgendetwas beizutragen« und führte dementsprechend eher zu einem medialen, organisatorischen oder kommerziellen Engagement.14 2. Das zentrale Gefühl der Akteure – das wichtigste Antriebsmoment – war in der Bildungsphase einer Metal-Szene der Eindruck von Kontingenz. Die weitere Entwicklung erschien völlig offen und eben auch offen für die eigene Initiative. Für das subkulturelle Individuum war dies der perfekte Platz, an dem das spezifisch Neue der Kulturproduktion mit der Pflege exklusiver sozialer Netzwerke zusammentraf und einen großen Distinktions-und Authentizitätsüberschuss ermöglichte. Frühe Szenen bildeten daher sehr dynamische Betätigungsfelder jugendlicher Fans, die viel Zeit und Geld in »ihre« Gemeinschaft investierten. Das dabei handlungsleitende »magische« Kontingenz-Gefühl, das die Beteiligten als »Alles ist möglich« erinnern, gehört deshalb zu den häufigsten Interview-Aussagen und offenbarte sich szene-unabhängig in den »langen 1980er Jahren« konstant: Bereits Rob Halford sprach für die Zeit um 1970 von einer »great time, […] because it was still finding its place.«15 Für Nick Bowcott, Gründer von Grim Reaper aus Worcestershire, bezog die Musik ihre Attraktivität aus der Tatsache, dass die Band »through uncharted territory«16 ging. Nur wenige Jahre später fand Robb Flynn in San Francisco die frühe Thrash Metal-Szene deshalb so spannend, weil »it didn’t have any history.«17 Andere Musiker sprachen von einem »undefined genre«18 , einer Situation »ohne Grenzen«19 , in der man mit »sheer enthusiasm« ein »open book« kreativ füllen konnte.20 Kelly Shaefer interpretierte diese Phase in Florida als »honest« und »organic«,
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existieren Entwicklungsbögen von Genres entlang der vier Stufen Avant-garde, Scene-based, Industry-based, Traditionalist. Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, S. 27. Vgl. etwa Jon Kristiansen, Slayer 1 February 1985. Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 29. Popoff, Wheels of Steel, S. 50. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 95. Wall, Enter Night, S. 149f. Dave Craiglow, in: Netherton, Extremity Retained, S. 29. Ebd., S. 118f. Ebd., S. 56, 118.
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weil weder Beispiele noch Vorlagen bestanden21 und Johnny Hedlund empfand zeitgleich in Stockholm, dass das »no limits«-Gefühl viele schwedische Jugendliche anzog.22 Unabhängig davon, dass bei solchen Aussagen stets eine Selektion mitschwingt, die Distinktion dadurch generiert, »schon dabei gewesen zu sein«, füllte die Attraktivität des Neuen in frühen Szenen spezifische Räume aus und begründete die zunächst engen und exklusiven sozialen Netzwerke sowie die manische Energie des Szene-Engagements. In Trenton empfand Robert Conrad dies rund um den Club City Gardens: You could not capture the vibe today that I was lucky enough to experience back in Trenton – the people, the bands, the clubs/shows, college radio etc. It is hard to describe in words what it was like. It was at times very insular and close-knit, bordering on closed. There weren’t any rules or past experiences to compare things to or use as a roadmap.23 Dass diese Aussagen meist als Verlusterfahrungen adressiert werden und sich regionale Kontingenz-Gefühle in Form einer Distinktionsspirale während der 1980er Jahre ausprägten,24 deutet bereits die fragile Kurzfristigkeit dieser Phase an. Szenen mündeten oft schon nach wenigen Jahren in eine Konsolidierungsphase, in der sich die Anzahl der Bands und auch der »Szene-Gänger« vergrößerte und sich überdies regionale musikalische Merkmale etablierten, die in einem Labelling-Prozess endeten. 3. In der frühen Phase des Szenebildungsprozesses intensivierte sich die lokale Kommunikation zunächst um bestimmte geteilte Räume, von denen die ältesten oft einen ikonischen Status erhielten. Der wichtigste dieser Räume war in einer nicht-digitalisierten Dekade der Plattenladen, gefolgt von Proberäumen und der regional sehr unterschiedlichen Vielfalt der Live-Musik-Venues. Besonders die Clubs prägten dabei das Szene-Selbstverständnis der Akteure erheblich und dienten in Form von »signature venues« als identitätsstiftende Bezugsgröße lokaler Gemeinschaften. 4. Zeitgleich trans-lokalisierten sich die sozialen Netzwerke durch die Etablierung von medialen und kommerziellen Infrastrukturen, die Musiker und Fans aus entfernten Räumen auf die lokale Szene aufmerksam machten und »pull-Faktoren« begründeten.25 Trans-lokale Strukturen setzten Menschen also in Bewegung und führten zu direktem, persönlichem Kontakt über empfundene Regionen-und Landesgrenzen hinweg. Auch hier spielten Plattenläden und Clubs eine wichtige Rolle, aber auch lokale Flohmärkte/
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Interview Kelly Shaefer, 11.59-12.07 Min. Vgl. Interview Johnny Hedlund, Z. 8–9. Chris Forbes, This Zine Sucks Fanzine. Interview with Robert Conrad, in: Metalcore Fanzine. So z.B. Vince Matthews, in: Netherton, Extremity Retained, S. 123: »It was that special time when the underground was really united behind all the bands, because just a few years after that you had alle the different sub-genres sprouting up that divided the underground into even more factions. But that’s what happens to every genre eventually, I suppose.« Vgl. Rachel Emms/Nick Crossley, Translocality, Network Structure, and Music Worlds. Underground Metal in the United Kingdom, in: Canadian review of sociology = Revue canadienne de sociologie 55 (2018) 1, S. 111–135.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Tauschbörsen (»swap meets«), die Ansiedlung von wichtigen Studios, Magazinen und Fanzines sowie die Initiative lokaler Promoter wirkten in diese Richtung.26 Eine derartig aktive Szene-Infrastruktur hatte zwei wesentliche trans-lokale Folgen: Einerseits wuchs die Mobilitätsbereitschaft der Fans enorm und umfasste im Grunde alles, was fahrbar erschien. Andererseits evozierte sie endgültige Migrationsbewegungen aus der empfundenen Provinz in die regionalen Szene-Hotspots. 5. Neben den lokalen und trans-lokalen standen virtuelle Netzwerke, die spätestens seit der Etablierung der Szenen im Ruhrgebiet und in der San Francisco Bay Area keine Folge der lokalen Kommunikation mehr waren, sondern eine Voraussetzung für Szene-Bildungen darstellten. Sie umfassten vor allem das Tape Trading, den Austausch von Fanzines, die Vermittlungsfunktion der entstehenden Magazine sowie das Radio und teilweise das Fernsehen. Ebenso wie sich Tape Trading nicht von der Fanzine-Herausgabe trennen ließ, sollten lokale, trans-lokale und virtuelle Netzwerke nicht getrennt voneinander verstanden werden – ihre praktische alltägliche Verknüpfung und ihre glokale Funktionslogik verbanden auf globale Weise lokale Aufbrüche, ermöglichten Informationsfluss und Vergleichbarkeit über politische, sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg. Erst die Involvierung in allen Kommunikationsformen bot die Chance, den Markt der musikalischen und ästhetischen Stile zu überblicken und sich effektiv eine musikalische, mediale oder kommerzielle Nische zu suchen, in der subkulturelle Distinktion und wirtschaftlicher Erfolg vereinbar erschienen.27 6. Mit der Abnahme der anfänglichen Kontingenz war ein Wandel der Sozialbeziehungen in Metal-Szenen verbunden, der sich einerseits als Professionalisierung und Spezifizierung beschreiben lässt: Die Festlegung von Szene-Grenzen (stilistisch wie räumlich), die Besetzung musikalischer Alleinstellungsmerkmale durch Bands, die zunehmend vertragliche Bindung und die medial kanalisierte Erwartungshaltung neuer Fans führten zur Ausbildung bestimmter fester Merkmale, zu Szene-Labels wie »Florida Death Metal« oder »Norwegian Black Metal« und damit zur Ablösung der offenen Zukunftsentwürfe durch Szene-Konventionen. Andererseits formierten sich in diesem Prozess neue Wettbewerbsmuster und Hierarchien durch die Tatsache, dass die mediale Aufmerksamkeit begrenzt war. Wenige Akteure erlangten dabei eine Deutungshoheit über die Szene-Entwicklung, etablierten stilistische Szene-Merkmale, besetzten Alleinstellungs-Nischen und verteidigten diese gegen die empfundene Masse jener nachkommenden Bands, die von der medialen Aufmerksamkeit und ihren kommerziellen Potentialen profitieren wollten. Dieser Wettbewerb wurde (und wird) als eine Verteidigung des Undergrounds gegen Trittbrettfahrer verhandelt, verdrehte dabei aber Ursache und Wirkung:28 Es handelte sich jenseits der vermeintlichen Opferrolle der Szene-Gründer um eine logische Folge ihrer eigenen Kommerzialisierung, die
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Vgl. etwa Brian Slagel, For the sake of heaviness. The History of Metal Blade Records, New York/ Los Angeles 2017, S. 5–20. Vgl. zur Parallelität dieser Prinzipien: Andreas Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial-und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016, S. 186–190. Vgl. etwa zahlreiche Aussagen in Netherton, Extremity Retained, S. 107, 115, 148, 418, 446, 449.
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nicht weniger wirksam wurde nur weil man sie in einer antikommerziellen Attitüde kommunizierte.29 Um subkulturelle Distinktion und Wirtschaftlichkeit zu vereinbaren, bedurfte es argumentativer Gratwanderungen, die die Widersprüche dieser Zielstellung zwar verschleiern, aber deren Folgen nicht vermeiden konnten. 7. Wettbewerb und Hierarchien spielten auch eine wichtige Rolle, wenn die mediale Aufmerksamkeit für eine Metal-Szene endete. Freilich nicht alle, aber viele Bands lösten sich auf oder machten eine Pause als der mediale Fokus und damit die Aussicht auf kommerziellen Erfolg zur nächsten lokalen Kontingenz weiterzog. Dies betraf die NWOBHMBands und den »frischen« Thrash Metal ebenso wie die Verschiebung von Death Metal zu Black Metal – und ließe sich von dort aus über den Grunge usw. weiterführen.30 In jeder der hier besprochenen Szenen existierten und produzierten jedoch Bands weiter und ermöglichten durch ihre lokale Verwurzlung ein Überschreiten der Generationengrenze.31 Gleichzeitig orientierten sich aber nicht nur junge Musiker in der jeweiligen Region an den Szene-Labels – die globale Verbreitung führte dazu, dass schwedischer Death Metal, norwegischer Black Metal oder Bay Area Thrash Metal nicht zwingend schwedische, norwegische oder Musiker aus San Francisco benötigen. Es handelt sich eher um kanonisierte Kategorien, die ein bestimmtes Setup musikalischer Merkmale umfassen. Trotzdem ist zu beobachten, dass jene Bands, die bereits die Szene-Kerne der 1980er Jahre bildeten, weiterhin oder wieder aktiv sind und ihre Position gegenüber den Nachkommenden effektiv verteidigten.32 Die Szenen sind nach ihrer Hochphase also gealtert und weisen außerdem eine signifikant veränderte Entwicklungslogik auf: Die Kontingenz der »langen 1980er Jahre« wich dabei einem Traditionsbewusstsein. Indem die Bands ihren erfolgreichen Stil spielen und weiterhin mit ihrer Herkunftsregion verbinden, haben sich stilistische Revolutionäre zu konservativen Bewahrern entwickelt, die ihre eigene Kreation der Vergangenheit verteidigen. Merchandise-Parolen wie »Make Thrash Great Again« sind in diesem Zusammenhang nicht nur politische Statements der
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Diese Ambivalenz bei: Klaus Nathaus, Driven by Enthusiasm, Harnessed by Politics. Amateuring in Music, in: ders./Martin Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe, München/Berlin 2021, S. 79–101, hier S. 95. Vgl. Kap. 6.2.5. In den Interview-Aussagen ist das Weiterziehen der Aufmerksamkeit meistens an eine oder wenige bestimmte Bands gekoppelt, die die Hörgewohnheiten der Akteure stark veränderten. Vgl. z.B. Greg Saenz (Excel): »My generation of metalheads were burned out on the NWOBHM by 1982 and looking for something more intense. We had passed on the punk movement and were now left with a new breed of metal bands that dressed like girls. Ozzy and Dio never sounded the same after we heard Motörhead, Venom, Metallica, Possessed, Mercyful Fate and Exodus. We claimed that as our own, and began trading tapes; we simply categorized it as ›thrash metal‹, ›hardcore thrash‹, ›black metal‹, or even ›death metal‹, back then.« Anesiadis, Crossover the edge, S. 227. Zur Überwindung der »generation gap« in Metal-Szenen vgl. Wallach/Levine, I want you to support local metal, S. 118f. Dies gilt für das Ruhrgebiet (Kreator, Sodom), Florida (Morbid Angel, Obituary, Deicide), Kalifornien (Exodus, Slayer, Testament, Megadeth) und Schweden (Unleashed, Dismember, At the Gates) genauso wie für Norwegen (Mayhem, Darkthrone, Emperor, Enslaved).
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Band Exodus, sondern ein Ausdruck ihres Traditionsbewusstseins und ihres kommerziellen Kalküls, sich als Begründer des Sub-Genres abzugrenzen.33 Der Szenebildungsprozess soll vor dem Hintergrund dieser Entwicklungsbögen und den skizzierten Intensivierungsprozessen im Folgenden als Spannungsverhältnis zwischen forcierten Kommunikationsbeziehungen einerseits und Konkurrenzverhältnissen andererseits interpretiert werden. In einem ersten Schritt widme ich mich dazu der kommunikativen Verdichtung der lokalen Netzwerke über einen räumlichen Zugriff und behandele die Plattenläden und Spielstätten. Daran anschließend werden translokale Phänomene wie die steigende Mobilitäts-und Migrationsbereitschaft besprochen und mit dem Singularisierungsprozess spezifischer Events und Orte ein diskursiver Aspekt von Szene-Narrativen einbezogen. Die virtuellen Netzwerke des Tape Tradings und der Fanzines, sowie die enorm einflussreiche Vermittlung durch eine spezialisierte Metal-Presse und Radio-Formate bilden schließlich den Abschluss. Der zweite Abschnitt des Kapitels entwirft Szene-Bildung als Wettbewerb um Aufmerksamkeit und widmet sich zunächst den Vorstellungen räumlicher Szene-Grenzen sowie der Existenz von »Gegen-Szenen«. Im Hauptteil wird dann auf den Wandel der Disktinktionsstrategien, Wettbewerbsmuster und Konkurrenzen innerhalb der besprochenen Szenen eingegangen und mit der norwegischen Black Metal-Szene ein historischer Fall adressiert, der in vielerlei Hinsicht den Fluchtpunkt dieser Entwicklungen in den »langen 1980er Jahren« markierte. Den Abschluss bildet eine Darstellung der Formen und Narrative, mit denen die Akteure versuchten, das Abebben der Aufmerksamkeit zu verhandeln.
6.1 Die Kommunikationsoffensive der 1980er Jahre – Räume, Medien und Praktiken in Metal-Szenen 6.1.1 Der Plattenladen als Konsumraum, Treffpunkt und Organisationsort … and honestly, the scenes that had the best record stores in places like Florida, Seattle, San Francisco, New York, et cetera, would always have the biggest and most vibrant crowds.34 Der Plattenladen war in den »langen 1980er Jahren« der wichtigste Anlaufpunkt lokaler Fans und Musiker und gehörte zu den zentralen Voraussetzungen der Szene-Bildung. Unter nicht-digitalisierten Bedingungen und vor dem Hintergrund, dass viele Platten nicht global zur Verfügung standen, d.h. keinen einheitlichen internationalen Vertrieb aufwiesen, stellten Plattenläden Leistungen von herausragender Bedeutung zur Verfügung und trugen maßgeblich zur glokalen Entwicklung der Vergemeinschaftung bei.
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Vgl. den T-Shirt-Aufdruck, URL: https://napalmrecords.com/english/make-thrash-great-again-t-s hirt.html (letzter Aufruf 16.05.2022). Mitch Harris (Napalm Death), in: Netherton, Extremity Retained, S. 349.
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Keine Szene-Erzählung kommt daher ohne sie aus, keine Erinnerung der Akteure spart an Hinweisen auf ihre immense Rolle für die lokale Metal-Community.35 Zunächst handelte es sich bei den Läden um Konsumorte: Besucher erhielten in der Regel die aktuellen Veröffentlichungen, die einen nationalen Vertrieb aufwiesen sowie eine Reihe älterer, »klassischer« Platten. Viele der Läden, auch einige jener, die später einen ikonischen Status für regionale Metal-Szenen erlangten, waren dabei wenig oder gar nicht auf Heavy Metal und Extreme Metal spezialisiert, sondern führten Platten der unterschiedlichsten Genres. Ace’s Records in Tampa, der wichtigste Plattenladen für Metal im US-amerikanischen Süden, verkaufte durchweg eine genauso breite musikalische Mischung wie Home of the Hits in Buffalo, Elpi in Dortmund oder Bleeker Bobs in New York.36 Mit dem lokalen Interesse an Metal-Platten durch eine entstehende Szene spezialisierten sich jedoch viele Plattenläden bis zu einem gewissen Grad auf Metal oder wurden dafür neu gegründet und werden daher vor allem als Szene-Läden erinnert – so etwa Heavy Sound in Stockholm, Dolores in Göteborg, The Record Vault in San Francisco, Shades in London und besonders Helvete in Oslo.37 Nur in den wenigsten Fällen setzte sich dabei eine volle Fokussierung auf (Heavy) Metal durch, wofür wirtschaftliche Argumente gesorgt haben dürften. Mit Erkennen des lokalen Bedarfs war die Entstehung einer räumlichen Abteilung für Metal daher kennzeichnender.38 Auch die Betreiber von Plattenläden waren zunächst meist nicht notwendigerweise Metalheads, sondern Händler mit breiterem Musikinteresse, die sich nichtsdestotrotz zu wichtigen Bezugspersonen der lokalen Metal-Fans entwickeln konnten.39 An vielen Orten war auch hier die Schnittstelle mit dem Punk von großer Bedeutung: Idiots Records entstand als Plattenladen 1987 in Dortmund als Projekt von Hannes Schmidt, dem Frontmann der Punk-Band The Idiots, und verkaufte von Beginn an auch Metal-Produkte,40 und in The Record Vault in San Francisco fußte die Thrash Metal-Szene auch im Plattenla-
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Trotz dessen hat der Plattenladen als Konsum-, Organisations-und Vergewisserungsort von Szenen bisher keine Rolle in der Forschung gespielt. Ansätze bei Kahn-Harris, Extreme Metal (als Teil des Kapital-Flusses von Szenen), S. 78–90; Sowie bei Wallach/Levine, I want you to support local metal (als Teil der räumlichen Struktur einer Szene). Vgl. Bruce Eaton, Hometown Music Mecca No More, in: Buffalo Spree (2007); Vgl. Schmenk/ Krumm, Kumpels in Kutten, S. 42 (Elpi in Bochum und Dortmund, sowie auch in Aachen als erste Anlaufstelle); Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 17 (Bedeutung von Ace’s Records in Tampa); Vgl. Bill Pellegrino, Vintage Vinyl by Wilson, 2019, URL: https://garagebandits.online/2019/07/08 /vintage-vinyl-by-wilson/ (letzter Aufruf 13.05.2022). Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 71, 72, 109, 185; Vgl. Oimoen/Lew, Murder in the Front Row, S. 1, 19, 28; Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 61; Vgl. Kristiansen, Slayer 9 (1992). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 219, 221; Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 534. Vgl. Interview Rob Yench, 32.55-35.58 Min. (spezialisierte Wände im Rock Fantasy in Middletown); Vgl. auch die Erinnerung Ron Quintanas an die Arbeit im Record Vault 1983–1989, in: Forbes, Interview with Ron Quintana, in: Metalcore Fanzine; Spezialisierung durch Trennung in zwei Geschäfte vgl. Martin Clear, This Music These Books Deserve Second Looks, in: The Tampa Tribune, 25.09.1993, S. 80. Vgl. Curtis Ross, Sound Shopping, in: The Tampa Tribune, 04.12.1992, S. 176 (Ace’s Records und Frank Dancsecs). Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 33.45-35.02 (zu Idiots Records).
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den auf einem Punk-Fundament.41 Es existieren einige Beispiele dafür, dass sich diese enge Verbindung mit dem Punk während des Jahrzehnts auch nicht löste: Gerade in den entstehenden Death Metal-Szenen waren beide Genres zunächst gleich wichtig und etwa in Stockholm, New York und New Jersey verkauften Läden daher meist Metal und Punk.42 Mit der Entwicklung zu spezialisierteren Läden entsprang die Initiative zur Gründung oft der DIY-Idee und gerade kleine, meist nur temporär bestehende und musikalisch-spezialisierte Läden, die heute kaum noch bekannt sind, waren das Betätigungsfeld von Fans und manchmal sogar Musikern. Abseits des kommerziellen Fahrwassers verortet und leidlich über der Subsistenzgrenze, waren Punk und Metal hier nicht ein Teil des Angebots, sondern der Existenzzweck. Einen solchen Laden gründete beispielsweise Adrian Jones 1987 in Birmingham und zog damit sogar die Aufmerksamkeit der städtischen Presse auf sich. Nachdem er seinen Job als Mechaniker verloren hatte, eröffnete er Thrash, Bang, einen »thrash metal record outlet« im Stadtzentrum und nutzte dafür wie viele andere englische Metalheads die Investitionsmöglichkeit des EAS (Enterprise Allowance Scheme). Die nötigen 1.000 Pfund borgte er sich bei seinem Vater, der seinen Job als Schweißer ebenso verloren hatte. Jones verkaufte nur Punk, Metal und Thrash Metal und zielte nach eigener Aussage besonders auf die Arbeitslosen ab, da er die Alben ein Pfund unter den Preisen der anderen Shops anbot.43 Anders als bei den erfolgreich wachsenden und musikalisch-breiter aufgestellten Läden, waren Plattenläden wie Thrash, Bang daher eine Erwerbsmöglichkeit mit Lebensstilbezug, die kaum auf Dauer angelegt sein konnte, weil allzu spezialisierte Angebote schnell vor einem Absatzproblem standen.44 Eine der wichtigsten Aufgaben der Betreiber war – je nachdem auf welchem Kontinent der Laden lag – der Import von amerikanischen bzw. europäischen Platten oder deren Beschaffung über Dritte. Speziell im Metal und Punk wiesen viele kleine Labels lediglich einen geografisch begrenzten Vertrieb auf, sodass die neuesten Produkte von der anderen Seite des Atlantiks umständlich und teuer beschafft werden mussten. Jene Plattenläden, deren Betreibern dies gut gelang, entwickelten auch lokal meist die größte Anziehungskraft: Bleeker Bob’s, der Plattenladen von Robert Plotnik, der mit vielen Musikern aus dem Rock und Punk Rock vernetzt war, wurde auf diese Weise zu einer bedeutenden Anlaufstelle nicht nur vieler Metalheads.45 Der Laden in Manhattan trug dem rasch wechselnden Modernitätsbedürfnis der New Yorker Musik-Szenen dadurch Rechnung, dass Plotnik die Importmethoden europäischer Platten wie kaum ein anderer beherrschte. Als sich seit der Mitte der 1970er Jahre die Vorliebe vieler Plattensammler im Punk und 41 42 43 44 45
Vgl. Chris Forbes, Interview with Ron Quintana; ders., Skitzo. Interview with Lance Ozanix, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Forbes, Jersey Beat. Interview with Jim Testa. Vgl. Graham Young, Teenager on right track for success, in: Evening Mail, 27.08.1987, S. 7. Diese Ambivalenz aus stilistischer Nische und finanziellen Erwägungen fanden sich prototypisch auch im Helvete in Oslo. Vgl. Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 83. Vgl. Interview Dan Lilker, 14.18-15.23 Min.; Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 61 (Henry Veggian); Vgl. Forbes, Prime Evil, in: Metalcore Fanzine (Mike Usifer); ders., Deathrash, in: Metalcore Fanzine (Pat Burns); Vgl. ders., Joe Pupo, in: Metalcore Fanzine; Vgl. ders., Necroharmonic Productions. Interview with Roy Fox, in: ebd.
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New Wave auf die 7-Zoll-Platte mit 45 Umdrehungen konzentrierte, die für den MetalUnderground ebenfalls große Bedeutung erlangte,46 flog Plotkin wöchentlich nach England, um mit zwei Koffern voller 7”-Vinyls zurückzukehren. Da vor 1981 noch kein Distributor für englische 45er-Vinyls in den USA existierte, wurde Bleeker Bob’s zum Hotspot der Punk-Szene und später auch vieler Metalheads.47
Abb. 42: Bleeker Bob’s Record Store in Manhattan.
Quelle: URL: https://garagebandits.online/2019/07/08/vintage-vinyl-by-w ilson/ (letzter Aufruf 16.05.2022).
Noch stärker mit der Gründungserzählung der Metal-Szene an der Ostküste verbunden war Rock’n’Roll Heaven, angesiedelt auf dem »flea market« von New Brunswick in New Jersey und geführt durch Jon und Marsha Zazula. Marsha Zazula kaufte die Import-Platten aus Europa in einem Lagerhaus von Important Distribution und trug sie zum Laden, wo sie das Paar weiterverkaufte. Darunter war auch die Zeitschrift Kerrang!, medialer Wortführer der NWOBHM, die in der Region kaum jemand kannte und die sie für zwei Dollar an-und für drei Dollar verkauften. Die interessierten Jugendlichen lasen nun Kerrang! und fragten nach den Importen der Bands, sodass sich englische Bands wie Iron Maiden, Venom, Raven oder Girlschool auf Umwegen in der amerikanischen Hörerschaft festsetzten.48 Am »Puls der Zeit« zu sein war für die importierenden Plattenläden ein enormer Wettbewerbsvorteil und zahlreiche Aussagen von Fans und Musikern weisen auf diese Reputation mit einem ähnlichen Wortlaut hin: »If they didn’t have it, you couldn’t get it.«49 Auch in Pittsburgh meinte Mike Lawrence in ein »dreamland« einzutreten, wenn er die Importe bei B&D Records sah, während sich Marc Fishers Plattenladen der Wahl in 46 47 48 49
Vgl. Andreas Hertkorn, Seven Metal Inches. 40 Years of Picture 7"s in Extreme Metal, Berlin 2017. Vgl. Pellegrino, Vintage Vinyl by Wilson. Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 30. Vgl. Kevin Astl, in: Andreyuk, Tape Dealer, S. 178; Vgl. Donald Tardy, in: Netherton, Extremity Retained, S. 144.
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den Vororten von Philadelphia ebenfalls durch eine »great import selection« auszeichnete. Diese ermöglichte ihm beispielsweise den Kauf der Platte »To Mega Therion« der Schweizer Band Celtic Frost.50 Für Betreiber von Plattenläden, die Importe besorgten, oder für ihre Mitarbeiter, die diese hörten, verkauften und die Nachfrage eruierten, war die Tätigkeit im Plattenladen oft nur ein Teil einer szene-relevanten Beschäftigung. Ihre Vernetzung und ihr Informationsvorsprung qualifizierten sie besonders als Autoren von Fanzines und Magazinen, was unter anderem auf Plattenläden in London, San Francisco, Los Angeles, Oslo oder Gelsenkirchen zutraf. Die passionierten Fans hatten Zugriff auf die neuesten Platten, ließen ihr Wissen in die Printmedien der Szene einfließen und erhielten im internationalen Postverkehr neue Einflüsse und Hinweise, die im Plattenladen in Profit umgesetzt werden konnten.51 Ein weiteres Standbein suchten sich Plattenladen-Betreiber auch in der Distribution von Platten und Merchandise und/oder gar als Plattenlabel. Prototypisch traf dies auf das schwedische Unternehmen House of Kicks zu: 1986 als Plattenladen in der Altstadt von Stockholm durch Calle von Schewen und Johan Hargeby gegründet, spezialisierte sich House of Kicks auf Punk und Picture Discs, importierte Produkte aus den USA und trat als Distributor für Schweden hervor – etwa für das Indie Label No Fashions Records von Tomas Nyqvist. Anders als die vielen schwedischen DIY-Gründungen etablierte man sich durch konkurrenzbewusste und teils rücksichtslose Wettbewerbspraktiken und Geschäftssinn, kaufte Chickenbrain Records von Fredrik Holmgren, den bisherigen schwedischen US-Importeur, auf, übernahm auch das Label No Fashions Records und stieg 1990 als Plattenlabel in das Geschäft ein.52 House of Kicks löste dadurch um 1990 auch das Heavy Sound als wichtigsten Plattenladen Stockholms ab und wurden als Sound Pollution zum größten schwedischen Distributor für Metal-Produkte.53 Die hier besprochenen Szenen wiesen eine sehr unterschiedliche Dichte solcher importierender Plattenläden auf. In der frühen Ruhrgebietsszene, in Oslo, Göteborg und Stockholm handelte es sich nur um sehr wenige oder gar nur einen Laden, der diese Funktion übernahm.54 Auch in Tampa, dem Zentrum der Death Metal-Szene Floridas, bestanden zwar andere Läden,55 doch war die Aufmerksamkeit der Szene-Gänger durch die spezialisierte Initiative des Betreibers Frank Dancsecs seit den späten 1980er Jahren ganz auf Ace’s Records zugeschnitten, wo man sich über das Angebot bei den Metalheads bewarb und sogar Lagepläne als Werbung drucken ließ.
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Vgl. Forbes, Dream Death. Interview with Brian Lawrence, in: Metalcore Fanzine; Vgl. ders., Interview with Marc Fischer, in: ebd. So arbeiteten beispielsweise Dave Constable (Metal Forces Magazin) im Londoner Shades, Tim Yohannan oder Ron Quintana im Record Vault in S.F., Charly Rinne (Metal Hammer usw.) im No Remorse in Gelsenkirchen oder Axel Thubeauville im Insider in Essen. Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 161. Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 200; Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 139. Vgl. Interview mit Mille Petrozza, in: Kristiansen, Slayer 20 (2010), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 692. Vgl. Interview Mike Browning, Z. 10–14 (zu Asylum Records als seine erste Anlaufstelle, dann Ace’s).
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Abb. 43: Regionale Werbung für Ace’s Records (um 1990).
Quelle: FB-Post 07.04.2018, A Tribute to Ace’s Records – Tampa FL, URL: h ttps://www.facebook.com/AcesFL/photos/343646776042934 (letzter Aufruf 16.05.2022).
In Metal-Szenen, die in Regionen mit einer längeren populärmusikalischen Tradition lagen und über eine größere Auswahl spezialisierter Plattenläden verfügten, tendieren die Narrative der Fans und Musiker dagegen nicht so stark zu einzelnen Läden, sondern betonen eher das enorme Angebot. Besonders New York und New Jersey wiesen ein sehr dichtes Netz von Plattenläden auf, sodass die Akteure selbst ohne Führerschein mehrere Anlaufstellen besaßen. Roy Fox, der aus dem Norden New Jerseys stammte, wies auf drei Läden in direkter Umgebung hin und unternahm überdies Ausflüge nach New York (dort nennt er allein zwölf Plattenläden mit Underground-Metal) und in andere »Edge Cities« von New Jersey.56 Zu den wichtigsten Bezugspunkten, die sich in fast allen Aussagen wiederfinden, gehörten dabei Slipped Disc und Bleeker Bob’s in New York sowie Vintage Vinyl (in Fords), Princeton Record Exchange und Rock’n’Roll Heaven in New Jersey. Kurz hinter der Westgrenze des Staates waren auch in Philadelphia zahlreiche spezia-
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Vgl. Forbes, Necroharmonic Productions. Interview with Roy Fox.
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lisierte Plattenläden zu finden.57 Eine andere gute Plattenladen-Infrastruktur wies die San Francisco Bay Area auf, wo sich neben The Record Vault auch angesagte Shops in Berkeley, Walnut Creek, Antioch oder Concord befanden.58 Die größte Vielfalt an Plattenläden in Europa wies London auf. Als jahrzehntelanges Zentrum populärmusikalischer Innovation besaß die Stadt einen auf beinahe alle Genres spezialisierten Markt, der sich auf neue Stile rasch anpassen ließ und wirkte in den 1980er Jahren für kontinentaleuropäische Metalheads wie ein Magnet.59 Nach einer unvollständigen Schätzung bestanden allein im Stadtteil Soho zwischen 1946 und 1996 mehr als 120 Plattenläden und das Shades, der wichtigste Laden für die NWOBHM, war in den frühen 1980er Jahren in eine musikalische Vielfalt eingebettet, in der sich vor allem die NWOBHM, deren Transgression im Extreme Metal und die Weiterentwicklungen der Punk-Bewegung verknüpften.60 Ebenso wie in San Francisco und in New York/New Jersey gehörte diese räumliche Scharnierfunktion für einen gemeinsamen Konsum zwischen Metalheads und Punks zu den Grundvoraussetzungen für die starken CrossoverImpulse, die aus diesen Metropolregionen hervorgingen. Denn neben den Produkten war es stets wichtig, wo ein Plattenladen lag und wie er durch seine Erreichbarkeit auf potentielle Fans sozial integrativ wirken konnte. So lag Oz Records, ein wichtiger Plattenladen für die Verbreitung der NWOBHM in Los Angeles, in Woodland Hills, einem Stadtteil mit einer zahlungskräftigen Klientel, und mit guter Anbindung an den Topanga Canyon, wo viele Musiker wohnten. Auf diese Weise leicht erreichbar zwischen Stadt und Strand gelegen und mit vernetzten Multiplikatoren als potentiellen Käufern, verfügte der Laden über eine verhältnismäßig große soziale Reichweite.61 In vielen anderen Fällen war Suburbanität jedoch ein großes Problem der vor allem jugendlichen Fans, und die Attraktivität der Import-Produkte in den Plattenläden begründete eine konstante Bewegung zwischen Stadt und Vororten. Doch es bestanden durchaus auch suburban gelegene Plattenläden, die schwer zu erreichen waren. So war es für einen New Yorker wie Joe Pupo, der regelmäßig Bleeker Bob’s in Manhattan besuchte, sehr umständlich, zum Slipped Disc auf Long Island zu gelangen. Ohne ein eigenes Auto und an den öffentlichen Personennahverkehr gebunden, waren die Ausflüge individuell bedeutende Momente, in denen er nicht nur »alles kaufte, was er sich leisten konnte«62 , sondern in denen er auch ein subkulturelles Narrativ entwickelte, das viele Akteure des Undergrounds artikulierten, als internationale Distribution und
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Vgl. Aussagen in FN 51. Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 61 (Record Exchange in Walnut Creek); Vgl. Oimoen/Lew, Murder in the Front Row, S. 28 (Record Exchange in Concord, Rasputin und Rather Ripped in Berkeley); Vgl. Interview Darren Travis, Z. 1–3 (Rock Bottom in Antioch). Es existieren zahlreiche Beispiele für Reisen nach London und zufällige Treffen bei Konzerten. Mayhem suchten auf ihren Europa-Reisen das Shades mehrfach auf, für schwedische Akteure wie Amott oder Estby waren Londoner Aufenthalte und die Vernetzung mit den englischen Kollegen genauso selbstverständlich, wie dass die Europa-Reise der amerikanischen Bands Immolation und Mortician 1989 in London begann. Vgl. Karte der Plattenläden von Soho 1946–1996, URL: https://www.stampthewax.com/2015/04/16 /map-of-record-shops-in-soho-over-50-years/ (letzter Aufruf 16.05.2022). Vgl. Slagel, For the sake of heaviness, S. 20. Vgl. Forbes, Interview with Joe Pupo, in: Metalcore Fanzine.
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das Internet schnelle Verfügbarkeit versprachen: Die Reisen zu den Plattenläden waren wichtig, gerade weil sie so umständlich waren und weil mit dem Erwerb der seltenen Produkte eine große individuelle Befriedigung einherging.63 Importierende (und dadurch teure) Plattenläden konnten sich über dieses Narrativ tief in das subkulturelle Verständnis der jeweiligen Metal-Szene einbrennen: Sie waren Orte, wo man bekam, was sonst niemand hatte und kaum jemand kannte. So ist es auch erklärlich, warum John McEntee zwar »vier oder fünf« spezialisierte Plattenläden in leicht erreichbarer Entfernung seines Wohnortes nahe Paterson, New Jersey, frequentierte, es aber dennoch als traurig empfindet, nie im Rock’n’Roll Heaven gewesen zu sein, weil es schloss, bevor er seinen Führerschein erwarb.64 Gerade um die Mitte der 1980er Jahre konnte er dort vermutlich nichts erwerben, was er in seinen Anlaufstellen (etwa Slipped Disc) nicht bekam – es geht schlicht um den Platz des Rock’n’Roll Heaven in der Szene-Erzählung, der diesen Laden durch einflussreiche Fürsprecher (Metallica, Anthrax, Raven, Venom, Megaforce Records) mit viel subkulturellem Kapital aufgeladen und als singulär qualifiziert hat. Durch einen Besuch und Einkauf in einem dieser Plattenläden erwarb der Kunde daher auch mehr als »nur« Importe, sondern eine wesentliche Bestärkung in seinem Selbstverständnis als Teil einer Subkultur. Der Erwerb setzte mehr als das nötige Geld voraus – er verlangte Timing, wo oft nur wenige Exemplare einer Platte kurzfristig vorhanden waren.65 Er setzte Geduld voraus, wo Release-Daten kaum öffentlich zugänglich waren.66 Er wurde als spannend empfunden, weil durch die internationalen Ungleichzeitigkeiten stets Entdeckungen möglich waren – Unbekanntes, das erobert werden konnte, wo auffällige Cover (ein ganz zentrales Kriterium!67 ) Abwechslung und Transgression versprachen und dessen Konsum vor dem heimischen Plattenspieler zeremonielle Formen annahm. Der ganze (aus heutiger Sicht) umständliche Anbahnungsprozess des Konsums, mit dem die Unsicherheit über die Qualität genauso verbunden war wie eine besondere produkthafte Haptik, kulminierte in einem jugendkulturellen Erinnerungsort erster Güte, den Waldemar Sorychta folgendermaßen beschreibt: Der Plattenkauf war vergleichbar mit so ner Zeremonie, ne. Wenn du die Platte dann plötzlich in den Händen hieltst, du wusstest noch nicht ob die gut ist oder nicht, aber du hast die Hoffnung gehabt, bist nach Hause gefahren und dieser Geruch von diesem Vinyl und dann legst du die auf nen Plattenteller und plötzlich läuft der erste Song und du kriegst Gänsehaut und du könntest durchdrehen und so weiter. Weißt du, also ich
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Vgl. beispielsweise Aussagen wie jene von Sasa Borovcanin, Herausgeber des Skogen Fanzines: »Around 1992 there was no chance to get the music I really wanted at local stores, so this is when it really went underground. With every order you got some flyers, and I guess from here it started. And when it started, it started – the rest goes automatically, tape trading, contacts, magazines etc. […] It had a much deeper quality to it before the internet. […] there’s too much of everything in too little time.« Ders./Dayal Patterson, Skogen. Zine Anthology 1993–1996, London 2019, S. 5. Vgl. Interview John McEntee, 15.30-18.08 Min. Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 30.30-31.45 Min.; Vgl. McEntee/Bascovsky u.a., The LatemFiles, 51.00 Min. Vgl. Bennett, Interview Jody Turner, in: The Rockpit 2019. Vgl. Popoff, This Means War, S. 47.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
möchte das heutzutage mit Aufwachsen, in diesem Alter, nicht missen und auch nicht tauschen, weil das Gefühl war so einzigartig und man hat sich dann ausgetauscht.68 Ein wichtiges Indiz für diese Doppelfunktion des Konsums im Plattenladen war auch die Tatsache, dass diese Besuche einen eventisierten Charakter annahmen und bei vielen Akteuren sehr lange dauerten. Metal-Fans verbrachten im Laden mehrere Stunden, arbeiteten sich durch alle Veröffentlichungen, nutzten die Zeit zum Abhängen und zur Kommunikation untereinander und mit den Mitarbeitern. Plattenläden waren also mehr als reine Konsum-Räume. Besonders die Mitarbeiter nahmen dabei für jüngere Fans oft eine wichtige Mentoren-Funktion wahr. Sie redeten nicht einfach nur über Metal und die neuesten Platten und Bands – es ging implizit immer um Beratung und Lenkung. Die Beziehung zu den Informanten hinter der Theke gestaltete sich als hierarchiefreiere Version einer Beziehung zwischen Meistern und Lehrlingen, in der Wissen vermittelt, Richtiges von Falschem getrennt und Methodik eingeübt wurden.69 Im Plattenladen lernten also viele, was es heißt, ein Metalhead zu sein. Es war der zentrale Informations-und Sozialisationsort der frühen Szenen. Lokale Bands und Konzerte wurden beworben, Neuigkeiten ausgetauscht und ein Netzwerk geknüpft, das viele der Akteure als unendlich viel wertvoller empfanden als ihre Isolationserfahrung.70 Musiker fanden dort Telefonnummern von potentiellen Mitstreitern oder Kontakte zu wichtigen Tape Tradern und Fanzines durch eine vorhandene Auswahl der wichtigsten Zines.71 Die Atmosphäre des »Tors zur Welt« am »Puls der Zeit« wurde noch dadurch verstärkt, dass die Informationen oft aus erster Hand stammten: Bei Shades in London, Ace’s Records in Tampa, bei Eide’s Records in Pittsburgh oder bei The Record Vault in San Francisco arbeiteten Musiker der lokalen Szene, Tape Trader und Moderatoren von RadioSendungen, die durch ihr subkulturelles Kapital und ihren Kontakt mit den szene-relevanten Akteuren eine große Deutungshoheit und Reputation mitbrachten, die sie auch klanglich einbrachten.72 Generell kann auch der Umstand, dass in den Plattenläden permanent Musik lief, gar nicht genug betont werden: Es handelte sich dabei nicht nur um eine werbende Untermalung der Kaufentscheidung, sondern um eine Verlängerung der Wohnung des Käufers, in der es nicht anders klang. Die Aussagen der Akteure erinnern aus diesem Grund oft nicht an den Konsum in einem Laden – es war wie ein Besuch im »zweiten Wohnzimmer«: Garry Pepperd besuchte seit der Mitte der 1970er Jahre mit seinen Freunden in Bristol jeden Samstag die Filiale von Virgin Records in der Stadt und »literally stay in there for hours, listening to stuff that they used to get in on import, which we used to end up paying a high price for.«73 Mit der Verjüngung der Metal-Kultur im
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Interview Waldemar Sorychta, 31.57-32.54 Min. Vgl. Chris Forbes, Nunslaughter. Interview with Don Crotsley, in: Metalcore Fanzine. »Without the internet back then – fanzines and local record stores were your only contact to the metal world beyond your small town!« Forbes, Deathrash. Interview with Pat Burns. Vgl. Interview Fred Estby, 06.39-07.28 Min. Bei Ace’s Records in Tampa arbeiteten beispielsweise temporär David Vincent oder James Murphy (Moses/Pattison, Glorious Times, S. 17), bei Eides Records in Pittsburgh arbeiteten die Musiker der Band Eviction (Vgl. Forbes, Acheron. Interview with Vincent Crowley, in: Metalcore Fanzine). Interview Garry Pepperd, Spur 1.
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Laufe der 1980er Jahre stieg die investierte Zeit beim Plattenladen-Besuch sogar nochmals und für junge Metalheads wie Sharon Bascovsky rahmte der Besuch bei Eide’s Records in Pittsburgh organisatorisch das gesamte Metal-Wochenende ein: Our routine was to take the bus to downtown Pittsburgh Friday after school and head down to Eide’s Records. Eide’s was our hangout, they had everything there. It was thee record store here to find underground albums and they would host in-store appearances, which is how we met a lot of the bands. There was a sense of pride when you bought an album to show off to your friends. There were only a few albums of a band that would be in stock so it was kind of like you had bragging rights if you were able to snag up a copy of something cool. Then we would walk over to Ted Williams, the then bassist of Dream Death’s apartment and listen to underground records. He had a party pretty much every weekend and all of us would meet there and listen to music. Then we would return home on Sunday and go back to school on Monday.74 Die Erinnerung der Musikerin ist sehr eindrücklich, weil sie die zwei Entwicklungslinien der Szene-Bildung anhand des Plattenladens beschreibt: Einerseits befand sie sich in einem Kommunikationsraum, der auf Gemeinsamkeit ausgelegt war. Andererseits deutet sie ihre Beteiligung durch die Seltenheit des Produkts und das Abheben vom Schulalltag als distinkt-individuell sowohl gegenüber dem »Mainstream« als auch gegenüber den anderen Metalheads. Auch der Plattenladen war anscheinend von sozial organisiertem Distinktionsstreben der Akteure geprägt. Mit den »in-store appearances« spricht sie überdies eine Methode der Plattenläden an, die auf die Beteiligten eine große Anziehungskraft ausübte und die beschriebene soziale Logik nochmals bestärkte.75 Die Betreiber organisierten Autogrammstunden oder Fotosessions mit lokalen und teilweise internationalen Bands (manchmal auch kleine Konzerte), um auf die neueste Platte oder ein lokales Konzert hinzuweisen. Die Band bzw. deren Label profitierte dabei von den Läden als Promo-Räumen, während die Betreiber den Werbeeffekt der Bands für ihren Laden nutzten. Nachträglich als besonders wichtig hervorgehobene Auftritte absolvierten unter anderem Metallica oder Venom im Rock’n’Roll Heaven sowie Motörhead, King Diamond, Slayer, Metallica oder Saxon bei den »meet and greets« im Record Vault in San Francisco.76
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Forbes, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Interview Dan Lilker, 08.22-09.48 Min. (Für ihn war es die Möglichkeit, die Musiker zu treffen, die Rock’n'Roll Heaven besonders machte.) Vgl. Forbes, Skitzo. Interview with Lance Ozeanix; Vgl. ders., Interview with Ron Quintana; Vgl. ders., Fantom Warrior. Interview with John Chernac, in: ebd.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Abb. 44 + 45: Plakat für ein Slayer-Konzert in New York 1984 mit dem Hinweis auf den Ticketverkauf im Slipped Disc – Wartende Fans bei der dort organisierten Autogrammstunde.
Quelle: URL: www.slippeddiscrecords.com/SDRarchives.htm (letzter Aufruf 16.05.2022). Mit freundlicher Genehmigung. Foto: Beverly Schutzman.
Abb. 46: Fotosession der Band Darkness mit dem ersten Album im Plattenladen No Remorse in Gelsenkirchen (1987).
Quelle und Erlaubnis: Andreas Lackaw.
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Die Interessengemeinschaft zwischen den Plattenläden und den Bands erweiterte sich im Laufe der 1980er Jahre noch weiter, indem es üblich wurde, dass auch Bands ohne offizielle Platten und ohne Verträge ihre Demo-Tapes über die Läden verkaufen lassen konnten. Sie trafen dazu Absprachen mit den lokalen Musikern, die ohnehin oft ihre besten Kunden waren, wobei die Bands von der Vernetzung der Läden profitierten und die Läden sich als Szene-Unterstützer profilieren und als Entdecker etwaiger Erfolge einen Namen machen konnten. So verkauften Dream Death in Pittsburgh einige hundert Exemplare ihres Demo-Tapes über Eide’s Records77 und auch bei Ace’s Records lagen die Tapes regionaler Bands zum Verkauf aus. Im Heavy Sound in Stockholm nahm der Betreiber einen kleinen Teil der Einnahmen aus dem Tape-Verkauf als Gebühr.78 Die Musiker nahmen dies gerne in Kauf, boten ihnen die Läden doch eine einmalige und fast kostenfreie Promotion-Möglichkeit. Fehlte diese Chance in der Heimat, nutzten Bands diesen Vorteil sogar in anderen Ländern. So ließen Mayhem auf ihren England-Reisen 1986 und 1987 ihre Demo-Tapes im Shades in London und Dave Constable verkaufte die gesamte Menge79 und bei Ace’s Records übernahm der Mitarbeiter Alan Moses die Promotion für die britischen und schwedischen Bands des Labels Earache, als diese in den USA aufgrund zunächst fehlender Distribution noch niemand kannte.80 Die Plattenläden waren dabei oft die erste Probe auf die Publikumswirkung und dienten bei Erfolg als Anbahnungsweg für professionelle Veröffentlichungen, von denen dann wiederum der Plattenladen profitieren konnte. Im Idealfall wurde die Promotion für die Band also zu einer Promotion für den Laden. Dass diese Gleichung aufgehen konnte, hatte auch mit der kommunikativen Potenz jener zu tun, die als Tape Trader, Radio-Moderatoren, Fanzine-und Magazinautoren und Label-Mitarbeiter über Plattenläden auf neue Veröffentlichungen aufmerksam und dadurch werbend wirksam wurden.81 Deren Besuche bzw. deren Arbeit im Laden hatten internationale Tauschpraktiken zur Folge, stießen Gespräche und virtuelle Kommunikation an und formten auf diese Weise die sich um Räume wie Plattenläden ausbildenden Netzwerkstrukturen zu Szenen. Der Plattenladen war also so wichtig, weil er eine räumliche Integrationsfigur für fast alle relevanten Szene-Praktiken bot. Er saß quasi mitten im sozialen Netz aus Konsum, Tausch, Kommunikation und Information, während über allem ständig Musik lief. Die einzige Leistung, die Plattenläden für die Fans nicht zur Verfügung stellten, mit dem sie aber stark vernetzt waren, bildete das Konzert. Die Spielstätten waren demnach die zweite zentrale soziale Drehscheibe der Metal-Szenen.
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Vgl. Forbes, Dream Death. Interview with Brian Lawrence. Vgl. Interview Fred Estby, 06.39-06.54 Min. Vgl. Kristiansen, Slayer 3/4 (1986). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 54; Vgl. Stubberud, The Death Archives, S. 36. Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 171. Vgl. die Szene-Wirkung von Anne Mary Bowman in Philadelphia und ihren Laden Rock’N'Roll Plus. Interview Alex Bouks, Z. 20–27; Vgl. auch Borivoij Krgins Vernetzung mit den Mitarbeitern bei Ace’s Records. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 169f.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
6.1.2 »Signature Venues« und Vergewisserungsmomente von Metal- Szenen Für die Szene-Bildung waren Clubs auf zweierlei Weise grundlegend: Zum einen boten sie (wie Plattenläden auch) Kommunikationsräume von (potentiellen) Fans, waren darüber hinaus aber auch zentral bei der Ausübung körperlicher Praktiken und schufen die Arena für den Kontakt zwischen Bands und Publikum. Beide wirkten zusammen bei der »Aneignung und Produktion eines Ortes, an dem alternative, von der Mehrheitsgesellschaft und vom kulturellen Mainstream abgegrenzte Formen von Lebens-und Musikstilen, oftmals experimentell und in kollektiver Weise entwickelt, reproduziert und symbolisch inszeniert werden.«82 Die Performance schuf dabei eventisierte Attraktivität für Szene-Gänger und Interessierte und wurde werbend wirksam. Szene-Strukturen bildeten sich deshalb vor allem dort aus, wo geeignete Spielstätten vorhanden waren und schufen in Verbindung mit den Plattenläden einen lokalen Raum, in dem die Akteure Musik hören, live erfahren, tauschen, über diese reden, verkaufen, sich zu dieser bewegen und gemeinsame Kontakte aufbauen konnten. Dass beispielsweise New York während des gesamten Untersuchungszeitraums eine derart stabile und auch über SubGenre-Grenzen hinweg aktive Metal-Szene ausbilden konnte – oder sich im Ruhrgebiet die Metal-Szene dauerhaft und über die Aufmerksamkeitsspitze der Mitt-80er-Jahre hinweg formierte – hatte mit dieser wichtigen Funktion eines Club-Netzes zu tun. Eine »robust scene«83 – so John McEntee – kam ohne die Clubs nicht aus. Szene-Ansätze, die diese Voraussetzung nicht erfüllten, konnten daher – wie in Stockholm, Oslo oder Tampa – nicht verstetigt werden. Zum anderen wirkten die Clubs als Erinnerungsorte, d.h. sie besaßen identitätsstiftende Bedeutung für die lokale Gruppe von Musikern und Fans. Für das Bewusstsein, Teil einer Szene zu sein, war ihr symbolisches Kapital ausschlaggebend – also ihre Fähigkeit, als Aushängeschild des Kommunikationsraums zu dienen. Es existiert kaum eine Szene-Beschreibung von New York, die nicht auf das L’Amour und CBGBs verweist, kaum ein Narrativ aus der Bay Area preist nicht die Atmosphäre in Ruthie’s Inn und auch die Szene-Erzählung des Ruhrgebiets wäre ohne die Integrationsfigur der Zeche Carl und Zeche Bochum ebenso wenig glaubhaft wie vollständig.84 Spielstätten ermöglichten also nicht nur den Kommunikationsraum, sie repräsentierten ihn auch im kollektiven Selbstverständnis als gemeinsam gestaltete Größe. Für den lokalen Aspekt der Szene-Bildung war dies kaum zu überschätzen, denn erst der Moment, in dem man sich als lokal abgrenzbare Gemeinschaft verstand, erlaubte Disktinktion und die Herausstellung des Besonderen. Es verwundert deshalb auch nicht, dass Metal-Szenen durchweg sehr starke Integrationserzählungen entwickelten, die sich stets auf Clubs konzentrieren und mit bis heute präsenten räumlichen
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Robin Kuchar, Musikclubs Zwischen Szene, Stadt und Music Industries. Autonomie, Vereinnahmung, Abhängigkeit, Wiesbaden 2020, S. 144. Interview John McEntee, 09.56 Min. Vgl. Oimoen/Lew, Murder in the Front Row, S. 23, 30; Vgl. die Aussagen von Gary Holt und Kirk Hammett, in: Battlefield 5 (1985), S. 8, 27; Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 114; Vgl. Forbes, Joe Pupo, in: Metalcore Fanzine; Vgl. Küppers, Special: Metal im Pott; Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 219.
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Selbstverortungen einhergehen.85 Bestimmte Clubs dienten dabei als Orte der Selbstvergewisserung, also als Orte, an denen sich das Szene-Label zur Selbstbeschreibung entwickelte – an denen den Akteuren klar wurde, dass sie Teil einer Gemeinschaft waren. Um zu einem solchen »Signature Venue« zu werden, war es nicht unbedingt ausschlaggebend, dass es sich um den am stärksten frequentierten Club handelte und auch nicht, dass sich die zugeschriebenen Ereignisse tatsächlich so zugetragen haben. Es geht vielmehr um den Platz im Szene-Narrativ und dieses wird erzählend und historisierend vermittelt. Narrative von der Singularität bestimmter Clubs konstruieren also Erfahrungen als gemeinschaftliche Alleinstellungsmerkmale, dienen der Abgrenzung als räumliche Einheit und sind daher durchaus der selektiven Verklärung ausgesetzt.86 Es soll daher hier nicht wiedergegeben werden, was über die Ereignisse in den Clubs gesagt und geschrieben wurde, sondern stattdessen skizziert werden, wie diese Clubs zu ihrem singulären Status als Szene-Aushängeschild und integrative Bezugsfigur gelangen konnten. Dabei schälen sich empirisch bisher sieben narrative Strategien heraus. 1. Die Pionierfunktion. Der erste oder für einige Zeit einzige Club für Metalheads gewesen zu sein, reserviert beinahe automatisch einen zentralen Platz im gemeinsamen Szene-Narrativ. So spielen die Zeche Bochum als erste größere Spielstätte für Heavy Metal im Ruhrgebiet (ab 1981) oder die Zeche Carl als ihr DIY-Äquivalent in den zeitgenössischen und auch aktuellen Erzählungen zur Szene im Revier eine geradezu omnipräsente Rolle.87 Gleiches lässt sich über Neal Kays Soundhouse in London-Kingsbury und den Narrativen zur NWOBHM-Geschichte festhalten88 und betrifft genauso das L’Amour in New York. Diesen Clubs kommt in der Erzählung die Funktion zu, das »Eis gebrochen« und zahlreiche Jugendliche »konvertiert« zu haben. Für den englischen und amerikanischen Fall handelt es sich dabei jedoch um eine nachträgliche Simplifizierung einer viel diffuseren Lage, in der das Soundhouse tatsächlich nur Einfluss auf die Londoner Ereignisse hatte und die große Vielfalt der Spielstätten sowohl in London als auch im »Rest« des Landes vernachlässigt werden – ebenso wie in New York, wo andere Spielstätten oder der frühe Einfluss der Orte in New Jersey unter dem Erinnerungsdruck einzelner Shows im L’Amour keinen Platz mehr im Narrativ finden.89 Diese Konstruktionen werden aus dem Wunsch heraus formuliert, eine große historische Komplexität erzählbar zu machen und durch das Einsetzen einzelner Orientierungspunkte einen gemeinsamen Anfang zu finden. Das Erzählen über Clubs bietet Szene-Narrativen einen biografischen Ansatzpunkt, eine Geburtsstunde, die gemeinsames Erleben über den temporären Kontakt hinaus als dauerhaft und sozial stabil erinnert. Die sozial-integrative Stoßrichtung 85 86 87 88 89
Gary Holt bezeichnete das Ruthie’s beispielsweise als »home« der Band und der Szene. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 209. Vgl. im Folgenden: Ruthie’s Inn wurde nachträglich immer brutaler, The Mermaid Pub immer instruktiver und DIY-basierter, die Zeche Carl immer omnipräsenter usw. Vgl. Interview Andreas Lackaw/Arnd Klink, Z. 115–120; Vgl. auch die Abbildung in Kap. 3: Die SzeneErzählung wird von der Zeche Carl und der Zeche Zollverein bildlich eingerahmt. Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 92–95; Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 123–132. Spielstätten, die dabei an narrativer Strahlkraft verloren hat, sind z.B. das Paramount Theatre in Staten Island oder The Streets in New Rochelle.
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dieser Narrative wird etwa deutlich, wenn Mike Smail das Electric Banana in Pittsburgh als »our CBGBs«90 bezeichnet: Die Erinnerung an den Ort dient der Inklusion und der Kreation eines regionalen Alleinstellungsmerkmals gegenüber anderen Szenen mit deren Narrativen. 2. Erste Auftritte wichtiger Bands und Musiker. Gerade in England handelte es sich dabei eher um Pubs oder Working Men’s Clubs, doch ist dies für den Platz in der Erinnerungskultur regionaler Szenen nicht entscheidend. Das Ruskin Arms als »Wohnzimmer« von Iron Maiden, das Legion in South Shields als Bezugspunkt der Heavy Rock-Bands der Stadt, Ruby’s Pub in Tampa als Ort des ersten Konzerts von Death (1984), The Electric Banana in Pittsburgh oder das River Rock Cafe in Buffalo, wo viele der später wichtigen Metal-Bands der Regionen zum ersten Mal auftraten, gewannen szene-integrative Bedeutung als Erinnerungsorte der »ersten Schritte« der regionalen Helden – und zwar sämtlich nachträglich: Da im Augenblick der ersten Konzerte und der frühen Szene-Beziehungen noch gar nicht klar war, wer es wie weit schaffen würde, sind erste Auftritte in Clubs ex-post-Konstruktionen der Szene-Biografie. Der Club bietet dabei den räumlichen Bezug für eine als wichtig empfundene Erfahrung, die gar nicht unbedingt mit dem tatsächlich ersten Auftritt zusammenfallen musste – es kommt darauf an, ob das Ereignis als chronologisch singulär kommuniziert wird. Death’s erster Auftritt in Ruby’s Pub war keinesfalls das erste Konzert der Band – es war aber ihr erster Auftritt in einem sich später als zentral erweisenden Club und mit einer ebenso szene-prägenden Hauptband (Nasty Savage) und wurde deshalb – etwa von Guillotine Fanzine und von den Beteiligten im Club – als erinnerungswürdiger Startpunkt gewählt.91 3. Praktiken. Ruthie’s Inn in Berkeley, das Soundhouse in London, CBGBs in New York und The Mermaid Pub in Birmingham waren keineswegs die ersten oder einzigen Clubs in den Städten, doch stehen sie in der Szene-Erzählung der Akteure als jene Orte, an denen sich ein (Sub-)Genre auch körperlich erstmals in dieser Deutlichkeit manifestierte. Diese Clubs waren sowohl für die Bands als auch für die Fans Experimentierfelder und wurden als durchweg »neu« erinnert. Bereits 1980 bezeichnete eine Autorin im Observer das Soundhouse als »legend in heavy rock circles«92 und führte dies auf die singuläre Beteiligung des Publikums – der »soundhouse nation« – zurück. Neben der wichtigen Funktion des Clubs während der Punk-Welle und Neal Kay’s bedeutender Rolle bei der Publikmachung der ersten NWOBHM-Bands aus London, stachen für den Neueinsteiger nämlich vor allem die als neuartig empfundenen Praktiken des Publikums hervor: Für Tino Troy und Praying Mantis war klar, dass dort die Zuschauer entschieden. Als »jury […] to decide your fate or fame«93 gaben die Anwesenden über eine Daumenbewegung un-
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Forbes, Dream Death, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Infamous Butcher, Interview with Kam Lee (Schuldiners Verbindung zum Guillotine Zine); Vgl. Frank Stöver/Laurent Ramadier, Massacre. Interview with Michael Borders, in: Voices from the Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/massacre/ (letzter Aufruf 13.05.2022). Vgl. Carol Clerke, Musicians mecca in Kingsbury, in: Observer, 15.08.1980, S. 20. Interview Tino Troy, 05.49-05.55 Min.
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mittelbar eine Kritik ab. Kevin Riddles erinnert diese Praktik als gnadenlos direkt und ehrlich: And people would put their thumbs up and that was it, that was on the list. You know, and stay on the list. But they would do the same with the bands. It was the whole thumbs up thing, it was almost gladiatorial, because Neil was fairly shrewd and ruthless. If a band got more thumbs down, they could pack together.94 Die Erinnerungen an das Soundhouse zeigen, dass Club-Narrative zwar selektiv, aber nicht erfunden waren. Sie basierten im Falle des Publikumsverhaltens, dass sich unabhängig voneinander in vielen Quellen findet, auf realen Ereignissen, die dann dynamisiert, dramatisiert, ausgeschmückt, als einflussreich qualifiziert, oder etwas heruntergespielt werden – je nachdem, welche Intention mit der Aussage verbunden ist. Für Kevin Riddles handelte es sich beim Soundhouse um einen Markstein des NWOBHM-Narrativs, weil die Unmittelbarkeit der Publikumskritik die Bands dazu veranlasste, die Auftritte im Club als Testfeld für Licht, Show, Kleidung, Sound und neue Songs zu nutzen. Waren den Besuchern die Effekte zu laut und grell – so Riddles – gingen sie nach draußen und warteten den Song ab. Gleiches galt bei neuen Songs, die nicht den Geschmack der Anwesenden trafen.95 Aus seiner Sicht bereitete das Soundhouse die Musiker auf Größeres vor, weil es zeigte, was Erfolg versprach und was nicht. Im SzeneNarrativ von Kevin Riddles – und vieler anderer Musiker, die dort auftraten – hat es daher einen festen Platz: »If you could say the Ruskin Arms gave us a place to start, then Neil Kay’s Soundhouse gave us a place to grow.«96 In späteren Szenen existierten Äquivalente zu dieser Club-Erzählung: In San Francisco fanden die ersten Konzerte jener Bands, die später die Thrash Metal-Szene der Bay Area begründeten, ab 1982 bei den »Metal Mondays« im Old Waldorf, in The Stone oder in Mabuhay Gardens statt, aber in der Erzählung der Akteure wurde erst im Ruthie’s Inn der Wandel der Praktiken offensichtlich.97 Der Club, der eine Entwicklung vom Soul über den Punk zum Metal absolvierte, erlaubte bei Konzerten fast alles: Zwischen Publikum und Bühne bestanden kaum noch Grenzen und die Transgression der körperlichen Praktiken des Publikums qualifizieren Ruthie’s Inn in der Rückschau als »the place«98 , als »unofficial training ground«99 und als »landmark for thrash metal.«100 Das Narrativ der Bay Area-Szene tendiert auch aufgrund der musikalischen Ausrichtung (die härteren und schnelleren Bands frequentierten eher das Ruthie’s) zu diesem Club, ist aber vor allem körperlich konnotiert und wurde wie in kaum einer anderen Szene von jenen gepflegt, die ihr Image fest mit dem »Bay Area Thrash«-Label verknüpft haben. Die nachträgliche Dramatisierung vieler Vorfälle lässt sich ebenso wenig prüfen wie die Aussage Gary
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Interview Kevin Riddles, 50.43-51.09 Min. Vgl. Interview Kevin Riddles, 49.10-49.55 Min. Interview Kevin Riddles, 48.38-48.50 Min. Vgl. Oimoen/Lew, Murder in the Front Row, S. 27–32. Ebd., S. 32. Robb Flynn, in: ebd., S. 251. Chris Forbes, Whiplash. Interview with Tony Portaro, in: Metalcore Fanzine.
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Holts, der Club sei der Geburtsort der Gewalt bei Shows gewesen101 – es ist im Zusammenhang viel wichtiger, wie diese Erzählungen sowohl zur Konstruktion eines zeitlich festlegbaren sozialen Raums als auch zur individuellen Distinktion von Musikern und Bands dienten.
Abb. 47: Ein handschriftlicher Spielplan des Mermaid Pubs von Daz Russell (1986).
Quelle: URL: http://metallipromo.com/napalm.html (letzter Aufruf 16.05.2022).
Ebenso wie Ruthie’s Inn transportiert der Mermaid Pub in Birmingham ein als gemeinsam erinnertes Gefühl – in diesem Fall auch durchaus körperlich transgressiv, aber vor allem als extremer räumlicher Ausdruck einer DIY-Mentalität. Im ärmlichen Stadtteil Sparkhill gelegen, wird der Mermaid Pub als Inbegriff des Hardcore-Punk-Schuppens erinnert – als »Spelunke«, »Drecksloch« und »heruntergekommen.«102 Der dort tätige Promoter Daz Russell startete 1985 als 18-Jähriger und holte zunächst regionale HardcorePunk-Bands und dann auch internationale Bands in den Club. Eine Bezahlung erfolgte meistens nicht, weil ein Ticket für einen Abend mit neun Bands nur 1,50 Pfund kostete.103 In dem Lokal, das im Keller lag, erlebten 200 bis 250 Fans über einige Jahre hinweg einen dichten Spielplan, der handschriftlich und über Mund-zu-Mund-Propagan101 Vgl. Oimoen/Lew, Murder in the Front Row, S. 173. 102 Mudrian, Choosing Death, S. 28. 103 Vgl. ebd., S. 29.
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da kommuniziert wurde. Mit Clubs und Bands aus anderen Städten verhielt man sich solidarisch und promotete nicht zum Selbstzweck, sondern für eine Szene, in der extreme Musik und körperliche Praktiken mit einem zentralen DIY-Verständnis und einer freundschaftlichen Atmosphäre zusammenfielen. Der Mermaid Pub ist demnach ein szenischer Erinnerungsort für eine möglichst unkommerzielle subkulturelle Praxis und wird als »friendly«, »cheap« und »extreme« erinnert.104 4. All Ages. Vor allem in den USA existierten in den 1980er Jahren viele Clubs, in denen erst ab einem Alter von 21 Jahren Eintritt gewährt wurde, was den Betreiber vor einem Altersnachweis beim Alkoholausschank schützte. Spielstätten, die dies durch »all ages«Konzerte umgingen, beschritten denselben Weg, den die Heavy Rock-Bands in England mit ihrem Ausweichen in die »community centres« bereits um 1980 gegangen waren. Sie entkoppelten die Konzert-Erfahrung vom Alkoholkonsum und ermöglichten eine Verjüngung des sozialen Erlebnisses. Clubs wie das G. Willikers in New Jersey oder Safari Club in Washington etablierten solche Veranstaltungen, öffneten sich gegenüber dem Bedarf bei jüngeren Fans und betrieben auf diese Weise eine Aufwertung des Clubs für eine bestimmte Alterskohorte.105 Sie besitzen daher einen festen Platz im Szene-Narrativ des US-amerikanischen Death Metal-Undergrounds, in dem eine deutliche Verjüngung der Musiker und Fans mit dem Problem zusammenfiel, dass es für einige Zeit kaum etablierte Clubs gab, die diese Transgression erlaubten. Für die Entstehung einer jugendlichen, musikalisch extremen und räumlich abgegrenzten Underground-Erfahrung abseits der eingesessenen Clubs, Medien und Musikstile boten und bieten diese Clubs daher eine Integrationsfigur in der Szene-Erzählung.106 5. Ein großes Angebot. »Signature Venues« blieben freilich in ein breiteres regionales Konzertangebot eingebettet, von dem sie aber in den Szene-Narrativen oft einseitig profitieren. Entweder ihnen kommt die erste Nennung in einer Club-Aufzählung zu oder sie werden gar als einzige Spielstätte genannt.107 Es handelt sich dabei also nicht um eine Ursache ihres empfundenen Alleinstellungsmerkmals, sondern um eine Folge der oben beschriebenen Aspekte. Wenige Clubs verdrängen dabei eine Vielfalt einer regionalen Konzertlandschaft bis im Szene-Narrativ nur noch sehr wenige übrig sind. In der Tampa Bay, die um 1990 ein breites Angebot von Metal-Konzerten aufwies, das in mindestens
104 Vgl. Anesiadis, Crossover the edge, S. 331 (Damian Thompson); Vgl. Interview Shane Embury, 07.55-08.59 Min. 105 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 104, 111, 119f. 106 Vgl. Interview Alex Bouks, Z. 22–27: » The original venue throughout the 80's was a venue called The Empire Rock Club. But that closed down by 1990 so our manager found a place across from the city in New Jersey called G Willikers. And that is place were so many legendary shows happened. That was our home club and we brought so many of the finest death metal bands at the time there. It was kind of a meeting place for all of us in some ways.« 107 Vgl. Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer, in: Metalcore Fanzine; Vgl. Kitts, Chaos in a bottle. Interview with Phil Demmel; Vgl. Chris Forbes, Judgement. Interview with Andrew Bordynowski, in: Metalcore Fanzine; Vgl. David Laszlo, Malevolent Creation. Interview mit Jon Rubin, in: Voices from the Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/mal evolent-creation/ (letzter Aufruf 13.05.2022).
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zehn frequentierten Clubs realisiert wurde, fokussiert das Narrativ beispielsweise stark auf The Ritz und Ruby’s Pub, während Clubs wie Club Detroit in St. Petersburg oder Volley Club immer seltener genannt werden.108 Dies hat nichts mit der Konzert-Frequenz oder der Bedeutung der dort auftretenden Bands zu tun, sondern ist eine Folge des Mangels an Alleinstellungsmerkmalen: So ist zu vermuten, dass die erinnerungskulturelle Bedeutung für die Tampa-Szene bei Ruby’s Pub aus der Pionierfunktion resultierte und bei The Ritz auf die Ausrichtung der »Tampa Bay Music Awards« zurückzuführen war, die eine auch öffentliche Integrationswirkung erzielten und die Szene als regional qualifizierten.109 »Nur« ein weiterer Club zu sein, reichte also für eine Bedeutung im Szene-Narrativ nicht aus – es bedurfte der Herausstellung singulärer Qualitäten. 6. Tape Trading. Kaum ein Aspekt dürfte den Vermittlungscharakter des ikonischen Club-Status so stark anzeigen wie dessen Implementierung durch das Tape TradingNetzwerk. So hieß es seitens der Musiker von Wehrmacht, einer Band aus Portland, die 1986 einen Roadtrip nach Berkeley unternahmen: »Ruthie’s was even famous with people who never set foot in the place, as you know, through the tape trading we all did back then.«110 Auch Death oder Sacrilege, die (aus Florida und Birmingham kommend) 1985 im Ruthie’s Inn spielten, kannten die Bedeutung des Clubs für die Bay Area-Szene vom Hörensagen aus dem Tauschnetzwerk.111 Denn im Tape Trading mit Live-Tapes setzten sich früh Qualitätssiegel durch, die an bestimmte Clubs gekoppelt waren. Der Status als »Signature Venue« einer Szene hatte dabei anderswo regionale Äquivalente, die selbst für jene, die noch nie dort gewesen waren, bekannte Größen darstellten und prototypisch für den glokalen Charakter des internationalen Netzwerks stehen. »The place to play« zu werden bedeutete, sich gegen andere Venues vor Ort durchgesetzt und in anderen Szenen anerkannt worden zu sein. An diese Verschränkung aus lokaler Praxis und globaler Aufmerksamkeit erinnert sich auch Shane Embury, der Tapes aus dem Mermaid Pub anbieten konnte: So, when I started recording some shows from the Mermaid or getting tapes from the Mermaid, I would trade them with my friends in America. And of course, their equivalent would be CBGB’s or Ruthie’s Inn there in the Bay Area, you know, or also a place in L.A. […] there was a few places which were classic venues in the States which were small, but the equivalents of the Mermaid. And the Mermaid to me became the English equivalent of the place to play, really, and that’s where it became famous, I think.112
108 Vgl. Spielplan der Tampa Bay, in: Tampa Bay Times, 02.11.1991, S. 46. Club Detroit wurde fast ebenso stark frequentiert wie The Ritz, spielt aber in der auf Tampa fokussierten Szene-Erzählung kaum eine Rolle. 109 Vgl. ano., The Tampa Bay Metal Awards, in: The Tampa Tribune, 30.08.1991, S. 89; Vgl. Philipp Booth, Heavy Honors, in: The Tampa Tribune, 03.09.1993, S. 95. 110 Moses/Pattison, Glorious Times, S. 154. 111 Vgl. ebd., S. 73. 112 Interview Shane Embury, 09.09-09.44 Min.
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7. »Sternstunden« der Szene. Ikonische Spielstätten waren also mit der Erzählung von charakteristischen und als Zäsur empfundenen Ereignissen verbunden, die für das Verständnis als Szene prägend wurden und oft als deren Beginn adressiert werden. Nicht alle solcher Momente fanden in Clubs statt, die man später als wegweisend einstufen sollte – es besteht hier also keine Kausalbeziehung zum Club, sondern zum Raum, der auch ein Club sein konnte. So fand das »Day on the Dirt« als »woodstock moment« der San Francisco Bay Area-Szene 1984 im Aquatic Park, also im Freien statt.113 Gleiches galt (teilweise) für die Initialzündung der Tampa-Szene am Rocky Point Beach Resort 1985/86.114 Dass es sich bei dieser Evaluierung von Ereignissen, Konzerten und Orten zu SzeneHighlights um ex-post-Konstruktionen von Szene-Akteuren mit Deutungshoheit handelte, macht vor allem das Rock Pop in Concert von 1983 in der Dortmunder Westfalenhalle deutlich. Auch hier war der »signature moment« nicht an einen Club gebunden, sondern betraf ein stark kommuniziertes Medienformat. Tom Angelripper äußerte dazu: »Das war das beste Metal-Konzert aller Zeiten, unfassbar. Ich habe sogar noch eine VHS-Kassette. Das war das Größte, was wir je erlebt haben, und so etwas wird es nie wieder geben.«115 Ebenso wie Thomas Such koppelt auch Waldemar Sorychta die kurz darauf erfolgte Entstehung der Metal-Szene im Ruhrgebiet an dieses Ereignis: Das war, weiß ich noch, Ozzy Osbourne, Scorpions, Iron Maiden, Judas Priest, jetzt weiß ich nicht, wer noch da gespielt hat, aber das wurde damals im Fernsehen übertragen, soviel ich weiß bei ZDF. Das muss man aber auch noch heute betonen, damals gabs nur drei Sender. […] Und da ins Fernsehen zu schaffen, wo normalerweise der Platz nur für Pop oder für Schlager reserviert ist, und die haben das komplett, das ganze Konzert, das ging glaub ich über sechs Stunden, dann live übertragen. Damals hatte ich noch keinen Videorecorder, dann bat ich ja auch meinen Onkel, weil der hatte einen Videorecorder, ob er das für mich nicht aufnehmen kann, dass ich das irgendwann mal, selber noch mal angucken kann. Und das war damals ein Ereignis.116 Was dieses Ereignis in der Tat singulär macht, ist die internationale Bedeutung des resultierenden Aufbruchs-Narrativs: Auch Fenriz (Darkthrone) in der Nähe von Oslo oder Anders Fridén (In Flames) in Göteborg nahmen die mehrstündige Übertragung auf VHS auf und entwickelten durch permanentes Ansehen einen Gründungsmythos für das Jahr 1984, der in musikalischen Karrieren mündete.117 Das Format Rock Pop in Concert fand jedoch zwischen 1978 und 1987 mehr als zwanzig Mal statt und wurde durch das ZDF übertragen.118 Die vierte Ausstrahlung von 1983 (17./18.12.), ausgestrahlt am 4.2.1984, war die erste und letzte, die so deutlich von Heavy Metal-Bands dominiert wurde. Es traten Iron Maiden, Judas Priest, Scorpions, Def Leppard, Ozzy Osbourne, Quiet Riot, Krokus und Michael
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Vgl. Dubin (Reg.), Murder in the Front Row, Min. 46 (Brian Lew). Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 82. Krumm/Schmenk, Kumpels in Kutten, S. 80. Interview Waldemar Sorychta, 16.40-18.14 Min. Vgl. Zierleyn, Booklet to Black Death, o. S.; Vgl. Johanesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 122. Rock Pop in Concert war der Live-Arm der Musiksendung Rockpop, die von 1978 bis 1982 im ZDF lief und unter anderem von Christian Simon moderiert wurde.
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Schenker Group auf.119 Während die zitierten Musiker dieses Ereignis als »Erweckungserlebnis« der Szene adressieren, als einmalig darstellen und damit auch großen Einfluss auf die Szene-Erzählung des Ruhrgebiets ausübten,120 interpretiert Götz Kühnemund das Event zwar als wichtig, aber nicht als ikonisch: Er verweist dazu auf die vorherigen Versionen des Formats, bei denen ebenfalls schon Heavy Metal-Bands aufgetreten waren (etwa Saxon 1982), sowie auf den Umstand, dass die Organisatoren oft Band-Ankündigungen nicht eingehalten hatten.121 Auch – und hier legt er den konstruktiven Charakter des Narrativs offen – war es für ihn »Zufall« und noch gar nicht abzusehen, dass die anwesenden Bands später »die Größten« wurden. Die Bedeutung des Moments gewann erst mit dem Erfolg an Deutungskraft. Darüber hinaus spricht er Aspekte des Events an, die es nicht in die Übertragung schafften: Die Halle war nicht ausverkauft, es wurde Tränengas geworfen, Schlägereien brachen aus, Rob Halford hielten viele Anwesende aufgrund seiner Frisur für einen Neonazi und im Westfalenpark wurden im Umfeld der Veranstaltung vermutlich mehrere Personen bei Messerstechereien getötet.122 Bei Akteuren, die das Event in seiner medial vermittelten Inszenierung und Einzigartigkeit verhandeln und zum Szene-Erlebnis erklären, blieben diese Ereignisse unerwähnt und veranlassen Kühnemund, der bei Rock Pop in Concert tatsächlich zugegen war, dazu, dem Monsters of Rock 1983 den Vorrang einzuräumen.123 Dieser mediale Inszenierungscharakter von Szene-Erzählungen betrifft auch andere Szenen wie etwa das Narrativ vom Eintages-Festival A Day of Death (20.10.1990) im Skyroom in Buffalo. Alex Bouks, der mit seiner Band Goreaphobia aus Philadelphia anreiste und dort spielte, bezeichnete die Veranstaltung als »the first real underground death metal fest« und als Zeichen dafür, dass Death Metal den Metal-Underground übernehmen würde.124 Der Fanzine-Autor und Mitarbeiter bei Ace’s Records im Tampa, Alan Moses, beschreibt A Day of Death als »THE biggest gig of its kind to date« und attestiert dem Event eine Qualität, die nie wieder erreicht worden sei.125 Und Sharon Bascovsky, die mit Derketa nicht dort spielte, aber aus Pittsburgh anreiste und Merchandise verkaufte, bezeichnete den Tag als »the first big metal gathering«, bei dem sich all jene persönlich trafen, die man sonst nur vom Telefon oder aus dem Tape Trading kannte.126 Wie viele andere der anwesenden Akteure weisen diese Aussagen der Veranstaltung die Funktion des Vergewisserungsmoments einer Szene zu, die sich virtuell angebahnt hatte. A Day of Death war aus dieser Sicht die Geburtsstunde einer Bewegung. Der konstruktivistische Kern dieser Erzählungen soll hier nicht disqualifiziert werden – ganz im Gegenteil – doch war die Bedeutung der Events streng genommen nur
119 URL: https://www.concertarchiv.net/Rockpop-Uebersicht.htm (letzter Aufruf 16.05.2022). 120 Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 29, 80; Vgl. im Rahmen des Films Total Thrash: URL: https://totalthrash.de/der-film/thrash-zeitreise/ (letzter Aufruf 16.05.2022). 121 Vgl. Interview Götz Kühnemund, 17.48-18.32 Min. 122 Vgl. ebd., 18.32-21.05 Min. 123 Vgl. ebd., 21.10-21.22 Min. 124 Interview Alex Bouks, Z. 65. 125 Chris Forbes, The Glorious Times Death Metal Book. Interview with Alan Moses, in: Metalcore Fanzine, URL: www.metalcorefanzine.com/ (letzter Aufruf 13.05.2022). 126 Vgl. Interview Sharon Bascovsky, 30.16-35.30 Min.
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von den wenigen nachzuvollziehen, die wirklich anwesend waren. Für alle anderen entspringt er einer über mediale Kanäle vermittelten Inszenierungsweise, die A Day of Death als einzigartig und unvergesslich erinnert. So waren die Anstrengungen hier auch besonders groß: Die Organisatoren waren Fanzine-Autoren und Tape Trader, besaßen gute Kontakte zu den lokalen Radiostationen und Plattenläden und kommunizierten den singulären Anspruch der Veranstaltung dementsprechend.127 Erst diese Methode wies Szenen ein Geburtsdatum zu und wirkte integrierend als szenische »mental map.« Am Beispiel der Clubs und einzelner Events zeigt sich also, dass Szene-Bildung genauso viel mit gemeinsamer Erfahrung zu tun hatte wie mit der Art und Weise, wie anschließend über diese Erfahrung erzählt wurde und welche Absichten dabei leitend waren. In einer historischen Situation, in der stets viel mehr Menschen zu einer Szene zählten als dem Ereignis beiwohnten, waren die Atmosphäre im Ruthie’s Inn, der Spirit im Mermaid Pub und der Aha-Effekt bei A Day of Death sicherlich ausgesprochen erinnerungswürdig und besonders, doch zu anerkannten Szene-Größen und Erinnerungsorten einer Gemeinschaft wurden sie erst, weil sie mit einer (auch kommerziellen) Agenda dazu stilisiert wurden.
Abb. 48: Werbeplakat für A Day of Death (1990).128
URL: www.deathmetal.org/news/various-artists-a-dayof-death-1990/ (letzter Aufruf 16.05.2022).
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Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 162f. Das Line-Up wäre heute als legendär einzustufen – nicht nur wegen der musikalischen Qualität, sondern aufgrund der Rolle, die diese Bands in der Gründungserzählung des Death Metals spielen
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Abb. 49: Repulsion spielen bei A Day of Death.
Foto: Moses/Pattison, URL: http://pioneeringglorioustimes.blogspot.com/2010/07/ day-of-death.html (letzter Aufruf 16.05.2022).
6.1.3 »All within a drive« und Metal- Migration – Translokale Szene- Vernetzung Wie räumliche Strukturen Metal-Szenen maßgeblich prägten und wie sich dies auf die Mobilität innerhalb einzelner Szenen auswirkte, wurde bereits vor dem Hintergrund des urbanen Strukturwandels in Kap. 3 deutlich. Doch auch die Fragen, wie sich Fans und Musiker zwischen einzelnen regionalen Szenen bewegen konnten, welche Transportmittel zur Verfügung standen und welche Unterstützung man dabei erhielt, verweisen auf wichtige Bedingungen der Szene-Kommunikation. Während der »langen 1980er Jahre« war in dieser Hinsicht die Bereitschaft der Akteure zu erkennen, immer größere Anstrengungen auf sich zu nehmen, um Konzerte, Plattenläden oder befreundete Musiker und Fans zu erreichen. Dies zeigte sich besonders am Übergang der NWOBHM zu den Szenen der frühen 1980er Jahre in den USA und dann in Skandinavien. Während die Aussagen der Musiker für die englische NWOBHM noch auf eine Regionalfokussierung der Bewegungen schließen lassen, die zwar landesweites Touring umfasste, aber durch die flächendeckende Infrastruktur keine Fan-Bewegungen großer Reichweite erforderten,129 intensivierten und vergrößerten sich Bewegungen und Reichweiten innerhalb der Landesgrenzen und auch zwischen Ländern im Zuge des Thrash und Death Metals deutlich. Akteure aus »abgelegenen« Gebieten entwickelten eine hohe Mobilitätsbereitschaft, um in die entstehenden Szene-Hotspots zu gelangen. So nutzte die Band Grave mehrfach im Jahr das Schiff, um aus Gotland ins Heavy Sound nach Stockholm zu gelangen (dies war auch die einzige mögliche Verbindung).130 Tomas Lindberg und seine Mitmu129
Vgl. Interview Brian Tatler, 25.44-25.58 Min.; Vgl. Interview John Roach/Maurice Bates, 87.46-89.21 Min. 130 Vgl. Tim Henderson, Grave – and here I cry… satisfied!, in: bravewords.com, 2017, URL: https://br avewords.com/features/grave-and-here-i-cry-satisfied (letzter Aufruf 16.05.2022).
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siker bei Grotesque kamen dagegen aus Göteborg in die schwedische Hauptstadt, um dort die Bands zu treffen.131 Für die Band Mantas (später Death) bestanden in Orlando keine Szene-Strukturen und die Schüler fuhren in der Woche zu den Konzerten nach Tampa, um morgens wieder in der Schule in Orlando zu sein.132 Und für Jesse Pintado endete das Jamming mit der Band Resistant Militia in Kalifornien erst, nachdem seine Eltern die 45minütige Fahrt für ihren Sohn (Hinweg) nicht mehr dauerhaft realisieren konnten.133 Pintados Beispiel verweist auf zwei wichtige Aspekte: Zum einen konnten die räumlichen Entfernungen und Szene-Grenzen zwar überschritten und die Transportmöglichkeiten strapaziert werden, doch führten die Bewegungen mittelfristig dennoch zu einer räumlichen Integration von Mitmusikern und Fans. Die Szene verlangte durch ihre Praxis eine räumliche Nähe und der Kommunikationsraum konnte in vielen Fällen nicht dauerhaft so weit ausgedehnt werden, wie sich dies abgelegen wohnende Akteure gerne gewünscht hätten. Die gemeinsame Praxis behielt dadurch zu jeder Zeit ein lokales Fundament und trotz der großen Anstrengungen tendierten Treffpunkte und Konsum der Akteure zu den näherliegenden Räumen. Auch war es wichtig, wie Mobilität in den unterschiedlichen Entfernungen zwischen Orten genau organisiert werden konnte. In den »Edge Citys« von Nord New Jersey hieß es für einen minderjährigen Metalhead wie Roy Fox daher »I walked everywhere for metal! I road my bike in the rain to music stores miles and miles away from my house.«134 Wo die Eltern als Fahrer nicht zur Verfügung standen, entwickelte der öffentliche Nahverkehr eine große Bedeutung, von dem etwa die mittelenglische Hardcore-Punk/Grindcore-Szene und die Szene in der San Francisco Bay Area profitierten.135 Ein hervorragendes Beispiel dafür, dass solche Mobilitätserwägungen wichtige Folgen haben konnten, betrifft den Auftritt von Iron Maiden und Angel Witch im Music Machine in Camden (London), zu dem auch Mitarbeiter des Plattenlabels EMI erschienen: Der Manager Rod Smallwood verzichtete auf die Headliner-Position für Iron Maiden, weil er den U-Bahn-Fahrplan kannte. Die letzte Bahn fuhr 23.45 Uhr und der Headliner begann um 23.15 Uhr. Beim Konzert von Angel Witch verließen viele Fans nach 20 Minuten den Club und Iron Maiden erhielten den Vertrag.136 Zum anderen stieg in den 1980er Jahren die Bedeutung eines Führerscheins auch für die Bands deutlich – sowohl, um die lokalen Szenen zu erschließen, die die Überbrückung von Stadt und Vororten verlangten, als auch, um trans-lokale Anschlüsse an andere Szenen herzustellen. So wäre es für die Band Rabid aus Sacramento ohne ein eigenes Auto unmöglich gewesen, ihre Auftritte in der San Francisco Bay Area zu realisieren und sich als Thrash Metal-Band mit der wichtigsten Szene für diesen Stil zu vernetzen.137 Die Verknüpfung der Atlantischen Küste und der Golfküste in Florida, die sich in den frühen 1990er Jahren durch die Death Metal-Bands ergab, wäre ohne Führerscheine ebenso wenig wahrscheinlich gewesen.138 Und Fenriz wies für seine Vernetzung mit den Mayhem131 132 133 134 135 136 137 138
Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 55f. Vgl. ebd., S. 35f. Vgl. Ramadier, Terrorizer. Interview with Pete Sandoval, in: Voices from the Darkside Online. Forbes, Necroharmonic Productions. Interview with Roy Fox, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 76. Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 95f. Vgl. Jon Kristiansen, Slayer 19 (2004), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 645f. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 82.
