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German Pages 246 [248] Year 1994
Ulrich Meier · Mensch und Bürger
Mensch und Bürger Die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen Von
Ulrich Meier
R. Oldenbourg Verlag München 1994
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Meier, Ulrich: Mensch und Bürger : die Stadt im Denken spätmittelalterlicher Theologen, Philosophen und Juristen / von Ulrich Meier. München : Oldenbourg, 1994 Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 1990/91 ISBN 3-486-55975-3
©1994 R. Oldenbourg Verlag GmbH Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gesamtherstellung: R.Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-55975-3
Inhalt Vorwort I. Einleitung 1. Mensch und Bürger, Gemeinschaft und Stadt. Die Auseinanderlegung der Frage 2. Forschungslage im Überblick, Quellenauswahl und Methode II. Theologie der Stadt 1. Babylon. Grundmuster klerikaler und frühhumanistischer Stadtkritik 2. Pax urbis und civitas praeclara. „Stadt" als Metapher des vollkommenen Lebens 3. Die Stadt auf dem Berge: Heilige Gemeinschaft, brüderliche Ordnung und Mischverfassung im Augsburger Predigtzyklus des Albertus Magnus 4. Das „wahre Florenz". Strukturgleichheit von Bürger- und Himmelsstadt bei Giordano da Pisa 5. Rationalität und Manipulation. Leistungen und Gefahren einer „Theologie der Stadt" III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie 1. Animai civile: Mensch oder Bürger? Die Rezeption der Aristotelischen , Politik' und die mittelalterliche Stadt 2. Zweierlei Bürger und das Wesen der Herrschaft. Erste Versuche der Anwendung der neuen Theorie auf die eigene Wirklichkeit 3. Zweierlei Teilhabe. Herrschende und andere Bürger im regimen politicum 4. Citoyen oder bourgeois, Reichs- oder Stadtbürger? Themen und Tendenzen in den Politikkommentaren des 14. und 15. Jahrhunderts 5. Grade der Bürgerschaft und Arten der Herrschaft. Versuch einer idealtypischen Modellbildung auf der Textgrundlage der Politikkommentare 6. Wahl und Zustimmung als Elemente konsensgestützter Herrschaft. Die Bürgerkonzeption der Politikkommentare im Kontext der spätmittelalterlichen scientia politica
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Inhalt
IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters 1. Civitas und Imperium. Das Problem der rechtstheoretischen Einordnung der freien Kommunen in den Reichsverband... 2. Unabhängige und autonome Städte. Postglossatorische Theorie der Stadt als Versuch einer subsidiären Legitimation von Herrschaft 3. Der ferne Kaiser. Theorie der Stadt und gesellschaftliche Wirklichkeit: Die Aufnahme der Lehre in Italien und Deutschland und die Frage nach dem cui bono 4. Bürger und Mensch. Der juristische dvij-Begriff und das Problem philosophischer Anthropologie 5. Partizipation und Bürgerherrschaft. Individuelle Rechte und korporative Formen politischer Teilhabe 6. Rechtsgelehrte „Theorie des Bürgers und der Stadt". Typologische Rekapitulation und die Grenzen der Begriffe V. Schluß und Ausblick
127 130
148
164 176 189 203 213
Quellennachweise
223
Literatur
228
Personenregister
245
Vorwort Nicht nur Bücher, auch Themen haben ihr Schicksal. Ursprünglich als Einleitung zu einer umfangreichen stadtgeschichtlichen Untersuchung gedacht, nahm das Thema „Mensch und Bürger" bald den Autor an die Leine und so kam eine Dissertation zustande, die nie geschrieben werden sollte. Umwege solcher Art passen nicht in die Hochschullandschaft unserer Tage. Wer sie dennoch geht, braucht einen akademischen Lehrer, der die Freiheit der Forschung nicht für sich allein beansprucht, der den Reiz krummer Wege kennt, der vor allem anderen Geduld hat und Vertrauen einbringt. Klaus Schreiner hat dies in meinem Fall getan, nicht nur deshalb danke ich ihm an erster Stelle. Fachkompetenz auf dem Feld der Geschichte politischer Theorie machte Wolfgang Mager zum idealen Korreferenten. Auf diesem Gebiet war er seit langem ein ideenreicher Gesprächspartner, seine Arbeiten haben meine Urteilsbildung stets beeinflußt. Konstruktive Kritik und weiterführende Anregungen erhielt ich von Klaus Graf und Wilfried Nippel. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Uwe Heckert, Jörg Rogge und Gerd Schwerhoff, die den Text kritisch begleitet, gelesen und kommentiert haben; Andreas Kolle, Katja Liebeskind, Andrea Löther und Norbert Schnitzler lasen einzelne Kapitel. Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 1990/91 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Sie ist für den Druck überarbeitet, seither zum Thema erschienene Arbeiten sind nur ausnahmsweise berücksichtigt worden. Der Verwertungsgesellschaft Wort habe ich für einen großzügigen Druckkostenzuschuß zu danken.
Bielefeld, im Juli 1993
Ulrich Meier
I.