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Musikern südlich von Oslo ausdrücklich auf seine räumliche Limitierung aufgrund einer fehlenden Fahrerlaubnis hin.139 Der PKW integrierte also Kommunikationsräume innerhalb von Szenen, zwischen Szenen und immer häufiger auch zwischen Ländern. So erlangte der gelbe Volvo der Band Mayhem nicht nur Bedeutung für die norwegischen Kontakte, sondern ermöglichte auch die Vernetzung nach Schweden zu den Musikern von Merciless.140 Fahrten mit dem PKW oder Tour-Van waren auch für die Verbindung der Death Metal-Szenen des Nordostens der USA mit jenen in Quebec verantwortlich.141 Das älteste und für den kontinentaleuropäischen Metal wichtigste dieser »metal borderlands« bestand aber zwischen der BRD und den Niederlanden. Bereits in den späten 1960er und 1970er Jahren entwickelte sich die Praxis einiger deutscher Rock-Bands, für Auftritte in die Niederlande zu fahren, wo sowohl die Club-Dichte als auch die Konzert-Frequenz durch englische Tourneen sehr hoch waren.142 In den Niederlanden bestand auch eine frühe organisatorische Struktur im Umfeld des Aardschok-Magazins, die für die Ruhrgebiets-Szene eine wichtige Startbedingung darstellte.143 Im Laufe der frühen 1980er Jahre entwickelten sich über die staatliche Grenze hinweg zahlreiche Beziehungen zwischen Fans und Musikern. Im Falle der Band Holy Moses aus Aachen äußerte sich dies beispielsweise darin, dass die ersten regelmäßigen Konzerte in kleinen niederländischen Clubs hinter der Grenze (Vaals, Kerkrade, Gulpen) stattfanden. Der Club-Besitzer holte die Band mit dem Wohnmobil ab und brachte sie am nächsten Tag wieder nach Aachen. Die Grenzkontrollen, bei denen die Band meist Nieten und Patronengurte abgeben musste, umging man früh durch einen im Club deponierten Ersatz.144 Im Gegenzug besuchten auch niederländische Fans die Band in Aachen im Proberaum und kauften in der städtischen Elpi-Filiale Platten. Ein von den Fans aufgenommenes Tape einer dieser Proben verkauften diese dann während eines Konzerts in den Niederlanden und ließen der überraschten Band einen Gewinn von 100 Gulden zukommen.145 Bereits vor der ersten offiziellen Veröffentlichung trat die Musik der Band dadurch unverhofft ins Tape Trading-Netzwerk ein und erhöhte die Aufmerksamkeit weit über den deutsch-niederländischen Grenzraum. Das dichteste Netz trans-lokaler Beziehungen, die über das Auto organisiert wurden, entwickelte sich zwischen den zahlreichen lokalen Szenen im Nordosten der USA (zu den räumlichen Ursachen vgl. Kap. 3). Laut Chris Pervelis habe dort ein derartiger »regional overlap« geherrscht, dass man den gesamten Nordosten auch als eine Szene hätte bezeichnen können.146 Seine Bezeichnung trifft es sehr gut, denn der Eindruck eines großflächigen Szene-Netzwerks entstand aus der Praxis von Musikern und Fans, Roadtrips zu veranstalten. Dabei maßen die wenigsten den gesamten Nordosten aus,
139 140 141 142 143 144 145 146
Vgl. Zierleyn, Booklet to Black Death. Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 169. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 134f., 139. Vgl. Interview Bogdan Kopec, 35.58-36.59 Min. Vgl. Interview Götz Kühnemund, 02.10-03.23 Min. Vgl. Interview Sabina Classen, 06.10-07.21 Min. Vgl. ebd., 08.01-09.27 Min. Vgl. Interview Chris Pervelis, Z. 53–60.
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doch resultierten aus den vielfältigen sozialen Überlappungen der jeweiligen Reichweiten Kommunikationsbeziehungen sowohl direkter Art als auch über Dritte, die das A Day of Death-Festival und später das Michigan Death Fest sowie das Detroit Death Fest symbolisch bündelten.147 So tourten Cannibal Corpse aus Buffalo um 1990 beispielsweise in einem Radius von etwa 500 Meilen148 – laut Alex Webster »all that stuff that was within a drive.«149 Human Remains machten zwei Mal im Monat einen Roadtrip als Band, der sie von Rhode Island bis nach Tennessee und Kentucky im Süden und Buffalo und Rochester im Norden führte.150 Die Reichweite von Prime Evil erstreckte sich von Middletown bis nach Pittsburgh, Boston und Washington.151 Nicht wenige andere Bands legten ebenfalls derart weite Entfernungen mit dem Auto zurück, um auftreten zu dürfen.152 Andere bewegten sich dagegen eher im Radius der Tri-State Area oder pendelten zwischen nahegelegenen und organisatorisch verflochtenen städtischen Szenen, etwa zwischen Cleveland und Pittsburgh.153 Ähnliche Unterschiede existierten bei den Fans, Tape Tradern und Fanzine-Autoren. Manche bewegten sich in ihren regionalen Szene-Strukturen, was etwa in New Jersey problemlos für mehrere Konzerte pro Woche ausreichte.154 Gleichzeitig fuhr aber beispielsweise Roy Fox von Newark (NJ) zu fast 1.000 Shows zwischen Rhode Island und Ohio und nutzte vor allem die gesamte Tri-State Area voll aus. Teilweise besuchte er drei bis vier Konzerte pro Woche, manchmal sogar zwei an einem Tag.155 Ed Farshtey, der das Fanzine Book of Armageddon herausgab, baute sein Netzwerk ebenfalls durch solche »mini roadtrips« auf, die ihn zwischen 1988 und 1992 durch den gesamten Nordosten führten.156 Und auch Mary Ciullo folgte ihren beiden Lieblingsbands Death und Dark Angel bei deren gemeinsamer Tour 1989 durch den ganzen Nordosten des Landes und legte dabei mehr als 1.000 Meilen pro Woche zurück.157 All diesen Bewegungen, die zu translokalen Verknüpfungen mit anderen Multiplikatoren führten, war gemein, dass ihr Fundament entlang der Städtekette von Pittsburgh, Buffalo und New York City/New Jersey lag und sich Erweiterungen zwar nach Kanada und nach Florida ab und zu ergaben, die Kommunikation darüber hinaus aber fast ausschließlich virtuell geführt wurde.158 Auch zwischen dieser Kette war man virtuell vernetzt, nutzte aber die trans-lokalen Transportmöglichkeiten voll aus. Sharon Bascovsky, die im Vorort von Pittsburgh in den späten 1980er Jahren eine monatliche Telefonrechnung von etwa 400 Dollar durch Szene147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158
Vgl. Forbes, Ed Farshtey, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Chris Barnes, in: Netherton, Extremity Retained, S. 307. Denise Korycki (Reg.), Cannibal Corpse: Centuries of Torment, USA 2008, 48.30 Min. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 188. Vgl. Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Chris Forbes, Savage Thrust. Interview with Edmund Varuolo, in: Metalcore Fanzine; Vgl. Forbes, Solitude. Interview with Keith Saulsbury, in: ebd. Vgl. Forbes, Midian. Interview with Chris Hawkins, in: Metalcore Fanzine; Vgl. Andreyuk Tape Dealer, S. 231; Vgl. Forbes, Dream Death; Vgl. ders., Deathrash. Vgl. Forbes, This Zine Sucks Fanzine. Vgl. Forbes, Necroharmonic Productions. Vgl. Forbes, Ed Farshtey. Vgl. Forbes, Prime Evil. Interview with Mary Ciullo. Vgl. McEntee/Bascovsky u.a., Latem-Files – wo das Netzwerk entlang der Städtekette mehrfach deutlich wird.
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Kontakte hatte, überredete beispielsweise ihre Eltern, sie als Minderjährige nach Toronto zu einem Sacrifice-Konzert fliegen zu lassen und dort bei einem Fan zu bleiben, den sie wenige Minuten auf einem Parkplatz kennengelernt hatte. Dieser Kontakt brachte sie mit anderen Musikern in Toronto ins Gespräch und sie lernte Henry Veggian kennen, der den Weg nach Kanada von New Jersey angetreten war. Beide promoteten ihre Bands, Revenant und Derketa, fortan gegenseitig und bauten entlang der Städtekette den Kontakt zu Immolation (Yonkers, NY) oder Incantation (Nord-NJ) aus.159 Durch eine solche Mobilitätsbereitschaft beschreibt der US-Nordosten um 1990 eine trans-lokale Szenebildung an ihrem Limit. Mehr war unter den Voraussetzungen von Entfernung und Transport nicht möglich – vor allem, wenn man bedenkt, dass es sich um eine permanente soziale Struktur handelte. Es existierten in den 1980er Jahren über persönliche Kontakte und den Briefverkehr hinaus nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, trans-lokale Netzwerke technisch zu realisieren. Internationale Telefonverbindungen oder solche zwischen den US-Küsten waren sehr kostspielig und Dave Craiglow, der aus Buffalo eine Verbindung zu Max Cavalera in Sao Paulo aufbauen wollte, zahlte 50 Dollar für ein Gespräch, bei dem der Gegenüber kaum ein Wort verstand.160 Eine der wenigen Ausnahmen waren die »Phone Pirates«: Bill Ford von der Band Decapitation aus Long Beach, CA, war in der Lage, an Telefonkarten für Ferngespräche zu kommen und baute ab Mitte der 1980er Jahre für einige Zeit eine US-weite Leitung auf, zu der Musiker (von Dark Angel, Hirax, Death, Cryptic Slaughter, Slayer, Repulsion, Killjoy, Wehrmacht) und auch wichtige Multiplikatoren (etwa Borivoj Krgin) gehörten.161 Der Schwerpunkt lag geographisch in Kalifornien, reichte aber bis nach Oregon, Michigan und Florida und die Akteure tauschten sich über die neusten Demo-Tapes ihrer Bands, Besetzungswechsel und zukünftige Pläne aus.162 Für Les Evans (Cryptic Slaughter) handelte es sich um einen gewaltigen Schritt der SzeneBildung163 , mit dem eine trans-lokale Beschleunigung einherging, die bereits viel von der Unmittelbarkeit der späteren Online-Kommunikation vorwegnahm. Es bestanden sogar auf Wiederholung ausgerichtete trans-lokale Kontakte, die den Atlantik überschritten. Ein wichtiger Kommunikationskanal bestand in dieser Hinsicht zwischen Frankfurt und der San Francisco Bay Area, dessen virtueller Kern im Tape Trading von persönlichen Besuchen flankiert wurde. Buffo Schnädelbach, Manager der Band Tankard und Rock Hard-Mitarbeiter, nutzte die Frankfurter Position im Luftverkehr für »journalistische« Trips in die Bay Area. Gleiches gilt für Alexandra Dörrie, die 1985 als freie Mitarbeiterin beim Metal Hammer einstieg, die Band Legacy (später Testament) auf dem europäischen Markt publik machte und 1988 in das deutsche Büro von Roadrunner Records wechselte.164 An ein Treffen mit Schnädelbach im Record Vault in San Francisco erinnert sich beispielsweise Lance Ozanix, zu dessen Markenzeichen seiner Band Skitzo 159 160 161 162 163 164
Vgl. Interview Sharon Bascovsky, 38.17-43.32 Min. Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 15. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 19. Vgl. Kristiansen, Slayer 19 (2004), S. 639. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 19. Zu den Kontakten zwischen Frankfurt und San Francisco vgl. Interview Bogdan Kopec, 26.40-27.40 Min.; Vgl. zu Dörrie URL: https://www.metal-hammer.de/traumjob-rockjobs-promotion-372320/ (letzter Aufruf 16.05.2022).
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es gehörte, sich nach dem Konzert in hohem Bogen zu übergeben: Er überreichte dem Deutschen das Demo-Tape der Band und nach drei Monaten erschien eine Kritik im RockHard, die für Skitzo mit zahlreichen Briefen, Bestellungen und Interviews aus Europa einherging. Der einmalige persönliche Kontakt mit Schnädelbach hatte für die Band zu einer Vervielfältigung der virtuellen Kommunikation und Aufmerksamkeit in Europa geführt,165 während auch die deutschen Thrash Metal-Bands wie Kreator, Sodom oder Tankard über diese direkten Kanäle Bekanntheit erlangten.166 Ozanix berichtet ebenfalls von Kontakten in die DDR und nach Polen, von wo ihn unter anderem ein Brief erreicht haben soll, in dem eine Mutter ihm erklärte, dass ihr Sohn, mit dem Ozanix Briefe schrieb, für den Besitz eines Druckers im Keller von der Polizei erschossen worden war.167 Ein weiteres Beispiel, dass über virtuelle Kanäle hinausging, betrifft das Netzwerk zwischen den schwedischen Musikern und ihren Kollegen aus dem Nordosten der USA. Im Dezember 1989 flogen die Musiker von Immolation und Mortician aus New York nach Europa. Sie hatten die Reise durch Briefe mit den englischen (Napalm Death), schwedischen (Nihilist/Dismember) und französischen Gleichgesinnten (Laurent Ramadier) vorbereitet und trafen zunächst in London ein, wo sie Musiker von Napalm Death und Benediction besuchten. Das erste Konzert von Napalm Death in den USA (18.11.1989 im CBGBs/19.11.1989 im The Streets in New Rochelle) war diesem Treffen ebenfalls vorausgegangen.168 Im Anschluss folgte die Weiterreise nach Paris, wo man sich mit Tankard und Massacra sowie Fanzine-Autoren traf und wo Immolation mit einem Song (auf dem Konzert von Tankard) als erste US-amerikanische Death Metal-Band in Europa auftraten.169 Den Abschluss bildete schließlich ein Besuch in Stockholm, wo sich die Musiker mit den Mitgliedern von Nihilist, Dismember, Carbonized und Treblinka trafen, bei diesen übernachteten und auch die Hauptstadt-Gang der »bajsligan« kennenlernten.170 Im folgenden Jahr folgte der Gegenbesuch von Johnny Hedlund in den USA und der Schwede wurde mit den US-amerikanischen Death Metal-Musikern bekannt gemacht.171 Bei diesen trans-lokalen Treffen – zu denen man auch die europaweiten Zugreisen der Band Mayhem zwischen 1985 und 1990 rechnen kann172 – reisten nicht nur Fans und Musiker, sondern auch Produkte. Da ein internationaler Vertrieb für UndergroundMusik nicht üblich war, existieren viele Beispiele für interkontinental fliegende Metalheads, die die neuesten Produkte und damit Einflüsse vom jeweils anderen Kontinent mitbrachten. So war Lars Ulrich bereits in den frühen 1980er Jahren im Rahmen seiner
165 Vgl. Forbes, Skitzo. Interview with Lance Ozanix, in: Metalcore Fanzine. 166 Kreator schafften es 1989 sogar in einen kurzen Artikel in der Los Angeles Times. Vgl. Jonathan Gold, Kreator: High Tech Speed Metal, in: Los Angeles Times, 02.10.1989, S. 67. 167 Vgl. Forbes, Skitzo. 168 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 13f. 169 Vgl. Frank Stöver, Voices from the Darkside 8, in: ders. (Hg.) Voices, S. 58. 170 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 15; Vgl. Victor Hsieh, Thrashikus 5 (1992), S. 14. 171 Vgl. Magnus Forsberg, Never Believe 1 (1990), o. S. 172 Vgl. Stubberud, Death Archives, S. 36, 54–57, 191f.; Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 520f.; Vgl. Kristiansen, Slayer 3/4 (1986). Foreword, S. 52–56; Vgl. ders., Slayer 5 (1987). Foreword, S. 71–75; Vgl. ders., Slayer 8 (1991). Foreword, S. 187.
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England-Reise ein eifriger Importeur von Platten und Shirts.173 Doch es musste sich dabei nicht um Musiker handeln: Rob Yench erhielt seine ersten englischen Platten in Middletown, als der Bruder seines Freundes, der als Mitglied der US-Marines in Deutschland stationiert war, nach Hause zurückkehrte und Motörhead, Diamond Head, Saxon und Angel Witch im Gepäck hatte.174 Mit der vollen globalen Etablierung des Tape Tradings und den Distributions-Verträgen zwischen Labels aus Europa und den USA verloren diese fliegenden Importeure jedoch ihre revolutionäre Wirkung und die aktuellen Entwicklungen aus anderen Szenen kamen mit der Post. Trans-lokale Beziehungen bahnten dennoch zwischen Szenen, in denen neben den Musikern auch die medialen Vermittler Fans waren, dauerhafte Bekanntschaften, Freundschaften und »kurze Wege« der Kommunikation an, schufen gegenseitiges Vertrauen und führten später nicht selten zur Zusammenarbeit, etwa bei Tour-Paketen von Bands, die aus genau diesen translokal verflochtenen Szenen stammten.175 Die Motivation für seine vielen Zugreisen fasste Jørn Stubberud (Mayhem) daher auch durchaus instrumentell zusammen: »Meeting people face-to-face creates a stronger connection and that’s good for business.«176 Am weitesten ging trans-lokale Vernetzung dort, wo Musiker oder Fans aufgrund musikalischer Gründe dauerhaft den Wohnort wechselten.177 Dabei migrierten sowohl Musiker, um sich Bands anderswo anzuschließen, als auch ganze Bands, um ein Teil regionaler Szene-Netzwerke zu werden. Die Erfahrungen reichten von kurzen Strecken einer Fahrreichweite, etwa im mittelenglischen Raum178 oder innerhalb von Kalifornien, über interregionale Entfernungen, beispielsweise zwischen Bundesstaaten der USA, bis hin zu interkontinentaler Migration zwischen Amerika und Europa. Was allen Bewegungen zu Grunde lag, war der Wunsch nach dem Wechsel in eine »frische«, d.h. angesagte und attraktive Szene und eine Beteiligung an der dort generierten Aufmerksamkeit.179 Den bekanntesten Umzug vollzogen dabei wahrscheinlich Metallica, die sich in den Augen der Musiker in Los Angeles nicht angenommen fühlten und deshalb 1982 nach San Francisco zogen180 – eine bis dahin ungewöhnliche Entscheidung, da es Bands ansonsten eher nach Los Angeles und in die Nähe der Plattenfirmen zog, bei dem die Band aus der Rückschau aber viel Antizipationsvermögen bewies.181 Während Metallica also die Wahl hatten, gestalteten sich Umzüge für andere Bands durchaus alternativlos und eine Band wie Grave aus Gotland zog 1991 nach Stockholm, um am Ort der Szene zu sein,
173 174 175
Vgl. Wall, Enter Night, S. 27f. Vgl. Interview Rob Yench, 11.48-13.00 Min.; Vgl. Ramirez, Rob Yench, in: No Echo. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 306; Vgl. Pratt, That Tour Was Awesome; Vgl. Krumm, Century Media, S. 25; Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 36, 88. 176 Stubberud, The Death Archives, S. 54. 177 Es handelt sich dabei um eine spezifisch postmoderne Mobilitätsform, die von den ansonsten sehr instruktiven Darstellungen bisher nicht behandelt wurde. Vgl. etwa Raphael Emanuel Dorn, Alle in Bewegung. Räumliche Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland, 1980–2010, Göttingen 2018. 178 Vgl. Interview Shane Embury, 00.30-01.10 Min.; Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 133. 179 Vgl. Tony Laureano, in: Netherton, Extremity Retained, S. 145f.; Vgl. Pat Ranieri, in: McClelland, Deathvomit, S. 60; Vgl. John McEntee, in: Voices from the Darkside 10, in: Stöver (Hg.), Voices, S. 89f. 180 Vgl. Slagel, For the sake of heaviness, S. 36–42. 181 Vgl. Forbes, Interview with Ron Quintana, in: Metalcore Fanzine.
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aber auch, weil sich die Organisation seit ihrem Vertrag mit Century Media Records von Gotland aus als problematisch erwies.182 Die quantitativ bedeutsamste Migration von Metal-Musikern fand in den »langen 1980er Jahren« vom »rust belt« in den »sun belt« statt. In einigen Fällen handelte es sich dabei um eine Folge der Deindustrialisierung und der Suche nach Arbeit im Süden, die die Eltern der Musiker auf sich nahmen. Die Kinder hatten hier zu folgen.183 Die Migration in den Süden war dabei kein simpler Wohnortwechsel, sondern eine starke lebensweltliche Veränderung, die die Musiker unterschiedlich diskutierten: Für Kelly Shaefer war der Umzug von Norwood, nahe Cincinnati, nach Sarasota, Florida, »the best thing that ever happened to me«184 und er verknüpft das Ereignis vor allem mit einer nun beginnenden Selbstverwirklichung im künstlerischen Bereich. Auch Tom Stevens (Nokturnel) interpretiert seinen Umzug von New Jersey nach Florida als die beste Entscheidung seines Lebens, was neben der musikalischen Anziehungskraft Ft. Lauderdales besonders an den Lebensumständen in New Jersey lag.185 Rand Burkey, der später Gitarrist bei Atheist werden sollte, zog dagegen zunächst aus einer kleinen Bergbaustadt in Pennsylvania nach Los Angeles und empfand dies als biografischen Bruch: I moved to California with a friend of mine-Frank Cunsolo of CRUMBBOX, when we were young, to be rockstars (laughs). I soon found out I wasn’t ready for L.A. My mindset wasn’t ready for being serious yet and it was real hard to stay alive out there and it was very expensive. I’m from a small coal mining town in Pennsylvania with a population of about 5,000 people so moving from such a small town directly to one of the largest cities in the United States was pretty strange. I could go on forever about the city of Los Angeles, about the shooting, the gangs, all the wanna be rockers and meeting Gene Simmons, working at S.I.R rehearsal studios, but it take up the whole interview. It was cool, but too much, too fast, all the time.186 Burkeys Verweis auf sein »mindset«, also seine noch nicht vorhandene professionelle Einstellung, die er erst in Florida entwickelte, deutet schon an, dass sich Zufriedenheit mit der Umzugsentscheidung dort ausbildete, wo auch der Erfolg sichtbar wurde. Der größte Teil der positiv verhandelten Migrationsbewegungen nach Florida fiel daher auch in die Zeit zwischen 1989 und 1992, als die Szene internationale Aufmerksamkeit generierte und überdurchschnittlich viele Bands Plattenverträge unterzeichnen konnten.187 Dafür verließ man sogar aktive Metal-Szenen in der Heimat: Cannibal Corpse kehrten beispielsweise der starken Szene in Buffalo den Rücken und zogen nach Tampa – laut den 182 183
Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 172. Vgl. Kelly Shaefer, in: Stöver, Atheist, in: Voices from the Darkside Online, URL: https://www.v oicesfromthedarkside.de/interview/atheist-2/ (letzter Aufruf 16.05.2022); Vgl. Zum Umzug von Malevolent Creation: Moses/Pattison, Glorious Times, S. 81; Auch Chuck Schuldiner stammte ursprünglich nicht aus Florida, sondern aus New York. Glen Bentons Eltern wohnten weiterhin im Upstate New York, während ihr Sohn in der Tampa Bay lebte. 184 Vgl. Stöver, Atheist. 185 Vgl. Chris Forbes, Interview with Tom Stevens, in: Metalcore Fanzine. 186 Laurent Ramadier, Atheist. Interview with Rand Burkey, in: Voices from the Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/atheist/ (letzter Aufruf 16.05.2022). 187 Vgl. Swiniartzki, Why Florida?, S. 184.
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Musikern wegen des Wetters, des Morrisound Studios und der angesagten Szene, die auch Rob Barrett (später selbst bei dieser Band) für seine Migration aus Buffalo nach Miami anführt: die Szene in Florida war neu, frisch, aufregend und versprach attraktive Selbstverwirklichung.188 Ähnliche Motive lassen sich auch bei anderen einwandernden MetalMusikern feststellen.189 Kommerzielle Beweggründe konnten jedoch auch durch ein falsches Timing enttäuscht werden. So verließ Vincent Crowley die Stadt Tampa 1988 nach dem Ausstieg bei Nocturnus und zog nach Pittsburgh – kam jedoch 1991 nach Florida zurück. Aus der Rückschau habe seine Band Acheron daher die »whole Tampa invasion« verpasst und er erhielt um 1990 Anrufe von Freunden aus Tampa, die ihn darauf hinwiesen, dass man in Florida im Moment so gut wie jede Band unter Vertrag nehmen würde. Er resümiert zwar für sich, kein Bedauern für sein Verpassen des Tampa-Booms zu spüren, doch ist dies wenig glaubwürdig, da er es auch als »shame« bezeichnet, dass Acheron keinen Plattenvertrag erreichten und weil er seine Lage damit verteidigt, dass es nicht die musikalische Qualität gewesen sei, die in Florida zu Verträgen geführt habe.190 Es dürften auch solche Befürchtungen gewesen sein, einen Aufmerksamkeits-Boom zu verpassen, die junge Musiker dazu veranlassten, einen Wechsel des Kontinents in Betracht zu ziehen. Auch hier trennte die Tape Trading-basierten Szenen eine Radikalität der Entscheidung von der NWOBHM-Phase: Auch Rob Halford lebte lange in den USA und die Band Raven siedelte durch ihr amerikanisches Engagement sogar dauerhaft in die USA über, aber jeweils erst nachdem sie erfolgreich geworden waren.191 Dies änderte sich nun und es wurden der Wunsch nach Erfolg und die Begeisterung für eine Band, der die Migration begründete: Jesse Pintado zog als 18-jähriger von Los Angeles nach Birmingham, obgleich er seine neuen Band-Kollegen nur aus dem Tape Trading und von wenigen Telefonaten kannte.192 Mitch Harris hatte zwar schon persönlichen Kontakt gehabt, zog aber als 19-jähriger, der noch bei seinen Eltern wohnte, ebenfalls von Las Vegas nach Birmingham.193 Der Fanzine-Autor und Morbid Angel-Fan Alan Moses verließ Australien und sehr gute berufliche Aussichten und migrierte nach Tampa, um der Band möglichst nahe zu sein.194 Und Chris Aubert, der ebenfalls ein Fanzine herausgab, saß in Frankreich schon auf gepackten Koffern und wollte nach Florida auswandern, als
188 Vgl. Korycki (Reg.), Cannibal Corpse, Min. 89–92; Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 26–28. 189 Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 71 (Incubus); Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 61 (Hellwitch); Vgl. Stöver, Voices from the Darkside 7; Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 45f. (John Fisher). 190 Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 10; Vgl. Mindausgas Lapinskas, Acheron. Interview mit Vincent Crowley, in: Voices from the Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/ interview/acheron-2/ (letzter Aufruf 16.05.2022). 191 Vgl. Halford, Confess, S. 147f.; Vgl. Interview John Gallagher, Z. 38–43. 192 Pintado: »A lot of people don’t understand. They’ve heard about the underground and corresponding through the mail, but unless they’ve done it, they don’t understand that sometimes that can be really powerful. You can do a lot of things by just writing on a piece of paper or putting your ideas on a tape to another person. If it wasn’t for that, I wouldn’t be in London today. That’s a really strong tool.« Christe, Sound of the Beast, S. 246. 193 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 63–65. 194 Vgl. Forbes, Glorious Times Death Metal Book, in: Metalcore Fanzine.
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der erste Golfkrieg ausbrach und sich sein Plan zerschlug.195 Für eine lebensverändernde Entscheidung musste die Entfernung jedoch gar nicht so groß sein: Per Ohlin zog von Stockholm nach Norwegen und lebte bei seinen neuen Band-Kollegen von Mayhem und schließlich meist allein in einem ländlichen Haus südlich von Oslo. Er verließ dafür seine Band Morbid, die bereits eine EP aufgenommen hatte und in Stockholm als einflussreich galt, für eine norwegische Band, die noch fast nichts aufzuweisen hatte – allein aufgrund einer stilistischen Gemeinsamkeit und der Hoffnung, sich dort besser verwirklichen zu können.196 In all diesen Fällen antizipierten die Akteure die Vorteile einer Migration und trafen die Entscheidung risikobehaftet und radikal lebensstilbezogen. Sie bilden daher die extremsten Fälle unter den vielen Bewegungen, die die geteilte Leidenschaft in den »langen 1980er Jahren« hervorbrachte.
6.1.4 Das Tape Trading- Netzwerk Das Tape Trading-Netzwerk der extremen Metal-Sub-Genres Thrash, Death und Black Metal war das letzte globale Underground-Netzwerk, das auf analoger Basis funktionierte.197 Über das internationale Postsystem sendeten sich Fans, Musiker, FanzineAutoren, Promoter, Radio DJs, Label-Mitarbeiter und Mitarbeiter bei Metal-Magazinen Musik auf Kassetten zusammen mit Flyern, Hinweisen, Listen, persönlichen Worten und weiteren Absprachen. Das dadurch entstehende virtuelle Netzwerk bildete das Rückgrat der Entwicklung der Metal-Kultur während der »langen 1980er Jahre«, begründete maßgeblich deren musikalische Transgression und globale Ausdehnung198 und hatte wesentliche Auswirkungen auf die Frage, was wo als »guter« bzw. »echter« Metal angesehen wurde. Die »low-definition experience«199 mehrfach überspielter Kassetten prägte Hörgewohnheiten und Authentizitätskriterien, ihre globale Verbreitung ermöglichte die Sondierung musikalischer und ästhetischer Kommerzialisierungs-Nischen und nicht zuletzt bildete das Netzwerk eine wichtige Vorfeldstruktur der Indie Labels, so wie diese eine Vorfeldstruktur der Major-Labels waren.200 Tape Trading war also sowohl musikalisch wie organisatorisch und kommerziell eine Grundvoraussetzung für das Entstehen von Metal-Szenen, indem das Globale die Lokalität bestimmter musikalischer Aufbrüche beförderte und gleichzeitig in das globale Netzwerk zurückwirkte.
195 Vgl. Forbes, Chris Aubert, in: Metalcore Fanzine. 196 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 83–86. 197 Vgl. Jason Netherton, Extremity Reframed. Exhuming Death Metal’s analog origins, in: Karjalainen/Kärki (Hg.), Modern Heavy Metal, S. 309–318. 198 Zum »local buzz« und der »global pipeline« in den Netzwerken von Musikern vgl. Teemu Makkonnen, North From Here. The collaboration networks of Finnish metal music genre superstars, in: Creative Industries Journal 10 (2017) 2, S. 104–118. 199 Netherton, Reframed, S. 316. 200 Zum kommerziellen Charakter der DIY-Netzwerke liegen keine Forschungen vor. Bis auf Ansätze bei Netherton, Reframed, ist die Forschung hier der Selbstzuschreibung der Akteure als vermeintlich unkommerzieller Renegaten gefolgt.
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Darüber hinaus war das Netzwerk für die Akteure ein »Wert an sich«,201 also eine als überaus bedeutend empfundene Tätigkeit und Kommunikationsform, die eigene informelle Spielregeln besaß, große Teile des individuellen Alltags prägte und immensen Einfluss auf das Selbstverständnis der Beteiligten als »Underground« entwickelte. Die Art und Weise, wie man im Tape Trading mühevoll und zeitintensiv kommunizierte, entdeckte und weiterempfahl, erzeugte bei den Tradern eine Anti-Mainstream-Selbstdeutung am »Puls der Zeit« und abseits fast aller öffentlich zugänglichen Magazine, RadioSendungen oder TV-Programme. Tape Trading war also DIY in Reinform, Tor zur Welt und für jede der hier besprochenen Szenen seit der NWOBHM eine conditio sine qua non. Die Motivation für den Einstieg ins Tape Trading beschreiben die Akteure – obwohl es sich um ein musikalisch-fundiertes Netzwerk handelte – als durchweg sozial: Der Tausch und die Kommunikation über die Post ermöglichten Teilhabe an bereits als wichtig empfundenen Szene-Strukturen an anderen Orten,202 sie wurden als Anbindung der Peripherie an ein Szene-Zentrum begriffen203 und waren ein »Rückzug ins Globale« wo keine lokalen Strukturen bestanden. Viele Akteure betonten daher die Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit der sozialen Vernetzung mit Gleichgesinnten, bevor sie überhaupt auf den musikalischen Aspekt dieses Netzwerks zu sprechen kamen.204 Zu trennen war dies freilich nicht: Tape Trading war ein »Muss«, um an die aktuellste Musik aus anderen Szenen zu gelangen205 und versorgte die Akteure augenblicklich mit einem »wealth of information«206 , der anderweitig nicht zu beschaffen war. Das Netzwerk war vor dem Hintergrund der damaligen Vertriebs-und Werbungsmethoden auch unerhört schnell
201 Zur qualitativen Bedeutung von Netzwerkstrukturen, also dem »Wert« der Bindung, sowie deren wissenschaftlichem Bedeutungsgewinn, vgl. Claire Lemercier, Formale Methoden der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften: Warum und Wie?, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Bd. 23 Nr. 1 (2012): Historische Netzwerkanalysen, S. 16–41; Vgl. Markus Gamper/Linda Reschke/Marten Düring, Das Millennium der Netzwerkforschung? Die Bedeutung eines relationalen Paradigmas in der internationalen und deutschen Wissenschaft, in: dies. (Hg.), Knoten und Kanten III. Soziale Netzwerkanalyse in Geschichts-und Politikforschung, Bielefeld 2015, S. 7–50. 202 Vgl. z.B. Metalion, in: Tom Howells, Black Metal. Beyond the darkness, London 2012, S. 109: »I got more and more into the extreme part of Metal I really felt I had to do something to be involved with the scene. […] So, just being involved and having a feeling of creating things was very important for me.« 203 Vgl. Caitlin Smith, Grave Interview with Ola Lindgren, in: Metal Rules, 2013, URL: https://www .metal-rules.com/2013/12/24/grave-interview-with-ola-lindgren/ (letzter Aufruf 16.05.2022); Vgl. Kristiansen, Slayer 20 (2010), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 700 (Tomas Lindberg: »we were alone for a long, long time, I can tell you that, there was not even any people coming to shows with this kind of music or anything, the scene was pretty much dead in Gothenburg, we lived in the international underground bubble, and enjoyed it to the max as well.«; Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 222 (Disinter aus Huntington, VA). 204 Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 99 (Robin Mazen); Vgl. Forbes, Solitude. Interview with Keith Saulsbury, in: Metalcore Fanzine. 205 Vgl. Interview Kelly Shaefer, 07.10 Min. (»We didn’t have a choice.«); Vgl. Gabriel Gatica, Frank Stöver – Interview Compilation of Death, 2009, in: Voices from the Darkside Online, URL: http s://www.voicesfromthedarkside.de/frank-stover-interview-compilation-of-death/ (letzter Aufruf 16.05.2022). 206 Interview John McEntee, 05.32 Min.
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und die Songs der ersten Alben von Metallica oder Exodus waren in ihrer Demo-TapeVersion lange vor der Veröffentlichung in Europa bekannt.207 Das Wissen um diese Dynamik veranlasste die Musiker von S.O.D. sogar, ihr Album 1985 konsequent aus dem Netzwerk herauszuhalten – was am Release-Datum noch überraschen sollte, durfte nicht ins Tape Trading-Netzwerk gelangen.208 Diese mit dem Tausch einhergehende Beschleunigung wirkte auf die Entwicklung der eigenen Band sowie auf einen lokalen Szene-Kern wie ein Katalysator zur Stilfindung.209 Mitch Dickinson, der mit Unseen Terror in Broseley nördlich von Birmingham spielte, empfand die Bedeutung des Netzwerks daher als überwältigende Erweiterung seines Horizonts und in seinem Falle als Grundlage für eine musikalische Verbindung von Metal und Punk: My involvement in the tape trading circuit changed everything. It opened all the doors. All of a sudden I was immersed into a world where barriers were truly being broken and metal and punk were in the same melting pot! It felt completely natural to embrace all of these sounds.210 Der Einstieg in dieses Netzwerk erfolgte meist unspektakulär und durch graduelle Steigerung der Vernetzung über einen längeren Zeitraum. Jeder Trader verweist dabei auf bereits existente Einflüsse durch Andere, auf kursierende Listen oder Anzeigen in Fanzines. Es wäre also müßig zu fragen, wer der erste Tape Trader war. Die Anfänge reichen in der Metal-Kultur in die Zeit um 1980 zurück und das Netzwerk erlebte seine Hochphase zwischen 1984 und 1990.211 So stieg etwa Götz Kühnemund 1983/84 in das Tape Trading ein und nennt als die bis dahin wichtigsten Trader Felix Lethmate (später Gründer des EMP) und Claus-Dieter Hartdegen (später SPV). Hartdegens Liste war laut Kühnemund zu diesem Zeitpunkt die größte in Deutschland, doch er fand auf der Liste von Lethmate ein Live-Tape eines Konzerts von Accept und Samson in der Zeche Bochum (1983) und habe »fast den Verstand verloren«, weil er dort ebenfalls anwesend gewesen war. Die Kassette kostete 10 DM und war, um voll zu werden, im Anschluss mit einem DemoTape bespielt. Kühnemund kaufte umgehend zehn weitere Kassetten und stieg, als er etwa 50 Kassetten aufweisen konnte, selbst mit den eigenen Kopien in das Tape Trading ein.212 Seine Erfahrung verweist neben dem Einfluss bereits existierender Trader vor allem darauf, dass es sich bei großen Teilen des Netzwerks streng genommen nicht um »Tape Trading«, sondern um »Tape Selling« handelte – denn viele Beteiligte kauften nur und tauschten nicht. So bekam Thomas Such (Sodom) in Gelsenkirchen etwa einmal im Monat eine Liste aus Hannover (er nennt Hartdegen nicht, doch es war wahrscheinlich dessen Liste) und bestellte die neuesten Tapes von allem aus den USA, beteiligte sich aber
207 Vgl. Interview Waldemar Sorychta, 21.32-21.50 Min.; Vgl. Interview Götz Kühnemund, 10.18-13.17 Min. 208 Vgl. Hofer, Perpetual Conversion, S. 35. 209 John McEntee sprach in diesem Zusammenhang beispielsweise von »it’s kind of planting seeds.« Interview John McEntee, 06.28 Min. 210 Moses/Pattison, Glorious Times, S. 150. 211 Sebastian Ramstedt von der schwedischen Band Exhumed gab etwa an, dass das Jahr 1990 als Einstieg in das Tape Trading für seine Band zu spät gewesen wäre. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 141. 212 Vgl. Interview Götz Kühnemund, 10.18-13.17 Min.
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nicht am Tausch.213 Auch Rat Skates (Overkill) verkaufte das erste Tape der Band lediglich und tauschte nicht, denn er wollte den kleinen Gewinn in die Band reinvestieren.214 In Erweiterung dieses virtuellen Tape-Verkaufs entwickelte sich vor allem in den US-Death Metal-Szenen die Praxis, die eigenen Tapes auch auf Konzerten anderer Bands zu verkaufen.215 In Deutschland blieb der Einfluss des »Tape Selling« vermutlich am längsten bestehen und veranlasste Musiker wie Anders Schultz (Unleashed) zu der Beobachtung, dass das Tausch-Netzwerk seinen Schwerpunkt eher in den USA, Skandinavien und Südamerika gehabt habe.216 Dies wäre jedoch durch weitere Forschung noch zu prüfen.217 Die meisten bekannten Trader geben an, dass sie zunächst Kassetten von den Listen anderer oder direkt von den Bands kauften und sich eine eigene Liste zusammenstellten. Frank Stöver nennt beispielsweise einen Preis von 1 DM für zehn Minuten TapeLaufzeit, durch die man ein Repertoire aufbauen konnte, weil man »für viele etablierte Trader anfangs auch noch überhaupt nicht interessant [war], wenn man nur eine sehr kleine Liste vorweisen konnte.«218 Stövers erster Partner war mit Alex Gernandt, ab 1988 bei der Bravo, eine später bekannte Person der deutschen Musikpresse – zuvor war Gernandt jedoch Herausgeber des Shock Power Fanzines und unterhielt eine Trading-Liste von Demos und Live-Tapes, die neben Namen der Bands auch grobe Stilbeschreibungen für die Orientierung der Kunden enthielt.219 Einen ähnlichen Weg zum Trader über den Kauf wies auch Ed Farshtey (Book of Armageddon Fanzine) auf, der 1983 mit gekauften Demos von Overkill, Hirax und Nasty Savage sowie Live-Tapes aus New York City einstieg und zwischen 1984 und 1988 ein weltumspannendes Tauschnetzwerk pflegte.220 Dass er auch ein Fanzine herausgab, verweist auf eine weitere Konstante: Denn Fanzines stellten durch ihre Pen-Pal-Anzeigen und Adressen der Bands sowie Adressen anderer Fanzines eine zentrale Informationsquelle zur Verfügung.221 Magnus Forsberg, einer der wichtigsten Tape Trader Schwedens, der es ebenfalls nicht darauf angelegt hatte, Tape Trader zu werden, sich aber Stück für Stück dazu entwickelte, hält etwa das Fanzine To The Death für zentral, wenn es um seinen Einstieg ins Tape Trading geht. Sein erstes Tape einer Band war »Megalomania« der Landsleute von Mefisto.222 Forsbergs Pionierfunktion für die schwedische Szene versorgte ihn bald mit den Demo-Tapes der Bands frei Haus und er wirkte als starker Multiplikator für die schwedischen Death
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Vgl. Interview Thomas Such, 01.59-02.50 Min. Vgl. Leslie, Interview with Rat Skates. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 61 (Henry Veggian). Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 297. Forschungen existieren auch zu diesem Aspekt bisher nicht. Die Aussagen der Akteure deuten jedoch darauf hin, dass das Tape Trading in Deutschland nicht weniger weit verbreitet war, sich allerdings erst basierend auf den US-und nordeuropäischen Szenen im Death Metal ausbildete. Vgl. Andreas Hertkorn, Todessehnsucht. Als der Death Metal nach Deutschland kam, Berlin 2020, S. 15–34. 218 Interview Frank Stöver, Z. 8–10. 219 Vgl. ebd., Z. 13–20. 220 Vgl. Forbes, Ed Farshtey. 221 Vgl. Forbes, This Zine Sucks Fanzine; Vgl. ders., Interview with Ron Quintana. 222 Vgl. Interview Magnus Forsberg, Z. 60–71.
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Metal-Bands nach Nordamerika und England.223 Auch für Alex Bouks in Philadelphia begann die Zeit als Tape Trader durch ein Fanzine (Scott Helig’s Total Thrash), ebenso wie für Bob Petrosino in New Jersey und Jeff McClelland in Virginia.224
Abb. 50: Die erste Seite einer Demo-und Live Tape-Liste mit dem Angebot eines Tape Traders/Sellers (1985).
Abbildung und Erlaubnis: Robert Gonella.
Das international für die Mitte der 1980er Jahre wichtigste Blatt, das die Tape Trading-Adressen zur Verfügung stellte, war das englische Magazin Metal Forces, während für die frühen 1980er Jahre eher das Kerrang! genannt wird.225 Die Brieffreund223 Vgl. David Laszlo, Morbid. Interview with Uffe Cederlund. 224 Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 2; Vgl. Forbes, Goreaphobia. Interview with Alex Bouks; Vgl. Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino. 225 Vgl. Dubin (Reg.), Murder in the Front Row, 07.30 Min.; Vgl. Forbes, Interview with Marco Barbieri; Zu Metal Forces heißt es richtig auf der Website sendbackmystamps.org: »Once more, it’s a given
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Sektion des Metal Forces versorgte beispielsweise Shane Embury und Mitch Dickinson, die abseits der regionalen Szenen in Broseley wohnten, mit den nötigen Adressen, um für ihre Band Warhammer eine breitere Aufmerksamkeit zu erzielen. Sie netzwerkten unter anderem zu den späteren Musikern von Carcass nach Liverpool und nach London, sodass die mit einem Ghettoblaster aufgenommene Probe von Warhammer schnell im englischen Underground bekannt wurde. Im Gegenzug erhielt Embury eine Kassette, die mit der unveröffentlichten Version von »Seven Churches« (Possessed aus San Francisco) und einem Demo-Tape von Death (Orlando) bespielt war und ihn mit den wichtigsten Einflüssen aus den USA vertraut machte. Auch er kaufte zunächst Kassetten, »because we had nothing to offer«, und trat dann in Kontakt mit US-amerikanischen Bands wie Genocide, japanischen Tradern und auch deutschen Fanzines – etwa Andy Larsen vom Battlefield Fanzine, der auch Sticker für Emburys regionale Kollegen von Heresy aus Nottingham herstellte.226 Aufgrund der informellen DIY-Organisation und der Tatsache, dass sich stets Akteure in das Netzwerk bewegten und parallel andere wieder ausschieden, Pausen einlegten oder schlicht nur Tapes kauften, ist es kaum möglich, über das Tape TradingNetzwerk quantitative Aussagen zu treffen. Craig Locicero bezeichnet die »original tape traders« als »tight-knit, close group« von wenigen hundert Personen weltweit, die aber als »tastemakers« eine bedeutend größere Zahl von Freunden und Bekannten beeinflussten.227 Daniel Ekeroth schätzte die schwedische Tape Trading-Szene dagegen nur auf etwa 50 Personen, die aber ebenso wie in Kalifornien als lokale Multiplikatoren und Ansprechpartner eine fast flächendeckende Informations-und Infrastruktur ermöglichten.228 So betonte Christian Wahlin (Grotesque aus Göteborg), dass das Tape TradingNetzwerk dazu führte, dass der Szene-Kern in fast jeder Stadt über die Entwicklungen Bescheid wusste, weil die wenigen ansässigen aktiven Trader ein landesweites Kommunikationsnetz gespannt hatten.229 Verkompliziert werden quantitative Angaben weiterhin, weil sich die individuellen Netze der Trader stark unterschieden: So unterhielt Marco Barbieri in San Francisco ein Netzwerk mit nur vier bis fünf festen Partnern.230 Im Kontrast dazu existierten Trader wie Jon Kristiansen, Ron Quintana oder Roy Fox, die durch ihre Fanzines hunderte Kontakte aufrecht erhielten, von denen sich freilich auch nicht alle als wegweisend herausstellten. Roy Fox nennt für seine Zeit als Tape Tradern etwa 300 Briefkontakte.231 Dass Netzwerk besaß daher voraussichtlich einen relativ überschaubaren Kern von weltweit
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that Metal Forces was certainly not a fanzine, yet it still deserves archival status. As previously stated, the importance of the magazine for the development of the global underground and all ›extreme‹ genres can not be understated – they covered many notable bands before any other press did, and were a reliable go-to source for news in the pre-internet era.« URL: https://www.s endbackmystamps.org/2013/07/27/metal-forces-21-uk-1986/ (letzter Aufruf 16.05.2022). Vgl. Interview Shane Embury, 01.09-02.45 Min. Interview Craig Locicero, 17.10 Min. Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 69. Vgl. Kristian Wahlin, in: ebd., S. 107. Vgl. Forbes, Marco Barbieri. Vgl. Forbes, Necroharmonic Productions; Vgl. Forbes, Quintana; Vgl. Kristiansen (Hg.), Metalion, S. 30.
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weniger als 500 Akteuren, die sich permanent engagierten, während die Anzahl der Beteiligten insgesamt wesentlich höher ausfiel. Viele tauschten nur wenig oder nur lokal, taten es phasenweise und/oder mussten Rücksicht auf ihr Zeitmanagement nehmen. Viele Fans und auch Musiker tradeten auch gar nicht.232 Abseits der Quantität war das Netzwerk jedoch fast ausschließlich männlich und wies wahrscheinlich noch weniger weibliche Beteiligte auf als es Metal-Musikerinnen gab. Bis auf wenige Ausnahmen wie Gudrun Hagedorn, im Netzwerk auch als »grave goody« bekannt,233 blieb das Engagement im Tape Trading eine männlich-dominierte Technik und Sharon Bascovsky, die sich für einige Zeit beteiligte, berichtet sogar von einzelnen Anfeindungen im Briefverkehr, die sie und ihre Band-Kolleginnen als »whores« bezeichneten.234 Der allergrößte Teil ihrer Kontakte verhielt sich jedoch solidarisch und nahm keinerlei Bezug auf die Gender-Problematik. Das Tape Trading-Netzwerk besaß ein informelles Regelwerk, dessen Befolgung die Voraussetzung für kontinuierlichen Zugang war. Mit Blick auf die frühen 1980er Jahre sprach Brian Slagel davon, dass der Zugang zu diesem »secret club of fraternity«235 gewährt werden musste. Die erste Voraussetzung dafür war die angebotene Menge und Frank Stöver formulierte: Man musste schon eine bestimmte Menge an Live-, Demo-und Rehearsaltapes in seiner Liste vorweisen können um mit etablierteren Tradern tauschen zu können. Was aber ja irgendwie auch verständlich ist, denn wenn ich z.B. nur 3 Livetapes einer lokalen Band gelistet habe, kann ich ja schlecht erwarten dafür im Tausch z.B. 5 Tapes à 90 Minuten zurückzubekommen.236 Wie bereits beschrieben war es diese Anforderung, die den schrittweisen und mittelfristigen Einstieg in das Netzwerk begründete, sodass niemand umgehend dessen fester Bestandteil wurde. Fairness war eine weitere Bedingung und beruhte vor allem auf dem gemeinsamen und unkommerziellen Underground-Verständnis, aber auch auf der Tatsache, dass Fehlverhalten kaum sanktionierbar war. Viele Trader kannten sich nicht persönlich und führten Korrespondenzen ohne sich jemals zu sehen. Zu dieser Fairness gehörte der Tausch etwa gleichwertiger Dinge – zunächst rein technisch betrachtet und für Magnus Forsberg war es etwa ein No-Go, »to reply with a crappy and worn out overplayed gas station country ›n‹ western-cassette if you got a crisp brand new chrome cassette in the first place.«237 Hinzu kam die Spielzeit und Mille Petrozza erinnert sich, dass er bei einer Band nach deren Demo anfragte und dafür mit einem anderen Tape bezahlte, dass etwa ein Live-Tape aus dem niederländischen Dynamo-Club oder eine Radio-Show sein
232 Vgl. Laszlo David, Malevolent Creation. Interview with Jon Rubin, in: Voices from the Darkside Online; Vgl. Mattila/Lahtinen, Isten 5 (1990), S. 4. In vielen Bands konzentrierte sich das Trading zunächst auf einen Musiker. 233 Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 136. 234 Vgl. Interview Sharon Bascovsky, 27.30-29.55 Min; Vgl. Aleks, An NCS Interview. 235 Slagel, For the sake of heaviness, S. 4. 236 Interview Frank Stöver, Z. 54–58. 237 Interview Magnus Forsberg, Z. 73–75.
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konnte. Es galt »60 Minuten gegen 60 Minuten.«238 Was genau passierte, wenn Trader diese Anforderungen nicht einhielten, ist kaum belegt. Wahrscheinlich wurde der Kontakt eingestellt. Mark Mastro (Rottrevore) aus Pittsburgh wechselte in diesen Fällen dagegen die Versand-Art: Tradern, die ihm ein schlechtes Tape gesendet hatten, antwortete er nicht mehr per Air Mail, also der schnelleren Variante per Flugzeug, sondern mit der Surface Mail, die über das Schiff organisiert wurde und besonders für europäische Kontakte bedeutete, dass die Antwort Monate auf sich warten ließ.239 Wer sich also benahm, wurde bevorzugt behandelt. Zur Fairness gehörte aber auch Gegenseitigkeit – nicht nur im Tausch von Produkten, sondern auch im Antwortverhalten auf die beiliegenden Briefe. Über die ausbleibende Antwort von Sharon Bascovksy machten sich die Macher des finnischen Isten Fanzines beispielsweise in einer Ausgabe von 1990 Luft und kritisierten dieses Verhalten als unsolidarisch.240 Die Musikerin hatte jedoch kurz zuvor aufgegeben, die permanente Masse eingehender Briefe und Anfragen zu beantworten.241 Auch Jon Kristiansen fragte bei Chuck Schuldiner (Death) nach, ob es wahr sei, dass er nie auf Briefe antworte, woraufhin dieser zugab »Yeah, I’m a real dick.«242 Auch hier ließ ihm nach eigener Aussage die fehlende Zeit keine andere Möglichkeit. Diese Fälle sind deshalb aussagekräftig, weil der Wunsch der Treue zum Underground-Netzwerk selbst dann noch existent blieb, wenn eine Band tourte und Platten verkaufte. Ein Bruch der Kommunikation wurde als fehlende Verbundenheit zu den Wurzeln verhandelt. Selbst wenn es zeitlich eigentlich gar nicht mehr möglich war, die Briefe zu beantworten, versuchten Bands, den Anforderungen dennoch gerecht zu werden. Alex Webster beschrieb dies etwa für Cannibal Corpse nach ihrem Vertrag mit Metal Blade Records: Although we got signed pretty fast, we were still doing mail, and involved in the underground. Our old guitarist Bob Rusay was doing it then, because he was the one guy whose family had a P. O. Box.243 Viele Praktiken im Tape Trading resultierten aus dem Charakter als Post-Netzwerk. Im nationalen Brief-und Paketversand, der über dasselbe Briefmarkensystem ablief, konnten für eine erwünschte Rücksendung eines Tapes oder eine Antwort auf einen Brief beispielsweise Briefmarken beigelegt werden. Es existierten Fälle, in denen dies dadurch umgangen wurde, dass der Absender die Briefmarke mit einem durchsichtigen Kleberfilm überzog. Der Poststempel ließ sich vom Empfänger vorsichtig ablösen und die Marke wiederverwenden. Ganze Korrespondenzen konnten auf diese Weise mit nur einer Briefmarke geführt werden.244 Die Aufforderung »send back my stamps« zeigte diese Praxis für den internationalen Postverkehr an, wo die abgelöste Marke beigelegt wur-
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Bender, Violent Evolution, S. 26. Vgl. Mark Mastro, in: The Latem-Files, 55.00-55.25 Min. Vgl. Mattila/Lahtinen, Isten 5 (1990), S. 85. Vgl. Forbes, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky. Kristiansen, Slayer 6 (1988), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 134. Netherton, Extremity Retained, S. 90. Vgl. Kristiansen, Slayer 1 (1985). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 30.
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de.245 Dies betraf besonders die Korrespondenz zwischen reinen Tradern. Handelte es sich jedoch um Demo-Anfragen an Bands, war mit der internationalen Post eher ein IRC (International Reply Coupon) verbunden – ein Gutschein, mit dem sich der Empfänger eine Marke für seine Rücksendung erwerben konnte, solange beide Staaten Mitglieder des Weltpostvereins waren.246 So gehörte bei vielen Band-Interviews in Fanzines der Verweis auf den IRC zum Standard und Mick Harris bat im Namen seiner Band Napalm Death 1987: Anybody writing please make sure to enclose one or two I.R.C.'es for reply as we are quite poor. And we will definitely write back. […] No rips ofs. We don’t believe in ripping people off.247 Wie bei Harris war die Bitte um einen IRC auch bei den Schweden Nihilist mit einem Hinweis auf den ansonsten geltenden Non-Profit-Gedanken verknüpft, der die anscheinend als unangenehm empfundene Bitte um Geld lediglich als Selbstkostendeckung einordnete.248 Da eine digitale Nachprüfung nicht zur Verfügung stand, ging damit wenigstens eine kleine Versicherung für die Bands einher, die auch Anfragen von vermeintlichen Fanzine-Autoren erhielten, die sich später als erlogen herausstellten.249 Trotz der latenten Unsicherheit, die es irgendwie zu minimieren galt, wurde über die Post in den 1980er Jahren insgesamt sehr viel Geld an Musiker gesendet. John McEntee und Ross Dolan weisen sogar auf die Praktik des Einwickelns der Geldscheine (»No coins!«) mit Metallfolien hin, um Diebstahl bei der Post vorzubeugen.250 Einträglich war dies aufgrund des antikommerziellen Gedankens im Death Metal-Underground für die jeweiligen Bands jedoch nicht. Kleine Geschäfte machten dagegen eher die Verkäufer von Tapes, deren Listen sich zu minutiösen Dokumenten entwickelten: Es existierten Listen, die eigene Bewertungssysteme enthielten, die die Soundqualität einordneten, auf denen zu lesen war, um die wievielte Kopie des Originals es sich handelte und wie lang die Aufnahme dauerte (damit eine Zusammenstellung auf 90 Minuten-Kassetten möglichst rentabel war).251 Der Ausdruck der Sammelleidenschaft ging so weit, dass einzelne Trader 100 Live-Shows von Bands wie Slayer oder Exodus anbieten konnten und dadurch nah an eine Live-Chronologie der Bands herankamen.252 Der Verkauf über solche Listen bedeutete etwa im Fall von Götz Kühnemund »ein gutes Nebengeschäft«253 , durch das er sich die Import-Platten kaufen konnte, das aber freilich nicht legal war. Als Claus-Dieter Hartdegens Trading-Infrastruktur von der Polizei beschlagnahmt wurde, machte er diese (als einer der ersten Mitarbeiter von Steamhammer/SPV) als »Arbeitsmaterial« geltend
245 Vgl. URL: https://www.sendbackmystamps.org/about/ (letzter Aufruf 16.05.2022). 246 Zur Geschichte der IRCs vgl. URL: https://www.upu.int/en/Universal-Postal-Union/Activities/Phil ately-IRCs/International-Reply-Coupons-(IRCs) (letzter Aufruf 16.05.2022). 247 Kristiansen, Slayer 5 (1987), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 85. 248 Vgl. Kristiansen, Slayer 7 (1989), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 152. 249 Vgl. Kristiansen, Slayer 8 (1991), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 212. 250 Vgl. The Latem-Files, 63.00-63.30 Min. 251 Vgl. Forbes, Interview with Marc Fischer, in: Metalcore Fanzine. 252 Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 18f. (Les Evans). 253 Interview Götz Kühnemund, 14.10 Min.
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und hatte dadurch Glück. Kühnemund erhielt eine Warnung von Hartdegen und schob alles unter das Bett seiner Mutter – wo es heute noch liegt. Mit seinem ersten Nebenjob beim Metal Hammer stieg er aus dem Tape Selling dann ganz aus.254 Während diese Formen der Kommunikation semi-professionelle Handelsgeschäfte waren, gestaltete sich das tatsächliche Tausch-Netzwerk über einen gegenseitigen Briefverkehr, in dem zwar auch Geld für Demo-Tapes beiliegen konnte, der aber einen echten Erfahrungsaustausch beinhaltete. Den teilweise sehr langen handschriftlichen Briefen, in denen die Verehrung für die Band und Persönliches kundgetan wurden, lagen »ads«255 und »pamphlets«256 bei, die über die neuesten Konzerte, Bands und Demos der lokalen Szene informierten und die über die Post eine breite Streuung erfuhren. Laut Sharon Bascovsky war »spread like a disease« der übliche Ausdruck für diese Form der Promotion.257 Darüber hinaus war das Tape Trading ein Markt für Skurriles und die Post enthielt bisweilen die seltsamsten Ausdrücke individuellen Aufmerksamkeitsstrebens. Laut Mike Smith (Suffocation) reichte die Spanne von »the girls and their tactics« bis hin zu »the diehard who wanted to show you how metal they were« – es kam auf die Herausstellung von Einzigartigkeit und extremen Fantums an.258 Es kursieren daher Geschichten über Briefe, die mit Blut geschrieben wurden,259 über Marihuana, wo bekannt war, dass die Musiker gerne kifften,260 über Wodka, der aus dem osteuropäischen Raum eintraf,261 bis hin zu einem Beutel mit Kröten-Exkrementen, durch die der Absender seine Verrücktheit unter Beweis stellen wollte,262 oder der gekreuzigten Maus, die Per Ohlin der Band Mayhem als Bewerbungsschreiben übermittelte.263 Diese Ausdrücke von Wertschätzung zu beantworten, erforderte selbst für passionierte Fans und Trader viel Zeit und Engagement. Besonders der Schriftverkehr war sehr aufwendig, da die Musiker ungern mit einer standardisierten Phrase auf einen derart individualistischen Brief antworteten. Bob Petrosino verbrachte daher in vier bis fünf Nächten in der Woche zwei bis vier Stunden damit, Post zu beantworten und erledigte ebenso wie Johan Edlund in Täby den Schriftverkehr als gleichwertige DIY-Aufgabe neben Bestellungen, Promotion, Booking und der Kommunikation mit Radio und Fanzines.264 Auch Sharon Bascovsky, die nach dem ersten Demo-Tape von Derketa zwischen fünf und zehn Briefen pro Tag erhielt, versuchte, der Aufgabe gerecht zu werden,265 während sich Ross Dolan wie in einer Zeitschleife fühlte: Auf die zeitintensive Antwort auf
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Vgl. Interview Götz Kühnemund, 14.42-15.36 Min. Vgl. Chris Forbes, Judgement. Interview with Andrew Bordynowski, in: Metalcore Fanzine. Interview Scott Reigel, 07.20-08.05 Min. Forbes, Derketa. Andreyuk, Tape Dealer, S. 131. Vgl. ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 108. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. Forbes, Interview with Ray Dorsey, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Patterson, Black Metal, S. 186. Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 83; Vgl. Forbes, Oblivion. Vgl. Bill Nocera, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky, in: Voices from the Darkside Online.
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einen langen Brief traf umgehend eine Antwort ein, die eine Reaktion erforderte.266 Der Briefverkehr wurde schnell zu einer Never-Ending-Story. Dort, wo neben den Briefen auch noch die Zusammenstellung und Versendung von Kassetten erledigt wurde, glich eine Tätigkeit im Tape Trading daher rasch einer unbezahlten Vollzeitstelle. Shane Embury verbrachte über einen längeren Zeitraum etwa acht Stunden pro Tag vor seinem Tapedeck und verschickte zwischen 30 und 40 Kassetten pro Woche,267 während auch Götz Kühnemund »die Hälfte meiner Jugend vorm Tapedeck verbracht[e].«268 Dies hatte bei aktiven Tape Tradern häusliche Folgen: Bei Henry Veggian sah es zu Hause wie in einem »receiving department of a large business«269 aus und Pakete, Briefe und ganze Kisten voller Einsendungen stapelten sich. Als John McEntee bei Revenant einstieg »very quickly, and soon his room at his parent’s house also looked like a shipping department, too.«270 Bei tape-tradenden Fanzine-Autoren gestaltete sich Räumlichkeit sogar rasch ganz unter der Prämisse der subkulturellen Praxis.271 Der Aufwand ging so weit, dass manche Bands dazu übergingen, feste Termine für die Erledigung des Postverkehrs einzurichten und sich gemeinsam darum zu kümmern. Bei Morpheus Descends traf sich die Band regelmäßig zu Bier und Briefeschreiben,272 Grave setzten sich auf Gotland am Sonntag zusammen und organisierten die Antworten und den Versand273 und bei zwei Mitgliedern der Band Necrophobic in Stockholm (Parland/ Zander) bezeichnete man sich selbst als »tape-trading company.«274 Metalheads waren daher bei den anderen Kunden an den lokalen Postschaltern nicht sehr gern gesehen. Tape Trading führte zu einem »unproportional amount of Death Metal heads in the post office line.«275 Bei Monstrosity in Ft. Lauderdale besuchte man die Post täglich mit großen brauen Einkauftüten voller Tapes,276 bei Immolation gab man in der Mittagspause teilweise 50 Pakete ab und belegte alle Schalter277 und durch die komplizierte Versendung in alle Welt waren auch die Kunden hinter Rob Yench in Middletown sauer ob der langen Wartezeit.278 Zwar werden diese Praktiken heute als nostalgische Erlebnisse verhandelt, doch lag in ihnen auch bereits das Ende des Engagements begründet. Denn der enorme Zeitaufwand ließ Enthusiasmus früher oder später erlahmen, wenn die Post die musika-
266 267 268 269 270 271
272 273 274 275 276 277 278
Vgl. Latem-Files, 55.00-55.30 Min. Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 34f. Interview Götz Kühnemund, 13.17 Min. Andreyuk, Tape Dealer, S. 61 (Henry Veggian). Ebd., S. 62. Als Kristiansen in den 1990er Jahren für sechs Monate in Australien weilte, holte sein Bruder die Post ab. Als er zurückkehrte, warteten etwa 30 prall gefüllte Einkauftüten mit Briefen und Paketen auf ihn. Vgl. ders. (Hg.), Metalion, S. 30. Vgl. Interview Rob Yench, 27.49-28.38 Min. Vgl. Marius Mutz, Interview mit Ola Lindgren von Grave, in: metal1.info. Wir schreiben Musik seit 2002, 2010, URL: https://www.metal1.info/interviews/grave/ (letzter Aufruf 16.05.2022). Vgl. Wouter Roemers, David Parland, in: Masterful Magazine, 2013, URL: www.masterful-magazi ne.com/interviews.php?intId=716 (letzter Aufruf 16.05.2022). Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 177 (Epitaph). Vgl. Interview Lee Harrison, Z. 3–8. Vgl. Ross Dolan, in: The Latem-Files, 57.00-57.35 Min. Vgl. Interview Rob Yench, 28.38 Min.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
lische Tätigkeit oder familiäre Verpflichtungen behinderte279 – oder wenn schlicht kein Geld mehr übrig war.280 Denn trotz aller IRCs und Briefmarkentricks blieb das Tape Trading für die meisten ein finanzielles Zuschussgeschäft. Es wäre für zukünftige Forschung eine verdienstvolle Aufgabe, die geografische und soziale Reichweite des Tape Trading-Netzwerks zu rekonstruieren. Hier kann sich vorerst lediglich auf ein partiell aufgearbeitetes Ego-Netzwerk konzentriert werden. Es handelt sich in Tab. 4 um die Kontakte von Jon »Metalion« Kristiansen in den ersten elf Ausgaben seines Slayer Fanzines zwischen 1985 und 1998. Da in der Praxis nicht zwischen Tape Trading, Fanzine-Herausgabe und rein privaten Kontakten unterschieden wurde, ist die Tabelle also als Verknüpfung dieser Ebenen zu verstehen und bezieht jene Verbindungen Kristiansens ein, die sich in seinem Fanzine nachvollziehen lassen und die er in seinen Vorworten zu den einzelnen Ausgaben in der Edition erwähnte, also vor allem um die Musiker, Tape Trader und Fanzine-Autoren, zu denen er nachweislich Kontakt hatte.281 Die reale Zahl seiner Kontakte war erheblich höher. Allein zwischen 1983 und 2002 schrieb er etwa 30.000 Briefe, erhielt zehn bis 15 Sendungen pro Tag und investierte dafür bis zu zehn Stunden täglich.282
1985–1986 Kontakte
1987–1989
1990–1992
1993–1998
insgesamt
41
95
70
41
247
Norwegen
37 %
6%
27 %
44 %
23 %
Schweden/ Finnland
10 %
16 %
26 %
15 %
15 %
Großbritannien
7%
11 %
10 %
7%
8%
Kontinentaleuropa
17 %
25 %
16 %
7%
19 %
Nordamerika
27 %
30 %
20 %
10 %
23 %
Südamerika
2%
6%
1%
0
3%
0
4%
0
17 %
4%
Australien
Tab. 4: Geographische Verteilung der Kontakte in Slayer 1–11 (1985-1998)
Eine Begrenzung der Aussagekraft ergibt sich auch daraus, dass die Kontakte zum Zeitpunkt ihrer Neuerwähnung im Fanzine aufgenommen sind, es sich aber um ältere Verbindungen handeln konnte, die auch danach noch wichtig für ihn blieben. Dennoch
279 280 281 282
Vgl. Forbes, Derketa; Vgl. Forbes, Marco Barbieri. Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 63 (Veggian). Vgl. Jon Kristiansen/Tara Warrior (Hg.), Metalion. The Slayer Mag Diaries. Vgl. ebd., S. 29f.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
lassen die rekonstruierten 247 Kontakte einige Schlussfolgerungen zu: Die größte Dichte neuer Vorstellungen von Bands weist die Phase zwischen 1987 und 1992 auf und damit genau jene Jahre, die im Death Metal und Black Metal das intensivste Tape Trading erlebten. Die Entwicklung der geographischen Verteilung ist bei Kristiansen auf eine Mischung musikalischer und individueller Aspekte zurückzuführen. Der hohe Anteil norwegischer Kontakte zu Beginn seines Fanzines geht auf seine Herkunft und die langsame Herausbildung eines südnorwegischen Netzwerks von Musikern zurück. Die Bedeutung kontinentaleuropäischer und amerikanischer Kontakte ist bis 1990 hoch und verweist auf die musikalischen Impulse, die die dort angesiedelten Metal-Szenen auf ihn ausübten. Die engsten Verbindungen bestanden dabei nach Westdeutschland, in die Niederlande, nach Griechenland, Dänemark und Frankreich – sowie in die wichtigsten SzeneRäume der USA in Florida, Kalifornien und den Nordosten des Landes. Die wechselnde Anzahl australischer Kontakte ist auf seinen längeren Aufenthalt und die guten Beziehungen zu australischen Bands wie Sadistic Execution zurückzuführen. Großbritanniens Rolle für sein Netzwerk bleibt konstant bestehen und geht sowohl auf die stabilen musikalischen Impulse als auch auf persönliche Vernetzung zurück. Ab 1990 sinkt jedoch die Zahl der amerikanischen und europäischen Neunennungen erheblich zu Gunsten zu norwegischen und schwedischen Erwähnungen – ein untrügliches Zeichen für Metalions Bedeutung im sowohl schwedischen Death Metal als auch norwegischen Black Metal, die er medial stützte und durch steigenden Lokal-bzw. Regionalbezug international publik machte. Wie das gesamte Netzwerk auch ist Kristiansens Wirken daher ein gutes Beispiel für die inhärente Glokalität des Tape Tradings. Wie auch bei Kristiansen, der sein eigenes Label (Head Not Found) gründete, damit aber nie über die DIY-Stufe hinausging, wurden diese Kanäle des globalen Tauschnetzwerks als kommerzielles Instrument entdeckt. Das originäre Tauschen mit persönlicher Note nahm am Ende der 1980er Jahre merklich ab, weil nun die Bands eher selbst die eigenen Tapes versendeten. Diese wurden nicht überspielt, sondern professionell aufgenommen und produziert, gingen über Mail-Listen an die Fanzines, um dort Kritiken zu erhalten und auch an die Indie Labels, um Plattenverträge zu ermöglichen.283 Kelly Shaefer beschreibt den Anbahnungsprozess des Plattenvertrags seiner Band Atheist daher wie folgt: […] but most was us sending out tapes ourselves, it wasn’t really about trading. We knew what we wanted to do and what we were trying to do, so we were sending our music out in little envelopes with, you know, burnt cassettes, not burnt, I said burnt, but recorded to sets and, you know, very low quality and that would be how we would get our record deal. By one of those cassettes that we sent out.284 Die Infrastruktur des Netzwerks wurde durch solches Vorgehen zunehmend zum »business alliance«285 , ebnete den Weg zur Aufmerksamkeit oder diente nach der Vertragsunterzeichnung zu Promotion-Zwecken der Bands. Sie entwickelte sich um 1990 zur Vor-
283 So die Erfahrung von Chris Forbes, in: Andreyuk, Tape Dealer, S. 8f. 284 Interview Kelly Shaefer, 07.51-08.19 Min. 285 Christe, Sound of the Beast, S. 146.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
feld-, Sondierungs-und Marketingarena für die Plattenlabel.286 Mit zahlreichen LabelMitarbeitern, Radio-DJs und Fanzine-sowie Magazin-Autoren in einem Netzwerk, war eine Beteiligung an dieser Institution für die Bands in den 1980er Jahren im Grunde alternativlos und wurde gerade in der Frühphase von später international erfolgreichen Bands auch aufrechterhalten.287 Beziehungen und Informationen innerhalb des Tape Tradings wirkten bisweilen aber auch wie eine internationale Arbeitsagentur und machten Musiker auf Angebote und Chancen aufmerksam, die sich auf anderen Kontinenten boten. Der Vertrag zwischen Peaceville Records und der Band Autopsy resultierte beispielsweise lediglich daraus, dass Chris Reifert einen Bekannten des Label-Chefs Paul Halmshaw aus dem Tape Trading kannte (Jeff Walker), der diesem gegenüber Reiferts Band anpries. Aufgrund der vorhandenen Adressen war ein Demo-Tape schnell verschickt und die kalifornische Band unterschrieb bei dem englischen Label.288
6.1.5 Fanzines Die oben beschriebene Rückgrat-Funktion des Tape Tradings war mit der Herausgabe von Fanzines eng verbunden. Nicht jeder Tape Trader gestaltete dabei sein eigenes Fanzine, aber soweit dies bisher zu überblicken ist, war jeder Fanzine-Macher auch ein Tape Trader. Es setzte die globale Kommunikation im Tausch-Netzwerk voraus, um ein Fanzine zu erstellen, das dem Wunsch nach Underground-Akzeptanz und -teilhabe entsprechen konnte. Während das Tape Trading jedoch in all seinen Formen eine soziale Praxis darstellte, waren Fanzines (zunächst) anders motiviert: Sie wurden als Ausdruck eines puren Individualismus angefertigt, indem ihre Macher jeden Schritt der Produktion, jedes Bild, jeden Kommentar und jede Interviewfrage oder Rezension selbst voll verantworteten und meistens auch selbst verfassten.289 Alles gehorchte im Fanzine dem Einzelnen, niemand sonst konnte beeinflussen, wie sich das DIY-Individuum dort darstellte und es existieren einige Aussagen von Fanzine-Machern, die ihrer Tätigkeit am Anfang nur für sich selbst nachgingen.290 Die unprofessionelle und »unkommerzielle« Fanzine-Produktion von geringer Reichweite stand potentiell jedem offen und bewirkte
286 Bands wie Deicide, Malevolent Creation, Entombed oder Obituary wurden aufgrund der Wirkung ihrer Demo-Tapes im Underground von Indie Labels wie Roadrunner oder Earache unter Vertrag genommen. 287 Siehe das Zitat von Alex Webster oben; Vgl. auch die Beispiele von Christe, Sound of the Beast, S. 146f. 288 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 97. 289 Vgl. Karl Siebengartner, Fanzines als Jugendmedien. Die Punkszene in München von 1979–1982, in: Aline Maldener/Clemens Zimmermann (Hg.), Let’s Historize It! Jugendmedien im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2018, S. 259–282. 290 In dieser Phase besaß die Fanzine-Herstellung noch große Schnittmengen mit der Prosumtion, in der der Aspekt der Produktion für die Selbstverwendung und für das Selbstverständnis zentral sind. Vgl. Kai-Uwe Hellmann, Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte, in: Birgit BlättelMink/ders. (Hg.), Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden 2010, S. 13–48, hier S. 36 (Definition Prosumtion).
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
als »empowerment« der Herausgeber eine als sinnvoll empfundene Alltagsstruktur und Kontrolle über die Selbstdarstellung.291 Dass sich diese Medienform, die aus den 1930er Jahren stammte, erst im Zuge des Punks und im gesellschaftlichen und technologischen Wandel seit den 1970er Jahren zu einem oft genutzten Format entwickelte, ist kein Zufall und verweist auf den zentralen Zusatz zu den individualistischen Fanzine-Definitionen: So sehr die Zentrierung auf das Individuum ein »manufactured self« nahelegt, war die Veröffentlichung dennoch ein inhärent sozialer Akt. Der Umstand, dass die Macher ein bestimmtes und kein anderes Bild des Selbst entwarfen, lässt sich nur vor dem Hintergrund der Anhäufung subkulturellen Kapitals lesen. Jedes Metal-Fanzine produzierte und produziert eine Version von Authentizität in Form von musikalischen Vorlieben, aber auch in Form von Layouts oder Rezensionen, die von existenten Vorstellungen sozialer Gruppen ausgeht, diese bestärkt, ablehnt oder verändern möchte – in jedem Fall trägt sie zur Formung einer subkulturellen Vergemeinschaftung in Szenen maßgeblich bei. Darüber hinaus stiegen viele Fanzine-Macher zu wichtigen und einflussreichen Szene-Persönlichkeiten auf, waren teilweise selbst Musiker, schrieben Plattenkritiken und kommunizierten ganz selbstverständlich einige Inhalte stärker als andere. Es sollte daher auch davor gewarnt werden, Fanzines als unkommerziell zu interpretieren,292 auch wenn diese Beteuerung der Macher glaubhaft erscheint. Denn Fanzines sind quasi ein Prototyp der unvermeidlichen Kommerzialisierung subkultureller Distinktion in der Postmoderne: Diese Aporie zeigt sich daran, dass mit unkommerziellen Absichten angetretene Autoren ein hyperindividuelles Medium entwerfen, dieses auf dem Markt der Aufmerksamkeit, auf dem nur das »Besondere« zählt, positionieren und durch große Zustimmung plötzlich eine Zunahme subkulturellen Kapitals erfahren, die kommerzielle Verwertungsinteressen an die Aussagen des Fanzines ankoppelt – ob sie wollen oder nicht. Eine an der Subkulturforschung und Politikzentrierung angelehnte Forschung würde hier eine Lebenslüge erkennen, einen sinnlosen Kampf attestieren und die Grenzen der Subkultur hinsichtlich »echten« Widerstands markieren. Selbst der extremste und individuellste Ausdruck subkultureller Distinktion gehe zwangsläufig den Weg alles Besonderen und werde vom »Mainstream« entdeckt und vermarktet.293 Diese Interpretationen hätten das Phänomen unter den Bedingungen der »Boom-Jahrzehnte« mit ihrer gesellschaftlichen Logik des Allgemeinen und den »echten« Subkulturen schon nicht korrekt eingeordnet, weil sie den durch Pop-Kultur angestoßenen gesellschaftlichen Wandel übersahen.294 Fanzines wurden aber vor allem seit den späten 1970er Jahren en vogue
291
Vgl. Stephen Duncombe, Notes from underground. Zines and the politics of alternative culture, London 1997, S. 5–7, 22. 292 Vgl. ebd., S. 9. 293 Vgl. Keith Kahn-Harris, The ›failure‹ of youth culture. Reflexivity, music and politics in the black metal scene, in: European Journal of Cultural Studies 7 (2004) 1, S. 95–111; Vgl. Duncombe, Notes from underground, S. 211–213; Vgl. Andy R. Brown, Rethinking the subcultural commodity. The case of heavy metal t-shirt culture(s), in: Hodkinson/Deicke (Hg.), Youth cultures, S. 63–78. 294 Vgl. Bodo Mrozek, Jugend, Pop, Kultur. Eine transnationale Geschichte; Vgl. Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 10–27, 752–755; Vgl. Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
und waren eng an die postmoderne Aufmerksamkeitskultur des Neuen und Singulären gekoppelt – sie sind ein Teil des Wandels der gesellschaftlichen Logik und verdanken ihre kommerzielle Kraft nicht ihrem vermeintlichen Widerstand gegen einen Mainstream, sondern im Gegensatz ihrer antizipatorischen und affirmativen Bedeutung für einen »neuen« Mainstream. Punk-und Metal-Fanzines daher als unkommerziellen Widerstand zu kennzeichnen, der zum Scheitern verurteilt sei, verkennt den fundamentalen gesellschaftlichen Wandel seit den 1980er Jahren und bewertet ein »neues« Medium mit »alten« subkulturellen Narrativen. Fanzines wurden in diesem Wandel einer Neubewertung unterzogen, die kommerzielle Interessen an alles knüpft, was subkulturellen Widerstandsgestus verspricht. Im Übergangsprozess der 1980er Jahre wurde dies seitens der Akteure teilweise als schmerzhafte Einsicht empfunden,295 aber trotz der anti-kommerziellen Attitüde viel häufiger aktiv genutzt als abgestritten. Bill Zebub, der mit Grimoire of Exalted Deeds eines der wichtigsten und langlebigsten US-amerikanischen Fanzines herausgibt, wunderte sich beispielsweise über die Entwicklung des Zines, nahm die Vorteile aber gerne in Kauf und steht damit Pate für zahlreiche Akteure, die ihre Erwerbsarbeit in der Metal-Szene einer Tätigkeit als Fanzine-Macher verdankten: The fanzine evolved from a photocopied newsletter to a magazine that is fully-glossy and almost 50 percent full color! I never planned for this to happen. All I wanted was something metal to do.296 Dieser Pioniercharakter korrespondierte mit dem Verfasserkreis der Fanzines, der keineswegs in sozial marginalisierten Gruppen zu suchen ist, sondern sich fast ausschließlich aus den Jugendlichen der Mittelklasse rekrutierte und vor allem in den USA überwiegend aus College-Studenten bestand.297 Fanzine-Macher gehörten durch ihre Tätigkeit und ihre daran anknüpfenden Erwerbsverhältnisse also zur neuen Mittelklasse urbaner Kulturproduzenten. Der Einstieg der Akteure in die Fanzine-Gestaltung vollzog sich nicht so homogen wie beim Tape Trading und es existierten sehr viele Wege zum Zine. Frank Stöver arbeitete etwa beim Fanzine Horror Infernal, das sich zu einem Magazin mit höherer Auflage (20.000) entwickelte und schrieb dort die Kolumne Voices from the Darkside, die sich ausschließlich mit Extreme Metal beschäftigte. Da er zu viel Material für seine vierseitige Kolumne hatte und die Redaktion des Magazins als unzureichend empfand, entstand aus der Kolumne das gleichnamige Fanzine. Es handelte sich hier also um die Ausgliederung durch einen gut-vernetzten Profi mit Professionalisierungsabsichten, wie sie etwa auch beim Fanzine Jersey Beat von Jim Testa zu finden war.298 Dagegen gab Martha Hughes in der San Francisco Bay Area das Fanzine BAST heraus, nachdem sie Journalismus studiert, aber keinen Praktikumsplatz erhalten hatte. Sie schrieb Konzertberichte für ein
295 So z.B. bei Jon Nödtveidt (Dissection) und seinem Fanzine Mega Mag. Vgl. Stöver, Voices from the Darkside 5, in: ders. (Hg.), Voices, S. 26. 296 Purcell, Death Metal Music, S. 27. 297 Vgl. Duncombe, Notes from underground, S. 10f., 20. 298 Vgl. Gatica, Frank Stöver; Vgl. Forbes, Jersey Beat.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
regionales, wöchentlich erscheinendes Magazin, entdeckte dabei ihren extremen Musikgeschmack und nutzte ihr Wissen schließlich im Rahmen ihres eigenen Fanzines.299 Andere Fanzine-Macher waren dagegen »blutige Anfänger« und wollten das Medium als Ausdruck suburbaner Isolationserfahrungen und zur sozialen Netzwerkbildung nutzen. Das »social life through the mail« war in diesen Fällen »a lot more enjoyable and enriching«300 als der Schulalltag oder die Wohnsiedlung, die beide keinen Kontakt mit Gleichgesinnten ermöglichten.301 Der Einstieg in die Metal-Szene war dabei das wichtigste Motivationskriterium der Zine-Autoren, die besonders in Skandinavien aus einer empfundenen Langeweile in die Virtualität des Tape Tradings und Fanzine-Machens flüchteten.302 Die Mischung aus Isolation und Distinktion war aber beispielsweise auch bei Herausgebern wie Tom Trakas leitend, der das Fanzine Midwest Metal als Kommunikationskanal aus der texanischen Provinz nutzte: I mean getting mail from Norway or Sweden in the early 90's was fucking insane, all the business we were able to do with people from across the globe was not something everyone was involved in. We were.303 Die Entscheidung zu einem eigenen Fanzine erfolgte selten unvermittelt, sondern vor dem Hintergrund bestimmter Fanzines, denen nachgeeifert wurde und deren Herausgeber wie Mentoren ein Anschauungsmaterial boten. Für Joe Pupo und sein Fanzine Rage of Violence erwies sich beispielsweise das Fanzine Book of Armageddon (Ed Farshtey) als wegweisend – beide Autoren gründeten wenige Jahre später mit Rage Records sogar ein gemeinsames Plattenlabel.304 Für Ray Dorseys Fanzine Enlightened Chaos lag die Mentorenrolle dagegen bei Ron Quintanas Metal Mania und damit einem der ersten US-amerikanischen Fanzines überhaupt, das sich überwiegend dem Metal-Genre zuwendete. Dorsey bewunderte vor allem die knappen und prägnanten Rezensionen, die stilistische Offenheit Quintanas sowie die Verantwortung, die er in der Meinungsäußerung im Fanzine erkannte.305 Eher auf der Punk/Hardcore Punk-Seite entdeckte Robert Conrad 1984 das einflussreiche Flipside-Fanzine, hörte über Schulfreunde auch von Maximumrocknroll und eiferte schließlich einem Schulfreund nach, indem er das Fanzine This Zine Sucks herausgab.306 Teilweise war die Mentorenfunktion sogar wörtlich zu nehmen, da sich unter einigen Fanzine-Machern persönliche Beziehungen entwickelten und Ratschläge ausgetauscht wurden.307
299 Vgl. Chris Forbes, Bast Fanzine. Interview with Martha Hughes, in: Metalcore Fanzine. 300 Forbes, Marc Fischer. 301 So auch bei Jon Kristiansen. Vgl. ders., Slayer 1 (1985). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 29. 302 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 77, 113–121. 303 Chris Forbes, Midwest Metal. Interview with Tom Trakas, in: Metalcore Fanzine. 304 Vgl. Forbes, Joe Pupo. 305 Vgl. Forbes, Ray Dorsey. 306 Vgl. Forbes, This Zine Sucks Fanzine. Interview with Robert Conrad. 307 Vgl. Forbes, Bast Fanzine. Interview with Martha Hughes; Vgl. Gatica, Frank Stöver (zur Zusammenarbeit zwischen Metalion und Stöver).
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Besonders im Death Metal und bei jenen Bands, die ab 1992 das Black Metal-SubGenre kreierten, waren Fanzines um 1990 auch das Werk von Musikern. Vor allem in Schweden verarbeiteten junge Musiker wie Nicke Andersson (Chicken Shit), Johan Edlund (Poserkill), Jon Nödtveidt (Mega Mag), Tomas Nyqvist (Putrefaction) oder Tomas Lindberg (Cascade) ihre Einflüsse und Gedanken in eigenen Fanzines, knüpften darüber Kontakte zu anderen Bands und Szenen und stellten musikalische Verbindungen zu den USA her, die über die normalen Distributionswege nicht möglich gewesen wären.308 Mit »Faust« oder »Mortiis« in Norwegen sowie Kam Lee, King Fowley oder Jesse Pintado in den USA taten es ihnen einige ihrer tape tradenden Brieffreunde in anderen Regionen gleich. Keiner dieser Musiker führte dieses Engagement nach der Unterzeichnung eines Plattenvertrags weiter – dazu bestand dann keine Zeit mehr. Es handelte sich eher um eine effektive Strategie, den Bekanntheitsgrad der eigenen Band und/oder Szene vor diesem Schritt zu erhöhen und gleichzeitig musikalische Nischen zu eruieren, die das eigene Produkt unverwechselbar gestalten konnten. Darüber hinaus ging mit der Herausgabe eines Fanzines in den Augen der Szene-Gänger eine Authentizität einher, die die musikalische Ebene deutlich überschritt: Ein eigenes Zine bedeutete eine zeitintensive und aufopferungsvolle Arbeit, beste internationale Vernetzung sowie die Treue zum Non-Profit-Gedanken und war daher Ausdruck einer größtmöglichen Verbundenheit mit dem Underground. Die Gestaltung und Herstellung von Fanzines differierten zum Teil erheblich zwischen einzelnen Autoren und es bestanden sogar einige farbige und relativ professionellgestaltete Beispiele.309 Der allergrößte Teil war jedoch schwarz-weiß gehalten und wurde je nach individueller Strategie des Herausgebers in einem Collage-Prozess erstellt. Marc Fischer, der Primary Concern in Philadelphia herstellte, bezeichnete diesen mühsamen Prozess als das wenig rückenschonende Herzstück der Fanzine-Gestaltung: Sämtliche Materialien lagen auf dem Zimmerboden aus und für jede Doppelseite des Fanzines kroch er von Stapel zu Stapel, um die nötigen Bestandteile zusammenzusuchen.310 War das Arrangement der Abbildungen, Textkörper und Logos abgeschlossen, kamen Schere und Kleber zum Einsatz und aus den tausenden Materialschnipseln entstanden die Kopiervorlagen für die einzelnen Fanzine-Seiten.311 Das Material dafür stammte vor allem aus den Tape Trading-Verbindungen des Autoren. Man nutzte Vorlagen aus Magazinen oder anderen Fanzines für die Logos der Bands, die über dem Interview angeordnet waren und kopierte auch Fotos aus anderen Quellen. Selbst inhaltlich handelte es sich bisweilen um einen Collage-Prozess bereits veröffentlichter Bestandteile – etwa, wenn Fanzine-Autoren bei anderen anfragten, ob sie Interviews mit Musikern nachkopieren durften.312 Laut Chris Aubert (Ripping Headaches/Sprashcore) bestand in dieser Hinsicht sogar ein regelrechtes »Zine Trading«-Netzwerk, in dem die Herausgeber ihre Ausgaben
308 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 113, 115. 309 Fanzines, die zu farbigen Covers wechselten, waren beispielsweise Blackthorn (aus Dänemark) und Morbid Mag (aus Norwegen/dann Schweden). 310 Vgl. Forbes, Marc Fischer. 311 Vgl. Kristiansen (Hg.), Metalion, S. 51. 312 Vgl. Forbes, Marco Barbieri.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
tauschten und Anregungen und Adressen durch andere Zines aufnahmen und verarbeiteten.313 Der Tausch von Zines und der Tausch von Tapes waren dabei miteinander verflochten und ein gutes Fanzine lebte von den aktuellen Strömungen im Tape Trading, ebenso wie die Fanzines bestimmte Bands im Tape Trading massiv voranbringen konnten. Die TDK90-Kassette hatte ihr funktionales Gegenstück also in der Review-Praxis der Fanzines und aus ihrer Verflechtung ergab sich die Dynamik des globalen Tauschnetzwerks. Ein gutes Beispiel für dieses Zusammenspiel bietet wiederum Ron Quintana: Bevor er sein Fanzine Metal Mania herausgab, war er bereits im Tauschnetzwerk von Platten von Hard Rock-Bands wie Thin Lizzy oder Led Zeppelin involviert, bemerkte aber ab 1981 den Wandel zu einem Tausch von unveröffentlichtem Demo-Material auf Kassetten. Für eine Weile stagnierten seine Bemühungen, doch mit der Veröffentlichung seines Leserbriefs im britischen Kerrang! explodierten die Kontakte regelrecht – nur durch seinen Brief und die darin enthaltene Adresse konnten sich die circa 100 Trader im US-Netzwerk mit ebenso vielen in Europa innerhalb kürzester Zeit vernetzen. Quintanas Fanzine wurde dadurch erst möglich: er empfand nun jeden Tag wie »Weihnachten«, weil der Postbote Briefe und Pakete brachte, die in mit den europäischen Magazinen, Fanzines, Demo-Tapes und Live-Berichten versorgten.314 Die damit einhergehende Aktualität seiner Berichte über Bands, die in den USA kaum bekannt waren, sowie die Fülle an rezensierbaren Demo-Tapes machten sein Fanzine interessant, akzeptiert und führten dazu, dass die besprochenen Bands einen enormen Schub erhalten konnten. Es war nicht nur die Kritik, die dabei zählte, sondern die Tatsache, dass diese in das Tauschnetzwerk zurückwirkte, aus dem das Tape gekommen war. Quintanas Entscheidung, ein Tape zu hören und zu besprechen, entwickelte dadurch eine rasante Streuwirkung, in deren Mitte das Fanzine und seine Orientierungs-und Kritikfunktion postiert waren. Neben den Rezensionen bildeten Interviews den zweiten Hauptbestandteil der Fanzines, der ebenfalls selbst beschafft wurde. Frank Stöver schrieb dazu beispielsweise zunächst die Bands an (die Adressen stammten wiederum aus dem Tauschnetzwerk) und es entspann sich ein schriftliches Interview, wie es für Fanzines insgesamt quantitativ prägend gewesen sein dürfte. Später organisierte er diesen Prozess auch per Fax.315 Stöver und andere bekannte Fanzine-Macher kamen jedoch aufgrund ihrer Bedeutung als Multiplikatoren auch oft in Kontakt mit Promotern von Bands, die ihnen persönliche Interviews am Telefon oder backstage bei Konzerten organisierten. Die dafür nötige Transkription war ein zweischneidiges Schwert: Einerseits beschreiben sie die Fanzine-Macher als zeitraubende und teilweise nervtötende Aufgabe,316 andererseits trugen solche Interviews deutlich mehr zum originellen und persönlichen Stil eines Fanzines bei als es schriftliche Interviews taten, die durchaus den Hang zur Verkürzung und/oder Standardisierung der Antworten aufwiesen.317
313 314 315 316 317
Vgl. Forbes, Chris Aubert. Vgl. Forbes, Ron Quintana. Vgl. Interview Frank Stöver, Z. 45–50. Vgl. Forbes, Ed Farshtey; Vgl. Interview Frank Stöver, Z. 50–53. Vgl. Gatica, Frank Stöver.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Im Laufe der 1980er Jahren wurde der Anbahnungsprozess solcher Interviews durch das enger werdende Netz aus Zines, Tape Trading und Bands zusehends unkomplizierter. Musiker, die auch Fanzines erstellten, hatten in der Regel keine Probleme bei der Beschaffung von Kontakten und Aussagen ihrer unmittelbaren Szene-Kollegen, genauso wie sich zwischen einzelnen Fanzines und bestimmten Bands permanente persönliche Verbindungen und Freundschaften entwickelten.318 Manche Fanzines wiesen eine enorme Fülle an persönlichen Interviews, Reviews und Berichten auf. Während die Musiker deshalb Nachtschichten mit der Pressearbeit verbrachten, gestaltete sich auch die Fanzine-Herstellung als immer zeitintensiver. Ed Farshtey hatte vier Ausgaben von The Book of Armageddon veröffentlicht und damit großen Einfluss im Thrash und Death MetalUnderground erzielt. Seine fünfte Ausgabe erschien jedoch nie, weil er 20 Interviews geführt hatte (die teilweise über zehn Seiten lang waren) und zeitlich mit der Transkription nicht aufschließen konnte. Auch erwies sich sein Aktualitätsanspruch als hinderlich, weil er die neusten Veröffentlichungen einbeziehen wollte, die sich durch die Verzögerung ansammelten. Mit seinem beruflichen Wechsel zu Roadrunner Records beendete er daher sein Fanzine319 und war damit einer von vielen Fanzine-Machern, die den Zeitaufwand irgendwann nicht mehr mit anderen Pflichten vereinbaren konnten. Auch Marco Barbieri beendete No Glam Fags Mitte der 1990er Jahre nach 22 Ausgaben, weil er bei Century Media Records arbeitete und dadurch einen Interessenkonflikt mit der Fanzine-Philosophie verspürte, aber auch weil er Vater wurde (»I ultimately decided to trade one baby for the other.«320 ). Die Aussagen der Akteure zu ihren Beweggründen zur Beendigung von Fanzines lassen sich deutlich an einer kommerziellen Grenze unterscheiden: Unabhängig von der Anzahl der Ausgaben bestanden Fanzines, deren Macher tatsächlich keinerlei Wachstums-oder Kommerzialisierungsabsicht hegten und die entweder einfach endeten, wenn die Organisation unmöglich wurde321 oder sich zu langfristigen, aber diskontinuierlichen Unternehmungen entwickelten. Ein typisches Beispiel für diese Form des Fanzines stellte Enlightened Chaos von Ray Dorsey aus Maryland dar: I never let it become un-enjoyable. If things got too much, I stopped for a while and let people know I had other, family, business, and more pressing things to do. […] I ended up putting out 37 printed issues. I never had any labels interested in advertising in the zine and never solicited such ads. To me, the whole thing was fun. I didn’t WANT to put out several thousand copies. I wanted to keep it »in hand,« as a hobby that I enjoyed. I already had a job & didn’t want another one.322 Dagegen erwähnen Akteure wie Farshtey oder Barbieri andere Fanzine-Narrative, die sich im Laufe des Arbeitsprozesses stärker in Richtung von kommerziellen Magazinen
318
So z.B. zwischen Chuck Schuldiner und den Machern des Guillotine Fanzines. Vgl. Infamous Butcher, Interview with Kam Lee. 319 Vgl. Forbes, Ed Farshtey. 320 Forbes, Marco Barbieri. 321 So z.B. beim Fanzine Comatose aus Orlando. Vgl. Stöver, Kam Lee. Interview, in: Voices from the Darkside Online, 2001, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/kam-lee/ (letzter Aufruf 16.05.2022). 322 Forbes, Ray Dorsey.
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entwickelten, durch ihre Auflage von weit mehr als 1.000 Exemplaren einer professionellen Distribution bedurften und deren Aufwand schließlich die Selbstkostengrenze des DIY überstieg. Aus der Sicht von Al Quint, der dies mit Suburban Voice in Boston erlebte, hatte sich dadurch »a labor of love […] into something of a job«323 verwandelt und er schaffte es nicht mehr, mit der »business side of it« mitzuhalten. Doch verdeutlicht dieser Fanzine-Typus auch das neue kommerzielle Potential, das in diesem Medium steckte und es ist kein Zufall, dass Farshtey, Barbieri und andere Herausgeber zu Jobs bei Plattenfirmen wechselten. Ihr Professionalisierungsansatz, der möglichst jede Ausgabe in Umfang, Auflage und Qualität324 gegenüber der vorherigen steigern sollte, ihre immer stärkere Verbindung mit den Indie Labels, die die Fanzines als Testfeld nutzten, und ihre Bemühungen um selbstorganisierte Distribution und Promotion, zwei auch für die Labels zentralen Aspekten, offenbarten eine ausgeprägte Wettbewerbsmentalität und Marktkenntnis, die sich hervorragend kommerziell nutzen ließen. Fanzines dieser Art waren im Grunde keine Fanzines mehr, sondern hatten sich zu professionellen, aber nicht gewinnorientierten Unternehmen entwickelt. Marco Barbieris Fanzine No Glam Fags startete mit einer ersten Ausgabe von zwölf Seiten und er verkaufte die 30 Exemplare für einen Dollar auf Konzerten. Er rezensierte einige Platten seiner persönlichen Sammlung und führte ein Interview mit einer Band, die er bereits kannte. Die zweite Ausgabe umfasste bereits wenige hundert Exemplare und mit der vierten Ausgabe, die 2.000 Exemplare umfasste, stieg er vom Fotokopierer auf einen Drucker um. Spätere Ausgaben seines Fanzines erreichten eine Auflage von 20.000 Exemplaren. Viele Indie Labels gingen dazu über, ihm kostenlos Material für Kritiken zu senden und baten um Interviews mit den Bands, sodass das Fanzine auch immer umfangreicher wurde. Als die Glam Metal-Feindschaft des Undergrounds abflaute, änderte er den Namen zu NGF (#6) und schließlich zu Ill Literature (#8), um seine Ausgaben auch in Läden und an Zeitungsständen verkaufen zu können. Das Cover wurde dazu farbig und hatte zumindest optisch den Weg vom Fanzine zum Magazin zurückgelegt.325 Ein derartiger Professionalisierungs-und Wachstumsdrang war kaum allein zu bewältigen, sodass die Macher der überregional bekannten und großen Fanzines früher oder später dazu übergingen, Hilfe zu organisieren und Mitarbeiter »einzustellen.« Während einige europäische Fanzines wie Battlefield oder Blackthorne von vornherein mehrere Herausgeber und eine entsprechende Aufgabenteilung aufwiesen, gingen viele amerikanische (aber auch einige europäische) Fanzines diesen Schritt erst nach einigen Jahren und unter dem Zeitdruck ihrer wachsenden Vernetzung. Um gleichberechtigte Kollegen handelte es sich dann meistens nicht (es blieb ein »individuelles« Medium) und die Kontakte, die man vor allem auf der anderen Seite des Atlantiks gewann, um die Distanz auch persönlich zu überbrücken, übernahmen vor allem Zuarbeiten wie
323 Forbes, Suburban Voice. Interview with Al Quint. 324 Zu diesem Anspruch vgl. Frank Stöver: »Ich habe Ausgabe 1 dann auch relativ schnell zusammengebastelt, ohne mir dabei großartig Gedanken über eine bestimmte Optik oder einen besonders originellen Stil zu machen. Aber jedes mal, wenn ich an einer Folgenummer gearbeitet habe, fielen mir rückblickend Dinge auf, die ich ungern wiederholen wollte, also habe ich versucht diese zu korrigieren.« Interview Frank Stöver, Z. 35–39. 325 Vgl. Forbes, Marco Barbieri.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
das Führen von Interviews vor Ort sowie Informationsbeschaffung aus den regionalen Szenen. Ein solches Netzwerk wiesen beispielsweise das Slayer Fanzine von Jon Kristiansen, Voices from the Darkside von Frank Stöver oder Ripping Headaches von Bruce Davis auf.326 Davis, der in Tampa seit Mitte der 1980er Jahre den Aufstieg der regionalen Death Metal-Szene mit seinem Fanzine begleitete, teilte die Arbeit ab der sechsten Ausgabe beispielsweise mit Bryan Daniel (später Invincible Force Fanzine) sowie dem Franzosen Chris Aubert, der in Paris das Fanzine Sprash Core erstellte und als Co-Editor einstieg. Bis zur 14. Ausgabe (1991) gewannen sie ein internationales Netz von Beiträgern (aus den USA, Deutschland, Norwegen, Mexiko u.a.), Davis erledigte die Post und das Layout, und Aubert kümmerte sich um Interviews und Reviews.327 Neben personeller Hilfe erforderten Fanzines auch technische Unterstützung – besonders in der Frühphase, in der Herstellungsprozesse noch nicht eingeübt waren und der leidenschaftliche Drang zum Szene-Beitrag die praktischen Erfahrungen bei weitem überstieg. Als Flaschenhals der Fanzine-Produktion erwies sich dabei die Vervielfältigung – die einzig echte finanzielle Investition, für die die Macher aufzukommen hatten. Für Jeff McClelland war es beispielsweise nur möglich, sein Fanzine Deathvomit zu kopieren, weil der Vater eines Freundes eine Druckfirma in Alexandria (VA) besaß, wodurch sogar einige Flyer in Farbe produziert werden konnten.328 Al Quint nutzte in Boston seinen Job bei einer Bank, um sowohl an Briefmarken zu gelangen als auch, um den Firmenkopierer zur Vervielfältigung von Flyern zu nutzen, mit denen er sein Fanzine im Tape Trading bewarb. Die Kollegen waren eingeweiht und er erlebte dennoch keine negativen Folgen. Sein Fanzine druckte er zunächst bei Larkin Publishing, weil er einen Mitarbeiter kannte, der dies »after hours« erledigte.329 Joe Pupo musste sein Fanzine dagegen aufgrund der Kopierkosten einstellen: Während er seine erste 90-seitige Ausgabe noch in der Druckabteilung seiner Firma, Atlantic Records, für einen stark reduzierten Preis drucken ließ, hatte er diese Möglichkeit bei seiner zweiten Ausgabe nicht mehr und war geschockt über die anfallenden Kosten. Er beendete sein Fanzine und gründete Rage Records zusammen mit Ed Farshtey.330 Ohne Sonderkonditionen ging es auch für andere nicht: Robert Conrads Mutter kopierte jede Ausgabe des Fanzines ihres Sohnes heimlich während der Arbeit331 und Metal Mania konnte innerhalb von zwei Jahren nur eine Auflage von 5.000 Exemplaren erreichen, weil Ron Quintana einen sehr günstigen Druckdienst in China Town, San Francisco nutzte, wo auch die Punk Fanzines auf Zeitungspapier gedruckt wurden.332 Auch in Boston stiegen mehrere Fanzines aufgrund der deutlich geringeren Kosten von schwererem Papier auf Zeitungspapier um.333 Neben der Vervielfältigung erfuhren viele Fanzine-Macher auch bei der zweiten wichtigen Weichenstellung, der Distribution, Unterstützung. Die ersten Ausgaben wur326 Vgl. Beginn der Beiträge anderer Trader und Fanzine-Autoren bei Slayer: Kristiansen (Hg.), Metalion, S. 72. 327 Vgl. Forbes, Chris Aubert. 328 Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 3. 329 Vgl. Forbes, Suburban Voice. 330 Vgl. Forbes, Joe Pupo. 331 Vgl. Forbes, This Zine Sucks Fanzine. 332 Vgl. Forbes, Ron Quintana. 333 Vgl. Forbes, Suburban Voice.
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den in der Regel noch persönlich bei Konzerten oder in Plattenläden verkauft (Al Quints Mutter verkaufte sogar an ihre Schüler334 ), doch die stark steigenden Auflagen vieler Fanzines machten mindestens eine regionale, oft sogar nationale Distribution nötig.335 Ron Quintana hatte die Aufmerksamkeit für Metal Mania ebenfalls noch durch den lokalen Verkauf bei Konzerten angekurbelt und verschenkte während Festivals in Los Angeles sogar hunderte Exemplare, um Promotionarbeit auf diesem wichtigen Markt zu leisten. Mit regelmäßigen Ausgaben und steigendem Absatz wurde sein Fanzine dann eine Sache der nationalen Distributionsfirmen, von denen in den 1980er Jahren mehrere nur für der Vertrieb kleiner Fanzines bestanden.336 Eine dieser Firmen war Tower Distribution, die die Fanzines paketweise von ihren Machern bezogen, an kleine Plattenläden und Buchläden im ganzen Land sendeten und dafür einen Preis zahlten, der anscheinend für beide Seiten akzeptabel war. Die Macher erhielten landesweiten Vertrieb und die Firma machte einen kleinen Gewinn.337 Auch Jim Testa vertrieb sein Fanzine Jersey Beat über Tower und nutzte daneben auch die Möglichkeit, sein Blatt über spezialisierte Läden wie See Hear im East Village, NY, zu verkaufen, die tatsächlich nur Fanzines anboten.338 Die Tätigkeit solcher Unternehmen schlug sich in den Aussagen der Fans und Musiker über ihre Lieblings-Fanzines nieder, wo sich standortunabhängig in den USA und in Schweden eine große nationale Vielfalt ausmachen lässt.339 Es muss vermutet werden, dass dies auch darauf zurückzuführen war, dass sich hier anders als in Deutschland und in England keine frühe nationale Magazin-Landschaft etablierte, die den Thrash und Death Metal-Underground zumindest teilweise integrierte – das Fanzine-Geschäft im Vertrieb also vom fehlenden Magazin-Markt profitierte.340 Die Erstellung eines Fanzines blieb aber trotz dieser Verkaufs-und Vertriebsmöglichkeiten in der Regel ein Zuschussgeschäft und mit steigender Auflage stieg das persönliche Risiko. Eine möglichst unkommerzielle DIY-Organisation stieß bei Fanzines wie Ill Literature an die Grenzen der Zeitund Finanzkapazität ihrer Macher.341 Fanzines gerieten durch ihr Absatzgebiet und ihre Rolle als »tastemaker« sehr schnell in den Fokus der Indie Labels. Zwischen beiden sollte indes keine soziale Grenze vermutet werden. Wie bereits angedeutet, fanden personelle Übertritte oft statt und FanzineMacher und Label-Mitarbeiter stammten in der Regel aus derselben Szene. Das erste Anzeichen der Integration der Fanzines in das Geschäftsmodell der Labels war der konstante Fluss von Rezensionsexemplaren an die Heimadressen der Fanzine-Macher. Diese erhielten bereits schon nach wenigen Ausgaben sowohl von den Labels als auch von den Bands die aktuellen Demo-Tapes und Promotion-Material. Frank Stöver beschreibt 334 Vgl. ebd. 335 Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 3f.; Vgl. Kristiansen, Slayer 2 (1985). Foreword, in : ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 40. 336 Vgl. Forbes, Ron Quintana. 337 Vgl. Forbes, Jersey Beat. 338 Vgl. ebd. 339 Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 2; Vgl. Nocera, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky; Vgl. Forbes, Ed Farshtey. 340 Vgl. dazu Kap. 6.1.6 zu den Metal-Magazinen und den nationalen Unterschieden. 341 Vgl. Forbes, Marco Barbieri.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
etwa, dass er als arrivierter Fanzine-Herausgeber ganz automatisch die, qualitativ auch besseren, Tapes direkt von den Bands zugeschickt bekam.342 Marc Fischer erhielt in Philadelphia seit der zweiten Ausgabe seines Fanzines das neueste Material von Combat Records, Roadracer und damit verbundenen Labels und Sub-Labels wie Roadrunner oder Hawker. Kurz darauf begannen auch die Metal-Bands, ihm Demo-Tapes zu senden, während im die Hardcore-Bands meist 7”-Vinyls zukommen ließen. Was ihm persönlich nicht gefiel, verkaufte er in Läden für gebrauchte Platten und kaufte sich dafür die wenigen Veröffentlichungen, die ihn nicht mit der Post frei Haus erreichten.343 Auch Al Quint bekam trotz des Punk-Fokus seines Fanzines regelmäßig Platten von Metal Blade Records, Combat, Noise oder New Renaissance, was zu einem Metal-Spin-Off seines Fanzines (The Bludgeoned Ear) in drei Ausgaben während der späten 1980er Jahre führte.344 Auch in Tampa bei Ripping Headaches wurde Bruce Davis eine Menge Rezensions-Material von Labels wie Roadrunner gesendet, während sein Partner Chris Aubert in Europa die Post des britischen Labels Earache Records erhielt. Die Folgen dieser gezielten Vereinnahmung für den vermeintlich unkommerziellen Fanzine-Spirit waren widersprüchlich: Aubert gibt beispielsweise an, dass das Fanzine die Platten der Labels auch alle rezensierte und sogar Werbung der Label platzierte. Weitere Vorteile waren Interview-Möglichkeiten per Telefon und bei Konzerten, die mit – für Fans unwiderstehlichen – Meet and Greet-Chancen der eigenen Favoriten verbunden waren.345 Er sah jedoch auch die kommerzielle Problematik hinter dieser Beziehung und formulierte eine Rechtfertigung, die im besten Fall als Schönfärberei, im schlechtesten aber als Selbstbetrug einzustufen ist: Earache did not care what you would say as long as you would say something, I gave them once a 0/10 and records were still coming in for review ;-)We had the zine spirit; we were saying what we’d like not what our sponsors were expecting! Freedom always. Not like in magazines, where money from ads pays for salaries, haha!346 Seine Aussage verweist auf eine Konstante der Metal-Fanzine-Geschichte der 1980er Jahre: Man empfand anscheinend Reue für ein keineswegs verwerfliches Verhalten – die Label hatten schlicht unablehnbare Angebote und wussten diese einzusetzen – und versuchte, die ökonomischen Zwänge, die auch die Fanzines mit ihrem Szene-Einfluss trafen, mit einer situativ antikommerziellen Attitüde zu verschleiern. Denn spätestens die verschiedenen Reaktionen, die sie von Musikern auf ihre Kritiken erhielten, mussten den Herausgebern vor Augen führen, dass sie ohne Bezahlung die Vorfeldarbeit der Indie Labels erledigten und sich kaum von den Magazinen unterschieden. Von auflagenstarken Fanzines besprochene Demos wirkten wie Kritiken in kommerziellen Magazinen und konnten für die Musiker rasche Folgen haben, etwa eine abrupte Zunah-
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Vgl. Interview Frank Stöver, Z. 59–65. Vgl. Forbes, Marc Fischer. Vgl. Forbes, Suburban Voice. Forbes, Chris Aubert: »We placed ads for the labels and reviewed their releases so the labels liked us ;-)« 346 Forbes, Chris Aubert.
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me des Postverkehrs, wobei auch viel Geld für Demo-Bestellungen beiliegen konnte.347 Die Kritiker besaßen dabei eine große Deutungshoheit und konnten plötzlichen Erfolg genauso herbeiführen wie schwere Enttäuschungen. Die Kritik Jon Kristiansens an dem ersten Demo seiner Landsleute von Darkthrone fiel beispielsweise vernichtend aus und provozierte im Band-Kopf Fenriz sowohl große Ernüchterung als auch den Wunsch nach entsprechender Veränderung der Musik.348 Ray Dorsey erhielt sogar eines Abends Besuch von einer Band, die er sehr kritisch bewertet hatte, und ging zunächst von einer körperlichen Auseinandersetzung aus. Die Musiker waren jedoch gekommen, um ihm ihr neues Demo zu überreichen, mit dem sie auf seine Kritik reagiert hatten und der (in diesem Fall erfreuliche) Test erfolgte gemeinsam an Ort und Stelle.349 Martha Hughes, die in ihrem Fanzine stets relativ faire Kritiken verfasste, erhielt dennoch einige Briefe, in denen Bands ohne Plattenvertrag ihrem Ärger darüber Luft machten, dass ihre Kritik sie von einem Plattenvertrag noch weiter entfernt habe.350 Bill Zebub dagegen verfasste Plattenkritiken in seinem Fanzine meist vergleichsweise scharf, jedoch stets mit einem humoristischen Unterton, und beschreibt, dass er vor allem von Fans (weniger von den Musikern) dafür auch körperlich attackiert wurde.351 Die Review-Praxis der Fanzines war also auch sozial folgenreich, weil es sich bei den Autoren um Szene-Begrenzer handelte. Sie hatten maßgeblichen Einfluss darauf, was als Underground, als authentisch und als hörbar angesehen wurde. Ihre Entscheidung, sich für neue Einflüsse zu öffnen oder zu verschließen, konnte für die Musiker bedeutende Auswirkungen haben.352 Darüber hinaus formulierten Fanzines auch Erwartungshaltungen an bestehende Bands, ihrem akzeptierten Stil treu zu bleiben oder – wie im Fall der Band Mayhem – endlich aktiv zu werden: Jon Kristiansen hatte seit längerem mit der Band in Kontakt gestanden und ihr gemeinsamer Musikgeschmack entwickelte sich zu einer Freundschaft, sodass er in der Ausgabe 3/4 seines Slayer Fanzines über Mayhem berichtete. Prompt erhielten sowohl die Band als auch er selbst Briefe mit Nachfragen darüber, was die Band bisher veröffentlicht habe. Da jedoch noch kein Demo-Tape produziert worden war, rühmte sich der Autor wohl nicht zu Unrecht, das Demo »Pure Fucking Armageddon« (1986) maßgeblich vorangebracht zu haben.353 Eine andere Form, durch die Fanzine-Autoren Vorfeldaufgaben der Labels übernahmen, waren Newsletter, in denen szene-relevante Informationen geteilt und Produkte
347 So führte die Kritik des ersten Carnage-Demos im Aardschok durch Wim Baelus dazu, dass die Musiker zwischen 400 und 500 Briefe erhielten, wovon bei 350 jeweils 3 $ für das Demo-Tape beilagen. Vgl. Stöver, Voices from the Darkside 10, in: ders. (Hg.), Voices, S. 82. 348 Vgl. Zierleyn, Booklet to Black Death. 349 Vgl. Forbes, Ray Dorsey. 350 Vgl. Forbes, Bast Fanzine. 351 Vgl. Forbes, Bill Zebub, in: Metalcore Fanzine. 352 Für eine Band wie Paineater aus Florida, die keinen Kategorien völlig entsprach, ging dies mit Problemen einher. Vgl. Bradley Smith, Interview with Paineater, 2014, URL: www.nocturnalcult.com /Paineater2014int.html (letzter Aufruf 16.05.2022). 353 Metalion: »I think the Pure Fucking Armageddon demo was the product of the article in Slayer 3/4. They had to prove themselves by releasing something, because people were writing and asking for music.« Kristiansen, Slayer 3/4 (1986). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 52.
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sowie Konzerte von Bands indirekt beworben wurden. Im Fall von Götz Kühnemund entwickelte sich sein Fanzine aus einem solchen Newsletter, der Teil seines Fanclubs Metal Maniacs Germany war: Auf eine geschaltete Anzeige folgten zahlreiche Briefe und nach etwa zwei Wochen hatte der Fanclub bereits 100 Mitglieder, nach einem Monat waren es 200. Für 10 DM Jahresbeitrag erhielten die Mitglieder den Newsletter und einen »tellergroßen« Anstecker, den sein Vater bei der Sparkasse angefertigt hatte – dazu auch schon kleinere Promogeschenke wie AC/DC-Aufkleber, die er von den Plattenfirmen bekommen hatte. Durch seine Zweifel an der Organisierbarkeit des Fanclubs und nach einem ersten geplanten Treffen im Rahmen des Rock Pop in Concert 1983 beschloss er dann, aus dem Fanclub ein Fanzine zu machen.354 Ein anderer Fanzine-Autor, der über Newsletter wirkte, war Brian Lew (Whiplash Fanzine) in der San Francisco Bay Area. Einer dieser Newsletter hing organisatorisch mit dem regionalen Radio-Programm von WMSC-FM (Montclair State College in New Jersey) zusammen, veröffentlichte dessen Playlist, wies auf zukünftige Konzerte, neue Fanzines und auf erhältliches Merchandise hin und enthielt auch wichtige Adressen für Tape Trading Kontakte sowie Demo-Tape-Anfragen.
Abb. 51 + 52: WMSC-FM-Newsletter (Juli 1983)355
Rock n Roll Heaven – Clarke, NJ-Tribute, Facebook-Seite, Post vom 13.07.2015, URL: https://m.face book.com/rocknrollheaventribute/photos/a.693160360752347/858622174206164/?type=3&source=54 (letzter Aufruf 16.05.2022).
Durch ihre Fähigkeit, derartige Informationen zu bündeln, waren Fanzine-Autoren auch oft unter den Organisatoren der ersten Konzerte regionaler Szenen zu finden. Sie
354 Vgl. Interview Götz Kühnemund, 06.05-07.10 Min. 355 Der Newsletter enthält eine Radio-Top-20, Hinweise auf Konzerte sowie erhätliches Merchandise.
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besaßen die Kontakte, um DIY-Shows zu organisieren und auch um Bands aus anderen Regionen zu verpflichten. Ihr Organisationsbereich umfasste dadurch neben der virtuellen (Fanzine/Tape Trading) und lokalen auch die trans-lokale Kommunikation von Szenen und eine Fanzine-Autorin wie Kim August (Ultimatum Zine aus Long Island) vermittelte 1988 den Kontakt zwischen Immolation und Morbid Angel, um die Vorreiter aus Florida erstmals im US-Nordosten spielen zu lassen.356 Auch Anne Marie Bowman ist in dieser Hinsicht zu nennen, die regelmäßig für Metal Maniacs Beiträge verfasste, Goreaphobia managte und an der Schnittstelle zwischen Fanzines, Magazinen, Bands und einem Plattenladen in Philadelphia wirkte.357 Die Vorfeldfunktion der Fanzines wurde aber dort am offensichtlichsten, wo Fanzine-Autoren eigenständig Sampler veröffentlichten, die zu Plattenverträgen führten – etwa im Fall von Borivoj Krgin und der Band Obituary oder im Fall von Brian Slagel358 – und natürlich dort, wo sie selbst Label gründeten. Ein weniger bekannter dieser Fälle als Slagel, auf dessen Sampler Metallicas erste Veröffentlichung zu finden war, betrifft beispielsweise King Fowley, Gründer der Band Deceased aus Virginia, der zwischen 1985 und 1994 bei drei Fanzines mitarbeitete und 1990 sein Label With Your Teeth als »childhood dream« gründete. Sein Ziel war es, ausschließlich jenen Bands, von denen er selbst überzeugt war, eine Perspektive zu bieten »[to] step up the ladder in the industry.«359 Ein anderes Beispiel ist Jon Jamshid (»Thorns«), dessen Fanzine Petrified in den USA keinen Einfluss ausübte, sodass er die Flyer ausschließlich in Europa verteilte und dessen Antizipation des norwegischen Black Metal-Phänomens dazu führte, dass einige der wichtigsten norwegischen Bands bei seinem Label Full Moon Productions in Florida unterschrieben. Die Rolle seines Fanzines bei diesem Geschäft fasste er als entscheidend zusammen: Petrified 'zine was considered the black bible and people took every word I said as fact and took it to heart. It was a very powerful tool and propaganda tool. Many people respected my 'zine more than my label or anything else I did. Bands in Europe signed to my label due to the power of my fanzine.360 Abschließend kann daher festgehalten werden, dass die wichtigste Kommunikationsform der Metal-Kultur in den 1980er Jahren – das Tape Trading – und das wichtigste Medium – das Fanzine – durch ihren Informationsfluss, ihre Vernetzung und ihre inhärente Kritik-und Orientierungsfunktion zur Genese der Szenen des extremen Metals entscheidend beitrugen. Gleichzeitig zeigen die Beispiele, dass es illusorisch wäre, sie mit einer kommerziellen Grenze von den Plattenfirmen zu trennen. Vielmehr übernahmen sie wichtige Sondierungsaufgaben auf einem potentiellen Markt, stellten Szene-
356 Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 61. 357 Vgl. ebd., S. 137; Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 127f. 358 Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 86–88 (zu Krgin und Obituary); Vgl. Slagel, For the sake of heaviness, S. 15–27 (zu den Metal Massacre Samplern und Metallica). 359 Vgl. Stöver, Voices from the Darkside 7, in: ders. (Hg.), Voices, S. 42f. 360 Howells, Black Metal, S. 110, 112 (Zitat).
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Insider als Label-Personal,361 rekrutierten immer neue Musiker für Bands und eruierten in einem glokalen Austausch permanent, wo noch Spielräume des Besonderen in der Metal-Musik auszumachen waren. Ohne Fanzines und Tape Trading hätte die MetalKultur daher wahrscheinlich im Anschluss an die NWOBHM stagniert und wäre im Spannungsverhältnis zwischen »Mainstream« und »Underground« während der 1980er Jahre nie zu einem derart globalen, stilistisch verästelten und für neue Jugendliche attraktiven Phänomen geworden.
6.1.6 Metal- Magazine M.S.: Would you say it would have exploded the way it did without the term NWOBHM? Dave Irwin: Probably not as quick. But it was always there, it was just that all of a sudden it was popular.362 Den Beginn des großen Einflusses von kommerziellen Musik-Magazinen auf das entstehende Heavy Metal-Genre kann man genau datieren: Am 5. Mai 1979 erschien für 20 Pence eine Ausgabe des britischen Sounds Magazins, in der der Redakteur Geoff Barton erstmals von einer »New Wave of British Heavy Metal« sprach. Er wollte – so seine spätere Aussage – das Land auf die jugendliche Wiederauferstehung der britischen RockMusik aufmerksam machen und bezog sich dabei vor allem auf Bands wie Iron Maiden, Angel Witch, Samson oder Def Leppard.363 Barton und seine Kollegen beschäftigten sich in den folgenden zwei Jahren in Sounds intensiv mit dieser ausgerufenen Bewegung, stellten neue Bands vor, besuchten Konzerte und schrieben einflussreiche Kritiken. Sie etablierten überdies – zunächst als Beilage in Sounds – das Kerrang!, das sich ausschließlich Heavy Metal und Hard Rock widmete, und setzten nach raschem Verkaufserfolg auch den endgültigen Spin-Off als eigenständiges Magazin gegen die Herausgeber von Sounds durch. Die erste Ausgabe erschien am 6. Juni 1981.364 Inspiriert von der Aufmerksamkeit der britischen Musik-Presse hatte sich auf dem Kontinent mit dem Aardschok sogar noch früher ein reines Hard Rock/Heavy MetalMagazin gegründet. Ab Oktober 1980 gaben Mike van Rijswijk und Stefan Rooyackers
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Shane Embury dazu: »Towards the end of the 80's, early 90's, it was Nuclear Blast came up and Earache records came up, more structure became involved and a lot of the people who would doing fanzines started to work for record labels, so this knowledge was getting passed on.« Interview Shane Embury, 12.27-12.48 Min. 362 Interview Fist, 28.13-28.20 Min. 363 Geoff Barton: »But to call the NWOBHM a Sounds editorial gimmick would be going too far--and history has proven that there was a genuine resurgence of youthful British rock at the end of the 1970s/beginning of the 1980s.« Steven Ward, Geoff Barton – Behind the wheel. Former Kerrang! editor discovers a different kind of speed, URL: http://rockcriticsarchives.com/interviews/geoffb arton/geoffbarton.html (nicht mehr verfügbar). 364 Vgl. Wall, Run to the hills, S. 88–91.
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die Zeitschrift heraus, während van Rijswijk als »Metal Mike« hervorragende Kontakte nach England, etwa zu Bands wie Jaguar, aufbaute, in den Niederlanden und in Belgien Konzerte organisierte und dadurch auch zu einem wichtigen Katalysator der deutschen Metal-Szene wurde. Ab 1983 existierte der Aardschok dann auch in einer deutschen Ausgabe.365 Die Entwicklungsgeschichte der europäischen und amerikanischen Metal-Magazine ist bereits anderswo dargestellt worden.366 Für den Aspekt der Kommunikation, des Wettbewerbs und der Abgrenzung in Szenen ist – neben der Erfindung des marktbildenden Terminus NWOBHM – dagegen vor allem wichtig, dass Geoff Barton die NWOBHM bereits 1981 für beendet erklärte.367 Sein mediales Verhalten, mit dem er eine Bewegung ausrief und vergleichsweise rasch wieder abschrieb, war das erste Beispiel für eine inhärente Ambivalenz, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte von vor allem englischen Musik-Magazinen zog. Denn einerseits wirkte der Neologismus NWOBHM nicht nur musikalisch, sondern auch sozial integrierend auf regional verstreute Aufbrüche im Vereinigten Königreich und schuf subkulturelles Verständnis unter den Akteuren. Da Heavy Metal lange keine Selbstbezeichnung war, kann man so weit gehen, die Durchsetzung der Genre-Bezeichnung vor allem an Bartons Begriff zu koppeln. Andererseits verkündete er das Ende, als er zu spüren meinte, dass von der originären NWOBHM und ihrer musikalischen Qualität aufgrund der rasanten Kommerzialisierung durch die Plattenfirmen nichts mehr übrig geblieben war. Seine Kritik, die individuelle Distinktion in der vermeintlichen Grassroots-Bewegung kurzfristig ermöglicht hatte, postulierte den Verfall durch die Massenkultur.368 Liest man diese Begründung jedoch vor dem Hintergrund marktwirtschaftlicher Perspektiven einer kommerziellen Zeitschrift, kommen Zweifel an einer Verortung der Beweggründe innerhalb der Subkultur. Viel eher dürfte die NWOBHM, 1981 nicht mehr neu und auch nicht mehr das Hoheitsgebiet von Sounds und Kerrang!, nicht mehr dem Anspruch des Besonderen genügt haben, durch das sich ein journalistisches Alleinstellungsmerkmal ergeben hatte. Die Aufmerksamkeit zog weiter zum »Neuen« auf dem Markt – die der Fans aber nicht – und Barton steht dadurch beispielhaft für eine kommerzielle Ambivalenz subkulturell-einflussreicher Medien, die sich in England besonders stark zeigte – in deren Widersprüchlichkeit sich aber auch einige (vor allem deutsche) Magazine sehr erfolgreich verorten konnten. Die »New Wave of British Heavy Metal« war und ist keine musikalische Einordnung – dafür ist die Spannbreite der adressierten Bands zwischen Raven und Pagan Altar, zwischen Praying Mantis und Venom, viel zu groß.369 Es handelt sich um die erste und wahrscheinlich wichtigste von vielen wirkmächtigen Kategorisierungen in der 365 Vgl. Schmenk/Schiffmann, Kumpels in Kutten 2, S. 100f. 366 Vgl. Roccor, Heavy Metal, S. 15; Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 23–25, 70; Vgl. umfassender Weisethaunet, Creating Maps, S. 181, 183; Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 174–177. 367 Vgl. Geoff Barton, Scrap Metal, in: Sounds, 04.10.1980, S. 39; Vgl. John Tucker, Suzie Smiled. The New Wave of British Heavy Metal, Church Stretton, S. 79. 368 Zur Entwicklung einer Kulturkritik innerhalb und nicht gegen eine Massenkultur vgl. Wirsching, Konsum statt Arbeit, S. 79f. 369 Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 44; Vgl. Waksman, This Ain’t The Summer of Love, S. 209. Obgleich Malc Macmillan anmerkt, dass die NWOBHM nur in ihren ersten Jahren auch als musikalisches
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Metal-Kultur, die eingrenzte und abgrenzte, die durch Kritiken und Konzertberichte untermauert wurde, und die durch den Fokus der Journalisten ein exaktes Bild davon entwarf, was Heavy Metal nun genau war und was nicht. Simon Frith merkte in seiner Darstellung zur Musik-Kritik treffend an, dass Rock letztlich nur das sei, worüber die Kritik als Rock schrieb370 und die Forschung hat diese entscheidende Bemerkung seitdem immer wieder als zentral herausgestellt: Das Schreiben über Musik weist dieser soziale Bedeutung zu – dies wurde an den handlungsleitenden Folgen, etwa in der Mobilität oder dem Wandel der Erwerbsverhältnisse, bereits sehr deutlich. Das Schreiben über Musik weist dieser Wert zu oder unterlässt dies wissentlich – ein für den sozialen Abgrenzungsdrang von Subkulturen wichtiger Unterschied, durch den sich MetalSzenen in der Regel mit »Gegen-Szenen« gegenüberstanden. Und nicht zuletzt dient das Schreiben über Musik ihrer Sichtbarmachung und Verbreitung, ohne die keine der oben beschriebenen Veränderungen global hätte in Gang gesetzt werden können.371 Für den sozialen Szene-Zusammenhang besaßen Kritiker, in diesem Fall die Mitarbeiter der ersten Metal-Magazine, daher auch eine enorme Bedeutung. Sounds war vor 1980 der unangefochtene Agenda-Setter – eine »bible«, wie es Musiker wie Garry Pepperd ausdrückten372 –, weil es die Mitarbeiter durch ihre Urteile vermochten, bereits existente Wahrnehmungen auf der regionalen Ebene, also die verschiedenen musikalischen Aufbrüche mit ihren Fans, als bedeutungsvoll zu kommunizieren und darüber hinaus auch zu nationalisieren. Einerseits fällten die Kritiker daher Urteile, die es ohne ihre Kritik auch gegeben hätte373 und gaben etwas einen Namen, das musikalisch bereits existierte. Sie sprangen also medial auf einen fahrenden Zug auf und erschufen das Phänomen nicht. Andererseits beschleunigten sie durch ihre Reichweite und ihre Stellung zwischen Angebot und Nachfrage die Geschwindigkeit dieses Zuges erheblich und bestimmten mehr und mehr darüber, wohin er fuhr. Ihr Verweis auf die »Britishness« schließlich erweiterte – um bei dem sprachlichen Bild zu bleiben – das subkulturelle Streckennetz, stellte den Anschluss des Regionalverkehrs an den Fernverkehr her und vermittelte ein Bewegungs-Narrativ mit großen sozialen und kommerziellen Folgen. Sounds und vor allem Geoff Barton – so Garry Pepperd – »planted the idea«374 , die Idee, das Heavy Metal mehr war als die Auftritte junger Musiker in den lokalen Etablissements. Der »Clou« der »New Wave of British Heavy Metal« bestand demnach aus einer Kommunikationsoffensive im Vereinigten Königreich (und zunehmend darüber hinaus) sowie deren umgehender Vermarktung. Sounds saß im Zentrum dieses Zusammenhangs und Rob Halford, der sich mit Judas Priest vor 1979 an das Naserümpfen der britischen Genre verstanden wurde, finden sich bis heute Äußerungen, die über den Genre-Charakter spekulieren. Vgl. Macmillan, N.W.O.B.H.M. Encyclopedia, S. 19. 370 Vgl. Simon Frith, Writing about Popular Music, in: Christopher Dingle (Hg.), The Cambridge history of music criticism, Cambridge 2019, S. 502–526, hier S. 519. 371 Vgl. Weisethaunet, Creating Maps, S. 170. 372 Interview Garry Pepperd, Spur 4. 373 Vgl. Gunnar Otte/Matthias Lehmann, Zwischen Unterhaltung, Authentizität und Kunst. Diskurse und Qualitätskriterien der Rock-und Popmusikkritik in Deutschland im historischen Wandel, in: Dominik Schrage/Holger Schwetter/Anne-Kathrin Hoklas (Hg.), »Zeiten des Aufbruchs« – Populäre Musik als Medium gesellschaftlichen Wandels, Wiesbaden 2019, S. 249–283, hier S. 250. 374 Interview Garry Pepperd, Spur 14.
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Musik-Presse gewöhnt hatte, stellte plötzlich erstaunt fest, dass die mediale Aufmerksamkeit im Rahmen ihres Albums »British Steel« schlagartig gestiegen war,375 während Brian Tatler beschreibt, wie sich nationale Tourneen und ein gemeinsames Bewusstsein aus den Artikeln dieser Zeitschrift entwickelten: Bands like us were already playing in our respective towns. Saxon were in Barnsley, Vardis were in Wakefield for example, Diamond Head in Stourbridge. We didn’t know about each other, but when Geoff Barton and Alan Lewis called it the NWOBHM and gave a Samson drummer the front page then suddenly we all thought ›Oh right, we’re all doing this kind of music. There are like minded bands all over the UK. Then once we had some press exposure we could then start touring and there would be clubs that would have a NWOBHM night. You had bands coming down from say Nottingham and different parts of the country and you could check them out. Diamond Head, we would be driving up to Sunderland and Bradford and London and Bristol etc because we could now get gigs all over the UK because of Sounds and the NWOBHM movement. And all these fans were there, ready to come and see you, they wanted to come and see all the NWOBHM bands, this youth movement.376 Bei Sounds antizipierte man also ein vorhandenes Potential in einer empfundenen NachPunk-Instabilität, schuf durch ein Label und die Kritik eine Nische für eine weiterhin Hard Rock-begeisterte Jugend und lieferte die verschiedenen Zugänge zu dieser »Bewegung« gleich mit: Durch eine Genre-Erzählung mit ihrer engen Verbindung zur britischen Arbeiterklasse, durch eine Hör-und Kaufberatung in Form von vermeintlich objektiven Platten-bzw. Tape-Kritiken, sowie durch den über allem stehenden und die Zeitschrift letztlich auch finanzierenden kommerziellen Hinweis auf Produkte und Erlebnisse.377 Das Magazin und seine vielen Nachfolger – so Andy Brown treffend – vermarkteten das bisher Unvermarktbare und schufen »communities of taste«378 , die sie leiteten und abgrenzten. Ihre Kritiken stellten ästhetische Kriterien auf, die guten Heavy Metal von schlechtem bzw. Non-Metal unterschieden und sie ermöglichten nachkommenden Fans, auf der Grundlage dieser Kriterien ein Szene-Wissen zu erlernen.379 Um kleinere lokale Aufbrüche in ein regionales oder nationales Szene-Narrativ zu überführen, das die Kommunikationsnetze über Bekanntenkreise hinaus erweiterte, waren die Leistungen von Magazinen (und Fanzines) daher unerlässlich und die NWOBHM war nur der erste Fall in den »langen 1980er Jahren«, in dem eine MagazinAgenda großen kommunikativen, kommerziellen und subkulturellen Einfluss aus dem einfachen Fakt bezog, den existenten Szene-Kernen ihre Musik als Bewegung bzw. Szene zu verkaufen.380 Dass in dieser Hinsicht zur DIY-Organisation des Tape Tra375 Vgl. Halford, Confess, S. 130. 376 Interview Brian Tatler, 25.44-27.05 Min. 377 Vgl. Andy R. Brown, The Importance of Being Metal. The Metal Music Tabloid and Youth Identity Construction, in: Scott/Helden (Hg.), The Metal Void, S. 105–134, hier S. 105, 121. 378 Vgl. Andy R. Brown, Everything louder than everything else. The contemporary metal music magazine and its cultural appeal, in: Journalism Studies 8 (2007) 4, S. 642–655, hier S. 644. 379 Aspekt der Erlernbarkeit bei Weinstein, Heavy Metal, S. 175f. 380 Malc Macmillan hat diese Leistung implizit anerkannt, als er schrieb, eine chaotische Phase voller regionaler Aufbrüche sei nur durch den Terminus von Geoff Barton vereinheitlicht worden. Eine
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dings und der Fanzines ein ambivalentes Verhältnis bestand, wurde bereits deutlich: Einerseits waren diese Kanäle sehr erfolgreich in der schnellen Generierung einer begrenzten globalen Aufmerksamkeit, die die beteiligten Fans und Macher gerne begrenzt halten wollten – die aber andererseits für Musiker mit dem Ziel eines Plattenvertrags nicht über eine entsprechend nötige Reichweite verfügte und daher ab 1989/90 eher als Sondierungsarena für Plattenverträge und nicht mehr als Underground-Bewegung wirkte. Früher oder später waren ambitionierte Bands daher auf die Leistungen der kommerziellen Magazine angewiesen. Im kleinen Kreis als qualitativ gut bewertete Musik war ohne ihre Verbreitung und Kritik kommerziell wertlos, während sich Durchschnittsware mit der entsprechenden Unterstützung (wenn auch nur temporär) vermarkten ließ. Es handelte sich um eine Struktur der Abhängigkeit, die viele Musiker vor allem im Extreme Metal als ungerecht empfanden und der sie die plötzliche Überschwemmung des Marktes mit ähnlicher Musik sowie das Ende der Exklusivität ihrer Szenen überantworteten.381 Sie alle empfanden Ernüchterung angesichts der Tatsache, dass die Deutungshoheit über ihren abgegrenzten stilistischen und sozialen Bereich nur für kurze Zeit »ihnen selbst gehörte« und sich an ihren Aufmerksamkeitsdrang kommerzielle Interessen knüpften, gegen deren soziale Folgen sie machtlos waren. Sie störten sich jedoch an den Folgen einer Grundlage jeder Szene-Bildung: Die Vergemeinschaftung in einer MetalSzene war eine medial konstruierte Beziehung, in der der Vermittler einer Information eine größere Deutungsmacht hat als jener, über den er berichtet. Musikalische Kriterien spielten deshalb für den medial inszenierten Erfolg einer Band oft eine geringere Rolle als der Fakt der bloßen breiten Aufmerksamkeit. Scott Ian erlebte (ohne die Presse zu nennen) die sozialen und kommerziellen Folgen einer solchen gelenkten Information daher korrekt als etwas, auf das er keinen Einfluss hatte: The funny thing about a movement or a scene is it seems to happen when a certain type of band just happens to tap into a certain sound at the right time and the public feeds off it like wolves. It’s nothing you create. Yes, you make the music, and when the fans get the scent of it, they come flocking, but it’s definitely something that’s out of your control.382 Die Generierung von Aufmerksamkeit durch Metal-Magazine wurde darüber hinaus dadurch verkompliziert, dass nicht nur die Folgen der Information kommerziell waren, sondern auch die Information selbst. Sounds, Aardschok, Metal Hammer, Rock Hard, Metal Forces usw. waren kommerzielle Magazine, die ihre Evaluation durch Verkaufszahlen erfuhren, und betrachtet man Geoff Bartons Label aus dieser Perspektive, erscheint die NWOBHM umso mehr als geschickter Schachzug eines Marktbeobachters. So bemerkte er als einer der wenigen britischen Musik-Journalisten den abebbenden Elan der PunkAnfangsphase der NWOBHM mit ihren sozialen und kommerziellen Implikationen war demnach eine geschickte Konstruktion. Vgl. Macmillan, N.W.O.B.H.M. Encyclopedia, S. 18f. 381 Prototypisch fand sich dieses wichtige Narrativ beispielsweise bei Fenriz: »Whenever there is money, people want a part of it. For me, that killed it – like a party that’s cool and then all the idiots arrive.« Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 553. 382 Ian, I’m the man, S. 76.
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Bewegung, die ihr wesentliches Sprachrohr im New Musical Express (NME) hatte.383 In einer Situation, in der Dave Murray (Iron Maiden) meinte, dass sich eine Lücke auftat und jeder wartete, dass etwas Neues passieren würde,384 erkannte Barton das Potential der vielen existenten Bands, die in den Pubs und Working Men’s Clubs spielten und betonte folglich auch, dass er sich beim Narrativ der vom Punk Unterdrückten bedient hatte: To be honest, I didn’t really feel that any of these bands were particularly linked in a musical way, but it was interesting that so many of them should be then emerging at more or less the same time. It was a good thing for the genuine rock fans who had really gone to ground, hiding in their wardrobes waiting for punk to go away.385 Die NWOBHM war für Barton die Überwindung eines unglücklichen Zustands und Anknüpfung an bessere Zeiten der Rock-Musik – ein Argument, dass viele Hörer im britischen Strukturwandel auch gesellschaftlich verstehen konnten. Ähnlich verhielt es sich mit seinem Verweis auf die »Britishness« der Bewegung: Seine dezidiert nationalisierende Stoßrichtung nahm frühere Fäden einer »British Invasion« der USA durch Beat-Bands wie The Beatles auf und postulierte eine Abwendung von den als vermeintlich zu glatt und zu kommerziell-inspirierten amerikanischen Rock-Produktionen.386 Über die Instrumentalisierung nationaler Vorbehalte und Hinweise auf das Identitätsvakuum durch das schwindende Empire hinaus musste ihm dabei aber auch völlig klar sein, dass die NWOBHM auf dem wichtigsten Markt für populäre Musik nicht nur neu und unbekannt war, sondern eben auch nicht medial abgebildet wurde. US-Musik-Magazine wie Creem oder Circus berichteten nicht über das Phänomen und die wichtigsten frühen amerikanischen Metalheads waren komplett auf britische Importe angewiesen. Ron Quintana versuchte beispielsweise in San Francisco alles, um über Brieffreunde das Sounds zu bekommen oder jene ersten Ausgaben von NME oder Melody Maker (MM), in denen diese begannen, die NWOBHM abzubilden. Denn gleichzeitig, »there was nothing in America really.«387 Bartons »Entdeckung« war daher sowohl dazu geeignet, den nationalen Presse-Rivalen NME und MM einen Schritt voraus zu sein als auch, um Sounds international publik zu machen. Er führte den amerikanischen Hard Rock-Fans erfolgreich vor Augen, wie innovationsarm Zeitschriften wie Rolling Stone oder Creem waren und brachte ein Label in die USA, das er vor dem Hintergrund des Konkurrenzdrucks in der britischen Pres-
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Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 67; Vgl. Interview Weir/Noble, 16.09-16.35 Min. Vgl. Wall, Enter Night, S. 20. Ebd., S. 16f. Vgl. Egbert Klautke, Die »britische Invasion« der 1960er Jahre, in: Dietmar Hüser (Hg.), Populärkultur transnational. Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre, Bielefeld 2017, S. 107–125; Zum post-kolonialen Identitätsvakuum vgl. Sutcliffe-Braithwaite, Class, Politics, and the Decline of Deference in England, 1968–2000, S. 9; Vgl. Almuth Ebke, From ›Bloody Brixton‹ to ›Burning Britain‹. Placing the Riots of 1981 in British Post-Imperial History, in: Bart van der Steen/Knud Andresen (Hg.), A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s, London 2016, S. 258–270, hier S. 267. 387 Forbes, Ron Quintana.
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selandschaft geschaffen hatte.388 Dass es vor allem Sounds gewesen war, das erstmals von Punk berichtet und diese Kultur gestützt hatte, lässt die Neufokussierung auf die NWOBHM umso mehr als Marketingstrategie in einer umkämpften Presselandschaft erscheinen.389 Den Musikern blieb dies nicht verborgen und während Biff Byford meinte, es mit einer Presseerfindung zur Abgrenzung von den etablierten Bands zu tun zu haben, betonte Joe Elliot (Def Leppard) ungeschönt die kommerziellen Vorteile für eine Musik-Zeitschrift: »The NEW Wave of British Heavy Metal was a convenient label created possibly by Geoff Barton at Sounds magazine to create a scene and sell more copies.«390 Seine überraschende Verkündung des Endes der NWOBHM 1981, einem Jahr in dem »sein Ziehkind« breiteren Erfolg auch in anderen Magazinen feierte,391 macht aus dieser Perspektive durchaus Sinn. Man kann hier tatsächlich Enttäuschung über neue, uninspirierte Bands sehen, die sich nur am Erfolg der NWOBHM-Vorreiter orientierten – in diesem Fall sprach Barton der Fan. Geoff Barton der Musikjournalist bei einem kommerziellen Magazin bildete die andere Seite dieser Aussage und ließ die Bewegung enden, weil sie eben nicht nur musikalisch, sondern aus marktwirtschaftlicher Sicht des Magazins nichts Neues mehr bot. Die Rock-Kritik, während der 1970er Jahre in permanenter Verachtung der Proto-Heavy Metal-Bands, ging nämlich seit den frühen 1980er Jahren dazu über, das entstehende Genre ob seines kommerziellen Erfolgs und seiner spielerischen Qualität ernst zu nehmen und kritisch zu würdigen.392 Die Spielstätten besaßen zunehmend weniger eine Anbindung an den Pub-Charme der Frühphase und die Hörerschaft umfasste nun auch die Mittelklasse, die – der Musik-Kritik folgend – die vermeintlich Arbeiterklassen-Subkultur für sich entdeckte.393 Im hohen Konkurrenzdruck britischer Musik-Magazine, die kaum von Fans, sondern von Journalisten geleitet wurden und sich dementsprechend weniger musikalisch festlegten, erzeugte dieser Druck nicht nur bei Barton 1981 eine ausgesprochene »Flatterhaftigkeit.« Chris Bradley (Savage) beschrieb Magazine wie Kerrang! als »very fickle«394 und begründet das Fehlen einer heutigen britischen Metal-Szene mit dieser Eigenart, Jess Cox (Tygers of Pan Tang) meint, die Presse wäre »ready for the next thing«395 gewesen, Kevin Riddles beschrieb die Aufmerksamkeit »all based on fashion and trend«396 und Bruce Dickinson sprach von einem
388 Zu den strukturell-räumlichen Gründen des »Überschusses« neuer Bands in Großbritannien vgl. Alex Ogg, Independence Days. The Story of UK Independent Record Labels, London 2009, S. 488 (Zitat Chuck Warner). 389 Vgl. Gary Bushell, Sounds of glory. The punk and ska years, New Haven 2016. 390 Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 93 (beide Zitate). 391 Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 85. 392 Vgl. Andy R. Brown, Heavy Metal Justice. Calibrating the economic and aesthetic accreditation of the heavy metal genre in the pages of Rolling Stone 1980–91: Part one 1980–85, in: Metal Music Studies 7 (2021) 1, S. 61–84, hier S. 80. 393 Vgl. Brown, Cross-Class Bricolage; Vgl. auch Gunnar Otte, »Klassenkultur« und »Individualisierung« als soziologische Mythen? Ein Zeitvergleich des Musikgeschmacks Jugendlicher in Deutschland, 1955–2004, in: Peter Berger/Ronald Hitzler (Hg.), Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert »jenseits von Stand und Klasse«?, Wiesbaden 2010, S. 73–95, hier S. 87. 394 Chris Bradley, in: Popoff, This Means War, S. 238. 395 Jess Cox, in: Popoff, This Means War, S. 254. 396 Kevin Riddles, in: Popoff, This Means War, S. 255.
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»journalistic conceit.«397 Auch in den USA empfanden Metal-Fans dies so und Brian Slagel resümierte das Ende der NWOBHM ebenfalls als medienbedingt: The English press is what it is. They’ve always liked to build things up and then tear them down. At that precise moment, in late 1982, they were just at that point where they’d started tearing the scene down.398 Die Konkurrenzbeziehung der britischen Magazine führte dazu, dass Newcomer viel Aufmerksamkeit erhielten, weil jedes Blatt auf der Suche nach der nächsten Bewegung war.399 Die damit einhergehende hohe Innovationskraft der nationalen Musiklandschaft hatte die Kehrseite im raschen Entzug des Interesses, wenn das »Neue« drohte, zum Standard zu werden. 1988 versuchte man bei Sounds beispielsweise, den Terminus »Britcore« für den Grindcore des Landes zu prägen, erhöhte damit spürbar das Interesse der Metalheads am »Crossover« (vgl. Kap. 5), widmete sich dem Phänomen aber nicht dauerhaft.400 Und im selben Jahr starteten Mitarbeiter von Sounds und Kerrang! mit dem RAW (Rock Alive Worldwide) ein neues Magazin, weil sie die musikalische Fixierung des Kerrang! als hinderlich empfanden.401 Die dabei auszumachende Wankelmütigkeit, die sich auch in der Verschiebung der Aufmerksamkeit von der NWOBHM zu New Wave zeigte, resultierte daraus, dass Sounds, Kerrang!, NME oder MM keine Magazine »von Fans für Fans«, sondern Unternehmen mit Gewinnstreben waren. Gleiches galt für die Bravo in Deutschland oder das schwedische OKEJ.402 Auf spezialisierte Metal-Magazine, in denen Fans schrieben, traf der kommerzielle Charakter zwar ebenso zu, manifestierte sich aber anders als bei Blättern, die bei Bedarf einfach den Fokus auf ein anderes Genre legen konnten. In ihnen war der kommerzielle Spagat nicht zwischen Metal und anderen Genres populärer Musik, sondern zwischen dem Metal-Mainstream und dem Metal-Underground angelegt. Konkret manifestierte sich dies in der Frage, wie sich eine Redaktion gegenüber den Angeboten der Musikindustrie positionierte, welche Bands sie abbildete und besprach und welche nicht. Eine möglichst inklusive Herangehensweise besaß die Vorteile, viele potentielle Leser an das Magazin heranzuführen, lukrative Werbung schalten zu können und mit den Labels in eine finanziell einträgliche Partnerschaft einzutreten. Andererseits ging damit die Gefahr einher, die Underground-Philosophie zu verletzen, die Glaubwürdigkeit zu beschädigen und »Szene-Puristen« und »Sittenwächter« auf den Plan zu rufen.403 Innerhalb dieser beiden Pole existierten Magazine mit sehr unterschiedlichen Herangehensweisen, die sich am Beispiel der beiden großen deutschen Magazine, Rock Hard und Metal Hammer, verdeutlichen lassen. Der 1983 von Holger Stratmann und Uwe Lerch gegründete Rock Hard, der 1984 mit dem Metal Maniacs von Götz Kühnemund fusionierte, bildete 397 398 399 400 401 402
Bruce Dickinson, in: Popoff, This Means War, S. 256. Slagel, For the sake of heaviness, S. 33. Vgl. Ogg, Independence Days, S. 488. Vgl. Anesiadis, Crossover the edge, S. 451. Vgl. Graham Young, It’s RAW for King!, in: Evening Mail, 29.08.1988, S. 18. Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 119–121; Vgl. Teddy Hoersch (Hg.), Bravo 1956–2006, München 2006, S. 477–498. 403 Dazu bereits Walser, Running with the devil, S. 4.
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ein zunächst fotokopiertes Fanzine von wenigen Seiten und steigerte seine Auflage im Laufe der 1980er Jahre fast kontinuierlich (1987 10.000). Der gemeinsame Hintergrund lag in der DIY-Mentalität und dem Wunsch nach Abbildung des Undergrounds. Der 1984 von Jürgen Wigginghaus und Dietmar Wagner, die zuvor das Magazin Szene herausgegeben hatten, erstmals erscheinende Metal Hammer startete dagegen mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und war von vornherein mit viel stärkerem kommerziellen Engagement und einer breiteren Stil-Fokussierung angetreten.404 Für die Frage, was die Magazine, die beide einer kommerziellen Logik folgten, intern genau unterschied und wo die Differenz zwischen »Mainstream«-und »UndergroundMagazinen« lag, besteht der (quellentechnisch) glückliche Umstand, dass Götz Kühnemund nach anfänglicher Tätigkeit beim Rock Hard zum Metal Hammer wechselte, 1990 zum Rock Hard als Chefredakteur zurückzukehrte und diesen 2014 wieder verließ, um das Deaf Forever mitzugründen. Seiner Meinung nach bestanden die wesentlichen Unterschiede in der Zusammensetzung der Redaktion, der Methode der Entscheidungsfindung und daraus resultierend in der Auswahl der besprochenen Bands. In der Frühphase des Rock Hard achtete man – so Kühnemund – »sehr darauf […], ob die Leute wirklich in der Szene waren oder nicht.«405 Der Metal Hammer, ein »kommerzielles« Magazin, dass nicht von Fans gegründet worden war, »war also wirklich der Feind«: »Wir haben den Metal Hammer regelrecht verachtet und auch die Leute dahinter.«406 Wenn etwas einen Stempel des Metal Hammer trug, konnte man sich sicher sein, dass man beim Rock Hard vom Kauf abriet. Doch diese Grenze war nicht unüberbrückbar: Kühnemund besaß mit Oliver Klemm ein Underground-Äquivalent beim Metal Hammer – ein »glaubhafter Fan«407 –, der es schaffte, ihn (genauso wie Alex Gernandt vom Shock Power Fanzine) zum Metal Hammer zu holen, wo dann 1987 drei bis vier »Fans« in einer »coolen Redaktion« einem geschäftlichen Überbau des Magazins gegenüberstanden, der »nicht Metal, sondern Business« war.408 Dafür, dass Kühnemund das Magazin 1990 verließ und als Chefredakteur zum Rock Hard zurückkehrte, bildete diese Spannung im Haus »einen der Hauptgründe«: Er fühlte nach eigener Aussage, sich für Entscheidungen verteidigen zu müssen, die er selbst nicht unterstützte. Die sehr enge Verbindung des Metal Hammer mit bestimmten Plattenfirmen führte zur kontinuierlichen Besprechung von Bands und Musikern, die er nicht mochte, und hinter dem Rücken der Redakteure traf die Geschäftsleitung des Magazins Absprachen mit den Plattenfirmen. Die Kommunikation in der Redaktion lief nach dem Top-Down-Prinzip und ein fester Plan des Chefredakteurs wurde auf die Mitarbeiter aufgeteilt. Seinen Weggang empfindet er als »richtige[n] Schritt«, weil er Rock Hard ohnehin als besser einschätzte, einen größer werdenden Teil des Metal Hammer nicht mehr mit sich vereinbaren konnte und sogar von Freunden gefragt wurde, warum er weiterhin bei diesem Magazin arbeitete.409
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Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 23–25, 70; Vgl. Roccor, Heavy Metal, S. 15. Interview Götz Kühnemund, 29.19 Min. Ebd., 29.41 Min. Ebd., 30.01 Min. Ebd., 30.53 Min. Vgl. ebd., 31.06-32.30 Min., 07.10 Min. (2. Spur), 32.30-32.57 Min.
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Zum Rock Hard zurückgekehrt, erlebte er vor dem musikalischen Wandel der 1990er Jahre aber auch hier den Spagat zwischen Inklusion und Underground-Exklusivität: In den Redaktions-Meetings wurden Ideen und Vorschläge ausgetauscht und letztlich »demokratische Mehrheitsentscheidungen«410 getroffen, die zu Kompromissen führten: Er musste dafür sorgen, »dass die Redaktion zufrieden war« und jene einbeziehen, die den Weg der Underground-Exklusivität auf Grund ihrer eigenen Vorlieben nicht mittragen wollten. So empfand er die Entscheidung, Nirvana auf das Cover zu nehmen (1992), im Nachhinein als unklug: Der Rock Hard hätte sich »an einen Trend gehängt« und gegen seine eigenen Prinzipien verstoßen.411 In der weiteren Folge der 1990er Jahre verschärfte sich diese Diskrepanz durch neue Bands und neue Metal-Stile weiter und die »echten Metalfans« wurden in der Redaktion teilweise sogar »etwas belächelt«. Sie »mussten sich durchsetzen gegen die, die innovativ waren«412 – der Einbeziehung immer neuer musikalischer Einflüsse stand hier die aus den frühen 1980er Jahren kommende Underground-Idee gegenüber, die ihre Authentizitätsvorstellungen nur schwer mit der empfundenen Wankelmütigkeit des Musikgeschäfts verbinden konnte. Der Rock Hard war weiterhin stärker auf der Underground-exklusiven Seite zu verorten als der Metal Hammer, doch wirkten die kommerziellen Spannungen auch hier in die Redaktion hinein. Die Intention des 2014 gegründeten Deaf Forever kann man schließlich als weitere Episode in dieser individuellen Verortung Kühnemunds interpretieren: Die Redaktion des Magazins ist stilistisch »näher beieinander«, trifft Abstimmungen, gerät auf Grund ihrer musikalischen Nähe aber nicht in die Situation, schwerwiegende Kompromisse eingehen zu müssen. In Beziehung zu den Unternehmen gebe es »gar keine Kompromisse«, Anzeigen von Plattenfirmen würden abgelehnt und man sei »voll unabhängig«, weil es nur eine Story gebe, wenn die Band auch auf der Liste der Redaktion stehe.413 Auch das Deaf Forever ist ein kommerzielles Magazin, doch verkörpert es den Versuch, trotz dieser Notwendigkeit so weit wie nur möglich den exklusiven Underground-Ansatz zu vertreten – also vergleichsweise niedrige Verkaufszahlen in Kauf zu nehmen, um sich vom »Mainstream« der Musikindustrie frei zu machen bzw. nur jenes zu besprechen, das man als authentisch ansieht.
6.1.6.1 Fan- Journalisten und musikalische Kategorienbildung Das zwischen kommerzieller Vereinnahmung und Abgrenzung lavierende Tätigkeitsfeld bei Metal-Magazinen brachte in den 1980er Jahren einen ganz bestimmten Typ des FanJournalisten hervor: Die gute Vernetzung mit den Plattenfirmen war eine Grundvoraussetzung, um an Daten, Produkte, Interviews, Fotoerlaubnisse, Konzerteintritte usw. zu gelangen und um das Heft mit Band-Interviews, Rezensionen und Konzertberichten zu füllen. Die Magazine schalteten überdies Anzeigen und finanzierten sich über diese Kontakte.414 Da es sich bei den dominierenden Indie Labels um DIY-Gründungen von
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Ebd., 07.30 Min. (2. Spur). Vgl. ebd., 7.30-07.50 Min. (2. Spur). Ebd., 08.05-09.03 Min. (2. Spur). Vgl. ebd., 04.38-06.57 Min. (2. Spur). Vgl. Roccor, Heavy Metal, S. 303–305.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Fans handelte, waren die Wege hier oft sehr kurz und Bekanntschaften ohnehin die Regel. Andererseits war – wie oben beschrieben – ein Teil der Redaktionen der anti-kommerziellen Underground-Idee verpflichtet und im ständigen Austausch mit der DIYSeite der Metal-Kultur bei den Fanzines – von wo sich Indie Labels und Magazine ja auch rekrutierten. Nicht nur Kühnemunds Fanzine kulminierte in einem Magazin: Das von Roban Becirovic gegründete Close Up, das in den 1990er Jahren zum größten MetalMagazin Schwedens wurde, war 1991 als Fanzine angetreten aus dem sich ein Magazin, dass die Mitarbeiter auch ernähren konnte, langsam entwickelte.415 Eine weitere dieser Grassroots-Gründungen vollzog Katherine Ludwig mit dem US-amerikanischen Magazin Metal Maniacs, dass ab 1992 für die Information über Death Metal und Grindcore große Bedeutung erlangte und wo die Herausgeberin trotz der Verkaufs-Notwendigkeit ihres Magazins keinen Zweifel an ihrer Priorität ließ: »Commercial metal band have nothing to offer. They’re more interested in their image.«416 Aus der persönlichen Vernetzung einiger ihrer Mitarbeiter mit den Musikern, Tradern und Fanzine-Herausgebern resultierte für die Magazine ein enormer Informationsgewinn und eine große Aktualität. Wie eng dieses Netz von Bekanntschaften gespannt war, zeigt ein Vorfall auf der Weihnachtsfeier des britischen Magazins Metal Forces 1993: Malcome Dome, Gründer und Herausgeber des Magazins und eine zentrale Figur der britischen Metalpresse seit der NWOBHM, brachte die Gäste auf das Thema der Problematik des norwegischen Black Metals zu sprechen. Paul Halmshaw, Chef von Peaceville Records, war ebenfalls anwesend und hatte einen Mitarbeiter, der mit Øystein Aarseth in Norwegen in Tape Trading-Kontakt stand – Dome bettelte Halmshaw an, ihm dessen Nummer zu besorgen und erhielt diese kurzerhand. Dome rief umgehend in Norwegen an, bezichtigte Aarseth des Schwindels und der Predigt faschistischen Gedankenguts und hatte dadurch, dass Aarseth ihn mit Mord drohte, schließlich bekommen, was er für sein Magazin wollte.417 Die unsichtbare kommerzielle Grenze in der Beziehung von Magazinen und den DIY-Akteuren erlebte viele individuelle Übertritte, aber auch einige Rückzüge von Tape Tradern oder Fanzine-Herausgebern, die schon nach kurzer Zeit bei der Zuarbeit zu einem Magazin entnervt aufgaben. Ray Dorsey beschrieb die praktischen Gründe sehr anschaulich: I had an offer to write for a large magazine once. It was against my better judgment and my better judgment ended up being correct. They sent me a bunch of uninteresting shit to review and gave me deadlines to do it by… TILT!!!! They sent me to 3 shows, all of which were bands that were of little interest to me and bored me to death… TILT!!!! No fun in it, no enjoyment, no passion? Not for Ray.418 Für jene Mitarbeiter der Magazine, die jedoch blieben, begründete der kommerzielle Spagat einen teilweise bis heute reichenden Rechtfertigungsdruck. Sie waren von den 415 Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 126f. 416 Vgl. Brenda Herrmann, Death Rock Comes Alive, in: The Philadelphia Daily News, 06.01.1992, S. 35, 37; Zur Bedeutung von Katherine Ludwig vgl. auch Interview Kelly Shaefer, 08.40-09.36 Min. 417 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 197. 418 Forbes, Ray Dorsey.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Produkten der Label abhängig, kommentierten zusehends nur noch das Material und betrieben kaum eigene Recherchen.419 Problematisch wurde dies nicht nur, wenn Konflikte um die Besprechung von Bands entbrannten, die die Underground-Fans arg strapazierten – also der Journalist den Fan herausforderte –, sondern auch dort wo es umgekehrt war und Magazine in engem Kontakt mit Labels standen und der Verdacht aufkam, es handele sich um kommerzielle Einflussnahme. Der Fan-Journalist war nie nur ein Fan und allein die Tatsache, dass etwa durch die engen Dortmunder Verbindungen des Rock Hard mit dem Label Century Media so hoher Rechtfertigungsdruck entstand, zeigte, dass ein Mindestmaß journalistischer Unabhängigkeit gepflegt werden musste, um ernst genommen zu werden.420 Zu den wichtigsten Leistungen dieser Fan-Journalisten gehörte es (genauso wie bei genre-übergreifenden Magazinen auch), die musikalische Komplexität zu reduzieren und erzählbar zu machen. Die daraus entstehende Neigung, Kategorien zu entwerfen, hatte große Auswirkungen auf die Entstehung verschiedener Sub-Genre mit eigenen Bands und eigenen Fans sowie auf die Kommerzialisierbarkeit bestimmter Bands und Produkte. Nicht alle dieser wegweisenden Termini waren letztlich erfolgreich. So hatten Bengt Grönkvist und Jörgen Holstedt bei Schwedens erstem Hard Rock-Fanzine The Hammer beispielsweise 1982 keinen Erfolg damit, an die NWOBHM anzukoppeln und eine »Första Vagen av Svensk Heavy Metal« (First Wave of Swedish Metal) auszurufen.421 Dazu hätte es regionaler Aufbrüche bedurft, die das Medium dann gelenkt und dynamisiert hätte, doch diese bestanden Anfang der 1980er Jahre in Schweden anders als in England noch nicht. Magazine erschufen die musikalischen Phänomene nicht, sie integrierten Bestehendes aber sehr einflussreich und trugen zum Wachstum durch Aufmerksamkeit bei. Label, bei denen dies sehr gut funktionierte, waren die großen Sub-Genre-Label des Thrash-, Death-und Black Metals und Grindcores sowie regionale Szene-Titel wie Norwegian Black Metal, Bay Area Thrash, Florida Death Metal, New York Death Metal oder Swedish Death Metal. Sie alle waren medial vermittelte Botschaften, die anzeigten, dass eine bestimmte Gruppe von Menschen an einem bestimmten Ort eine bestimmte Musik produzierte und konsumierte. In jedem dieser Fälle bestanden Bands, die massiv von den Labelling-Prozessen profitierten – nämlich jene, die diesen Kategorien mit ihren Kriterien möglichst genau entsprachen. Eine Band wie Darkthrone hätte sich zwischen 1992 und 1996 genauso wenig über das Label Norwegian Black Metal beschwert wie Morbid Angel über Florida Death Metal oder Diamond Head einige Jahre zuvor über das Label NWOBHM. Denn diese Label waren kommerziell und medial nützlich und wurden – wenn sie nicht sogar wie im Falle Darkthrones selbst kommuniziert wurden – gern in Kauf genommen. Mit einem Label versehen zu werden bedeutete, an der Aufmerksamkeit teilzuhaben und Tino Troy, der sich mit Praying Mantis ebenfalls als »NWOBHM« gekennzeichnet sah, adressiert dies noch heute als Glücksfall: »We were quite lucky to actually be able to jump on the band-
419 Vgl. Roccor, Heavy Metal, S. 305. 420 Vgl. Krumm, Century Media, S. 22. 421 Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 121f.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
wagon as it were with the type of music that we did, because it was very different to the stuff all the other bands were doing.«422 Es war aber entscheidend, wann eine Band mit ihrer Veröffentlichung gelabelt wurde. Denn den Vorteilen der Pioniere stand der Beigeschmack des Trend-Hoppings bei jenen gegenüber, die vermeintlich zu spät gekommen waren. Ein Labelling war also Fluch und Segen, Distinktion für die frühen Profiteure und »Schubladendenken« für ihre empfundenen Nachahmer. Dementsprechend bestehen viele Beispiele für Musiker, die sich gegen existierende Label wendeten, weil sie dadurch Nachteile erfahren hatten. In Norwegen empfanden die Musiker der Band Carpathian Full Moon im Jahr 1992 etwa die Problematik, zwar eine Musik zu produzieren, die sich deutlich vom Norwegian Black Metal unterschied, aber dennoch als norwegisch adressiert und mit dem Label assoziiert zu werden: We never decided to play black metal ’cause we are no black metal band!! There are so many people who belive [sic!] Carpathian Fullmoon is a black metal band but they are all wrong! Coming from Norway doesn’t necessarily mean that you are a black metal band!423 Während die distinkte Nische der Band in diesem Fall nicht kommuniziert wurde, weil man ihr medial ein Label überstülpte, wurde Abgrenzung noch schwerer zu vermitteln, wenn der eigene Sound tatsächlich einem existenten Label entsprach. Als etwa die schwedische Band Rapture 1989 zu Lobotomy wurde, bemerkte der Fanzine-Autor Jeff McClelland in seiner Deathvomit-Ausgabe, dass die Band den typischen StockholmSound spiele, aber dennoch originell sei und folgerte daraus: »Don’t just label them as any other Swedish band!!!«424 In Tampa, wo die Band Brutality zu den frühesten Vertretern der lokalen Death Metal-Szene gehörte, aber erst 1993 ein Album veröffentlichen konnte (»Screams of Anguish«), ging diese Gratwanderung so weit, dass die sich die Musiker von einem Label abgrenzen wollten, dass sie nach eigener Angabe selbst mit erschaffen hatten: I don’t think that we fit in with all that same old stuff, we’re trying to be different. We are heavy and we’re from Tampa, so that people are possibly saying we have a Tampa sound, but we were one of the first, even though we got recently signed, we were one of the first death metal bands from Tampa. I think, if there’s a typical Tampa sound, BRUTALITY probably helped create it a little bit. We constantly try to stay away from sounding like other people though, but eventually that’s up to the listener to decide what we do sound like, you know…425 Anders war die narrative Schwierigkeit für eine Band gelagert, die bereits mit ihren Alben zu den Pionieren einer Kategorie gehört hatte, durch musikalische Veränderung aber aus dieser Kategorie herausfiel und einen Abgrenzungswunsch gegen die eigene 422 423 424 425
Interview Tino Troy, 09.35-09.51 Min. Vgl. Sasa Borovcanin, Skogen 1 (1994), in: ders. (Hg.), Skogen. Zine Anthology, S. 41. McClelland, Deathvomit, S. 278. Stöver, Voices from the Darkside 3 (1994), in: ders. (Hg.), Voices, S. 13.
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Schöpfung empfand. Dies betraf beispielsweise die Band Death und ihr einzig stabiles Mitglied Chuck Schuldiner, dessen progressive musikalische Entwicklung seit den frühen 1990er Jahren nicht mehr zu dem Sound der Band passte, mit dem sie zum Label Florida Death Metal beigetragen hatte. Kelly Shaefer führt daher Schuldiners musikalische Beweggründe für seinen starken Abgrenzungsreflex innerhalb dieser Szene an.426 Noch wesentlich stärker wurde zehn Jahre früher die Entwicklung von Def Leppard als Bruch mit der NWOBHM medial inszeniert. Nach einer kurzen Phase, in der die Band bei Sounds als Wegbereiter der Bewegung eingeschätzt wurde, begann die Zusammenarbeit mit dem Produzenten Mutt Lange, die im Millionen-Seller »Pyromania« kulminierte und von den britischen Musik-Magazinen als »Amerikanisierung« verrissen wurde.427 Die Hinwendung zum amerikanischen Markt war hier gleichbedeutend mit dem Sell-Out und dem Ausscheiden aus der NWOBHM. Def Leppards Joe Elliot beschrieb folglich mehrfach, nichts mit der NWOBHM zu tun haben zu wollen, denn »we were absolutely the enemy.«428 Die Verwendung von Kategorien war eine besondere Form von Kritik, mit der die Magazine (und auch Fanzines) sozialen Einfluss ausübten und mitbestimmten, wer sich wo zu einer bestimmten Szene, Bewegung oder zu einem bestimmten Sound zählen konnte. Doch diese Kritik hatte dort ihre Grenzen, wo die Kritiker die Reaktionen des Publikums auf bestimmte Bands völlig falsch einschätzten oder wo sie sogar auf eine Kritik verzichteten, weil sie sich der Diskrepanz zwischen ihrer Meinung und der Unterstützung durch die Fans bewusst waren. So beschreibt etwa Kevin Riddles, dass Angel Witch nicht zu den Favoriten bei Sounds gehörten und deshalb oft auch gar nicht besprochen wurden: If they liked you, they took you under their wings. They couldn’t and wouldn’t give most bands bad reviews. Almost unprintable. But if you weren’t a favourite, you wouldn’t get reviewed at all. So, there were lots of bands, who were favourites. Angel Witch weren’t a favourite of the media particularly. If we did get reviewed, generally the review would be along the lines of »Angel Witch, hmm, terrible band, but the crowd love them.«429 Angel Witch gehörten aus diesen Gründen zu den NWOBHM-Bands, die sich ausgehend von ihrer sozialen Basis in den Clubs durchgesetzt hatten und deren Beziehung zur Musik-Presse darauf beruhte, dass man sich entweder nicht wahrnahm oder sich die Journalisten wunderten, warum diese Band eine Anhängerschaft besaß. Ein anderes Beispiel dafür waren Girlschool, bei deren großem Artikel im NME (1981) man sich unentwegt fragt, wieso ein Kritiker dieser Band so viel Raum schenkt, wenn er deren Musik gleichzeitig als dümmlich darstellt.430 Offensichtlich wirkte die erwünschte Beschä426 Vgl. Interview Kelly Shaefer, 17.05-17.51 Min. 427 Byford, Saxon. Never Surrender, S. 145f.; »Def Leppard established themselves by turning into an American band; ›Pyromania‹ is a fantastic album, a pinnacle in rock music history, but there’s nothing British in it, no British influence at all.« 428 Popoff, Wheels of Steel, S. 77. 429 Interview Kevin Riddles, 57.30-58.20 Min. 430 Vgl. Paul Morley, Black Leather at St. Trinians, in: New Musical Express, 02.05.1981, S. 13–15, 45.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
digung der Band vor dem Hintergrund ihres Fan-Supports nicht mehr. Musik-Kritik wirkte daher auch nicht ungefiltert in die sozialen Beziehungen der Szene-Bildung hinein, sondern konnte durch querliegende Sichtweisen von Fangruppen gebrochen werden. Eine besonders offensichtliche Form dieses Verlusts von Deutungshoheit und Integrationsfähigkeit erlebten Kritiker dort, wo negative Kritiken positive Folgen für die Bands zeitigten. Da Distinktion auch innerhalb der Metal-Kultur wirkte und sich extremere Spielarten in der Konkurrenz zu arrivierten Stilen durchsetzen mussten, liegen solche Beispiele oft genau an der Schnittstelle zu einem neuen Sub-Genre. Frühe Fans des Thrash Metals oder Black Metals grenzten sich gerade über den Konsum dessen ab, was von den Magazinen verrissen wurde. Die positiven Folgen negativer Kritik können daher auch als Zeichen für eine weitere Dynamisierung szene-interner Distinktion interpretiert werden – es ging dabei nicht so sehr um Qualität wie um das spezifisch Neue bzw. Extremere. Bands, die eine solche Umkehrung der Logik erlebten, waren beispielsweise Saxon, wo eines ihrer frühen Konzerte in London im NME derartig verrissen wurde, dass die Aufmerksamkeit stark stieg431 oder Sodom, deren erste Veröffentlichungen sich trotz negativer Kritiken gut verkauften.432 Auch Mayhem, die ihr erstes Demo-Tape 1986 im Plattenladen Shades in London zum Verkauf zurückließen, erhielten daraufhin von Metal Forces eine vernichtende Kritik, die ihre Aufmerksamkeit schlagartig erhöhte.433 Auch hier übertraf die Informationsfunktion des Mediums seine Kritikfunktion bei Weitem. Christian Vikernes und Øystein Aarseth hatten diese Funktionslogik der (vor allem trend-orientierten englischen) Magazine dann 1993 derartig gut verstanden, dass sie das Kerrang! erfolgreich als Plattform instrumentalisierten und auf diese Weise eine öffentliche Verbreitung ihrer wirren Aussagen erreichten, die ihnen ansonsten nie möglich gewesen wäre (vgl. Kap. 6.2.4).434
6.1.7 Radio und Fernsehen Während Europa hinsichtlich der Metal-Magazine einen deutlichen Vorsprung gegenüber den USA aufwies, gestaltete es sich beim Einfluss von Radio-und Fernseh-Shows beinahe andersherum. Das Radio öffnete sich in den USA nach einer kurzen Phase des Rückstands gegenüber England seit den frühen 1980er Jahren stärker für Metal-Bands als dies in Europa der Fall war, wo diese Formate zwar nicht fehlten, aber nie derartigen Einfluss auf die Szene-Bildung ausübten. Bezüglich des Fernsehens war es ähnlich und nach einigen Auftritten in den wenigen englischen TV-Shows durch NWOBHM-Bands um 1980 führte vor allem MTV temporär zu einer größeren Sichtbarkeit der Bands.435
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Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 187. Vgl. Ronald Mattes (Reg.), Sodom. Lords of Depravity. Part 1, 2005, Min 80. Vgl. Kristiansen, Slayer 3/4. Foreword, S. 54. Vgl. Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 119f., 267. Zur Pluralisierung des Rundfunks in den 1980er Jahren vgl. Frank Bösch, Politische Macht und gesellschaftliche Gestaltung. Wege zur Einführung des privaten Rundfunks in den 1970/80er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 191–210.
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6.1.7.1 Metal- Radio und -Fernsehen in den USA Die Spielzeit von Metal-Musik im Radio der USA fand nicht im nationalen Radio statt, sondern war fast vollständig auf regionale Rock-Sendungen und auf das College-Radio angewiesen. Dass Metal-Szenen in den USA mehr als in jedem anderen Land mit den Standorten von Universitäten verbunden waren, hatte daher auch technische und kommunikative Gründe, die auf die Besonderheiten der dortigen Radio-Landschaft zurückgingen. 1965 wurde in den USA ein Gesetz verabschiedet, dass es den Mittelwellenstationen verbot, dasselbe Format im AM-und im FM-Bandbereich auszustrahlen. Dadurch entstanden auf der UKW-Frequenz zahlreiche Sendeplätze für Stationen, die jenseits des Mainstreams experimentierten.436 Ab 1977 setzte sich dann FM (also UKW) gegen das lange Zeit vorherrschende AM durch und in den späten 1980er Jahren bediente FM etwa 75 % der nationalen Hörerschaft.437 Die College-Radio-Stationen bildeten einen wichtigen Teil der damit verbundenen Ausdifferenzierung der Radiolandschaft und integrierten seit den frühen 1980er Jahren auch Heavy Metal in einzelne Sendungen. Parallel zu dieser neuen Hörbarkeit etablierten sich durch die Entwicklung des Kabel-Fernsehens Formate wie Radio 1990 oder Night Flight, die auch Videos von Metal-Bands ausstrahlten438 – bis 1983 mit MTV ein Sender auftrat, der die Reichweite der Musik enorm erweiterte, stärker feminisierte439 und den US-Marktanteil für Heavy Metal in einem Jahr von 8 % auf 20 % steigerte (1983/84).440 Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die soziale Trennung eines Metal-Mainstreams von einem Metal-Underground: Denn obgleich auch Extreme Metal-Bands wie etwa Exodus oder Testament mit dem Video-Format experimentierten, gehörte die größte Aufmerksamkeit bei MTV den charts-affinen Glam Metal-Bands.441 Deren musikalische Anpassung, körperlich-androgyne Inszenierung und Rock Star-Attitüde, die in den Videos nicht nur ein effektives Medium fanden, sondern vermutlich erst in dieser Form entstanden, befeuerten die ohnehin empfundene Abgrenzung von den frühen Thrash Metal-Bands.442 Kommerzielle Musik-Videos zu produzieren, erwies sich für Bands wie Exodus als zweischneidiges Schwert, weil sie einerseits an der Reichweite des Formats interessiert, andererseits aber nicht gewillt waren, jene Posen, Bewegungen und Symbole zu nutzen, die die Glam Metal-Bands so erfolgreich anwendeten.443 MTV entwickelte sich durch diese subkulturelle Spannung mit der Affektiertheit des Video-Formats innerhalb weniger Jahre zum Inbegriff für den Metal-Mainstream und wurde von Extre-
436 Vgl. Christopher Sterling/Michael Keith, Sounds of change. A History of FM Broadcasting in America, Chapel Hill 2008. Zitiert nach: Nathaus, Das populärmusikalische Selbst zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, S. 133. 437 Vgl. Christopher Sterling/John Kittross, Stay Tuned. A history of American broadcasting, Mahwah 2002, S. 501. 438 Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 79. 439 Zur Anziehungskraft des Radio Airplays und der Videos auf weibliche Fans vgl. Halford, Confess, S. 100, 109, 154; Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 161–172. 440 Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 163. 441 Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 82. 442 Vgl. Kap. 6.2.1 zu den medial inszenierten Abgrenzungen zwischen Glam und Thrash Metal in Kalifornien. 443 Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 163 (zu Exodus).