Einleitung1
Im Venushimmel angekommen, tritt Dante die Gestalt seines frühverstorbenen Jugendfreundes Karl Martell entgegen. Dieser belehrt den Jenseitswanderer der , Divina Commedia1, und erzählt ihm von den Segnungen einer arbeitsteilig verfaßten menschlichen Ordnung. Karl zieht Dante auf eine Weise ins Gespräch, die dem Partner jede Möglichkeit des Themenwechsels verwehrt: „Nun sag, wär's für den Menschen nicht schlimmer noch auf Erden, wenn er nicht Bürger wäre"? Die Antwort des Dichters ist ein schlichtes „ja..., und hier frag ich nicht nach Gründen" 2 . Es versteht sich für den Florentiner gewissermaßen von selbst. Wenn wir im folgenden nach dem Begriff des Bürgers und der Gestalt seiner Lebensordnung im mittelalterlichen Denken fragen, handeln wir von Dingen, die uns nicht mehr selbstverständlich sind. Und weder lassen die Quellen, die darüber Aufschluß geben könnten, eine schnelle und griffige Antwort zu, noch kann ein Blick in die moderne Sekundärliteratur das scheinbar so einfache Problem befriedigend lösen. Eine Eingrenzung sei gleich gemacht. Im Zentrum der Untersuchung wird der Stadtbürger 1 Zur Zitierweise: Bei der Textinterpretation werden Sammelanmerkungen bevorzugt, wobei, in der entsprechenden Reihenfolge, die zitierten Stellen in Klammern vermerkt oder eindeutig gekennzeichnet sind. Auf Anmerkungen und Kapitel unserer Arbeit wird mit o. („oben") und u. („unten") verwiesen („u. Kap. III Anm. 73" oder „o. Anm. 56" z.B.). Zitate aus der Sekundärliteratur und ins Deutsche übertragene Quellenzitate sind in Anführungszeichen, Quellenzitate kursiv gesetzt. Titel werden in Kurzform gegeben, diese kann man über die Bibliographie auflösen. Für Zitate aus dem Aristotelischen Œuvre gilt: Die in Klammern angegebenen Ziffern (z.B.: 1252a 1) beziehen sich, wie üblich und von den nachfolgenden Editionen übernommen, auf die von I. Bekker, Berlin 1831-1870, besorgte Ausgabe des Corpus arislotelicum. Für Zitate aus der .Politik' gilt darüber hinaus: Die Umschrift des griechischen Textes folgt der Edition der .Politics' von W.L. Newman. Die deutsche Übertragung stützt sich meist auf: Aristoteles, Politik, übersetzt und hg.v. O. Gigon; die neue Übersetzung von E. Schütrumpf (Aristoteles, Politik. Buch I / Buch II u. III) wird ergänzend heran-, manchmal vorgezogen. Die mittelalterlichen lateinischen Übersetzungen durch Wilhelm von Moerbeke (hg. v. F. Susemihl, Leipzig 1872) und Leonardo Bruni sind aus praktischen Gründen der hier benutzten Edition des Politikkommentars von Albertus Magnus entnommen, in der beide dem Text des Kommentars voranstehen. - Die Zitierweise der mittelalterlichen Rechtsliteratur richtet sich nach den üblichen Standards, vgl. dazu etwa P. Weimar, Glossatorenzeit, 151 (Lit., bes. ebd. Anm. 3). 2
Ond' egli ancora: „Or dì: sarebbe il peggio / Per l'uomo in terra, se non fosse cive"? / „Si", rispos'io; „e qui ragion non cheggio"(Dante Alighieri, Göttliche Komödie III, 98: Paradiso Vili, Ζ. 115ff; eigene Übersetzung). Vgl. auch den Kommentar von H. Gmelin zu diesen Versen in ebd. Bd. VI, 153-165, bes. 162f (über den aristotelischen Hintergrund dieser Äußerung). Ebd. 153f, Argumente für die mutmaßliche Freundschaft zwischen Dante und Karl Martell (1271-1292), den Sohn Karls II. von Anjou, der sich 1281 und 1294 nachweislich in Florenz aufgehalten hat.
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I. Einleitung
und dessen Lebensform, die Stadt, stehen. Einmal entspricht in der Welt des Mittelalters die städtische Gesellschaft am ehesten dem, was wir heute „bürgerlich" nennen. Und zum andern: Der civis-Begriff hatte ein weites Bedeutungsspektrum. Mit diesem Terminus konnten römische „Staatsbürger" und zeitgenössische „Stadtbürger" ebenso bezeichnet werden wie Glieder des Augustinischen „Gottesstaates" oder der Kirche Christi; manchmal wurden cives ganz allgemein jene Menschen genannt, die mit anderen zusammen eine vita communis führten. Für civitas gilt ähnliches 3 . Die Entscheidung zur Verengung der Frage auf den „Stadtbürger" begrenzt Quellen und Literatur und eröffnet zugleich die Möglichkeit, gewonnene Einsichten immer wieder auf eine Wirklichkeit zu beziehen. Aber an wen richtet man die so spezifizierte Frage? Am einfachsten noch müßte in mittelalterlichen „Stadtspiegeln" zu erfahren sein, was Zeitgenossen die Begriffe „Bürger" und „Stadt" bedeuteten, wie sie die „bürgerliche" Lebensform sahen und sie unterschieden von anderen Gesellschaftsordnungen der Zeit, von Kaiser-, Königs-und Adelsherrschaft. Ein Blick auf das Theorieangebot dieser Literaturgattung soll deshalb den Anfang machen. Ziel ist, Problemfelder und Gelenkstellen des mittelalterlichen Nachdenkens über Bürger und Stadt auszumachen. Erst auf dieser Grundlage werden die Leitfragen der Untersuchung entwickelt und die Themenstellung präziser formuliert. In einem zweiten Schritt wird schließlich über geeignete Quellengattungen und Methoden geredet.
1.