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
me Metal-Bands wieder gemieden. Einzig die Sendung Headbangers Ball, die von 1987 bis 1995 bei MTV in den USA und seit 1990 in Europa lief, integrierte gelegentlich Extreme Metal-Bands.444 Die Einführung von MTV, gemeinsam mit neuen Radio-Formaten und einer nun auch in den USA nachziehenden Aufmerksamkeit der Musik-Magazine Circus oder Hit Parader, haben Ian Christe sogar dazu veranlasst, das Jahr 1983 als Wegscheide für die Kommerzialisierung der Metal-Kultur zu interpretieren.445 Es ist anzunehmen, dass sich die regionalen Metal-Szenen in den USA seit der Mitte der 1980er Jahre etablieren konnten, weil regionale Radio-Shows und Musikvideos die Jugendlichen an einen härteren Gitarrensound heranführten, der sich über die CollegeRadiostationen dann weiter extremisieren konnte. Das Radio und das Fernsehen wirkten also gemeinsam als mediale Kanäle – in einer Phase, in der diese Aufgabe in Europa viel eher von den Magazinen übernommen wurde. Sharon Bascovskys Beschreibung ihres Weges zur Musik von Slayer und Sacrifice dürfte daher in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre als durchaus typisch angenommen werden: I was listening to our rock radio station here in Pittsburgh called WDVE as well as watching MTV. Both would play Iron Maiden, Judas Priest, Ozzy, and Motley Crue. MTV also was playing thrash bands like Testament, Hallows Eve, Death Angel, and Metallica so I was getting exposure to what was then considered extreme music. It was actually at a Motley Crue concert in 1985 that I was given a cassette tape with a sample of thrash and doom metal bands. I still have that tape. It had Slayer and Sacrifice on it and I became a huge fan of both.446 Bezeichnenderweise hatte sie das Tape, das ihren Horizont erweiterte, von einem Mitarbeiter einer lokalen College-Radio-Sendung erhalten.447 Die Infrastruktur des CollegeRadios und die Bereitschaft, dort auch Metal-Bands zu spielen, waren aber nicht in allen Landesteilen der USA gleich stark verbreitet. Als Paradebeispiel für eine einflussreiche Scharnierfunktion dieses Mediums wurde gerne Ron Quintana und seine wöchentliche Sendung Rampage Radio auf KUSF angeführt – was hauptsächlich auf den auch daraus resultierenden Aufstieg einer Band wie Metallica zurückzuführen ist.448 Quintana selbst führte dagegen an, dass das Radio in der Bay Area nie derartig stark an »heavier metal bands« interessiert gewesen wäre und dass er ab 1982 mit Rampage Radio ein Special eines ansonsten Punk-fokussierten Senders verantwortete, bei dem neben Black Sabbath, Venom und Rush vor allem »tons of hard rock, everything from jazz fusion bands to punk« liefen. Er sprach sogar von einem »real metal or hard rock stigma, because punk was being so worshipped in San Francisco«449 und setzte die Reichweite des Radios für MetalBands daher eher niedriger an.
444 445 446 447 448
Vgl. ebd., S. 171. Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 82. Forbes, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky. Vgl. Nocera, Derketa, in: Voices from the Darkside Online. Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 61; Vgl. Fellezs, Voracious Souls, S. 90; Vgl. Deena Weinstein. Communities of Metal. Ideal, Diminished and Imaginary, in: Varas-Díaz/Scott (Hg.), Heavy Metal Music and the Communal Experience, London 2016, S. 3–22, hier S. 16. 449 Forbes, Ron Quintana (beide Zitate).
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Gleichzeitig betonte er »NY is a whole different story«450 und verweist auf die Tatsache, dass College-Radio in keiner US-Region nur annähernd so vielfältig war wie im Nordosten der USA. Empirisch fällt dies besonders dadurch auf, dass Interviews mit Musikern und Fans aus New York, New Jersey, Pennsylvania und Massachusetts nur selten ohne klare Hinweise auf dieses Medium auskommen, während dies in Ansätzen sonst nur in Florida zu beobachten ist.451 Die Vielzahl an Stations-Bezeichnungen und Sendungen, die dabei erwähnt werden, knüpfte ein enges UKW-Netz: Es bestand bei WRTN in New Jersey eine Midnight Metal-Show, in der die jugendlichen Hörer mit extremeren Bands wie Slayer oder Anthrax sowie mit europäischen Einflüssen wie Mercyful Fate oder Destruction vertraut gemacht wurden – während der Namensvetter der Sendung bei WDHA in Dover (NJ) unter anderem die Konzerte ankündigte, die der Megaforce RecordsGründer Jon Zazula in der Region organisieren ließ.452 WSOU 89.5 spielte im Norden des Bundesstaates auch die Demos regionaler Newcomer-Bands.453 Wie in New Jersey war das Radio auch im Upstate New York nicht an die Großstädte gebunden und ermöglichte kleinstädtischen und ländlichen Hörern einen Einstieg in die Metal-Kultur. Für Keith Warmouth, der sein Wormhole Fanzine weit abgelegen in einer Kleinstadt in der Finger-Lake-Region des Upstates zusammenstellte, standen dadurch neben The Rock Shop auf WSFW 99.3, wo »Big Bob Appel« Hard Rock und Heavy Metal spielte, auch The Metallic Onslaught auf WEOS 89.7 zur Verfügung, wo die DJs Hobart und Smith den Underground abdeckten. Gemeinsam mit Area Records, einem Plattenladen in Geneva, war er dadurch im Stande, problemlos auf Informationen und Produkte (auch auf Importe aus UK) zuzugreifen.454 Weiter westlich präsentierte Mark »Psycho« Abramson in Buffalo auf WBNY (Buffalo State College) jeden Dienstag die neuesten Underground-Veröffentlichungen, betrieb Promotion für lokale Bands und war für die entstehende Szene in der Stadt eine unverzichtbare Informationsquelle.455 Zeitgleich deckten mehrere College-Radio-Stationen gemeinsam mit Adelphi Radio und Stony Brook Radio den Metal-Underground auf Long Island ab.456 Dass die College-Stationen bei der Verbreitung von Metal-Musik allein auf weiter Flur standen wurde in der Forschung an einigen Stellen betont,457 bestätigt sich empirisch aber nicht. Wie bereits die Verweise bei Bascovsky oder Warmouth zeigten, stellten größere regionale Sender durch Hard Rock-basierte Sendungen eine Vorfeldstruktur für eine Transgression dar, die sich bei den College-Radio-Sendungen vollzog. Da niemand mit einer Band wie Slayer in die Metal-Kultur einstieg, wurden junge Hörer mit auch kommerziell erfolgreichen Bands wie Judas Priest, Iron Maiden, Ozzy Osbourne oder Mötley Crüe an die Metal-Musik herangeführt, sodass der vermeintliche Mainstream, den die größeren Radio-Rock-Shows spielten, die Grundvoraussetzung für die Hörerschaft
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Ebd. Vgl. Swiniartzki, Why Florida, S. 187f. Vgl. Chris Forbes, Chris Poland, in: Metalcore Fanzine; Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 41. Vgl. Forbes, Fantom Warrior. Interview with John Chernac, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Chris Forbes, Wormhole Zine. Interview with Keith Warmouth, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Korycki (Reg.), Centuries of Torment, Min 18. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 130f. Z. B. bei Weinstein, Heavy Metal, S. 156–159.
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des Undergrounds bei den College-Stationen bildete. Dies traf auch auf die Radio-Landschaft im Lehigh Valley, einer Metropolregion zwischen New Jersey und Pennsylvania, zu: WZZO-FM, die regional wichtigste Station für Rock-Musik, spielte Metallica, Judas Priest und Ozzy Osbourne, während Death Metal in den Shows The Lion’s Den und The Graveyard Shift auf WMUH-FM (Muhlenberg College) abgedeckt wurde. Auch bei WLVRFM (Lehigh University) existierte zeitweise eine Underground-Show – gleichzeitig aber auch eine College-Radio-Sendung, die eher den »mainstream heavy metal stuff« spielte.458 Trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen sollten das regionale RockRadio und die College-Stationen daher auch nicht zu stark voneinander abgegrenzt werden. Sie bildeten wohl eher ein individuelles Hör-Kontinuum für die einzelnen Metalheads, in dem sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten viele, aber freilich nicht alle, in Richtung der College-Sendungen bewegten. Das dichte Netz der Radio-Stationen wurde durch Hosts organisiert, die in der Regel auch im Tape Trading aktiv waren, ein Fanzine herausgaben und bei denen sich überdies kaum eine Trennung von Metal und Punk feststellen ließ. Einige waren auch selbst Musiker.459 Für ihre meist spätabendlichen oder nächtlichen Sendungen, deren Uhrzeit den Tagesrhythmus von unzähligen Jugendlichen prägte, waren sie auf Informationen und Produkte angewiesen, die abseits der spezialisierten Plattenläden und des globalen Tauschs nicht erhältlich waren. Ihre daraus resultierende hervorragende Vernetzung erlaubte es ihnen, mit hoher Aktualität über das Aufkommen neuer Bands und Sounds mitzubestimmen bzw. diese zumindest unmittelbar verfolgen zu können. Rich Spillberg, Mitgründer der Thrash Metal-Band Wargsam aus Boston, beschrieb die Rolle von Mike Jones, der als DJ vom Emerson College aus die Show Nasty Habits verantwortete, entsprechend als die eines Tastemakers, Szene-Weichenstellers und regelrechten »Erziehers«: »He was a main influence back then in educating all of us young metalheads into what was new and kicking back then.«460 Die Hosts der College-Sendungen waren daher selten »nur« Multiplikatoren über UKW, sondern auch Organisatoren von Konzerten, Ansprechpartner von Indie Labels, Initiatoren von kleinen Festivals oder Award-Verleihungen461 – also auch ganz physische Szene-Netzwerker. Ihre Informationen hatten wichtige soziale Folgen, indem sie Personen erst zusammenbrachten.462 Charlie Infection, der von 1985 bis 1995 Drummer und
458 Vgl. Len Righi, Gangsta rap, death metal targeted for restrictions, in: The Morning Call (Allentown, Pennsylvania), 29.04.1994, S. 55f. 459 Vgl. Philipp Booth, Heavy honors, in: The Tampa Tribune, 03.09.1993, S. 95. Keith Collins, Bassist bei Savatage, war Co-Host der Sendung The Pit auf WXTB 97,9 FM in Tampa (gemeinsam mit Brian Medlin). Er veröffentlichte auch Tampa Bay Spike monatlich sowie Live in Tampa Bay alle zwei Wochen. Darüber hinaus war er Mitorganisator der Tampa Bay Metal Awards. 460 Chris Forbes, Wargasm. Interview with Rich Spillberg, in: Metalcore Fanzine, 2007, URL: www.m etalcorefanzine.com/wargasminterview.html (letzter Aufruf 17.05.2022). 461 Jason Cochran, Medals for Metal, in: South Florida Sun Sentinel, 17.07.1993, S. 57. Die 18-jährige Yvette Lam organisierte neben ihrer Radio-Show Tea Time auf WKPX-FM auch die jährlichen South Florida Slammie Awards in Hallandale bzw. in Davie. 462 So betonte beispielsweise Danny Lilker für New York: »Metal was even less popular in our school than hard rock was, but we started to read fanzines and listen to college radio at one in the morning when the stations would play it. The DJ’s would announce shows, I’d go, and then I’d meet
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Sänger der Punk-Band Psycho aus Boston war, erinnert sich beispielsweise an nicht weniger als sieben College-Radio-Stationen im Raum Boston, die neben dem regional bedeutenden (Hardcore)-Punk auch viel Death Metal, aber auch Reggae, Blues oder Garage Rock spielten. Über sieben Jahre war er DJ der Revolution Show auf WBRS (Brandeis University), die jedes Wochenende ausgestrahlt wurde und zwei Stunden dauerte. Neben dieser Tätigkeit ließ er aber auch Bands für ein Radio-Live-Programm (The Joint) im Foyer auftreten und organisierte kurzzeitig das Slam For Satan-Festival. Alle seine Formate operierten im Crossover-Kontinuum. Im Anschluss wechselte er sogar zum Kabelfernsehen, wurde sieben Jahre lang der VJ der Show The Meat Grinder und stellte dort unter anderem Videos und Interviews mit Exodus oder Napalm Death vor. Wie bei seinen Fanzineschreibenden DIY-Freunden erhielt auch er dafür zahlreiche Produkte, Andenken und Vergünstigungen durch Indie Labels wie Century Media oder Relapse.463 Das deutsche Label Noise Records hatte sogar einen eigens für die Hochschulen in den USA zuständigen Mitarbeiter, »der dort anrufen und die Programmmacher beackern musste.«464 Aus der Gruppe der Radio-Moderatoren gingen auf Grund dieser Vorkenntnisse und Beziehungen einige jahrelange Erwerbsverhältnisse bei Indie Labels hervor, von denen Monte Conner sicherlich das wichtigste Beispiel darstellt.465 In der Mitte der 1980er Jahre organisierte er vier Jahre lang am Baruch College in New York City eine Metal-Show. Er schrieb unter anderem deutsche Bands wie Kreator, Sodom, Running Wild oder Helloween an und fragte, ob er deren Demo-Tapes erhalten könnte. Sein Fokus lag von Beginn an auf Bands, die noch keinen Plattenvertrag unterzeichnet hatten und er stellte seine Neuentdeckungen in seiner Witching Hour Deathlist zusammen.466 Seine internationalen Kontakte erweiterten sich und parallel bemühte er sich, die lokalen Aufbrüche in den USA mit den europäischen Demo-Tapes zu versorgen. Als Kam Lee und Chuck Schuldiner, die später Mantas/Death gründeten, in Orlando ins Tape Trading einstiegen, erhielten sie beispielsweise ihr erstes Tape der einflussreichen Schweizer Band Hellhammer von Monte Conner.467 Seine Zeit beim Radio beschrieb Conner folglich als »Trainingslager«, durch das er »einen Fuß in die Tür der Musikindustrie« bekam und bei Roadrunner Records zu einem sehr wichtigen A&R-Agenten aufsteigen konnte.468 Die Tätigkeit beim College-Radio war demnach ein weiterer Teil der DIY-Struktur mit Aufstiegspotential,
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people mainly because they’d be wearing shirts of bands that I was into.« Hofer, Perpetual Conversions, S. 14. Vgl. Chris Forbes, Fudgeworthy. Interview with Charlie Infection, in: Metalcore Fanzine. So Label-Gründer Karl Walterbach in: David Gehlke, Systemstörung. Die Geschichte von Noise Records, Berlin 2017, S. 234. Neben Noise Records waren auch Labels wie Metal Blade oder Roadrunner bemüht, ihre Produkte im College-Radio durch Promotion bekannt zu machen und lernten auf diese Weise die Hosts und Sendungen kennen. Vgl. Schneider, Interview mit Monte Conner. Vgl. Greg Fulton, Massacre hopes underground is ticket to top, in: The Tampa Tribune, 23.05.1986, S. 53. Vgl. Infamous Butcher, Interview with Kam Lee. Vgl. Oliver Schneider, Interview mit Monte Conner, in: powermetal.de, 25.10.2005, URL: http://po wermetal.de/content/artikel/show-CONNER__MONTE__Interview_mit_Monte_Conner,5666-1.h tml (letzter Aufruf 17.05.2022).
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aus der sich die arrivierten Unternehmen bedienten und durch die sie am Puls der Zeit blieben. Das regional-ausgerichtete Informationssystem der Metal-Kultur in den USA, in dem nationale Multiplikatoren für den Underground weitgehend fehlten, stärkte geografisch engere Szene-Verständnisse und Regional-Labels, indem es lokale Kontaktnetzwerke räumlich festlegte, die dann über trans-lokale Mobilität ausgeweitet wurden. Einzig die nationale Distribution einiger Fanzines und das Tape Trading verfügten hier über eine trans-lokale Virtualität – die allerdings weder so früh noch so umfassend wirkte wie in der starken europäischen Magazininfrastruktur. Für das Verständnis davon, wer wo zu einer Szene gehörte, entschieden in den USA keine nationalen Narrative, sondern technische Sende-und motorisierte Fahr-Reichweiten. Anders als in Europa, wo Szenen und Sounds sowie die Kategorien ihrer Beschreibung »british«, »teutonic«, »norwegian« oder »swedish« waren bzw. wurden, entwickelten sich hier regionale bzw. bundesstaatliche Szene-Verständnisse von Florida, New York oder der San Francisco Bay Area – mit jeweils darunter angesiedelten starken lokalen Bezügen wie in Tampa, Pittsburgh, Buffalo oder Long Island. Rein flächenmäßig unterschieden sich die bundesstaatlichen Kategorien kaum von denen der europäischen Staaten, sie waren aber eben nicht »amerikanisch«.
6.1.7.2 Metal- Radio und -Fernsehen in Europa Im Kontrast zu den USA präsentierte sich die Radio-und TV-Verbreitung für die MetalKultur in Großbritannien als durchweg national-strukturiert469 – mit dem Vorteil einer flächendeckenden Reichweite, aber dem Nachteil einer geringen Spezialisierung, die den lokalen Stationen der US-Colleges erlaubte, neue musikalische Aufbrüche zu promoten. Für Fans wie Neal Kay oder Chris Tsangarides bildete Tommy Vance’s Friday Rock Show lange die einzige Spielzeit, die härtere Rock-Musik im nationalen britischen Radio erhielt.470 Für junge Musiker wie Brian Tatler galt daher »You’d listen religiously to Tommy Vance.«471 Ansonsten musste sich Heavy Metal in der hierarchischen und von der BBC kontrollierten britischen Sendelandschaft erst mühsam durchsetzen und war folglich nicht an neue, sondern an schon lange bekannte mediale Formate geknüpft.472 Bei The Old Grey Whistle Test, einer zwischen 1971 und 1987 auf BBC2 ausgestrahlten Sendung wurde einigen wenigen Bands wie Judas Priest eine Bühne geboten.473 Und bei Top of the Pops, dem BBC-Dauerbrenner seit 1964, kündigte sich der Wandel am Ende der 1970er Jahre an und führte dann in den frühen 1980er Jahren zu relativ konstanten Auftritten von Bands wie Iron Maiden oder Judas Priest.474 Auf BFBS moderierte Tony Jasper zwischen 1981 und 1985 die Heavy Metal Show, die ebenfalls im musikalischen Fahrwasser der NWOBHM verortet war, viel Hard Rock und AOR integrierte und organisatorisch mit 469 Für ein Bild eines herausgeforderten Zentralismus vgl. Simon J. Potter, This Is The BBC. Entertaining the nation, speaking for Britain?, 1922–2022, Oxford 2022; Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 187f. 470 Vgl. Neal Kay, in: Popoff, Wheels of Steel, S. 18. 471 Brian Tatler, in: Popoff, Wheels of Steel, S. 113. 472 Vgl. John Osborne, Radio Head. Up and down the Dial of British Radio, London 2009. 473 Vgl. Chris Tsangarides, in: Popoff, Wheels of Steel, S. 82. 474 Vgl. Halford, Confess, S. 114f., 132; Vgl. Interview Brian Tatler, 11.47-12.05 Min.; Vgl. Wall, Run to the hills (zu den Auftritten von Iron Maiden bei TOTP).
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Tommy Vance zusammenhing.475 Erst in den frühen 1990er Jahren erweiterte sich mit wachsender Senderzahl und der Präsenz von MTV auch die Reichweite des Extreme Metals. Alternative Programme im Radio und Fernsehsendungen wie Headbanger’s Ball oder Raw Power bezogen Songs und für kurze Zeit sogar Videos der Bands von Earache Records oder Peaceville Records ein.476 Innovationsfreudig war dieses System in den 1980er Jahren nicht und bildete, wenn überhaupt, vor allem jene Bands ab, die es bereits zu Charterfolg gebracht hatten. Dass sich der Metal-Underground letztlich überhaupt bei der BBC niederschlug, war auf eine personelle Anomalie der nationalen Sendelandschaft zurückzuführen, nämlich auf John Peel (bürgerlich John Robert Parker Ravenscroft). Peel war dabei nicht exklusiv mit der Metal-Kultur verbunden, sondern eher eine Konstante der populärmusikalischen Entwicklung seit den 1960er Jahren: Früh in die USA gegangen, verschaffte ihm sein britischer Akzent im Rahmen der Beat-Invasion dort Aufmerksamkeit und nach erneutem Wechsel nach England und seiner Sendetätigkeit für das 1967 verbotene Piratenradio holte ihn die BBC zum neu gegründeten Pop-Sender BBC Radio 1, wo er genre-unabhängig mehrere Jahrzehnte lang Neuerscheinungen vorstellte.477 Peels Einfluss auf die Entwicklung der englischen Grindcore-und Death Metal-Bands ist vor dem Hintergrund der engen infrastrukturellen Grenzen im Radio kaum zu überschätzen. Er wohnte in Ipswich, und damit im mittelenglischen Kernland dieser Sub-Genre, fuhr täglich etwa 100 Meilen zur Arbeit nach London und hörte die eingesendeten Tapes während der Fahrt. Fand er Bands speziell und interessant, lud er sie ein, bei den nach ihm benannten Peel Sessions zu spielen. Demo-Tapes durften im Radio nicht ausgestrahlt werden und er ermöglichte den Bands daher, meist vier Songs live in London einzuspielen – wobei wenig auf Produktions-Finesse geachtet wurde –, die er dann bei BBC Radio 1 vorstellen konnte.478 Solche Peel Sessions, die später teilweise veröffentlicht wurden, absolvierten unter anderem Napalm Death, Heresy, Carcass, Bolt Thrower, Doom, Extreme Noise Terror, Unseen Terror, Godflesh oder Melvins – zuvor aber auch Deep Purple (1968/69), Led Zeppelin (1969/71), Rory Gallagher (1973), die Proto-NWOBHM-Band Budgie (1976), Motörhead (1978), PunkBands wie The Damned (1978/79) oder Joy Division, und letztlich viele andere spätere Stars wie Nirvana, Queen, The Who, The White Stripes oder Depeche Mode.479 Peels eklektische und aktuelle Herangehensweise stellte für viele Hörer im zentralistischen BBC-System jene Leistungen zur Verfügung, die in den USA die College-Stationen übernahmen. Ohne seine Show – so schätzen dies etwa Bill Steer (Carcass) oder Gavin Ward (Bolt Thrower)
475 Jasper war zuvor mit Sendezeiten bei BBC Radio 1 und Radio 2 hervorgetreten. Vgl. Interview von Frank Stöver mit Tony Jasper, 18.05.2014, URL: http://bfbs-radio.blogspot.com/2014/05/interviewwith-tony-jasper-host-of-bfbs.html (letzter Aufruf 17.05.2022). 476 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 203f. 477 Vgl. John Peel/Sheila Ravenscroft, Memoiren des einflussreichsten DJs der Welt, 2. Aufl., Berlin 2007; Vgl. auch die Würdigung bei Osborne, Radio Head. 478 Vgl. Interview Shane Embury, 13.05-13.15 Min: »… because of the DJ, RADIO 1 DJ John Peel, he was the one that really spearheaded the English punk-grind movement, you know. That’s were things started to change in England, because of him.« Zu den Fahrten aus Ipswich vgl. ebd., 15.20-15.45 Min. 479 Vgl. Liste der Peel Sessions, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Peel_Sessions (letzter Aufruf 17.05.2022).
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ein480 – hätten viele spätere Fans nie einen Erstkontakt aufbauen können, während Paul Halmshaw besonders an den Peel Sessions schätzte, dass dabei alle Bands dieselben produktionstechnischen Voraussetzungen erhielten und das Format dadurch wie ein echter Bandvergleich wirken konnte.481 Eine ähnlich zentrale Struktur, die mit dem Handeln weniger Akteure verbunden war, wies auch Schweden auf. Im Radio stellte die zwischen 1984 und 1989 erscheinende Sendung Rockbox von Pär Fontander im Grunde die einzige Möglichkeit dar, mit Heavy Metal in Kontakt zu kommen. Zentrale Musiker des schwedischen Death Metals gehörten zu seinen Hörern und suchten in den vorhandenen Plattenläden gezielt nach den Bands, die er vorgestellt hatte.482 Fontander spielte als erster Slayer und Anthrax in Schweden und interviewte den schwedischen Szene-Pionier Quorthon (Bathory) im Radio. Bis zum Ende der 1980er Jahre blieb er damit der einzige landesweite Vermittler und wurde dann von regional bedeutenden und stärker am Underground orientierten Sendungen wie Power Hour (Becirovic/Sandberg) in Norrköping unterstützt.483 Auch im Fernsehen waren die Bemühungen mit Anders Tengner auf einen einzigen Multiplikator zurückzuführen, der neben seiner Tätigkeit für die Magazine OKEJ und Rocket ab 1984 auch im schwedischen TV durch Sendungen wie Norrsken, Metalljournalen oder Metropolis auftrat.484 Ebenso wie John Peels oder Tony Jaspers Sendungen, die über BFBS etwa in Deutschland ausgestrahlt wurden, überschritt auch Tengner mit Norrsken nationale Grenzen und wirkte nach Norwegen, wo weder Magazin-noch TV-Strukturen und nur sehr wenige rocklastige Radio-Sendungen existierten.485 Dass die wenigen Radio-und TV-Formate aus Großbritannien, Schweden oder Deutschland (siehe auch den Einfluss von Rock Pop in Concert (ZDF) in Schweden und Norwegen) in Europa sogar transnational wirkten, verweist auf ein empfundenes Bedürfnis nach subkulturell relevanten Medien, die vor allem der Heranführung an die Metal-Kultur dienten. Denn der Medienkonsum veränderte sich auch bei Metalheads mit fortschreitender Kindheit und Jugend: In einer schwedischen Studie von 1990 erwiesen sich Platten/CDs/Kassetten erst für die Gruppe der 15–24-jährigen Befragten als relevanteste Medien, während in der Gruppe der 9–14-jährigen klar das Fernsehen und in der Gruppe der 3-8-jährigen klar das Fernsehen und das Radio dominierten.486 Spezialisierte Plattenläden, der Kauf von Platten, das Tape Trading, der Konsum von
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Vgl. Kristiansen, Slayer 7 (1989), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 174, 179. Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 79. Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 48f. Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 123. Vgl. ebd. Vgl. Interview von Frank Stöver mit Tony Jasper, 18.05.2014, URL: http://bfbs-radio.blogspot.com /2014/05/interview-with-tony-jasper-host-of-bfbs.html (letzter Aufruf 17.05.2022); Beschwerden über die fehlende Metal-Infrastruktur in Norwegen und einer Orientierung am Ausland äußerten beispielsweise Kristiansen (Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 52) oder Stubberud (Stubberud, The Death Archives, S. 81); Zur Drohung der Mayhem-Musiker an Anders Tengner vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 123. 486 Vgl. Cecilia von Feilitzen/Keith Roe, Children and Music. An Exploratory Study, in: Keith Roe (Hg.), Popular Music Research. An anthology from NORDICOM-Sweden, Göteborg 1990, S. 53–70, hier S. 60–62.
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Fanzines oder der Besuch von Konzerten, die allesamt zu älteren Jugendlichen und auch zum Metal-Underground tendierten, waren anscheinend an andere mediale Formate geknüpft als die »becoming-a-fan«-Phase, in der relevantes Wissen über Sounds, Bands und Zusammenhänge erst erworben werden musste. In den USA wurde dieses Wissen eher gehört, in Europa dagegen eher gelesen – mit einer allerdings wichtigen Einschränkung: Denn in der DDR war es gerade das Radio, dessen schwere Kontrollierbarkeit die Fans mit Informationen und den neuesten Bands und Songs versorgen konnte. Leider existieren keine entsprechenden Forschungen zur westdeutschen Sendelandschaft, die das differenzierte Bild für die DDR487 erweitern und verflechten könnten. Mit Radiosendungen bei RIAS II, WDR, Hessen 3, Bayern 3, NDR 2 sowie TV-Shows wie Hard’n Heavy mit Annette Hopfenmüller bzw. Headbanger’s Ball stünden zahlreiche empirische Fälle zur Verfügung, an denen sich der szene-bildende Einfluss des Rundfunks im demokratischen Deutschland untersuchen und durch internationale Formate wie BFBS auch transnationalisieren ließe.
6.2 »Carving out a niche« – Szene- Bildung als Wettbewerb um Aufmerksamkeit 6.2.1 Vergemeinschaftung ex negativo – Szene- Grenzen und Szene-Gegner Während die bisher dargestellten Kommunikationsräume und -methoden Fans und Musiker lokal, trans-lokal und virtuell inkludierten, das Selbstverständnis als Szene situativ und eventisiert erzeugten und zur globalen Ausbreitung der Musik beitrugen, existierte gleichzeitig stets ein regionalspezifisches Verständnis davon, wer nicht zur Szene gehörte bzw. wo diese endete. Diese Aus-und Abgrenzung war dabei für den Szene-Zusammenhalt genauso wichtig wie die Vernetzungsmethoden, weil das stigmatisierte popkulturelle Gegenüber eine wesentliche szenische Orientierungsfunktion bot, ästhetische Richtlinien vorgab und räumliche Trennungen forcierte. Zu wissen, wer man als Metalhead war, resultierte also immer auch aus dem Wissen darum, als wer man nicht wahrgenommen werden wollte.488 Szenen brauchten Gegen-Szenen, die sich mit geografischen Grenzen verbinden konnten, aber nicht mussten, und die in ihrer Beziehung keineswegs stabil zueinander waren. Konkurrenzen hatten bestimmte Konjunkturen, wurden nicht immer von allen Akteuren gleichermaßen geteilt und konnten – das machte das Kapitel zum Crossover deutlich – auch spürbar abnehmen und in gegenseitige musikalische und soziale Beeinflussungen münden.489
487 Vgl. Nikolai Okunew, Red Metal. Die Heavy-Metal-Subkultur der DDR, Berlin 2021, S. 107–149; Vgl. Wolf-Georg Zaddach, Heavy Metal in der DDR. Szene, Akteure, Praktiken, Bielefeld 2018, S. 180–188. 488 Vgl. Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, S. 22, 215 (implizit); Vgl. Wallach/Levine, I want you to support local metal, S. 119f.; Vgl. Peterson/Bennett, Introducing Music Scenes, S. 8. 489 Die Regionalspezifik solcher Einflüsse wird etwa an der engen Verbindung der Metal-Szenen in Kalifornien und Florida mit der Skater-bzw. BMX-Szene deutlich, die keinerlei europäische Entsprechung hatte. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 233; Vgl. Kristiansen, Slayer 5 (1987), in:
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So grenzten sich Metal-Bands besonders in der Frühphase des Genres in den 1970er Jahren von »alten Gegnern« in anderen Jugendkulturen ab, zu denen die Fans und Musiker in den 1980er und 1990er Jahren gar keinen Bezug mehr hatten. Obgleich sich einige spätere Metal-Musiker in ihrer Jugend dort verorteten, gehörte die Hippie-Bewegung zu diesen »alten Gegnern« – besonders bei jenen Musikern, die in den industriellen Zentren Englands aufgewachsen waren. Die »Flower Power« und das relaxte Hippie-Selbstverständnis passten beispielsweise in den Augen von Midlandern wie Rob Halford oder Ozzy Osbourne weder zur regionalen Optik noch zum regionalen Menschenschlag und Halford resümierte: »There’s a certain downbeat, even dour element to the Black Country nature that declines to get swept away by hippy dreams and flower power.«490 Ob man gleich so weit gehen sollte, die Genese des Heavy Metals an eine vermeintliche Post-Hippie-Ernüchterung der 1970er Jahre zu knüpfen, ist dennoch fraglich, denn wie gesagt bestanden unter den Musikern aus anderen Regionen personelle Kontinuitäten und bestimmte ästhetische Einflüsse während des Jahrzehnts weiter – doch ließ sich die Diskrepanz zu den Hippies eben sehr gut zur Abgrenzung instrumentalisieren. Auch hat sich das Narrativ einer aus dem Scheitern der Jugendkulturen der 1960er Jahre hervorgegangenen Heavy Metal-Kultur als Bärendienst für deren Erforschung erwiesen und permanent hedonistische und eskapistische Aspekte genreübergreifend verallgemeinert.491 Eine weitere scharfe Grenze zogen Heavy Rocker und später der Heavy Metal gegenüber der Disco-Bewegung. Der Schwerpunkt dieser gegenseitigen Abgrenzung lag in New York, wo das »Disco-Sucks-Movement« auf eindeutigen T-Shirt-Botschaften kommuniziert wurde und aus Sicht von Beobachtern wie Scott Ian beinahe die Qualität einer politischen Kampagne annahm.492 Noch 1985 wählten Slayer für einen Konzert-Film als Ort das Studio 54 und ließen das Video mit einem John Travolta aus Saturday Night Fever beginnen, der in Flammen aufgeht.493 Und auch in Deutschland hieß es in einem Konzertbericht eines Auftrittes von Sodom im Jugendhaus Emscher (1.12.84): »Als dann die beste und schnellste deutsche Gruppe, nämlich SODOM, anfing, verließen schlagartig 50 der 70 Zuschauer den Raum, das waren wohl Typen, die hauptsächlich QUEENSRYCHE oder ähnliche Wichse wie Disco hören.«494 Das Zitat macht in seiner Mehrfachnennung deutlich, dass Grenzen sowohl zu anderen Jugendkulturen gezogen als auch in der Metal-Kultur selbst abgesteckt wurden. Im Fall des Sodom-Konzerts vermengte der Autor das vorzeitige Verlassen des Konzerts mit einer vermeintlichen Vorliebe für Disco, aber auch für die Progressive Metal-Band Queensryche und damit mit einem Produkt, das im Ruf stand, nicht mehr der rohen Härte des Undergrounds zu genügen und das überdies Major Label-Support besaß (seit 1984 bei EMI).
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ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 97; Vgl. Dubin (Reg.), Murder in the Front Row, 06.30 Min. (Bonusmaterial); Vgl. Moses/Pattison, Glorious Times, S. 23. Halford, Confess, S. 38. Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 13 und darauf aufbauend ff.; Das bei Weinstein gezeichnete Bild eines Bruchs in der amerikanischen »counter culture« um 1970 auch bei Christopher Gair, The American counter culture, Edinburgh 2007, passim. Vgl. Ian, I’m the man, S. 24. Vgl. Ferris, Slayer 66 2/3, S. 81. Battlefield 3 (1985), S. 9.
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Die Inklusionswirkung der Metal-Szenen in den 1980er Jahren rekurrierte sehr oft auf dieses empfundene Feindbild aus Kommerzialisierung und vermeintlicher musikalischer Verweichlichung – was sich prototypisch in der Konkurrenz von Thrash und Death Metal mit dem artikulierte, was seine Underground-Kritiker »Cock Rock«, »Poser Rock«, »Hair Metal«, »Pop Metal« oder »Glam Metal« nannten. Dieser galt, medial kanalisiert vor allem durch Musikvideos, als alles, was Extreme Metal nicht sein sollte: Androgyne Musiker, Video-Clips bei MTV, die Zurschaustellung von Luxus, charts-orientierte Produktionen und das Engagement mit den Major Labels.495 Die »Poser« galten als affektiert, unmännlich und prinzipienlos und prägten in dieser Weise erzählt die Entstehung der Thrash-und Death Metal-Szenen der USA und auch in Europa nachhaltig. Dafür war auch eine mehrjährige Parallelität verantwortlich, die die Transgression des Extreme Metals permanent in räumlichen Kontakt mit den kommerziell wesentlich erfolgreicheren Glam Metal-Bands brachte – Abgrenzung konnte sich dadurch im Laufe der 1980er Jahre in Kalifornien, Florida und im US-Nordosten immer wieder neu entzünden, Vorurteile »bestätigen« und die eigene Szene-Inklusion stärken. In New Jersey erlebte Bob Petrosino dies als räumliche Trennung zweier Szenen vor Ort: »Toms River/ Jackson had a glam scene and a hardcore thrash scene; we stayed away from the glam guys. The glam guys were more successful.«496 Und Kelly Shaefer vermerkte hinsichtlich der einige Jahre später stattfindenden Szene-Bildung in Tampa: »Just like in L.A. […] an anger towards that and it just brewed up in Florida.«497 Doch waren diese Trennungen nicht von vornherein vorhanden, sondern das Ergebnis eines gemeinsamen sozialen Abgrenzungsprozesses, der sich vor allem bei Konzerten herauskristallisierte, bei denen Extreme Metal-Bands als Vorbands auftraten oder in Clubs spielten, in denen zuvor lediglich Glam Metal-Konzerte stattgefunden hatten. Aus Sicht der extremeren Herausforderer mündete das mangelnde gegenseitige Verständnis dabei in einen Schock-Moment der »Poser«, an den sich die Musiker noch heute mit diebischer Freude erinnern. Blacktask traten etwa in Philadelphia vor der bekannten GlamBand Cinderella auf, »and shocked a lot of their fans«498 und Dave Carr erinnert sich an einen Auftritt von Anvil Bitch mit der »butt-rock band called Buff The Musket« in einer typischen Mischung aus musikalischen und ästhetisch-genderspezifischen Aspekten: Seeing the faces of the Empire regulars, who consisted of dudes dressed all glam like the chicks all standing there, jaws dropped as we opened with Hit the lights or Black Magic, I can’t remember but it was priceless they all looked like someone was holding turds under their noses!! And we loved it!499
495 Vgl. Stuart Lenig, The twisted tale of glam rock, Santa Barbara 2010; Vgl. Dietmar Elflein, Willkommen im Dschungel – Glam, Hardcore und Metal in Los Angeles, in: Dietrich Helms/Thomas Phleps (Hg.), Sound and the city. Populäre Musik im urbanen Kontext, Bielefeld 2007, S. 125–140; Vgl. als Lite Metal auch bei Weinstein, Heavy Metal, S. 45–48 und passim. 496 Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino. 497 Interview Kelly Shaefer, 10.18-10.29 Min. 498 Forbes, Blacktask. Interview with Warren Appleby. 499 Forbes, Anvil Bitch. Interview with Dave Carr.
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Gemeinsame Konzerte waren also Selbstvergewisserungsmomente ex negativo und auch die späteren Death Metal-Musiker in Pittsburgh und New Jersey verwiesen auf frühe Auftritte in »Glam Clubs«, bei denen wenige der Hörer Verständnis zeigten, es aber auch immer wieder einige »Klicks« bzw. »Konvertierte« gab.500 Das dabei angewandte Narrativ der »Überläufer« symbolisiert wie kaum ein anderes die sozialen Vorteile für eine junge Szene, wenn sie auf eine Gegen-Szene Bezug nehmen konnte. Der heftigste Abgrenzungsreflex zwischen Glam und Thrash entwickelte sich aber in Kalifornien und profitierte dabei davon, dass dort zwei gegensätzliche Szenen in zwei als gegensätzlich wahrgenommenen Städten dominierten. Anders als im Osten des Landes oder im Ruhrgebiet, wo sich Rivalitäten zwischen Bands aus New York und New Jersey, Philadelphia und Washington, Maryland und Virginia oder Dortmund und Essen durchaus zeigten,501 aber dadurch abgefedert wurden, dass hier geographische bzw. politische Grenzen eine entstehende Szene durchschnitten, verknüpfte sich der Hass zwischen »Thrashern« und »Posern« an der Westküste mit dem Narrativ der Städtekonkurrenz von San Francisco und Los Angeles. Los Angeles hatte San Francisco bereits 1920 in der Einwohnerzahl überholt, stand aber politisch, kulturell und wirtschaftlich noch länger im Schatten der nördlicheren Metropole. Mit der großen Krise des Silicon Valley ab 1985 änderte sich dies: Der steigenden Arbeitslosigkeit und den sozialen Problemen (siehe Kap. 3) in San Francisco stand die vermeintliche Entwicklung Los Angeles’ zum Finanzzentrum entgegen, die noch dazu mit einigen symbolischen Angriffen auf den Nachbarn einherging. Schon 1981 war das NFLTeam der Oakland Raiders nach Los Angeles gezogen, im Süden investierte man massiv in den kulturellen (vor allem musealen) Sektor, um den empfundenen Rückstand aufzuholen und mit Ronald Reagan besaß das Land einen Präsidenten (1981–89), der durch seine berufliche Vergangenheit, Neoliberalität und seinen Konservatismus schon als Gouverneur von Kalifornien eher in Los Angeles verortet wurde.502 Dass schließlich Los Angeles zwischen 1990 und 1994 einen noch viel massiveren wirtschaftlichen Einbruch erlebte, änderte an den Jahren der Szene-Bildung in Kalifornien nichts: Sie standen unter dem Eindruck, dass San Francisco seine Führungsrolle im Bundesstaat verliere.503 Die Szene-Erzählungen der San Francisco Bay Area haben diesen Konflikt stets aufgenommen und als eine Hintergrundfolie für die scharfe Trennung vom Glam Metal ver500 Vgl. Aussagen von Mastro, McEntee und Dolan, in: The Latem-Files, Min. 36–38. 501 Vgl. Interview Lackaw/Klink, Z. 123–135; Vgl. Stöver, Exmortis. Interview with Chris Wiser, in: Voices from the Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/exmortis/ (letzter Aufruf 18.05.2022); Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 15 (McEntee), 124 (Stevens); Vgl. Forbes, Solitude. Interview with Keith Saulsbury; Vgl. Interview Alex Bouks, Z. 16–19. 502 Bereits in seiner Kampagne zur Gouverneurswahl 1966 versprach Reagan, »to clean up the mess at Berkeley« und auch seine weitere Korrespondenz zeigte deutlich, wie er zu den studentischen Handlungsweisen und dem Spirit der Bay Area stand. Vgl. Ronald Reagan on the unrest on college campuses, 1967, URL: https://www.gilderlehrman.org/history-resources/spotlight-primary-s ource/ronald-reagan-unrest-college-campuses-1967 (letzter Aufruf 18.05.2022); Vgl. auch Jeffrey Kahn, Ronald Reagan launched political career using the Berkeley campus as a target, 08.06.2004, URL: https://www.berkeley.edu/news/media/releases/2004/06/08_reagan.shtml (letzter Aufruf 18.05.2022). 503 Vgl. Walker, Another round of globalization, S. 78f.; Vgl. ders., California Rages Against the Dying of the Light, S. 44f.
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wendet, der ausschließlich auf dem Sunset Strip von Los Angeles verortet wurde. Dabei sind zwei Kern-Komponenten dieses Narrativs auszumachen, die Bezug auf den Städtekonflikt nahmen: Zunächst wurde Los Angeles als die Bastion der Musikindustrie dargestellt und schroff von einer vermeintlich weltoffenen DIY-Idylle der Stadt der Blumenkinder abgegrenzt. Sowohl wissenschaftliche wie populäre Veröffentlichungen reproduzierten dieses Bild eines Konflikts zwischen dem kommerziellen Ausverkauf von L.A. und der freundschaftlichen Underground-Atmosphäre in der Bay Area.504 Zweitens verknüpfte man diese Perspektive mit zwei Beispielen wichtiger Bands, die dem vermeintlichen Glam-Sell-Out in L.A. trotzten und entgegen aller kommerziellen Vernunft nach San Francisco gingen: So wanderten Metallica 1982 nach Norden aus, weil sie sich in L.A. musikalisch nicht angenommen fühlten.505 Diese Aussagen halte ich für glaubwürdig – doch gehen die landläufigen Interpretationen dieser Entscheidung weit über den musikalischen Bereich hinaus und spannen die heute erfolgreichste Metal-Band der Welt nachträglich in die DIY-Kommerz-Dichotomie von L.A. und San Francisco ein, als ob die Bay Area eine kommerzialisierungsfreie Zone gewesen wäre.506
Abb. 53: Vor der »Umwidmung« – »Metallica from L.A.« spielen beim »Metal Monday« in San Francisco für weniger als vier Dollar.
The San Francisco Examiner, 28.11.1982.
Die andere Band war Slayer, die zwar nicht dauerhaft nach San Francisco zogen, aber ab 1984 sehr oft dort spielten, bis ihr Tourmanager schließlich festhielt: »They became, effectively, a Northern California band.«507 Auch Slayers Musik schien nach Ansicht der Akteure besser in die Bay Area zu passen, doch ist ihre Erwähnung in den Szene-Erzählungen nicht so sehr mit dem Kommerzialisierungsgedanken verbunden wie bei Metallica, sondern eher mit einer Anekdote, die ein weiteres Element in der Thrash-Glam504 Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 64; Vgl. Fellezs, Voracious Souls. 505 Vgl. Slagel, For the sake of heaviness, S. 36–42; Vgl. Wall, Enter Night, S. 94f. 506 Christe, Sound of the Beast, S. 65: »It was bold for a band as ambitious as Metallica to abandon the Los Angeles music industry, but San Francisco clearly had the fans, and Metallica invested in its relationship with them.« 507 Ferris, Slayer 66 2/3, S. 37.
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Konfrontation der beiden Städte betont: Denn Slayer spielten ihre ersten Konzerte im Norden noch mit Make-Up, was ihrer musikalischen Ausrichtung (die Band bezeichnete sich zunächst als Black Metal) durchaus entsprach, von den Fans in San Francisco aber als Ausdruck ihrer Herkunft aus L.A. bewertet wurde. Schminke galt als affektierter Ausdruck einer stets feminisierten L.A.-Szene um Bands wie Quiet Riot, Dokken, Ratt oder Motley Crüe und nachdem die Band bemerkte, dass man sie dafür in San Francisco belächelte und kritisierte, trug sie diese nie wieder auf.508 Das zu dieser Zeit heraufziehende Feindbild der »Poser« aus L.A. war also nicht nur kommerziell rückgratlos, sondern auch mit dem Stigma der femininen Verweichlichung versehen und die Existenz der »Hair Bands« veranlasste beispielsweise Kerry King (Slayer) zu der Schlussfolgerung: »For us, no scene existed in LA.«509 Der Stadtvergleich in der Szene-Bildung war natürlich eine drastische Komplexitätsreduktion. Nicht nur stammten die Bands nicht aus den beiden Städten, sondern aus der East Bay oder aus Orange County und wurden durch die Szene-Label urbanisiert – auch ließ man die Einflüsse der jeweils anderen Seite in der Stadt gerne außen vor. Mit Dark Angel, Slayer, Megadeth, Hirax, zahlreichen Hardcore-Punk-Bands, stark frequentierten Spielstätten, Indie Labels und Plattenläden besaß auch Los Angeles mit seinem suburbanen Umland eine starke Extreme Metal-Infrastruktur, die sich fernab jeden Major Label-Einflusses organisierte. Was L.A. jedoch nicht hatte, war eine medial kanalisierte Aufmerksamkeit für diese Infrastruktur und Äußerungen wie jene von Katon de Pena (Hirax) von 1984 lavierten bei der Bewertung von L.A. offensichtlich zwischen vermeintlicher Langeweile und dem Wunsch, die eigene Heimatstadt doch nicht so negativ darstellen zu wollen: Down here in L.A., boredom county, we do just parties, to make money, to get back up to San Francisco. That’s where the thrashers are at. We want to play down here, because there are some bangers down here. No matter how much people slag off L.A., there are some real bangers here!510 Eine starke Vereinfachung war der Stadt-und Szene-Vergleich auch, weil Glam und Thrash in beiden Städten auf eine längere gemeinsame Praxis zurückblicken konnten, durch die die Abgrenzung erst entstehen konnte. Denn Glam Metal war auch in San Francisco das ältere Phänomen und zunächst dominant. Es handelte sich nicht um den Konflikt fertiger Stile, sondern vor allem im entstehenden Thrash Metal zogen sich Spandex, Make-Up und Posing in den frühen 1980er Jahren zurück, während die Geschwindigkeit und Härte der Musik wie auch das härtere Selbstverständnis im zeitgleichen Kontrast zum Glam Metal entstanden. Gary Holt meinte in einem der wenigen reflektierten Momente, die nicht vom Poser-Hass der Band Exodus durchzogen waren: »I think the thrash bands and the hair metal bands needed each other. We were mutual enemies, and it gave us ammunition.«511 In der kontingenten historischen Situation
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Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 108; Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 237. Slagel, For the sake of heaviness, S. 53. Vadim Rubin/Jon Nieto, Brain Damage 1 (1984), Long Beach, CA, o. S. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 192.
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der Mitte der 1980er Jahre bestanden demnach auch wesentlich mehr Kontakträume und Parallelitäten, als dies die spätere Erzählung nahelegt. Holt sagte beispielsweise weiterhin, dass man die »Hair Bands« sogar gleichzeitig hasste und bewunderte, denn ihre Konzerte zogen stets deutlich mehr weibliche Fans an als im Thrash Metal.512 Er und seine Freunde gingen daher auch zu den entsprechenden Konzerten und versuchten dadurch ein Defizit auszugleichen, dass auch Scott Ian bei Anthrax verspürte. Er zollte den Glam Metal-Bands 1988 in einem Interview mit der Los Angeles Times sogar Respekt: »A few years ago we’d be lucky to have a few girls at our shows. Now there are lots of them. Those pop-metal bands have brought in the women to metal. I can’t complain about that.«513 In San Francisco spielte sich daher um 1983/84 etwas ab, was 1979/80 in England bereits geschehen war und sich um 1989/90 wiederholen sollte: In der sozialen Konfrontation eines älteren und akzeptierten sowie kommerziell erfolgreichen Stils mit einem Abgrenzungswunsch jüngerer Musiker und Fans schälte sich ein neues Sub-Genre heraus, das sich von den einstigen Einflüssen immer stärker distanzierte. Dies geschah gemeinsam, weshalb die starre Dichotomie der Szene-Narrative in der Historisierung auch stets wesentlich prozessualer ausfällt. Unter den Musikern kam dieser nötigen Anpassung bisher Chuck Billy (Testament) am nächsten, der zwar ebenfalls das falsche Bild einer Glam-freien Bay Area und eines Thrash-freien L.A. bemüht, dieses Narrativ aber als Folge eines sozialen Prozesses bewertet: In the eighties, San Francisco was known for its glam bands, too. So, when metal was rising in the Bay Area, the whole theme for us was ›kill posers‹, and to us, the posers were the guys that were into glam. I think our crazy, young madness and all our threats eventually drove all the glam out of San Francisco, and that’s why San Francisco rose as more of a thrash metal center. The glam bands went to LA.514 Die Praktiken, mit denen die dabei entstehende Thrash-Szene ein Feindbild ausbildete, sind Bestandteil vieler Anekdoten geworden und waren überaus vielfältig, einfallsreich und schwankten zwischen Humor und Gewalt. Bands, die nicht den Anforderungen des Publikums entsprachen, erlebten, dass sich die Anwesenden kollektiv umdrehten und den Musikern ihre Backpatches zuwandten – ein Zeichen dafür, dass sie nicht für diese Band gekommen waren.515 Songtitel hießen »Posers Will Die!«, Fanzines No Glam Fags, T-Shirts wurden durch die »Szene-Polizei« des Slay Teams eingezogen und zerschnitten, frisierte Haare hinterrücks am Tresen abgeschnitten, und Comics davon angefertigt, wie die Thrasher die »Poser« zu Tode traten.516 Das Vorgehen radikalisierte sich dabei mit der zunehmenden Distinktionsspirale, die durch MTV-Videos ab 1983 befeuert wurde und alles zu bestätigen schien, was die Thrasher ohnehin »schon lange wussten«. Für die Fans von Glam Metal-Bands wurden 512 513 514 515 516
Holt: »We always went to the hair band shows because we knew that’s where the girls were. So, we appreciated them at the same time as we hated them.« Ebd. Dennis Hunt, Anthrax – Thrashing for Metal Money, in: Los Angeles Times, 27.03.1988, S. 394f. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 193. Vgl. Dubin (Reg.), Murder in the Front Row, Min. 24. Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 169.
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die Clubs in San Francisco Mitte der 1980er Jahre gefährliche Räume, für die Thrash Metal-Szene war die Gemengelage dagegen hervorragend geeignet: Die Szene in der San Francisco Bay Area konnte ein derartig starkes und integratives Narrativ entwickeln, weil ihr die »Reconquista« geglückt und die Stadt von den »Posern« befreit worden war. Tatsächliche soziale Komplexität wurde dabei reduziert und Zugehörigkeiten verabsolutiert. Grautöne wie Übertritte zwischen den »Lagern«, stilistische Beeinflussungen, multiple Loyalitäten und ein kommerzieller Erfolg, an dem in Wahrheit alle interessiert waren, wurden dabei übertüncht und ein dominantes Identitätsnarrativ erzeugt, das Szene-Raum, Szene-Musik, Szene-Ästhetik und Szene-Habitus homogenisierend in die Denkfigur des »Bay Area Thrash Metals« einlaufen ließ.
Abb. 54: Das Slay Team ruft zu »The Poser Wars« auf (1985).
Quelle: https://blog.bazillionpoints.com/2013/01/31/exodus-rare-poser-cr ushing-1985-slay-team-comic-resurfaces/ (letzter Aufruf 18.05.2022).
Ein solches Narrativ war ein sozial notwendiges Konstrukt, hatte aber mit der Verflechtung der Stile und Szenen in der regionalen Jugend zunächst nichts zu tun. Es war das Produkt einer medialen Deutungshoheit zentraler Szene-Akteure, die über geogra-
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fisch und musikalisch festgelegte Label versuchten, erfolgreich Aufmerksamkeit zu generieren und Stil-Nischen zu erkunden. Der Thrash Metal aus der Bay Area wurde dabei zum kommerzialisierbaren Alleinstellungsmerkmal, dessen Aufnahmekapazität begrenzt sein musste. Die Entscheidung, ob eine Band oder ein Fan zu diesem Konstrukt gehören konnte, lag in einer fluiden Mischung sozialer, geografischer, musikalischer und habitueller Aspekte begründet – und war vor allem medial vermittelt. Dies betraf den raschen Ablehnungsbescheid genauso wie die unerwartete Aufnahme in den exklusiven Kreis: Sadus, eine musikalisch lupenreine Thrash Metal-Band, kam jedoch aus Antioch (etwa 100 km von S.F. entfernt) und besaß nach Aussage der Musiker zunächst nur sehr wenige Anknüpfungspunkte an die Szene.517 Die Band war aber alt genug, um nicht als Trittbrettfahrer angesehen zu werden, im Tape Trading verwurzelt und war DIY-organisiert, sodass die Band letztlich gar keine andere Wahl hatte, als in die Szene integriert zu werden. Ihr Gitarrist Darren Travis wunderte sich daher: »We weren’t even considered Bay Area Thrash unless somebody asked about us or wrote about us. Then they would say SADUS is from the Bay Area. I mean we are one hour away from it.«518 Die Historisierung von Szenen und ihren Gegen-Szenen kann demnach dazu beitragen, Szenen nicht nur als Kommunikationsstrukturen, sondern als das von Aufmerksamkeitsinteressen geleitete Eingrenzen und Ausgrenzen in einem Narrativ zu beschreiben. Es handelt sich um »Selbst-Bildungen«, die die Szene erzählen und sozial wirksam werden lassen.519 An einen Raum gekoppelte Aussagen über gemeinsame Erfahrungen schaffen dabei Verständigungsgrundlagen, schließen aber gleichzeitig querliegende Phänomene sehr effektiv aus. Eines dieser Phänomene, das aus Szene-Erzählungen gerne herausdekliniert wird,520 aber wesentlich zum historischen Verständnis dieser zeitgeschichtlichen Form der Vergemeinschaftung beiträgt, ist die Konkurrenz innerhalb von Szenen.
6.2.2 Die Suche nach einer authentischen Nische Die Forschung hat in der Vergangenheit vor allem die »heaviness« hervorgehoben, wenn es um die Antriebsmomente und Distinktionswünsche von Bands ging. Jedes Sub-Genre verfolgte demnach eine noch weitergehende Steigerung musikalischer Extremität ge517
Steve Di Giorgio (Sadus): »We were doing our own thing before we really knew what the Bay Area scene was. We knew some of the bands but we didn’t know them all. I mean Antioch (60 miles/96 kilometers outside of San Francisco) is close enough to be part of the Bay Area scene but far enough out to actually have to make an effort to know what was going on. Specially back then, there were no fliers out here or anything. We were pretty isolated and doing our own thing.« Kristiansen, Slayer 20 (2010), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 688. 518 Ebd. 519 Vgl. Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist, Einleitung, in: dies. (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 9–30, hier Definition S. 23. 520 Vgl. James Hetfield, in: Dubin (Reg.), Murder in the Front Row, Min. 1 (Bonusmaterial), wo von einer »social unit« die Rede ist und er bemerkt »everyone was fighting for the bigger picture, heavy metal taking over the world«; Vgl. auch Ola Sjöberg (Macabre End): »I often thought of the Swedish death metal scene as one big hippie party, friendly and laid back.« Andreyuk, Tape Dealer, S. 136.
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genüber seinen Vorgängern.521 Diese musikalische Distinktionsspirale ist nicht von der Hand zu weisen und als grobe, übergeordnete Entwicklung definitiv vorhanden gewesen. Thrash Metal radikalisierte die NWOBHM-Einflüsse, Death Metal trieb den Thrash Metal weiter und Black Metal nahm eine Umcodierung von »heaviness« vor, um sich möglichst drastisch vom Death Metal abzugrenzen. Doch hat dieses Bild zwei Nachteile: Einerseits ist es genre-bezogen und lässt sowohl regionale Szene-Besonderheiten wie Überschneidungen und Gegenbewegungen außen vor. »Heaviness« droht daher ein »gefährlicher Prozessbegriff«522 zu werden, der historische Komplexität zu stark reduziert, um einen Wandel linear erzählbar zu machen. Zweitens adressiert der Begriff lediglich die Musik und vernachlässigt die soziale Distinktionsspirale, zu der eine Vielzahl nichtmusikalischer Aspekte und Methoden gehörte. Interpretiert man Metal-Szenen dagegen umfassender als Arenen der Aufmerksamkeitsgenerierung, hat Musik zweifellos immer noch einen wichtigen Platz, wird aber von der Transgression der Performance, der Körperlichkeit, der Inhalte und der Beschleunigung ihrer medialen Vermittlung begleitet. »Heaviness« hatte also viele Gesichter. Grundsätzlich entwickelten die Musiker unzählige verschiedene Formen, um in der wachsenden Masse der Künstler aufzufallen. Nur um einige Beispiele zu nennen: Songs wurden sehr lang oder sehr kurz und progressiven Zehn-Minütern standen Titel wie »You Suffer« gegenüber, in denen Napalm Death ihre Botschaft in nur einer Sekunde unterbrachten.523 Zwischen Drummern entbrannten regelrechte Geschwindigkeitskriege, Shows integrierten permanent neue Stilmittel, die frühen 1980er Jahre erlebten die Einbeziehung satanistischer Inhalte, um deren augenzwinkernde Bedeutung dann in den 1990er Jahren durch den Black Metal als ernsthafte Handlungsanleitung zu präsentieren.524 Musiker gaben sich teilweise sehr fan-nah, andere dagegen absichtlich asozial.525 Metal-Bands flirteten regional unterschiedlich mit politischen Inhalten. Und auch technologisch versuchte man, bestehende Grenzen möglichst zu überschreiten. Die Band Anal Cunt veröffentlichte 1989 etwa die »5643-Song«-EP – eine 7”-Vinyl, auf der jede Spur übereinander einen Song enthielt. 16 gleichzeitige Songs bedeuteten nicht nur einen Weltrekord von 5.643 Songs auf einer Platte, sondern garantierten auch Distinktion durch Unhörbarkeit.526 Rationalität durch »gute Qualität« war, das wird dabei klar, kein entscheidendes Kriterium mehr. In all diesen Beispielen artikulierte sich der Wunsch nach einer Wahrnehmung durch Andere als eigenständig, besonders und authentisch – also kurzum die Anerkennung als unverwechselbarer Bestandteil einer Szene, der eine Karriere begründen konnte, aber eben auch die glaubhafte Abgrenzung von bisher Vorhandenem, von regionalen Sounds,
521 Vgl. Berger, Metal, rock, and jazz, S. 58; Vgl. Herbst/Mynett, Nail the Mix, S. 629. 522 Vgl. Hans Joas, Gefahrliche Prozessbegriffe. Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung, in: Karl Gabriel/Christel Gärtner/Detlef Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, 2. Aufl., Berlin 2014, S. 602–622. 523 Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 32, 34. 524 Vgl. Stöver, Voices from the Darkside 9, in: ders. (Hg.), Voices, S. 12 (Venom). 525 Vgl. z.B. Stöver, Interview with Kam Lee, in: Voices from the Darkside Online. 526 Vgl. Alsleben, Mayhem Live in Leipzig, S. 86.
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von Sub-Genre-Stereotypen, von Labels und Kategorien, Praktiken und Selbstverständnissen. Dass es für das Szene-Renommee einer Band bis heute entscheidend ist, zu »den Ersten« gehört zu haben, verwundert daher nicht. Das spezifisch Neue bzw. als neu vermittelte besaß eine magische Anziehungskraft auf nachkommende Hörerschichten und wurde und wird entsprechend stark goutiert.527 Informationsvorsprung war dafür von unschätzbarem Wert und dies bedeutete in den frühen 1980er Jahren vor allem, über die englische Metal-Entwicklung auf dem neusten Stand zu sein. Die Bildung einer distinkten Nische als Band unterlag nämlich globalen Ungleichzeitigkeiten, die vom Vertrieb abhingen. Saxon, eine der wichtigsten NWOBHM-Bands, war in Europa bereits sehr erfolgreich, weil dort der Vertrieb über die WEA reibungslos ablief. In den USA bestanden aber zwischen ihrem Label Carrere und dem US-Distributor Warner Probleme und anstatt durch den Erfolg mehr anzufordern, vertrieb Warner lediglich 25.000 Platten und der restliche Bedarf auf dem riesigen US-Markt musste über private Importe gedeckt werden.528 Saxon erreichte die USA also nicht flächendeckend und auch nicht vollständig, sondern über punktuelle Eigeninitiative, deren Organisatoren stark zur regionalen Szene-Bildung beitrugen und deren Zurschaustellung umgehende Distinktion begründete. Brian Slagel betonte beispielsweise immer wieder, dass er Lars Ulrich in L.A. zum ersten Mal an einem SaxonShirt erkannte, und dadurch wusste, dass dies kein Mainstream-Fan sein konnte.529 In den USA ein Underground-Fan zu sein, setzte auch in der Folge starkes Engagement und gute Kontakte voraus und die importierenden Metalheads machten aus der distributiven Not eine soziale Tugend.530 Um an die Produkte gelangen musste man – so der Radiomoderator Eddie Trunk – »really freak for it«531 , intensive Bemühungen und auch Preise in Kauf nehmen, genoss aber auch Fan-Exklusivität. Dies wirkte bis in die Karrieren der Bands hinein und die neuesten Informationen zu erhalten, konnte bedeuten, Hörern Cover-Versionen zu präsentieren, die keine Eigenkompositionen waren, aber (selbst wenn dies bekannt war) dennoch die eigene Band mit aktueller Attraktivität verbanden. Einige US-Bands wie Metallica oder Exodus konnten dadurch auf dem Rücken der NWOBHM bekannt werden.532 Dass es sich dabei nicht um eine bloße Übernahme, sondern um eine Übersetzungsleistung handelte, die britische Produktionen neu bewertete, machte beispielsweise die Einordung der schottischen Band Holocaust durch Lars Ulrich deutlich. In der Heimat
527 Einen solchen Elitismus »der Ersten« kommunizierte beispielsweise Tomas Lindberg: »Later when some bands started to pop up it was a good feeling, we were not that alone anymore, but stupid enough, I think we felt some kind of elitism evolving as well, that’s we didn’t want to be part of it, it was not compatible to the underground spirit that we were raised in.« Kristiansen, Slayer 20 (2010), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 700; Vgl. zum Anspruch, die Ersten zu sein auch Chris Forbes, Nunslaughter. Interview with Don Crotsley, in: Metalcore Fanzine. 528 Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 133. 529 Vgl. Slagel, For the sake of heaviness, S. 6f. 530 Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 157. Matt, der Bruder von Mark Odechuck (Paineater) besaß eine Handels-Lizenz und bestellte die meisten Platten bei Important Distribution, Dutch East Trading Company, Greenworld, Toxic Shock oder Raunch Records direkt. 531 Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 98. 532 Metallica, Exodus, Immolation Bsp.
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nur wenig bekannt und kommerziell auch nicht sehr erfolgreich, gelangten ihre Songs wie »Heavy Metal Mania« in die USA und wurden in Kalifornien deutlich stärker rezipiert. Dass sich die Band heute einer gewissen Popularität erfreut, verdankt sie daher nicht ihrem nationalen Markt und ihr Gründer John Mortimer ließ die Amerikaner gern in ihrem kurzen Glauben, dass Holocaust in einer Liga mit Iron Maiden spielten: They thought, even Metallica thought, at the time that they were buying imports and stuff that we were probably in the same sort of league as Iron Maiden at the time. No! (laughs). But I suppose that’s one of the good things about having the Atlantic between us. You can’t really tell. As long as you’ve got a bit of a profile, nobody knows really what’s going on.533 Durch ein Informationsgefälle, das je nachdem, woher die Band stammte, in beide Richtungen vorhanden war, bildeten die USA und Europa zwei Märkte mit unterschiedlichen Aufmerksamkeitskonjunkturen, auf denen nationale Produktionen unerwartete internationale Folgen haben konnten. So existierten einige amerikanische Bands, die sich verwundert darüber zeigten, wie groß ihre Unterstützung in Europa ausfiel, während frühe deutsche Thrash Metal-Bands wie Kreator, Destruction oder Sodom in den USA umfassend bekannt waren und auf den jungen US-Hörer durch ihren Import vermutlich noch mehr Attraktivität ausübten als in der Heimat.534 Als Morbid Angel etwa von einer Europa-Tournee nach Florida zurückkehrten und dem Sänger der aufgelösten Band Massacre, Kam Lee, mitteilten, wie populär die Band dort sei, aktivierte er die Band mit Rick Rozz erneut.535 Und auch die Musiker der Death Metal-Band D.V.C. aus Tallahassee gaben in einem lokalen Zeitungsinterview an, dass sie in Europa wesentlich bekannter seien als in Florida.536 Ob eine Band eine eigenständige Nische fand, lag also mindestens genauso stark an der Frage, ob und wie dies kommuniziert wurde, wie an der musikalischen Qualität selbst. Was den USA dabei zunächst an Magazin-Landschaft und Szene-Qualität fehlte, machten regionale Netzwerke ab Mitte der 1980er Jahre dann durch Tape Trading, Fanzines und College-Radio wieder wett und erschufen ein Netzwerk, das noch viel schneller funktionierte als ältere Medien und auch nicht (direkt) von einer kommerziellen Agenda gestützt wurde. In den 1980er Jahren entstanden dadurch neue Nischen (d.h. unbekannte Sounds mit Vermarktungspotential) dort, wo sich dieser Informationsvorsprung bündelte, also besonders an den US-Küsten, teilweise in England und dann ab 1987 in Schweden. Das leitende musikalische Motiv dieser Erneuerung war in der Tat die »heaviness« und die Aussagen von Musikern über das Jahrzehnt zu begleiten heißt, eine Abfolge von Extremen und Schockmomenten für das uneingeweihte Publikum zu 533 Popoff, This Means War, S. 30. 534 Vgl. Küppers, Special. Metal im Pott. Andreas »Stoney« Stein dort: »Was in der Ferne liegt, ist immer interessant, das liegt doch in der Natur der Menschen. Ich habe in den Staaten schon so viele Kreator-und Sodom-Patches gesehen, so viele Living Death-oder Deathrow-T-Shirts, das glaubt man nicht. Da kommen Leute auf mich zu und fragen mich ehrfürchtig, ob ich wirklich den Tom Angelripper kenne [sic!] würde. Wir haben die mindestens genauso beeinflusst wie sie uns.« 535 Vgl. Infamous Butcher, Interview with Kam Lee. 536 Vgl. Mattila/Lahtinen, Isten 5 (1990), S. 84.
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rekonstruieren. Narrative der Überwältigung der Anwesenden, wie sie auch schon die NWOBHM-Musiker in den Working Men’s Clubs formuliert hatten, wiederholten sich nun mit schöner Regelmäßigkeit und Lars Ulrichs Aussage zur Wirkung der frühen Metallica in Los Angeles hätte auch von einer Band wie Raven aus Newcastle stammen können – nur, dass Metallica, um noch zu schocken, musikalisch extremer zu Werke gehen mussten: Clubs back then were basically for people to stand around and drink and fuckin' pick up on chicks and all that bullshit. All of a sudden, there was this band playing that was so intense that it required a lot more attention than this sort of lame, tame background noise, and a lot of people couldn’t really deal with that at the time. Also, we were completely uninterested in any visual approach whatsoever; I think we were the only ones in L.A. without lipstick.537 Der Bay Area Thrash Metal, dessen Wirkung Phil Demmel (Vio-Lence) von den schnelleren NWOBHM-Bands abgrenzte, indem er ein »high-performance demolition derby car« mit einem »Formula One racecar« verglich,538 und der die Live-Energie »almost to the point of annoying« steigerte, provozierte durch seine Kommerzialisierung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre dann neue Herausforderer, denen wiederum der Thrash Metal »too happy«539 war. Die DIY-organisierte Death Metal-Szene ermöglichte es suchenden Fans und Musikern wie Ross Dolan, Bands zu entdecken »that were darker and even more extreme.«540 Nur wenige haben die Intention dieser Distinktionsspirale unter den Musikern so deutlich ausgedrückt wie Trey Azagtoth (Morbid Angel), der zugab, andere Bands mit seinem Spiel »zerstören« zu wollen541 oder wie Chris Reifert, dessen inoffizielles Motto es mit Autopsy war, einer empfundenen Verweichlichung des Death Metals entgegenzuwirken, indem man immer »sicker« wurde.542 »Heaviness« erlebte besonders um 1990 noch einmal eine enorme Beschleunigung und in den regionalen Mischungen aus Death Metal und Hardcore Punk in Schweden und England traten Bands mit immer neuen musikalischen Brutalitätsansprüchen auf.543 Doch besaß die Transgression eine immer kürzere Halbwertszeit und ihr sozialer Gewinn war schnell wieder aufgebraucht. Einen Ausweg aus diesem Dilemma fanden temporär die norwegischen Black Metal-Musiker, die ab 1992 ihre Nische nicht mehr in der üblichen Logik der Distinktionsspirale fanden, sondern eine Umcodierung der »heaviness« vornahmen.544 Es ist deshalb generell wichtig zu betonen, dass die
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Jonathan Gold, Full Metal Racket. Metallica and the Art of Noise, in: LA Weekly, 08.12.1988, S. 61. Kitts, Chaos in a bottle. Interview with Phil Demmel. So Mike Usifer, in: Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer. Ross Dolan, in: Frasier, Possessed since dawn. Albert Mudrian, Precious Metal. Decibel Presents the Stories Behind 25 Extreme Metal Masterpieces, Cambridge 2009. 542 Vgl. Stöver, Voices from the Darkside 2 (1993), in: ders. (Hg.), Voices, S. 47. 543 Vgl. Leif, Interview with Urban Skytt, in: Carnage Death Metal, 2001, URL: www.carnagedeat hmetal.de/carnage/oldschool/bands/c/crematory_swe/interviews/Crematory_2001.html (letzter Aufruf 18.05.2022); Vgl. Henderson, Grave… and here I cry! 544 Vgl. Reyes, Blacker than death, S. 246f.
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oben beschriebene Spirale nicht ausschließlich auf eine Steigerung von Härte und Geschwindigkeit ausgerichtet war. Es bestanden viele andere Strategien und »heaviness« konnte sich auch erfolgreich durch progressive Entwicklungen ausdrücken (etwa bei Atheist oder Death), durch Rückzüge in die Langsamkeit forciert werden, wodurch die breite Schnittmenge von Death Metal und Doom Metal entstand (Derketa, Incantation, Paradise Lost, My Dying Bride usw.), starke Crossover-Tendenzen umfassen oder durch breaklastige und groovige Parts wirken (etwa im New York Death Metal mit Bands wie Suffocation). Hatten Bands einmal Alleinstellungsmerkmale entwickelt und durch Veröffentlichungen Aufmerksamkeit erfahren, rief die Dynamik der Suche nach »heaviness« schnell soziale Folgen hervor, die daraus resultierten, dass nicht alle Akteure jeden Sound gleich schnell »umarmten«. Bei Konzerten wiesen Booker beispielsweise den neuen Bands klassischerweise den Platz einer Vorband für etablierte Bands zu und taten den vermeintlichen Headlinern damit oft keinen Gefallen. So erinnert sich Marc Fischer, dass er Ozzy Osbourne 1986 auf seiner Tour als extrem langweilig empfand, weil Metallica die Vorband gewesen war, und einige Jahre später verließen nach den Auftritten von Death und Dark Angel die meisten Fans den Club, sodass der Headliner Raven vor wenigen Zuschauern spielen musste.545 Auch für Overkill war die Vorband Nuclear Assault eher eine Bürde – was durch fehlende Zeit für einen Soundcheck und absichtlichen Platzmangel kompensiert werden sollte –, und auch Agent Steel standen als Hauptact vor großen Motivationsproblemen, weil ihnen Nuclear Assault vorausgegangen waren.546 Einige Jahre später jedoch, als im Ritz und Marquee in New York (1991/92) Death Metal-Bands als Vorbands für die Thrash Metal-Bands eingesetzt wurden, waren Nuclear Assault dann die Leidtragenden und spielten nach Immolation, Suffocation und Gorguts vor beinahe leerem Haus.547 Die Musiker der neuen Bands waren sich über ihre Möglichkeiten dabei im Klaren: Schon Paul Di’Anno hatte getönt, dass Iron Maiden auf der gemeinsamen Tour den Headliner Judas Priest in den Schatten stellen würden,548 Slayer wollten die Tour mit W.A.S.P. nutzen, »to win their crowd over«549 und 1988 sprach eine kalifornische Regionalzeitung sogar von einem »battle of the heavy metals«, weil Anthrax als Vorband von KISS auftraten: »Anthrax won the battle between thrash and mainstream metal. Its aggressive songs about politics and teenage angst made KISS’s sex-rock seem pale in comparison.«550 Es gehörte zu den postmodernen Spezifika der Metal-Kultur, dass diese Distinktionsspirale zwar permanent neue Aufmerksamkeitsobjekte schuf, die früheren Einflüsse aber nie komplett aufgab. Viele Metalheads alterten mit ihren musikalischen Helden, behielten ihre Präferenzen bei und sorgten dadurch für ein Weiterbestehen vieler Bands. Wenn also Greg Saenz (Excel) formulierte »My generation of metalheads were burned out
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Vgl. Forbes, Marc Fischer. Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 57f., 62. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 129. Vgl. Neil Daniels, Iron Maiden, S. 26. Vgl. Kristiansen, Slayer 5 (1987), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 107. Lizz Fisher, The clash of the heavy metals. Anthrax in frenetic opener is fast act for KISS to follow, in: The Sacramento Bee, 30.03.1988, S. 67.
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on the NWOBHM by 1982 and looking for something more intense«551 oder andere vom Thrash Metal um 1990 als einem »Relikt« sprachen,552 meldeten sich hier die jüngeren Alterskohorten der Metal-Kultur zu Wort. Dieser »generationelle« Aspekt hatte große Bedeutung für die Orte, an denen sich neue Nischen entwickeln konnten: Denn in den meisten Fällen artikulierten sich diese dort, wo etablierte Sub-Genres oder Szene-Kategorien keine kommerzielle Macht hatten. Schweden, Florida und Norwegen hatten keine Thrash Metal-Welle erfahren und dienten jungen Bands als Testfeld, genauso wie die Thrash Metal-Hochburgen im Ruhrgebiet oder in San Francisco keine veritablen Death Metal-Szenen ausbildeten.553 Es existiert aber eine große Ausnahme dieser Regel, nämlich die Metal-Szene von New York/New Jersey, wo sich der soziale Übergang zwischen den Sub-Genres Thrash und Death Metal anhand einiger Akteure nachverfolgen lässt. Ed Farshtey erweist sich dabei als genauer Beobachter einer kontinuierlichen Gleichzeitigkeit verschiedener SubGenre, unter denen sich lediglich die mediale Aufmerksamkeit verschob: In New York, the thrash scene just sort of melded into the death metal scene, and even though we still loved our thrash bands, we were very much into death metal when it arrived. An Overkill show one night and an Obituary show the next. There was no separation in the scene yet, except for maybe when it came to hardcore and punk. Later on in the 90's, it became more divided, usually between what was left of thrash, black metal and death metal.554 Doch dürfte die von ihm attestierte Harmonie auch in New York nicht der Regel entsprochen haben, denn auf der Mikro-Ebene der Musiker und Fans war dieser Wandel keineswegs reibungslos. Als sich in Middletown die Death Metal-Band Morpheus aus jeweils zwei Mitgliedern zweier ehemaliger Thrash Metal-Bands formierte, war dies im Jahr 1990 für viele lokale Metal-Fans ein unerhörter Schritt und Rob Yench bemerkte »We quit our bands. Everybody hated us. Everybody talked shit on us.«555 Als einzige Death Metal-Bands im Umkreis spielte man als Vorband wichtiger Pioniere von außerhalb, stieg tief ins Tape Trading ein und war an der Gründungserzählung des Death Metals in den USA maßgeblich beteiligt – mit sozialen Folgen: Die einstigen Kritiker verstummten, begannen teilweise selbst, ihren Stil zu ändern und erzeugten eine soziale Dynamik, in der »everybody was kind of switch over.«556 Als Yench mit ab 1997 mit der Band Brimstone schließlich einen (für die USA sehr seltenen) Schritt in Richtung Black Metal unternahm, erlebte er dieses Phänomen erneut: Seine Freunde – so der Musiker – hassten es, meinten »Bathory rip-offs« zu erkennen und unter den neuen Kritikern waren auch solche, die ihn sieben Jahre zuvor schon kritisiert hatten.557
551 Anesiadis, Crossover the edge, S. 227. 552 Vgl. Chris Forbes, Insaniac. Interview with CJ Scioscia, in: Metalcore Fanzine. 553 Vgl. Rick Rozz, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 461; Vgl. Frank Albrecht, in: Krumm, Century Media, S. 30. 554 Netherton, Extremity Retained, S. 115. 555 Interview Rob Yench, 21.39 Min. 556 Ebd., 19.13 Min. 557 Vgl. ebd., 39.02-43.00 Min.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Der Übergang der Aufmerksamkeit und der Wechsel der Nische, der immer auch mit dem Verdacht des Trendhoppings verbunden war, gestalten sich also mit sozialen Spannungen, fanden aber in anderen Städten und Regionen des Nordostens gar nicht statt. Brian Werking (Exmortis) bemängelte, dass in Maryland »all the bands are negative about us playing«,558 weil in der Gegend der Thrash Metal dominierte, und Alex Bouks konstatierte für seine Band Goreaphobia in Philadelphia »We really were outcasts in our hometown.«559 Die Thrash-Szene verteidigte in diesen Fällen ihre Stellung und streute dafür unter anderem Vorurteile. So bemerkten Musiker wie Sharon Bascovsky oder Chuck Schuldiner etwa ein zähes Ressentiment der Thrash Metal-Musiker gegenüber dem Death Metal, das von deutlich geringeren technischen Qualifikationen ausging – und auf das Schuldiner durch seine technische Professionalisierung im Laufe der 1990er Jahre reagieren wollte.560 Dass sich solche Vorbehalte in New York und New Jersey anscheinend schneller abschliffen und einen Übergang ermöglichten, lag schließlich einerseits daran, dass dort eine herausragende Infrastruktur an Clubs und Plattenläden bestand, die ein Neben-und Miteinander erlaubte, und dass sich aktuelles Wissen aus den DIY-Netzwerken mit ansässigen »proto-markets« verbinden und kommerzialisieren konnte. Andererseits wirkten diese Voraussetzungen stark anziehend auf Musiker und Bands aus den umliegenden Bundesstaaten, sodass eine »Konvertierung« der lokalen Heim-Szene gar nicht nötig war.561 Nun konnte freilich nicht jede Band mit dem Status eines Szene-Pioniers aufwarten. Viel häufiger suchten Musiker enge musikalische und ästhetische Nischen in bereits etablierten Stilen und Sounds. Ihre Strategien machen dabei deutlich, dass Abgrenzung innerhalb von Szenen vor allem ein erzähltes Phänomen war. Im Kontakt mit den Kritikern bei Magazinen und Fanzines, gegenüber anderen Bands und vor allem den Labels, die entschieden, was originell und investitionstauglich war, wurde die vermeintliche Einzigartigkeit in einer Nische daher durch Narrative postuliert, die überhaupt keinen musikalischen Bezug haben mussten. Es handelte sich um Selbst-Promotion der eigenen Individualität, die andere überzeugen sollte. Bei dieser »niche«-Konstruktion562 unter dem Motto »Do not sound like any other band«563 war Einfallsreichtum gefragt und es zeigten sich empirisch verschiedene Erzähl-Strategien, die oft in Mischungsverhältnissen auftraten. Dabei versuchten im Grunde alle Bands, die Deutungshoheit über ihre eigene Kategorisierung zu erlangen. Es bestand dadurch die Aussicht, die soziale Verortung des eigenen Ichs zu steuern und an Label zu knüpfen, die eine positive und kommerziell erfolgreiche Besetzung versprachen. Die Parallelität von medialen und individuellen Kategorisierungen einer Band, die sich voneinander unterscheiden konnten, erzeugten bereits seit der NWOBHM ein schwer zu überschauendes Feld querliegender Ansprüche.
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McClelland, Deathvomit, S. 29. Andreyuk, Tape Dealer, S. 145. Vgl. Interview Sharon Bascovsky, 57.24 Min. Vgl. Interview Alex Bouks, Z. 16–19. Ross Dolan, in: The Latem-Files, 38.55 Min. Dolan weist hier darauf hin, dass das Finden einer Nische für die eigene Band eine zentrale Errungenschaft für ihn darstellte. 563 Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino.
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Eine englische Band wie Tank, zeitgleich mit der NWOBHM entstanden, lehnte die mediale Assoziation mit dieser Bewegung aufgrund musikalischer Unterschiede beispielsweise ab und entschied sich auch deshalb, von einer dreiköpfigen zu einer vierköpfigen Band zu werden, um den »Sons of MOTÖRHEAD‹ tag that the British press insisted on using«564 loszuwerden. In der Transgression der NWOBHM-Vorbilder wurde es dann noch unübersichtlicher und die Selbstverortungen als Black Metal (bei Slayer) und Power Metal (bei Exodus oder Metallica) mündeten schließlich in ein Thrash Metal-Label, das von den Bands akzeptiert wurde, während sich die ursprünglichen Bezeichnungen zu musikalisch wie national ganz anderen Kategorien entwickelten. Dabei hatten Musiker nur einen begrenzten Einfluss auf den Namen ihrer Marke, versuchten aber nichts desto trotz, eine möglichst eigenständige Einordnung ihrer selbst zu forcieren.565 Die große und weiter wachsende Menge von Nischen-Bezeichnungen in der Metal-Kultur zeugen von diesem anhaltenden Distinktionsdrang durch Selbst-Kategorisierung.566 Bands versuchten außerdem, sich von existenten Stereotypen und Sound-Konventionen abzugrenzen, indem sie sich als Konzept-Band verstanden wissen wollten. Für Johnny Hedlund bedeutete die Abgrenzung von der Stockholm-Szene (»we seriously wanted to walk our own path«567 ), dass sich die Band Unleashed sowohl über die Wahl eines neuen Studios und einen »dünneren« Sound, als auch durch ihre thematische Fokussierung auf die Wikingerzeit singularisierte. Ein Konzept musste aber nicht per se inhaltlich bestehen, sondern konnte auch einfach nur behauptet werden und man überließ dem Leser die Einschätzung. In einem ersten Beispiel postulierte Mark Adams von der Band Deceased ein solches Konzept, ohne zu spezifizieren, worin es bestand: But basically, we are out to be a death metal band who has some sort of story or concept behind it, and to play different from other bands. Too many bands stereotype death metal bands. We put a lot of thought into our concepts band wise and song wise.568 Auch ein zweites Beispiel von Calvin Robertshaw (My Dying Bride) macht deutlich, dass es sich beim Postulat der Konzept-Band eher um eine Distinktion ex negativo handelte – man das eigene Produkt also gegen stereotypisierte Massenware aufwertete: I think the lack of thought by people who are forming a band has tended to create a lot of bands using the same old cliches, and sounding the same. We, on the other hand, try to stay clear of the typical stereotypes.569 564 Vgl. Stöver, Tank. Interview with Mark Brabbs, in: Voices from the Darkside Online, URL: https:// www.voicesfromthedarkside.de/interview/tank/ (letzter Aufruf 18.05.2022). 565 Vgl. Sharon Bascovskys Selbstverortung als »Slow Death« und nicht als »Doom Metal«: Aleks, NCS interview; Vgl. Dan Lilkers Ärger über die Vergleiche von Brutal Truth mit Napalm Death: Interview Dan Lilker, 42.10 Min. 566 Vgl. eine der inoffiziellen Listen mit Metal-Kategorien sowie den (soziologisch noch interessanteren) Chat auf URL: https://silence-magazin.de/wirklich-alle-metal-genres-mit-beispielbands/ (letzter Aufruf 18.05.2022). 567 Interview Johnny Hedlund, Z. 41. 568 McClelland, Deathvomit, S. 11. 569 Ebd., S. 261.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Seine im Anschluss angeführten Gründe – Lyrics, kein Blast-Beat-Drumming, Brutalität durch Langsamkeit – beschrieben dagegen eine Nische zwischen Death und Doom Metal, in der bereits zahlreiche Bands konkurrierten. Der Anspruch, anders zu sein, bezog sich auch hier auf eine höchst selektive Auswahl von Gegen-Beispielen. Des Weiteren bestand eine Strategie mit quasi endlosem Potential in der Auswahl der Lyrics. Besonders um 1990 traten dabei einige Death Metal-Bands hervor, die die »typical gore/Satan/death lyrics« vermeiden wollten und Originalität im Fokus auf »Reales« erblickten, aber dennoch – wie hier bei Afflicted aus Stockholm – ihre Abgrenzung vom Hardcore Punk betonten, denn »we are not using our lyrics to preach though.«570 Dass auch diese Nische im Crossover längst bestand, war nebensächlich – anders sein bedeutete eher, sich als anders darzustellen. Der Verweis auf das Imaginäre dieser Konstruktion disqualifiziert sie nicht, sondern ist Ausdruck eines Eigenständigkeitswunsches in enger werdenden Grenzen, dessen Ambivalenz kaum eine Band so offensichtlich ausgedrückt hat wie Immortal aus Bergen. Über ihr Konzept der Eis-Welt von Blashyrk, das viele ihrer Alben durchzieht, sagte der Drummer: »We were the first ones to write about this theme and it seems like lots of people wants to follow but they certainly lack of wisdom concerning this matter. So it belongs to us only!«571 Wie der Mangel an »Weisheit« hinsichtlich eines erfundenen Ortes andere Bands davon abhalten sollte, sich dieses Konzepts zu bedienen, sei dahingestellt, doch ging es hier ohnehin nur um den harten Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Dasselbe Interview enthielt dementsprechend auch folgende Aussage: »I think we have finally made a statement with our own singularly style and I think it will be hard for the clones to follow us this time!«572 Originelle Lyrics waren dabei ein wichtiger Teil einer erzählten Abgrenzung. Darüber hinaus wurden Bands, von denen man sich abzugrenzen versuchte, auch namentlich genannt und als Einflüsse auf den eigenen Stil regelrecht gestrichen. Im Einzelfall sind solche Narrative schwer zu überprüfen, doch haftet ihnen dort der Verdacht der Unglaubwürdigkeit an, wo musikalische Ähnlichkeit und räumliche Nähe nahelegen, dass eine gegenseitige Einflussnahme stattfand. Eine derartige musikalische Geschichtspolitik legte beispielsweise Calvin Robertshaw an den Tag, der postulierte, seine Band My Dying Bride sei nicht von den nordenglischen Death/Doom-Pionieren Paradise Lost inspiriert worden. Viel eher ist vermuten, dass eine Streichung erfolgte, weil sich Paradise Lost von ihren frühen Wurzeln entfernt hatten und seiner Band aufgrund mangelnder Authentizität nicht mehr als Einfluss dienen konnten. Eine aktuelle Entwicklung wurde hier, und in anderen Fällen,573 in die Vergangenheit verlängert: We’ve only actually playes one gig with Paradise Lost and never again. We’ve had lots of remarks made about us actually sounding like P.L. which we believe to be absurd. No member of this band has ever drawn any influence from P.L., or shall ever in future recordings… none of us are actually that keen on their current release ›Gothic‹… which tends to lack balls and solid rhythm.574 570 571 572 573 574
Vgl. Mattila/Lahtinen, Isten 5 (1990), S. 69. Stöver, Voices from the Darkside 6, in: ders. (Hg.), Voices, S. 15. Ebd. Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 103 (Sandström). McClelland, Deathvomit, S. 262.
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Nicht zuletzt postulierten Musiker mitunter einen Sonderstatus ihrer Band, indem sie vorgaben, nicht oder nicht mehr in der sozialen Szene-Kommunikation aktiv zu sein und sich folglich nur auf sich selbst zu konzentrieren. Dies konnte durchaus glaubhaft geschehen und Johan Edlund, der vor dem Hintergrund des starken musikalischen Wandels seiner Band Tiamat 1992 meinte, dass er sich nicht mehr um die Stockholm-Szene kümmere, formulierte Abgrenzung weitgehend attitüdefrei.575 Wenn jedoch Glen Benton auf dem Höhepunkt der Szene in Tampa 1991 konstatierte »The Tampa scene, I didn’t know there was a scene«576 oder wenn David Vincent meinte »There is no scene. There is only Morbid Angel, period!«577 handelte es sich um eine Erzählstrategie, die keine Grundlage in der musikalischen Entwicklung oder der tatsächlichen regionalen Vernetzung besaß, sondern reine Narration war. Sich von anderen Einflüssen frei zu machen, sollte eine Eigenständigkeit bezeugen, die im Rahmen der engen Verflechtungen leicht als Fassade zu erkennen war. Es existierte in den Narrativen ein weiteres Motiv, das den Aspekt betonte, von außen in eine Szene gekommen und folglich anders musikalisch sozialisiert worden zu sein. Ola Lindgren (Grave) hob beispielsweise immer wieder hervor, dass es der Anspruch seiner Band gewesen wäre, gerade nicht den Stockholm-Sound zu nutzen und unterfütterte dies mit dem Verweis auf die Herkunft aus Gotland und die späte Übersiedlung in die Hauptstadt.578 Gleiches galt für die Band Edge of Sanity aus Finspång.579 Phil Fasciana (Malevolent Creation) machte die soziale Stoßrichtung dieses geografischen Arguments sehr deutlich, indem er die Herkunft aus Buffalo hervorhob, um dadurch zu sagen, auf keinen Fall von den Szene-Pionieren in Florida beeinflusst worden sein zu können: I don’t even consider us a Florida band. The only reason, you know, we moved down there like five years ago, was because there was nothin' to do in Buffalo. […] We’re from Buffalo, the majority of the band’s from Buffalo, an‹ that’s where we grew up, an' that’s where our influences are. […] No, we didn’t fuckin' grow up here listenin' to Death an' Morbid Angel an' goin, ›Oh, we wanna be like them!‹ Y’know, we’ve been around just as long as fuckin' Atheist or Obituary.580 Die Dekonstruktion dieser Attitüde fällt merklich einfach, da es für eine Band wie Malevolent Creation, 1987 in Buffalo gegründet und 1988 nach Ft. Lauderdale gegangen, unmöglich der Fall sein konnte, nicht von den im Tape Trading (an dem Fasciana teilnahm)
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Vgl. Blasphemous Mag 2 (1992), Athen, S. 65; Vgl. auch Quorthons Aussage in Christe, Sound of the Beast, S. 270. Kristiansen, Slayer 8 (1991), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 207. Bill Zebub, Grimoire of exalted deeds 10 (1997), S. 12. »… we didn’t want to go in there and then come out sounding exactly like Entombed, but with our songs.« sowie »… we were trying to seperate ourselves from everyone else. […] I think being on the outside gave us a different perspective.« Netherton, Extemity Retained, S. 273, 274. Dan Swanö: »But we were still separated. We were not a part of the scene, but we certainly borrowed from it. They had a sound there, and when you’d hear a compilation of Swedish bands, the Stockholm bands just sounded different.« Netherton, Extremity Retained, S. 21. Richard Johnson, Disposable Underground 1 (1992) 2, o. S.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
oder in Fanzines besprochenen ersten Death-oder Morbid Angel-Demos und Alben beeinflusst worden zu sein. Es war auch hier eher der Distinktionswunsch als früher Vertreter des Stils als eine tatsächlich so erlebte Vergangenheit. Abgrenzung konnte aber auch mit technischen Argumenten kommuniziert werden und wurde dort genutzt, wo sich Szene-Sounds etabliert hatten, denen ein festes technischen Setup zu Grunde lag. Dies betraf besonders die Stockholm-Szene, aus der Unleashed produktions-und soundtechnisch ausbrachen, weil sie nicht das Sunlight Studio wählten. David Parland dagegen, der mit Necrophobic in diesem Studio produzierte, nutzte absichtlich nicht den »ridiculous Boss Heavy Metal pedal« und verwendete auch einen anderen Tonabnehmer, um nicht den Gitarrensound seiner Kollegen bei Dismember oder Entombed zu erreichen. Die Band produzierte dadurch aus seiner Sicht wenigstens einen »slightly different sound«.581 Schlussendlich ist es heute ein gängiges Argument – vor allem bei Death Metal-Musikern–, dass man die erfolgreiche Besetzung einer Nische dadurch begründet, nie den Vorgängern gefolgt zu sein, sondern stattdessen nachträglich die individuelle Kreativität unterstreicht. Abseits kommerzieller oder medialer Aspekte betonen die Verweise auf eine konsequente Identitätsarbeit einen individuellen Entwicklungsroman hin zu einem spezifischen Sound. Es handelt sich aus der Rückschau daher auch um Gewinnergeschichten – nicht, weil es all diese Bands noch gibt oder weil die Musiker damit großen kommerziellen Erfolg hatten, sondern weil sie heute in der Szene als Gründungsväter anerkannt werden.582 John McEntee führt seine singuläre Stellung im amerikanischen Death Metal entsprechend auf seine frühe Entscheidung zurück, seine Vorbilder nicht zu kopieren: And, you know, fortunately for me, I was able to do it in my own kind of way and create my own little niche here and there. Some people, you know, are more, you know, good at just kind of replicating their stuff, but I prefer to, you know, I feel it’s more respect to my, you know, influences to not just blanky rip off the influences, but to create something that’s different, you know.583
6.2.3 Beobachten, Necken, Streit – »healthy competition« um Aufmerksamkeit Bei den obigen Strategien handelte es sich um Narrationen des Besonderen, die meistens keine Namen nannten und auf die eigene Band abzielten. Doch artikulierte sich das Rennen um Aufmerksamkeit auch wesentlich spezifischer zwischen einzelnen Bands
581 Vgl. Roemers, David Parland, in: Masterful Magazine Online. 582 Rob Yench: »We wanted to distance ourselves from a lot of the saturation of death metal bands of the mid 90's, many were all using the same template as successful bands but really lacking their own identities.« Bret Stevens, Interview: Morpheus Descends (Rob Yench), 2013, URL: www.death metal.org/news/interview-morpheus-descends-rob-yench/ (letzter Aufruf 18.05.2022); Interview Alex Bouks, Z. 12–14: »Our musical inspirations came from bands such as Necrophagia Celtic Frost Possessed Voivod etc. We had our influences but we never wanted to copy them. We wanted to create something more extreme and a world of our own.« 583 Interview John McEntee, 22.05-22.49 Min.
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und Musikern – über Medien, während Tourneen und Konzerten sowie im Kommunikationszusammenhang einer Szene. Der häufigste empirische Ausdruck dafür waren zahlreiche Aussagen von Musikern zum omnipräsenten Wettbewerbsdruck. So fokussierten sich Brian Tatler und seine Bandkollegen bei Diamond Head deshalb so stark auf sich selbst und mieden den Kontakt mit anderen Bands, weil »we were hoping to be one of the few bands who will get signed. So yeah, it’s competitive.«584 Bei einem Konzert der Band Samson (1979) bemerkte er, dass andere junge Bands aus dem Land genau dasselbe unternahmen wie seine Band und dadurch Aufmerksamkeit erhielten – der Wettbewerb stand also allen offen und sich darin durchzusetzen war demnach eine Folge der eigenen Initiative.585 Eine ähnliche Wettbewerbsmentalität legten zeitgleich auch viele andere Bands aus Großbritannien an den Tag, die sich der knappen Ressource medialer Aufmerksamkeit bewusst waren und Tom Noble erinnerte sich beispielsweise an die sozialen Folgen im nordenglischen Rahmen der NWOBHM: »There was more competition amongst the bands here than camaraderie, wasn’t there? [Rob Weir: Yeah.] They were all fighting against each other for attention.«586 In den DIY-basierten Extreme Metal-Szenen der 1980er Jahre wurden die Beziehungen zwischen den Bands dann ambivalenter: Einerseits herrschte mehr »camaraderie«, andererseits stieg aber auch der spezifische Wettbewerbsdruck zwischen den »Kameraden«. So betrachtete es Scott Ian mit Frustration und Neid, dass Megaforce Records 1983 vor allem Metallica förderten, obwohl mit seiner Band Anthrax eine regionale Band zur Verfügung gestanden hätte. Seine Erzählstrategie ist dabei sehr aufschlussreich: Denn einerseits empfand er Neid, weil Anthrax einen ähnlichen Stil spielten und Metallica seiner Meinung nach keinen großen Vorsprung besaßen. Doch andererseits verspürte er auch den Drang, sich abzugrenzen. »We sounded different«587 war Ausdruck des Spagats, als singuläres Element eines dennoch klar umrissenen Sounds wahrgenommen zu werden. Man wollte einzigartiger Bestandteil einer Szene-Gemeinschaft sein, wodurch die Sozialbeziehungen zwischen den stilähnlichen Bands eine eigentümliche Mischung aus Konkurrenz und Solidarität entwickelten. Anthrax verhielten sich mit Metallica dementsprechend freundschaftlich-unterstützend, mussten aber dennoch Marketing in der eigenen Sache betreiben. Dieser Spagat zog sich wie ein roter Faden durch das Jahrzehnt. Im dänischen Blackthorne Fanzine (1987) äußerten etwa die Musiker der Band Legacy (kurz darauf Testament), dass man in der San Francisco Bay Area mit beinahe allen anderen Bands freundschaftlich verkehre und auch viel Zeit miteinander verbringe.588 Gleichzeitig kritisierte man den Wechsel des ehemaligen Sängers Steve Souza zu den Lokalrivalen von Exodus, prophezeite, dass er dort keinen Erfolg haben werde und folgerte schließlich: »We think we 584 Interview Brian Tatler, 08.20-08.36 Min. 585 Tatler, Am I Evil?, S. 36 über ein Konzert von Samson 1979: »… for me this was the moment I knew that if other young rock bands from around the country were doing the same thing as us and getting noticed then we should be part of it.« 586 Interview Weir/Noble, 12.57-13.05 Min. 587 Ian, I’m the man, S. 49, 51. 588 Henrik Kjaer/Esben Slot Sorensen, Blackthorn 5 (1987): »Yeah, we’re friends with almost all local bands. Everybody is pretty close here, 'cuz we all play the same places and we all hang out together.«
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
have our own style. We didn’t listen to any bands, and we didn’t really get inspired by Exodus«589 – aufgrund des Pioniercharakters von Exodus für die Szene eine sehr unglaubwürdige Behauptung, die lediglich allzu starke Ähnlichkeit dekonstruieren sollte. Ähnliche Urteile trafen auch die Szene-Pioniere Entombed in Stockholm und Christoffer Johnson (Therion) gab später zu, »ein bisschen neidisch [gewesen zu sein], auch wenn ich das damals nie zugegeben hätte.«590 Uffe Cederlund, der Gitarrist von Entombed, bemerkte die daraus resultierende Reserviertheit einstiger Freunde im Interview und hielt 1991 fest: »Some people overhere in STOCKHOLM can’t accept if any other bands goes more forward than any other.«591 Seiner Meinung nach manifestiere sich dieser Vorbehalt gegenüber der Band nie direkt, sondern stets »behind our backs«, also in Fanzine-oder Magazin-Interviews, und beinhalte vor allem die Kritik an einem Musikgeschmack der Bandmitglieder, der über Death Metal hinausgehe und die (terminbedingte) Weigerung, weiterhin mit allen Akteuren Zeit zu verbringen.592 Neid auf regionale Bands, die einen Plattenvertrag unterzeichnet hatten, war ein Symptom der fortgeschrittenen Szene-Bildung. Sowohl Mike Browning für Tampa als auch Fred Estby für Stockholm verweisen darauf, dass die Schärfe des Wettbewerbs erst zugenommen habe, als ein kommerziell erfolgreicher Szene-Vertreter zur Vermehrung der Bands führte. Die Szene wurde dadurch sozial weniger überschaubar und glich immer weniger dem einstigen Freundeskreis.593 Neben einem Plattenvertrag konnte sich der Wettbewerb aber auch dort zeigen, wo lokale Bands um die Vorband-Position im Rahmen durchziehender Tourneen konkurrierten.594 Travis Ryan (Cattle Decapitation), der resümierte, dass »death metal always had this sense of competition around it« und dies auf »teenage arrogance and testosterone«595 zurückführte, lag daher falsch: In der Kommerzialisierungsabsicht der Akteure lag eine Unsicherheit begründet und man musste versuchen, Aufmerksamkeitsgewinnung mit den engen Sozialbeziehungen in DIY-basierten Gemeinschaften zu vereinbaren. In den meisten Fällen handelte es sich deshalb auch nicht um Formen der offenen Konfrontation, sondern um verklausulierte und ambivalente Aussagen in den Szene-Medien. Von Wettbewerb, da hatte Ryan allerdings recht, verspürte man einen »sense« – Konkurrenz war also eher nur eine Atmosphäre zwischen Gleichgesinnten, in der kommerzielles Kalkül die soziale Basis herausforderte. James Murphy, der die Beziehungen in der Szene von Tampa als »very divisive« und »extremely competitive« bezeichnete, hebt in der Begründung daher vor allem auf fehlende Planungssicherheit ab: »No one knew that literally every single one of their bands was going to get signed.«596 Diese Konkurrenzbeziehungen werden heute nur sehr vorsichtig adressiert und zwischen den meisten szene-relevanten Bands haben sich »altersmilde« Freundschafts-
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Ebd. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 177. Kristiansen, Slayer 8 (1991), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 212. Vgl. ebd. Vgl. Interview Fred Estby, 11.10-12.30 Min.; Vgl. Interview Mike Browning, Z. 21–23. Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 124. Ebd., S. 183. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 470.
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oder Bekanntschaftsverhältnisse entwickelt,597 doch wurden Konkurrenzen auch bereits in den 1980er Jahren verschieden kommuniziert – wobei der Erfolg der eigenen Band genauso eine Rolle spielte wie die Frage, welchen Teil der Szene die Aussage betraf. Denn abseits des Wettbewerbs um Aufmerksamkeit verstanden sich freilich nicht alle Bands und Musiker auf persönlicher Ebene gleich gut. Die Verhältnisse reichten von unbeschränkter Unterstützung und gegenseitiger Freundschaft über Beschwerden über fehlenden Support bis hin zu offener Feindschaft.598 Doch selbst bei musikalisch und sozial eng verbundenen Bands erzeugte der Wettbewerb eine Ambivalenz, die daraus resultierte, dass die »Binnenrationalität« der Bands mit der kommunizierten Logik der Szene kollidierte: Zur vermeintlichen »brotherhood« einer Szene mochte das Rennen um den Plattendeal nur schlecht passen. Dabei heraus kam die viel beschworene »healthy competition« – eine Mischung aus subkulturellem Einheits-und kommerziellem Abgrenzungsstreben. Wettbewerb wurde dabei nicht per se verdammt, wenn er dem »großen Ganzen« diente, also der musikalischen Qualität und Extremisierung zu Gute kam. Für Chris Pervelis etwa lag der Grund für die Dichte der bekannten Death MetalBands aus New York an ihrer regionalen Konkurrenz – »so competitive that it forced bands to be good or they’d just die.«599 An anderer Stelle spezifizierte er dann, wie sich diese Konkurrenz sozial zwischen den Bands auswirkte und milderte die Trennschärfe durch den Gedanken der eingeschworenen Subkultur ab: There was a lot of unity amongst the bands, but there was also a good dose of serious competition too. This wasn’t a bad thing at all; it made every band strive to be the best they could be, and it elevated the music incredibly. There was always a bruised ego here and there, a few harsh words spoken and some trash talking, but in the end, everyone hung together and made it work.600 Beispiele für das Narrativ eines fruchtbaren Überbietungswettstreits existieren für alle Metal-Szenen und werden bezeichnenderweise vor allem von jenen vorgetragen, die es in diesem Prozess »geschafft« haben. Dan Lilker äußerte, dass man bei Anthrax deutlich an der Geschwindigkeitsschraube drehte als die Musiker das erste Mal eine Platte von
597 Vgl. Interview Sabina Classen, 24.10-24.49 Min. 598 Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 19 (Dave Mustaine über fehlenden Support in New York, außer durch Anthrax); Vgl. Bruce Davis, Ripping Headaches 12 (1990), S. 7 (Bob White von Paineater über Tampa: »but there’s no support anywhere.«); Vgl. Forbes, Oblivion (Bob Petrosino über New Jersey und den Vergleich zu S.F.: »A lot of bands did not want the other bands to succeed, which did not help us create our own ›San Francisco.‹«); Vgl. Netherton, Extremity Retained, S. 123 (John McEntee über den großen Support in der Death Metal-Szene von NY/NJ); Vgl. Sam, Immolation (Ross Dolan) Interview, 2013, URL: https://www.metalblast.net/interviews/immolati on-interview/ (letzter Aufruf 18.05.2022): »we’ve never been competitive with any bands in the scene because I think it’s nonsense to be like that. […] That’s how it’s supposed to be, you’re supposed to help each other out. There’s never been that rivalry thing, I think that’s fuckin' bullshit.« 599 Interview Chris Pervelis, Z. 47. 600 Chris Pervelis, in: Netherton, Extremity Retained, S. 130.
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Slayer hörten,601 Ross Dolan bemerkte bei seinem ersten Konzert von Morbid Angel, dass seine Band Immolation »were green as hell, and could hardly yet play our instruments«602 und für Phil Demmel und seine Band Vio-Lence bedeuteten Exodus, Testament und Death Angel ein Anschauungsmaterial, weil es half, »a healthy competition between all of us« zu generieren – »it drove us and helped everyone keep pushing each other and raising the bar.«603 Der Gesprächskontext solcher Aussagen offenbart jedoch häufig, dass die tatsächlichen Konkurrenzbeziehungen eben doch nicht so reibungslos und harmonisch abliefen und sich der Wettbewerb in der Kontingenz der historischen Situation anders auf die Szene-Beziehungen auswirkte als dies durch das ex-post-Wissen um den eigenen Nischen-Erfolg möglich ist. Kelly Shaefer, nach den Konkurrenzen zwischen den Bands aus Florida gefragt, reagierte entsprechend sehr vorsichtig, wählte jedes Wort mit Bedacht und entwarf ein Narrativ, das zwischen dem scharfen Szene-Wettbewerb in Florida und der Tatsache vermittelte, dass fast alle Bands dieser Szene noch oder wieder erfolgreich existieren: There’s a lot to unpack with that, because it was very competitive in the sense that, you know, everybody wanted to get some attention. You know, everybody wanted to have features in magazines, everybody wanted to get tours, you know. […] So, in the early days everybody was trying to get their message across, I mean whether it’s been brutal or being original or being satanic or not being satanic and who is heavier, you know. […] I mean, there was a healthy competition. It was never like ›Fuck you!‹, we all played together. So, you know, it was cool. So, […] it was like trying to outdo each other. So, it wasn’t like a negative thing, actually a positive thing.604 In kaum einer anderen Hinsicht weisen die Quellen aus dem Untersuchungszeitraum und die aktuellen Einschätzungen so derartig große Unterschiede auf. Denn der Spagat zwischen Szene-Gemeinschaft und Szene-Konkurrenz führte in allen hier besprochenen Szenen auch zu schadendem Verhalten, das selten direkt, sondern medial kommuniziert wurde und von den Akteuren als »talking shit« oder »back stabbing« bezeichnet wurde. Die genauen Einzelheiten dieser indirekten Versuche, den Erfolg anderer Bands zu torpedieren, blieben dabei meist unklar und werden heute zwischen den Beteiligten in der Regel als abgeschlossen betrachtet und kaum noch rekapituliert. Nur wenige Akteure gehen nachträglich so offen mit dem Konkurrenzverhalten um wie Steve Burdelak (u.a. Crossfire Metal Webzine in Duisburg), der resümierte: »… von wegen Metal-Fans seien eine eingeschworene Gemeinschaft. Bullshit! Die Szene war meiner Erfahrung nach ungeheuer verlogen, sogar die Punks hätte man im Vergleich als innig verwachsene Clique bezeichnen können.«605
601 Dan Lilker, in: Christe, Sound of the Beast, S. 104: »Of course, one of our instincts was ›Oh God, now there’s another really fast band out there, we have to speed up!‹ There was a sense of competition.« 602 Ross Dolan, in: Netherton, Extremity Retained, S. 108. 603 Phil Demmel, in: Kitts, Chaos in a bottle. 604 Interview Kelly Shaefer, 16.33-17.51 Min. 605 Schmenk/Schiffmann, Kumpels in Kutten 2, S. 207.
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Hinsichtlich der westdeutschen Metal-Szene mit ihrem Fokus auf dem Ruhrgebiet bedeutete dies beispielsweise, dass man vermeintlich bei Sodom über Kreator lästerte,606 dass Violent Force Probleme mit dem Sänger von Living Death hatten,607 dass einige Akteure den ersten Chefredakteur des Metal Hammer (Charly Rinne) als »Piss-Rinne« bezeichneten,608 dass man bei Holy Moses den Neid anderer über den eigenen Plattenvertrag spürte,609 und dass ein auswärtiger Beobachter wie Jon Kristiansen in seinem Fanzine 1988 sogar fragte »Why do you think all German bands talk shit about eachother?«, worauf Sabina Classen ihre Antwort mit »Yes, that’s true«610 begann. Hinter der vermeintlichen Kollegialität und Solidarität der »brotherhood« zeichneten sich zahlreiche Verwerfungen ab, die sich um persönliche Probleme und kommerzielle Absichten drehten und die nach Ansicht von Sabina Classen direkt von den Plattenfirmen und Produzenten inszeniert und kommuniziert wurden. Die Musiker waren aus dieser Perspektive eher die naiven und jungen Spielbälle der kommerziellen Interessen anderer.611 Wie in einem Brennglas konnten sich solche Interessengegensätze bei gemeinsamen Tourneen bündeln und in spezifischen Verhaltensweisen sichtbar werden, aber auch veranschaulichen, dass die Musiker in dieser Beziehung vielleicht Opfer, aber auch handelnde Akteure waren. Als die Managerin der US-amerikanischen Band Sacred Reich, Gloria Cavalera, auf der Tour mit Holy Moses und Forbidden (1989) bemerkte, dass die Deutschen ihr Merchandise günstiger verkauften, riss sie die Produkte von der Wand und wurde von Sabina Classen kurzzeitig durch den Münchner Club gejagt.612 Unstimmigkeiten bestanden auch über die Besetzung der Headliner-Position und Bands verrieten Konkurrenzdruck beispielsweise dadurch, dass Vorbands weniger Raum gegeben, die Lichttechnik erst für den eigenen Auftritt voll eingesetzt oder die Lautstärke limitiert wurde. Eine gemeinsame Tour, deren Planung und Zusammensetzung nicht den Musikern oblag, war also »nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen.«613 Dass innerhalb der Szene-Konkurrenz-Gratwanderung eine konfrontative Atmosphäre vorhanden war, zeigen auch die zeitgleichen Beispiele aus den USA. Die Bands Overkill und Anthrax kannten sich in New York/New Jersey zwar, verbrachten aber laut Aussage des Overkill-Sängers keine Zeit miteinander, sondern eher abwechselnd mit den Besuchern von der Westküste (Metallica) – ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich Konkurrenz vor allem innerhalb regional-wahrgenommener und dadurch physischzusammenhängender Szenen artikulierte.614 Dies war auch an der Westküste nicht anders und nach anfänglich intensiven Abgrenzungsbemühungen zwischen Metallica und Slayer 615 entstanden in Los Angeles auch regionale Konkurrenzbeziehungen zwi606 607 608 609 610 611 612 613 614 615
Vgl. Kristiansen, Slayer 6 (1988), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 145. Vgl. Costa Stoios, Tales of the Macabre 5 (1998), o. S. Vgl. ebd. Vgl. Interview Sabina Classen, 23.25-23.50 Min. Vgl. Kristiansen, Slayer 6 (1988), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 127. Vgl. Interview Sabina Classen, 23.51-24.39 Min. Vgl. ebd., 27.25-30.09 Min. Ebd., 31.30 Min. Vgl. Everley, Overkill’s Bobby Blitz Ellsworth. Lars Ulrich: »It pisses me off, especially with Slayer. We were headlining and they were our opening act. They played all covers […] Slayer was all covers. When they played with us, that was the
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schen Slayer und Dark Angel. Seitens ersterer hieß es dazu in geradezu prototypischer Mischung aus Freundschaftsbekundung und Kampfansage in einem Interview: »Well, we’re friends, but, there is a lot of shit goin’ on. Like we’ve heard they talked shit about us and everybody says we talked shit about them. They should just do their own shit.«616 Aufgrund der fehlenden Planungssicherheit bezüglich des Interesses der Plattenlabels und Medien war Freundschaft hier offensichtlich ein sehr dehnbarer Begriff geworden. In San Francisco bestanden solch ambivalente Beziehungen zeitweise zwischen VioLence und Death Angel, aber langfristig vor allem zwischen Vio-Lence und Forbidden (Evil). Vio-Lence warben dabei kurz vor der Unterzeichnung ihres Plattenvertrags den Gitarristen von Forbidden Evil (Robb Flynn, später Gründer von Machine Head) ab, was für Musiker, die sich häufig sahen und in unmittelbarer Nähe zueinander probten, eine heikle Situation hervorrief. Hinzu kam, dass beide Bands nun auch mit derselben Managerin (Debbie Abono) arbeiteten.617 Von beiden Seiten wurde die Beziehung als »rivalry«, »pretty sizeable rift« oder »a little heated« bezeichnet,618 doch ließ der Szene-Zusammenhang den Kontakt dennoch nicht abbrechen. Laut Phil Demmel grüßten sich die Musiker zwar immer noch und es gab »smiles« und »fist bumps«, doch dachte man insgeheim »Fuck those guys – we’re better than them.« Selbst kleinste Meinungsverschiedenheiten arteten seiner Erinnerung nach jedoch schließlich in handfesten Streit aus.619 Robb Flynn selbst sprach zwar davon, dass es »no hard feelings« gegeben hätte, die Musiker aber trotzdem für einige Zeit keine Freunde mehr gewesen seien. Auch er nutzt dabei den Begriff der »healthy competition«, die allem Anschein nach aber nur ein musikalisch-gesunder Wettbewerb war.620 Auch diese Konkurrenz hat sich mit der Klärung ihres Grundes – nämlich Plattenverträgen für beide Bands – später geklärt und wird heute als harmonisch dargestellt,621 zeigt aber auch, dass historische Szene-Bildung nur sehr wenig mit der Art und Weise ihrer Erinnerung zu tun hatte. In Florida nahm der Wettbewerb schließlich in den frühen 1990er Jahren teilweise sehr aggressive Züge an, die sich nicht zwischen allen Bands und Musikern, aber zwischen einigen wirksam inszenierten Feindschaften artikulierten. Auch hier zeigte sich eine ausschließlich über Interviews angeheizte Spannung, die unter anderem dazu führte, dass Glen Benton (Deicide) David Vincent (Morbid Angel) Gewalt androhte und auch Phil Fasciana (Malevolent Creation) erwähnte, dass Chuck Schuldiner (Death) »sterben« würde, wenn er seine Kritik nur persönlich hervorbrächte.622 Vor allem der Frontmann von Death wurde in der Folge immer wieder als Initiator von hinterrücks geäußerter Kritik genannt, Steve Flynn (Atheist) bescheinigte ihm einen »insecurity complex« und mangeln-
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night that they said, ›Holy fuck! We’ve gotta be fast metal, too!‹ So it’s obvious where their influences come from.« Christe, Sound of the Beast, S. 104. Kristiansen, Slayer 5 (1987), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 107. Vgl. Demmel, in: Kitts, Chaos in a bottle. Interview Craig Locicero, 08.20 Min. Demmel, in: Kitts, Chaos in a bottle. Vgl. Allen (Reg.), Vio-Lence. Blood and dirt, Min. 13 und 18. Vgl. Interview Craig Locicero, 08.25-09.01 Min. Vgl. Phil Fasciana, in: Disposable Underground 1 (1991) 2; Vgl. Glen Benton, in: Stöver, Voices from the Darkside 2 (1993), in: ders. (Hg.), Voices, S. 8.
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de Wettbewerbsfähigkeit623 und Scott Reigel (Brutality) schätzt, dass dies mit Schuldiners Pionierfunktion für die regionale Szene zu tun hatte, die er aber durch neue Bandgründungen zunehmend als gefährdet ansah.624 Michael Borders (Massacre) beschrieb schließlich die gesamte Szene als »pretty back stabbing« und »competitive«625 , während Kam Lee zwar mit klarer Übertreibung formulierte, aber das Spannungsverhältnis im Aufmerksamkeitskampf dennoch schonungslos offenlegte: Yet, Florida is not all what everyone thinks it is… It’s not a great Death Metal capitol. It’s not as if all the bands hang out together on the weekends drinking, smoking and fucking sluts! As a matter of fact, everyone is a bunch of backstabbing, two-faced, shit talkers. They all hate each other, and if they act like they like each other it is just an act.626 Der Begriff des »act« beschreibt eine wesentliche Voraussetzung szenischer Integration daher sehr treffend. Schauspielerei war gefragt, wenn die engen Sozialkontakte aus der DIY-Frühphase in eine professionellere Phase mit klarer Kommerzialisierungsabsicht überführt wurden und einige Freunde und Bekannte trotz anderslautender Bekundungen zu Konkurrenten wurden. Dass solche konflikthaften Beispiele aus der Zeit der NWOBHM kaum bekannt sind, hatte nichts mit einem größeren Anstand oder besserer Selbstkontrolle zu tun. Obgleich die Musiker in Extreme Metal-Szenen durchweg jünger waren als die meist arbeitserfahrenen Männer, die in der NWOBHM Musik machten, war Konkurrenzschärfe keine Frage des Alters. Vielmehr dürfte es entscheidend gewesen sein, dass der Konkurrenz in England um 1980 noch der zunächst sehr enge und DIY-basierte Fokus der Szene fehlte – also jene Kontakte, deren Herausforderung die Szenen so spannungsreich machte. Dafür spricht, dass beispielsweise Brian Tatler auf die fehlende nationale Vernetzung verwies und auch Maurice Bates (Mythra) festhielt, dass zwischen den Bands aus South Shields und den Gruppen nördlich des Tyne (»Impulse side« – diese produzierten im Impulse Studio in Wallsend) fast keine Kontakte bestanden.627 Der enge Austausch herrschte also nicht landesweit, sondern zwischen wenigen Musikern in ihren jeweiligen Regionen. Hinzu kam außerdem, dass noch nicht so viele mediale Kanäle für die Kommunikation von Konkurrenz zur Verfügung standen. Konkurrenz in der NWOBHM existierte aber natürlich trotzdem und über deren direkte Formen ist vergleichsweise viel bekannt: Laut Jess Cox hinterließen die Tygers of Pan Tang kleine Botschaften für ihre Konkurrenten an den Wänden der Umkleiden in den Clubs. Wo für Iron Maiden zunächst nur »Maiden shag sheep« stand, fand sich beim
623 Satsuki Takashima, Satanic Death 3 (1988), Osaka, o. S. 624 Vgl. Interview Scott Reigel, 21.27-21.50 Min. 625 Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 37; Vgl. Kristiansen, Slayer 8 (1991), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 203. 626 Stöver, Interview with Kam Lee, 2001, in: Voices from the Darkside online. 627 Vgl. Interview Brian Tatler, 27.40 Min.; Maurice Bates: »With the bands from the north side, Impulse side, we didn’t have a lot to do with them. Maybe except Raven. With didn’t meet up at gigs. Personally, I didn’t know people.« Interview Roach/Bates, 29.28-29.42 Min.
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nächsten Mal eine passende Antwort.628 Brian Tatler besuchte dagegen gezielt die Konzerte bestimmter Bands, um diese »auszuchecken«: I would go and watch bands like Samson and Iron Maiden and Def Leppard. We would check them out, stand there with our arms folded: ›Hmm… that’s quite a good riff, you know.‹ I would analyze what they were doing and maybe we could we learn from them, are we better than them? […] We knew a couple of bands, but there was no tape trading and as I say, we were pretty much kept ourselves to ourselves, we were weary of the competition. We wanted to be the main band. I would only go to watch other bands in order to check them out, you know, check out the competition. I wouldn’t necessarily want to go backstage and talk to them.629 Im Rahmen der nationalen Konkurrenz mit den Bands aus Sheffield, Newcastle oder London legte er also eine stille und analysierende Wettbewerbsmentalität an den Tag, die er lediglich bei Konzerten im unmittelbaren regionalen Rahmen des Black Countries aufgab: Gegenüber der Band Witchfinder General, ebenfalls aus Stourbridge, rief man den Rivalen auch schon einmal Bemerkungen zu oder versah sie mit Spitznamen – doch alles im Sinne einer »friendly rivalry, no harm done, we never got up to fighting.«630 Trat man dagegen mit einem unmittelbaren Konkurrenten an einem Abend auf, manifestierte sich solches Denken spürbar. Bei einem Auftritt von Iron Maiden und Diamond Head im Lyceum in London wurden keine Worte zwischen den Bands gewechselt und Diamond Head wurde als Vorband auch kaum Platz auf der Bühne gelassen sowie ein Soundcheck untersagt. Tatler mutmaßte, Iron Maiden wären »almost scared of the competition« gewesen und hätten ihnen daher eine »hard time« verschafft.631 Dass er überdies bemerkte, Iron Maiden hätten befürchtet, die »Northern upstarts« von Diamond Head könnten ihnen das Momentum stehlen (»steal their thunder«),632 zeigt, dass sich Konkurrenz in der NWOBHM innerregional weniger scharf ausprägte als interregional. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Konkurrenzverhältnis zwischen Iron Maiden und Judas Priest, also zwischen einer Band aus dem Londoner East End und einer Band aus dem Black Country. An der Tour-Konstellation und dem damit einhergehenden Wettbewerb war zunächst nichts ungewöhnlich: Iron Maiden fungierten bei den Konzerten der Judas Priest-Tour (1980) in Großbritannien als Vorband und wurden finanziell und logistisch fair behandelt – etwas, dass bei Engagements mit etablierten Rock-Bands keinesfalls üblich war.633 Und während Steve Harris später einräumte, man wollte es Judas Priest mit dem eigenen Spiel so schwer wie möglich machen,634 lobte auch K.K. Downing die Mentalität von Iron Maiden, weil »that’s all we ever did when we supported bands – try
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Jess Cox, in: Popoff, Wheels of Steel, S. 213. Interview Brian Tatler, 07.55-08.13 Min.; Ebd., 27.40-28.15 Min. Tatler, in: Popoff, This Means War, S. 201. Tatler, in: Popoff, This Means War, S. 21. Tatler, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 98. Vgl. Halford, Confess, mit vielen Beispielen S. 95, 96, 103, 255. Steve Harris, in: Popoff, Wheels of Steel, S. 165.
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to take the stage away from them.«635 Die Tour wäre wahrscheinlich in stillem Wettbewerb abgelaufen, wenn Paul Di’Anno, der Sänger von Iron Maiden, nicht kurz zuvor im Interview angekündigt hätte, Maiden »[was] going to blow the bollocks off Priest.« Das Ergebnis war für das Publikum klar zu sehen: So erinnerte sich Mick Tucker (Tank), dass Iron Maiden auf der Bühne in Newcastle kaum noch Platz gehabt hätten636 und Kevin Riddles beobachtete am Ende der gemeinsamen Tour in London: »Paul got less and less place to work with on stage. […] He literally had one meter square, because they moved everything. And it was basically Priest’s quite humorous way of saying ›Fuck you!‹, you know.«637 Die Rivalität artete auch hier nicht in offenen Konflikt aus, doch ging es für alle verständlich um Respektabilität, deren unsichtbare Grenze überschritten worden war. Konkurrenzbeziehungen wurden daher auch von Fall zu Fall verhandelt und waren vom entsprechenden Verhalten des Gegenübers abhängig. So standen auch Saxon und Iron Maiden in starker Konkurrenz zueinander, profitierten aber davon, musikalisch verschiedene Nischen belegt zu haben und sich auch räumlich voneinander abzugrenzen. Aus der Sicht Biff Byfords entwickelte sich an den wenigen Schnittstellen, an denen man sich traf, daher sogar eine Freundschaft: »We were good friends. We used to meet in motorway services all the time. We were highly competitive, not in an in-your-face way but both bands were competing for recording contracts.«638 Gegenüber Motörhead nahmen Saxon die Konkurrenz dagegen anders wahr: Es war üblich, dass sich gemeinsam tourende Bands an den Abenden kleine Streiche spielten, frotzelten und gegenseitig ärgerten, doch ging es in diesem Fall so weit, dass Phil Taylor und Eddie Clark (Motörhead) bei den Saxon-Konzerten auf die Bühne kamen und die Band störten. Die Band fühlte sich nicht mehr ernst genommen und versuchte in der Folge, solche Eskapaden zu verhindern und (ebenso wie etwa Tank) das »Vorband-von-Motörhead-Label« loszuwerden.639 Auch wenn es hier hinter Humor versteckt war – wenn Konkurrenz die symbolische und narrative Ebene überschritt und aktiv behinderte, war sie für den Gegenüber nicht mehr akzeptabel. Um auf den musikalischen Aspekt beschränkt zu bleiben, benötigte »healthy competition« neben der Einübung von Umgangsformen auch gemeinsam geteilte Räume, die es ermöglichten, dass sich soziale Grenzen zwischen Bands aufweichen konnten. Zwischen den meisten Londoner Bands gestaltete sich der Kontakt daher auch anders als etwa zwischen Iron Maiden und Diamond Head. Die Stadt besaß mit dem Heavy Metal Soundhouse einen genre-spezifischen Club und verfügte über einen eigenen Club Circuit. Für Tino Troy, der persönlich gute Beziehungen zu Paul Samson, Clive Burr und Paul Di’Anno hatte, bestand ganz selbstverständlich »a bit of rivalry, because everybody wants to be at the top of the game,«640 doch wurde diese Rivalität durch den unausweichlichen Kontakt
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Downing, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 97. Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 166. Interview Kevin Riddles, 25.15-25.40 Min. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 71. Vgl. ebd., S. 104, 146. Interview Tino Troy, 06.04-06.10 Min.
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im Backstage-Bereich von Konzerten, in Pubs und im Soundhouse abgemildert. Es handelte sich dabei um eine Struktur im Werden, die zunächst nicht ganz London umfasste. Troy spricht an »it all depended on geography, because London is a big place«641 und Kevin Riddles erinnerte, dass sich der »circuit« aus Süd-London nach Osten und Norden erweiterte und sich die Kontakte über Bands wie Iron Maiden, Sledgehammer, Samson oder Angel Witch schließlich in East London (vor allem im Ruskin Arms) bündelten.642 Die gegenseitigen Beziehungen innerhalb dieser Struktur beschreibt er als »always bitchy, but it was good natured.« Streit habe es nicht gegeben.643 Die räumliche Nähe und abwechselnden Konzerte in denselben Clubs und Pubs führten eher dazu, dass sich ein freundschaftlicher Überbietungswettstreit entwickelte.644 Neben der Musik beinhaltete dieser auch die Special Effects und während Iron Maiden aus Versehen im Ruskin Arms Feuer legten, bauten Angel Witch eine Nebelmaschine, die durch einen unter der Bühne fest eingebauten Entlüftungsventilator (von dem niemand wusste) nicht den Innenraum vernebelte, sondern den hinter dem Haus liegenden Polizeiparkplatz.645 Der Versuch, »to outdo each other« war also im Ruskin Arms ebenso vorhanden wie zwischen den Bands aus unterschiedlichen Regionen, doch verhinderte der enge Sozialkontakt interregionale Entfremdungserscheinungen. Darüber hinaus lag ein wesentlicher Unterschied zu den Extreme Metal-Szenen der 1980er Jahre in der kontingenten Situation, in der in den späten 1970er Jahren keiner der Musiker in London wissen konnte, dass Heavy Metal auf derartige Aufmerksamkeit der Major Labels und der Musikpresse treffen würde. Den späteren Bands war dieser Sachverhalt bekannt und er wurde in die Zukunftsplanung einbezogen – mit großen Auswirkungen auf das Konkurrenzverhalten in den Szenen, das während des Jahrzehnts an Brisanz gewann.
6.2.4 Wettbewerb 2.0 – Der »black turn« als ein Ende der »langen 1980er Jahre« Im Spannungsverhältnis von kommunikativer Verdichtung und Wettbewerb stellte die spätestens seit 1991 existente Black Metal-Szene Norwegens den extremsten Fall der »langen 1980er Jahre« dar und beschreibt bis heute eine singuläre Entwicklung. Dies hatte musikalische, kommunikative, inhaltliche und soziale Gründe. Musikalisch codierten die Musiker die Entwicklung der »heaviness« des Death Metals um und verhandelten dies als Bezug zu den vermeintlichen Wurzeln des Genres.646 Kommunikativ bahnte sich ihre Szene vor allem virtuell im Tape Trading-Netzwerk an und zog schließlich räumlich stark verdichtet in einem mystifizierten Plattenladen in Oslo
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Ebd., 07.20-07.23 Min. Vgl. Interview Kevin Riddles, 19.55-21.00. Ebd., 24.50 Min. Interview Kevin Riddles, 21.03-23.39 Min.: »And we kept trying to outdo each other on the special effects, because every time you turned up you heard that Maiden last week, they had these explosions and confetti. So, we’d have to try and compete. […] We were trying everything in those days to be a little different and to attract the same crowd and keep them coming back.« 645 Vgl. Interview Kevin Riddles, 21.40-22.52 Min. 646 Vgl. Florian Walch, Was niemals war. Das Selbstbewusstsein des Norwegischen Black Metal als Konstruktion einer Vergangenheit und Konstitution einer Klanglichkeit, in: Chaker/Schermann/ Urbanek (Hg.), Analyzing Black Metal, S. 109–128.
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nach. Darüber hinaus fand mediale Aufmerksamkeitsgenerierung in keiner anderen Szene so offensichtlich statt wie in Norwegen und der mediale Hype ab 1992 kann auf eine geschickte Instrumentalisierung der bürgerlichen-und Musik-Presse durch einige wenige Musiker zurückgeführt werden.647 Sozial grenzte sich diese Szene in bis dahin ungewohnt scharfer Weise nach außen ab und nutzte dafür sowohl körperliche Praktiken und mediale Äußerungen als auch Gewalttaten, die 1993/94 das rasche Ende der Szene begründeten.648 Des Weiteren handelte es sich bei der Black Metal-Szene auch um einen nach innen stark von Konkurrenzen geprägten sozialen Raum, der bisherige Wettbewerbsmuster aus anderen Szenen noch einmal deutlich übertraf. Inhaltlich umfasste die Szene schließlich eine Beschäftigung mit vielen provozierenden Themen, die nach einem Baukastenprinzip je nach situativer Abgrenzung beliebig angeordnet und auch gewechselt werden konnten.649 Die Forschung hat das Phänomen sowohl als Bruch als auch als evolutionäre Weiterentwicklung der im Metal-Genre angelegten Rationalität interpretiert und dabei sehr verschiedene Aspekte einer Entwicklung adressiert.650 In ihrer Gesamtheit war die Szene beides: Weitertreibung eines inhärenten Spannungsverhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft, aber auch Bruch mit der jugendkulturellen Abgrenzung, die in Norwegen das symbolische Maß überschritt.651 Um das Phänomen und die Heftigkeit seines exklusiven Aufmerksamkeitsstrebens zu verstehen, muss bedacht werden, dass Norwegen ein metal-historisch zu spät gekommenes Land war. Eine mediale Abbildung fand auch Mitte der 1980er Jahre kaum statt, für interessierte Jugendliche existierten vor allem Einflüsse aus Schweden, Deutschland und England, es gab weder eine Club-Szene noch eine nennenswerte Anzahl an Bands.652 Die Musiker der ersten Bandgründungen, etwa bei Mayhem, Cadaver oder Darkthrone, waren in den letzten Jahren der 1980er Jahre klar im globalen Death Metal-Netzwerk verortet und in persönlichem Austausch vor allem mit schwedischen Musikern, besaßen aber weder eine Pionierfunktion noch ein Alleinstellungsmerkmal. Unter dem Distinktionszwang der Metal-Kultur war dies keine günstige Ausgangsposition und so entsprach der komplette Sound-und Imagewechsel zum Black Metal 647 Kürzlich: Hermann C., Black Metal Media, 1992–1994, o. O. Dort werden die norwegischen Zeitungs-und Magazin-Artikel zur Black Metal-Szene gesammelt und zum Teil übersetzt. 648 Vgl. Michelle Phillipov, Extreme Music for extreme people? Norwegian black metal and transcendent violence, in: Hjelm/Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal, S. 152–165. 649 Über die Vielfalt der Versatzstücke vgl. Baptiste Pilo, True Norwegian Black Metal. Nationalism and Authenticity in the Norwegian Black Metal of the ’90s, in: Karjalainen (Hg.), Sounds of origin in heavy metal music, S. 41–69. 650 Zum Bruchcharakter vgl. Reyes, Blacker than death; Zur Kontinuität vgl. Karl Spracklen, What did the Norwegians ever do for us? Actor-Network Theory, the Second Wave of Black Metal, and the Imaginary Community of Heavy Metal, in: Varas-Díaz/Scott (Hg.), Heavy Metal Music and the Communal Experience, S. 151–167; Vgl. auch ders., True Norwegian Black Metal. The globalized, mythological reconstruction of the second wave of Black Metal in 1990s Oslo, in: Lashua/Spracklen (Hg.), Sounds and the city, S. 183–195. 651 Zur Bedeutung dieser Überschreitung vgl. Rainer Paris, Schwacher Dissens – Kultureller und politischer Protest, in: Roth/Rucht (Hg.), Jugendkulturen, S. 49–62. 652 Vgl. Kristiansen, in: Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 52; Vgl. Stubberud, in: ders., The Death Archives, S. 81.
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im Frühjahr 1991 auch keinem radikalen Bruch, sondern war mittelfristig angekündigt worden. In jenem Teil der Forschung, der das Bild eines abrupten »black turns« kommuniziert, wurden Aussagen wie die Folgenden bisher nicht beachtet: Bereits 1990 formulierten Akteure wie Jon Kristiansen oder Fenriz in Fanzine-Interviews eine Idee musikalischer Weiterentwicklung, die sich nicht mehr bei den gängigen Mustern der Metal-Kultur bediente. Kristiansen äußerte gegenüber seinen finnischen Kollegen beim Isten-Fanzine, dass er bezweifle, dass die Geschwindigkeits-und Härte-Entwicklung der Jahre seit 1983 in dieser Form weitergehen könne und prophezeite eine sich wandelnde Deutung von Heaviness, die einen Ausbruch aus der Distinktionsspirale seit der NWOBHM ermöglichte.653 Fenriz äußerte entsprechend gegenüber dem Fanzine Deathvomit im gleichen Jahr, dass Stilwechsel stets zum Markenkern seiner Band gehört hätten und deutete gegenüber Isten an: »So, I suppose that we’ll keep evolving into something unheard before.«654 Einem festen Stil, so der Musiker, würde er sich niemals verschreiben. Wenn die Entscheidung der norwegischen Bands überhaupt eines solchen Terminus bedarf, dann handelte es sich also weniger um einen »black turn« als um einen »black shift.« Die Interviewpraxis gegenüber den Bands in den Jahren 1992/93, in der an vielen Stellen eine Rechtfertigungsposition gegenüber erwarteten Vorwürfen der Unglaubwürdigkeit aufgrund eines raschen Stilwechsels durchschien,655 hatte daher recht, wenn sie puren Abgrenzungswunsch unterstellte, aber unrecht, wenn sie nahelegte, diese Entwicklung wäre über Nacht geschehen. Die Suche nach einer distinkten Nische hatte sich bereits um 1990 auf einem Markt angekündigt, auf dem schwedische und amerikanische Produktionen dominierten, und auf dem sich zu viele potentielle Konkurrenten befanden. In den nachträglichen Aussagen zur Genese der Black Metal-Musik beschrieben die Musiker ihre Stilsuche daher auch als langsamen Bewusstwerdungsprozess – nur eben vermeintlich rein musikalisch, indem sich ihr Hörverhalten der frühen Extreme Metal-Bands zu weit von den »modernen« Produktionen aus dem Sunlight Studio oder Morrisound Studio entfernt hätte.656 Die Sehnsucht nach dem Alten habe hier zum Neuen geführt, doch wäre es aufgrund der Brisanz des späteren Abgrenzungsstrebens geradezu naiv, hier keine Folge der Marktbeobachtung zu erkennen. In der Death Metal-Szene drohten Mayhem, Darkthrone oder Emperor unterzugehen, in ihrer Black Metal-Nische war ihnen Aufmerksamkeit dagegen sicher.
653 Vgl. Kristiansen, in: Mattila/Lahtinen, Isten 5 (1990), S. 44. 654 Fenriz, in: Mattila/Lahtinen, Isten 5 (1990), S. 23; Fenriz, in: McClelland, Deathvomit, S. 97. 655 Von Kristiansen gefragt, ob seine Band Immortal lediglich auf den Black-Metal-Trend aufgesprungen sei, antwortete »Demonaz« entsprechend und wurde durch die Einschübe des Herausgebers (ED) dabei noch karikiert: »May I ask you something instead?? (Feel free! ED) Is this the standard questions from all 'zines or what? (I don’t know since we are not a standard 'zine! ED) People who talk so much about trends are often trend people themselves! (Thank you! ED) I don’t waste any time talking of this.« (Well, I thought it would be interesting to hear what you have to say about this…. I don’t accuse you of being trendies if you are serious about what you do now.«) Kristiansen, Slayer 9 (1992), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 225. 656 Vgl. Andi Bauer/Frank Stöver, Darkthrone. Interview mit Ted Skjellum, in: Voices from the Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/darkthrone/ (letzter Aufruf 18.05.2022); Vgl. auch Fenriz, in: Zierleyn, Booklet to Black Death.
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Für die geschassten Freunde in Schweden, von denen sich die Norweger nun plötzlich vehement abzugrenzen versuchten, war dieser Schritt dagegen sozial kaum nachzuvollziehen und führte zu einem scharfen Bruch. Die Trennung von Death Metal und Black Metal wurde als absolut entworfen und manifestierte sich nicht allein in musikalischer Veränderung, sondern auch in einem kommunikativen Wettbewerb über die Szene-Medien.657 Für Musiker wie Fred Estby in Stockholm war es daher auch nicht die Black Metal-Musik, die ihn störte, sondern die absichtliche Konstruktion einer Konkurrenz, in der auf jede Form der Szene-Inklusion, »camaraderie« oder »brotherhood« völlig verzichtet wurde: Darkthrone recorded their first album at the Sunlight Studio and, yeah, really good album, we were really into that. And then suddenly they turned kind of black metal. That wasn’t the problem. The problem was that suddenly these people who you had been tape trading with for a while and that you knew, suddenly turned a little bit awkward towards us as death metal bands. I never really understood it, because it was little bit like a shift going from a supporting scene, where everybody was trying to hype each other and help each other out to something being more ›Your music sucks, that’s like not true, that’s like crap music, that’s not as evil as our music is.‹ And we’re like ›Wow, these people played the same music as ours and we’re friends, you know, a couple of months ago, and suddenly they don’t like the Swedish bands or whatever‹. It was weird, you know.658 Was Akteure wie Estby als ungewohnt scharfer Wettbewerb überraschte und sozial spaltete, war dagegen für die Generierung von Aufmerksamkeit hervorragend geeignet. Vermittelt durch Fanzine-und Magazin-Interviews und ab 1992 auch über die bürgerliche Presse legten einige norwegische Musiker ein enormes Maß an Selbststilisierung an den Tag, um dem Anspruch, den Death Metal auch in Realo zu übertreffen, gerecht zu werden. Black Metal wurde dabei als »eine Konfrontation mit allen normalen Dingen«659 und als absolute »fuck you«-Attitüde kommuniziert und ließ jegliche Gedanken an eine soziale Einstehensgemeinschaft zurück, die die Geschichte des Heavy Metals seit den späten 1970er Jahren durchzogen hatte. Abgrenzung wurde nun sowohl gegen den Mainstream außerhalb als auch innerhalb der Metal-Kultur forciert. Hinsichtlich der Reminiszenzen des Genres an die Arbeiterklasse löste Black Metal die Idee der übergreifenden Solidarität durch einen wilden Streik ab, der auf den Eigennutz in der Aktion abzielte und Andere absichtlich ausgrenzte. Ebenso wie sich die Potentiale wilder Streiks aber schnell abschleifen, weil das letzte Mittel ausgeschöpft wurde, erzeugten die offensichtlichen Widersprüche der Aussagen und Handlungen der Musiker einen dynamisierenden Effekt, der zur Radikalisierung der Szene stark beigetragen haben dürfte. Denn der Schein der Attitüde war nur schwer aufrechtzuerhalten und verlangte eine permanente Bestätigung durch die Ablehnung von außen. Die Musiker kommunizierten diesen Zwang auf sehr unterschiedlichen Ebenen: Laut Roban Becirovic war es beispielsweise üblich, dass sie Interviews stets nur schrift657 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 272, 274, 285. 658 Interview Fred Estby, 17.55-19.11 Min. 659 Ihsahn, in: Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 237.
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lich gaben, um sich als mystischer und intelligenter präsentieren zu können – persönlich wären viele ihrer Aussagen seiner Meinung nach nur peinlich gewesen.660 Ein weiteres Element war die Stilisierung einer sozialen Gruppe rund um den Plattenladen Helvete zu einem »Schwarzen Zirkel«, obgleich laut Aussage aller Beteiligten bis auf unregelmäßige Treffen keinerlei Organisation oder gar ein Ziel bestand.661 Ebenfalls in den Bereich der Stilisierung fiel die Instrumentalisierung einer »musikalischen Passion«, die vor allem von Aarseth kommuniziert wurde, und nach der Armut, Hunger und Wohn-bzw. Probe-Probleme den Willen zu untermauern schienen, eine absolute Hingabebereitschaft für musikalische Extremität und Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen – ein vor dem Hintergrund der Elternhäuser und staatlichen Unterstützung leicht durchschaubares Konstrukt.662 Eine deutliche Hierarchisierung im Rahmen des Helvete-Ladens, in der sich Neueinsteiger als »prospects« verstanden,663 ein absichtlich offen gelassenes Abgrenzungsproblem im Spiel mit rechts-und linksextremen Positionen, das von inkohärenten Kurswechsels konterkariert wurde,664 sowie ein viel beschworener Satanismus, den Manuel Trummer ein »diffus-individuelles Panoptikum satanistischer Versatzstücke, atmosphärischer Szenarien und plumper Provokation«665 nannte, bildeten weitere Aktionsfelder im Szene-Wettbewerb. Die soziale Szene-Logik beruhte dabei auf einem elitären Selbstbild, das die Musiker nicht nur musikalisch, sondern auch gesellschaftlich verstanden,666 und das für die Individuen die Illusion verdeckte, man könne Produkte auf einem Markt der Aufmerksamkeit anbieten, die sich bis zur Unvermarktbarkeit vom Akzeptierten entfernten. Die Furcht, vom Mainstream eingeholt zu werden, verkannte dabei vollkommen das kommerzielle Potential des eigenen Handelns und vertauschte mit subkulturellem Trotz die Ursache und die Wirkung. Christian »Varg« Vikernes beschrieb dies als Gefangensein in einer sozialen Spirale: Jedes Mal, wenn wir bemerkten, dass uns andere immer noch ›mochten‹ und gern unsere ›Freunde‹ geworden wären, mussten wir den Irrsinn sozusagen weiter hoch-
660 Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 254. 661 Vgl. Kristiansen, Slayer 9 (1992). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 221; Vgl. auch Eithun, in: Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 87f. 662 Vgl. Kristiansen, Slayer 8 (1991), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 209; Vgl. Stubberud, The Death Archives, S. 157. 663 Vgl. Christopher »Garm« Rygg, in: Patterson, Black Metal, S. 575. 664 Vgl. Satyr, in: Kristiansen, Slayer 10 (1995), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 295; Vgl. Demonaz, in: Stöver, Voices from the Darkside 4, in: ders. (Hg.), Voices, S. 8; Vgl. Vikernes, in: Slayer 10 (1995), S. 292. 665 Manuel Trummer, Sympathy for the devil? Transformationen und Erscheinungsformen der Traditionsfigur Teufel in der Rockmusik, Münster 2011, S. 270, grundlegend S. 255–270; Zur Adaption religiöser Codes im Black Metal generell vgl. Anna-Katharina Höpflinger, Ästhetisch, identifikatorisch, normativ. DIe Funktion der Rezeption religiöser Codes im Norwegischen Black Metal, in: Chaker/Schermann/Urbanek (Hg.), Analyzing Black Metal, S. 63–86. 666 Vgl. Borovcanin, Skogen 2 (1995), S. 112f.; Vgl. Kristiansen, Slayer 10 (1995), S. 319 (Garm); Vgl. Swiniartzki, Szene-Eliten.
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schrauben und noch krassere Maßnahmen ergreifen, um uns von ihnen zu entfremden.667 Die norwegischen Musiker stehen dadurch sinnbildlich für die subkulturelle Ironie in einer gesellschaftlichen »Logik des Besonderen« (Reckwitz): Denn gerade die hervorstechendsten und heftigsten Praktiken sowie die größtmöglichen musikalischen Extreme führten dazu, jene Aufmerksamkeit zu generieren, die Black Metal letztlich bekannt und weniger besonders machte. Eine hyperindividualistische Erschaffung eines Alter Egos durch das Corpsepaint – gedacht, um die »Fesseln der Bürgerlichkeit« abzustreifen und die Exklusivität eines Gefühls zu vermitteln668 – war daher nur sehr kurz ein szene-singuläres Alleinstellungsmerkmal. In der kommerzialisierten Struktur der global verdichteten Kommunikation war es unmöglich, diesen Authentizitätsvorsprung zu stabilisieren und folglich zeigten sich einige Akteure sehr enttäuscht darüber, die kurze und exklusive Aufmerksamkeit verloren zu haben.669 War schon die Abgrenzung nach außen in dieser Form neu, entsprach auch die Abgrenzungsattitüde innerhalb der Szene keinen bisherigen Beispielen. Es handelte sich dabei um den Test, wie weit Individualisierung in einer Gemeinschaft gehen kann. Mit Blick auf die nachträglichen Aussagen der Akteure ist es nur schwer verständlich, wie dieser Spagat funktionieren konnte. Einerseits belegen sie einen freundlichen Charakter vom zentralen Szene-Akteure Aarseth und von selbstreflexiven und intelligenten Musikern wie Fenriz, Garm oder Ihsahn.670 Die Kommunikation, die im Plattenladen Helvete ab 1991 ein lokales Zentrum fand, war eng, teilweise wohnten verschiedene Musiker dort und organisierten Konzerte, gemeinsame Fahrten und ein Netzwerk mit anderen norwegischen Regionen (vor allem Bergen).671 Die Sozialbeziehungen wiesen alle Anzeichen eines Freundeskreises auf und auch Metalion äußerte »we were all friends.«672 Andererseits erlebte das Individualisierungsstreben hier einen Höhepunkt, weil trotz dessen versucht wurde, eine im Grunde asoziale Attitüde des »feeling nothing«673 zu etablieren. Für Fenriz bedeuteten Black Metal und Freundschaft ein »anathema«,674 die Atmosphäre wurde als »hart« beschrieben und unter allen Umständen musste der Anschein der »seriousness« gewahrt bleiben.675 Potentiellen Szene-Gängern, die den Plattenladen besuchten und nicht dem Insider-Status entsprachen, begegnete man
667 Patterson, Black Metal, S. 216. 668 Vgl. Woodrow Steinken, Norwegian black metal, transgression and sonic abjection, in: Metal Music Studies 5 (2019) 1, S. 21–33; Vgl. Ross Hagen, Musical Style, Ideology, and Mythology in Norwegian Black Metal, in: Wallach/Berger/Greene (Hg.), Metal Rules the Globe, S. 180–199, hier S. 191. 669 So etwa Fenriz: »There was no outside attention until all the shit happened – and then the idiots came flooding in.« Halmshaw, Peaceville Life, S. 159. 670 Zitate von Grutle Kjellson (Enslaved), Fenriz und Audrey Well, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 533. 671 Vgl. Zierleyn, Booklet to Black Death. 672 Kristiansen, Slayer 10 (1995). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 269. 673 Ihsahn, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 551. 674 Fenriz, in: ebd., S. 530. 675 Ted Skjellum dazu: »It does not seem to be fun from the outside but it was, it was weirdly unserious, in all its seriousness.« Halmshaw, Peaceville Life, S. 160.
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reserviert676 und es bestehen Hinweise darauf, dass Aarseth sogar intendierte, die Besucher Fragebögen ausfüllen zu lassen, um ihr Szene-Wissen zu überprüfen677 – eine in dieser Form neue Idee, die den empfundenen Spagat zwischen dem Verkauf von »Trendscheiß« (Aarseth) und einem Szene-Distinktionswunsch offenbarte.678 Der interne Wettbewerb wurde schließlich radikalisiert und konnte sich zu einem Überbietungswettstreit ausweiten, weil die Brandstiftung an der Fantoft-Kirche durch Vikernes und der Mord durch Eithun an einem Homosexuellen in Lillehammer die Grenzen des symbolischen Widerstands überschritten, lange in der Szene bekannt waren, aber polizeilich erst später aufgeklärt wurden.679 Aarseth, der diese Radikalisierung rhetorisch stets vorbereitet hatte, aber bis auf seinen würdelosen Umgang mit der Leiche des toten Mayhem-Sängers Per Ohlin zunächst nicht an transgressiven Taten beteiligt war, gehörte in dieser sozialen Spirale genauso wie Metalion oder Fenriz, der als einziger beruflich etwas zu verlieren hatte,680 zu den Verfechtern symbolischen Protests. Auch Aarseth war dann 1992 zwar an der Brandstiftung an der Holmenkollenkapelle in Oslo beteiligt – die Organisatoren der Radikalisierung waren dagegen Akteure wie Eithun und Vikernes, ein bezeichnenderweise szenisch zu spät Gekommener aus der Bergener Mittelklasse, der schwedische Musiker bedrohte, Brandstiftungen durchführte und ermutigte und den Kontakt mit der Presse suchte, wo er inkonsistente Umsturz-und Gewaltfantasien verbreitete.681 Mit Aarseth verband ihn ein ambivalentes Schüler-LehrerVerhältnis, das sich zu einer schärfer werdenden Konkurrenz um Deutungs-und Organisationshoheit entwickelte und im Mord an Aarseth durch Vikernes 1993 kulminierte. Insgesamt befanden sich schließlich 15 Akteure mit unterschiedlicher Dauer in Haft.682 Wie ist dieses Phänomen nun gesellschaftlich zu bewerten? Es handelte sich um einen Einzelfall einer außer Kontrolle geratenen sozialen Distinktionsspirale, die nachträglich als musikalisches Phänomen verklärt, aber auch kommerziell instrumentalisiert wurde. Die Aufmerksamkeit, die Black Metal ab 1993 auf sich zog, wäre ohne diese extreme Gründungserzählung nicht möglich gewesen.683 Die besorgten Versuche, dafür strukturelle Defizite der norwegischen Gesellschaft verantwortlich zu machen, halte ich für unbegründet und nicht schlüssig.684 Die Verweise auf eine vermeintliche Mittelmäßigkeit einer beinahe klassenlosen Gesellschaft, die jugendliche Langeweile oder den Einfluss der protestantischen Kirche zeugen davon, dass das spezifisch Postmoderne
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Vikernes, in: Aites/Ewell (Reg.), Until the light takes us, 31.52-32.27 Min. Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 153. Bard Eithun, Orcustus 2 (1992), S. 36. Vgl. Kristiansen, Slayer 10 (1995). Foreword, S. 263f. Fenriz später: »I had a steady job, probably I had the best economy of all that crew and most to lose. I would have to go to work and think about all of it a lot of the time. I still went crazy, hehe, but many others that just had the store.« Zierleyn, Booklet to Black Death. Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 141f. Philippov, Extreme Music, S. 162. Vgl. Ross Hagen, Historiographies of Violence in Norwegian Black Metal, in: van der Steen/ Verburgh (Hg.), Researching Subcultures, S. 151–170. Weite Teile des Buches Lords of Chaos (Moynihan/Søderlind) sind von der Suche nach solchen gesellschaftlichen Faktoren durchzogen, die von Trägern der Kirche, des Staates und der Bürokratie formuliert werden.
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dieser Szene nicht verstanden wurde. Denn die Dynamik des Black Metals wurde trotz anderslautender Beschwörungen der Musiker nicht durch etwas ermöglicht, das sie zu überwinden oder zu zerstören hofften – diese kommunizierten Feindbilder wurden beliebig gewechselt –, sondern es war viel eher die geschickte Generierung eines medialen Hypes, der ihnen Aufmerksamkeit und Verbreitung verschaffte, ihre lokale Distinktion erst publik machte und die Marke Black Metal erzeugte. Sie hatten als zunächst vollständig DIY-organisierte Kulturproduzenten die Art und Weise, wie sich subkulturelle Distinktion vermarkten ließ, in ihrer ganzen Schnelllebigkeit und Widersprüchlichkeit verstanden. Ihre inhaltliche Flatterhaftigkeit und ihre extremen Positionen und Sounds entsprachen ganz dem neuen Zwang permanenter Neujustierung des Selbst, um weiterhin als besonders und relevant wahrgenommen zu werden. Wie für keine andere MetalSzene zuvor zählte für sie das Neue, nicht das Bessere. Der von ihnen inszenierte »black turn« war ein geschickter Marketing-und Stilisierungsschachzug und unter anderem deshalb das Ende der »langen 1980er Jahre« in der Metal-Kultur, weil ihre Methode unter den sich ausweitenden digitalen Strukturen Schule machte.685
6.2.5 Going back underground – Szenen verlieren an Aufmerksamkeit Immer wenn ein neuer Trend innerhalb der Szene zu viele Nachahmer nach sich zieht, fängt es an, sehr ermüdend zu werden. Das war beim Black Metal nicht viel anders als beim old school Death Metal oder beim Revival des 80er Heavy Metals. Was anfangs noch wie eine frische Brise wirkt, fängt relativ schnell an zu stinken.686 Die norwegische Szene verdeutlichte ein Entwicklungsprinzip sehr drastisch, das für alle hier besprochenen Metal-Szenen galt: Die kommerzialisierte subkulturelle Abgrenzung kann sich nicht der Illusion hingeben, ihre vermeintliche Neu-und Einzigartigkeit zu stabilisieren. Stattdessen resultierten aus der Suche nach Transgression regionale Aufbrüche und internationale Vernetzungen, die zu Aufmerksamkeitskonjunkturen mit immer geringerer Halbwertszeit führten. Die Beachtung kam und ging – nicht unbedingt, weil zu viele Nachahmer vorhanden waren (dies ist nicht der Grund, sondern die Folge), sondern weil das Interesse schwand, wenn ein Phänomen nicht mehr als neuartig eingestuft wurde. Einige wenige Bands blieben nach jeder dieser Konjunkturen zurück, viele andere lösten sich aber auf, was aber spätere Revivals nicht ausschloss. Die globale
685 Zur Nostalgisierung der Gewaltgeschichte der Szene vgl. Ross Hagen, ›Kvult-er than thou.‹ Power, Suspicion and Nostalgia within Black Metal Fandom, in: Linda Duijts/Koos Zwaan/Stijn Reijnders (Hg.), The Ashgate research companion to fan cultures, Farnham 2014, S. 223–235; Zum Wandel der Szene-Kommunikation vgl. ders., Musical Style, Ideology, and Mythology in Norwegian Black Metal, S. 185f. 686 Interview Frank Stöver, Z. 94–98.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Metal-Szene heutiger Tage, die durch Festivals, Specials oder Tributes den alten Größen der 1970er bis frühen 1990er Jahre Respekt zollt und zu einem Einkommen verhilft, war in den »langen 1980er Jahren« jedoch noch nicht vorhanden und entwickelte sich erst nach einem kollektiv empfundenen Tiefpunkt der Metal-Kultur in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre.687 Bis dahin war die Schlagzahl der Aufmerksamkeitskonjunkturen sehr hoch und stets fanden regionale Szenen neue Wege, die Musik und Ästhetik ihrer Vorbilder aufsehenerregend zu übertreffen. Mit dem auch symbolischen Ende der Black Metal-Szene in Norwegen und dem sich anschließenden Wegbrechen der Aufmerksamkeit durch den Grunge-und dann Brit-Pop-Boom, fand ab Mitte der 1990er Jahre eine Umorientierung der Metal-Musik statt – weg von den Hardcore-Punk-Beziehungen der »langen 1980er Jahre« und hin zu Rap, Elektro, Folk, weiblichem Klargesang usw. Für jüngere Hörer mochte dies keine Zäsur sein und viele heute als legendär eingestufte Bands produzierten und verkauften weiter, aber für jene, die zwischen DIY und dem Internet mit Metal sozialisiert wurden, bedeutete die Mitte der 1990er Jahre einen Umbruch in der stilistischen Entwicklung des Genres und vor allem in seiner Kommunikation und Vermarktungsweise.688 Viele Zäsuren knüpften sich an diese Phase: Clubs schlossen, Bands lösten sich auf und es kamen keine nach, bekannte Radio-oder TV-Formate (etwa Headbangers Ball 1995/96) wurden eingestellt und besonders auf dem wichtigsten Markt, den USA, war das Interesse an Heavy Metal komplett verschwunden.689 Die in ihren Nischen operierenden Bands der 1980er Jahre hatten ein Modernisierungsproblem und laut Dave Mustaine (Megadeth) »[they] have fallen by the wayside, because of whatever reason they weren’t really willing to modernize their music.«690 Die Beobachtung von Aufmerksamkeitskonjunkturen ist vor allem mit punktuell auftretenden Aufstiegs-und Verlusterzählungen verbunden, die sich entsprechend nie gleichzeitig an einem Ort artikulierten – der einen Szene Gewinn war der anderen Verlust. So fiel das um 1982 deutlich zu bemerkende Abebben der NWOBHM, für das die Musiker die britischen Medien verantwortlich machten, mit einer Euphorie in Kalifornien, in New York und im Ruhrgebiet zusammen. Der »frische Wind«, den beispielsweise Brian Slagel in Los Angeles (»If it’s dying down over there, maybe what’s happening here could really become something.«691 ) oder Ron Quintana in San Francisco empfanden (»England was already getting passé when I get there in 82 and English bands were just breaking up and moving on.«692 ), speiste sich aus dem Bewusstsein um ein Aufmerksamkeits-Interim und dessen Potentiale. Das daraus hervorgehende Thrash Metal-Subgenre erlebte diese Verlusterfahrung der NWOBHM dann circa zwischen 1988 und 1990, als aus Sicht der Musiker die Szene begann, sich selbst zu »kannibalisie-
687 In der Januarausgabe von 1996 titelte der Rock Hard sogar »Ist der Metal tot? Eine Analyse« und beerdigte bildlich eine Kutte. 688 Vgl. Interview Götz Kühnemund, 17.30-20.38 Min. (2. Spur); Vgl. Interview Bogdan Kopec, 50.2851.42 Min. 689 Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 152f. 690 Christe, Sound of the beast, S. 211. 691 Slagel, For the sake of heaviness, S. 33. 692 Forbes, Ron Quintana.
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ren«693 , als Produktionskonventionen eine Unterscheidbarkeit der Bands erschwerten und als – ein klassischer Vorwurf – die »major labels killed thrash metal.«694 Für Beobachter wie Marco Barbieri in der Bay Area zog die Aufmerksamkeit, die man um 1983/84 mühsam generiert hatte, nun weiter und ließ eine konsternierte Szene zurück: It was a difficult time, though, as the scene was completely death metal by then and a band from the bay area that still had some thrashy elements was not in vogue and they ultimately decided to throw in the towel.695 Zeitgleich wurde es in Florida »exciting«696 , Tampa etablierte sich als »death metal capital of the world«697 , Major Labels experimentierten mit Bands wie Morbid Angel und zwischen 1990 und 1992 verkauften sich Death Metal-Bands aus dem Sunshine State für Extreme Metal-Verhältnisse hervorragend.698 Die mediale und kommerzielle Aufmerksamkeit gehörte dem »Sound der Stunde«, nur um noch schneller erneut abgelöst zu werden: Bands and people were moving to Florida to capitalize on the growing attention Florida was receiving but things changed at some point. Black Metal became a new focus and attention moved to the Scandinavian markets like Sweden and Norway.699 Diese genre-interne Konkurrenz ist nicht als Genealogie zu verstehen – auch nach 1983 gab es noch NWOBHM-Bands, nach 1990 noch Thrash-und nach 1993 noch Death MetalBands. Es handelte sich also eher um ein breiter werdendes Genre-Repertoire mit Überlappungen, in dem einem Sub-Genre bzw. einer Szene die größte Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Dafür, dass um 1992/93 eine »heaviness«-Spirale an ihr Ende kam und sich Aufmerksamkeit nicht mehr so erfolgreich an Transgression knüpfen ließ, spricht auch, dass dem Metal-Genre, vor allem in den USA, wo Black Metal keine Rolle spielte, die größte Konkurrenz durch den Grunge erwuchs. Symbolisch wurde diese Wachablösung durch das Konzert-Format Clash of the Titans, bei dem 1990 Alice in Chains als Vorband der wichtigsten Thrash Metal-Bands auftraten – drei Jahre später hatten sich die Verhältnisse umgekehrt und der Grunge, introvertierter, langsamer, emotionaler und androgyner als die Metal-Bands, aber mit musikalischen Schnittmengen, wurde zum »final nail in the coffin for metal.«700 Die Indie Labels, Magazine und Radiostationen im Land verloren das 693 Lee Harrison über die Szene in der S.F. Bay Area: »the scene out there was just starting to cannibalize on itself.« Netherton, Extremity Retained, S. 150. 694 Monte Conner, in: Christe, Sound of the Beast, S. 226. 695 Forbes, Marco Barbieri. 696 Harrison, in: Netherton, Extremity Retained, S. 150. 697 So sogar bei: Eric Snider, Princes of Darkness, in: Tampa Bay Times (St. Petersburg, Florida), 21.04.1991, S. 65. 698 Obituary’s The End Complete verkaufte sich zwischen 100.000 und 125.000 Mal. Covenant von Morbid Angel verkaufte sich allein in den USA mehr als 150.000 Mal. Vgl. Swiniartzki, Why Florida?, S. 184. 699 Interview Lee Harrison, Z. 54–58. 700 Forbes, Skitzo. Interview with Lance Ozanix.
6. Soziale Kohäsion mit Sprengkräften
Interesse an Thrash und Death Metal und immer weniger Clubs ermöglichten MetalKonzerte.701 Für ein auf Metal spezialisiertes Label wie Megaforce Records war 1992, das Jahr indem die wegweisenden Alben von Nirvana und Alice in Chains erschienen, daher auch ein existenzbedrohender Tiefpunkt: Die Verkäufe aus dem Katalog brachen ein, das Label entließ Mitarbeiter, das A&R-Department fand keine neuen Metal-Bands mehr und letztlich beendete PolyGram den Distributionsvertrag – für ein Indie Label fast der Todesstoß.702 Für vor Kurzem noch beachtete Musiker und Bands wurde Grunge dadurch zu einer ebenso intensiven Projektionsfläche für Vorwürfe wie zuvor der Glam Metal – oder in den Worten von James Murphy aus Tampa: »I can tell you exactly what happened: Seattle.«703 Im Rennen um Aufmerksamkeit hatte Heavy Metal (fürs Erste) den Kürzeren gezogen, um in Form zahlreicher Revivals in den 2000er Jahren zurückzukehren.
Abb. 55: Anti-Grunge Statement der Band Nokturnel. Die »Space Needle« von Seattle zerbricht.
Quelle: URL: www.metalcorefanzine.com/ts.html (letzter Aufruf 18.05.2022).
701 Vgl. Forbes, Midian. Interview with Chris Hawkins. 702 Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 151f., 164. 703 Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 486.
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7. Ambivalente Kommerzialisierung Narrative und Strukturen
Wie jedes andere Genre populärer Musik auch war (Heavy) Metal in den »langen 1980er Jahren« durchweg kommerzialisiert und neben den Plattenfirmen etablierten sich zahlreiche andere Akteure und Institutionen, die versuchten, von den Songs der Musiker finanziell zu profitieren.1 Gleichzeitig konnte jedoch die Authentizitätskonstruktion des Genres nur funktionieren, wenn diese nicht allzu erfolgreich arbeiteten. Denn Heavy Metal benötigte die Abgrenzung und Ablehnung durch den »Mainstream« in Presse und Musikindustrie, um seinen sub-und gegenkulturellen Anspruch aufrechtzuerhalten.2 Zwischen beiden Strukturelementen, dem kommerziellen Verwertungs-und dem sozialen Distinktionszwang, bestand ein unauflösbarer Widerspruch, in dessen permanenter Neuverhandlung die große jugendkulturelle Stärke der Metal-Kultur lag: Erst die Aporie von Plattenverkaufswunsch und »sell-out«-Angst und das daraus resultierende »Underdog«-Narrativ setzten die musikalische und soziale Abgrenzungsspirale in Gang und erzeugten neue Stilformen mit Authentizitätsüberschuss, die sich wieder attraktiv medialisieren und kommerziell vermarkten ließen.3 Die folgenreiche Trennung von Mainstream-Metal und Underground-Metal – also die Tatsache, dass Heavy Metal den vermeintlichen Ausverkauf auch unter dem »eigenen Dach« hatte –, befeuerte diese Spirale während des Jahrzehnts noch weiter. Von den Akteuren erforderte diese konsequente Neujustierung des Selbst die Fähigkeit, »Ambivalenzen auszuhalten«4 , d.h. das eigene Handeln mit den Widersprüchen 1
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Zur Entmythisierung des antikommerziellen Narrativs vgl. zuletzt Klaus Nathaus, Driven by Enthusiasm. Amateurung in Music, in: ders./Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 95f.; Vgl. Simon Fith, Commodifying Music. Tickets, Copies, and Licenses, in: ebd., S. 146f. Vgl. Hélène Laurin, Triumph of the maggots? Valorization of metal in the rock press, in: Hjelm/ Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal, S. 50–65, hier S. 62; Zu diesem Spannungsverhältnis in einer anderen Musikkultur vgl. Sarah Thornton, Club Cultures. Music, Media and Subcultural Capital, Hoboken 2013. Vgl. die Einschätzung von Dee Snider (Twisted Sister), in: Christe, Sound of the Beast, S. 164: »once it got in to the mainstream, it was over. It was always the underdog image that kept it alive.« Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Frankfurt a.M. 2019, Text Buchrücken.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
eines vermeintlich anti-kommerziellen Genres innerhalb der Musikindustrie möglichst glaubhaft in Einklang zu bringen. Die dazu notwendige öffentliche Verhandlung über Magazine, Fanzines, Promotion-Strategien, Merchandise und das musikalische Produkt war kompliziert, weil sie keinen starren Regeln folgte: Weder war immer klar, wo die Grenze zwischen legitimer Verkaufsabsicht und illegitimem Mainstream-Erfolg lag – wo also der Mainstream begann –, noch war die mediale Strategie jener, die über diesen Prozess urteilten, immer vorherzusehen. Die Publikumsreaktion gestaltete sich dementsprechend (beinahe) unvorhersehbar und schuf eine Atmosphäre der Unsicherheit, die dazu führte, dass sich sowohl die Musiker als auch Intermediäre wie Produzenten oder Manager in einem Spagat widersprüchlicher Handlungsmaximen mit doppelseitigem Rechtfertigungsdruck befanden.5 Noch komplizierter wurde es schließlich, weil jene Player in der Musikindustrie, die man als Inbegriff massenmedialen Ausverkaufs imaginierte, in Wirklichkeit in einer personellen und Interessen-Beziehung zu den Szenen standen. Ebenso, wie zwischen den DIY-basierten Praktiken der Szenen und den daraus erwachsenden Indie Labels zahlreiche Kontinuitäten und Verflechtungen bestanden, waren auch die Major Labels dauerhaft geschäftlich wie sozial mit den Indie Labels und den Szene-Medien verknüpft und etablierten eine effektive Sondierungsarena potentieller Mainstream-Erfolge.6 Der vermeintliche Underground blieb also dauerhaft auf den Mainstream verwiesen und umgekehrt, während sie im Szene-Narrativ ostentativ getrennt werden mussten. In der Folge wird daher zunächst auf die Bestandteile jenes anti-kommerziellen Narrativs eingegangen, das sich als Folge der Authentizitäts-Kriterien des Rock-Genres in der Heavy Metal-Kultur ausbreitete, verschärfte und dann vor allem in den Szenen des Extreme Metals dominant wirkte. In einem zweiten Schritt werden dann die Indie Labels als jene Institutionen vorgestellt, die zwischen DIY-basierter Authentizität und Kommerzialisierung vermittelten und seit den 1970er Jahren in engem Arbeits-und Wirkungsbezug zu den Major Labels standen. In ihrer Gründungsphase, Arbeitsweise und der Entwicklung ihrer Verträge mit den Musikern und den Major Labels (Plattenverträge, Distributionsverträge, Lizenzverträge) offenbarten sich die multiplen Bezüge der ambivalenten Kommerzialisierung besonders eindrücklich. Ein dritter Abschnitt beschäftigt sich schließlich mit den Arbeitsbereichen und Strategien des Band-Managements, einer einflussreichen Vermittlungsinstitution zwischen Produktion und Konsumtion sowie zwischen Underground-Narrativ und Kommerzialisierung, die selbst meist als DIY-Arbeitsbereich entstanden war und sich zwischen diesen widersprüchlichen Polen nachvollziehbar verorten musste.7
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Es handelte sich dadurch quasi um die subkulturelle, soziale und mediale Seite der production-ofculture-Perspektive. Vgl. Klaus Nathaus, Auf der Suche nach dem Publikum. Popgeschichte aus der »Production of Culture«-Perspektive, in: Geisthövel/Mrozek (Hg.), Popgeschichte, S. 127–153, hier S. 140f. (v.a. das »imaginierte, institutionell effektive Publikum«). Vgl. Alex Ogg, Independence Days. The Story of UK Independent Record Labels, London 2009, S. I und ff. Vgl. Hartmut Berghoff, Marketing im 20. Jahrhundert. Absatzinstrument – Managementphilosophie – universelle Sozialtechnik, in: ders. (Hg.), Marketinggeschichte, Frankfurt a.M. 2007, S. 11–58, hier S. 11–13.
7. Ambivalente Kommerzialisierung
7.1 Komplizierte Konventionen – Metal als Zuspitzung der Paranoia des Rock Die Grundlage des Selbstverständnisses in der Metal-Kultur kann als besonders drastische Form der bereits in der Entstehung der Rock-Musik zu beobachtenden Authentizitätskonstruktion interpretiert werden. Bereits in den 1960er Jahren hatten weiße Musiker und Fans in Europa die schwarze Gitarrenmusik aus den USA entdeckt, als unkommerziell imaginiert und gegen den vermeintlich künstlichen und gewinnorientierten Pop in Stellung gebracht – und dadurch das angeblich Unkommerzielle geschickt kommerzialisiert.8 Die Proto-Heavy Metal-Bands der 1970er Jahre bewegten sich klar in diesem Fahrwasser des Rock-Genres: Bands wie Black Sabbath, Deep Purple oder Led Zeppelin veröffentlichten ganz selbstverständlich bei Major Labels oder großen Indie Labels und erreichten enorme Verkaufszahlen, während der Wunsch nach einem MajorPlattenvertrag als Zukunftsperspektive für nachkommende Bands normal war.9 Dieser anvisierte Weg zum Erfolg blieb auch noch während der NWOBHM üblich. Doch verdeckten der Wechsel von Judas Priest zu CBS, von Iron Maiden zu EMI, von Def Leppard zu PolyGram oder von den Tygers of Pan Tang oder Diamond Head zu MCA, dass sich über den Major-Wunsch hinaus eine Verschiebung in den Anbahnungsprozessen von Plattenverträgen ergeben hatte. Denn die Major Labels gingen in den 1970er Jahren dazu über, den Indie Labels keine Künstler mehr abzuwerben oder die Unternehmen aufzukaufen, sondern schlossen lieber Vertriebsvereinbarungen mit ihnen ab. Die vermeintliche Unabhängigkeit und Talent-Akquise blieb bei den Indie Labels, während die Major Label vor allem in der Herstellung, Rechteverwaltung und in der Distribution Schwerpunkte setzten. Die Majors wurden in ihrer Beziehung zu den produzierenden Akteuren also flexibler, hatten aber in ihrer Hoheit über die Infrastruktur (vor allem im Vertriebsnetz) weiterhin einen enormen Einfluss darauf, was wo verkauft werden konnte.10 Dabei war diese Strategie eine Reaktion auf die Krise: 1979 berichtete der Rolling Stone, dass die Verkaufszahlen für Alben um 20 Prozent eingebrochen waren und das Jahr zum schlechtesten seit 1973 machten.11 Besonders zwischen dem Ende der 1970er Jahre und der Mitte der 1980er Jahre – also in der Geburtsphase aller Metal-Sub-Genre der »langen 1980er Jahre« – brachen die Verkaufszahlen ein und erst eine Marktbereinigung sowie ein neuer Wachstumspfad durch die Einführung der CD (1983) verbesserten die Stimmung bei den Major Labels wieder.12
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Vgl. Klaus Nathaus, Die Musik der weißen Männer. Zur Kritik des popgeschichtlichen Emanzipationsnarrativs, in: Mittelweg 36 (2016) 4–5, S. 81–97, hier S. 95. Zum Wandel der Zukunftsperspektiven der Arbeit vgl. Kapitel 2; Zu den Verkaufszahlen der Alben der genannten Bands während der 1970er Jahre vgl. die jeweiligen Wikipedia-Einträge. Vgl. Klaus Nathaus, Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum. Populärmusik und soziale Differenzierung in Westdeutschland circa 1950–1985, in: Sven-Oliver Müller/Jürgen Osterhammel/ Martin Rempe (Hg.), Kommunikation im Musikleben. Harmonien und Dissonanzen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2015, S. 251–275, hier S. 265. Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 152; Krise auch bei Roccor, Heavy Metal, S. 294. Vgl. Christian A. Müller, »Die nicht-kreativen Hintergründe liefern«. Tonträgerindustrien in Ostund Westdeutschland im Strukturwandel der 1950er bis 1980er Jahre, in: Werner Plumpe/André
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Der in diesen Jahren vollzogene Strategiewechsel in der Musikindustrie führte auch zu einer Veränderung für die Heavy Metal-Bands: Die Major Labels zogen sich nach dem NWOBHM-Experiment fast vollständig aus den nun entstehenden Sub-Genres zurück, blieben aber auf zwei Arten weiterhin wirkmächtig – einerseits durch eine personelle Verjüngung in den A&R-Abteilungen, die beispielsweise bei EMI oder MCA zu ersten Metal-Compilations geführt hatte13 und deren Verantwortliche nun ihre Marktbeobachtung durch ihre Beziehungen zu den Indie Labels auch auf Heavy Metal-Bands ausweiteten. Und andererseits durch ihr Distributionsnetz, das sie den Indie Labels in lukrativen Verträgen zur Verfügung stellen konnten.14 Neben der musikalischen Komponente des Wandels, d.h. der steigenden Heaviness, war dieser Strategiewechsel dafür verantwortlich, dass sich die Extreme Metal-Bands der »langen 1980er Jahre« fast ausschließlich durch Verträge mit Indie Labels etablierten, die Major-Option aber nie ausgeschlossen war. Die zunehmende Organisation abseits der Major Labels kam aber auch dem sich nun radikalisierenden Abgrenzungsstreben entgegen und neben Kontinuitäten wie der Ablehnung durch die bürgerliche Presse gehörte die Abwesenheit von Major-Support zu den wichtigen Weiterentwicklungen der Authentizität des Rocks.15 Den zentralen Teil eines sich radikalisierenden Narrativs machte daher auch die DIY-Herangehensweise aus und auf der Grundlage selbstorganisierter und eigenfinanzierter Startphasen breitete sich ein Kommerzialisierungsverständnis aus, das den Extreme Metal deutlich von der Zeit der NWOBHM trennte und in dem ältere und neuere Denkfiguren zusammentrafen. Zu den älteren Aspekten der Rock-Erzählung, die nun weiterentwickelt wurde, gehörte erstens ein Unabhängigkeitsgedanke, in dessen Mitte die Überzeugung stand, dass Musik kein Produkt, sondern Kunst und Identität sei. Die authentische Metal-Musik knüpfte an die Denkfigur des Rock an, in der artifiziell-kommerzieller Pop einer romantischen Verklärung von Anti-Kommerzialität gegenübergestellt wurde.16 Wichtige Faktoren waren dabei der Aufbau und die Vermarktungsweise des Produkts: Ebenso wie Rock war Heavy Metal ein album-fixiertes Genre ohne Single-Bedeutung und unterstrich den Anspruch auf ein künstlerisches Gesamtwerk mit einer tieferen Bedeutung also schon im Aufbau.17 Das Album war ein Kunstwerk mit Botschaft und als zu Beginn der 1980er Jahre NWOBHM-Bands in den Album-Charts Erfolg hatten, herrschte bei den
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Steinert (Hg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Stuttgart 2016, S. 120–172, hier S. 165–168. Zur Krise vgl. Peter Ames Carlin, Sonic Boom. The Impossible Rise of Warner Bros. Records, from Hendrix to Fleetwood Mac to Madonna to Prince, Waterville 2021, S. 206–208; Zum Artikel im Rolling Stone vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 154. Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 187f. Zum Spannungsverhältnis von massenmedialer Abbildung und Sell-out-Angst vgl. sehr instruktiv bei Thornton, Club Cultures, S. 188–211. Vgl. Alf Björnberg, Populäre Musik und Popularmusik, in: Greger Andersson/Axel Bruch (Hg.), Musikgeschichte Nordeuropas. Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden, Stuttgart 2001, S. 219–252, hier S. 243. Vgl. Egbert Klautke, Die »britische Invasion« der 1960er Jahre, in: Hüser (Hg.), Populärkultur transnational, S. 120.