Mensch und Bürger, Gemeinschaft und Stadt. Die Auseinanderlegung der Frage
Civitas autem dicitur civium libertas sive habitantium im(munitas): „Stadt heißt Freiheit der Bürger", mit diesen leicht erlernbaren Worten beginnt Johannes von Viterbo das zweite Kapitel seines ,Liber de regimine civitatum\ Thema darin ist die Bedeutung des Wortes civitas. Die vom Autor herausgearbeitete enge Verklammerung der Begriffe „Freiheit", „Bürger" und „Stadt" bringt die mittelalterliche Kommune unmittelbar in den Blick. Daß diese Begriffe zusammengehören, war allerdings um 1250, als der genannte Satz niedergeschrieben wurde, schon nichts Neues mehr. Johannes will auch auf etwas anderes hinaus. Mit der Anfügung des Begriffs im(munitas) und der Klammersetzung mitten im Wort lenkt er die Aufmerksamkeit direkt auf das Satzende. Gibt man „Freiheit" einmal nicht mit libertas, sondern mit immunitas wieder, eröffnen sich für etymologi3
Vgl. P. Michaud-Quantin, Universitas, 111-117 (die Nachweise zu Augustin und vita communis (auch Isidor von Sevilla, Etymologiarum libri X X : IX.iv.2) ebd. 111 Anm. 1-5).
1. Mensch und Bürger, Gemeinschaft und Stadt
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s e h e R e f l e x i o n e n w e i t e r e I n t e r p r e t a t i o n s s p i e l r ä u m e . Im(munitas), so d e r V e r f a s s e r dieses p r a k t i s c h e n H a n d b u c h e s f ü r d e n P o d e s t à , k ö n n e a u c h heißen, d a ß die Bewohner durch Mauern u n d Türme „geschützt" werden (muniuntur). D i e A s s o z i a t i o n s r e i h e s t e h t : muniuntur - .munitas' - immunitas. A u c h „ S t a d t " u n d „ S i c h e r h e i t d e r B e w o h n e r " also sind a u s t a u s c h b a r e Begriffe. Z u s ä t z l i c h zu dieser n i c h t g a n z e i n f a c h e n H e r l e i t u n g bietet d e r A u t o r s e i n e n L e s e r n n o c h ein g r i f f i g e r e s M e r k w o r t . Ci-vi-tas, d i e drei Silb e n s t ü n d e n f ü r d i e drei W ö r t e r cifra vim habitas: „ d u w o h n s t j e n s e i t s d e r G e w a l t " . D i e M a u e r n s c h ü t z e n d e n B ü r g e r n a c h a u ß e n , u n d in d e r S t a d t sorgt d e r preses civitatis d a f ü r , d a ß „ g e r i n g e r e M e n s c h e n n i c h t d u r c h mächtigere Unrecht erleiden"4. S t a d t ist u m m a u e r t e F r i e d e n s o r d n u n g . D e r P o d e s t à , a l l j ä h r l i c h v o n ausw ä r t s b e r u f e n e r „ H e r r s c h e r " i m A u f t r a g d e r K o m m u n e , l e r n t in d i e s e m „ S t a d t s p i e g e l " , wie er in u n t e r s c h i e d l i c h e n S i t u a t i o n r e a g i e r e n m u ß , welc h e R e d e n er zu v e r s c h i e d e n s t e n A n g e l e g e n h e i t e n h a l t e n k a n n , wie er u m g e h e n sollte mit d e n R a t s g r e m i e n d e r S t a d t u n d w a n n es a n g e r a t e n ist, d i e g e s a m t e B ü r g e r s c h a f t z u s a m m e n z u r u f e n . I n s b e s o n d e r e w i r d i h m einges c h ä r f t , sich a n d i e G e s e t z e d e r S t a d t u n d d i e Beschlüsse d e r R ä t e zu halt e n , u n d d i e g e w ä h l t e n V e r t r e t e r d e r K o m m u n e zu v e r s a m m e l n , w e n n „ s c h w e r w i e g e n d e D i n g e " z u r E n t s c h e i d u n g a n s t e h e n : „ W a s alle a n g e h t , soll v o n allen gebilligt w e r d e n , d a m i t d a s im K o n s e n s aller g e s c h e h e , w a s allen Z u k u n f t ist" 5 . D i e S c h r i f t ist e r s t a u n l i c h k o n k r e t , d a s F u n k t i o n i e r e n 4
Johannes von Viterbo, De regimine civitatum, 218b: Kap.II, De interpretatione civitatis. Die deutsch wiedergegebenen oder paraphrasierten Zitate lauten im Zusammenhang: Et est sincopatum hoc nomen civitas, et sic supradicta interpretatio fit a tribus sillabis, quas in se continet civitas, scilicet ci et vi et tas; ci idest citra, vi pro vim, tas idest habitas. Inde civitas, idest citra vim habitas. Habitatio enim est ibi sine vi, quoniam preses civitatis, quia ,potentioribus pares esse non possumus', tuebitur humiliores viros ne a potentioribus viris iniuriis afficiantur... Item vere dicitur im(munitas), quia mûris et turribus eiusdem civitatis muniuntur et tuentur habitantes in ea ab hostibus et inimicis (ebd.). Grundlegend zur Quellengattung der Podestà-Spiegel : F. Hertter, Podestàliteratur (43-72, Johannes von Viterbo); A. Sorbelli, Reggimento comunale (82-101, Johannes); E. Artifoni, Podestà professionali (700, über die Rolle dieser Traktate bei der Ausbildung einer spezifische civilità urbana; 712f Anm. 26 Diskussion zur Abfassungszeit: vermutlich 1253 in Florenz); M.C. De Matteis, Remigio, XXV-XLV; dies., Societas Christiana, bes. 223ff. - Zur Rolle, die die Podestà-Spiegel in der „pre-humanist rhetorical culture" des italienischen Duecento spielten vgl. jetzt auch Q. Skinner, Ambrogio Lorenzetti, bes. 1-31. 5
Sed quod omnes tangit, ab omnibus comprobetur, [et] ut id consensu omnium flat, quod est omnibus profuturum (Johannes von Viterbo, De regimine civitatum, 260b). Unmittelbar vorausgegangen ist die Ermahnung, bei dubia vel gravia... seu necessaria sive utilia das consilium civitatis einzuberufen und gegebenenfalls sapientes hinzuzuziehen, die gewählt werden de iudieibus et iuriperitis, de consulibus mercatorum, campsorum et de prioribus artium (ebd.). Bindung des Podestà an die Ratserlasse ebd. 261b. Zur Einberufung einer Versammlung des ganzen populus und Wahl ebd.
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I. Einleitung
von Herrschaft bisweilen modellhaft-präzise beschrieben. Theoretisches Fundament sind kommunale Rechtstraditionen, vor allem aber das seit Beginn des 12. Jahrhunderts verstärkt rezipierte Römische Recht 6 . Will man prinzipiellere Auskunft über das Wesen „bürgerlicher" Herrschaft, bleibt der Autor jedoch vage oder gibt plakativ traditionale Antworten. Weder weiß man am Ende, was genau denn „Bürger" meint, noch ist klar geworden, wie die Stadtverfassung sich von anderen Herrschaftsformen unterscheidet. Johannes verweist allgemein darauf, daß der Podestà dem Kaiser ähneln müsse und die Gewalt (potestas : das kann zugleich „Podestà" und „Gewalt" heißen) von Gott eingesetzt sei. Kaiser und Papst sind ihm Beispiele für Herrschaftsausübung jeder Art, Stadtverfassung ist nichts als eine Variante des vorgegebenen Schemas 7 . Die Rezeption der praktischen Philosophie des Aristoteles um die Jahrhundertmitte änderte die hergebrachten Rahmenbedingungen politischer Theorie grundlegend. Erstmals hatte man mit der ,Ethik', besonders aber mit der .Politik' des Stagiriten Grundwerke politischen Denkens in der Hand, die in den mittelalterlichen Wissenschaftsbetrieb integrierbar waren: Anders als bei der Fülle vorher bereits bekannter und unterschiedlich tradierter antiker Theoreme der politischen Philosophie lagen nun kompakte Handbücher vor, über die Gelehrte lesen, zu denen sie Kommentare verfassen konnten 8 . Auch für die inhaltliche Diskussion gesellschaftlicher Fortsetzung Fußnote von Seite 11 22 lf u. 270. Musterreden und -briefe sind passim eingestreut. - Zum Prinzip ,Quod omnes tangit' vgl. Y. M.-J. Congar, Quod omnes tangit; G. Post, Romano-Canonical Maxim; A. Marongiu, Prinzip der Demokratie, bes. 203-208 („italienische Städte"). 6 Literatur dazu: u. Kap. IV Anm. 5. 7 Vgl. v.a. Johannes von Viterbo, 266f: Kap. CXXVIII. Quod omnis potestas sit a deo; 219: Kap. IV. De interpretationepotestatis(hier wird Rm XIII, 2 zit.: Quipotestati resistit, ordinationi dei resistit). Der Hinweis auf die similitudo des Podestà mit dem Kaiser ebd. 235b. Der Rekurs auf römischrechtliche und biblische Legitimationen von Herrschaft passim. - Die Meinung Q. Skinners (geäußert u.a. in: ders., Ambrogio Lorenzetti, S. 20f), daß die Autoren der Podestà-Spiegel die kommunale, elektive Verfassungsform eindeutig bevorzugten und der Monarchie entgegensetzten, kann ich nicht teilen. Brunetto Latinis singuläre Aussage, daß Kommuneherrschaft die beste sei (s. u. Anm. 11), ist für den Beweis der Existenz eines solch weitreichenden, antagonistischen Klassifizierungsmodells zu wenig. Ein politiktheoretischer Verfassungsvergleich lag nicht im Interessenshorizont der Podestàspiegler. Ihr häufiges Eingehen auf Wahl- und Kontrollverfahren hat kaum etwas mit grundsätzlichen Verfassungsdiskussionen zu tun: Es zielte vielmehr auf verwaltungstechnische Probleme jener Wirklichkeit, mit der die Adressaten dieser Schriften, die Podestà, täglich umzugehen hatten. 8 Literatur: u. Kap. III Anm. 2 u. 4; die dort zit. neueren Arbeiten, die die „revolutionierende" Wirkung der .Politik' auf das mittelalterliche politische Denken relativiert haben und mehr auf Kontinuitäten im Gebrauch antiker Begriffe abheben,
1. Mensch und Bürger, Gemeinschaft und Stadt
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Themen hatte dieser Vorgang weitreichende Konsequenzen und kaum überschätzbare Folgen. Man konnte nun auf ein wissenschaftlich anerkanntes Werk verweisen, wenn man Fragen nach dem moralisch richtigen menschlichen Verhalten, deren Behandlung nur unter den normativen Vorgaben des kirchlich geprägten Weltbildes möglich war, abkoppelte von Reflexionen über die angemessene politische Verfassung eines Gemeinwesen. Civis und fidelis waren, mindestens im Prinzip, unterscheidbare Rollen einer Person, das politische System potentiell Objekt der „natürlichen Vernunft" geworden 9 . Bevor Wilhelm von Moerbeke um 1265 die Aristotelische .Politik' ins Lateinische übersetzt hatte, konnte man Grundzüge der Verfassungslehre im achten Buche der ,Nikomachischen Ethik' studieren. Dieses Grundwerk der Moralphilosophie des Stagiriten, seit dem 12. Jahrhundert in lateinischen Teilübersetzungen bekannt, hatte Robert Grosseteste etwa 1246/47 vollständig übertragen. Frühe literarische Spuren der Rezeption des in der ,Nikomachischen Ethik' entwickelten Verfassungsschemas finden sich in jenen berühmten ,Livres dou Tresor', die der 1260 aus Florenz vertriebene Notar Brunetto Latini (ca. 1220-1294) im französischen Exil begonnen und in der Sprache seines Gastlandes niedergeschrieben hatte. Eine italienische Fassung folgte noch zu Lebzeiten des Autors. Das Buch ist eine Enzyklopädie natur- und menschheitsgeschichtlicher „Tatsachen", ethischer und rhetorischer Themen. Der dritte Teil hat den Charakter eines Podestàspiegels10. Bereits im Sachteil „Ethik" geht Brunetto auf die Aristotelischen Herrschaftsformen ein und interpretiert sie „kommunal" um : „HerrschaftsforFortsetzung Fußnote von Seite 