7. Ambivalente Kommerzialisierung
Singles bezeichnenderweise weiterhin die Pop-Musik vor.18 Dort, wo Plattenfirmen den Bands solche Singles aufzuzwingen versuchten, entstanden Probleme und eine Band wie Saxon, deren Label Carrere ebenfalls auf die schneller zu produzierenden und stärker verkauften Singles setzte, gewann auch dadurch den Eindruck einer nur an kommerziellen Gesichtspunkten interessierten Musikindustrie.19 Die sich dabei immer stärker herauskristallisierende Trennung zwischen künstlerischem Anspruch und bedeutungslosem Entertainment prägte schließlich die Metal-Kultur nachhaltig und eine Aussage wie die Folgende von Ross Dolan (Immolation) steht prototypisch für die dabei wirksame Selbstverortung als Kunstschaffender: We have always written music for ourselves, and the fact that others like what we do makes it a form of entertainment I guess, but that is not the sole intention or motivation for us to write music.20 Musikalisch manifestierte sich der identitätsstiftende Anspruch vor allem in der Weigerung, Erfolg in bereits etablierten Stilen und Kategorien zu suchen und folglich in konstanten Verweisen auf den Distinktionszwang einer jeden Metal-Band. Ohne das spezifisch Eigene war künstlerische Verwirklichung jenseits epigonaler Strukturen nicht möglich.21 Es gehört auch aufgrund dieser Denkfigur zu den wichtigsten Argumenten für den ausbleibenden Erfolg einer Band oder Szene, dass es zu viele Bands mit einem ähnlichen Stil gegeben habe.22 Seinen Höhepunkt fand dieses Narrativ von Kunst, Unabhängigkeit und Identität schließlich im Bild des glücklichen Amateurs, der – kommerziell nicht vereinnahmt – ausschließlich seiner Überzeugung folgen könne. Dies war durchaus auch musikalisch zu verstehen und Musiker wie Jeff Beccera (Possessed), der meinte »we had no idea what the fuck we were doing so it turned out perfect«23 , spielen 18
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Eine Suche in den Jahrescharts für Singles und Alben zeigt, dass zwischen 1980 und 1984 Bands wie Iron Maiden, Saxon, ACDC oder Motörhead durchaus bis in die Top-30 aufsteigen konnten. In den Single-Charts finden sich diese Bands jedoch nicht. Vgl. URL: https://www.chartsurfer.de/mu sik/album-charts-uk/jahrescharts/alben-1980/top-75 (letzter Aufruf 28.06.2022). Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 109, 115. Joe, Interview: Ross Dolan (Immolation), in: deathmetalunderground 2009, URL: www.deathme tal.org/interview/ross-dolan-immolation/ (letzter Aufruf 27.06.2022). Ein typisches Zitat für diese Perspektive: »Trying to develop your identity as a band is key. Coming out there and just relying on your influences and emulating them is cool for the local scene. However, when you come out there you’ve got to have your own unique sound otherwise you’ll get tossed aside. There’s a lot of bands that sound the same so trying to create something unique is key.« Jim, Interview: Ross Dolan of Immolation, in: The Moshville Times 2016, URL: http s://www.moshville.co.uk/interview/2016/05/interview-ross-dolan-of-immolation/ (letzter Aufruf 27.06.2022). Vgl. etwa Mark Adams (Deceased): »So basically, a few good ideas or styles are being played to death and each generation of bands is worse than their predecessors were. Everybody wants to play it safe and nothing new is being brought to the table.« Kristiansen, Slayer 19 (2004), in: ders./ Warrior (Hg.), Metalion, S. 635; Vgl. Bob Petrosino (Oblivion): »To me the scene was becoming monotonous and I could not distinguish one band from the next on many nights.« Forbes, Oblivion, in: Metalcore Fanzine; Vgl. andere Aussagen in: Netherton, Extremity Retained, S. 107, 115, 148, 218f. Andreyuk, Tape Dealer, S. 15.
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dabei auf die vermeintliche Freiheit von Sound-und Produktionskonventionen an. Einen weiteren Ausdruck fand diese Unabhängigkeitserzählung in den Arbeitsbiografien, in denen die Verpflichtungen zu »day jobs« als Garanten für eine selbstbestimmte Musik bewertet wurden. So ist Scott Reigel (Brutality) heute glücklich über den Umstand, nie bei einer großen Plattenfirma unterschrieben zu haben, weil er ansonsten hätte Alben veröffentlichen müssen, mit denen er nicht einverstanden gewesen wäre.24 Ross Dolan nutzt dabei sogar ein sprachliches Bild, nach dem die Musik nie »beschmutzt« worden wäre – da das künstlerische Schaffen nie ein Job für ihn wurde, habe ihn dies »pretty well grounded« und »in tune with what we want to do and what our fans want« gehalten.25 Dolans Hinweis auf die Fans deutet bereits an, wo die Grenze dieser Erzählung lag, denn trotz aller künstlerischen Freiheit musste aus Sicht der Fans und der Presse ein Fundament bestehen bleiben, an dem die Band erkennbar blieb. Für Jeff Walker, der zu Beginn der 1990er Jahre mit seiner Band Carcass einen starken musikalischen Wandel von Grindcore zum Death Metal vollzog, war es daher »pretty nasty« zu sagen, dass es der Band egal sei, was andere dachten und dass man ausschließlich sich selbst verpflichtet sei.26 Sein Bandkollege Bill Steer wurde dahingehend an anderer Stelle deutlicher und schob der Bemerkung, dass ihm der Verlust von Fans egal sei, postwendend nach: Y’know, if this bands gonna survive, we have to break out and, y’know, cover some new ground. I mean, we always keep our identity. I don’t think we’ll ever do anything that sounds out of character to us.27 Selbst der am lautesten vorgetragene Verweis auf die eigene Selbstbestimmung fand demnach seine Grenze in der Kritik, die die Musik als solche bewertete und sozial wirksam machte – keinem Musiker konnte es tatsächlich egal sein, was die Akteure im Feld über die Entwicklung der Band dachten, schrieben und sagten. Die musikalische Evolution der Metal-Szenen blieb deshalb auch an ein Gemeinschafts-Narrativ mit starkem Kontinuitätsversprechen angebunden und ein Musiker wie Kelly Shaefer, der mit seiner Band Atheist zu Beginn der 1990er Jahre versuchte, progressivere musikalische und textliche Strukturen im Florida Death Metal unterzubringen, empfand sich zwar einerseits als »outsider« und durchlebte deshalb »hard times«, war und ist aber andererseits auch
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Reigel: »At this point we’re happy with all the music that we wrote. We’re happy with the music that we released. What if we would have been bigger, you know, what if we would have done lots of stuff, and how many more albums we would have put out that honestly weren’t that good. We just put them out, because we were told we had to by our record company.« Interview Scott Reigel, 27.21-27.55 Min. Dolan, in: Paul Monaghan, INTERVIEW: Ross Dolan – Immolation, in: The Rockpit 2016, URL: htt ps://www.therockpit.net/2016/interview-ross-dolan-immolation/ (letzter Aufruf 27.06.2022): »It’s something that we never made a living off of, it hasn’t been tainted, it hasn’t become a job to us. It has become, ›Ok let’s write a record so we can generate some money‹. It’s never been like that with us, that has kept us pretty well grounded, that fact that we have to balance our ›normal lives‹ with what we do with Immolation. It’s still kept us hungry and very much in tune with what we want to do and what our fans want, it’s all of that combined.« Jeff Walker in: Victor Hsieh, Thrashikus 5 (1992), S. 39. Bill Steer in: Richard Johnson, Disposable Underground 1 (1992) 5, o. S.
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stolz, überhaupt zu diesem regionalen Sub-Genre gerechnet zu werden.28 Künstlerische Freiheit, das wird hier deutlich, war in den Grenzen der Genre-Narrative also immer ein Stück weit erkauft, weil die Rezeption eingepreist werden musste. In der Verhandlung von musikalischem Wandel, der eine immense Bedeutung für die soziale Geschichte der Metal-Kultur zukommt, waren die empfundenen Restriktionen daher auch nicht an die Frage gebunden, ob man sich verändern müsse, sondern wie dies passierte. Für Musiker wie Ted Skjellum (Darkthrone) und viele andere existierten dabei »gesunde« und »ungesunde« Wege, die ihren Unterschied an der Schnittstelle zwischen musikalischem und kommerziellem Wandel entwickelten: It’s a real pleasure to have control. We have always had ordinary jobs, I can’t imagine a life without that. If we should survive only on Darkthrone income, we had to do something drastic with the music I guess. Other bands have changed as well, nothing wrong with that really, but it’s HOW you do it. Some band has obviously become slaves of the record company and press, to achieve a status with the pop kids, other bands have changed in a more healthy way, developed themselves with maturity.29 Eine deutliche Verschärfung erfuhr der Rock-Diskurs daher zweitens hinsichtlich der Frage, wie Erfolg erlaubt war, weil die antikommerzielle Attitüde und Trendvermeidung den kommerziellen Strategien enge Grenzen setzten. Geld mit Metal-Musik zu verdienen war freilich nicht verboten, nur durften finanzielle Interessen an keiner Stelle in den Ruf geraten, die Vormachtstellung der musikalischen Identität zu gefährden. Kurzum: Man musste es aus den »richtigen« Gründen tun und der Verweis auf die eigenen FanWurzeln »der ersten Stunde« gehört deshalb auch genauso fest zur Metal-Narration wie der Hinweis auf jene, die lediglich einem Trend aus den »falschen« Gründen folgten. Ein wichtiges Erzählmuster nimmt in diesem Zusammenhang stets Bezug auf einen »non-profit«-Gedanken: Shirts wurden zum Selbstkostenpreis angeboten,30 Demos nicht an Labels versendet, weil nur die »echten« Fans des Undergrounds zählten,31 den Verkaufszahlen gegenüber schützte man Indifferenz vor,32 große Teile des Einkommens ermöglichten das Tape Trading33 und die »reine Liebe und Hingabe«34 des Undergrounds könne man ohnehin nur als Zeitgenosse vor der Etablierung des »großen Geschäfts« richtig verstanden haben. Im authentischen Idealfall brachte ein Szene-Engagement also kein Geld ein, sondern kostete und schützte die Akteure vor dem Eindruck, dass »love
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Vgl. Interview Kelly Shaefer, 13.30-14.02 Min. Andi Bauer/Frank Stöver, Darkthrone. Interview with Ted Skjellum, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/darkthrone/ (letzter Aufruf 27.06.2022). Etwa bei den Schweden Crematory. Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 139. Etwa bei den Schweden Necrophobic. Vgl. Frank Stöver, Necrophobic, in: Voices From The Darkside 2 (1993), in: ders. (Hg.), Voices, S. 49. Als Beispiel vgl. Marius Mutz, Interview mit Ola Lindgren von Grave, in: metal1.info 2010, URL: htt ps://www.metal1.info/interviews/grave/ (letzter Aufruf 27.06.2022). So bei Mayhem vgl. Stubberud, The Death Archives, S. 156f. So Tomas Lindberg, in: Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 111, 113.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
had turned into a job.«35 Frank Stöver rekapitulierte seine jahrzehntelange Aktivität dementsprechend auch entlang finanzieller Gesichtspunkte: Ich habe mehr Geld in all den Jahren für diese Dinge ausgegeben als ich wieder hereinbekommen habe. Aber solange es bezahlbar blieb, hat mich das nie wirklich gestört. Geld verdient habe ich eigentlich nur in der Zeit als ich für größere Magazine gearbeitet habe, aber auch da waren für mich immer die Themen an sich wichtiger als die Bezahlung. Letzteres war lediglich ein positiver Nebeneffekt. Vermutlich gehe ich deshalb auch nach über 40 Jahren in der Szene immer noch einem normalen Job nach und habe nicht mein Hobby zum Beruf gemacht, wie viele andere, die mit mir zusammen angefangen haben. Ich stecke immer noch den Großteil meiner Freizeit in dieses Hobby, denn es macht mir nach all den Jahren immer noch Spaß.36 Die Forschung hat in den vergangenen Jahren herausgearbeitet, dass es sich bei vermeintlich authentischen Selbstverortungen nicht um voraussetzungslose »visceral rejections of mainstream culture«37 handelte, sondern dass hier kulturell-gewendete soziale Schichtungen wirksam wurden.38 Um »non-profit«-Methoden entwickeln zu können, bedurfte es der Ressourcen aus gesicherten Einkommen, die den Death Metal-Underground seit den späten 1980er Jahren und später die Black Metal-Szenen sehr einseitig an Teenager aus Mittelklasse-Haushalten knüpften. Wie bereits in den 1960er Jahren zogen hier soziale Aufsteiger eine kulturelle Grenze gegenüber einer »Mainstream«-Unterschicht, in deren Trendhopping und »lifestyle weekending«39 sie Charakterschwäche und kommerziell-abhängige Wankelmütigkeit erkannten. Der »Trend« als das Feindbild der Metal-Authentizität und die damit verbundene Abgrenzung gegenüber den Zu-spätGekommenen waren also Formen der Kulturkritik, die sich in ihrer Schärfe bis zu Adorno zurückverfolgen ließen – nur, dass die Bedrohungssituation nun noch größer war, weil es neben den gesellschaftlich akzeptierten Produkten der Musikindustrie auch MetalBands sein konnten, die einen solchen Trend auslösten.40 Für Ola Malmström (Sorcery) waren es daher auch »people [that] jump on a bandwagon«, die die Szene »gekillt«, weniger glaubhaft und um ihre glorreichen Tage gebracht hätten.41 Für Craig Locicero (Forbidden) handelte es sich um »a bunch of people, they aren’t really connected to their origins, they are just following.«42 Fenriz (Darkthrone) sprach von »bedauernswerten Wichte[n], die zu spät aufspringen. […] Sie waren bloß im richtigen 35 36 37 38
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Chris Forbes, Suburban Voice. Interview with Al Quint, in: Metalcore Fanzine. Interview Frank Stöver, Z. 68–76. Jason Netherton, in: Purcell, Death Metal, S. 16. Zur Trennung von Authentizität und Nicht-Authentizität nach Ressourcen vgl. zuletzt Paula Rowe, Global metal in local contexts: Questions of class among heavy metal youth and the structuring of early metal identity formations, in: Metal Music Studies 3 (2017) 1, S. 113–133, hier S. 130. Zu diesem Vorwurf vgl. Chris Scapparo, in: Anesiadis, Crossover the Edge, S. 199. Vgl. Klaus Nathaus, Why Pop Changed And How It Mattered (Part 1). Sociological Perspectives on Twentieth-Century Popular Culture in the West, in: Soziopolis. Gesellschaft beobachten 2018, URL: https://www.soziopolis.de/beobachten/kultur/artikel/why-pop-changed-and-how-it-matte red-part-i/ (letzter Aufruf 27.06.2022), S. 13f. Vgl. Stöver, Voices From The Darkside 6, in: ders. (Hg.), Voices, S. 50. Interview Craig Locicero, 14.21-14.29 Min.
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Moment zur Stelle, also nicht zur Gründerzeit, sondern als es für die Masse angepasst wurde, denn dort konnte man Erfolg haben.«43 Bei Mysticum aus Norwegen begründete man die Weigerung, Corpsepaint aufzutragen, mit dem Ärger über die jugendlichen Trendhopper, die dieses Stilmittel seiner Stoßrichtung beraubt hätten.44 Und für Götz Kühnemund, der »gar nicht daran gedacht [hatte], dass man da mal einen Job draus machen könnte«, kamen in dem Moment, in dem »man später merkte, dass sich damit Geld verdienen lässt, […] die falschen Leute in die Szene.«45 In seiner resignierendsten Form sprach Jon Kristiansen schließlich davon, dass »Black Metal […] von den Massen überrannt und ausgeschlachtet« worden war.46 Streng genommen äußerten hier die Akteure, die einer Szene von Beginn an angehört hatten, ihr Bedauern über den Umstand, dass ihr eigenes Engagement zu einer Vergrößerung der Anhängerschaft geführt hatte. Dass es dabei alle Nachkommenden aus den »falschen« Gründen anzog, ist eher unwahrscheinlich – viel eher handelt es sich hier um eine geschickt platzierte Opferrolle, aus der Deutungshoheit und kulturelles Kapital erwuchs und die eine »non-profit«-Phase von einer kommerziellen Ausbeutungsphase trennte. Im Einzelfall äußerte sich dies beispielsweise dadurch, dass Geld als Verhandlungsgegenstand in Interviews nur im pejorativen Sinne eine Rolle spielte – als Integrationsfigur für alles, was falsch laufen konnte. Geld zog aus Sicht von Fenriz die »idiots«47 an, die die Szene kaputt gemacht hätten, und Rat Skates begründete seine geringe Wertschätzung für die Band Anthrax einzig mit der vermeintlichen Tatsache, dass diese nie DIY-organisiert hätten vorgehen müssen und Erfolg hatten »because there was money behind them.«48 Aussagen wie diese gingen im Death-und Black Metal-Underground schließlich so weit, dass selbst finanziell bedeutungslose Verträge mit kleinen Indie Labels, die höchstens die Selbstkosten deckten, als Sell-out bewertet und für das Ende der Exklusivität verantwortlich gemacht wurden.49 Aussagen wie die obigen, die von der problematischen Idee einer unkommerziellen Musik ausgehen, setzten musikalischem Wandel im Underground relativ enge Grenzen und mündeten in eine Denkfigur, die die Akteure gerne als »organisch« bezeichneten, die also wachsende Popularität und Einkommen aus Plattenverkäufen nicht per se verachtete, sondern genau darauf achtete, dass die Band dafür nicht ihren Stil verändert oder gar Vermarktungsmethoden jenseits der nicht-szenischen Medien genutzt hatte. In einer später gerne als offensichtlicher Wortbruch zitierten Weise äußerte sich dazu
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Fenriz, in: Patterson, Black Metal, S. 265. Vgl. Kristiansen, Slayer 10 (1995), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 306. Kühnemund, in: Küppers, Special: Metal im Pott. Metalion, in: Patterson, Black Metal, S. 473. Fenriz, in: Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 453: »Whenever there is money, people want a part of it. For me, that killed it – like a party that’s cool and then all the idiots arrive.« Vgl. Leslie, Interview with Rat Skates, in: metalrules 2008, URL: https://www.metal-rules.com/20 08/05/03/rat-skates-ex-overkill/ (letzter Aufruf 27.06.2022). McClelland, in: ders., Deathvomit, S. 4: »My focus was on demos and any band that signed with a label at that time was a trader in my eyes. The raw element and the brutality that a band first displayed was lost in the mix when they signed for a record deal. All interest lost! You sold out! Still feel the same way to this day! I understand the reasons… fame, fortune.«
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beispielsweise Lars Ulrich gegenüber Kick Ass Monthly. Seine Pläne für ein »organisches« Wachstum von Metallica sahen folgendermaßen aus: It’s gonna be a sort of thing where you don’t have to follow any trends or get airplay, you don’t need to make videos, you just sort of do it through a really good street buzz. Keeping a down-to-earth thing going with kids, doing what you wanna do.50 Metallicas weitere Entwicklung karikierte diese Äußerung geradezu, verwies aber auch auf eine inhärente Widersprüchlichkeit zwischen ökonomischen Zwängen und subkulturellen Ansprüchen, der die Musiker wie keine anderen Akteure sonst ausgeliefert waren und die gegen Ende der »langen 1980er Jahre« sogar gelegentlich als »Falle« bezeichnet wurden.51 Jede Band, die als Reinvestitionsprojekt auf Wachstum angelegt und in längerfristigen Verträgen gebunden war, kam früher oder später mit dieser Widersprüchlichkeit in Kontakt. Bereits während der NWOBHM wurde seitens der Fans und der Magazine genau beobachtet, wie sich der Sound und die Medienpräsenz der Bands änderten und wie diese mit dem Underdog-Image vereinbar waren. So existierten für Rob Halford mehrere Entwicklungsschritte von Judas Priest, die von älteren Fan-Gruppen beargwöhnt und kritisiert wurden: Bereits die Auftritte bei Top of the Pops besaßen solches Spaltpotential, die spätere Nutzung von Synthesizern bezeichnete die Kritik als »wimpy and… not metal«, das Video zu »Take on the World« wurde von einigen Fans als Sell-out angesehen und auch die Zusammenarbeit mit Stock Aitken Waterman, einem auf Pop-Musik spezialisierten Produzententeam, war mit sozialen Problemen verbunden.52 Judas Priest befand sich auch durch solche Schwierigkeiten in einer dauerhaften Gratwanderung zwischen Metal-Kultur und »Mainstream« und Methoden, die in der Musikindustrie Gang und Gebe waren, wurden dem subkulturellen Authentizitätstest unterzogen. Dass dabei andere Regeln galten, merkten auch Fist, als sie 1982 nach ihrem Album »Back with a Vengeance« zusätzlich eine Single aufnahmen, die »The Wanderer« von Dion & The Belmonts coverte. Aus Sicht der Band handelte es sich dabei nicht um »a serious record«, sondern um einen Spaß, der auch nicht live gespielt wurde. Für viele Fans und die Magazin-Kritik dagegen lag der Verdacht nahe »we had mellowed and gone poppy by releasing it.«53 Für Status Quo, die den Song 1984 als Cover veröffentlichten und damit großen Erfolg hatten, galten diese Zweifel bezeichnenderweise dann nicht – sie waren, anders als Fist, keine Metal-Band und waren dadurch nicht dem kontinuierlichen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, ihre Entscheidungen in Einklang mit den Genre-Narrativen zu bringen.54 50 51 52 53 54
Lars Ulrich, in: Christe, Sound of the Beast, S. 149. Vgl. zum Beispiel Fenriz, in: Aites/Ewell (Reg.), Until the light takes us, 27.09-27.21 Min. Vgl. Halford, Confess, S. 113, 114, 132, 231; Vgl. Popoff, Wheels of Steel, S. 74. Gary Alikivi, ROCK OF AGES with Fist vocalist, Glenn Coates (2021), in: URL: https://garyalikivi.co m/2021/02/10/rock-of-ages/ (letzter Aufruf 27.06.2022). Im Laufe der »langen 1980er Jahre« radikalisierte sich dieses Narrativ durch den steigenden Druck und offenbarte seine Widersprüchlichkeit häufiger. Vgl. zum Beispiel das Interview von Stöver mit Demonaz (Immortal) zum stilistischen Wandel seit seiner Band Amputation (die Anmerkungen Stövers in Klammern): »AMPUTATION was a great band to start with. We didn’t just jump on some
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Blind für diese Widersprüche waren die meisten Musiker aber nicht und es existieren einige Beispiele für die Tatsache, dass Musiker ganz offen die Paradoxien des MetalMusik-Geschäfts adressierten oder Fanzine-Macher die zu erwartende Kritik an einigen abgebildeten Bands antizipierten und ihre Entscheidung rechtfertigen wollten. Teil dessen zu sein, was man heftig kritisiert, führte unter anderem bei Mike Smith (Deceased) zu der Einsicht »Unfortunately, we are guilty of this, too«55 als er von der Kommerzialisierung des Undergrounds sprach. Alex Hellid (Entombed) resümierte dagegen »with the good comes the bad«56 und bemühte das Bild eines Rades, dem man nicht entkommen könne. Frank Stöver fragte demonstrativ »Is it their fault?«, als er Morbid Angel als »trendy band« bezeichnete, aber dennoch nicht um die bedeutende Band in seinem Fanzine herumkam – sie seien trotz ihres Erfolgs dennoch »one of the best acts around.«57 Eine regelrechte Epiphanie erlebte schließlich Bård Eithun (Thorns) als er nach den TrendGerüchten um den norwegischen Black Metal befragt wurde: It has surely become a trend I think. No other countries in the world have as many blackmetal bands as we have, but I’m kinda proud of it too, because blackmetal is the ultimate music. […] But I hate trends in general, so I don’t really know what to think anylonger… Hmmm, difficult stuff we are dealing with here.58 Musikalische und finanzielle Gesichtspunkte waren im Trend-bzw. Sell-out-Narrativ also miteinander verwoben und während eine Band wie Morbid Angel großen Erfolg mit einem Stil hatte, der dem Band-Image und den subkulturellen Anforderungen entsprach – daher auch nicht rundheraus verdammt werden konnte –, existiert mit einer Band wie Metallica auch das Beispiel für die Entwicklung zu einer Band, die Millionen Platten verkaufte und sich dafür musikalisch verändert hatte. Der Sell-out-Stempel konnte aber auch jenen aufgedrückt werden, die gar nicht erfolgreich verkauften, sondern versucht hatten, vermeintlichen Trends durch musikalische Anpassungen zu gefallen, damit aber gescheitert waren. Sie waren quasi durch beide Böden des Narrativs gefallen und waren weder subkulturell geachtet noch reich geworden. Darren Travis (Sadus) bezeichnete dies folglich als das »worst feeling: selling out and not making any money.«59 Auf einer dritten Ebene bedeutete dies umgekehrt, dass Metal-Fans und Magazine jene Akteure, die sich in diesem Prozess glaubhaft positionieren konnten, mit uneingeschränkter Treue ehrten und Szenen in ihren Hör-, Kauf-und Kleidungsgewohnheiten (Patches auf Kutten etwa) stark konservative Züge annahmen. Ein wichtiger argumentativer Zugang zu dieser Denkfigur ist der häufig zu beobachtende Verweis auf ein »früher war alles besser«, auf die klassische Bedeutung der ersten (damals noch szene-exklusiven) Veröffentlichungen wichtiger Bands, und auf eine vermeintliche Verlusterzählung,
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trendy stuffs. (Personally, I don’t care, but I guess there are some people out there, who think you did !-Ed.)« Stöver, Voices From The Darkside 4, in: ders. (Hg.), Voices, S. 8. Jon Kristiansen, Slayer 10 (1995), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 316. Frank Stöver, Voices From The Darkside 4, in: ders. (Hg.), Voices, S. 61. Frank Stöver, Voices From The Darkside 1 (1992), in: ders. (Hg.), Voices, S. 34. Daemonium Aeternus 2 (1992), o. S. Jon Kristiansen, Slayer 20 (2004), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 689.
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die die ernüchternde Gegenwart einer nostalgisierten Vergangenheit gegenüberstellt. Vor dem Hintergrund einer aktuellen Krisendiagnose kontrastiert dabei der kontingente Fortschrittsoptimismus der »langen 1980er Jahre« mit einer Fortschrittskritik der Gegenwart.60 Historische Zukunftsentwürfe schienen in der Mitte der 1990er Jahre an ihr Ende gekommen zu sein – mit freilich sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen seitens der Akteure: Im Stile einer »standing on the shoulders of giants«-Erzählung, die auf Grundlage der Werke der eigenen Helden hofft, eine bescheidene Weiterentwicklung zu erreichen, formuliert dies beispielsweise John McEntee: »For me I have real respect for the bands that came before me and I feel it’s important to show respect and use the tools they taught me and push things to a new limit while also really expressing myself with the songwriting.«61 Zu diesen »tools« der eigenen Lehrer gehörten neben den musikalischen auch die produktionstechnischen Zugänge, sodass eine ganze Reihe von Musikern und Fans die »langen 1980er Jahre« in technischer Hinsicht von der Gegenwart abgrenzte, sowie der Verweis auf die damals noch existenten Transgressionsspielräume, die man heute als beendet und die Musik daher als austauschbar ansieht.62 In all diesen Fällen sind musikalische Fragen an soziale wie als generationell empfundene Abgrenzungen gekoppelt, die Deutungshoheit in Szenen aus der »Gnade der frühen Geburt«63 generieren. Eine geschickte Instrumentalisierung erfuhr dieses Narrativ beispielsweise durch die norwegischen Black Metal-Musiker, die ihren stilistischen Bruch ausdrücklich nicht als Modernisierung verstanden wissen wollten, sondern eine Anknüpfung an eine simplifizierte Genre-Vergangenheit postulierten – wohl wissend, dass in der Metal-Kultur »alt immer besser« ist.64 Die Glorifizierung der Vergangenheit lässt sich also positiv wie negativ auf die gegenwärtige Situation anpassen und Musikern und Fans, die die vermeintlich »alten Werte« in Sound, Produktion und Kommunikation aufrechterhalten wollen, stehen solche gegenüber, die eine historische Zäsur in den 1990er Jahren entwerfen. Für Jon Kristiansen, einem der wichtigsten Akteure für diese Perspektive, gibt es dementsprechend »kein zu-
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Vgl. zur Diskussion der Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit im Strukturwandel seit den 1970er Jahren: Fernando Esposito, Zeitenwandel. Transformation geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom – eine Einführung, in: ders. (Hg.), Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017, S. 7–62. Kat Gillham, Interview with John McEntee und Chuck Sherwood, in: Voices From The Darkside Online 2020, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/incantation-3/ (letzter Aufruf 27.06.2022). Vgl. Joe, Interview Ross Dolan; Vgl. Fenriz, in: Zierleyn, Booklet to Black Death; Vgl. Harry Hill, in: Interview Fist, 62.40 Min.; Vgl. Interview Rob Yench, 50.18 Min. Götz Kühnemund, in: Deaf Forever 5 (2019) 29, S. 115 (Review von »Altars of Madness«). Eindrücklich dazu etwa Conrad Lant, auf dessen Band Venom sich die norwegischen Akteure vor allem beriefen: »Die Norweger benutzten den Ausdruck Black Metal etwa zehn Jahre nach uns, weil sie genau wussten, dass man sie zwangsläufig genau dort einordnen würde, wo sie gesehen werden wollten. Sie dachten: ›Das ist dreckig und fies, das ist satanisch, wir schminken uns leichenblass und kreischen etwas über Satan…‹ Dabei war klar, dass der Aufhänger Black Metal ihnen zu einer Identität verhelfen würde.« Patterson, Black Metal, S. 30.
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rück« und die »langen 1980er Jahre« sind in die »anwesende Abwesenheit«65 der Nostalgie überführt worden. Es handelt sich dabei ausdrücklich nicht um eine musikalische Konstruktion, sondern um ein Erinnerungsregime mit sozialer Stoßrichtung, das eine abgeschlossene Vergangenheit für die Positionierung in der Gegenwart entwirft. Folglich wies Kristiansen darauf hin, dass die Methoden des DIY-Undergrounds einen »Menschenschlag« hervorgebracht hatten, der heute nicht mehr existiert: In den 1980er Jahren hätte man auf die »poser« herabgesehen, heute seien die Akteure im Extreme Metal selbst die »poser.«66 In sehr aufschlussreicher Weise offenbarte er schließlich die subkulturelle Motivation des »früher war alles besser«-Narrativs und sagte »Searching hard for the music didn’t mean the music was better – it just meant that the people were better.«67 Ein zweiter Zugang zu diesem Narrativ ist das »stick to your guns«-Argument vieler Musiker, d.h. der Verweis auf die stilistische Konstanz der Gruppe und die Weigerung, das existente Band-Image mit nicht mehr nachvollziehbaren Veränderungen zu belasten. Auch hier resultiert eine vermeintlich freie Wahl aus den Genre-Restriktionen und bereits für Rob Halford hatte dieser Szene-Konservatismus gute wie schlechte Seiten: In the world of metal, there’s this fierce, loyal, devoted, almost conservative approach from the fans that will not accept you doing anything more or less than what they love you for. It’s that Sylvester Stallone syndrome. We only want him to be Rocky. We don’t give him the chance to be anyboby else.68 Besonders im Death Metal-Bereich haben sich viele Musiker dieser favorisierten Konstanz angenommen und ihre Bands selbst über mehrere Jahrzehnte um ein stabiles musikalisches Setup aufgebaut, das Wiedererkennung genauso garantieren soll wie Abgrenzung. Veränderungen sind in dieser Herangehensweise nicht unerwünscht (und letztlich ja auch kommerziell notwendig), doch werden weitgehende Neujustierungen des Sounds, der Härte und Struktur ausgeschlossen. So besteht für Ola Lindgren (Grave) beispielsweise »some kind of formula«, die für ihn einen Song seiner Band auszeichne und die er niemals aufgeben würde – erst recht nicht, um die Hörerschaft zu erweitern.69 Auch für Ross Dolan (Immolation) geht es ganz grundsätzlich darum, sich gerade nicht permanent neu zu erfinden, sondern »[to] create something fresh and original without crossing that line into experimental waters.«70 Ein Song der Band müsse umgehend als solcher zu erkennen sein und er empfindet es als zentral nicht zu vergessen, was ihn ursprünglich (d.h. in den späten 1980er Jahren) dazu bewegt hatte, Death MetalMusik zu schreiben und zu spielen. Ähnlich argumentiert auch Lee Harrison (Monstrosity), der betont, dass auch neue Elemente »within the context of the original plan« zu
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So Martin Sabrow, Nostalgie als historisches Zeit-Wort, in: Zeithistorische Forschungen 18 (2021) 1, S. 140–150, hier S. 146 (zitiert nach Achim Landwehr). Vgl. Jon Kristiansen, Slayer 15 (2000), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 491. Ders., in: Slayer 19 (2004), in: ebd., S. 627. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 331. Caitlin Smith, Grave Interview with Ola Lindgren, in: metal-rules 2013. Sean Frasier, Possessed Since Dawn: An Interview with Immolation’s Ross Dolan, in: Decibel Magazine 2017.
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verwirklichen seien. Die Band besitze eine konstante musikalische Kern-Identität.71 Die zugrundeliegende Intention dieser Stabilitätswünsche bringt schließlich John McEntee (Incantation) auf den Punkt: Seine Band versteht er als biografisches Kontinuum und falls er jemals das Gefühl haben sollte, sich ihrem Stil nicht mehr verschreiben zu wollen, würde er sie auch nicht mehr als »vehicle« seiner Gedanken und Überzeugungen verwenden.72 Gleichzeitig verweist er aber auch auf den damit verbundenen Singularitätswunsch und adressiert den starken Stilwandel einiger skandinavischer Bands seit den späten 1980er Jahren als »scandinavian disease, […] where you put out a really killer demo, maybe a good album and then you just change.«73 Bands, die mit ähnlich lautenden Vorwürfen konfrontiert wurden – etwa Paradise Lost, Dimmu Borgir oder Therion – tragen in dieser Perspektive stets einen impliziten sell-out-Stempel und halten als negatives Gegenbeispiel für die eigene anti-kommerzielle Linientreue her. Als Kern der Beständigkeit wird dabei die Brutalität der Musik beschrieben und den oben genannten Bands, deren Stile weniger »heavy«, aber gefühlvoller wurden, ging es aus Sicht von Henry Veggian (Revenant) wie der New Yorker Band Carnivore – nur, dass sich diese dafür umbenannte: »It isn’t death metal anymore. […] What happens when you try to capture emotion is what happened to Carnivore – they became Type O Negative. Both great bands, but totally different styles.«74 Aus Sicht der Musiker ist die Treue zu den Wurzeln, also jenem Sound, mit dem die Band bekannt wurde, daher ein ganz entscheidendes Kriterium und führte zu der verbreiteten Praxis von Neben-Bands, in denen einzelne Musiker ihre sich verändernden Vorlieben ausleben können. Denn dort, wo stilistische Brüche den Konstanz-Anspruch der Fans überforderten, drohte der Verlust von Anhängern.75 Als beispielsweise Girlschool 1985 einen musikalischen Neuanfang versuchen wollten, traf der Wandel zunächst auf wenig Verständnis und für Kim McAuliffe wäre es nachträglich geeigneter gewesen, diesen neuen Stil in einem »side project« zu verwirklichen.76 Zehn Jahre später trafen die Musiker bei Dismember dazu sogar eine Absprache: Sollte eines der Mitglieder »out of the system« gehen und andere musikalische Stile verfolgen wollen, sei dies laut Fred Estby keinesfalls ein Problem gewesen und entspräche vollkommen der üblichen Erscheinung eines »backtrack [of] your musical interest«, doch sei der Stil der Kern-Band Dismember stets festgelegt gewesen – »because that’s why people like us and that’s what we like to
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Interview Lee Harrison, Z. 131–142. »I guess I don’t understand, like where’s the line where you say my thinking pattern is way too far out of step with the fundamentals, or is it just, because maybe in Europe it’s just a growing of age and maturity thing in the band and you just naturally progress to something that’s totally different, where at least for myself I’m always looking back to those, you know, days from my youth, and realizing and I know that this music is an expression of, you know, my younger days and is still true to me. It’s still true to me now, but if I would feel like I don’t want to express those things anymore, I just know that this isn’t the vehicle for it, you know.« Interview John McEntee, 67.21-71.28 Min. Interview John McEntee, 61.26-61.36. Henry Veggian, in: Forbes, Revenant, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Diaz-Bone, Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil, S. 246. Vgl. o. A., Interview: Kim McAuliffe from Girlschool, in: hearsheroars.com 2019.
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do and that’s what fun for us as a group.«77 Die Reputation der Band, so der Sänger Matti Kärki, beruhe auf ihrer Stellung »as one of the pioneers« und erfordere daher eine einfache Grundregel: »We always stayed the same with a certain kind of thing that, hey, this is Dismember.«78 Die genannten Namen deuten bereits an, dass nicht alle Bands dieser Devise folgten und kommerziellen Erfolg durch musikalische Anpassung, d.h. meistens eine Drosselung der Heaviness, intendierten. Sie sind Beispiele für einen Wandel, der mit dem Entzug des Underground-Gütesiegels verbunden war und markieren die Stelle, an der Bands im soziokommerziellen Spektrum der Metal-Kultur die Grenze zum empfundenen Mainstream überschritten. Kommerziell waren diese Veränderungen zweifellos profitabel, gingen aber mit einem Verlust vieler »alter« Anhänger einher, die ihr SzeneEngagement als etwas Kontinuierliches entwarfen – eine dauerhafte Verpflichtung und Treue, zu der sprunghafte Fan-Wechsel und die Folge der kommerziellen ChartsErfolge nicht passten. Im Kampf um Authentizität war Beständigkeit deshalb auch das ultimative Opfer und mit dem Verzicht auf finanzielle Aussichten konnten sich Musiker erfolgreich auf ein verbreitetes Selbstverständnis im Metal-Underground beziehen, das versuchte, dem vermeintlich wankelmütigen Konsumenten die stabile Überzeugung eines »connoisseurs« entgegenzusetzen.79 Im Kern war das anti-kommerzielle Narrativ der Metal-Kultur also eine harte Konsumkritik: Gegenüber einer empfundenen Prinzipienlosigkeit des »trendhoppings« und »lifestyle weekendings«80 war Szene-Authentizität hier gleichbedeutend mit einer Selbstbeschränkung – »to remain true«, so Sharon Bascovsky, hieß, der postmodernen Versuchung zu widerstehen, nach der »most people want to progress into variants of themselves.«81 Das implizite Feindbild des Undergrounds lag demnach in der Kurzfristigkeit postmoderner Identitätsarbeit, in der Verfolgung von Singularisierungsstrategien um ihrer selbst willen, und besonders in der high-brow-Attitüde musikalischer Omnivoren82 – auf den Punkt gebracht durch Götz Kühnemund hieß das: »Metal-Fans haben einen guten Bullshit Detector: Sie merken, wenn ihnen jemand etwas vorspielt, sich aus kommerziellen Gründen anbiedert oder sich ohne innere Überzeugung an irgendwelche ›Spielregeln‹ hält.«83 Wenn Bands wie beispielsweise Saxon
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Interview Fred Estby, 21.49-21.58 Min. O. A., Dismember Interview with Matti Kärki (2000), in: URL: https://www.angelfire.com/mi/de monzine/dismember.html (letzter Aufruf 27.06.2022). Nicola Allett, The extreme metal ›connoisseur‹, in: Hjelm/Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal, S. 166–181, hier S. 178f. Eine typische Aussage hier von Rich Spillberg (Wargasm): »In the states, people are fixated on style and image as much as they are on the music, and they tend to feel left behind if they are still listening to music that isn’t new and ›in‹.« Forbes, Wargasm, in: Metalcore Fanzine. Aleks, An NCS interview: Derkéta (Sharon Bascovsky), in: No Clean Singing 2018. Bei »Omnivoren« geschieht die Individualisierung nicht mehr durch die exklusive Zugehörigkeit zu einer Subkultur, sondern durch »breite Kennerschaft, aktuelle Informiertheit und die Fähigkeit, souverän kombinieren zu können«, also durch eine flexible Selbstverortung im popkulturellen Überangebot. Vgl. Nathaus, Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum, in: Müller/ Osterhammel/Rempe (Hg.) Kommunikation im Musikleben, S. 273. Deaf Forever 7 (2021) 42, S. 3.
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heute »niemandem mehr etwas beweisen müssen«84 , dann liegt dies genau an dem Eindruck jener aufopferungsvollen zeitlichen und musikalischen Konstanz, die Treue auch dann zeigte, als dies kommerziell gerade nicht vielversprechend war – die aber auch kommerziell instrumentalisiert wird.85
7.2 Zwischen Freund und Feind – Indie Labels in der Metal- Kultur Das Kommerzialisierungsnarrativ setzte einem Markterfolg von Bands natürlich enge subkulturelle Grenzen, die in der Praxis immer wieder neu verhandelt werden mussten. Die Fans untereinander sowie die Magazine und Fanzines kommentierten dabei eine Vermarktung, die sich maßgeblich zwischen den Musikern und den Plattenfirmen abspielte und bei der die sog. Independent Labels (im folg. kurz Indies) exakt an der Schnittstelle zwischen einem DIY-Underground und dem »großen Geld« der Major Labels (im folg. kurz Majors) positioniert waren.86 Die Indies rekrutierten sich in diesem Geflecht personell, methodisch und musikalisch aus der Vielfalt der subkulturellen Alltagspraxis der Szenen, bildeten aber gleichzeitig eine effektive Vorfeldstruktur der Majors – die Folge war ein komplizierter Spagat zwischen anti-kommerziellen Selbstverständnissen und den realen Zwängen und Anforderungen des Musikgeschäfts.87 Bezeichnenderweise erhielten die Indies ihren Namen auch nicht aufgrund eines ökonomischen Unterschieds zu den Majors, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion für eine Unabhängigkeit vom kommerziellen Establishment – besonders in der PunkBewegung haftete ihnen darüber hinaus der Anspruch an, politischen Widerstand durch eine unabhängige Kulturproduktion zu leisten.88 Die Grenze wurde also kulturkritisch gezogen und folgte nicht etwa verschiedenen Methoden, Funktionen oder Ressourcen. Eine messbare Differenz bestand hier nicht. Die Aufteilung in eine unabhängige Produktion (Indies) und einen Mainstream (Majors) umfasste imaginierte Kategorien, die überdies stets relational aufeinander bezogen und in ihren jeweiligen sozialen
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Ulf Imwiehe, in: Deaf Forever 8 (2022) 46, S. 26. Biff Byford, Sänger von Saxon, ist der Meinung, dass Musiker und Bands, die ihre Bands beendet hatten, anderen Jobs nachgingen und dann zurückkamen, als es konjunkturell vielversprechend war, sich nur ins gemachte Bett legen und jenen Bands Tribut zollen sollten, die immer dort gewesen sind und sich auch durch finanziell schlechtere Zeiten gekämpft haben. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 155. Zur Entstehung der Struktur der britischen Musikindustrie, wie sie zwischen den späten 1960er und den 1980er Jahren existent war vgl. Simon Frith/Matt Brennan/Martin Cloonan/Emma Webster, The History of Live Music in Britain, Volume I: 1950–1967, Farnham 2013, S. 154–163. Zum Umgang der Musiker mit dem »Musikgeschäft« – in Form der »ideology« of »getting signed« – vgl. David Arditi, Getting Signed. Record Contracts, Musicians, and Power in Society, Cham 2020. Wesentlich weniger klischeebeladen und dafür empirisch argumentiert Matt Stahl, Unfree Masters. Vgl. Kevin Dunn, If it ain’t cheap, it ain’t punk. Walter Benjamin’s progressive cultural production and DIY punk record labels, in: Journal of Popular Music Studies 24 (2012) 2, S. 217–237.
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Kontexten eingebettet blieben.89 Auch waren sie historisch fluide und bedeuteten für einen NWOBHM-Musiker etwas ganz anderes als für die Akteure im Death MetalUnderground. Der unabhängige Charme der Metal-Indies hing demnach in den frühen 1990er Jahren mit einem Cluster an Erfahrungen zusammen, für die es in den frühen 1980er Jahren noch gar keine Entsprechung gegeben hatte. »Unabhängigkeit« und »Mainstream« waren also keine Entitäten, sondern wandelbare Konstrukte, bedurften aber dennoch einer Übersetzung in das Musikgeschäft mit seinen ganz praktischen Unternehmensstrukturen und -entscheidungen. Praktisch waren daher alle Labels, die zwischen den späten 1970er und den frühen 1990er Jahren nicht auf eine Kooperation mit den »big six«90 angewiesen waren, »lupenreine« Indies – jedoch mit den gewichtigen Einschränkungen, dass diese Kooperationen zur Norm wurden und dass der Titel der Unabhängigkeit auch zu sehr ressourcenstarken Plattenfirmen gehören konnte. So war Island Records bis zum Verkauf an PolyGram (1989) das größte und wichtigste »Indie« Label Großbritanniens, sehr erfolgreich im RockGenre, mit eigener Vertriebsstruktur, innovativer A&R-Abteilung und eigenen Produktionsstellen – und hatte dadurch im Grunde nichts mit den kleinen Indies gemein, die sich während der 1980er Jahre rund um das Metal-Genre bildeten.91 Ein Independent Label zu sein, war hier ganz offensichtlich Imagination, ideologische Botschaft und (wie ironisch) Marketing-Methode.92 Die Gründung von Indies, die sich auf Metal-Musik spezialisierten, setzte in den späten 1970er Jahren ein und hielt während der »langen 1980er Jahre« konstant an. Zu den wichtigsten Institutionen gehörten dabei unter anderem Heavy Metal Records (1978 UK), Neat (1979 UK), Roadrunner (1981 Niederlande), Metal Blade (1982 USA), Megaforce (1982 USA), Combat (1983 USA), Music for Nations (1983 UK), Noise (1984 BRD), SPV Steamhammer (1984 BRD), New Renaissance (1984 USA), Earache (1985 UK), Peaceville (1987 UK), Nuclear Blast (1987 BRD), Century Media (1988 BRD), Relapse (1990 USA), Osmose (1991 Frankreich), Napalm (1992 Österreich) und Candlelight (1993 UK). Der in den frühen 1980er Jahren zu beobachtende Aufstieg der Metal-Indies war dabei einerseits von einer kontinuierlichen Reduktion der Produktionskosten getragen, was es selbst kleinsten Labels erlaubte, junge Bands in DIY-betriebenen Studios produzieren zu lassen.93 Zum anderen adaptierte man hier die (Post-)Punk-Bewegung, die sowohl in der Gründung von Labels als auch in der Etablierung erster DIY-Vertriebsstrukturen in Großbritannien (The Cartel, Rough
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Vgl. die sehr differenzierte und aufschlussreiche Beschreibung von »Unabhängigkeit« im Musikgeschäft bei: Dominik Bartmanski/Ian Woodward, Labels. Making Independent Music, London/New York 2020, S. 1–88, hier S. 59. Welche Firmen dazu gehörten, war aufgrund der Veränderungen im Unternehmensgeflecht zeitabhängig. Ogg nennt für die Phase 1976 bis zu den späten 1980er Jahren EMI, MCA, BMG, Sony, Warner und WEA. Weinstein nennt für den US-Markt 1990 WEA, CBS, Polygram, MCA, BMG und CEMA. Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 189; Vgl. Ogg, Independence Days, S. 1. Vgl. Ogg, Independence Days, S. 41, 43. Vgl. Stephen Lee, Re-Examining the Concept of the ›Independent‹ Record Company. The Case of Wax Trax! Records, in: Popular Music 14 (1995) 1, S. 13–31, hier S. 13f. Zu den Produktionsinvestitionen der Majors, durch die ältere Studios günstig zu haben waren vgl. Dave Laing, One-Chord Wonders. Power and Meaning in Punk Rock, Philadelphia 1985, S. 29f.
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Trade) vorangegangen war.94 Für Beobachter wie Bogdan Kopec setzte in dieser Phase ein »Goldgräber-Feeling«95 ein: Junge und passionierte Fans erkannten das kommerzielle Potential einer DIY-basierten globalen Kommunikation und versuchten, dieses durch kleine Label zu kanalisieren. Einzelne große Erfolge in der Talent-Akquisition durch dieses System, vor allem NWOBHM-Bands sowie einige Jahre später eine Band wie Metallica, erhöhten die Sensibilität für die großen Möglichkeiten, die ein kommerzieller Durchbruch ausgehend von einem Indie Label dessen Gründern bieten konnte. Für Kopec kamen die neuen Möglichkeiten einer kleinen Revolution gleich – vorbei an den etablierten Magazinen und Labels und einzig getragen durch die Kommunikationsoffensive sowie die Herausbildung einer Live-Musik-Szene: Die Fanzines waren ein Phänomen und eine große Hilfe bei der Vermarktung. Man war nicht mehr auf die großen kommerziellen Magazine angewiesen. Die Anzahl der Fanzines war so groß, dass es für die Masse an Bands sogar ausreichte, um allen ein Forum zu geben. Auch waren diese Independent-Magazine reine Metal-Fachmagazine, direkter konnte man die Fans nicht erreichen. Der Anzeigenverkäufer des Metal Hammer sagte mir damals zum Beispiel, dass er gleichzeitig über 200 IndependentPlattenfirmen betreute, sodass die Möglichkeit für Bands, einen Plattenvertrag zu ergattern, einfacher wurde. Daraus haben sich dann in den Anfängen Firmen wie Noise Records, Steamhammer/SPV oder Mausoleum aus Belgien und Roadrunner aus Holland herauskristallisiert. […] Und wir waren völlig autonom. Wir waren auf keine Major Labels oder großen kommerziellen Magazine angewiesen. Für die Live-Auftritte gab es dann in Deutschland an die 25 Clubs wie die Zeche Bochum und andere. Mit einer Kapazität von etwa bis zu 1000 Leuten fanden dort ungefähr zwei Konzerte pro Woche statt und das Buchen von Tourneen wurde für mich dadurch viel einfacher. Hinzu hatten wir im restlichen Europa ähnliche Situationen. Somit konnte man eine halbwegs angesagte, mittelständische Band gut beschäftigen.96 Die Parameter des Musikgeschäfts hatten sich seit dem Punk und der NWOBHM also verändert. Indies waren räumlich nicht mehr zwingend an die Hochburgen der Plattenindustrie gekoppelt, sondern wurden in der Nähe der regionalen Bands, Fans und LiveMusik-Szenen gegründet, mit denen sie vernetzt waren. Eine selbstorganisierte und ohne große Investitionen gestartete Initiative konnte, so etwa in Westdeutschland mit Noise Records, SPV/Steamhammer und dann Century Media und Nuclear Blast, dazu ausreichen, Szene-Aufbrüche international herauszubringen, Band-Karrieren anzustoßen und im Falle der Gründer die Leidenschaft zum Beruf zu machen.97 Indie Labels wurden so zu
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Vgl. zu Rough Trade Barbara Lebrun, Majors et labels indépendants, 1960–2000, in: Vingitième Siècle. Revue d’Histoire 92 (2006), S. 33–45; Vgl. zur Genese der Punk-Indies Kevin Dunn, Global Punk. Resistance and rebellion in everyday life, New York 2016, S. 129–136; Vgl. zu vielleicht dem wichtigsten britischen Indie: Zuleika Beaven/Marcus O’Dair/Richard Osborne (Hg.), Mute Records. Artists, business, history, London/New York 2019 (Mute Records wurde 1978 in London gegründet und war vor allem im elektronischen und Post-Punk-Bereich tätig). Interview Bogdan Kopec, 11.38 Min. Ebd., 24.01-26.14 Min. Zur DIY-basierten Genese der deutschen Indies liegen mittlerweile populärwissenschaftliche »Label-Biographien« vor. Vgl. Christian Krumm, Century Media; Vgl. David E. Gehlke, System-
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einem zentralen Bestandteil einer Metal-Szene-Infrastruktur, weil sie flexibel mit dem »street level« verbunden waren und dadurch ein Gespür für aktuelle Trends und Neuerungen entwickeln konnten.98 Diese Vorteile bemerkten auch die Majors und ein Label wie Mechanic Records, 1988 als Sub-Label von MCA für den Metal-Bereich gegründet, wollte (wie die Indies auch) dezidiert die Underground-Vernetzung nutzen, um Extreme Metal-Bands groß herauszubringen. Für den Gründer Steve Sinclair stand fest, dass er nicht mehr auf das Radio, sondern auf die »kids« setzen müsse. Er ließ die potentiellen Fans vor der Produktion in die Alben reinhören, sendete Tapes frei an die SzeneMagazine und Fanzines, und wollte die »pirate tapes« aktiv als Vermarktungsmedium nutzen, weil er meinte, dass die Fans das Album danach immer noch kaufen würden. Er gründete dieses Vorgehen auf seine Beobachtung des Wandels: People have to understand – the music business has gone through all sorts of radical changes in the past few years. […] And if you’re going to have a major band, they’re going to be made by the intensity of their following, not by a bunch of corporate decisions by some radio programmer somewhere.99 Das Indie Label wurde auf diese Weise, durch Flexibilisierung und Käuferkontakt, von der Ausnahme zur Regel für Metal-Bands während der 1980er Jahre. Aufgrund des langsamen Bewusstwerdungsprozesses hinsichtlich seiner Potentiale gestalteten sich die Gründungsgeschichten sehr unterschiedlich und waren anfangs noch vom Zufallsprinzip geprägt. Ein Label wie Neat Records, 1979 von David Wood in Newcastle aus dem Impulse Studio heraus gegründet, hatte ursprünglich nichts mit Heavy Rock oder der NWOBHM zu tun und brachte erst einmal zwei Pop-Singles heraus. Die DIY-Mentalität machte Wood deutlich, indem er auf den provinziellen, aber kreativen Charakter Newcastles gegenüber den Londoner Musikstudios hinwies – er wollte das regional isolierte Stigma, stark verbunden mit der wirtschaftlichen Krise, zu seinem Vorteil umdeuten – kreativer Antrieb »born out of boredom«100 wie er schrieb. Die Verknüpfung mit der NWOBHM fand erst statt, als Woods Sohn, der zur selben Schule ging wie die Musiker der Tygers of Pan Tang, seinen Vater auf die Band aufmerksam machte und zu einem Konzertbesuch überredete. Er überzeugte den Manager der Band, Tom Noble, davon, der Band eine Chance bei Neat zu geben, wenn Noble die Promotion übernehmen würde. Die Band willigte ein und mit den 5.000 rasch verkauften Kopien etablierte sich Neat Records als regionales Label für die NWOBHM.101 Doch von der Vorgehensweise späterer Metal-Indies wie Metal Blade oder Megaforce war Neat Records weit entfernt: Denn anders als in den Folgejahren erfolgte die Gründung in Newcastle nicht durch einen Fan oder Musiker, der im Tape Trading oder Fanzinestörung. Die Geschichte von Noise Records, Berlin 2017; Vgl. aber auch Halmshaw, Peaceville Life; Vgl. Zazula, Heavy Tales; Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness. 98 Vgl. zur Bedeutung der Indies in dieser Hinsicht Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 223 (Aussage Kampf). 99 Patrick Goldstein, Mechanic’s Violent Heavy-Metal Strategy, in: The Los Angeles Times, 03.04.1988, S. 297. 100 Vgl. David Wood, in: Tucker, Neat & Tidy, S. 17–23, Zitat S. 23. 101 Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 13.01-14.51 Min.
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Markt vernetzt war und darüber hinaus blieb der Tätigkeitsbereich von Neat stets auf das engere Label-Geschäft beschränkt, umfasste also nicht Management-oder Promotionaufgaben. Wood hatte zwar einige originelle absatzbildende Ideen – etwa indem er Sticker zu den Produkten beigab oder Sammlereditionen veröffentlichte102 – doch schaltete er in der Erinnerung von Tom Noble weder Werbung noch vermittelte er die Songs der Bands an landesweite Radiosendungen.103 Der Manager beschreibt Wood als »business man, who was a very short-sighted visionary. He just wanted the money now«104 und formuliert damit einen Eindruck, den andere regionale Musiker von Wood ebenfalls hatten – der aber auch auf andere regionale Indie-Gründer wie Terry Gavaghan (Guardian Records aus Durham) zuzutreffen schien.105 Sowohl Wood als auch Gavaghan betrachteten die Bands auf ihrem Label nicht als Wachstumsprojekte durch Reinvestitionen (»They didn’t plow it back into the band.«106 ), die man großflächig bewerben musste, wie dies gleichzeitig durch EMI mit Iron Maiden unternommen wurde, sondern als kurzfristige Gewinnoption mit der Chance auf Weiterleitung der Gruppe zu einem Major Label. Mit der Musik verband die beiden Gründer nichts – Heavy Metal war eine pragmatische Label-Ausrichtung aufgrund des medialen Interesses – und überdies fehlte ihnen die globale Sondierungsfunktion des Underground-Netzwerkes. Bei den Gründern der Indies in Kontinentaleuropa und den USA gestaltete sich dies dann ganz anders: Während Cees Wessels seine Amsterdamer Roadrunner-Gründung (1981) zunächst noch durch kluge Lizensierungen von US-Bands und ein Import-Vertriebsnetz nach Europa stützte, sich dabei aber auch bereits auf die Tipps eines eifrigen internationalen Traders wie »Metal Mike« van Rijswijk verließ,107 waren die meisten Indie-Gründer seit Brian Slagels Eröffnung von Metal Blade Records in Los Angeles (1982) selbst Tape Trader und/oder Underground-Organisatoren. Für Jens Prüter, lange A&RChef bei dem Dortmunder Indie Century Media, war dies mit einer »Punkrock-Attitude« verknüpft, denn »die Metal-Szene hatte zu dem Zeitpunkt nicht diesen Spirit. Es gab die etablierten Labels, aber nicht viel Undergroundstruktur, das ist dann von Kids wie Robert, Markus Staiger, Digby Pearson und anderen gemacht worden.«108 Prüter spricht hier mit Robert Kampf (Century Media), Markus Staiger (Nuclear Blast) und Digby Pearson (Earache) drei musikbegeisterte Indie-Gründer an, die sich mit ihren Kollegen von Megaforce oder Peaceville eine wichtige Gemeinsamkeit teilten, die sie von Neat und Guar-
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Vgl. Tucker, Neat & Tidy, S. 24. Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 14.15 Min. Ebd., 14.45 Min. Vgl. Interview Fist, Aussagen von Glen Coates und Norman Appleby, 33.25-33.30 Min. Vgl. ebd., Aussage Norman Appleby, 33.30 Min. Vgl. The Burning Red: A Complete History of Roadrunner Records, Pt. 1 – 1981–2012, in: metalsucks, 25.04.2022, URL: https://www.metalsucks.net/2022/04/25/the-burning-red-a-complete-hi story-of-roadrunner-records-pt-1-1981-2012/ (letzter Aufruf 28.06.2022). 108 Krumm, Century Media, S. 21.
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dian unterschied: Sie nahmen nur unter Vertrag, was sie selbst gerne hören wollten und betonten das Fehlen finanzieller Interessen.109 Diese bis heute immer wieder beschworene Signing-Philosophie der Metal-Indies hatte zur Folge, dass sich die Labels musikalisch deutlich spezialisierten und mittelfristig auch professionalisierten. Das lag vor allem am Personal: Sowohl die Label-Gründer wie auch die Mitarbeiter rekrutierten sich nun vor allem aus dem DIY-Bereich, umfassten aber auch vermehrt »Profis«, die Erfahrungen im Management oder bei den Major Labels gesammelt hatten. Teilweise sogar beides: So wurde Bogdan Kopec, der neben seiner eigenen Plakatkleberfirma mehrere kleinere Bands im Ruhrgebiet managte, vom NoiseGründer Karl Walterbach nach Berlin geholt, um seine Erfahrungen im UndergroundBereich bei der Arbeit für die aufstrebenden Bands des Labels (Kreator zum Beispiel) einzubringen. Seine Qualifikationen waren in der Mitte der 1980er Jahre noch rar und ein Gründer wie Walterbach, der ein Label mit nur einem Mitarbeiter führte, brauchte dringend Verstärkung, die sich im jungen DIY-Feld der Metal-Kultur auskannte. Kopec »wollte auch gerne raus, wirklich nur von der Musik leben«110 und bekam eine gute Chance, aus der er ab 1986 das Verlags-, Management-und Promotionsunternehmen Drakkar aufbaute.111 Ein anderes Beispiel war Martin Hooker, der 1983 Music for Nations als Teil des LabelDistributors Zomba Records gründete, nachdem er bei EMI und dem Punk-Indie Secret Records gearbeitet hatte.112 Hookers Firma machte sich in Europa schnell einen Namen – vor allem, weil er Metallica in Europa lizensieren konnte. In beiden Fällen war bzw. wurde die saubere Trennung von Indies und Majors schwierig: Kopec ging 1992 mit dem Major BMG zusammen und gründete G.U.N. Records, während Zomba Records von Beginn an Teil von BMG war. Es existieren sogar Beispiele dafür, dass einer Tätigkeit bei Majors und Indies parallel nachgegangen wurde. Joe Pupo arbeitete für zehn Jahre bei Atlantic Records in den Abteilungen für Tantiemen, im Lager, aber auch teilweise für die Geschäftsführung, und organisierte nebenbei sein eigenes Indie Rage Records, wo er Death Metal-Bands wie Exmortis, Prime Evil oder Revenant herausbrachte. Der Job bei Atlantic finanzierte dabei sein Leben, der Job bei Rage dagegen war sein Leben und beide Seiten kollidierten sogar einmal miteinander: I once got in trouble for working on Rage Records during the day. Apparently, they were pissed because some of our bands […] were getting more airplay than their crappy false metal bands. Although we didn’t make any money, I was really proud of the work we did back then. It was pretty well received.113
109 Vgl. Richard Strachan, Micro-independent record labels in the UK: Discourse, DIY cultural production and the music industry, in: European Journal of Cultural Studies 10 (2007) 2, S. 245–265, hier S. 250; Vgl. Krumm, Century Media, S. 23; Vgl. Costas Stoios über seine Label-Philosophie: »Well, it is very simple: I have to like it so much that I would buy it myself as a fan. That’s all.« Chris Forbes, Iron Pegasus Records. Interview with Costas Stoios, in: Metalcore Fanzine; Zum Ansatz bei Earache Records vgl. Christian Hillenbrandt, Mortuary Mag 3 (1992), S. 48. 110 Interview Bogdan Kopec, 13.26 Min. 111 Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 85–88. 112 Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 187. 113 Chris Forbes, Interview with Joe Pupo, in: Metalcore Fanzine.
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Indies und Majors waren also in den Arbeitsbiografien der Akteure eng miteinander verflochten. Auch Marco Barbieri bekam seinen Job bei Metal Blade Records als Assistent der Publicity-Abteilung nur, weil sein Freund Jim Filiault zum Chef der Abteilung aufstieg, nachdem seine Vorgängerin zu einem Major Label wechselte. Die Vorabinformation erhielt er unter der Hand bei einem der Foundation Forums, einer zentralen Vernetzungsbörse der Musikindustrie für Hard Rock und Heavy Metal in Los Angeles, die 1988 zum ersten Mal organisiert wurde.114 Barbieri trat seine Stelle 1991 an, schloss in Nachtarbeit noch sein Studium an der UC Northridge ab und arbeitete sich durch die A&R-Abteilung bis in Filiaults Position hoch (dieser wechselte 1994 an eine Law School). Er blieb insgesamt fünf Jahre bei dem Indie Label.115 Indie Label wie Metal Blade oder Noise besaßen daher kaum das Potential für ein lebenslanges berufliches Auskommen, waren aber wichtige Schnittstellen zwischen jugendlichem Engagement und der Musikindustrie. Sie wurden oft zu individuellen Karriere-Sprungbrettern, initiierten regelrechte Märsche durch die Institutionen und begründeten neue Selbständigkeiten, waren aber genauso oft schlicht eine Erwerbsoption, bis man Arbeitsstellen in anderen Bereichen gefunden hatte. Einige Beispiele verdeutlichen diese Scharnierfunktion: Monte Conner wechselte vom College-Radio zum Indie Label Shatter Records, dann in die A&R-Abteilung von Roadrunner in den USA, wo er von 1987 bis 2012 tätig war, und schließlich zu Nuclear Blast.116 Er begleitete Roadrunner in seiner Zeit von einem kleinen und DIY-basierten Start-Up zu einem der wichtigsten Metal-Label in den USA und profitierte dabei von seinem unverhofften Anfangserfolg: … und nach den ersten zehn Tagen, in denen ich für Roadrunner gearbeitet hatte, verließ der damalige A&R das Label. Zu dieser Zeit waren wir nur ein kleines Büro mit fünf Leuten, und als der besagte A&R abgehauen war, guckte sich der Label-Chef die vier Verbliebenen, von denen ich der einzige Metalhead war, an und sagte dann zu mir: »Okay, du nimmst die Bands unter Vertrag.« Er wusste, dass ich einen ganz guten Musikgeschmack hatte und auch dem Job des A&R nicht abgeneigt war. Und so hat er mich einfach mein Ding machen lassen, und ich nahm im ersten Jahr SEPULTURA, ANNIHILATOR und OBITUARY unter Vertrag. Alle kamen dann 1989 raus und entwickelten sich sehr gut. Man hat mich halt einfach machen lassen.117 Während Conner bei den größer werdenden Indies blieb, wechselte Jim Welch »die Seiten«: Er begann 1989 mit einem Job bei Relativity und übernahm nur fünf Monate später das angeschlagene Indie Label Combat Records, das er beispielsweise mit einem Vertrag
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Vgl. Dennis McDougal, Heavy Metal Rockers Say They Want More Respect, in: The Los Angeles Times, 03.10.1988, S. 50. Das inoffizielle Motto der Messe, zu der neben Fans und Bands auch Indies und Majors erschienen, lautete laut L. A. Times »Heavy metal gets no respect, no airplay, no credibility, yet accounts up to 40 % of rock record sales.« Vgl. Forbes, Marco Barbieri, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Oliver Schneider, Interview mit Monte Conner, in: powermetal.de, 25.10.2005, URL: http://po wermetal.de/content/artikel/show-CONNER__MONTE__Interview_mit_Monte_Conner,5666-1.h tml (letzter Aufruf 27.06.2022). Ebd.
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mit dem angesagten englischen Label Earache (Plattenproduktion und Distribution in den USA) rettete. Als Sony 1991 Combat übernahm und die Metal-Ausrichtung änderte, wurde Welch der Leiter der US-Abteilung von Earache. Ab 1993 arbeitete er schließlich nacheinander für die Majors Columbia, Atlantic und Arista.118 Howie Abrams dagegen bekam als Freund der Band Nuclear Assault einen Job im Vertrieb des größten US-Distributors Important und merkte dort, dass viele der HardcoreBands aus New York keine geregelten Plattenverträge besaßen.119 Er gründete In-Effect, um diesen Bands (zum Beispiel Agnostic Front) mehr Planungssicherheit abseits der »handshake agreements« zu geben, obgleich er zu Beginn wenig bis gar nichts von den Anforderungen an seinen neuen Job wusste: Honestly, I didn’t have any idea what A&R was at that time. I just focused on the tasks, which was to find bands we liked, and try to get them to put out records with us… which I suppose was A&R.120 Aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelte Abrams schließlich eine vielseitige Karriere im Musikgeschäft, unter anderem in der A&R-Abteilung von Roadrunner, im Musikverlagswesen, im Bandmanagement sowie als Buchautor.121 Seine Tätigkeiten in der Distribution und bei einem Indie Label wirkten als Grundlage für eine weitere berufliche Spezialisierung, für die es auch in Europa viele Beispiele gab: So gründete Gerald Wilkes 1998 das Unternehmen Continental Concerts-& Management, nachdem er – aus dem PunkBereich stammend – zehn Jahre lang unter anderem als Tourmanager bei Kopecs Firma Drakkar gearbeitet hatte. Sein ehemaliger WG-Kollege aus Studienzeiten tat es ihm mit anderer Ausrichtung gleich und gründete Twisted Talent in Dortmund, eine zunächst regional tätige Booking-Agentur, die zu einem global operierenden Veranstaltungsmanagement aufstieg.122 In der kommerziellen und sozialen Komplexität der »langen 1980er Jahre« bildeten die Labels also sowohl Durchgangsstationen als auch Lernorte in einer entstehenden Unternehmenslandschaft, in der enge persönliche Verflechtungen mit den Distributoren, Managern, Produzenten, Bookern und Journalisten bestanden. Es handelte sich um einen geschäftlichen Bereich zwischen der Dezentralität des DIY-Netzwerks und einer sich auf Metal spezialisierenden Musikindustrie, wo es einerseits darauf ankam, viele Akteure zu kennen und einschätzen zu können, wo – aus dem Underground kommend – aber auch ein starker Professionalisierungsdruck herrschte.123 Denn »intentionally bad capitalists«, wie Kevin Dunn die Gründer der Punk-Indies etwas eindimensio-
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Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 73. Vgl. ebd., S. 65. Ebd. Vgl. Carlos Ramirez, In-Effect Records (Interview with Former Label Manager, Howie Abrams), in: No Echo, 04.03.2014, URL: https://www.noecho.net/interviews/in-effect-records-interview-withformer-label-manager-howie-abrams (letzter Aufruf 28.06.2022). Vgl. Schmenk/Schiffmann, Kumpels in Kutten 2, S. 196f. Zum Professionalisierungszwang von DIY-Karrieren vgl. Andy Bennett, Youth, Music and DIY Careers, in: Cultural Sociology 12 (2018) 2, S. 113–139, hier S. 135.
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nal nannte, blieben die Gründer von Metal-Indies keineswegs.124 Arbeitseinstellungen und Qualifikationsdefizite wie jene von Jon Zazula, der mit seinem Label Megaforce unbedingt Metallica unter Vertrag nehmen wollte, obwohl er zugab, keine Ahnung vom Bandgeschäft zu haben,125 oder von Digby Pearson, der Earache nur als eine Möglichkeit ansah sich »vor dem Arbeitsamt zu drücken«126 , konnte man sich im steigenden Wettbewerbsdruck nicht lange leisten. Kleine Unternehmen, die aufgrund ihres Gespürs und ihrer Vernetzung mit dem DIY-Bereich plötzlich mit den angesagten Bands zusammenarbeiteten, mussten schnell dazulernen. Dabei herrschten zwischen den Indie Labels enorme Entwicklungsunterschiede und nach den euphorisch-idealistischen Gründungen lassen sich keine generalisierbaren Aussagen mehr treffen. Neben kleinsten Labels, die EinMann-Unternehmen blieben und schnell wieder eingestellt wurden, entwickelten sich die bekannteren Indie Labels der Metal-Kultur zu professionellen Institutionen, die teilweise selbst eine marktbeherrschende Stellung für dieses Genre gewinnen konnten.127 Als zentrale unternehmerische Entscheidungsfelder, an denen sich die weitere Entwicklung der Label ausrichtete, erwiesen sich dabei erstens das Personal und die Arbeitsethik, zweitens die Talentfindung, Vertragsentwicklung und der Kontakt zu den Musikern, und drittens die Bereiche der Distribution und der Lizensierung.
7.2.1 Personal und Arbeitsethik Die Gründungsphasen der Indies, die sich auf Metal spezialisierten, waren davon geprägt, dass später voneinander getrennte Arbeits-und Geschäftsfelder noch nicht separat voneinander geführt wurden. Als beispielsweise Kopec zu Noise Records wechselte, bestand das Label aus dem Gründer, einem Mitarbeiter und einer Sekretärin, war aber der Ansprechpartner der Bands in fast allen wesentlichen Fragen. Neben dem eigentlichen Label-Geschäft landeten also auch viele management-spezifische Fragen auf dem Schreibtisch in Berlin.128 Kopec war zunächst nur für die Promotion angestellt worden und lenkte die Bewerbung der Bands in Magazinen, Radio usw., musste aber kurzfristig auch oft mit auf Tourneen fahren, übernahm dort den Verkauf des Merchandise (für das Noise ebenfalls die Rechte hatte), organisierte die Tour-Abläufe und rückte auf diese Weise in die Funktion eines Tour-Managers auf. Diese Aufgabenteilung war jedoch ungünstig, denn durch die zeitintensive Tour-Tätigkeiten blieben währenddessen viele Angelegenheiten unerledigt. Der sich in diesem Zusammenhang zeigende Arbeitsteilungsbedarf überzeugte ihn schließlich nach der Gründung von Drakkar, einen eigenen Tour-Manager anzustellen (dies wurde Geralt Wilkes), denn, so Kopec: Ich hatte früh bemerkt, dass ich als Manager meine von mir gebuchten Tourneen nicht begleiten konnte, wenn ich meine Arbeit professionell weiterführen wollte. Wenn du 124 125 126 127
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Dunn, Global Punk, S. 155f. Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 37. Mudrian, Choosing Death, S. 136. Nuclear Blast Records ist dafür sicherlich das eindrücklichste Beispiel und nach eigener Aussage das größte Metal-Label der Welt. Zeitweilig marktbeherrschende Stellung in spezifischen Segmenten hatten in den frühen 1990er Jahren auch die Produkte von Roadrunner Records. Vgl. Interview Bogdan Kopec, 14.10-14.29 Min.
7. Ambivalente Kommerzialisierung
mit der Band unterwegs bist und auch trinkst, kiffst oder was auch immer und für jeden Anruf eine Telefonzelle, es gab keine Handys oder E-Mails, aufsuchen musstest, blieb dein Büro geschlossen. Hierfür habe ich extra Tourmanager angestellt die im Sinne meiner Firma agierten.129 Für einen Gründer wie Kopec waren Tour-Manager teure freie Angestellte, doch unverzichtbar. Sie regelten die täglichen Abrechnungen, sorgten für Frieden zwischen den Bands sowie zwischen den Bands und den angestellten Roadies, übernahmen die in den 1980er Jahren sehr umständliche Tour-Kommunikation und die Zollangelegenheiten (Carnet für jedes Instrument!) und waren für einige Jahre das einzige bezahlte Personal, das Kopec neben einer Sekretärin brauchte. Zu dritt hätten sie pro Jahr bis zu 500 Konzerte organisieren können, während man für arbeitsintensive Tätigkeiten in der Merchandise-Organisation dagegen auf die Hilfe von Freunden und Verwandten setzen konnte.130 Auch andere Indies schufen daher früh den Posten des Tour-Managers sowie der Tour-Managerin, denn anders als unter den Label-Gründern war diese Position auch mit Frauen besetzt, die sich zwar gegen gängige Vorurteile zur Wehr setzen mussten, aber dennoch mittelfristig Erfolg hatten – so etwa Kirsten Prüter bei Century Media oder Gloria Cavalera bei Roadrunner Records.131 Über die weitere Label-Entwicklung können keine generellen Aussagen getroffen werden und es bildeten sich sehr verschiedene Arbeitsorganisationen und -teilungen heraus – je nachdem, in welchen Geschäftsbereichen das Label aktiv war. Bei Indies, die auch die Tour-Organisation und das Merchandise übernahmen, gestalteten sich die Personaldecke und interne Abläufe ganz anders als in Fällen, in denen die Label diese Felder an Unternehmen wie TCI (Tour-Agency) oder Blue Grape (Merchandise-Vertrieb) »ausgelagert« hatten.132 Hinzu kamen massive Unterschiede, die aus der Frage resultierten, ob das Label eine eigene Distributionsstruktur aufbaute, wie viele Bands man unter Vertrag hatte und ob auch das Management einbezogen wurde. Ein kleines Indie wie Dolores Records, das aus einem Comic-und Fan-Shop in Göteborg (ab 1978) entstanden war und 1987 neue Räumlichkeiten bezog, bestand zu Beginn lediglich aus sechs Mitarbeitern: Dem Leiter des Shops, einer Person für den Mailorder-Versand, einer geschäftlichen Leitung, dem vor allem für die Distribution zuständigen Labelmanager sowie zwei durch eine staatliche Arbeitsmaßnahme bezahlte Mitarbeiter, bei denen es sich um zwei Musiker der wichtigen schwedischen Band Grotesque handelte.133 Es herrschte dabei eine ausgeprägte DIY-Mentalität und ein freundschaftlicher und enger Kontakt zu den lokalen Bands, die man unter Vertrag nahm.134 Im Kontrast dazu wies
129 Ebd., 29.02-29.28 Min. 130 Vgl. ebd., 31.00 Min. 131 Kirsten Prüter: »Wenn wir irgendwo hinkamen, wurde ich erst gefragt, von welchem Musiker ich die Freundin sei. […] Als ich sagte, von keinem, fragten sie mich, was ich dann hier täte. Ich sagte: Tourmanagement und Merchandise. Nachdem die Typen dann gemerkt haben, dass ich zwei und zwei zusammenrechnen konnte, fanden sie das cool, und wir haben von den Veranstaltern alles bekommen, was wir brauchten.« Krumm, Century Media, S. 39. 132 Beispiele von Suffocation (1993), in: Netherton, Extremity Retained, S. 325. 133 Vgl. Frank Stöver, Voices From The Darkside 3 (1994), in: ders. (Hg.), Voices, S. 13. 134 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 221.
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ein großes Indie Label wie Megaforce fast zur selben Zeit (1986) eine professionelle Unternehmensführung und feste Arbeitsteilung auf und beschäftigte auf 10.000 Quadratfuß Büroraum unter anderem folgende Abteilungen und Mitarbeiter: Neben Zazula und seinem Vize Ed Trunk, die beide Assistenten hatten, waren vier Personen in der Buchhaltung beschäftigt, ein Mitarbeiter jeweils in der Versandabteilung, im Einkauf und in der Video-Abteilung, sowie 22 Beschäftigte beim Management-Ableger des Labels. Mit der Geschäftsleitung, der Pressestelle und der Radio-Promotion (2 Mitarbeiterinnen) waren drei zentrale Einsatzgebiete mit Frauen besetzt.135 Über die dabei vorhandenen Arbeitsverträge und Bezahlungen liegen keine Informationen vor, doch legen die Personalstärken und Band-Kataloge der Label auch hier massive Unterschiede nahe. Finanziell waren die Indies zu Beginn Zuschussgeschäfte und hielten sich dann mittelfristig nur gerade so in den schwarzen Zahlen. Der Wunsch nach beruflicher Verwirklichung mit der eigenen musikalischen Passion war neben dem staatlich-gestützten Beispiel aus Göteborg auch in England sehr oft an die wöchentlichen 40 Pfund des Enterprise Allowance Schemes gebunden (so etwa bei Peaceville, Earache oder Rise Above Records) und profitierte lange von den Wohnmöglichkeiten bei den Eltern. Generell glichen die Startphasen dieser Unternehmen eher Probier-und Testläufen, in denen eruiert wurde, was überhaupt möglich war. Das Ziel war noch nicht von vornherein, eine langfristige berufliche Zukunft zu ermöglichen.136 Viele der Gründer und Mitarbeiter waren Idealisten und lebten durchaus länger am finanziellen Existenzminimum. Selbst nach einigen Jahren investierten sie viel Arbeit in eine Tätigkeit, die nur wenig Gewinn versprach. So machte einer der ersten Mitarbeiter von Nuclear Blast 1991 gegenüber dem Slayer-Fanzine deutlich, dass man an das Indie-Geschäft in der MetalKultur andere Maßstäbe ansetzte als an die »freie Wirtschaft«: If you see the relationship between work and profit this ›business‹ totally sucks. Because in the ›normal society‹ it is much easier to make cash without so much stress and trouble. But because it isn’t a normal job for us we can accept it to work up our asses on it without being millionaires.137 Auch bei einer der wenigen genauen Aufschlüsselungen der Kosten für ein Album durch Paul Halmshaw wird deutlich, dass ein auskömmliches Einkommen nicht zu den wichtigen Intentionen der frühen Indie-Phasen gehörte. Für eine Veröffentlichung der Band Deviated Instinct aus Norwich rechnete der Gründer folgendermaßen: Er setzte 1.000 Kopien zu je vier Pfund Ladenpreis fest. Von diesen 4.000 Pfund blieben 1.500 Pfund bei den Geschäften, 750 Pfund erhielt der Distributor, 1.000 Pfund kostete die Herstellung, 100 Pfund wurden für die Produktion berechnet, 325 Pfund plante er für nicht näher spezifizierte »royalties« ein und lediglich 325 Pfund konnte das Label als Gewinn verbuchen – jedoch nur beim Verkauf aller Kopien. Das Management und die Mitarbeiter
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Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 82f. Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, Kapitel 3 und 4 (dezidiert S. 66); Vgl. Zazula, Heavy Tales, Kapitel 3 und 4; Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, Kapitel zu den Jahren 1985 und 1986. Jon Kristiansen, Slayer 8 (1991), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 193.
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arbeiteten laut Halmshaw in den späten 1980er Jahren für 40 Pfund pro Woche, was exakt dem EAS-Wochenlohn entsprach und nahelegt, dass das Label zunächst gar keinen Gewinn machte.138 Wie noch gezeigt wird, konnte sich dies durch kluge Entscheidungen in der BandAkquise und Distribution schnell ändern, doch selbst später sehr erfolgreiche Indies gingen durch finanziell schwierige erste Jahre. So waren etwa heute selbstverständliche und günstige Kommunikationsformen wie Telefonate oder gar Flüge für ein junges Unternehmen, das auf die internationale Vernetzung des Undergrounds angewiesen war, in den 1980er Jahren eine kostenintensive Notwendigkeit.139 Und oft arbeitete man zunächst keinesfalls kostendeckend: Aufgrund der hier wesentlich größeren Investitionen bildete Megaforce Records einen risikoreichen Extremfall und war zunächst mit hoher Verschuldung verknüpft. Zazula hatte in den ersten Jahren von den Bands noch kein Geld verlangt, als Metallica 1984 zu Elektra wechselten, reinvestierte er in Raven und Anthrax und als Raven zu Atlantic gingen, forcierte er mit dem Erlös die Entwicklung von Anthrax. Der wesentliche Unterschied zur frühen Indie-Philosophie bei Neat oder Guardian wird hier deutlich: Der Gründer wollte den Gewinn nicht sofort, sondern reinvestierte aus einer Mischung von visionärem Unternehmertum und subkulturellem Verständnis, bis er eine Aufmerksamkeitsstufe der Majors erreicht hatte, die zu wesentlich lukrativeren Verträgen führte. Mit dem Weggang von Anthrax zu Island Records schuldeten die Musiker ihm schließlich 250.000 Dollar. Erst als die Band mit ihm einen Merchandise-Vertrag über 1,5 Mill. Dollar abschloss und ihn ausbezahlte, machte sein Unternehmen zum ersten Mal Gewinn – den er in die oben beschriebene expandierende Organisation investierte.140 Die Bereitschaft zu finanziellen Einbußen bzw. Selbstbeschränkungen deutet bereits an, dass bei Indies eine besondere Unternehmenskultur herrschte. Denn intern bewegten sich sowohl die Mitarbeiter individuell als auch die Verhältnisse zwischen dem Label und den Bands im Spannungsfeld des oben beschriebenen Authentizitätsnarrativs. Langfristig kam es hier darauf an, die aus dem DIY kommenden Idealisten nicht zu verprellen, aber gleichzeitig ein nüchtern-pragmatisch-realistisches Geschäftsmodell zu entwickeln. Diese Anforderung barg großes Enttäuschungspotential, denn die nun anfallenden Arbeitsfelder verloren relativ rasch ihren subkulturellen Charme. Der Wettbewerb zwischen nach außen freundschaftlich verkehrenden Bands wurde durch Konkurrenzgefühle konterkariert, denen man als Label-Chef permanent ausgesetzt sein konnte. Zazula rekapitulierte entsprechend überrascht und ernüchtert, dass »Not many bands had nice things to say about the other bands which was a weird thing to me because I loved them all.«141 Andere Gründer wie Brian Slagel bemerkten, dass sich der enge Austausch von Metal und Punk auf der Musiker-Ebene nicht in das Label-Geschäft übersetzen ließ: Jeff Hanneman (Slayer) brachte den Gründer von Metal Blade Records in Kontakt mit seinen Freunden von D.R.I., die es jedoch als unter ihrer Würde betrachteten, bei einem Metal-Label zu unterschreiben. Slagel etablierte daher, wie andere Indie-
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Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 127f. Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 70. Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 232. Ebd., S. 132.
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Gründer auch, ein separates Sub-Label für stilfremde Gruppen – ein im Grunde sinnloses Zugeständnis an den popkulturellen Standesdünkel.142 Bogdan Kopec dagegen, der viele Bands in einer Mischung aus Management, Verlag und Label betreute, machte sich von Beginn an weniger Illusionen. Auf die Zuverlässigkeit und die Beziehung zu den Musikern angesprochen, wurde er sehr deutlich: Viele der Musiker waren schwierig und kosteten Nerven. Durch die ewige Tourerei und das nicht enden wollende Partyfeeling blieben viele jungen Bands verblendete Metalkinder. Eine Band ist auch eine Firma, die eine Menge Bürokratie mit sich bringt. Während wir mit den Aufgaben gewachsen sind und ein ernsthaftes Unternehmen wurden, war es immer schwierig, sich professionell auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Musiker hatten oft wenig Interesse an geschäftlichen Details. Es war aber letztendlich in Ordnung, jeder hatte seine Aufgabe und das funktionierte.143 Am wichtigsten war es jedoch langfristig, dass die Arbeitssemantiken und Arbeitsethiken der Mitarbeiter, die durch ihr subkulturelles Engagement eine deutliche Entgrenzung aufwiesen, in Sichtweisen umschlagen konnten, die das Selbstausbeutungspotential offenbarten. Simpel formuliert verlor Metal hier seinen Hobby-Charakter und wurde zur Arbeit. Jeder Mitarbeiter eines Indies erkundete dabei seine eigene Schmerzgrenze – manche verließen die Label nach kurzer Zeit wieder, weil sie das erforderliche Engagement nicht damit vereinbaren konnten, auch noch Bands zu betreuen, die sie musikalisch gar nicht mochten.144 Andere wie etwa Marco Barbieri blieben einige Jahre beim Label und meisterten die Gratwanderung mit ihrem Verweis auf eine unerschütterliche Treue und Begeisterung für Metal-Musik. Er arbeitete nach eigener Angabe in Vollzeit und leistete täglich ein bis zwei unbezahlte Überstunden – zusätzlich gehörten Konzertbesuche ebenfalls zu seinem Aufgabenbereich. Nebenbei erstellte er noch sein eigenes Fanzine, hörte permanent Metal oder las darüber. Für ihn hieß es nur »I never wanted to get away from metal.«145 Dass dieses Engagement, indem Arbeit und Freizeit vollkommen verschmolzen, mit seiner Familiengründung endete, war daher wenig verwunderlich.146 Den musikalischen Spagat schaffte er indes, indem er jenen Veröffentlichungen, die er weniger mochte, dennoch etwas abzugewinnen versuchte und seine Promotion auf diese Bereiche konzentrierte. Barbieri bezeichnete diese Aspekte treffenderweise als »redeeming quality each release had«147 und spielte damit auf die auch seelisch-moralisch existente Zwickmühle seiner Tätigkeit an. Ähnlich wie bei den Magazinen, in deren Redaktionen ein interner Anpassungskonflikt gegenüber dem musikalischen Wandel entbrannte (Kap. 6), verschärfte sich dieses Problem auch bei den Indies vor allem während der 1990er Jahre. Wie die gesamte Branche auch ist dieser Aspekt bisher nicht erforscht worden und es ist Vorsicht geboten, doch sprechen Beispiele wie das von Karen Milewski, die in der Nuclear Blast-Filiale in 142 143 144 145 146 147
Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 71. Interview Bogdan Kopec, 53.33-53.52 Min. Vgl. Forbes, Interview with Ray Dorsey, in: Metalcore Fanzine. Chris Forbes, Marco Barbieri, in: Metalcore Fanzine. Vgl. ebd. Ebd.
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Philadelphia arbeitete, eine deutliche Sprache: Sie erinnerte sich, dass man sich dort ab Mitte der 1990er Jahre regelrecht dafür entschuldigen musste, weiterhin Extreme MetalBands wie Bathory, Possessed oder Darkthrone zu hören. Der Druck auf die UndergroundSelbstverortung wuchs derart, dass das »innovative« Management »people who are truly into metal« keine Arbeit mehr geben wollte – dies wäre, so die Verantwortlichen, als gebe man einem Alkoholiker einen Job in einer Bar. Sie fürchteten angeblich Diebstahl von Produkten und hätten damit dazu beigetragen, die Ausrichtung der Belegschaft in Richtung Rap und Rock zu verändern.148 Überdies gab Milewski an, vom Manager lediglich auf Grund ihres Geschlechts und Aussehens eingestellt worden zu sein.149 Die Bewertung ihrer Aussagen fällt ambivalent aus: Einerseits spricht ihre Erfahrung klar für ein Weiterwirken der maskulinen Genre-Konstruktion bis in die unternehmerischen Entscheidungen und Gender-Dispositionen hinein (ebenso wie bei den Tour-Managerinnen). Andererseits könnte dies aber auch den grundlegenden Konflikt des Labels während dieser Jahre übertüncht und bei ihr zu dem Bild der Verfolgung von Underground-Metalheads geführt haben. Mitte der 1990er Jahre steckten Metal-Bands besonders in den USA seit einigen Jahren in einer Aufmerksamkeitskrise und wiesen schlechte Verkaufszahlen auf.150 Eine Änderung des Band-Katalogs der Label und eine Einstellung von musikalisch anders sozialisierten Mitarbeitern waren daher aus unternehmerischer Sicht vollkommen plausibel – trafen aber auf das stabile Authentizitätsnarrativ des Undergrounds, durch das man noch vor wenigen Jahren Platten verkaufen konnte. Die Label-Praxis des späten Jahrzehnts hatte daher vermutlich weniger mit einer internen Hexenjagd als damit zu tun, dass vor allem Extreme Metal an der Talsohle angekommen war. Das authentische Bild des Undergrounds traf also früher oder später auf kommerzielle Grenzen, bei denen selbst überzeugten DIY-Label-Gründern nichts anders übrigblieb als eine musikalische Neuorientierung. Dies traf auch auf die Art der Unternehmensführung zu: Egalitär-motivierte Strukturen zwischen Unternehmensleitung und Mitarbeitern, wie sie beispielsweise bei Peaceville Records bestanden, wichen unter dem Professionalisierungsdruck des Musik-Geschäfts zunehmend hierarchischeren Herangehensweisen. Für den Gründer Paul Halmshaw hatte auf Grund seiner PunkVergangenheit immer festgestanden, das Label wie ein »homogeneous whole« zu führen. Dies sei »for the greater good of everyone« geschehen und habe einige Jahre gut funktioniert.151 Als einer seiner Mitarbeiter jedoch einen schwerwiegenden Fehler machte, für den Halmshaws Freundin mit ihrem Haus einstehen musste, änderte sich die Unternehmenskultur sogar für ihn. Eine simple Vermischung von Arbeit und Freizeit war nicht mehr möglich und Halmshaw handelte fortan unter einer anderen Devise: »When we’re at work the staff are your employees, not your friends, and we had to get
148 Vgl. Chris Forbes, Metal War Productions. Interview with Karen Milweski, in: Metalcore Fanzine. 149 »Well, I was told by the label manager about a year and a half after he hired me that he hired me because and I quote ›he thought I was ›Hot‹ and I was a ›chick‹ who knew a lot about metal.« Ebd. 150 Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 151, 152, 164. 151 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 130.