12 sind im einzelnen vermutlich im Recht. Sie alle aber unterschätzen die hier angedeutete institutionelle Dimension der Rezeption: Man konnte die vorher vertrauten, aus verschiedenen antiken Texten gezogenen Theoreme der Gesellschaftslehre im zeitgenössischen Universitätsbetrieb unmöglich als Fach zusammenfassen und als scientia politica ausgeben ; dazu bedurfte es einer kompakteren Grundlage, einer Autorität, eben der ,Libri Politicorum' des „Philosophen". Ähnlich argumentiert jetzt C. Flüeler, Artistenfakultät, 138; zu den konkreten Formen der Aneignung der .Politik' vgl. ders., Rezeption, 29-36. ' Grundlegend die u. Kap. III Anm. 2 zit. Schriften von W. Ulimann; zur Unterscheidung fideles - aves als Elemente zweier Lebensordnungen etwa ders., Individuum und Gesellschaft, 88-93. Ausführlich behandelt hat das Thema auch M. Wilks, Sovereignty, 93, 296, 325, bes. 139. 10 Brunetto Latini, Livres dou Tresor; it.: Il Tesoro (daß Bono Giamboni, wie in dieser Ed. ausgegeben, der Übersetzer war, wird heute für unwahrscheinlich gehalten: vgl. E. Artifoni, Podestà professionali, 712 Anm. 26). Einschlägig für dieses Werk ist die Einführung in die französische Version und die entsprechenden Abschnitte der o. in Anm. 4 genannten Arbeiten. Vgl. auch N. Rubinstein, Marsilius and Italian Political Thought, bes. SI, u. C.T. Davis, Latini and Dante.
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I. Einleitung
m e n sind von dreierlei Art, eine die der Könige, die zweite die der G u t e n , die dritte ist die der Gemein[d]en (des communes), welche die beste u n t e r den a n d e r e n ist" 1 1 . Eine M e i n u n g , die im Mittelalter nicht viele A n h ä n g e r finden sollte. Der entscheidende Vorteil dieser Verfassung, f ü h r t er im dritten Teil aus, läge in der engeren Bindung des Podestà an die K o m mune. Anders als in Königreichen wie Frankreich oder in Fürstentümern, wo Herrscher die städtischen Ämter zeitlich befristet an den Meistbietenden verkaufen, werde in den Städten Italiens der Podestà durch die Bürger, ebenfalls befristet auf ein Jahr, gewählt. Ergebnis dieses unterschiedlichen Bestallungsmodus sei, d a ß , im Gegensatz zu I n h a b e r n gekaufter Ämter, die von der Bürgerschaft gewählten „ H e r r e n " stärker auf das Gemeinwohl verpflichtet werden k ö n n t e n : Li citain et Ii borgois wählten n u r den, von dem sie a n n ä h m e n , d a ß er „nützlicher f ü r das gemeine Beste der S t a d t " sei. Bürgerwahl u n d G e m e i n w o h l stehen in einem engen Wechselverhältnis 1 2 . So ist u m die Mitte des 13. J a h r h u n d e r t s durch J o h a n n e s von Viterbo u n d Brunetto Latini eine tragfähige G r u n d l a g e f ü r weiteres N a c h d e n k e n über das Wesen „bürgerlicher H e r r s c h a f t " geschaffen worden. Die nachfolgenden italienischen Schriften zum reggimento comunale allerdings ha11
Seigneuries sont de .iii. manieres, l'une est des rois, la seconde est des bons, la tierce est des communes, laquele est la très millour entre ces autres (Brunetto Latini, Livres dou Tresor, 211 : Tl. II, 44). Meist wird des communes mit „der Kommunen" übersetzt (etwa: Q. Skinner, Ambrogio, 21), der frz. Text aber läßt auch die Übertragung mit „der Gemeinen", d.h. der „gemeinen Leute", zu. Der italienische Text ist eindeutiger: Li principati sono tre. L'uno è principato di re. L'altro si è principato detti buoni uomini. Il terzo si è principato delle comunitadi, e questo è ottimo in tra gli altri (ders., Il Tesoro, Bd. III, 136: nach der Einteilung dieser Ausg. Buch 6, Kap. 44). Brunetto kannte das Verfassungsschema nicht aus der später kanonischen Übersetzung der .Nikomachischen Ethik' des Robert Grosseteste, sondern vermutlich aus einer unvollständigen Paraphrase des Hermannus Alemannus: so jedenfalls, im Rückgriff auf ältere Lit., Q. Skinner, Ambrogio Lorenzetti, 4 Anm. 4, u. 21. Zu den verschiedenen Übersetzungen im 12. u. 13. Jahrhundert vgl. auch G. Wieland, Reception of Aristotle's Ethics, 657-660. 12 Ders. Livres dou Tresor, 392. Genauer: Nach einer prinzipiellen Unterscheidung in lebenslange, ererbte Ämter und solche, die auf Zeit vergeben werden, wie die Ämter maieur et prouvost e la poestés et la eschievins des cités, differenziert er jährlich befristete städtische Ämter noch einmal in zwei Gruppen: uns ki sont en France et es autres pais, ki sont sozmis a la signorie des rois et des autres princes perpetueus, ki vendent les provostés et les baillent a ciaus ki plus l'achatent (poi gardent sa bonté ne leproufît des borgois); ...l'autre est en Ytaile, que li citain et li borgois et li communité des viles eslisent lor poesté et lor signour tel comme il quident qu'il soit plus proufitables au commun preu de la vile et de tous lor subtés (ebd.). Der letzte Teil lautet in der it. Fassung: L'altra è in Italia, dove li cittadini, e borghesi, e le comunità di loro città, eleggono loro podestà e loro signore, e tale come etti credono che sia più utile al comune pro' della città, e di tutti suoi sudditi (ders., Il Tesoro, Bd. IV, 282: Buch 9, Kap. 1).