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professional or go home.«152 Ein kleines und an einen festen Musikstil gebundenes Indie konnte in solchen Momenten einfach schließen – für Unternehmen in langfristigen Verträgen oder gar Schulden durch Investitionen war dies nicht so einfach möglich und führte zu unternehmerischen Entscheidungen, die in der Bandauswahl oder der Unternehmensführung schnell als Verrat am Underground wahrgenommen werden konnten.153 Die Unternehmensführung eines vermeintlichen Indie Labels gestaltete sich also als Balanceakt und Brian Slagel resümierte seine Entscheidungen bei Metal Blade Records: No matter how you feel emotionally, the numbers have to work. And sometimes it can be difficult to make decisions that you really don’t want to make. Sometimes you might have to tell friends something they don’t want to hear, or they might be a situation where they want something that you just can’t do or don’t think is right. It’s a tricky situation, but I kept learning as I went along.154
7.2.2 Bandkontakt und Verträge In den meisten Fällen während der 1980er Jahre konkurrierten Label nicht um die Bands, sondern die Bands setzten initiativ alles daran, ein Label zu gewinnen. Der Druck lag hier sehr deutlich auf der Seite der Musiker. Iron Maiden mussten sich etwa mit der Hilfe ihres Managers stark um den Vertrag mit EMI (1979) bemühen, während es die Bands bei MCA (Tygers of Pan Tang, Diamond Head) dann etwas einfacher hatten, weil das kommerzielle Potential der NWOBHM bei EMI offensichtlich geworden war.155 Auf Heavy Metal spezialisierte Indies gab es in dieser frühen Phase der NWOBHM wie gesagt noch nicht. In England bildeten sich diese Fokussierungen bei Labels wie Neat, Guardian, Ebony, Heavy Metal Records oder Music for Nations erst aus. Eine Band wie Saxon unterschrieb sogar bei einem französischen Label wie Carrere, ebenfalls noch gänzlich ohne Erfahrungen mit dem jungen Genre, ohne subkulturelle Gesprächsgrundlage und mit einem großen Altersunterschied zwischen der Band und den Verantwortlichen beim Label – die Folge war eine erzwungene Umbenennung von Son of a Bitch zu Saxon, eine erwünschte SingleFokussierung der Band sowie ein permanenter Veröffentlichungsdruck, wie ihn auch die Bands bei MCA spürten.156 Die Wege zur Anbahnung solcher Verträge wurden im Zuge des DIY deutlich kürzer und auch die persönlichen Beziehungen veränderten sich meist von unpersönlichen Geschäftsbeziehungen zu Kontakten zwischen Fans, von denen einer die Musik und der andere deren Vermarktung übernahm. So gestaltete sich die Situation bei den auf Metal spezialisierten Indies seit den frühen 1980er Jahren dann ganz anders: Karl Walterbach kam selbst aus der Punk-Szene, ebenso wie Robert Kampf, Paul Halmshaw oder 152 153 154 155 156
Vgl. ebd., S. 210. Zur Situation bei Earache mit Digby Pearson vgl. Kapitel 7.2.3; Vgl. zur Situation bei Noise vgl. Gehlke, Systemstörung, sowie Interview Bogdan Kopec, 50.24-53.03 Min. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 88. Vgl. Rod Smallwoods Initiativen gegenüber EMI bei Wall, Run to the hills; Zu den Tygers of Pan Tang und der Initiative durch MCA vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 22.57-24.12 Min. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 45f.
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Digby Pearson. Gründer wie Brian Slagel, A&R-Agenten wie Monte Conner oder Jim Welch waren tief im Tape Trading-und Fanzine-Underground verwurzelte Akteure mit einem entsprechend sehr guten Verhältnis zu den Musikern und direkten Kommunikationskanälen. Obgleich die Indies permanent am längeren Hebel saßen, etablierten sich hier egalitärere, unkompliziertere und generell wenig geschäftlich anmutende Beziehungen – oft mit auch zwischenmenschlichen Komponenten. Ein Gründer wie Pearson war zuvor ein lokaler Promoter für Punk-Konzerte in Nottingham und pflegte freundschaftliche Kontakte zu den Musikern von Napalm Death, Heresy oder Extreme Noise Terror,157 Robert Kampf war sogar selbst Musiker (Despair) und im deutschen Thrash bestens vernetzt und auch Brian Slagel war ein wichtiger Teil des sozial eng verbundenen Szene-Kerns in Kalifornien, in dem kaum zwischen Musikern und anderen Szene-Engagements unterschieden wurde.158 Die Auswahl der ersten Bands ihrer Indie Label war daher auch keine Suche nach der Nadel im Heuhaufen, sondern eine direkte Folge ihres ohnehin existenten regionalen Netzwerks. Eingesendete Demo-Tapes waren hier letztlich nur eine Erweiterung einer gemeinsamen Live-Musik-und Party-Erfahrung und das erste Portfolio der Indies gestaltete sich deshalb auch ausgesprochen regional.159 Auch die Ausweitung der geografischen Reichweite der jungen Label fand schließlich über das DIY-Netzwerk und die dort geknüpften Kontakte statt. Die Kalifornier von Autopsy kamen durch einen Tape Trading-Mittelsmann zum englischen Label Peaceville,160 die Verträge von Earache mit den schwedischen Death Metal-Bands resultierten aus Digby Pearsons Begleitung einer kurzen Schweden-Tour von Napalm Death im November 1988, wo die lokalen Promoter den eigenen Nachwuchs (Nihilist etwa) als Vorbands einsetzten161 und auch Earaches Einfluss im Florida Death Metal beruhte auf den persönlichen Beziehungen mit der dortigen Pionier-Band Morbid Angel.162 Label-Gründer wie Pearson oder Kampf besuchten öfters persönlich die Proben von potentiellen Bands für ihre Label,163 wurden aber auch sehr direkt mit dem musikalischen Wandel des Undergrounds konfrontiert – etwa, als Glen Benton das erste Demo seiner Band Deicide bei Roadrunner in einer »Friss oder stirb«-Manier auf den Bürotisch knallte und damit einen Deal erzielte164 oder als Darkthrone sowohl ihr erstes Demo als auch ihren stilistischen Wandel zum Black Metal in höchst offensiver Weise gegen erste Widerstände bei Peaceville Records durchsetzten.165 Jene Metal-Indies, die überregionale Bekanntheit erlangten, waren aufgrund dieser lokalen Verwurzlung und internationalen Vernetzung musikalisch mit einem Szene-
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Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 22f. Vgl. Oimoen/Lew, Murder in the Front Row, S. 16, 21, 23. Indie Labels, die zu Beginn Bands aus ihrer eigenen Region unter Vertrag nahmen, waren zum Beispiel Metal Blade, Megaforce, Century Media, Earache und Peaceville. 160 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 97. 161 Vgl. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 153f., 157. 162 Vgl. Interview Mike Browning, Z. 24–29. 163 Vgl. Bradley Smith, Interview with Paineater 2014, URL: www.nocturnalcult.com/Paineater2014i nt.html (letzter Aufruf 28.06.2022); Vgl. Forbes, Prime Evil. Interview with Mary Ciullo, in: Metalcore Fanzine (Besuch Robert Kampfs im Proberaum). 164 Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 182. 165 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 145.
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Aufbruch verbunden, durch den das Label wachsen konnte. Solche Aufteilungen eines temporär neuartigen »Kuchens« fanden beispielsweise in der NWOBHM (Neat, Guardian, Music for Nations usw.), im Thrash Metal (Metal Blade, Combat, Megaforce, SPV Steamhammer, Noise, Century Media) und dann im Death Metal statt (Earache, Peaceville, Relapse, Roadrunner).166 Bei solchen Verträgen zwischen Pionieren auf sowohl musikalischer wie geschäftlicher Seite handelte sich meistens um längerfristige Zusammenarbeiten, die auf mehrere Alben und damit Jahre ausgelegt waren und bei denen Bands und Indies gewissermaßen zusammen wuchsen und professioneller wurden.167 Zu diesen ersten Bands zu gehören, die musikalisches Neuland beschritten hatten, war ein gewaltiger kommerzieller Vorteil, denn permanent existierte auch stets eine wesentlich größere Zahl an Bands, die keinen Plattenvertrag erreichen konnten, weil sie sich mit einem bereits etablierten Stil darum bemühten.168 Während die Musiker aus dem frühen Freundeskreis der Label-Gründer daher oft automatisch qualifiziert waren, drohten Einsendungen von Demo-Tapes in der massiven Kassetten-Flut an die Indies unterzugehen. Marco Barbieri war bei Metal Blade für einige Zeit mit der Auswahl herausstechender Tapes betraut (ein Vollzeitjob) und reichte an die Verantwortlichen nur weiter, was auf Anhieb überzeugte.169 Für die Bands war diese Situation weniger aussichtsreich – das Label hatte keinerlei Druck und schöpfte das Potential des Undergrounds einfach ab. Die Indie Labels erlebten in den 1980er Jahren für die Metal-Musik einen enormen Bedeutungszuwachs und eine Veränderung ihrer internen Funktionslogik. Um 1980 wurden erste spezialisierte Indies wie Neat, Guardian oder Heavy Metal Records lediglich als Sprungbretter angesehen – entweder als Übergänge zu den Major Labels oder kurze Aufmerksamkeit mit anschließendem Karriereende. Verträge waren in diesem Bereich kurzfristiger Natur – teilweise war es lediglich ein »Arrangement«, was mit Blick auf die Arbeitsweise von Neat Records deutlich wird. Denn einen richtigen Vertrag unterschrieb man bei Neat nicht. Für Gründer David Wood handelte es sich lediglich um »cooperative arrangements«170 , was hieß, dass die Band selbst für die Produktion zahlte, um eine Chance und Aufmerksamkeit zu bekommen. Das Label übernahm Promotion und Distribution, während die Bands einen Freundschaftspreis im hauseigenen Impulse Studio erhielten. Eine NWOBHM-Band wie Bitches Sin bezahlte aus eigener Tasche tagsüber 19 Pfund pro Stunde im Studio (nach 18 Uhr 25 Prozent weniger) und 400 Pfund für die Pressung von 1.000 Singles. Wie die Musiker diese Kopien verwendeten, war
166 Vgl. Wiederhorn/Turman, Louder than hell, S. 202f., 229; Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 158–212. 167 Als Beispiel die gemeinsame Professionalisierung der Band Incantation und des Labels Relapse in den Augen von John McEntee: »Well to be honest over the years we have had our ups and downs with Relapse Records. But I feel most of the problems was because when we first signed with them they were a new label and we were a new band so when business got involved we were both very inexperienced so you can imagine how messy that can get. But now both Relapse and us are way more experienced and now work really well together.« Gillham, Incantation, in: Voices From The Darkside Online. 168 An diesem Punkt sei auf Kapitel 4 und die Vertragsanbahnung aus dem DIY-Netzwerk hingewiesen. 169 Vgl. Forbes, Marco Barbieri, in: Metalcore Fanzine. 170 Tucker, Neat & Tidy, S. 202.
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ihre Sache, doch mussten sie alle verkauft werden, um die Kosten zu decken. Üblich war ein Verkauf für 65 Pence pro Stück an die Shops und Händler, wovon das Label die Löhne, Promotion und die Tantiemen finanzierte. Bis zur Marke von 2.000 verkauften Kopien verdienten weder die Musiker noch das Label irgendwelches Geld. Bei Bitches Sin standen der Band letztlich 1,25 Pence pro Kassette zu – bei fünf Musikern und derartig geringen Verkaufszahlen konnte sich das Label daher die Überweisung sparen.171 Der A&R des Labels (Russ Conway), der hunderte Demo-Tapes aus dem gesamten Vereinigten Königreich zugesendet bekam und weder die Zeit noch das Geld hatte, auf alle einzugehen, empfahl daher nur zur Veröffentlichung, wovon man sich sicher war, dass es sich verkaufen würde. Wichtige »Verkaufsschlager« (d.h. etwa 10.000 Exemplare) landete man mit den Bands Venom und Raven.172 Bei einem Indie wie Neat waren bereits die Margen für das Label extrem niedrig – für die Musiker blieb effektiv nichts übrig. Das Problem war darüber hinaus, dass Akteure wie Wood aus ihrem reinen Verkaufsinteresse ohne jegliche musikalische Leidenschaft gar keinen Hehl machten. Alle dort produzierenden Musiker betonten diese Haltung nachträglich als verwerflich,173 doch was für das subkulturelle Narrativ der Musiker und Fans hier verwerflich erscheint, war letztlich bloß eine (langfristig freilich nicht erfolgreiche) Geschäftsidee eines kleinen Label-Gründers gewesen, der sich eigentlich auf lokale Pop-Produktionen konzentriert hatte und auf die Aufmerksamkeit des Heavy Rocks aufgesprungen war. Neat und Wood haben die NWOBHM im Norden also nicht verraten174 – sie haben vielen Bands einen selbstfinanzierten Start ermöglicht und werden nachträglich im Spannungsfeld zwischen Rock-Authentizität und Kommerzialisierungsdruck negativ bewertet. Sicherlich hätten die Verträge stärker zu Gunsten der Bands ausfallen können, doch verdeckt der Groll auf Neat auch, dass das Musikgeschäft um 1980 bei anderen Bands ebenso erbarmungslos und finanziell unlukrativ ablief.175 Hinzu kommt, dass viele der bereits hier offensichtlichen Probleme im Band-Label-Kontakt einfach weiterwirkten, aber besonders in der Frühphase von Verträgen davon verschleiert wurden, dass es sich bei den Indies seit den frühen 1980er Jahren nun um Gründungen von Fans handelte. Die subkulturelle Schnittmenge wurde größer, die Ambivalenzen des Geschäfts blieben – was auch dadurch zementiert wurde, dass die Indies für den extremer werdenden Metal und durch die Flexibilisierung bei den Majors nun für die meisten Bands der Endpunkt ihrer Hoffnungen waren und keine Zwischenlösung mehr darstellten. Entsprechend wurden die Vertragslaufzeiten länger: Bei Peaceville meist zwei Alben, bei Earache meist fünf und bei Metal Blade sogar meist sieben Alben.176 171 172 173
174 175 176
Vgl. ebd., S. 202, 204. Vgl. ebd., S. 201f. Vgl. Interview Fist, 33.25-33.30 Min.; Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 13.01-14.51 Min.; Vgl. Tucker, Neat & Tidy (dort die Einschätzungen der Musiker von Raven und Venom); Vgl. Interview John Gallagher, Z. 31–37. So Ian Toomey (Bitches Sin), in: Tucker, Neat & Tidy, S. 204. So wurden beispielsweise Saxon nach dem mäßigen Verkauf des ersten Albums umgehend von Trident gekündigt. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 50. Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 109; Vgl. Chris Forbes, Bitter End. Interview with Chris Fox, Matt Fox and Russ Stefanovich, in: Metalcore Fanzine (7-Alben-Deal mit Metal Blade).
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Aus Sicht der Bands war die weitere Entwicklung der Indie Labels daher großen Veränderungen unterworfen, die man am besten als langsam abebbende Euphorie bezeichnen könnte. Besonders lässt sich dies anhand der Verträge nachweisen. Bereits Bogdan Kopec nannte seine frühen Management-und Label-Erfahrungen vor allem hinsichtlich des Vertragsrechts die »längste Lehre, die ich je machen könnte« und eine Zeit, in der er »immer nur durch Schaden gelernt« habe.177 So hatte er beispielsweise zweiseitige Verträge mit Bands aufgesetzt, die sich später rechtlich als wertlos erwiesen, während Plattenverträge bei einem Major Label wie BMG bereits 45 Seiten umfassten und auch Konzertverträge mehr als zehn Seiten lang waren. Seine Erfahrungen halfen ihm in den 1980er Jahren, »jeden Bereich abzudecken«, um auf der sicheren Seite zu sein.178 Seine euphorischen Gründer-Kollegen aus den Extreme Metal-Szenen erlebten einige Jahre später einen ähnlichen Lernprozess: Bei Peaceville und Earache war es beispielsweise zu Beginn üblich, vertraglich einen 50–50-Split festzuhalten, d.h., dass sich die Band und das Label sowohl die Kosten wie auch die Gewinne teilten. Für Barry Thomson, Gründungsmitglied und Gitarrist bei Bolt Thrower war dies »a very punk way of deal if you like«179 und auch die Label-Gründer mochten diese Verträge, da sie einfach abzurechnen waren und ihrem subkulturellen Selbstverständnis entsprachen. Dabei blieb es jedoch nicht und es ist bezeichnend, dass sich beide Seiten anscheinend gegenseitig die Verantwortung für den Wandel zuschoben. Für Halmshaw wurden längere Verträge, die das finanzielle Gefüge änderten, laut eigener Aussage nötig, weil die Bands und ihre Manager auf höheren Vorauszahlungen beharrten, die sich das Label dann nachträglich zurückholen musste180 – eine bei den Majors übliche Vorgehensweise, die für Thomson bei Earache Records jedoch angewandt wurde, weil das Label darauf bestand. Man hätte den Bands schließlich dieselben Verträge vorgesetzt wie die Majors, nur ohne über die Ressourcen zu verfügen und der Musiker resignierte »An independent label is purely a name.«181 Die Diskrepanz der Aussagen verweist vor allem auf die große Bedeutung einer vertraglichen Professionalisierung für die zusehends empfundenen Widersprüche zwischen subkulturellen und geschäftlichen Selbstverortungen und Praktiken. Vertragsrechtliche Erwägungen und die Hinzuziehung von Anwälten auf beiden Seiten182 mochten so gar nicht zum »punk way of deal« passen und hierarchisierten und formalisierten die Beziehung zwischen Bands und Indies auch auf ganz symbolische Art und Weise. Spätestens am Ende der 1980er Jahre hatten sich die wichtigen Label dann derartig abgesichert, dass eine Vertragsanbahnung in der Erinnerung von Marco Barbieri bei Metal Blade Records folgendermaßen ablief: Den Beginn markierte noch immer eine Aufmerksamkeit im Underground-Netzwerk und entweder sendeten die Bands hervorragende Demo-Tapes an das Label oder »more likely by the time a band is ready
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Interview Bogdan Kopec, 01.30 Min. Ebd., 03.01 Min. Frank Stöver, Voices From The Darkside 6, in: ders. (Hg.), Voices, S. 17. Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 150. Stöver, Voices From The Darkside 6, S. 17. Zur sehr frühen legalen Absicherung bei Metal Blade vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 25f. Vgl. auch Kapitel 4, Beispiele Prime Evil und Suffocation.
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to be signed there would be a lot of underground zine press or a strong regional buzz due to their live performances and local promotion.«183 Im Idealfall drängte sich eine Band dem Label also durch eine regionale Präsenz in der Live-Musik-Szene regelrecht auf. Auch holten Mitarbeiter des Labels bei den eigenen Gruppen, bei befreundeten Promotern oder Mitarbeitern von Plattenläden Erkundigungen über den potentiellen Vertragspartner ein – für die Indies der einzig-gangbare Weg in der prä-digitalen Szene-Kommunikation. Doch spätestens dann schlug die Stunde der Anwälte, denn bereits am Beginn der postalischen Beziehungen stand ein einseitiges Memo des Labels, in dem die grundlegenden Bestandteile des Deals dargelegt wurden. Stimmte die Band dem zu, folgte ein formeller Vertrag durch den Label-Anwalt und man trat in die Verhandlungen ein, bei denen sich viele Bands ebenfalls durch Anwälte vertreten ließen.184 Auch die Bands gingen also formalisierter vor und sicherten sich ab. Mit der von Hesmondhalgh beschworenen Demokratisierung der Musikindustrie durch Indie Labels hatte dies nichts mehr zu tun185 und die wichtigen Metal-Indies hatten die informellen Handschlaggeschäfte ihrer Punk-Vorgänger wie Dischord Records weit hinter sich gelassen.186 In der vertraglichen Beziehung von Label und Künstler, die im antikommerziellen Idealfall eine Unabhängigkeit auf beiden Seiten vorsah, waren die Musiker (wie bei den Majors auch) zu Angestellten der Label geworden. Die eingangs festgestellte Imbalance zwischen den Verhandlungsoptionen von Bands und Indies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich natürlich auch die Labels in einem Wettbewerbszustand untereinander befanden und erfolgversprechende Bands gerne an sich binden wollten bevor es die Konkurrenz tat. Nur kam der allergrößte Teil aller Metal-Bands niemals bis zu dem Punkt, an dem mehrere Label ihre Angebote unterbreiten konnten. Für jene Gruppen, die dennoch die Wahl hatten, beruhten die letztlich getroffenen Entscheidungen auf sehr verschiedenen Ursachen. Die erste und wichtigste waren dabei die zahlreichen Versprechungen, die seitens der A&R-Agenten mündlich gemacht wurden. Dazu gehörten neben dem Geld auch Tour-Garantien und eine aussichtsreiche Promotion-Kampagne.187 Da empirisch nicht feststellbar ist, inwieweit diese Aussagen auch vertraglich festgehalten wurden, sind nachträgliche Schuldzuweisungen kaum bewertbar. Die Beschwerden der Musiker über nicht eingehaltene Zusagen gehören jedenfalls zu den häufigsten Interviewthemen.188 Eine zweite Grundlage konnten Plattenverträge neben ihrem Inhalt auch in der sozialen Beziehung der Vertragsparteien haben. Die ersten Bands bei Indies wie Earache,
183 Forbes, Marco Barbieri, in: Metalcore Fanzine. 184 Vgl. ebd. 185 Vgl. David Hesmondhalgh, Post-punk’s attempt to democratize the music industry. The success and failure of Rough Trade, in: Popular Music 16 (1998) 3, S. 255–274. 186 Vgl. Calmbach, More than music, S. 119. 187 Vgl. Forbes, Wargasm. Interview with Rich Spillberg, in: Metalcore Fanzine. 188 Vgl. Interview Garry Pepperd, Spur 6: »I’ve said this before, lots of things were promised from Roadrunner. A tour in Canada with Nazareth, these, things like this, they made the plan that we put out a 12" single at the time, they got the old Rolling Stones producer Jimmy Miller to remix a couple of songs for it. They did all this stuff, and nothing ever happened. You know, Roadrunner promised a lot and delivered nothing. Unfortunately, it was a real shame.«; Vgl. auch Forbes, Whiplash. Interview with Tony Portaro, in: Metalcore Fanzine.
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Peaceville oder Metal Blade stammten teilweise aus den lokalen Freundeskreisen der Gründer. Für eine Band wie Anthrax aus New York war ein Vertrag bei einem Label wie Megaforce, das in der Region ansässig war, dort Konzerte organisierte und die Promotionkontakte hatte, ebenfalls eine buchstäblich naheliegende Wahl. Und für den Deal zwischen Nuclear Assault und Combat Records waren – so Dan Lilker – ebenfalls vor allem die räumliche Nähe und persönliche Vertrauensbasis entscheidend (beide stammten aus Queens).189 An anderen Stellen verwiesen auch englische Bands auf die sowohl räumlich wie kommunikativ und kulturell problematische Konstellation, bei einem amerikanischen Label unter Vertrag zu stehen.190 Und drittens lockten Indie Label mit ihrem Neuigkeitswert: Dort, wo sich die Unternehmen neu gegründet hatten, wo ehemalige Mitarbeiter eigene Label aufmachten oder wo sich größere Label neu auf dem Markt für Metal-Musik positionieren wollten, bestand für die Musiker die Möglichkeit, ausgetretene Pfade zu verlassen. Label wie Mechanic zogen eine Band wie Vio-Lence an, weil hier die Underground-Attitüde in der Promotion auf einen Major-Vertrieb traf,191 eine Band wie Atheist zog es zum englischen Active Records, weil dort einflussreiche Akteure der englischen Presselandschaft operierten192 und Praying Mantis wagten den Vertrag bei Arista, einer ursprünglich anders ausgerichteten, aber dennoch sehr erfolgreichen Marke.193 In keinem der Fälle war das gemeinsame Engagement von Erfolg gekrönt. Auch wenn solche Verträge heute leider nicht als Quellen vorliegen, deuten die Aussagen vollkommen einheitlich eine Perspektive an: es handelte sich aus Sicht subkultureller und authentischer Narrative um »slave contracts«194 , mit denen die Rechte an den Songs auf die Label übergingen und kaum etwas zu verdienen war. Die Indies betrieben eine Risikominimierung, um mit etwas Planungssicherheit wirtschaften zu können und schöpften die geringen Gewinnspannen an den durchschnittlichen Veröffentlichungen ab. Denn mit der »internal cross-subsidy«195 stand ihnen eine wichtige Praktik des oligopolistischen Marktes der Major Labels nicht zur Verfügung. In einem Geschäft, in dem die Herstellungskosten eines Produkts relativ hoch, die Vervielfältigung aber sehr günstig war, stieg der Profit mit erfolgreichen Platten exponentiell an und die Hits machten die Flops mehr als wett. Für die Indies, für die fünfstellige Verkaufszahlen bereits einen Erfolg bedeuteten und die im teuren Vertrieb auch keine eigene Infrastruktur aufwiesen, ging damit ein ungleich höheres Risiko einher, dessen vertragliche Folgen Musiker
189 Lilker: »Combat were part of Important Records, which was a record distributor located in Queens, actually. It made it a lot easier to talk to label reps because we’d see them at shows on a regular basis! We interacted with Combat because it was easiest, really. We became friends with people like Steve Sinclair and others from the label just from seeing them at shows. By the time we got signed, we knew them on a first-name basis and we’d have beers with them all the time.« Hofer, Perpetual Conversions, S. 45. 190 Vgl. Interview Tino Troy, 15.50-18.12 Min. 191 Vgl. Kitts, Chaos in a bottle. Interview with Phil Demmel. 192 Vgl. Interview Kelly Shaefer, 20.43-22.07 Min. 193 Vgl. Interview Tino Troy, 15.50-16.20 Min. 194 So die schwedischen Musiker, in: Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 164. 195 Frith, Commodifying Music, S. 158.
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wie Bob Petrosino als ungerecht empfanden: »we were taking all of the risk and the labels were getting all of the rewards.«196 Musiker durchliefen dabei aber auch einen anhaltenden Lern-und kommerziellen Bewusstwerdungsprozess zwischen musikalischer Selbstverortung und kommerziellen Zwängen – eine »sobering experience«197 –, die sich um einzelne häufig genannte Probleme drehte und den euphorischen Jungmusiker vom nebenbei arbeitenden Profi trennte. Solche Erfahrungen umfassten das Heimkommen nach der Tour ohne finanziellen Gewinn,198 das Nichteinhalten mündlicher Versprechungen, die Ernüchterung um die Arbeitsweise und finanziellen Grenzen kleiner Indie Labels,199 den kompletten Verlust der Songrechte,200 die intransparente Vorgehensweise zwischen den miteinander verflochtenen Musikunternehmen201 und was am schlimmsten war: Versuche musikalischer oder inhaltlicher Einflussnahmen, die sowohl bei den Indies als auch bei den Majors stattfanden. Eher harmlosen aber ärgerlichen Maßnahmen wie zum Beispiel einer Coveränderung202 standen dabei Versuche gegenüber, Druck in Richtung eines weicheren Sounds auszuüben oder den Nachfolger eines erfolgreichen VorgängerAlbums noch einmal in genau derselben Weise anzuvisieren.203 Nach den Erfahrungen von Bands wie Diamond Head oder Tygers of Pan Tang bei MCA oder Holy Moses bei WEA204
196 Forbes, Oblivion, in: Metalcore Fanzine. 197 Tony Portaro, in: Jon Kristiansen, Slayer 20 (2010), in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 674: »I think any newly signed band has totally unrealistic dreams! These labels promise bands everything and when you are young you believe it all! ROADRUNNER promised SO much and didn’t deliver on any of it. It was a totally sobering experience for all of us. We never received a penny in royalties from those assholes and Power and Pain sold extremely well. I have spoken with so many bands that on ROADRUNNER who have had the same experience.« 198 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 134 (Autopsy); Vgl. Interview Mike Browning, Z. 25–29: »So they signed us with a very standard record contract that gave them the rights to our songs, as they did with several other bands back then and they gave us a lot of money for tour support for two tours, so by the time we paid back the tour support and recording costs, we were left with nothing.« 199 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 119 (Paradise Lost). 200 Vgl. Interview Lee Harrison, Z. 19–36; Vgl. Interview Mike Browning, Z. 25f. 201 So etwa bei Nuclear Assault, wo sich zwei Label zwei Alben der Band aufteilten und daraus immense Probleme für die Band entstanden. Vgl. Hofer, Perpetual Conversions, S. 59. 202 Vgl. Forbes, Revenant. Interview with Henry Veggian, in: Metalcore Fanzine (hier bestimmte das Label das Cover ohne Rücksprache mit der Band); Vgl. Andreyuk, Tape Dealer, S. 43 (Roadrunner zwang die Band Sadus, ihr Logo für den europäischen Markt zu ändern, weil das »S« eine Sig-Rune symbolisierte). 203 Vgl. Popoff, This Means War, S. 40 (Druck von Bronze Records auf Angel Witch – »softening«); Vgl. Interview Thomas Such, 17.55-18.26 Min. »als wir damals 87 die »Persecution Mania« die so super erfolgreich war dann, da hat die Plattenfirma sich ein bisschen eingemischt, die wollten einfach en Nachfolger haben, ne. Und die wollten natürlich auch en Nachfolger zu Agent Orange haben, weil die gesagt haben, die Agent Orange ist so gut gelaufen, ihr wart inne Charts, ihr müsst unbedingt wieder so was machen.« 204 Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 06.08-06.44 Min. (Druck durch MCA für ein zweites Album innerhalb eines Jahres); Vgl. Interview Brian Tatler, 11.47-13.47 Min. (Druck durch MCA für eine Hitsingle mit musikalischen Folgen für die Band); Vgl. Interview Sabina Classen, 16.00-18.58 Min. (Druck der WEA für eine Hitsingle und eine Veränderung des Band-Konzepts nach Abgang des alten A&R Lothar Meid).
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erwartete man solche Praktiken eigentlich von den Majors, von den vermeintlich unabhängigen Indies dagegen nicht – was im Laufe der Dekade bis hin zu Perspektiven der Musiker reichte, die jedes Label ablehnten, weil sie ausschließlich schlechte Erfahrungen gemacht hatten. So äußerte Jeff Beccera generell »as with all minor labels they are rip offs«205 und Sharon Bascovsky meinte ernüchtert: I was extremely skeptical of labels after hearing the horror stories from other bands, it just seemed like a hassle. I’m not saying they were horror stories about Relapse, I’m talking with labels in general. Lots of my friends were screwed over in the early days.206 Auf Einschätzungen, die in diesem Prozess, der freilich Zwänge auf beiden Vertragsseiten besaß, die Verantwortung auf beiden Seiten verorteten, trifft man nur sehr selten.207 Viel eher stehen den Aussagen von Label-Mitarbeitern oder Managern, die eher den ahnungslosen und lediglich musikfokussierten Künstler betonen,208 die Horrorgeschichten einiger Musiker gegenüber, die einseitig auf die Risiken und Unwägbarkeiten des Musikgeschäfts abheben. Letztere wirken umso dramatischer, da sie vor dem Hintergrund einer enttäuschten Erwartung erlebt wurden. Man empfand Machtlosigkeit gegenüber den kommerziellen Interessen intransparenter Unternehmenskoalitionen und verlor die Kontrolle über das einzige, das letztlich zählte, nämlich die eigene Musik. Ein besonders drastischer Fall kann diesen Kontrollverlust verdeutlichen: Zwei ehemalige Mitglieder der Londoner NWOBHM-Band Angel Witch gründeten 1981 die Band Tytan und standen bei dem Label Kamaflage unter Vertrag, einem Teil des großen Musikverlagshauses Dick James Music. Nach der Veröffentlichung des ersten Albums produzierte die Band den Nachfolger, hatte aufgrund einer früher Mix-Version die Zusage von CBS für eine US-Veröffentlichung, und stand bereits in den Startlöchern für eine US-Tournee, als das Verlagshaus Insolvenz anmeldete, die Tour absagte und das Album nicht veröffentlichte. Die Band löste sich daraufhin 1983 auf. Das Album verschwand und die Musiker wussten nicht, wohin die Bänder gegangen waren – bis Majestic Records das Album »Rough Justice« 1985 als Lizenz veröffentlichte. Die Band war weder über die Veröffentlichung informiert noch wusste sie, von wem Majestic das Album lizensiert hatte. Über den Verbleib der Songrechte von Dick James Music bestand keine Klarheit und das Album hat-
205 Frank Stöver, Possessed. Interview with Jeff Beccera, in: Voices From The Darkside Online, URL: h ttps://www.voicesfromthedarkside.de/interview/possessed-2/ (letzter Aufruf 28.06.2022). 206 Forbes, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky, in: Metalcore Fanzine. 207 Eine solch seltene Einschätzung bei Arnd Klink zum Vertrag seiner Band Darkness mit GAMA, in: Interview Lackaw/Klink, Z. 181–190: »Mit GAMA hatten wir von vornherein durchgehend Ärger, was wohl auch daran lag, dass wir sehr kompromisslose und bisweilen zornige Typen waren. GAMA waren ja als Abzocker verschrien und wir waren oft sehr sauer, dass bspw. Sodom oder Kreator bessere Vertriebe und geilere Touren als wir hatten. Wir hatten die guten Beispiele, wie es auch laufen kann, ja vor der Nase und mit Kreator sogar im Proberaum. Aus heutiger Sicht muss ich offen gestehen, dass uns mehr Kooperation weiter gebracht hätte, zumal sich zu dem Zeitpunkt, als wir bei GAMA unterschrieben haben, kein anderes adäquates Label für uns interessiert hat.« 208 Vgl. Interview Bogdan Kopec, passim.
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te sich ohne die Musiker komplett kommerziell verselbständigt – bis zu einem Moment, den der Band-Gründer Kevin Riddles folgendermaßen erinnert: And then, a sequence after that, I got a fax from a company called Bootleg Records in San Antonio in Texas saying »Hi, I run a radio station for bootleg radio and a record label called Bootleg Records and we just sold the 250.000th copy of your album. Thank you very much!« So, they sold 250.000 bootleg albums that they somehow got from CBS in America. They got this rough mix. And they sold a quarter of a million of this only saying »Thanks very much!« [laughs].209 Die Geschichte des Tytan-Albums steht daher sinnbildlich für eine besondere Gefahr, die für Metal-Bands bei kleinen Indie-Gründungen drohen konnte. Denn stärker als die Majors waren diese Labels von den Bewegungen in der Unternehmenslandschaft betroffen, wo sowohl die verschiedenen Rechte an den Songs als auch ganze Firmen schnell den Besitzer wechseln konnten und sich Bands zwischen den Stühlen wiederfanden.210 Enttäuschungspotential lauerte aber auch an anderen Orten und konnte persönlicher Natur sein: So bestanden in den »langen 1980er Jahren« sehr viele lokale KleinstLabel, die zunächst aus einer gemeinsam geteilten Underground-Mentalität zwischen Gründern und Musikern etabliert wurden, dann aber Absprachen nicht einhielten oder legale Möglichkeiten ausreizten, die dem artikulierten Selbstverständnis widersprachen. Ein typisches Beispiel war das 1990 von Steve O’Bannon in Cleveland (Ohio) gegründete Label Seraphic Decay Records211 – maßgeblich beteiligt an der Ausbreitung der beliebten 7”-EP im amerikanischen Death Metal, aber ein rotes Tuch für Bands wie Incantation, Derketa oder Mortician, weil das Label hinter dem Rücken mehr Pressungen anfertigen ließ als verabredet und auch Produkte wie Colour-EPs herausbrachte, die in der Farbe nicht mit den Bands abgesprochen waren.212 Spätere Bands wie Morpheus Descends äußerten keine Kritik an diesem Label,213 was an der Professionalisierung auf beiden Seiten liegen mag, doch für eine der ersten Bands des Labels wie Derketa und ihre Gründerin Sharon Bascovsky bildet Seraphic Decay heute den Inbegriff des »rip-off«-Labels. Ihre nachträgliche Einschätzung zeigt sehr deutlich, worauf dies zurückzuführen war: I think we were promised either 10 % or 20 % of the total pressing in product for us to sell on our own. We had paid for our recording, which by the way was $6/hour, and he was going to pay for the vinyl, advertising, and distribution side of it all. There was no »ownership« of our material or anything like that. If it did well, then he would do another pressing and we would get that same percentage. It seemed like an honest casual friend/business deal; Our efforts to »keep the underground alive.«214 209 Zum Zitat und den vorherigen Aussagen vgl. Interview Kevin Riddles, 74.10-78.08 Min. 210 Vgl. Forbes, Wargasm (die Band fand sich auf einem Rap-Label wieder); Vgl. auch Hofer, Perpetual Conversions, S. 59. 211 Vgl. Interview mit Steve O’Bannon, in: Mattila/Lahtinen, Isten 5 (1990), S. 63f. 212 Vgl. Bill Nocera, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky, in: Voices From The Darkside Online. 213 Vgl. o. A., Chronicle of the Shadowed One: An interview with Rob Yench of Morpheus Descends/ Mausoleum, in: People of the Black Circle, 2012. 214 Forbes, Derketa. Interview with Sharon Bascovsky, in: Metalcore Fanzine.
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Die vertragsrechtlich unzureichende Underground-Absprache, die nicht einmal die Frage der Songrechte klärte, schuf eine gegenseitige Unsicherheit, die – als der Affront telefonisch kommuniziert und der Kontakt abgebrochen war – dazu führte, dass O’Bannon mit der Musik machte, was er wollte und zeigte, dass der musikalische Underground nicht die erhoffte kommerzialisierungsfreie Zone war. Im Laufe des Jahrzehnts lernten viele Musiker, mit diesen Problemen umzugehen. Der wachsende Zwang zu »day jobs« und die schwindenden Rockstar-Erwartungen, gepaart mit einem persistenten Underground-Ethos und der Professionalisierung der Label, führten zu einem klareren Verständnis von Unternehmensstrukturen, Handlungsoptionen und Gewinnmargen. Bands waren sich über die Vor-und Nachteile von Verträgen und deren Potentiale immer häufiger von vornherein im Klaren, was meistens bedeutete, »kleinere Brötchen zu backen.«215 In anderen Fällen wurden Angebote nun auch schlicht abgelehnt – lieber ging man nebenbei arbeiten und blieb unabhängig, als sich den Zwängen der Verträge auszuliefern. Hellwitch lehnten ein Angebot von New Renaissance Records ab, weil sie die Songrechte nicht abgeben wollten,216 Skitzo lehnten ein großes Angebot von Noise Records ab, weil sie die Entwicklung der Band Celtic Frost auf diesem Label als Ausverkauf von Werten empfanden und Ähnliches befürchteten217 und auch für Prime Evil kam eine Übertragung der Songrechte nicht in Frage.218 Als die Band Exmortis ein Angebot des Death Metal-Marktführers Roadrunner Records aus denselben Gründen zurückwies, wurden die Musiker laut des Bandgründers Chris Wiser sogar auf eine »blacklist« gesetzt und waren fortan Geächtete. Das Label hatte der Band 2.000 Dollar für ihr Demo und einen Vertrag über mindestens vier Alben angeboten – mit Zahlung des Betrages wären die Songrechte an das Label übergegangen. Angesichts ihrer bescheideneren Zukunftsvorstellungen und der Kommerzialisierungserfahrungen ihrer Kollegen konnten sich die Musiker ein sehr exklusives Urteil über die Musik-Label leisten: Most Death Metal labels are rip-offs and it’s sad that bands sign contracts with them. I mean, shit they don’t even own their own recordings!!! But hey fans wonder why t-shirts cost $40 and tickets to shows are expensive. It’s the only way the bands make any money!219
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Vgl. Forbes, Savage Thrust. Interview with Edmundo Varuolo, in: Metalcore Fanzine (Vertrag mit mexikanischem Label trotz schlechter Distribution); Vgl. Forbes, Blacktask. Interview with Warren Appleby, in: ebd. (Wahl zwischen zwei unzureichenden Angeboten von Combat und Axe Killer); Vgl. auch die Einschätzung von Rob Yench zum Vertrag zwischen JL/Turbo und Morpheus Descends, in: Chronicles of the Shadowed One: »So again it may not have been the ›ultra‹ cool record deal that some bands landed with cooler labels, but on the up-side of the deal, JL did like 10,000 CD, 5000 cassettes at that time. That is more people than we would have ever reached. By today’s standards that is mega good.« Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 62, 64. Vgl. Forbes, Skitzo. Interview with Lance Ozanix, in: Metalcore Fanzine. Vgl. Forbes, Prime Evil. Interview with Mike Usifer, in: ebd. Zitat und vorherige Aussagen in: Frank Stöver, Exmortis. Interview with Chris Wiser, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/exmortis/ (letzter Aufruf 28.06.2022).
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Die in den Szenemedien massiv diskutierten Erfahrungen mit den Labels waren also eine langfristige Lektion in Pragmatismus. Man lernte, was möglich war und welche Hoffnungen illusorisch – bis zu dem Punkt, wo Musiker und aktive Fans dem »Geschäft« jede Möglichkeit absprachen, überhaupt Gewinne für Musiker zu generieren220 oder wo Musiker langfristig zweigleisige Erwerbswege aus Musik und day jobs entwickelten, die ein Leben mit der professionellen Praxis ermöglichten.221 Fest steht aber auch, dass VollzeitKarrieren außerhalb des Label-Business in den »langen 1980er Jahren« nicht möglich waren. Die kommunikative und finanzielle Reichweite des DIY vergrößerte sich ständig und ermöglichte selbstorganisierte Jahre mit großer Aufmerksamkeit, doch außerhalb des Undergrounds wurden Investitionen nötig, die die Bands dauerhaft an die Plattenfirmen banden. Erst durch die günstige Produktionstechnik und das Internet seit den 2000er Jahren haben sich die Parameter in dieser Hinsicht verschoben. Die Blütezeit des Undergrounds war – so Dan Lilker – an andere Kommerzialisierungsvoraussetzungen gekoppelt als die digitalisierte Welt: So, in the 80s, if you wanted to go anywhere playing music, shit man, you had to have a deal with these business people. I actually got really tired of that. So, that became shit. Of course, when you start playing music because you enjoy it, because it is in your soul, then eventually you get disgusted, because now you’re a product. You’re something that is being marketed and you have a deal with people who don’t give a shit about your music. They’re just business people. And that makes you kind of sour. But like I say, these days, if I was 18 years old, I would be able to just record music and […] be independent and on Bandcamp and all this stuff. But not then buddy. If you wanted to be a musician on a professional level, you had to have a deal with the record industry.222
7.2.3 Distribution und Lizenzen The roots of pretty much any music today is the small guy who actually bothers, not because he has a load of money, but because he loves and is passionate about the music, first and foremost. So, he’ll sign or do what he can to help the particular band or artist to get up and away. And that becomes, for the majors, a really good sort of sorting ground for what’s on the streets. Because it all starts at street level.223 Der Vertrieb der Musik bildete vor allem in den USA den entscheidenden Punkt, an dem die Majors in den 1980er Jahren in der Metal-Kultur aktiv wurden. Die Sichtung und den Aufbau potentiell erfolgreicher Bands überließen sie den Indies, die sich auf dem 220 Vgl. Forbes, Joe Pupo, in: Metalcore Fanzine: »There are a lot of labels and bands, but to make matters worse, the economy just really fucked people over. There is no money to be made, but frankly I’m ok with that. I have participated in a few projects and I don’t want to make a profit on the underground. I want bands to make enough money to keep doing what they love, but the first reality that people have to accept is by rarest of exceptions, there is no money to be made. It’s a labor of love.« 221 Vgl. Interview: Ross Dolan of Immolation, in: The Moshville Times, 2016. 222 Interview Dan Lilker, 17.45-18.44 Min. 223 Chris Tsangarides, in: Popoff, Wheels of Steel, S. 212.
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»street level« besser auskannten, doch spätestens, wenn es darum ging, die Musik dieser Bands an den Fan zu bringen, griffen die Distributionsstrukturen der internationalen Marktführer.224 In Europa wurde der Vertrieb dagegen seit der Punk-Welle eher von »unabhängigen« Distributoren dominiert, blieb aber dennoch nicht frei vom Einfluss der Majors. Gleichzeitig existierte auf beiden Seiten des Atlantiks permanent eine Underground-Praktik, in der die ideologischen Vorbehalte der Punk-Indies weiterwirkten und wo kleine regionale DIY-Distributoren den Vertrieb für befreundete Bands übernahmen225 oder wo sich Bands sogar komplett jeglichen kommerziellen Strukturen zu entziehen versuchten,226 doch ließen die realen Machtbeziehungen der Musikindustrie solch subkulturellen Totalkonstruktionen in den allermeisten Fällen keinen Platz. Denn war man an nationaler oder gar internationaler Verbreitung interessiert, ging kein Weg an den Zwängen des Distributionsgeschäfts vorbei. Dieses Geschäft war kompliziert organisiert und wies eine dynamische Struktur auf, denn neben den Major Labels und Indie Labels existierten auch Major-und Indie-Distributoren – nochmals verkompliziert dadurch, dass auch Distributoren Labels gründeten oder Labels eine eigene Distribution aufbauten. Es herrschten daher international-verflochtene Beziehungen zwischen Unternehmen und Unternehmensteilen mit wechselnden Verträgen, die in ihren Akteuren, Absprachen und Abhängigkeiten durchaus quer zur Indie-Major-Dichotomie lagen. Einige deutsche Beispiele können dies verdeutlichen: So erfolgte die Gründung von Wishbone Records 1982 in Bochum durch Ferdinand Köther, nachdem dieser zunächst im Import des deutschen Großhändlers Rimpo und danach im Import Service des Major Labels Polygram gearbeitet und dort die attraktiven Indie-Bands importiert bzw. verpflichtet hatte. Er baute auf diesen Erfahrungen Wishbone Records zuerst als Distributoren auf und spezialisierte sich dabei auf Punk-und rasch danach auf Heavy Metal-Bands. Er übernahm den deutschen Vertrieb unter anderem für die Platten von Neat und Ebony aus Großbritannien sowie von Shrapnel Records aus den USA. Durch den Erfolg vieler dieser Alben erhielt sein Unternehmen zahlreiche Demo-Tapes unbekannter Bands – ein wichtiges Zeichen dafür, dass Label und Distributor (auch aufgrund des Namens) hier kaum getrennt wurden – und gründete das gleichnamige Plattenlabel, dem jedoch nicht der Erfolg der Distribution beschert war.227 Wishbone war also das Projekt eines Major-Profis zurück in die vermeintlichen IndieStrukturen aus Plattenfirma und Vertrieb. Bei dem größten und wichtigsten deutschen Distributor gestaltete es sich dagegen genau andersherum: Nachdem Manfred Schütz und Wolfgang Küster zwischen 1974 und 1980 ein kleines Netz von Schallplattenläden in Niedersachsen aufgebaut hatten, stieg man 1980 mit der Gründung GeeBeeDee in das Label-Geschäft für Punk-und NDW-Bands 224 Mit US-Fokus vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 187; Vgl. Ogg, Independence Days, S. I; Vgl. Nathaus, Vom polarisierten zum pluralisierten Publikum, S. 265f. 225 So beispielsweise bei der Band Necrophobic, deren erstes Demo über Wild Rags vertrieben wurde. Vgl. McClelland, Deathvomit, S. 193. 226 Vgl. die Gründung von Deathlike Silence Productions durch Aarseth mit folgendem Ziel, das auch die Ablehnung jeglicher Distributionshilfe durch andere beinhaltete: »That’s why we created Deathlike Silence, to make an alternative which would stay totally independent, and in the underground only.« Alsleben, Mayhem live in Leipzig, S. 115, 117, 127 (Aussagen im Briefverkehr). 227 Vgl. Schmenk/Schiffmann, Kumpels in Kutten 2, S. 60.
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ein. Die Mischung aus Shop, Vertrieb und Label ging 1984 in der SPV GmbH in Hannover auf (»Schallplatten, Produktion und Vertrieb«) und entwickelte sich zunächst zum beherrschenden Distributor auf dem deutschen Metal-Markt. Neben Noise, Century Media und Nuclear Blast vertrieb die Firma auch die Platten von Roadrunner und anderen Indies.228 Zusätzlich wurde SPV aber auch ein erfolgreiches Label, dessen Aufstieg vor allem mit der Band Sodom auf dem Sublabel Steamhammer/SPV verbunden war.229 Das Unternehmen wurde durch seine Marktmacht im europäischen Vertrieb und die Unabhängigkeit von fremder Distribution der eigenen Platten (im Metal-Geschäft) immer majorähnlicher und ist daher ein gutes Beispiel für die Unmöglichkeit, die Major-und IndieNarrative in der historischen Verflechtung aus Label und Vertrieb sauber zu trennen.230 Plattenfirmen und Distributionsfirmen wirkten also mindestens miteinander, teilweise unter einem Firmendach, durch verbundene Arbeitsbiografien und Erfahrungen der Akteure und waren auch ohne offizielle Major-Beteiligung im tatsächlich fließenden IndieMajor-Übergang angesiedelt. Distribution tendierte, soweit dies bisher überblickt werden kann, in Europa eher zu den unabhängigen Distributoren wie SPV, Rough Trade oder Revolver, während die Lage in den USA etwas unübersichtlicher war. Die Labels unterschiedlichster Größe, oft als Sub-Labels größerer Plattenfirmen gegründet, gingen hier wechselnde Vertriebs-Deals mit Distributionsfirmen ein, die selbst mit ganz anderen Plattenfirmen zusammenhängen konnten. Ein zentraler Akteur war hier beispielsweise Important Record Distributors (IRD), 1979 von Barry Kobrin in New York als Import-Betrieb gegründet und maßgeblich für die Ausbreitung der NWOBHM-Bands in den USA verantwortlich – zum Beispiel als Import-Partner für Megaforce Records.231 Auch Kobrin beließ es aber nicht bei der Distribution: 1985 gründete er Relativity Records, dessen Sublabels Combat und In-Effect viele wichtige Metal-Bands in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre unter Vertrag nahmen (Death, Megadeth, Possessed, Dark Angel usw.). Gleichzeitig war aber auch Relativity ein Distributionsunternehmen, während das »Mutterunternehmen« IRD auch als Vertrieb für andere Metal-Labels wie Relapse Records tätig war.232 Trotz der vertriebenen Menge und der strategisch wichtigen Bedeutung im US-Metal galt der Wirkungsbereich von Important, Combat, Relativity und Relapse als »independent.«233 Major Labels kamen mit ihrer eigenen Distribution dagegen bei großen US-Indie Labels und besonders bei europäischen Plattenfirmen ins Spiel, die auf dem US-Markt einsteigen wollten. So unterschrieb Metal Blade 1989 einen Vertriebsdeal mit
228 Vgl. Krumm, Century Media, S. 21; Zu GeeBeeDee vgl. URL: www.highdive.de/info/gbd/index.htm (letzter Aufruf 28.06.2022); 229 Vgl. Schmenk/Krumm, Kumpels in Kutten, S. 68. 230 Ein weiteres Beispiel dafür wäre auch die Rough Trade Distribution GmbH, 1982 als deutscher Ableger des britischen Indie Labels ausschließlich für die Distribution gegründet, 1991 an das große englische Indie Pinnacle verkauft und ab 1996 als Teil von Zomba und damit eines Major Labels (BMG). 231 Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 30. 232 Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 189–192. 233 Dan Lilker ordnete Relativity folgendermaßen ein: »Relativity Records—and Relativity is who you’re talking about when you talk about the people making the big decisions.« Hofer, Perpetual Conversions, S. 59.
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Warner, Mechanic und Roadrunner unterschrieben bei MCA, während es die englischen Indies Earache zu Columbia und Peaceville zu Caroline zog, nachdem sie zuvor den IndieVertrieb von Revolver genutzt hatten.234 Caroline war sowohl ein Distributor als auch ein Sub-Label und gehörte zum sehr großen Indie Virgin Records, das 1992 für eine Milliarde Dollar von EMI übernommen wurde.235 Für die Musiker und Bands bei Indie Labels waren solche Verträge intransparente Vorgänge, die zu einer Vergrößerung von Ansprechpartnern und multiplen Abhängigkeiten führten. Denn aufgrund der Ausdifferenzierung einzelner unternehmerischer Felder wurde es durchaus üblich, dass Bands ursprünglich bei Indie Labels unter Vertrag standen, aber eine Major-Distribution aufwiesen, auf dem US-Markt an einen Major lizensiert waren und darüber hinaus noch von einem Management vertreten wurden, das von ihrem Indie Label mitverantwortet war.236 Die kulturkritisch gezogene Grenze zwischen einer Unabhängigkeit und dem großen Geld war spätestens hier vollkommen illusorisch und ein Indie-Gründer wie Jon Zazula äußerte entsprechend, dass er all seinen Bands einen Major-Vertrag wünschte, aber stets hoffte, dass sie für das Management bei Megaforce bleiben würden.237 Doch auch für die Indies selbst verkomplizierten sich die Beziehungen erheblich: Nachdem Zazula nicht in der Lage gewesen war, das erste Metallica-Album zu vertreiben und sich dafür Major-Unterstützung suchen musste, errichtete er für die Alben von Megaforce ein regelrechtes »Trio of Steel.« Dieses bestand aus drei unterschiedlichen Distributoren für ein Indie Label: Atlantic Records für die erfolgreichen Bands wie Anthrax, Caroline für die aufstrebenden Titel und Island Records für »one off’s and special situations.«238 Bands, das wird hier deutlich, waren in ein verwirrendes Geflecht unterschiedlicher Geschäftsfelder und Absprachen eingebunden, indem die subkulturell gezogene Grenze zu den Majors keinerlei Bedeutung mehr hatte – denn je nachdem, mit welchem kommerziellen Erfolg ihr »Indie« rechnete, wurden sie verschiedenen Majors zur Distribution empfohlen. Dennoch waren die Musiker auf die Distributionsverträge ihrer Label angewiesen, denn während sich der Vertrieb in Europa noch weitgehend unabhängig gestalten ließ, gehörte zu einem Durchbruch auf dem zentralen US-Markt fast immer ein Geschäft mit einem Major Label (oder im etwas weniger verkaufsstarken Segment des Death Metals mit Relativity/Important). Verfügten die Alben einer Band nicht über eine solche US-Distribution oder verloren diese gar, war der Durchbruch in Amerika ausgeschlossen.239 Unabhängig davon, ob es sich um eine Major-oder Indie-Distribution handelte, rangierten die Musiker also in der Hierarchie der Musikindustrie ganz unten. 234 Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 167; Vgl. Weinstein, Heavy Metal, S. 187. 235 Eigen-Chronik von Virgin: URL: https://web.archive.org/web/20060108031457/www.virgin.com/a boutvirgin/allaboutvirgin/thewholestory/default.asp?era=199 (letzter Aufruf 28.06.2022). 236 Megaforce, Metal Blade und Earache waren solche Indies, die auch Management-Aufgaben wahrnahmen und dadurch trotz Major-Lizenzen ihrer Bands involviert blieben. 237 Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 11. 238 Zazula, Heavy Tales, S. 73. 239 Vgl. Forbes, Solitude. Interview with Keith Saulsbury, in: Metalcore Fanzine (Das Indie der Band, Red Light Records, verlor die Distribution durch Relativity und das Album konnte nicht erscheinen); Vgl. Popff, This Means War, S. 183 (Brian Tatler über die Notwendigkeit von US-Präsenz und -vertrieb); Vgl. ebd., S. 150 (Byford darüber, den Erfolg in den USA konsolidieren zu müssen).
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Sie waren – so Matt Stahl überzeugend – »unfree masters«240 , die dort subkulturelle Authentizität pflegten, wo ihnen realpolitisch auch gar keine anderen Möglichkeiten individuellen Einflusses übrigblieben. Die Rechte an ihren Songs besaßen die Metal-Musiker in den 1980er Jahren fast nie selbst, weshalb wir bei Distributionsverträgen über Deals zwischen Plattenfirmen und Vertriebsfirmen sprechen. Diese regelten vor allem eine Dauer, die genauen Titel, das Verbreitungsgebiet und führten zu einer Auslieferung der Produkte an die Shops des Distributors. Die Abhängigkeit der Indie Labels war in diesem Bereich zunächst sehr groß, sodass sich zwischen Plattenfirma und Distribution einseitige Beziehungen ergeben konnten – besonders in der Frühphase des DIY-Label-Geschäfts, in der vertragliches Know-how erst gewonnen werden musste. Eines der wenigen bekannten Beispiele dafür betrifft die Verträge zwischen dem Indie Label Peaceville und dem Distributor Revolver. Oberflächlich pflegte man hier einen persönlichen Kontakt und Revolver lud etwa die Label-Gründer von Peaceville und Earache ein, sich die deutschen und niederländischen Abteilungen und deren Arbeitsweise anzuschauen – für Peaceville-Chef Halmshaw eine übliche PR-Tour aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit.241 Nach einem Abrechnungsproblem, bei dem er nachträglich Einblick in die Bücher bei Revolver erwirkte und eine große Summe zurückerhielt, schaute er sich jedoch nach einer anderen Vertriebsfirma um. Er fuhr ins deutsche Herne und traf sich mit Heino Drecker, der dort den Distributor Rough Trade leitete und versuchte, einen neuen Vertrag einzufädeln. Halmshaw ging sogar so weit, mit Peaceville Records nach Deutschland umzuziehen, da er 80 Prozent seiner Produkte ohnehin dort absetzte – eine Offerte, für die Rough Trade, das zuvor vom größten britischen Indie, Pinnacle aus Kent, übernommen worden war, jedoch nicht zuständig war.242 Eine Beschleunigung erfuhr seine Suche noch einmal, nachdem er sich mit Mark Chung, dem ehemaligen Bassisten der Einstürzenden Neubauten (1982–1994) und Musikverleger sowie -berater, getroffen hatte. Dieser rechnete ihm vor, dass 63 Prozent jeder verkauften Peaceville-CD tatsächlich an den Distributor Revolver flossen und Halmshaw mit jeder Kopie Verluste einfuhr.243 Er beendete daraufhin die Zusammenarbeit und ging ein 50/50 Joint Venture mit Music for Nations ein, unter deren Kontrolle er der Chef bei Peaceville bleiben konnte und wo er nun auch die erwünschte Distribution erhielt – denn Music for Nations gehörte zur Hälfte Pinnacle, denen auch Rough Trade gehörte. Sein Schritt aus der vollen »Unabhängigkeit« hatte überdies auch finanzielle Konsequenzen, die er trotz seiner Punk-Wurzeln gerne annahm. Sein Einkommen stieg von 80 auf 1.000 Pfund pro Woche und er empfand: »I couldn’t sign fast enough. I’m not ashamed to say so.«244 Subkulturelle Euphorie war hier anscheinend jahrelang an den kommerziellen Zwängen des Musikgeschäfts abgeschliffen worden. Sein Beispiel ist freilich extrem und wahrscheinlich keinesfalls generalisierbar, doch macht es deutlich, wie stark die Abhängigkeiten der Indies vom Vertrieb ausfallen konnten.
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Matt Stahl, Unfree Masters. Recording artists and the politics of work, Durham 2013. Vgl. Halmshaw, Peaceville Life, S. 111. Vgl. ebd., S. 219. Vgl. ebd., S. 222. Ebd., S. 223.
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Im Falle von Lizenzverträgen, die ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine zunehmende Rolle spielten, gestalteten sich die Abhängigkeiten dagegen anders. Bei Distributionsverträgen, etwa von Earache mit Columbia, die den Vertrieb in den USA umfassten, blieb die Band nominell bei einem Indie unter Vertrag – bei Lizenzverträgen übertrug dagegen das Indie, das die Rechte an den Songs hielt, diese im Grunde komplett an ein anderes Label, in diesem Fall vor allem an die Majors in den USA, wodurch in Realo ein neuer Plattenvertrag entstand.245 Die Band stand nun bei einem neuen Label unter Vertrag, konnte in Europa aber weiterhin Teil eines Indie Labels sein. Lizenzverträge gingen also viel weiter als die Distributionsdeals und wurden von Majors mit Indies dort abgeschlossen, wo sich die Major Labels hinsichtlich der Verkaufszahlen sicher waren. Die Indies blieben aber dennoch immer mit im Spiel, weil sie unter anderem über das teilweise parallel geführte Management oder die Verlagsrechte noch an den Bands beteiligt waren – auch hier zeigt sich also eine geschäftliche Zerfaserung eines medial vermittelt möglichst homogenen Band-Bildes. Lizenzverträge für die Vermarktung der Produkte des atlantischen Gegenübers bestanden bereits in den frühen 1980er Jahren zwischen Indie Labels. So kontaktierte Jon Zazula David Wood und lizensierte das Album »All For One« der Band Raven von Neat Records für die USA – gleiches vereinbarte er mit Cees Wessels von Roadrunner und den Alben von Mercyful Fate. Im Gegenzug lizensierte Zazula das Metallica-Album »Ride the Lightning« an Music for Nations und Martin Hooker in Europa.246 Bei UndergroundVeröffentlichungen im unteren Verkaufssegment blieb dies während der Dekade auch durchaus üblich,247 doch spätestens die Lizenzverträge ab 1988/89 deuteten ein neues Engagement der Majors in der Metal-Kultur an – und zwar ausdrücklich nicht im »Mainstream«-Bereich, sondern im Death Metal: Im Sommer 1992 schlossen Earache und Columbia einen Lizenzvertrag für die Band Cathedral in Nordamerika ab. Columbia war 1988 Teil des Majors Sony Music Entertainment geworden, legte die Vertragsdauer auf drei Jahre fest und suchte sich neben Cathedral auch noch die Bands Fudge Tunnel, Carcass, Entombed und Napalm Death aus. Nominell blieben die Bands in Europa bei Earache, wechselten aber in den USA den Arbeitgeber, während der Rest der Earache-Bands in den USA weiter von Relativity vertrieben wurde.248 Auch andere Majors gingen auf die Suche: Während East West, Atlantic und Def American noch suchten, teilten vor allem Sony und Warner den Death Metal-Bereich unter sich auf – Sony eher die ausländischen Bands aus England, Schweden und Brasilien (Lizenz für Sepultura von Roadrunner), Warner eher den amerikanischen Bereich. So lizensierte Giant Records, ab 1990 ein Sublabel von Warner, die Band Morbid Angel von Earache Records und Warner selbst ging mit Metal Blade ein großes Engagement ein, das zwar eine medial-hochproblematische Band wie
245 Vgl. Lizenzverträge im Musikbusiness, in: imusician, 24.01.2014, URL: https://imusician.pro/de/re ssourcen/blog/lizenzvertrage-im-musikbusiness (letzter Aufruf 28.06.2022). 246 Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 50, 56. 247 So beispielsweise beim Distributionsvertrag von Children of Revolution Records mit Pushead in den USA. Vgl. Frank Stöver, Sacrilege. Interview mit Andy Baker und Tony May, in: Voices From The Darkside Online, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/sacrilege-uk/ (letzter Aufruf 28.06.2022). 248 Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 214, 216.
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Cannibal Corpse nicht umfasste, aber dennoch allein 1988/89 zwölf Bands vom Indie Label wegholte.249 Der Lizenz-Exodus von den Indies zu den Majors in den USA war nur von kurzer Dauer, was vor allem an den nun massiven Konflikten mit dem subkulturellen Verständnis der Bands sowie an schlechten Verkaufszahlen lag. Für die Indie-Gründer waren die Lizensierungen weniger problematisch: Jim Welch versuchte als Earache-Chef in den USA alles, die Bands zu den Majors zu bringen,250 Halmshaw betrachtete den Vertrag mit Caroline Records auch als Folge persönlicher Beziehungen zu deren CEO in London Keith Woods, denn beide vereinte »that comfy old hippy feel«251 , während Brian Slagel auch deswegen mit Warner zusammenging, weil diese in seiner Region ansässig waren.252 Ihre Bands erlebten indes einen klassischen Fall von »alienation« (Simon Frith), weil nicht nur die Zahl jener Akteure stieg, die mit der Band Geld verdienen wollte, sondern weil die Selbstverortungen in der Punk-Attitude und DIY-Philosophie nun extrem auf die Probe gestellt wurden. Hinzu kamen permanente musikalische Einflussnahmen. Mitspracherechte hatten die Bands bei Lizensierungen nicht, weil ihre Songs dem Indie gehörten. Für eine Band wie Napalm Death war der Gedanke, nun zu einem Major Label zu gehören, unerhört und generell konnten sich die antikommerziellen Punk-Wurzeln von Musikern wie Barney Greenway (Napalm Death) oder Joe Bench (Bolt Thrower) kaum mit der Situation arrangieren. Sie prognostizierten beide das Ende des Indies Earache aufgrund der Lizenzverträge.253 Auch gingen die Verträge für eine Band wie Napalm Death damit einher, dass sich die Musiker nun um mehr (und nicht wie zu erwarten um weniger) Angelegenheiten selbst kümmern mussten. Die Band haderte mit der Produktion,254 der Druck auf die Bands, etwas Radiotaugliches aufzunehmen, führte bei Carcass zu internem Frust, dem Ausstieg des Gitarristen und einem musikalischen Spagat, der nichts mehr mit den Grindcore-Wurzeln der Band zu tun hatte. Auch trieb Columbia die Band zu permanentem Touring an und selbst Jim Welch, der zu diesem Major gewechselt war, hatte Zweifel, ob ein Vertrag über sechs Alben überhaupt realistisch war. Dass die Band wesentlich größere finanzielle Mittel erhielt und sich dadurch etwa ein Covermotiv des Künstlers H.R. Giger leisten konnte, spielte dann auch keine Rolle mehr.255 Auch Entombed standen zwar mehr Mittel zur Verfügung, doch entschied man sich beim Label, für das Video zu »Wolverine Blues« auf die Comic-Figur zu setzen, obgleich der Song nichts damit gemein hatte – ein in Underground-Kreisen unentschuldbares Vorgehen,
249 Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 92; Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 217. 250 Jeff Walker (Carcass): »Jim was kind of testing the waters, because although he was running Earache in the States, he was trying to hawk us to the major labels as well.« Pratt, That Tour Was Awesome. 251 Halmshaw, Peaceville Life, S. 167. 252 Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 94. 253 Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 218f. 254 Vgl. ebd., S. 225. 255 Zum Interessenkonflikt von Carcass und Earache vgl. Mortuary Mag (1992), S. 48; Vgl. auch Mudrian, Choosing Death, S. 223f., 226, 227.
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das das ohnehin problematische Video auch noch gezwungenermaßen mit einer Figur der Comic-Kultur verband.256 Die einzige Band, die in dieser Gemengelage einen Verkaufserfolg landete, waren Morbid Angel, deren Album »Covenant« sich mehr als 250.000 mal in den USA verkaufte, die aber auch eine US-Band waren und bei Giant als einzige Death Metal-Band unter Vertrag standen.257 Dagegen wurden von den Alben von Carcass, Napalm Death und Entombed weniger als 40.000 Exemplare verkauft, bei Godflesh oder Fudge Tunnel sogar weniger als 15.000.258 Zwischen den Bands und den Labels entwickelte sich daher schnell Unzufriedenheit. Zwar gab Pearson später an, nie Druck auf die Earache-Bands ausgeübt zu haben, doch hatte er sie ungefragt in den Major-Deal geführt und wurde nun als Integrationsfigur des Veränderungszwangs wahrgenommen. Mit Columbia waren die Musiker auch unzufrieden, doch hatte man von Major Labels nichts anderes erwartet. Pearson dagegen erlebte eine drastische Verschlechterung der Beziehungen zu den Musikern, wurde von deren Managern übergangen, die lieber direkt mit Sony sprachen oder die Earache-Verträge sogar kündigen wollten. Die Situation kulminierte schließlich 1995, als Columbia die Verträge nacheinander kündigte und das Metal-Genre rasch wieder fallen ließ.259 Extreme Metal konzentrierte sich von da an fast ausschließlich bei den Indie Labels. Es hatte sich in diesem Major-Experiment aber auch ein Wandel angekündigt, denn die Anforderungen an die Indie Labels hatten sich in den 1990er Jahren verändert. Die alten Wege und das Vertrauen auf die Underground-Netze reichten in Zeiten von Videos und dem aufziehenden Internet nicht mehr. Neben der Distribution und einem Standbein im lukrativen Merchandising wurde auch Marketing immer wichtiger und die dazu nötigen Investitionen stiegen.260 Jene Indies, die aus dieser Krise des Jahrzehnts hervorgegangen sind und/oder weiterbestanden, entwickelten sich bezeichnenderweise zu deutlich größeren Unternehmen, wodurch die Grenze zu den Majors noch mehr verschwamm. Der Underground mit den Kleinstlabels bestand weiterhin in bemerkenswerter Breite, doch nicht mehr in dieser Schnittmenge mit dem Major-Interesse wie noch in den »langen 1980er Jahren.«
7.3 Einflussreiche Vermittler – Manager an der kommerziellen Schnittstelle »Management« ist ein schillernder Begriff, der in den Erinnerungen der Szene-Akteure oft begegnet, aber stets eine große Unschärfe aufweist.261 Meist ist damit gemeint, dass sich irgendjemand, der nicht zu den Musikern gehörte, um die Band kümmerte. Darüber hinaus bestanden aber keine klaren Vorstellungen davon, was genau mit dieser 256 Vgl. Johannesson/Klingberg, Blood, Fire, Death, S. 112–114, 127; Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 219. 257 Vgl. Swiniartzki, Why Florida, S. 184; Vgl. Mudrian, Choosing Death, S. 228. 258 Vgl. ebd., S. 226. 259 Vgl. ebd., S. 228, 230. 260 Vgl. Interview Bogdan Kopec, 58.02-59.58 Min. 261 Zum Management-Begriff und den Kompetenzen vgl. Wolfgang H. Staehle, Management. Eine verhaltenswissenschaftliche Perspektive, 8. Aufl., München 2014.
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Aufgabe verbunden war. Ein Manager stand in vielerlei Hinsicht zwischen der Band und allem anderen, erledigte seinen Job vor allem kommunikativ und wird daher in vielen nachträglichen Aussagen als Gradmesser für den Erfolg bzw. Misserfolg einer Gruppe angeführt.262 Wie auch die Produzenten war er ein Intermediär, der zwischen der musikalischen Ebene und den Bereichen der Performance und Konsumtion vermittelte. Gute Manager arbeiteten an einer Scharnierstelle und übersetzten musikalische Innovation in mediale Aufmerksamkeit, in günstige Verträge und im besten Fall in ein langfristiges Einkommen. Sie besaßen aber auch ein subkulturelles Gespür, d.h. sie wussten, wie eine Band medial nachvollziehbar zu entwickeln war, welche Entscheidungen zu ihrem spezifischen Narrativ passten und was den Bogen der Metal-Authentizität überspannte. Kurzum: Manager entwarfen einen Weg zum Erfolg ohne an den Klippen der subkulturellen Zwänge Schiffbruch zu erleiden. Historisch ist es kaum möglich, einen klaren Management-Begriff für die MetalKultur zu entwerfen, weil sich dieser Tätigkeitsbereich empirisch – genau wie bei den Musikern, Tradern, Fanzine-Autoren und Label-Mitarbeitern – erst aus der DIY-Mentalität lokaler Fan-Gruppen herausschälte und zu einem Erwerbsfeld entwickelte. Der frühe Manager einer Metal-Band war daher in den meisten Fällen zunächst ein passionierter Fan der Band und Freund der Musiker, der teilweise nicht einmal genau wusste, wie er überhaupt zu diesem Job gekommen war. Dies traf beispielsweise auf Dave »Corky« Corke zu, den ersten »Manager« von Judas Priest, der in der Erinnerung von Rob Halford diesen Posten übernahm, indem er sich selbst dazu erklärte. Er verbrachte viel Zeit mit der Band und knüpfte die Kontakte zu den Spielstätten. Was es dazu bedurfte, machte Halford ebenfalls deutlich: Selbstbewusstsein, durch das es so aussah, als sei er ein erfahrener Manager – Eloquenz, die die Kontaktpersonen überzeugte – Hartnäckigkeit und einen gewissen Hang zur Übertreibung hinsichtlich der Bedeutung und Qualität der Band. Darüber hinaus brachte er technisches Geschick mit und ermöglichte die ansonsten teuren Ferngespräche umsonst: Er funktionierte das Telefon in einem Aufzug in Birmingham um und tätigte seine Anrufe für die Band fortan, indem er Fahrstuhl fuhr.263 Erfahrungen und Werdegänge wie jene von Dave Corke wiederholten sich im Laufe der 1980er Jahre immer wieder und bahnten sich meistens über das Tape Trading oder die Fanzines an. Als Frank Stöver 1984 in einer der ersten Ausgaben des deutschen Metal Hammer die Rezension des ersten Demo-Tapes von Destruction las, fragte er bei der Band an, ob er das Tape in seinem Fanzine besprechen könne und bot an, es auch an Labels weiterzusenden. Er leitete zu diesem Zeitpunkt den Fanclub von Roadrunner und stand auch mit dem jungen Unternehmen SPV in Kontakt. Als SPV auch als Label öffnete, verpflichteten sie Destruction und Stöver rutschte in den Managerposten hinein – zunächst als Leiter des Fanclubs der Band und schließlich, weil ein Name auf dem ersten Mini-Album erscheinen musste. Er war zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt und nach eige-
262 Vgl. dazu die folgenden positiven Beispiele (Iron Maiden, Metallica) und negativen Beispiele (Saxon, Diamond Head, Praying Mantis usw.). 263 Vgl. Halford, Confess, S. 56f.
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ner Angabe »unexperienced as fuck«264 , lernte aber schnell dazu. Doch um eine offizielle Beschäftigung handelte es sich nicht, denn weder wurde er von der Band bezahlt, noch übernahm das Label irgendwelche Management-Kosten. Als sich SPV auch auf Anfrage der Band weigerte, Stövers Auslagen während der Tour-Begleitung zu begleichen, trat er zurück.265 Ein Band-Manager war in diesem Fall also noch kein unentbehrlicher Vermittler, dessen Leistungen eingepreist werden mussten. Viel eher handelte es sich um ein DIY-organisiertes Hobby eines sehr engagierten Fans. Auch später übernahm Stöver solche informellen Tätigkeiten für Bands, etwa als er als deutscher Ansprechpartner der Band Immolation diente, die ihr Merchandise in Europa verkaufen wollten. Dabei empfand er sich folglich auch nicht als ein Manager, sondern als »just more or less a friend and fan of the band helping them out.«266 Vergleicht man Stövers Tätigkeit mit anderen Akteuren, die ebenfalls aus dem Underground-Netzwerk kamen und den Bands halfen, wird deutlich, dass das DIYManagement einer Band mit von Fall zu Fall verschiedenen Aufgaben verbunden war. Destruction war eine Band mit Plattenvertrag und Stöver begleitete die Tour und verbreitete die Musik über seine medialen Kanäle. Bei vertragslosen Bands umfasste der Posten aber neben der Promotion auch das Booking, also die Beschaffung von Konzertmöglichkeiten und deren Organisation und diente darüber hinaus auch der Anbahnung eines Plattenvertrages. So begleitete beispielsweise Joey Huston die Band Vio-Lence bis zum Plattenvertrag mit Megaforce Records 1989. Er war ein enger Freund der Musiker und Fan der Musik, sorgte für die Distribution der Demo-Tapes in den Plattenläden in der San Francisco Bay Area und beschaffte die Konzertmöglichkeit und damit die unbedingt erforderliche Live-Präsenz. Er beendete die Zusammenarbeit, weil er zum College ging und nach eigener Angabe zu viel Verantwortung für zu wenig Geld zu tragen hatte.267 In einem anderen Fall wurde Marco Barbieri zum Manager der Band Pestilence (Umbenennung in The Horde of Torment), nachdem er ihnen einen Brief geschrieben hatte. Als Student des »music business« bot er seine Hilfe an, verteilte die Demo-Tapes in der Bay Area, besorgte Auftrittsmöglichkeiten und übernahm kurzerhand die gesamte Promotion. Er begleitete die Band nach ihrem Umzug in die Bay Area bei den Konzerten, organisierte mehrere Demo-Produktionen und sogar deren Veröffentlichung auf Vinyl bei kleinen Indies in Europa. Roadrunner und Combat zeigten zunächst Interesse an der Band, legten aber keine Angebote vor, die Band zerfiel, weil »we never got that elusive record deal« und Barbieri zog es als Mitarbeiter zu Metal Blade nach Los Angeles.268 Wenn Barbieri oder Huston also von einem »Manager« sprachen, meinten sie einen Booker, der durch seine Konzertbeschaffung ein Label-Interesse generieren sollte und auch bei anderen Bands und in anderen Regionen war diese Gleichsetzung üblich.269 Die Außen264 Zitat und vorherige Aussagen bei Gabriel Gatica, Frank Stöver – Interview Compilation of Death, in: Voices From The Darkside Online, 2009, URL: https://www.voicesfromthedarkside.de/frank-s tover-interview-compilation-of-death/ (letzter Aufruf 28.06.2022). 265 Vgl. ebd. 266 Ebd. 267 Vgl. Allen (Reg.), Vio-Lence. Blood and Dirt, 11.10 Min., 52.00 Min. 268 Forbes, Marco Barbieri, in: Metalcore Fanzine. 269 Beispielsweise bei Mary Anne Bowman, die Goreaphobia und andere Bands kurzzeitig betreute. Vgl. Interview Alex Bouks, Z. 33–38: »Me and Chris met her in 1989 when she was running the
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darstellung der Band beschränkte sich auf das Fanzine-Netzwerk, die Promotion in den Szene-Magazinen und lokale Radiostationen. In all den genannten Fällen wurde der Posten nicht dauerhaft besetzt und endete entweder mit dem Zerfall der Band durch ausbleibenden Erfolg oder die vertragliche Verpflichtung mit einem Label. »Management« war hier erweitertes DIY, das man aufgab, wenn die Zeit fehlte, die Kosten oder die Verantwortung zu stark stiegen oder es die Band einfach nicht geschafft hatte. Professionelle Manager kamen nicht aus anderen Umständen – auch sie machten unbezahlte DIY-Erfahrungen, doch schälte sich bei diesen Tätigkeiten mittelfristig eine Möglichkeit heraus, mit Management-Aufgaben Geld zu verdienen. Die Karrierewege begannen hier ebenfalls oft mit der Freundschaft mit einer Band, die nach einem Plattenvertrag zu ihrem DIY-Manager hielt. Dies war beispielsweise bei Tom Noble der Fall, der die Tygers of Pan Tang als Freund auf dem »club circuit« begleitet hatte und für den New Musical Express schrieb. Als die Band beim Major MCA unterschrieb, empfand er sich als »amateur«, der sich die Aufgabe aber mit der Rückendeckung durch den Freund Rod MacSween (Gründer von International Talent Booking (ITB)) zutraute und auch die Unterstützung der Band besaß. Für Noble kam der Job also zuerst und »I learned everything as I went on.«270 Noch stärker mit einem »Learning by Doing« war die Manager-Karriere von Debbie Abono in San Francisco verbunden, die ausschließlich aufgrund der Beziehung ihrer Tochter mit einem Musiker von Possessed mit der Betreuung der Band begann und später auch das Management von Vio-Lence oder Forbidden Evil übernahm. Trotz fehlender Erfahrungen attestierten ihr die Akteure eine besondere Begabung, wobei sie ihre Funktion als »sicherer Hafen« und »Mutter der Kompanie« für die Musiker mit einer unerwarteten Durchsetzungsstärke verband, kommunikativ enorm präsent war und dadurch Verträge mit Labels wie Mechanic oder Megaforce einfädeln konnte. Ihr Szene-Renommee ging schließlich soweit, dass der Band Vio-Lence, nachdem sie sich von Abono getrennt hatten, andere Akteure die Zusammenarbeit versagten.271 Um 1980 gab es also eigentlich nur Amateur-Manager im Metal-Geschäft. Das Arbeits-und Erwerbsfeld schälte sich erst heraus und es existierten keine Profis, sondern nur verschiedene Wege zur Professionalität. Einer dieser Wege führte anders als bei Noble und Abono über Arbeitserfahrungen in musikrelevanten Unternehmen wie Labels oder Musikverlagen. Die Tätigkeit als Manager war hier ein Teil der Ausdifferenzierung eines Erwerbsfeldes, in dem zu Beginn noch viele Aufgaben auf dem Schreibtisch der Indie Labels landeten, aber mit der Zeit einer spezialisierten Behandlung bedurften. In einer jahrelangen Marktbeobachtung konnte dabei eine Unternehmensnische gefunden und ein Geschäftsmodell herausgearbeitet werden. So fasste etwa Bogdan Kopec um
shop Rock and Roll Plus. We came in there asking to put flyers for our first live shows in 1989 at a place called The Philly Cookbook. She really had no knowledge of our kind of music at first. We struck up a fast friendship with her and played for her our stuff plus some other extreme bands and she just dove right into the whole thing that eventually led to her managing us a booking so many great shows at the club G Willikers.« 270 Vgl. Interview Robb Weir/Tom Noble, 16.03-17.40 Min. 271 Vgl. Allen (Reg.), Vio-Lence. Blood and Dirt, 23 Min., 43.40 Min., 56 Min.; Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 134; Vgl. Frank Albrecht. Geglückte Reanimation. Vio-Lence, Interview mit Phil Demmel, in: Deaf Forever 6 (2020) 35, S. 84f.
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1985 den Entschluss, vom Indie Noise Records in Berlin wegzugehen und sein eigenes Unternehmen mit Garagen-Büro im Ruhrgebiet zu gründen. Die Erfahrungen bei Noise, während seiner langjährigen Begleitung seiner eigenen Band sowie aus seinem MusikVerlag flossen dabei in Drakkar Promotion zusammen: In den Anfängen ist es sehr schwierig, mit jungen Newcomer Bands genügend Einnahmen zu generieren, um eine seriöse Firma aufzubauen. Es gab immerhin erhebliche Kosten für Büro, Personal usw., den eigenen Verdienst darf man auch nicht vergessen. Meine Idee war, dass ich für drei Bands das Merchandising, das Booking, den Musikverlag und das Management übernahm. Jeder dieser Bereiche brachte ein bisschen ein. Nur an die GEMA Tantiemen bin ich als Manager nie gegangen, diese Beträge gehörten ganz den Musikern. Ansonsten habe ich von allen Umsätzen meine Provisionen bekommen. Dieses System funktionierte und erlaubte mir, nach 20 Jahren AmateurDasein, mich mit meiner neu gegründeten Firma Drakkar Promotion selbstständig zu machen.272 Seine Erfahrungen verdeutlichen sehr klar, dass »Manager« einer Metal-Band eher einen Sammelbegriff als ein klar definierbares Tätigkeitsfeld darstellte. Wie viele andere seiner Berufsgenossen bei anderen Bands kümmerte er sich um viele Aspekte der kommerziellen Betreuung. Dass er auch das Verlagsgeschäft übernahm war zwar eher selten, aber die Promotion, das Booking, die Tourorganisation und das Merchandising gehörten zum Arbeitsbereich fast aller frühen Manager.273 Aufgrund des Umfangs dieses Aufgabenfeldes erfolgte im Tour-Management die erste Ausdifferenzierung in diesem neuen Berufszweig. Wie bereits deutlich wurde, verlangte die Tour eine parallele Betreuung vor Ort und im Büro: Bei Metal Blade Records erfolgte daher die Aufteilung der Arbeit unter einem Band-Manager und einem RoadManager,274 bei Drakkar die Anstellung eines Tour-Managers. Im Gegensatz zu den selbstorganisierten und selbstfinanzierten kleinen Tourneen im Underground, für die ein Van mit Instrumenten und die Zusage einiger Clubs ausreichte, verlangten größere Tourneen sehr kosten-und zeitintensive Planungen. Bodgan Kopec hatte unter anderem folgendes zu tun: Die Miete einer Anlage (falls der Club keine besaß), die Miete der Lichtinstallation, die Verpflichtung geeigneter Roadies und möglichst das Herunterhandeln der jeweiligen Preise, die Aufsetzung von entsprechenden Verträgen und die Sorge um die rechtzeitige Unterschrift vor Tour-Beginn, die Verpflichtung eines Merchandise-Beauftragten und die Miete eines Merchandise-Fahrzeugs, die Abschätzung der mitzunehmenden Merchandise-Menge, den potentiellen Nachdruck und die Lieferung während der Tour, die Buchung von Hotels oder eines Nightliners (in diesem
272 Interview Bogdan Kopec, 10.53-12.13 Min. 273 Das Management von Metal-Bands wurde bisher nicht erforscht oder nur in die empirische Betrachtung einbezogen, daher steht dies unter Vorbehalt. Doch weisen sämtliche hier vorgestellten Manager in ihren Arbeitsbiografien darauf hin, dass sich aus einem unspezifischen Kümmerer, der alle Aufgaben übernahm, die anfielen, ein spezialisiertes Feld verschiedener Arbeits-und Unternehmensbereiche entwickelte – professionelle Manager also nicht mehr der frühen DIY-Phase entsprachen. 274 Vgl. Slagel, For the Sake of Heaviness, S. 63.
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Fall Hotelbuchung zum Duschen) und schließlich mindestens ein Besuch auf der Tour, um den »Tour-Frieden« zu überprüfen.275 Aus diesem Geschäft kam auch Rod Smallwood, der wohl bekannteste und wichtigste Manager einer Metal-Band überhaupt. Bevor er 1979 begann, mit Iron Maiden zusammenzuarbeiten, betätigte er sich bereits an der Universität als Booker, arbeitete schließlich in mehreren Booking-Agenturen und »schlitterte« darüber in das Management der Punk/Gothic Rock-Band Gloria Mundi hinein. Aufgrund der Bedeutung einer Live-Präsenz war der Manager also auch hier in erster Linie ein Beschaffer von Auftrittsmöglichkeiten. Für Iron Maiden erweiterte er den Management-Begriff dann ganz entscheidend um das Merchandising, die Promotion in Presse und TV, den Label-Kontakt und die Vertragsanbahnung, sowie (siehe unten) eine spezifische Vision für dieses Band-Projekt. Aus seiner Tätigkeit erwuchs die Firma Sanctuary, die sich neben dem Management-Bereich auch zu einem großen Indie Label entwickelte.276 Die jeweiligen Felder im Management-Mix waren während der »langen 1980er Jahre« großen Veränderungen unterworfen. Dies betraf vor allem die Promotion-Strategien. Gerade die Organisation von Live-Musik in einzelnen Konzerten oder gar Tourneen gestaltete sich hochgradig risikoreich und Kunden/Fans zahlten für etwas, das sie erst später bekamen. Promotion-Strategien wie Werbung und Produktplatzierung konnten dieses finanzielle Risiko minimieren und wirkten als vertrauensbildende Maßnahmen zwischen Bands und Fans.277 Bei der Promotion der Alben oder Singles verhielt es sich ähnlich und diverse mediale Schalten generierten lukrative Aufmerksamkeit. Je nachdem, welche Fan-bzw. Kundenkreise eine Veröffentlichung ansprechen sollte und welche Medien und wieviel Geld dafür zur Verfügung standen, umfasste die Promotion sehr verschiedene Einsatzgebiete für einen Manager. Hinzu kamen persönliche Unwägbarkeiten: Als Tom Noble den Managerposten bei den Tygers of Pan Tang nach Vertragsabschluss mit dem Major Label MCA in Vollzeit übernahm (1980), stellte er mit der Band zunächst eine Buchhaltung und einen eigenen Presseagenten an, weil der dafür zuständige Mitarbeiter des Labels ständig betrunken war. »We had to become more businesswise«278 war also zunächst mit einer Presseoffensive auf eigene Kosten verbunden. Man knüpfte persönliche Kontakte mit freien Mitarbeitern des Sounds-Magazins in London und freundete sich beispielsweise mit Ian Penman, einem regionalen Reporter an, woraus eine langfristige Freundschaft entstand und denen die Band sehr frühe und wohlwollende Konzertbesprechungen verdankte.279 Die Mitarbeiter der lokalen Zeitungen – so Noble – nervte man dagegen solange telefonisch, bis sie die Band wahrgenommen hatten und zu einem Konzert erschienen waren. Gleichzeitig beschwerte sich Noble bei den lokalen Radiostationen, weil diese noch keine Titel der Band gespielt hatten – bis zu dem Punkt, an dem die Stationen einwilligten, die Band einige Songs live einspielen zu lassen. Der regionale »buzz«, den die Band 1980 innerhalb kürzester Zeit erzeugte und der sie in
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Vgl. Interview Bogdan Kopec, 42.00-50.20 Min. Vgl. Wall, Run to the hills, S. 73–85, 115. Vgl. Simon Frith, Commodifying Music, S. 149. Interview Robb Weir/Tom Noble, 15.58 Min. Vgl. ebd., 32.21-32.47 Min.