1. Mensch und Bürger, Gemeinschaft und Stadt
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ben das Niveau der besprochenen Werke nicht mehr erreicht. Und in Deutschland? Stadtspiegel oder Ratmannenspiegel findet man hier seit dem 15. Jahrhundert. Grundlegende Aussagen über „Bürger und Stadt" sind jedoch auch in diesen Opuscula selten. Ausnahmen bestätigen die Regel: Im Jahre 1495 vollendet der Stadtarzt und Sängermeister Johann von Soest (1448-1506) ein buchlyn mit dem Titel , Wy men wol ein statt regym sol1. Gewidmet ist die kleine Schrift dem Rat der Stadt Worms. Sie ist in Deutsch verfaßt, aber am Ende eines jeden Kapitels finden sich lateinische declaraciones, die Herkunft oder Stellenwert der vorgetragenen Gedanken noch einmal eigens thematisieren13. Gerade sie machen deutlich, daß der Autor mit den Grundbegriffen zeitgenössischer Gesellschaftstheorie wohlvertraut gewesen ist. Gleich im ersten Kapitel stellt Johann die grundsätzliche Frage: Wass eyn statt sy? Seine Antwort ist aufschlußreich. Eyn statt ist eyn communitett/ In lyeb und frontschafft vest und stett. Diese Begriffsbestimmung weist auf die eynigheit als Grundverfassung des Gemeinwesens: Dan das wortt statt heyst ciuitas/ Quasi ciuium mitas/ Das ist zu teutsch so vil gerett/ Als bürgerlich vereynung stett. Dann sagt der Wormser Stadtarzt noch, was die Kennzeichen des bürgerlichen Lebens sind: Ein „ehrbares Leben" (eerbar leben) und „Gottesfurcht" (gottes focht)·, außerdem solle man mit eem arbeyt sein brot verdienen und seinen Nächsten als „Gleichen" achten: Und halt dyn nesten glich als dich/ So helstu dich recht bürgerlich In knappen Reimen ist die Stadtgesellschaft als einheitliche Lebensform gleicher Bürger gekennzeichnet. Bliebe ein Leser bei der Betrachtung des deutschen Textes stehen, könnte er der Meinung sein, ein lebendiges Porträt der Stadt vermittelt bekommen zu haben. Und das mit gewissem Recht. Aber: Er hätte nicht viel von dem verstanden, was Johann von Soest hier sagen wollte. Erst die jeweils an eine deutsche Passage anschließende lateinische , declarado' nennt die Quellen und bezeichnet den „wissenschaftlichen" Standpunkt des Autors. Die „Erläuterung" des ersten Kapitels beginnt mit einem Hinweis auf das erste Buch der ,Politik' (gemeint ist ,Politik' 1252a 1-7). Dort werde „Stadt" (ciuitas) verstanden als „Gemeinschaft" (quedam communitas), die um eines Gutes willen eingerichtet ist. Der Grund für die Existenz der 13
Eine Ed. der deutschsprachigen Teile der Schrift in H.-D. Heimann, Didaktische Literatur, 21-39, 77f (Lit.). Die Entscheidung, die lateinischen declaraciones am Ende jedes deutschen Kapitels nicht zu edieren, mag die Druckkosten gesenkt haben, ist unter begriffs- und theoriegeschichtlichen Gesichtspunkten jedoch bedauerlich. Wer den lat. Text nicht vorliegen hat, interpretiert auch den deutschen falsch. Der Hg. hat die Schrift und die Gattung allgemein behandelt in: H.-D. Heimann, Stadtspiegel. - Das folgende Zit. bezieht sich auf das MS, in Klammern auf die Ed. ; das lat. Zit. nur auf das MS. 14 Johann von Soest, Statt, fol. 3r ff (230-
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I. Einleitung
Stadt, also das „Gute" als Telos dieser besonderen Gemeinschaft, ist nun nichts Geringeres als die Natur des Menschen: Denn ein „natürlicher Trieb" (naturalis impetus) lasse uns nach dieser communitas ciuitatis streben, sei der Mensch doch ein „politisches und bürgerliches Lebewesen" (animal polliticum et ciuile). Anders als Aristoteles an der zitierten Stelle (1253a 2) setzt Johann von Soest kurzerhand „politisches Lebewesen" (animalpolliticum) mit „Bürger" (ciuis) gleich und fährt fort: Ciuitas und ciuis hätten dasselbe Ziel : viuere ciuiliter. Dazu sei erforderlich, daß ein jeder Bürger ein gutes und tugendhaftes Leben führe. Die etwas umständliche Argumentation verbindet die Aristotelische Idee der polis als koinonia politike mit dessen Bemerkungen über den „Staat" als einer Gemeinschaft, die nicht nur das Leben, sondern das „gute Leben" ermöglicht (1252b 30). Auch bei Aristoteles stehen beide Gedanken im Zusammenhang mit dem Konzept des zoon politikon (1253a 2), allerdings ohne die Verknüpfung des Gedankens mit dem Bürgerbegriff. Aber nicht nur in diesem Punkt geht der Autor des 15. Jahrhunderts über seine Vorlage hinaus. Viuere ciuiliter bedeutet ihm „Freundschaft" unter Bürgern, hier kann er sich noch auf andere Texte des