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der Aufmerksamkeit rasch an den vielen anderen regionalen NWOBHM-Bands vorbeiziehen ließ, war auf eine gezielte Platzierung in den unterschiedlichen Medienformaten zurückzuführen: We had a saying in the band that the only bad publicity is no publicity. So, we said every mention in the newspapers matters. And in a way that made the band appear to all the other bands in the region, to be getting all the attention. But it’s only, because we were really working hard to get it. It wasn’t just coming to us.280 Promotion-Strategien sahen jedoch dort, wo es (noch) keine landesweiten Musikmagazine, eine spezialisierte Metal-Presse oder die mediale Aufmerksamkeit der NWOBHM gab, ganz anders aus. Für Jon Zazula und Megaforce Records existierten um 1982/83 an der US-Ostküste beispielsweise noch keine medialen Ansprechpartner, die sich – wie in England – »automatisch« angeboten hätten und man konnte überdies finanziell auf keine große Unterstützung bauen. »Das Eis zu brechen« und einen Markt für die Bands zu erschließen war hier außerdem schwieriger, weil sich die Musik weiter von den chartsaffinen Titeln der NWOBHM entfernt hatte. Promotion verlagerte sich dadurch auf das schon angesprochene »street level«: Zwar schaltete auch Zazula Anzeigen in lokalen Zeitungen wie in The Aquarian Weekly in New Jersey oder The Ear in Long Island – zunächst auf einer Viertelseite, kurz vor der Show dann auf einer ganzen Seite –, doch war sein Vorgehen darüber hinaus bereits stärker auf eine bestimmte Fanschicht zugeschnitten: Man hinterließ Flyer in den frequentierten Bars, veranstaltete regelrechte »polls« per Telefon und spannte vor allem die besonders engagierten Fans im Plattenladen Rock’n’Roll Heaven ein. Einer dieser Fans war Ed Trunk, dem Zazula stets neue Musik für seine lokale Radioshow in New Jersey zur Verfügung stellte und den er dann fest einstellte, um die College-Radio-Stationen in den USA zu bearbeiten. Mit großem Erfolg: Trunk wurde später Zazulas Vize bei Megaforce und schaffte es durch seine Promotion-Strategie sogar, einige Einkäufer von großen Warenhausketten davon zu überzeugen, Platten des Labels anzubieten – ein im major-kontrollierten Distributions-Markt der USA enormer Vorteil.281 Von den DIY-organisierten Promotion-Methoden in den Szenen hoben sich die Vorgehensweisen von Noble oder Zazula durch eine größere Reichweite, Intensität und oft auch technische Ausstattung ab. Die Promotion für Konzerte lief in den Extreme MetalSzenen in der Regel über Flyer in den Spielstätten, Plattenläden und im Tape Trading sowie über selbstgemachte Plakate und Ankündigungen bei lokalen Radiostationen ab.282 Telefonverbindungen waren in den frühen 1980er Jahren noch nicht üblich – bis in die 1990er Jahre schon gar nicht international. Professionelle Manager konnten sich anders als ihre DIY-Pendants dagegen früher globalisieren. Bogdan Kopec nutzte vor der breiten Durchsetzung des Telefax in Deutschland (1986–1989) zum Beispiel einen Telex (Fernschreiber) – er rationalisierte dadurch seinen Arbeitsablauf, internationalisierte seine Reichweite und wirkte Sprachbarrieren entgegen:
280 Zitat und vorherige Aussagen bei Interview Robb Weir/Tom Noble, 16.09-17.13 Min. 281 Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 125f. 282 Vgl. Kapitel 6, Subkapitel zu den Plattenläden, Venues, zum Tape Trading und zum Radio.
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Das Problem war nicht, dass wir kein Telefon hatten, sondern dass man es sich kaum leisten konnte. Wenn du in den 70/80er Jahren eine Viertelstunde ins Ausland telefoniert hast, hast du gleich 150 Mark auf der Uhr gehabt. Das habe ich gelöst, indem ich mir ein Telex angeschafft habe. […] Das war eine Art Schreibmaschine, die man über das Telefonnetz nutzen konnte. Vorausgesetzt, dass dein Geschäftspartner auch ein Telex besaß, konnte ich meine Nachrichten auf einem Lochstreifen vorschreiben und dann lief der Text zügig durch und erreichte ohne Verzögerung deinen Adressaten. Das war für mich ein weltweiter Türöffner, man konnte dann auch in Länder wie Amerika, Japan und anderen Ländern bezahlbar kommunizieren. Telex war der Vorläufer vom späteren Telefax. Wenn man bedenkt, dass es das Faxgerät auch schon nicht mehr gibt, ist es erstaunlich, wieviel technische Erfindungen und Verbesserungen, in der relativ kurzen Zeit, die Welt verändert haben.283 Ein weiterer Vorteil einer professionellen Promotion durch einen Manager oder eine Agentur war die Intensität der Bearbeitung potentieller Interessenten in Medien und Einzelhandel. Auch an dieser Stelle ermöglichte der DIY-Underground die Gewinnung einer regionalen Aufmerksamkeit, doch lagen die Hürden für breiter wirkende Methoden in der Zeitökonomie und den finanziellen Grenzen der Musiker und Trader begründet. Für einen täglich mehrere Stunden mit band-spezifischen Aufgaben beschäftigten Musiker wie Bob Petrosino ging es mit seiner Band Oblivion daher durchaus »nach vorne«, aber trotz der großen Investitionen blieb der Aufmerksamkeitsschub, der ihm erlaubt hätte, seinen Job zu kündigen, aus. Er führte dies berechtigterweise auf die fehlende Promotionintensität und Lenkung durch ein Management zurück: We stayed in the Mid Atlantic region and never went on tour. We were broke and could not leave the jobs we had without a decent label deal. We did play a lot during this time within the region. […] Not getting a real manager was probably one of the biggest mistakes we made at this point because everything began taking off – unexpectedly. We were always busy with the band, all of the time and it was a lot of work.284 Während die Underground-Promotion während der »langen 1980er Jahre« relativ konstant mit denselben schriftlichen und UKW-Methoden ablief und seit den späten 1980er Jahren höchstens das Telefon hinzukam, erlebte die professionelle Promotion einen rasanten Wandel mit der Einführung des Musikfernsehens.285 Vor der Etablierung von MTV und dann Viva in Deutschland lief es für einen Manager wie Kopec noch relativ einfach: Er schaltete eine Anzeige im Metal Hammer oder Rock Hard, wobei eine Titelseite mit ganzseitiger weiterer Anzeige in seiner Erinnerung 8.000 DM kostete. Darauf aufbauend vermittelte er dann ein Interview und dann eine Konzertkritik in diesen Magazinen und stellte dadurch sicher, dass die Band erst einmal drei Monate in diesen Leitmedien
283 Interview Bogdan Kopec, 39.20-41.14 Min. 284 Chris Forbes, Oblivion. Interview with Bob Petrosino, in: Metalcore Fanzine. 285 Vgl. grundlegend Jasmin Kulterer, Musikfernsehen im Wandel. MTV im Kontext des digitalen Wandels und jugendkultureller Interessensfelder, Wiesbaden 2019; Vgl. Josef Limper/Martin Lücke, Management in der Musikwirtschaft, Stuttgart 2013, Kapitel 5.2 und 5.3.
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abgebildet war.286 Parallel verschaffte er der Band einen Platz als Vorband auf der Tournee einer bekannteren Band. Mit der Einführung der TV-Möglichkeit – so Kopec – »kam dann ein neues Medium dazu. Da hat Rockmusik auf einmal ein neues Fenster gehabt. Da haben wir auch investiert.«287 Doch die mediale Promotion wurde nicht nur vielfältiger, sondern auch teurer und bei den Indies, die nun »Marketing lernen« (Kopec) mussten, trennte sich die Underground-Spreu vom kommerziellen Weizen: Die finanziellen Ressourcen vorausgesetzt, ermöglichte das Musikfernsehen nun teure Musikvideos, das Kaufen von NewsPlätzen oder die Schaltung von täglichen Werbespots.288 Gleichzeitig internationalisierte sich auch das alte Kerngeschäft und die Label stellten europaweite Promoter an und schalteten Anzeigen in fremdsprachigen Metal-Magazinen. Label, so Kopec, die es jetzt noch schafften, Bands groß rauszubringen, waren »alle keine Indies mehr« – kleine Firmen hatten aufgrund der teurer werdenden Anzeigen und des Fernsehgeschäfts keine Chance mehr und zogen sich ganz auf den Extreme Metal zurück.289 Die Methoden und Kosten der Promotion waren also medienabhängig, was sich wenige Jahre darauf erneut zeigen sollte: In den Anfängen der 80er waren Liveauftritte und lokale Tageszeitungen die wichtigsten Medien, um eine Band zu vermarkten. Es gab wenige Radiosender und noch weniger Fernsehsender, die sich mit unkommerzieller Heavy Metal Musik beschäftigten. Nach dem Boom der unzähligen kleinen Fanzines, mit Auflagen von etwa 500 oder 1000 Stck. ohne Vertrieb, die aber eine große Beliebtheit und Akzeptanz hatten, erkannten viele große Verlage und Zeitungsvertriebe, dass da was im Anmarsch ist. Die ersten Heavy Magazine, wie z.B. Metal Hammer oder Rock Hard etc., kamen mit ansehnlichen Auflagen auf den Markt. Mit MTV und dann VIVA kam dann auch TV hinzu. Die Bands der ersten Stunde profitierten davon, aber auch, wenn man ein gewisses Budget hatte konnte man auch sehr gut Newcomer platzieren. Vorausgesetzt man hatte einen Vertrag mit einer professionellen solventen Plattenfirma und oder einen ebenso starken Musikverlag. Die später aufkommende Internetvermarktung habe ich eher skeptisch gesehen. Es kam mir vor, als hätten wir plötzlich Millionen von Fanzines, die keiner mehr liest. Wir bekamen in unsere Firma in der Woche ca. 10 bis 20 Demos mit Bandbewerbungen, mit Internet später, etwa 50 bis 80 Bewerbungen täglich.290 Die Parameter der Promotion verschoben sich also innerhalb weniger Jahre zweimal fundamental: Von überschaubaren und vor allem printmedialen Investitionen zu einer starken Verteuerung im Zuge des Musikfernsehens hin zu einer dramatischen Egalitarisierung im Zuge des Internets, die zwar wahrscheinlich nicht weniger, dafür aber ganz anders gestreute Investitionen verlangte.291 286 287 288 289 290 291
Vgl. Interview Bogdan Kopec, 12.10-13.20 Min. (zweites Interview). Ebd., 59.08-59.13 Min. Vgl. ebd., 13.30-15.40 Min. (zweites Interview). Vgl. ebd., 15.50 Min. (Zitat), 15.50-17.01 Min. (zweites Interview). Ebd., 59.21-59.58 Min. Der zentrale Bruch durch die Einführung des Internets für die Metal-Kultur ist zwar erwähnt, aber noch nicht empirisch erforscht worden. Vgl. Deena Weinstein, Metal’s third wave in the era
7. Ambivalente Kommerzialisierung
Für die Manager von Metal-Bands galt es, sich im Zuge dieses Wandels rasch neu zu positionieren und auch Entwicklungen zu antizipieren, um ein ungeschriebenes Gesetz der Bandbetreuung einhalten zu können: Bands mussten als Reinvestitionsprojekte zunächst über einen längeren Zeitraum wachsen, um auch für die Musiker in Vollzeit profitabel zu werden – sie durften aber nicht zu schnell wachsen. Das bereits in den DIYBeteuerungen vorhandene sprachliche Bild des »organischen Wachstums« fand sich hier auf Seiten des Managements erneut und Kopec resümierte »Das ist ja wie bei Pflanzen. Wenn du denen zu viel Dünger gibst, schießen sie raus, waren mal ganz kurz da und dann sind sie down.«292 Jon Zazula sprach gleichzeitig von »growing organically, the proper way.«293 Praktisch bedeutete dies, dass die Bandentwicklung eine langfristige Projektidee benötigte, einen Plan mit einem klaren Ziel und dem Wissen sowie der Vernetzung, um diese – für die Konsumenten nachvollziehbar – Stück für Stück umzusetzen. Die zentralen Aktionsfelder waren dabei die Gewinnung einer möglichst diversen öffentlichen Aufmerksamkeit, die Erschließung neuer Absatzgebiete und über allem stehend die Sicherung einer langfristigen Investitionssicherheit durch ein zahlungskräftiges Label. Hinzu kam das geschäftliche Engagement aus der Band selbst, das ManagementEntscheidungen nicht als fern der eigenen Einflusssphäre betrachtete, sondern eher eine Partnerschaft etablierte und dadurch kommerzielle mit subkulturellen Erfordernissen rückkoppelte.294 Nur wenn die Projekt-Vision auf diesen Feldern und in dieser Arbeitsweise umgesetzt wurde, konnte die musikalische Qualität, die freilich die Grundvoraussetzung bildete, wirksam und vor allem langfristig kommerzialisiert werden. Keine anderen Band-Entwicklungen verdeutlichten das so sehr wie jene von Iron Maiden und von Diamond Head während und nach der NWOBHM. Mit Rod Smallwood besaßen Iron Maiden seit 1979 einen Manager, der als Meister des »Brandings« gelten muss. Wie kein anderer seiner Kollegen vermochte er es gemeinsam mit dem Band-Kopf Steve Harris, der Band einen distinkten Markenkern zu verschaffen. Iron Maiden spielten bereits sehr früh vor ihrem eigenen Bühnenhintergrund (etwa im Marquee in London), entwickelten einen hohen Wiedererkennungswert durch ein auffälliges Artwork der Plattencover, sie etablierten ein sehr erfolgreiches Maskottchen, das Markenidentität dort symbolisierte, wo andere Band lediglich ihr Logo hatten, und sie legten einen frühen Merchandising-Schwerpunkt, der nicht nur finanziell, sondern auch öffentlichkeitswirksam für die Musiker arbeitete.295 Smallwood baute Iron Maiden durch solche Maßnahmen zu einer eigenständigen Marke auf und platzierte die Produkte auch sehr geschickt: Neben den Printmedien und dem Radio setzte er die Band beispielsweise bei Top of the Pops gegen Widerstände durch und bediente sich – ausgehend von der Beobachtung einer kurzen Halbwertszeit medialer Begeisterung – stets eines Medien-Mixes für die Promotion.296
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of post-globalization, in: Karjalainen/Kärki (Hg.), Modern Heavy Metal, S. 14–19; Vgl. Peterson/ Bennett, Introducing Music Scenes, S. 6; Zur Rolle des Internets für den Wandel aus Sicht der Akteure vgl. Kapitel 8. Interview Bogdan Kopec, 60.50-60.54 Min. Zazula, Heavy Tales, S. 133. Vgl. dazu Kap. 4 zu den Hierarchien und der Professionalisierung der Bands. Vgl. Wall, Run to the hills, S. 100, 131, 149, 229. Vgl. ebd., S. 131, 186.
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Ausgehend von den Konzerten in den Pubs wurde die Sichtbarkeit aber auch durch intensives Touring generiert und Iron Maiden legten ein immenses Auftrittspensum an den Tag, das auch schon früh die USA umfasste. Besonders dieser Durchbruch auf dem amerikanischen Markt, der vielen englischen NWOBHM-Bands nicht gelang,297 sollte das Wachstumsprojekt Iron Maiden langfristig absichern und war auf eine wesentliche Manager-Qualität Smallwoods zurückzuführen: Er umgab sich mit den »richtigen« Leuten – neben Vertrauten wie Andy Taylor in diesem Fall mit John Jackson, einem erfahrenen Booker der Firma Cowbell, der als Agent zunächst den Vorbandposten für Judas Priest und schließlich die US-Tour-Begleitungen von KISS und Judas Priest organisierte.298 Jacksons und Taylors spätere Gründung Fair Warning stieg durch zahlreiche Fusionen zur bedeutenden Booking-Agentur Helter Skelter auf.299 Als Manager wies Smallwood viele Eigenschaften eines innovativen Unternehmers auf: Er handelte auch aufgrund seiner DIY-Vergangenheit stets sparsam, beglich Schulden pünktlich, reinvestierte Gewinne in die Tourneen, das Equipment und die Promotion, er erkannte Potentiale in ihrer Einmaligkeit und schuf Chancen durch ausgeprägtes Networking.300 Der Vertrag mit dem Major Label EMI 1979 war eine solche selbstgeschaffene Chance und trug klar seine Handschrift, weil dem Label kein Ausstieg nach nur einem Album möglich war. Es handelte sich – bis dahin unüblich – um ein langfristiges Engagement.301 Auch der US-Durchbruch ist hier zu nennen und Smallwood wurde bereits vor der US-Tour der Band bei allen dreizehn regionalen Sales-Managern von Capitol (dem US-Ableger von EMI) persönlich vorstellig und stellte die Band, das Konzept und seine Vision vor.302 Bei all diesen Eigenschaften war er freilich in den Augen der Konkurrenten und Bands keineswegs ein »netter Kerl«, sondern ein professioneller, schnelllebiger und zäher Verhandler, der bei ähnlichen musikalischen Voraussetzungen zwischen den Bands für Iron Maiden den Unterschied gemacht hatte.303 Besonders offensichtlich wurde dies für Bands wie Angel Witch, die vom Vater des Gitarristen betreut wurden. Kevin Riddles rekapitulierte die Differenz folgendermaßen: Maiden cared very much or at least Rod Smallwood cared very much. He saw how it could be used. We didn’t have that vision. We didn’t have a manager of the caliber of Rod Smallwood, who was and to this day is probably one of the best managers ever in rock. […] And he saw something in Maiden that he knew he could do something with. He set the sights on Maiden very early on. And it was his vision, I think, that got at first the EMI deal for them. It was his persistence as well.304 297 298 299 300 301 302 303
Prototypisch bei Diamond Head, vgl. Brian Tatler, in: Popoff, This Means War, S. 183. Vgl. Wall, Run to the Hills, S. 141f. Vgl. Billboard Magazine, 23.09.2000, S. 26. Vgl. Wall, Run to the Hills, S. 149f., 187. Vgl. ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 248f. Vgl. Interview Tino Troy, 14.10-15.27 Min. Smallwood sah sich auch musikalisch um und versuchte unter anderem, die Rechte am Song »Captured City« von Praying Mantis zu erlangen. Dass Tino Troy ihm diese nicht verkaufen wollte, war Smallwood nicht gewöhnt und es war »a real bugbear with him.« 304 Interview Kevin Riddles, 58.25-59.20 Min.
7. Ambivalente Kommerzialisierung
Wie sich ein Fehlen dieser Qualitäten auswirken konnte, zeigten aber Diamond Head am deutlichsten. Trotz ihres Major-Vertrags mit MCA (1982) und musikalischer Ebenbürtigkeit bildeten sie den Gegenpol zu Iron Maiden und den Inbegriff des Missmanagements. Dabei waren die Startvoraussetzungen beinahe gleich: Der erste und befreundete DIYManager buchte der Band viele Auftritte auf dem »club circuit« in den West Midlands, er vermittelte ein Interview mit Radio Birmingham und der Heavy Pressure Show. 1979/80 wechselte das Management zu Pete Bates, die Band spielte allein 1980 88 Konzerte, zweimal als Vorband von AC/DC, erlangte eine regionale Anhängerschaft aufgrund ihres LivePotentials, spielte bei Tommy Vance’s Friday Rock Show und erhielt glänzende Kritiken in Sounds.305 Das Problem der Band lag indes an anderer Stelle: Bereits 1980, nach einer der Shows mit AC/DC, traf die Band auf Peter Mensch, Mitarbeiter der zentralen US-ManagementFirma Leber/Krebs Management, der die Band jedoch (so ein späterer Vertrauter) als »offlimits« (Tabu) bezeichnete, weil sie von der Mutter des Sängers betreut wurde – für Mensch Hinweis genug, dass es die Band nicht ernst meinen könne.306 Sein Gespür betrog ihn nicht, denn die Band geriet zusehends in die Kontrolle von Diamond Head Management, das Linda Harris (die Mutter des Sängers Sean) und ihr Mann Reg aufbauten. Zum Tour-Manager wurde der Schwager des Sängers ernannt. Bereits zwischen dem ersten Album (1980) und dem Vertrag mit MCA (1982) machten diese Akteure zahlreiche Fehler, die auf fehlende Vernetzung und Kenntnis der Musikindustrie hindeuteten: Das Album war fertig produziert (heute ein NWOBHM-Klassiker »Lightning to the Nations«), doch fand kein Label, weil die A&R-Abteilungen nicht wie üblich in den Entstehungsprozess einbezogen worden waren. Es erfolgte lediglich eine Pressung von 1.000 Exemplaren, keine Nachpressung und das Management verzichtete auf die Anbahnung eines Plattenvertrags. Bis auf den Sänger wurden die Musiker kaum beteiligt und erhielten etwa drei Pfund pro Auftritt.307 Trotzdem war man bei MCA vom Potential der Band überzeugt und bot 1982 den Plattenvertrag an – doch nicht, ohne bereits zu Beginn Vorbehalte gegenüber deren Management zu äußern und umgehend eine Pressemanagerin einzusetzen. Doch trotz dessen wurde das Momentum rund um die Band nicht ausgenutzt: Diamond Head stiegen 1982 in die Charts ein, besaßen einen Fanclub, waren live sehr präsent und – wenn es nach den Label-Konkurrenten der Tygers of Pan Tang ging – »the darlings of MCA.«308 Doch die Unprofessionalität und Ziellosigkeit hielt an: Das Management buchte viel zu große Spielstätten, wimmelte Bud Prager, den Manager von Foreigner, ab, der der Band eine Möglichkeit in den USA eröffnen wollte, konnte sich auch mit MCA America nicht auf die Konditionen für eine US-Tour einigen, interpretierte in mündliche Aussagen bei CBS zu viel hinein und versuchte letztlich auch, sich musikalisch einzumischen.309 Neueinsteigende Musiker waren unzufrieden und einer wurde nach einer Kritik am Management entlassen. Die Tour machte Verluste und das dritte Album war
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Vgl. Tatler, Am I evil?, S. 39, 41, 47, 48, 50, 59, 60, 61. Vgl. ebd., S. 43f. Vgl. ebd., S. 53f., 55, 58f., 65. Interview Robb Weir/Tom Noble, 19.52 Min.; Vgl. Tatler, Am I evil?, S. 78–90. Vgl. Tatler, Am I evil?, S. 68, 69, 71, 73f., 100, 127.
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nicht erfolgreich. Die Nichtverlängerung des Plattenvertrags mit MCA erfolgte aber erst, weil der Sänger und seine Familie nicht den Wechsel im Management ermöglichen wollten, den das Label verlangte. 1985 folgte dann sowohl die Vertragslosigkeit als auch der Bruch in der Management-Familie und in der Band.310 Die Band, mit großen Vorschusslorbeeren gestartet und mit dem nötigen musikalischen Potential ausgestattet, war trotz Major-Investitionen kommerziell heruntergewirtschaftet worden, weil sich die Musiker vertraglich an ein unfähiges Management gebunden hatten. Es ist für die Bedeutung eines Band-Managements bezeichnend, dass Metallica mit den Coverversionen von Diamond Head bekannt wurde und deren Drummer Lars Ulrich jahrelang Brian Tatler juristisch dabei unterstützte, die Songrechte und Tantiemen von Diamond Head Management zurückzugewinnen.311 Metallica waren 1984, damals noch beim Management von Megaforce, mit aggressiven Methoden von QPrime abgeworben worden – genau jene Firma, die Peter Mensch und Cliff Burnstein im Anschluss an Leber/Krebs Management gründeten und zu großem wirtschaftlichen Erfolg führten.312 Peter Mensch, genauso wie Rod Smallwood ein knallharter Geschäftsmann mit einer Vision für Metallica, und Lars Ulrich, genauso wie Steve Harris ein von vornherein erfolgsbesessener Hybrid aus einem Musiker und einem Geschäftsmann, bildeten den exakten Gegenpol zur Situation bei Diamond Head. Der Gründer von Music for Nations, Martin Hooker, ging sogar so weit, diese Differenz als generellen Unterschied zwischen den US-Bands und den englischen Bands zu verallgemeinern: But that’s also something that American bands have that English bands never have. Like Twisted Sister were unbelievably professional; so together and business-minded, but without selling-out on the musical front. Metallica were very much that way.313 Hooker übertrieb natürlich, denn mit Iron Maiden, Judas Priest, Def Leppard oder Black Sabbath fallen einige englische Metal-Bands auf, die es zu ähnlichem Mainstream-Erfolg gebracht haben. Doch gänzlich unrecht hatte er nicht, denn bei allen kamen drei Aspekte zusammen, von denen die meisten ihrer englischen Kollegen nur den ersten erfüllten: Eine Aufmerksamkeitsspitze auf dem »club circuit«, ein innovatives Management und der Durchbruch in den Vereinigten Staaten. Selbst Saxon, die in den USA erfolgreich tourten, blieb der Durchbruch verwehrt, weil sie – so Biff Byford – einen »lack of guidance«314 zu verkraften hatten. Ihnen fehlte, so der Sänger, eine Orientierungsfunktion durch ein Management, das sie nicht nur rechtlich und organisatorisch, sondern auch stilistisch in nachvollziehbarer Weise weiterentwickelte und dadurch hätte Wachstum und konstante Aufmerksamkeit generieren können.
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Vgl. ebd., S. 122, 126, 131, 132. Vgl. ebd., S. 142, 149, 161 u.a. Vgl. Zazula, Heavy Tales, S. 185–188. Vgl. Wall, Enter Night, S. 197. Vgl. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 153.
8. Fazit und Ausblick
Einleitend wurde die Frage gestellt, ob und (wenn ja) wieso ein Lebensstil wie die MetalKultur während der 1980er Jahre an die Stelle ehemalig-dominanter Vergemeinschaftungsund Sinnbildungsangebote treten konnte. Woraus resultierte die sozialgeschichtliche Bedeutung dieser musikbezogenen Gemeinschaften, die sich seit dieser Dekade beinahe über den gesamten Globus ausbreiteten und in denen – zumindest aus Sicht ihrer Träger – galt und gilt »Heavy Metal Is Religion«? Von welchen Aspekten des gesellschaftlichen Wandels profitierten die Szenen dabei und wo waren sie selbst »der Wandel«? Die Ergebnisse können dazu abschließend in vier Punkten gebündelt werden.
8.1 Konkrete und abstrakte Zugehörigkeiten, Individualisierung und Vergemeinschaftung Abseits ihrer musikalischen Extreme und Qualitäten lag die hervorstechendste Errungenschaft der Metal-Kultur in einer – für die 1980er Jahre – beispiellosen kommunikativen Verdichtung von Fans. Stets an der Grenze des technisch Machbaren knüpften Gleichgesinnte der unterschiedlichsten Sprachen, Kulturen und Nationen ein immer dichteres interregionales Netz. In dessen Zentrum standen (miteinander verbunden) das Tape Trading-Netzwerk, die Fanzines, die kommerziellen Magazine sowie die Indie Labels. Sie ermöglichten den globalen Informations-und Erfahrungsaustausch, sie machten die Musik und die Musiker, die Regeln und die Konventionen, die Praktiken und Ästhetiken bekannt und bildeten die Grundlage dafür, dass sich Personen, die sich nie begegnet waren, zu ein und derselben »Subkultur« zugehörig fühlen konnten. Die Intensität dieser globalen virtuellen Kommunikationsnetze war – besonders aus Sicht einer mittlerweile als selbstverständlich anmutenden Digitalisierung – bemerkenswert. Gleichzeitig blieben Vergemeinschaftungen von Metal-Fans dennoch stets auch eine nicht-virtuelle Angelegenheit des direkten räumlichen Kontakts und erweiterten die abstrakte Zugehörigkeit zu einer überwölbenden »Welt-Szene« durch ganz konkrete soziale Beziehungen und Handlungsmuster vor Ort. Beide Ebenen waren dabei gleich wichtig und funktionierten interdependent. »Glokalität« bedeutete, dass man erst durch das Wissen um die Aufbrüche und Neuerungen anderswo genau herausfinden
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und dann herausstellen konnte, was das spezifisch Besondere an der eigenen Szene war, und wodurch man in die interregionalen Beziehungen zurückwirkte. Es handelte sich dabei um eine auch kommerziell entscheidende Verflechtung, aus deren Wissen und Instrumentalisierung neue Nischen in Sound, Ästhetik und Praktiken entstehen konnten. Zu der hochattraktiven internationalen Vernetzung, die bei fast allen Beteiligten große Euphorie bis hin zu Suchtzuständen hervorrief, kam also ein permanenter sinnstiftender Regionalbezug. Musiker aus dem Nordosten der USA berichteten »we had pride in our region and wanted to see the whole region succeed«1 oder freuten sich über einen distinkten Sound, der ihre Region von anderen Gegenden und Szenen absetzte.2 In anderen Szenen begrüßte man, dass es »einer der unseren in die Welt geschafft« habe3 oder der eigene Erfolg wurde etwa in Birmingham auf einen »fierce sense of independence«4 gegenüber der empfundenen Mainstream-Medien-Hauptstadt zurückgeführt. Durchstartende Bands wurden hier schon einmal als »Brummie Success«5 tituliert und für eine Regionalidentität vereinnahmt, während die weniger metal-begeisterten Kritiker solcher Strategien feststellten »We want to show people that Birmingham is not just about British Leyland, strikes, unemployment and heavy metal music.«6 Als Metalhead verfügte man also über eine Gemeinschaft daheim, über Freunde, über Infrastrukturen, über Traditionen und über regionale Besonderheiten, die alltäglich live erfahrbar waren – konnte sich aber gleichzeitig wie ein Weltbürger fühlen und zu einer »Bewegung« zählen, die den engen Kreis der eigenen Szene weit überschritt und subkulturelle Authentizität globalisierte: Man fühlte sich zu Hause schon anders als der übergroße Rest der Gesellschaft und lebte in dem Wissen, dass es den Fans anderswo nicht anders ging – ein starkes ideologisches Band, das die kommunikative Verdichtung dieser Dekade über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg mit erklärt. Es war dadurch überdies möglich, die sehr verschiedenen räumlichen, sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Herausforderungen der Metalheads, die diese in ihren regionalen Szenen verhandelten, durch ein einendes globales Narrativ zu überspannen, das jedoch anders als die Handlungszwänge vor Ort ein eher abstraktes Verständnis davon kreierte, was einen guten Metalhead ausmachte. Den wenigen »Säulen« dieser Kultur, die aus musikalischen Heiligen, einem down-to-earth-Kleidungsstil, den langen Haaren und einer gewissen fuck-you-Attitüde bestanden, standen die vielen massiven Unterschiede zwischen den Erfahrungswelten von Musikern und Fans gegenüber, denen
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Interview Chris Pervelis, Z. 75f. Vgl. etwa Ross Dolan in: Stöver, Voices from the Darkside 1 (1992), in: ders. (Hg.), Voices, S. 59: »Most of all they [Incantation, M.S.] have achieved a sound quite different from most other bands, which really kind of sets the whole NY/NJ scene apart from all others.« C.J. Sciosica (Insaniac), in: Forbes, Insaniac, in: Metalcore Fanzine: »We were all huge OVERKILL fans, and we felt proud that one of our own was able to move up in the world.« Miranda Yardley, Dawn of War. Bolt Thrower and the birth of British death metal, Interview with Karl Sanders, 6.5.2010, in: Terrorizer Online, URL: https://www.terrorizer.com/news/backgr ound/interview-dawn-of-war-bolt-thrower-and-the-birth-of-british-death-metal/ (letzter Aufruf 20.09.2022). So über Diamond Head, in: The Mercury, 12.11.1982, S. 46. Geoff Brown, A realist among the new romantics, in: The Mercury, 24.04.1981, S. 16.
8. Fazit und Ausblick
diese an der Home Front begegneten. Die Anpassungsfähigkeit der Metal-Kultur an die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, ohne dass es zu einer narrativen Aufsplittung des Metals gekommen wäre, kann daher zu großen Teilen auf diese besonderen glokalen Identitäten zurückgeführt werden. Der Bewegungscharakter blieb aus Sicht der Fans erhalten, während sich darunter eine enorme Vielfalt musikalischer und sozialer Phänomene entwickeln konnte. Die Metal-Kultur bildete daher in den »langen 1980er Jahren« eine globale Community mit starken lokalen Fundamenten, sie schuf konkrete wie abstrakte soziale Orientierung und reduzierte die Komplexität eines sich rapide wandelnden gesellschaftlichen Umfelds, indem man das klassengesellschaftliche »Us and Them« positiv umcodierte und die Eingeweihten vom »Mainstream« trennte. Sie ermöglichte dadurch konsequente Individualisierung und befriedigte das Bedürfnis nach einem gemeinschaftlichen Bezug. Doch blieb das Verhältnis dieser beiden widersprüchlichen Triebkräfte stets problematisch, denn das Streben nach Aufmerksamkeit und Distinktion wirkte nicht nur zwischen »Subkultur« und »Mainstream«, sondern auch innerhalb der subkulturellen Vergemeinschaftung. Vor allem die beiden wichtigsten sozialen Formationen der Metal-Kultur, die Band und die Szene, bildeten dabei soziale Arenen, in denen die konträren Impulse aufeinandertrafen und wo es (begründet durch kommerzielle Motive) zu einer Konkurrenz kam, die es mit dem »brotherhood«-Gedanken kontinuierlich neu zu vereinbaren galt. »Gemeinsam anders zu sein« gestaltete sich daher auch nur selten harmonisch, sondern war von einer lebensweltlichen Brisanz zwischen Akteuren und Akteursgruppen geprägt, die eine gemeinsame Leidenschaft verband, aber vieles eben auch trennen konnte. Die in vielen Studien verwundert attestierte Parallelität von »uniformity« und »difference«7 , das »dialektische Einpendeln zwischen Uniformierung und neuer Individualität«8 oder die Frage »How can individuality and community be simultaneously celebrated?«9 finden daher auch einen spannenden Untersuchungsgegenstand in der Metal-Kultur, die zeigen kann, wie sich der distinkte Konsum und die sozialen Grundbedürfnisse seit den 1970er Jahren in spannungsreichem Miteinander organisieren ließen. Dass dieser Spagat in der Metal-Kultur so erfolgreich und langfristig gelang, hatte viel mit ihrem stark musikbezogenen Fokus zu tun. Das Beispiel der Beziehungen zum Punk hat dabei gezeigt, dass sich auf dieser Grundlage auch hohe soziale und kulturelle Hürden überwinden ließen. Die musikalische Inklusion, mit der in diesem Fall auch ein Crossover der jeweiligen Praktiken und Inhalte von Punks und Metalheads verbunden war, hielt das Genre »frisch« und attraktiv und führte auch nachkommende Alterskohorten an die Metal-Szenen heran. Allerdings war der Ansatz des »Music First« ein zweischneidiges Schwert, das nicht nur musikalisch, sondern auch politisch inkludierte. Anders als bei den Punks war »Politik« im Metal nicht obligatorisch, sondern fakultativ,
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Keith Kahn-Harris, ›Coming Out‹. Realizing the possibilities of metal, in: Heesch/Scott (Hg.), Heavy metal, gender and sexuality, S. 26–38, hier S. 26. Wirsching, Konsum statt Arbeit, S. 199. Varas-Díaz/Scott, Heavy Metal Music and the Communal Experience. An Introduction, in: dies. (Hg.), Heavy Metal Music and the Communal Experience, S. vii-xiii, hier S. viii.
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was nur allzu leicht im Sinne eines »Nichts muss, alles darf« verstanden werden konnte. Spätestens mit den norwegischen Black Metal-Musikern in den frühen 1990er Jahren verstärkte sich diese vermeintliche Indifferenz zu einer offenen Flanke.10 Zwar spannten diese Musiker politische Aussagen in den meisten Fällen noch recht durchschaubar für eine musikalische Abgrenzung ein, wechselten »Bekenntnisse« zügig und distanzierten sich bei allzu gefährlichen medialen Reaktionen, doch war mit der dahinterstehenden Handlungslogik die Saat bereits gesät. Aussagen wie jene vom Mayhem-Mitgründer Aarseth, der in einem Brief mit dem Leipziger Abo Alsleben schrieb »If a band is really good, I will not mind if they are nazis, christians or vegetarians, even if I think all that is shit. It’s the music which counts«11 , ließen einen Spielraum, den weniger Musikbezogene später mit der Konstruktion rassistischer, antisemitischer und nationaler Ideen füllten.12 Black Metal und in geringerem Maße auch andere Sub-Genre wurden auf diese Weise zunehmend politisch instrumentalisiert,13 was eine bis in die Gegenwart reichende Debatte anstieß: Regelmäßig wird in Leserbriefen, in Foren und zwischen den Fans und Journalisten diskutiert, wie mit dem extremistischen Potential umzugehen sei. Es bestehen dabei zwei Extrempositionen: Einerseits wird eine Musikkultur frei jeder, verpönter Politik gefordert, mit der Toleranz und Kunstfreiheit aber auch eben jene politische Instrumentalisierung erkauft. Andererseits wird eine strikte mediale und kommerzielle Verbannung favorisiert. Die Leitmedien der Szene tendieren zu einem Mittelweg, der pädagogisch argumentiert, die Musiker konfrontiert und persönlich überprüft und bei den zahlreichen Grautönen eher dazu neigt, die fragwürdige Bands in die Berichterstattung einzubeziehen, um sie nicht noch weiter abdriften zu lassen.14
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Vgl. Keith Kahn-Harris, The ›failure‹ of youth culture, S. 104–109. Abo Alsleben, Mayhem live in Leipzig, S. 143 (das Zitat stammt aus dem neunten Brief Aarseths an Alsleben). Zu diesen Konstruktionen vgl. John O’Flynn, National Identity and Music in Transition. Issues of Authenticity in a Global Setting, in: Biddle/Knights (Hg.), Music, national identity and the politics of location, S. 19–38, hier S. 36. Vgl. Benjamin Hedge Olson, Voice of our blood. National Socialist discourses in black metal, in: Hjelm/Kahn-Harris (Hg.), Heavy Metal. Controversies and countercultures, S. 136–151; Vgl. ders., Burzum shirts, paramilitarism and National Socialist Black Metal in the twenty-first century, in: Metal Music Studies 7 (2021) 1, S. 27–42. So etwa bei Götz Kühnemund, der den Boykott der Band Darkthrone im Jahr 1994 (damals als Chefredakteur des Rock Hard) nicht noch einmal in dieser Form vollziehen würde und mittlerweile lieber das Gespräch mit den Musikern sucht: »Ich sehe die Sache heute etwas differenzierter als damals. Wir hatten in der Redaktion zusammen beschlossen, das nicht zu supporten – aus politischen Gründen auch dagegen zu sein. Aus heutiger Sicht finde ich, man hätte ein bisschen differenzierter damit umgehen müssen. Man hätte manche Leute einfach mal persönlich kennenlernen müssen. Über das Telefon ist auch immer so eine Sache. Wer weiß, ob Frank auch alles richtig übersetzt hat. Dafür würde ich auch nicht die Hand für ins Feuer legen. Das wäre sicherlich was anderes gewesen, wenn man gemeinsam an einem Tisch gesessen hätte, so wie das dann später bei Watain der Fall war. Wir waren auch nicht von Anfang an Freunde, aber wir haben uns dann getroffen und haben darüber diskutiert und dann war die Sache in Ordnung.« Interview Götz Kühnemund, 14.02-14.46 Min. (zweiter Teil).
8. Fazit und Ausblick
8.2 Ein neuer »Markt der Möglichkeiten« – Heavy Metal als DIY und Erwerbsarbeit Die Do-It-Yourself-Mentalität erfuhr mit der Punk-Bewegung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine starke Aufwertung und prägte seit der NWOBHM jede Metal-Szene der »langen 1980er Jahre« nachhaltig. Die Praktiken des Selbermachens durchzogen vor allem in den Sub-Genres des Extreme Metals jede Band, jeden Fan und jede Szene. Die selbständige Produktion, Herstellung und der Vertrieb der Musik, die selbstorganisierten Konzerte und Tourneen, die selbstgemachten Shirts, Flyer und Plakate, die erfinderische Bereitstellung der Technik, das Fanzine, der Fanclub, der Newsletter, kleine Label oder die Distro-Listen: Auf beinahe jeder Ebene des »musicking« prägten Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Eigenfinanzierung die Praktiken der Akteure. Seit dem »Aufstand der Amateure«, der die gewerbsmäßige Performance der Bands in der Club-Struktur Englands von den gängigen Cover-Versionen entkoppelte und die NWOBHM einläutete, verlor das DIY seinen sporadischen und unterstützenden Charakter und entwickelte sich während der 1980er Jahre zum gängigen Mittel, lokale musikalische Aufbrüche bekannt zu machen. Dabei stieg das kommerzielle Potential dieser innovativen Herangehensweise immer weiter: Aus Fanzines kristallisierten sich Metal-Magazine heraus, aus Tauschbörsen gingen Handelsunternehmen hervor, aus kleinen Indie Labels zur Unterstützung der eigenen Freunde entwickelten sich professionelle Plattenfirmen und aus »traditionellen« beruflichen Laufbahnen wurden Bastelbiografien an der Schnittstelle von musikalischer und nicht-musikalischer Erwerbsarbeit – oder in sehr wenigen Fällen lebenslange Vollzeitkarrieren. Der Wunsch der meisten Akteure, nicht den etablierten beruflichen Zukünften der Arbeit, wie sie von ihren Eltern favorisiert wurden, zu entsprechen und stattdessen die musikalische Leidenschaft zum Beruf zu machen, spornte dabei länderunabhängig immer neue Alterskohorten von Metal-Musikern und -Fans an, aus den klassischen Erwerbsbiografien auszubrechen. Obgleich jene Akteure, die es innerhalb des sich ausbildenden Erwerbsfeldes der Metal-Kultur schafften, eine lebenslange Arbeitsbiografie zu organisieren, heute wahrscheinlich zurecht Emanzipationsgeschichten erzählen, handelte es sich dabei um Ausnahmen. Viele der jungen Indie-und Magazin-Gründer, Musiker und Distributoren waren zunächst tatsächlich ein Teil dessen, was Richard Florida die »Creative Class« oder Andreas Reckwitz die »neue Mittelklasse« nannten – nicht per se wohlhabend, aber medial auf dem neuesten Stand, gut ausgebildet, sprachen-und kulturübergreifend beweglich, mit kulturellem Kapital und mit der Fähigkeit ausgestattet, unternehmerische Nischen zu erkennen und zu besetzen. Sie waren anders als viele Szene-Erzählungen nahelegen nicht die Verlierer des Wandels, sondern seine temporären Gewinner. Bruchlose Aufstiegserfahrungen erlebten dennoch nur die wenigsten von ihnen. Viel eher gehörten Kurzfristigkeit, Unsicherheit, Selbst-und Fremdausbeutung, überlange Arbeitszeiten und fehlende Mitspracherechte zu dieser neuen Form eines deregulierten Arbeitsmarktes, in dem sehr wenige sehr viele Akteure effektiv kontrollierten. Hinzu kam ein enormes Frustrationspotential, dessen Quellen-Dunkelziffer erheblich sein dürfte: Die vermeintlich freiheitlichen DIY-Initiativen im Underground schafften es entweder gar nicht, in finanziell auskömmliche Erwerbswege überführt zu werden oder sie brachen sich relativ schnell an den Zwängen des Geschäfts mit produzierter Mu-
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sik und Live-Musik. Viele Musiker begegneten dieser »Ökonomisierung der [Sub]Kultur«15 mit Resilienz und erkauften die Nachteile mit den lebensstilistischen Vorteilen. Andere beuteten sich selbst nicht so lange aus, resignierten und verfolgten kurz-und mittelfristig wieder »traditionelle« Erwerbswege. Der größte Teil der heute aktiven Musiker tat beides und man vereinbarte die sporadischen Einkünfte aus musikalischer Erwerbsarbeit mit Jobs, denen zwischen den Tourneen nachgegangen werden konnte. Bei kaum einem anderen Aspekt wird daher auch der Übergangscharakter der 1980er Jahre so deutlich: Die Akteure scherten aus den Biografien der industriellen Moderne aus und schufen mit kreativem Engagement selbständig neue Arbeits-und Einkommensmöglichkeiten. Dennoch blieben sie zunächst von der finanziellen Unterstützung ihrer Elternhäuser abhängig, die nicht selten zu den Aufsteigern der »Boom«-Jahre gehört hatten, und kehrten dann mittelfristig auch in deren Arbeitsnormalität zurück, während ein Einkommen durch Musik jedoch meistens Teil ihres Lebens blieb. Das Erwerbsfeld der Metal-Kultur, das heute vor allem durch die Metal-Festivals, einige kommerzielle Erfolge und das Merchandise voll ausgeprägt ist und vielen Fans einen Vollzeit-Erwerb ermöglicht, war während der 1980er Jahre erst im Entstehen begriffen und wies Elemente des »Alten« und des »Neuen« auf. Entstandardisierte Bastelbiografien kreativer Arbeit trafen auf »Rückwege« in sicherere Berufe, während sich dazwischen die unterschiedlichsten Mischungsverhältnisse ausprägten.
8.3 Das Ende der Jugendkultur – Erinnerung, Selbsttechnik und Kulturtourismus An vielen Stellen dieses Buches wurde deutlich, dass die »Vergangenheit« als Verhandlungsgegenstand in der Metal-Kultur eine besonders wichtige Rolle einnimmt. Ob als Verehrung der Helden der Jugend, als andauernde Respektbekundung gegenüber den stilprägenden Bands, als Festhalten am Vinyl, als Traditionalismus beim Schreiben der Musik, in den Verhaltensweisen bei Konzerten, den Kleidungsstilen oder bei der Skepsis gegenüber vermeintlicher Mainstream-Anbiederung: Trotz rapider gesellschaftlicher Veränderungen halten die Metalheads loyal an ihren Traditionen und Geschmäckern fest. Sie schufen dadurch seit den späten 1970er Jahren ein wirkmächtiges Narrativ der Kontinuität, einen gemeinsamen Erzählfaden, in dessen Zentrum eine beständige Identifikation mit Heavy Metal steht. Die Liebe zur Musik wird dabei als etwas Lebenslanges kommuniziert – eine bruchlose Weiterschreibung einer persönlichen Beziehung mit dem Genre und seinen Konventionen, Ästhetiken und Klängen. Brian Tatler, heute über 60 Jahre alt, brachte diese Treue prototypisch auf den Punkt: »And itʼs loyal; itʼs fantastically loyal. When you get into rock or metal, it never seems to leave you. I’ve never moved away from it.«16
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Martina Heßler/Clemens Zimmermann, Introduction. Creative Urban Milieus – Historical Perspectives on Culture, Economy, and the city, in: Martina Heßler (Hg.), Creative Urban Milieus. Historical perspectives on culture, economy, and the city, Frankfurt a.M. 2008, S. 11–38, hier S. 15. Popoff, Wheels of Steel, S. 221.
8. Fazit und Ausblick
Möglich (und nötig) wurde dieses Treuebündnis, weil Heavy Metal seit den 1980er Jahren Stück für Stück seinen jugendkulturellen Status verlor. Trotz des Gewinns immer neuer Jugendlicher in den dynamischen Szenen des Jahrzehnts hielten viele der älter werdenden Fans an ihrem Geschmack fest. Sozial betrachtet alterte Heavy Metal also und erforderte zusehends die Herausbildung persönlicher Erzählungen, die die Vergangenheit mit der sich wandelnden Gegenwart verbinden konnten. Historisch handelte es sich dabei um einen sehr gewichtigen Übergang, dessen Aussagekraft für den diagnostizierten Bruch im Fortschrittsverständnis seit den 1970er Jahren von der Forschung noch nicht ausreichend gewürdigt wurde. So zeigte der Unterschied zu den Jugendkulturen der 1950er und 1960er Jahre, deren Akteure mit dem Eintritt ins Familien-und Berufsleben meist ein neues Lebenskapitel aufschlugen und den Distinktionsreflex hinter sich ließen, eine langfristige Verschiebung im historischen Zukunftsdenken an: Der transitorische Charakter der Jugendkulturen ging nicht mehr in die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« oder ähnliche Denkfiguren anderer Nationen über, sondern blieb an den Erwachsenen immer häufiger haften – etwas, das nur auf den ersten Blick damit zu tun hatte, das Heavy Metal einfach geile Musik war. Vielmehr verweist dieser Wandel auf die tieferliegenden sozialen Kontinuitäts-und Orientierungsbedürfnisse der Fans, die abseits ihrer Szenen immer weniger befriedigt werden konnten. Heavy Metal wurde also, anders als etwa die Teds oder Mods zuvor, zu einem kontinuierlichen Erinnerungsprojekt seiner Fans und Musiker. Nachkommende Fans erlernten dabei bezeichnenderweise die Konventionen, Regeln und Sounds der Vergangenheit als »Geschichte« ihrer Szene und die mediale Zugkraft der Magazine oder Indie Labels, deren Verantwortliche überwiegend in den »langen 1980er Jahren« zu Fans wurden, bestimmten einen permanenten Rekurs-Diskurs über eine glorifizierte Vergangenheit.17 Beginnend in den frühen 1980er Jahren und dann beschleunigt seit Mitte der 1990er Jahre entwickelten sie einen Kult des Herkommens, der aus der Erkenntnis eines Endes der musikalischen Transgression eine Geschichtspolitik entwarf, die bei kaum einem anderen Genre so ausgeprägt ist wie bei Heavy Metal.18 Die Nostalgie ist dabei ein ständiger Begleiter und konstruiert eine soziale Heavy Metal-Geschichte entlang einer homogenisierten Erfahrung, die ähnlich funktioniert wie die Verklärung ehemaliger Industrieregionen:19 Eine Zusammengehörigkeit wird erst durch die Erinnerung konstruiert, während die empirische Analyse viele trennende Elemente entlang klassen-, geschlechter-oder ethnienspezifischer Fragestellungen erkennt. Dies heißt freilich nicht, dass die starken sozialen Gemeinschaftsgefühle während der »langen 1980er Jahre« nicht existierten – sie waren aber nicht so dominant wie sie heute herausgestellt werden und entspringen den Perspektiven jener, die es im kommerziellen Wettbewerb geschafft haben. Auch resultierte die Attraktivität der Metal-Community
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Vgl. Julia Sneeringer, Socially Engaging with Music. Pleasure, Distinction, and Identity, in: Nathaus/Rempe (Hg.), Musicking in Twentieth-Century Europe, S. 236–256, hier S. 250. Vgl. Christe, Sound of the Beast, S. 320f. Dort heißt es »Forced to recognize their own value in the wake of media blackout, metallers developed a real nostalgia for battles won. Fans and musicians who for so long had been focused on the next big thing, looked back and discovered that an admirable number of metal records stood the test of time.« Vgl. Stefan Berger, Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie, S. 98.
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bereits vor 40 Jahren nicht per se aus der Tiefe ihrer sozialen Beziehung, sondern aus der Fähigkeit der Fans, diese Tiefe ästhetisch zu kreieren, also zu imaginieren20 – ein heute vor allem auf Festivals zu beobachtendes Phänomen, wenn tausende Unbekannte aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen eine Gemeinsamkeit zelebrieren, die ansonsten keine lebensweltliche Basis hat.
Abb. 56: Plakatwerbung des städtischen ÖPNV-Unternehmens in Birmingham (2020) mit den »local heroes« von Black Sabbath.
Foto: Autor
Die Vergangenheit »des« Heavy Metals ist demnach auch keine Angelegenheit von Fakten und Wahrheiten, sondern eine Konstruktion, die in der Gegenwart kontinuierlich reproduziert und verändert wird. Vor allem seit den 2000er Jahren widmet sich das »heritage marketing« einiger Städte und Regionen der kulturellen Erinnerung (»cultural memory«) an die Metal-Bands und -Szenen der »langen 1980er Jahre« und versucht, diese als regionale Identitätsanker und Tourismusmagneten einzuspannen.21 Meist urbane Räume werden dadurch zu »memoryscapes«, in denen Bilder, Texte, Objekte und Musik eine nützliche Vergangenheit erzählen. Einige herausragende Beispiele für diese Erscheinung betreffen die Stadt Birmingham mit ihrer »Home of Metal«-Initiative, die Bay Area of San Francisco im Zuge der Thrash Metal-Erinnerung, das Ruhrgebiet, wo sogar Metal-Musiker als Botschafter der Kulturhauptstadt Essen (2010) auftraten oder die Stadt Oslo, in der Touristentouren auf den Spuren der Black Metal-Szene angeboten werden. Auf diese Weise publik gemacht und aufgewertet, hat das Erbe der Metal-Szenen seinen subkulturellen Charakter weit hinter sich gelassen. Gegenwärtige Stadträume werden zu »maps of mattering« stilisiert und stellen Versatzstücke für eine kollektive
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Vgl. Tony Blackshaw, Working-Class Life in Northern England, 1945–2010, S. 220f.: »Thus, the power of this ›community‹ arises not from the depth of its social relation, but from the ability of its adherents to imagine and create it aesthetically.« Vgl. Rogers/Bennett, Popular Music Scenes and Cultural Memory, London 2016, S. 37–57, hier S. 37f.
8. Fazit und Ausblick
Erinnerung ganzer Regionen zur Verfügung,22 die die positiv konnotierten Erzählfäden aufnimmt und Querliegendes begradigt.
Abb. 57: Regionale Identitätssuche und die MetalSzene: »Kumpels in Kutten«.
URL: https://www.vonneruhr.de/kumpels_in_kutten.ht ml. Mit freundlicher Erlaubnis von Werner Boschmann.
Erinnerungskulturelle Ansätze sind daher auch besonders geeignet, den bemerkenswerten Wandel zu verdeutlichen, den die Metal-Musik und die Metal-Musiker seit den späten 1970er Jahren durchlaufen haben: Sie stammten zum größten Teil aus sogenannten »Stigma Cities«23 und sind an Regionen gebunden, denen durch den Strukturwandel kulturelle Identitätsanker zunehmend verloren gingen. In einem langsamen Prozess, der sich von Region zu Region unterschied, boten sich Metal-Bands und Metal-Szenen
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Für eine solche Verknüpfung von »fandom« mit Raum und Erinnerungskultur vgl. Lawrence Grossberg, Is there a Fan in the House? The Affective Sensibility of Fandom, in: Lisa A. Lewis (Hg.), Fan culture and popular media, London 1992, S. 50–65. Vgl. Jonathan Foster, Stigma Cities. The Reputation and History of Birmingham, San Francisco, and Las Vegas, Norman (Oklahoma) 2018.
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an, dieses Vakuum zu füllen und als Zugpferde regionaler Sinnstiftung werbend wirksam zu werden. Teilweise geschah dies sogar gegen ihren ausdrücklichen Willen: So war es das erklärte Ziel des Regisseurs der Dokumentation »Thrash, Altenessen« (Thomas Schadt), den Identitätswechsel des Ruhrgebiets am Ende der 1980er Jahre mit der MetalBand Kreator zu verbinden: Dass die ursprüngliche Bedeutung des Ruhrgebiets, die Zechen, die Kohle, keine Rolle mehr spielt, das war damals klar. Und dass die Umformung eines Ballungsgebietes eine schwere Aufgabe ist. Auch was es heißt, den Leuten dort eine Identität zu geben. Es gab die Zechenrentner ja noch. Es ging um einen kompletten Identitätswechsel. Solche Erscheinungen wie Kreator helfen in bestimmten Kreisen ungemein eine neue Identität auszubilden. Das hielt ich damals schon für das Spannende.24 Der Sänger und Bandkopf Mille Petrozza war mit diesem Anliegen hingegen überhaupt nicht einverstanden und wollte sich – anders als 20 Jahre später im Rahmen der Kulturhauptstadt Essen – nicht für ein solches Erinnerungsprojekt einspannen lassen: Wir wollten uns davon abgrenzen. Er hat aber einen Bezug hergestellt, uns da wieder reingezogen. Wir waren ja anti, wir wollten nicht so sein und nicht so werden. Im Film wirkt es wie: Kuck mal, das wird die Zukunft sein.25 Es könnten sich gerade in dieser nachträglichen Verhandlung von Metal-Szenen viele spannende Ansätze für die zukünftige Forschung bieten. Denn anscheinend brauchte das Ruhrgebiet, ähnlich wie sein englischer Verwandter, das Black Country, eine solche Identitätskonstruktion dringender als andere Regionen. Erst 22 Jahre nach »Thrash, Altenessen« fragte der San Francisco Chronicle, warum die Thrash Metal-Szene der Bay Area nicht stärker mit der öffentlichen Wahrnehmung der Region verbunden sei – in anderen Städten, und hier nahm man direkt Bezug zu Birminghams Kampagne des »Home of Metal«, wären die musikalischen Errungenschaften mittlerweile ein fester Bestandteil des »cultural memory«.26 Wenige Jahre später jedoch und im Zuge des Buchs und Films »Murder in the Front Row« rückte auch die Metal-Szene der San Francisco Bay Area in den Kreis der würdigen Repräsentanten ihrer Region auf. Es reicht also für eine touristische und erinnerungskulturelle Vermarktung nicht aus, dass der neuerlich enttabuisierte Metal vor Ort schon immer attraktiv gewesen war27 – es bedarf des Handelns medial aktiver Eliten, die sich gegen alternative Erinnerungskonzepte durchsetzen.28 Bei diesen Eliten handelt es sich im Falle der Metal24 25 26
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Bender, Violent Evolution, S. 75f. Ebd., S. 74. Vgl. David Wagner, Fans, bands tout Bay Area’s thrash metal legacy, in: The San Francisco Chronicle, 11.12.2011, URL: https://www.sfgate.com/bayarea/article/Fans-bands-tout-Bay-Area-s-thrash -metal-legacy-2393272.php (letzter Aufruf 20.09.2022). Vgl. Foster, Stigma Cities, S. 5. Vgl. Bottá, Deindustrialisation and popular music, S. 305; Dies korrespondiert auch mit neuerlichen Plädoyers, die Elitenforschung um Gruppen außerhalb der »rich and wealthy« zu erweitern. Vgl. Johan Heilbron u.a., Introduction, in: Olaf Korsnes/Mike Savage/Johan Heilbron (Hg.), New directions in elite studies, London/New York 2019, S. 1–28, hier S. 13f.
8. Fazit und Ausblick
Kultur, wie bei anderen Projekten des kulturellen Erbes auch, häufig um Aufsteiger aus der Arbeiterklasse,29 die durch ihre Konstruktion von Erinnerungsregimen ganz entscheidend zum Wandel regionaler Denkfiguren beitragen.30
Abb. 58: Werbeplakat für den Szene-Report als regionalem Image-Film: »Murder in the Front Row.« Die Geschichte des Bay Area Thrash Metals.31
URL: https://www.facebook.com/MITFR/photos/a.370381119663338/400937506909 7240/?type=3&theater (letzter Aufruf 23.09.2022).
Im Anschluss an die Ergebnisse dieses Buchs zum Wandel der Klassenverhandlung im Metal und der Veränderung seiner sozioökonomischen Basis überrascht eine solche Entwicklung nicht. Populäre Musik findet durch die kommerzielle regionale Zugkraft dieser Akteure ihren Ausdruck in Repräsentationen (Museen, Filme, Merchandise usw.) und dem »Branding« von Städten und setzt sich gegen andere Sinnstiftungsangebote der Vergangenheit durch. Sie verdrängt diese aber nicht gleichmäßig und auch wahrscheinlich nie völlig. Es bestehen massive Unterschiede etwa zwischen dem Nordosten Englands, wo die Image-Kampagnen im Zuge der Deindustrialisierung bisher keinen Bezug
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Vgl. Peter Mandler, The Heritage Panic of the 1970s and 1980s in Great Britain, in: Peter Itzen/ Christian Müller (Hg.), The invention of industrial pasts. Heritage, political culture and economic debates in Great Britain and Germany, 1850–2010, Augsburg 2013, S. 58–69, hier S. 61f. Vgl. Berger, Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie. Dabei vor allem das »agonale Erinnerungsregime.« Bezeichnenderweise hing dieses Plakat nicht im gentrifizierten Teil der Region, sondern in West Oakland, einem Stadtteil einer auch insgesamt arg gebeutelten Stadt mit »Identitätsdefizit« (hier San Pablo Ave. and 34th Street, West Oakland, California (Dezember 2020). Foto: Raymond Ahner).
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auf das musikalische Erbe dieser Region und besonders der Stadt Newcastle nahmen,32 und beispielsweise dem Ruhrgebiet, wo man zur selben Zeit wie in Birmingham etwas Wichtiges erkannte: Bei der Suche nach einer kulturellen Identität, die zwischen der industriellen Tradition und der Lebenswirklichkeit im Strukturwandel vermitteln muss,33 drängt sich ein Phänomen wie Heavy Metal mit seinem eingebauten Erinnerungsnarrativ geradezu auf, um eine »klassenübergreifende Erinnerungsgemeinschaft« (Klaus Tenfelde) zu generieren.34 Die einseitige Verklärung, mit der Heavy Metal in das kulturelle Gedächtnis von Regionen eingeht, findet ihre subkulturelle Entsprechung in Szene-Erzählungen der »brotherhood« und Emanzipation von den »harten Zeiten.« Nur in sehr wenigen Fällen werden diese Konstruktionen einer eindimensionalen Vergangenheit durch die Zeitzeugen selbst herausgefordert. So hielt Biff Byford in seiner Autobiografie lapidar fest »The thing about the ›good old days‹ is that they were actually shit, really«35 , während die Verklärung des Underground-Ethos für Brett Clarin (Apparition) darauf beruhe, dass hier Menschen nostalgisieren, die früher nicht dabei gewesen wären: »People are usually nostalgic for shit they didn’t actually live through.«36 Und auch Uffe Cederlund (Entombed) hält von der nachträglichen Romantisierung der schwedischen Death Metal-Szene wenig und kritisiert besonders den Gedanken, die musikalischen Qualitäten und die Brutalität hätten einen Erfolg vorherbestimmt: »Die Leute neigen dazu, die alten Death-Metal-Szene zu verklären. […] Daß es dann zu einer großen Bewegung wurde, war nur so eine Art ›Betriebsunfall‹, auch wenn dabei ein gewisses Talent im Spiel war.«37 Doch handelt es sich bei diesen Aussagen um eine klare Minderheit, der eine riesige Menge von Äußerungen gegenübersteht, in denen die »langen 1980er Jahre« als Phase des echten Undergrounds betrachtet werden, der dann durch die Kommerzialisierung und Digitalisierung der Musik verwässert, entmystifiziert oder endgültig zerstört wurde.38 Dieses Ende der Exklusivität verarbeiteten die Akteure jedoch auf unterschiedliche Weise: Während sich vor allem Death Metal-Musiker musikalisch weiter an den glorreichen Zeiten orientieren und beispielsweise einfache Bleistifte als »Retro Cassette Tape Calibrator« verkaufen (Abb. 63), besteht aus Sicht der meisten Akteure des Black MetalUndergrounds kein Zurück mehr. So war der Bruch im Fortschrittsdenken aus Sicht von beispielsweise Jon Kristiansen auch das Ende der »Essenz« des Undergrounds:
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Diese fehlende lebensweltliche Anschlussfähigkeit der Image-Kampagnen bemerkte bereits: Fred Robinson, Something old, Something new? The Great North in the 1990s, in: Philipp Garrahan/ Paul Stewart (Hg.), Urban change and renewal. The paradox of place, Aldershot 1994, S. 9–20. Vgl. etwa bei Mathias Bigge, Kulturpolitik im Ruhrgebiet, in: Rainer Bovermann (Hg.), Das Ruhrgebiet – ein starkes Stück Nordrhein-Westfalen, Essen 1996, S. 499–532, hier S. 503. Klaus Tenfelde, Neue Mitte, Neues Selbstbewusstsein, in: Gerd Willamowski/Dieter Nellen/ Manfred Bourré (Hg.), Ruhrstadt, die andere Metropole, Essen 2002, S. 16–20, hier S. 19. Byford, Saxon. Never Surrender, S. 10. Andreyuk, Tape Dealer, S. 107. Ekeroth, Schwedischer Death Metal, S. 147. Allein bei Netherton, Extremity Retained, S. 418–421, 424f., 427, 437, 438, 446f., 449f., 463 und viele mehr.
8. Fazit und Ausblick
We worked hard to create our metal world, and that’s a feeling that I don’t think can ever be re-created. It’s a thing of the past. Even if I ordered a demo cassette today from a guy in Brazil, and even if he sent it to me by mail the old-fashioned way, it would be wrong, like a nostalgia thing. I don’t believe in that; it doesn’t work. When you start looking back, you’ve lost the true essence of the driving force.39
Abb. 59: Nostalgisches Merchandise-Gimmick der Band Derketa.
Foto: Autor
Es handelt sich bei diesen imaginierenden und nostalgisierenden Perspektiven jedoch um Nichts, was man wissenschaftlich als rosarotes Scheuklappendenken disqualifizieren sollte. Die Imagination der Vergangenheit, die nahtlose Anschlüsse an die Gegenwart herstellt oder daraus Distinktion ableitet, in einer Phase aktiv gewesen zu sein, die nie wieder zurückkommt, bildet eine wichtige individuelle wie soziale Ressource im gesellschaftlichen Strukturwandel. Sie ist natürlich nicht mit den Ergebnissen historischer Forschung kompatibel, die Kontingenz, Konflikt und Brüche empirisch herausstellt, doch entsteht dadurch – wenn man sie selbst historisiert – gar kein Interessenkonflikt, sondern eine neue Chance über den gesellschaftlichen Strukturwandel nachzudenken. Und nicht zuletzt ist die Einrichtung einer großen Bevölkerungsgruppe in ihrer harmlosen Erinnerungs-Wohlfühlzone allemal wichtiger als die Einforderung strikter »Historical Correctness.« Der wissenschaftliche Fluch ist hier ein sozialer Segen. Die Nostalgisierung einzelner Metal-Szenen, -Alben oder -Bands eröffnet überdies zahlreiche Möglichkeiten für älter werdende Fans, individuell bedeutsame Momente zu generieren. Sie dient als »Selbsttechnik«40 der aktiven Gestaltung biografischer Wandlungsprozesse, sie stiftet Gruppen und regionalen Szenen eine Identität und sie fungiert als eine der weniger Handlungsoptionen der »Objekte« des Wandels, diesen mit den ei-
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Kristiansen, Slayer 1 (1985). Foreword, in: ders./Warrior (Hg.), Metalion, S. 31. Eine solche Konstruktion erzeugt auch Bård Eithun in Slayer 11 (1998), in: ebd., S. 336: »I use to say that I’m a part of the scene who existed up until ’93, not the one existing now. If it exists one now. I feel no need to be compared to the kids who are active today, it will serve no purpose.« Vgl. Tia DeNora, Music in Everyday Life, Cambridge 2010.
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genen Erfahrungen zu vereinbaren.41 Die Musiksoziologie stellt in diesem Fall einen erheblichen Erkenntnisgewinn für die Sozialgeschichte bereit: Überhöhter Musikkonsum ermöglicht »structures of feeling« durch aktive Rückbesinnung und einen »way of life«, der auch im Zuge seiner erodierenden Grundlagen immer noch realisierbar bleibt.42 Tia de Nora wies dementsprechend darauf hin, dass Musik nicht Gefühle ausdrücke, sondern als ein Mittel zur Gestaltung diffuser Wahrnehmungen diene, was sie für die Verknüpfung mit Erinnerungen und Manipulationen öffnet – man setzt also Musik aktiv ein, um sich so zu fühlen, wie man sich fühlen möchte.43 So bezeichnet Waldemar Sorychta sein musikalisches Schaffen als »Tagebuch«: Musik ist letztendlich ein Tagebuch, das du aber nicht mit Worten, sondern mit Tönen spielst. Und es gibt Songs, wenn ich sie mir anhöre, die sind schon 20, 25 Jahre alt, da hab ich manchmal sogar noch das Gefühl, ob es geregnet hat und was ich für Klamotten anhatte und ob das Winter oder Sommer war. Ich spür das in der Musik und ich spür sofort das Ereignis, das mich dazu gebracht hat, jetzt diesen Song zu machen.44 Wenn Musiker wie Jörn Thullberg (Tiamat) heute immer noch dieselben Alben hören wie 1990 und sich als »konservativ« bezeichnen,45 wenn die älteren Konzertbesucher in den Moshpit gehen, um zu einer »idealized version of the scene as many of them remembered it from when they were younger«46 zurückzukehren oder wenn Mitch Harris (Napalm Death) die anhaltende Bedeutung des Albums »Harmony Corruption« auf »an association with a memory«47 zurückführt, zeigen sie deutlich, dass Musikkonsum als »Technologie des Selbst« aktiv dazu eingesetzt wird, vergangene Punkte der Biografie wieder zu »besuchen.« Auf diese Weise kann an die »peak music experiences«48 und die »galvanizing musical moments«49 erinnert und ein beliebiges Erweckungserlebnis immer wieder reaktiviert werden. Eine weitere Form des »life mapping«50 bilden überdies Playlists, 41 42
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Vgl. Berger, Vom Nutzen und Nachteil der Nostalgie, S. 109. Zur »Mitnahme« von Versatzstücken der Industriekultur vgl. David Byrne, Industrial culture in a post-industrial world. The case of the North East of England, in: City 6 (2010) 3, S. 279–289, hier S. 279f. Die Zusammenfassung der Forschung bei Nathaus, Why ›Pop‹ Changed and How it Mattered (Part I), S. 20f. Interview Waldemar Sorychta, 40.03-40.28 Min. Willems, Treblinka. Interview with Jörgen Thullberg: »I’ve always loved old school Death Metal very much and I don’t think that that will ever go away. I’m very conservative when it comes to music. Even today, I still listen to the same albums and demos as in 1990.« Bill Tsitsos, Slamdancing, Ageing and Belonging, in: Bennett/Hodkinson (Hg.), Ageing and youth culture, S. 66–78, hier S. 77. Harris, in: Netherton, Extremity Retained, S. 230: »It’s all about when people hear an album [and] they associate it with a time in their life, when they were either down, or with all their friends, or still at school when everything was perfect. It’s an association with a memory, so that’s why people hold on to certain albums like Harmony Corruption. The new album can have better production and better songs, but it still can never be the same as that ›one‹ earlier album.« Ben Greene, ›I Always Remember That Moment‹. Peak Music Experiences as Epiphanies, in: Sociology 50 (2016) 2, S. 333–348. Barry Shank, Dissonant Identities. The Rock’n'Roll Scene in Austin, Texas, Middletown 1994, S. 101. Bennett/Rogers, Popular Music Scenes and Cultural Memory, S. 46.
8. Fazit und Ausblick
die eine Hörbiografie als kohärente Erzählung der Reifung entwerfen und vermutlich im Rahmen der Streaming-Verfügbarkeit an Reichweite und Einfluss gewonnen haben.
8.4 »Nach dem Boom« ist vor dem Boom – Zwischen Deindustrialisierung und Digitalisierung Die »langen 1980er Jahre« bildeten für die Metal-Kultur ein Interim zwischen zwei fundamentalen Umbrüchen, denn der kontinuierliche Nachschub an neuen Bands, Stilen und Szenen war eingebettet zwischen den sozialen Folgen der Deindustrialisierung und der aufziehenden Digitalisierung. Erstere verhandelte die Metal-Kultur quasi überall: in den Erwerbsbiografien ihrer Akteure, in ihrem Gründungsnarrativ in der englischen Arbeiterklasse, in ihrer kulturell gewendeten Klassenmetaphorik, in ihren Räumen, ihrem sozialen Habitus und teilweise auch in ihren Texten. Der Fluchtpunkt dieser Verhandlung lag in der vermeintlichen industriellen Stabilität und kontinuisiert seitdem eine Erfahrung auf musikalische Weise, die seit den 1970er Jahren immer weniger anderweitig kontinuisiert werden konnte. Umso deutlicher wurde dies, als sich aus Sicht der Akteure seit Mitte der 1990er Jahre erneut sehr vieles veränderte und die Entwicklungslogik der »langen 1980er Jahre« endete. Denn erst das Internet und der damit verbundene Wandel der Szene-Praxis verhalf der »Vergewisserungssehnsucht in der Vergangenheit«51 schließlich zum vollen Durchbruch. Szene-Nostalgie war und ist dabei eine soziale Funktion einer erneuten Entgrenzung von Erfahrungen. Jahrelang hatten sich Metalheads in selbstorganisierten globalen Netzwerken mühsam ausgetauscht, den Mangel an Produkten auszugleichen versucht, Informationen zusammengetragen und für ihre Szenen verfügbar gemacht. Der Underground war ein Betätigungsfeld für jene, die mit der größtmöglichen Hingabe die kommunikativen, technischen und kommerziellen Grenzen ihrer Zeit überwanden und daraus eine soziale Exklusivität gewannen. Die mit dem Internet aufziehende Möglichkeit, jede Musik sofort verfügbar zu machen, beraubte die Akteure ihres Kontextes, also des Rahmens, in dem sie dachten, handelten und sich vergemeinschaftet hatten. Die für ihre Träger unschätzbare soziale Erfahrung des Musikkonsums wurde »entsinnlicht.«52 Dementsprechend werden von den »Fans der ersten Stunde« hinsichtlich der Digitalisierung fast ausschließlich Verlustgeschichten erzählt: Der Underground verlor »das gewisse Etwas«53 , er wurde entmystifiziert54 und zunehmend als ein »selling point«55 kommerziell instrumentalisiert. War es zuvor kaum möglich gewesen, sich über eine neue Band eingehend zu informieren, als Band genau zu wissen, wie populär man am nächsten Tour-Stop war oder wie weit die eigene Musik im globalen Trading-Netzwerk reichte, wurde dieses Informationsdefizit, das die sozialen Beziehungen so unberechenbar, 51 52 53 54 55
Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte, S. 34. Vgl. Robert Seifert, Popmusik in Zeiten der Digitalisierung. Veränderte Aneignung – veränderte Wertigkeit, Bielefeld 2018, S. 318f. Interview Frank Stöver, Z. 81. Vgl. Dayal Patterson/Sasa Borovcanin, The Story of Skogen Fanzine, in: Sasa Borovcanin (Hg.), Skogen. Zine Anthology 1993–1996, S. 5–10. Chris Forbes, Iron Pegasus Records. Interview with Costas Stoios, in: Metalcore Fanzine.
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spannend und besonders gemacht hatte, innerhalb weniger Jahre durch die Schnelllebigkeit des Internets pulverisiert.56 Der nun verstärkt einsetzende Blick zurück in die »glorreiche Zeit« war daher auch eine aktive »Rekontextualisierungsleistung«57 , die den Akteuren wieder die Relevanz ihres Engagements vermitteln konnte. Besonders die Metal-Magazine müssen heute als Meister dieses »reembedding« bezeichnet werden: Sie kanalisieren die massenhafte Verfügbarkeit durch einen konsequenten Vergleich mit der Vergangenheit, mit früheren Szenen und »Meisterwerken« und dementsprechend auch durch die These, dass seit den frühen 1990er Jahren im Grunde nichts wirklich Neues mehr veröffentlicht wurde. Neue Bands und Veröffentlichung haben sich seitdem vor dem Erbe zu verantworten, das Geschmäcker, Denkkategorien und Konventionen immer noch bestimmt. Nichts desto trotz, und hier schließt sich der Kreis zur einleitendes These einer »Open End«-Übergangsphase, werden die technischen Neuerungen und ihre Vorteile konsequent kommerzialisiert und für die soziale Szene-Erfahrung eingespannt. Bereits in den 1990er Jahren fanden Diskussionen zwischen Fans schon vermehrt über Chatrooms statt, Online-Foren widmen sich den brennenden und nicht so brennenden Fragen der Metal-Kultur, Merchandise wird seit langem über Online-Shops vertrieben und von einem Informationsdefizit kann auch durch Website-Projekte wie die »Encyclopaedia Metallum« keine Rede mehr sein. Das wichtigste Innovationspotential steht jedoch den Musikern zur Verfügung, die – gestützt auf digitale Produktions-und Promotion-Methoden – zu Kosten arbeiten können, von denen die Akteure der 1980er Jahre nur hätten träumen können.58 Selbst ein Vertrag mit einem Label ist nicht mehr zwingend nötig und viele der hier beschriebenen Abhängigkeiten und Machtverhältnisse gehören der Vergangenheit an. Doch auch an dieser Stelle muss vor einer Überzeichnung der positiven Digitalisierungseffekte gewarnt werden. Denn ein »short-circuiting the power structure« (Steve Zodiac) oder die Umgehung des Mittelmanns59 haben die Musiker dennoch nicht befähigt, besser von ihrer Musik leben zu können. Vielmehr haben sich die Ansätze der Deregulierung seit den 1980er Jahren verstärkt und neue Abhängigkeiten, etwa zu StreamingDiensten, hervorgerufen, wodurch sich ein altes Problem unter anderen Bedingungen erneut zeigt: Metal-Musiker sind, bis auf eine kleine Gruppe etablierter Bands, die vor allem ausreichend Merchandise verkaufen, keine Vollzeitprofis. Gerade im riesigen internationalen Underground besteht dadurch das eingangs beschriebene Bild einer musikalischen Professionalität trotz anderweitigem Haupterwerb weiter. Etwas überspitzt formuliert kommt in der Metal-Kultur das Neue also stets im traditionellen Gewand daher oder wird zumindest vor dem Hintergrund des gemeinsamen
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Vgl. Lindgren und Lazaro, in: Netherton, Extremity Retained, S. 366f. Robert Seifert, Popmusik in Zeiten der Digitalisierung, S. 318 (nach Anthony Giddens’ »reembedding«). Vgl. Ross Dolan, in: Frasier, Possessed Since Dawn. Interview with Ross Dolan. Interview Steve Zodiac, 50.05-53.03 Min.; Zum Wandel durch Digitalisierung vgl. auch Mick Michaels, Interview with Girlschool Guitarist Jackie Chambers (Syteria), 2019, URL: https: //thecosmickview.blogspot.com/2019/12/interview-with-girlschool-guitarist.html (letzter Aufruf 20.09.2022).
8. Fazit und Ausblick
Erbes interpretiert. Die »langen 1980er Jahre« leben dabei als Bezugspunkt in Form einer stabilisierten Übergangsphase weiter, wodurch die Metal-Kultur sowohl konservative wie progressive Züge aufweist. All dies macht Heavy Metal heute immer noch hochgradig anschlussfähig an postmoderne Lebensstile: die musikalische Inklusion und die digitale Öffnung ziehen weiterhin Jugendliche an, während die Genreerzählung und die Praktiken den Anschluss der Älteren gewährleisten. Fraglich bleibt jedoch, was passiert, wenn jene Akteure, die dieses Erinnerungsprojekt tragen, nicht mehr da sind.
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9. Quellen- und Literaturverzeichnis
9.1 Zeitzeugeninterviews Sharon Bascovsky (Derketa), Zoom Meeting, 10.06.2021. Alex Bouks (Goreaphobia), schriftlich, 23.06.2021. Mike Browning (Morbid Angel, Nocturnus), schriftlich, 13.06.2021. Sabina Hirtz (geschiedene Classen) (Holy Moses), Zoom Meeting, 17.01.2021. Glenn Coates, Harry Hill, Dave Irwin und Norman Appleby (Fist), South Shields, 27.08.2021. Shane Embury (Napalm Death), Köln, Essigfabrik, 08.03.2020. Fred Estby (Dismember), Skype Meeting, 16.12.2020. Magnus Forsberg (Tribulation), schriftlich, 17.05.2021. John Gallagher (Raven), schriftlich, 12.01.2021. Lee Harrison (Monstrosity), schriftlich, 24.12.2020. Johnny Hedlund (Unleashed), schriftlich, 23.12.2020. Alan Jones (Pagan Altar), schriftlich, 30.04.2021. Bogdan Kopec (Noise Rec., Drakkar, GUN), Zoom Meeting, 11.05.2021 und 16.06.2021. Götz Kühnemund (RockHard, Metal Hammer, Deaf Forever), Dortmund, 07.07.2021. Andreas Lackaw und Arnd Klink (Darkness), schriftlich, 24.01.2021. Dan Lilker (Anthrax, S.O.D., Brutal Truth), Zoom Meeting, 07.10.2021. Craig Locicero (Forbidden (Evil)), Zoom Meeting, 12.10.2020. John McEntee (Revenant, Incantation), Zoom Meeting, 09.10.2020. Eric McIntire (Attitude Adjustment), schriftlich, 23.12.2020. Garry Pepperd (Jaguar), Online übermittelt in 16 Voice-Dateien entlang eines schriftlichen Fragebogens, 01.05.2021. Chris Pervelis (Internal Bleeding), schriftlich, 14.10.2020. Miland Petrozza (Kreator), schriftlich, 27.01.2020. Scott Reigel (Brutality), Zoom Meeting, 13.10.2020. Kevin Riddles (Angel Witch, Tytan), Cockfosters, Enfield, London, 24.08.2021. John Roach und Maurice Bates (Mythra), Trillian’s Rock Bar, Newcastle upon Tyne, 26.08.2021. Kelly Shaefer (Atheist), Zoom Meeting, 12.11.2020.
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
Waldemar Sorychta (Despair, Grip Inc.), telefonisch, 20.11.2020. Frank Stöver (Voices from the Darkside), schriftlich, 17.01.2021. Thomas Such (Sodom), telefonisch, 15.03.2020. Brian Tatler (Diamond Head), New Street Station, Birmingham, 03.09.2020. Darren Travis (Sadus), schriftlich, 29.10.2020. Tino Troy (Praying Mantis), The Water Rats, London, 07.09.2020. Robb Weir und Tom Noble (Tygers of Pan Tang), Rafferty’s, Newcastle upon Tyne, 05.09.2020. Rob Yench (Morpheus Descends), Zoom Meeting, 07.06.2021. Steve Zodiac (Vardis), Zoom Meeting, 17.06.2021.
9.2 Fanzines Bast. Hg. v. Martha Hughes. USA, San Francisco. Battlefield. The Special Speed-, Black-and Heavy Metal Underground Magazine. Nr. 3 (1985), The Ultimate German Speed-/Thrash-and Hardcore-Metal Mag. Nr. 5 (1985), The Ultimate German Speedcore/Thrash-Mag. Nr. 6 (1986), The alternative Hardcore ’Zine. Nr. 7 (1987). Hg. v. Markus Zimmermann, Armin Nolzen, Bernd Backhaus, Volker Rössel, Andreas Becker. BRD, Dortmund/Bochum. Blackthorn. Nr. 2 (1985) und Nr. 5 (1987). Hg. v. Henrik Kjaer und Esben Slot Sorensen. Dänemark, Arhus/Risskov. Blasphemous Mag. Nr. 1 (1991) und Nr. 2 (1992). Hg. v. Morbid, John Hiotellis,Stephan und Photis. Griechenland, Athen. Blitzkrieg. Nr. 3 (1986). Hg. v. Ludwig/Hartmann/Dähne/Moretzki. BRD, Nordenham. Book of Armageddon. Hg. v. Ed Farshtey. USA, New York. Brain Damage. Nr. 1 (1984), Nr. 2 (1985). Hg. v. Vadim Rubin und Ron Nieto. USA, Long Beach (CA). Cascade. Hg. v. Johan Österberg und Tomas Lindberg. Schweden, Göteborg. Chicken Shit. Hg. v. Nicke Andersson. Schweden, Stockholm. Close Up. Hg. v. Robban Becirovic. Schweden. Daemonium Aeternus. Nr. 2 (1992). Niederlande. Deathcore. Nr. 2 (1986). Hg. v. Glenn Salter. Kanda, Missisauga (ON). Deathvomit. Nr. 1–3 (1988-1991). Hg. v. Jeff McClelland. USA, VA. Disposable Underground. Nr. 1, Heft 1 (1991), Heft 3 (1991), Heft 5 (1992). Hg. v. Richard Johnson. USA, Sterling (VA). Drowned. Nr. 2 (1991). Spanien. Enlightened Chaos. Hg. v. Ray Dorsey. USA, MD. Exhumed Zine. Nr. 1 (1994). Hg. v. Christian H. Deutschland, Fulda. Flipside. Hg. v. Al Kowalewski u.a. USA, Whittier und Pasadena, CA. Grimoire of Exalted Deeds Magazine. Nr. 10 (1997). Hg. v. Bill Zebub. USA, Clifton (NJ). Guillotine Magazine. Hg. v. John und Mark. USA, Florida. Hammer of Damnation. Nr. 3 (1993). Hg. v. Niko Sirkiä. Finnland, Kaarina. Isten. Nr. 5 (1990). Hg v. Mikko Mattila und Luxi Lahtinen. Finnland, Tampere. Jersey Beat. Hg. v. Jim Testa. USA, New Jersey.
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9.3 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel (gedruckt) Frank Albrecht: Geglückte Reanimation. Vio-Lence, Interview mit Phil Demmel. In: Deaf Forever 6 (35) 2020, S. 84f. ano.: Kids out to prove a point. In: The Journal, 19.08.1977, S. 6. ano.: Brummie Success. In: The Mercury, 12.11.1982, S. 46. ano.: Dark side of the mind… In: Recorder Free Press, 12.04.1990, S. 27. ano.: Rock Break showcases area bands. In: The Palm Beach Post, 24.05.1991, S. 121. ano.: The Tampa Bay Metal Awards. In: The Tampa Tribune, 30.08.1991, S. 89. ano.: Tampa U.S.A. How others see us. In: Tampa Bay Times (St. Petersburg, Florida), 17.03.1995, S. 12. Ars.: Konzertchronik. Wikingerhart. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.05.1986, S. 45. Vickie Beck: Church: Lord rocks in mysterious ways. In: The Tampa Tribune, 29.08.1992, S. 219. Stephanie Bell: Death metal fans in graves havoc. In: Sunday Life, 30.01.1994, S. 13. Philipp Booth: Heavy honors. In: The Tampa Tribune, 03.09.1993, S. 95. Geoff Brown: A realist among the new romantics. In: The Mercury, 24.04.1981, S. 16. Tony Clayton-Lea: Turning a Def ear. Joe Elliot puts adversity behind. In: The Sunday Tribune, 24.10.1983, B5. Carol Clerke: Musicians mecca in Kingsbury. In: Observer, 15.08.1980, S. 20. Jason Cochran: Medals for Metal. In: South Florida Sun Sentinel, 17.07.1993, S. 57. Howard Cohen: Demonomacy: fast, furious, female. In: The Miami Herald, 02.04.1993, S. 97. Paul Cole: Fanzine is Euro Success! In: Evening Mail, 18.06.1989, S. 22. Jim Farber: Live it up with ›death metal‹ at Wetlands. In: Daily News, 21.08.1994, S. 723. Jim Farber: Punk Profiles Encourage Mosh Mania. In: Daily News, 31.10.1994, S. 115. Lizz Fisher: The clash of the heavy metals. Anthrax in frenetic opener is fast act for KISS to follow. In: The Sacramento Bee, 30.03.1988, S. 67. Karl Forster: Schluß mit den Vorurteilen! Was sich hinter den Gesten der Heavy-MetalKultur verbirgt. In: Süddeutsche Zeitung, 29.11.1993, S. 14. Greg Fulton, Greg: Massacre hopes underground is ticket to top. In: The Tampa Tribune, 23.05.1986, S. 53. Jonathan Gold: Metallica and the Poetry of the Power Cord. The New Metal is Soul Music for Suburban White Boys. In: The Los Angeles Times, 23.10.1988, S. 335.
9. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel
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9. Quellen- und Literaturverzeichnis
9.4 (Auto)biografien, Band-, Szene- und Genre- Geschichten sowie Interviewsammlungen Abo Alsleben: MAYHEM live in Leipzig. Wie ich den Black Metal nach Ostdeutschland brachte, Leipzig 2020. Dima Andreyuk: Tape Dealer. 1984–1994. A decade of demos, tape trading and fanzines. Alexandros Anesiadis/Ian Glasper: Crossover the edge. Where hardcore, punk and metal collide, London 2019. Hilmar Bender: Violent Evolution. Die Geschichte von Kreator, Diedorf 2011. Garry Bushell: Sounds of glory. The punk and ska years, New Haven 2016. Biff Byford/John Tucker: Saxon. Never Surrender (Or Nearly Good Looking), Berlin 2017. Ian Christe: Sound of the beast. The complete headbanging history of Heavy Metal, New York 2004. Neil M. Daniels: Iron Maiden. Die ultimative inoffizielle Bildbiografie, Berlin 2013. Bruce Dickinson: What does this button do? An autobiography, New York 2017. K. K. Downing/Mark Eglinton: Leather Rebel. Mein Leben mit Judas Priest, Unter Mitarbeit von Jenny Rönnebeck, Berlin 2019. Daniel Ekeroth: Schwedischer Death Metal, 2. deutsche Auflage. Stockholm 2009. D. X. Ferris: Slayer 66 2/3. The Jeff & Dave years, a metal band biography, featuring exclusive vintage photos, recent pictures and lost artwork, Akron 2013. David E. Gehlke: Systemstörung. Die Geschichte von Noise Records, Berlin 2017. Rob Halford: Confess. The Autobiography, London 2020. Paul Halmshaw: Peaceville Life. Forewords by Joel McIver & Ian Glasper, London 2019. Andreas Hertkorn: Seven Metal Inches. 40 Years of Picture 7”s in Extreme Metal, Berlin 2017. Andreas Hertkorn: Todessehnsucht. Als der Death Metal nach Deutschland kam, Berlin 2020. Dave Karl Hofer: Perpetual Conversion. 30 years and counting in the life of metal veteran Dan Lilker, New York 2014. Tom Howells (Hg.): Black Metal. Beyond the darkness, London 2012. Scott Ian/John Wiederhorn: I’m the man. The story of that guy from Anthrax, Boston 2014. Ian Kilmister: White Line Fever. Die Autobiographie, erweiterte und aktualisierte Neuausgabe, München 2014. Ika Johannesson/Jon Jefferson Klingberg: Blood, fire, death. The Swedish metal story, Port Townsend 2018. Christian Krumm: Century Media – Do It Yourself. Die Geschichte eines Labels, Oberhausen 2012. Malc McMillan: The N.W.O.B.H.M. Encyclopedia, Berlin 2001. Alan Moses/Brian Pattison: Glorious Times. A Pictorial of the Death Metal Scene 1984–1991, Athen 2019. Michael Moynihan/Didrik Søderlind: Lords of chaos. Satanischer Metal, Der blutige Aufstieg aus dem Untergrund, 12. Aufl., Zeltingen-Rachtig 2012. Albert Mudrian: Precious Metal. Decibel Presents the Stories Behind 25 Extreme Metal Masterpieces, Cambridge 2009.
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WISSEN. GEMEINSAM. PUBLIZIEREN. transcript pflegt ein mehrsprachiges transdisziplinäres Programm mit Schwerpunkt in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Aktuelle Beträge zu Forschungsdebatten werden durch einen Fokus auf Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsthemen sowie durch innovative Bildungsmedien ergänzt. Wir ermöglichen eine Veröffentlichung in diesem Programm in modernen digitalen und offenen Publikationsformaten, die passgenau auf die individuellen Bedürfnisse unserer Publikationspartner*innen zugeschnitten werden können.
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