Griechen berufen; aber vor allem und untrennbar verbunden damit fordere „bürgerliches Leben" von jedem, daß er „Gott aus ganzem Herzen und den Nächsten wie sich selbst" liebe15. Bürgerliche und christliche Gleichheit, Bürgerfreundschaft und Nächstenliebe, Ehrbarkeit und Gottesfurcht, politische und religiöse Dimensionen der Gemeinschaft, Mensch, Christ und Bürger verschmelzen zu einem Bild. Bemerkenswert an dieser Synthese ist der enge Zusammenhang, der zwischen der Aristotelischen Definition eines animalpoliticum und der mittelalterlichen Bürgerstadt hergestellt wird. Ein .gelehrter' Leser hätte folgende Begriffe in Verbindung gebracht: Communitas und ciuitas mit communitett und statt, ciuitas und vnitas ciuium mit bürgerlich vereynung, viuere ciuiliter mit bürgerlich leben, bene et virtuose mit eerbar, animal polliticum mit burgher. Aber konnte ein Zeitgenosse die Bürgerstadt im Ernst 15
Der nicht ed. Text sei zusammenhängend zit.: Notum est ex primo polliticorum omnem communitatem gracia boni esse ordinatam: Cum igitur ciuitas quedam sit communitas, necesse est vt gracia boni existât: et non solum boni apparentis: sed edam boni existentis, quia naturalis impetus nos ad talem communitatem qualis est communitas ciuitatis inclinât, cum homo dicatur animai polliticum naturaliter et ciuile, primo polliticorum. Cum igitur juxta philosophum idem finis sit vnius ciuis et tocius ciuitatis. Et viuere ciuiliter sit viuere secundum virtutem et gracia boni. Necesse est quemlibet ciuem esse talem, quod viuat bene et virtuose vt tota civitas virtuosa existât: Sed quia hoc non fit nisi per dilectionem dei et proximi, necesse est quemlibet virtuose viuere volentem ante omnia diligere deum ex toto corde, et proximum sicut seipsum et erit ciuitas permanencior: Cum dilectione et amicia [sic] communitas et regnum conseruantur, quinto polliticorum (Johann von Soest, Statt, fol. 4r: Interpunktion ist ergänzt).
1. Mensch und Bürger, Gemeinschaft und Stadt
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für den eigentlichen Ort menschengemäßen Lebens halten? Wie dem auch sei, Johann von Soest hat versucht, die Frage nach dem Wesen des Bürgers und der Stadt mit Hilfe politiktheoretischer Modelle ein Stück weit zu klären und die Fundamente einer „Theorie der Stadt" tiefer zu legen. Der stichprobenartige Einblick in einige „Stadtspiegel" des Mittelalters hat zentrale Begriffe der Beschreibung kommunaler Wirklichkeit anklingen lassen : Civitas, civis, (statt, burgher), communitas und libertas. Immunitas stand für die wehrhafte Friedensordnung, für gewaltfreies Zusammenleben geringer und mächtiger Bürger. Wichtige Herrschaftsprinzipien, insbesondere die Wahl der Amtsträger und die Wahrnehmung von Mitspracherechten durch das Volk, wurden benannt. Auch Ansätze einer „Theorie der Stadt" waren ausmachbar. Brunetto Latini reihte die Kommunen seiner Zeit unter die guten Herrschaftsformen ein, und Johann von Soest machte sich Gedanken über das Wesen des Bürgers. Angedeutet fand sich auch die enge Beziehung, die man zwischen biblischen und weltlichen Begründungen der Herrschaft, zwischen .gottgefälliger' und ,guter Ordnung' sah. Aber: Selbst eine gründlichere Analyse der Schriften dieser Gattung hätte ein Fülle wichtiger Fragen zum mittelalterlichen Verständnis von „Stadt und Bürger" offen gelassen; einen kleinen Teil davon wollen wir im folgenden zu beantworten versuchen. Dabei handelt es sich einmal um Fragen zum Begriff „Stadt" : Wie haben gelehrte Zeitgenossen das Wesen der städtischen Gemeinschaft bestimmt oder: was für eine Art communitas war die Stadt in ihren Augen? Bewerteten sie diese Herrschaftsform in wesentlichen Punkte anders als das regnuml Wie haben Autoren des Mittelalters das regimen civitatis eingeordnet in die größeren politischen Einheiten der Zeit? Mit welchen Konzepten analysierten sie die Struktur kommunaler Verfassung und womit wurde interne Machtverteilung begründet? Sah man „Stadt" nur als säkulares Gemeinwesen oder reflektierte man auch über die andere Seite der Ordnung: über Geltung des Kirchenrechts und Gerichtsbarkeit geistlicher Institutionen? Wurden Parallelen zwischen der Idee irdischer Stadtgesellschaft und Vorstellungen der „Himmelsstadt" thematisiert? Zum anderen sind da Fragen nach dem zeitgenössischen Konzept des Bürgers, auf die wir in den „Städtespiegeln" ebenfalls keine ausreichende Antwort gefunden haben: Wie grenzten mittelalterliche Autoren „Bürger" von anderen sozialen Gruppen ab? Welche Bedeutung wurden der Mitgliedschaft in der Bürgergemeinde, welches Gewicht politischer Partizipation zugemessen, und was von beiden stand im Zentrum des Interesses? Wie dachte man sich die Eingliederung eines „Neuen" in die universitas civiuml Wenn wir die seltsam anmutende Ineinanderblendung von „Mensch" und „Bürger" bei Johann von Soest aufgreifen und auseinanderlegen, könnte man alle Aspekte unter folgende Wesensfrage bringen:
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I. Einleitung
Was machte im damaligen Verständnis eigentlich einen „Menschen" zum „Bürger"? Die Beantwortung dieser Fragen, das ist augenfällig, wird sich nicht mit der Analyse nur einer Quellengattung begnügen können. Auch scheidet eine Begrenzung auf Schriften, die sich mit einer einzelnen Stadt oder Städtelandschaft beschäftigen, von vornherein aus. Aber eine erste Richtungsangabe ist schnell zur Hand. Waren doch im Mittelalter für prinzipielle Fragen dieser Art drei Wissenschaften zuständig: Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Theologische, philosophische und juristischen Schriften sollen deshalb Grundlage unserer Arbeit sein. Die genauere Auswahl wird im Zusammenhang mit einer Sichtung der Sekundärliteratur zu diesem Thema erläutert.
2. Forschungslage im Überblick, Quellenauswahl und Methode Max Weber hatte in seiner Arbeit ,Die Stadt' versucht, den mittelalterlichen Bürger als homo oeconomicus zu begreifen und abzuheben vom antiken homo politicus 16. Otto Brunner und viele andere folgten Weber in dieser Gesamteinschätzung. Eckhard Müller-Mertens dagegen hat jüngst die weltgeschichtliche Bedeutung der politischen Dimension des vormodernen Stadtbürgertums wieder stärker akzentuiert und herausgearbeitet 17 . Die Einzelheiten dieser Diskussion interessieren hier nur am Rande, bezeichnend jedoch ist ein Vergleich mit der begriffs- oder ideengeschichtlichen Forschung zum spätmittelalterlichen Bürgerbegriff. Im ersten Falle haben wir es mit einer kontroversen und lebendigen Debatte zu tun, im zweiten mit einer scheinbar abgeklärten Forschungsidylle. Es gibt zwar mitreißende Untersuchungen zum Florentiner Bürgerhumanismus 18 , umkämpfte Positionen in der Auseinandersetzung um einzelne Aspekte politischer Ideengeschichte, so bei der Einschätzung der epochalen Bedeutung des „klassischen Republikanismus" 1 9 , aber Fragen nach dem Wesen des Bürgers und seiner Lebensordnung im mittelalterlichen politiktheoretischen Denken insgesamt, sind seit den Tagen Walter Ulimanns nicht mehr 16 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 805. Dazu vgl. K. Schreiner, Stadt in Webers Analyse, bes. 122f. " O. Brunner, Bürgertum; E. Müller-Mertens, Autonomie. 18 Zentral die Werke v. H. Baron, vor allem ders., Crisis. Die Lit. kann man gut erschließen über die nun zusammengestellte Auswahl seiner Aufsätze: ders., Civic Humanism. Vgl. auch A. Rabil Jr., „Civic Humanism"; Q. Skinner, Foundations I, 69-112, 139-189. " Für diese Diskussion steht der Name J.G.A. Pocock und seine klassische Studie .Machiavellian Moment'. Einen guten Zugang zu Debatte und Lit. liefert W. Nippel, Klassischer Republikanismus, u. ders., Bürgerideal und Oligarchie.
2. Forschungslage im Überblick, Quellenauswahl und Methode
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Gegenstand einer umfassenden Würdigung gewesen. Monographische Bearbeitungen des Themas fehlen gänzlich 20 . Walter Ulimann betonte wie kein anderer die Rolle der Rezeption der antiken Staatstheorie bei der Transformation der mittelalterlichen Weltanschauung. Er diagnostizierte einen grundlegenden Wechsel der Perspektive im 12., besonders aber im 13. Jahrhundert: Habe man vorher die menschliche Ordnung in der göttlichen begründet gesehen und alle Herrschaft als Ausfluß der beiden höchsten Gewalten (Papst und Kaiser) begriffen, so gelte nun das Volk als Fundament legitimer Herrschaftsausübung: Die Theorie von der herabsteigenden Gewalt („theocratic-descending theory") wurde ergänzt, zum Teil auch ersetzt durch die These von der aufsteigenden' Herrschaftsbegründung („ascending thesis") 21 . Dieser komplexe Vorgang ist von Ulimann in aller Ausführlichkeit und in immer neuen Anläufen geschildert worden. Die grundlegenden theoretischen Quellen, aus denen die Vertreter der Theorie einer „aufsteigenden Herrschaftsgewalt" ihre Argumente bezogen, waren für ihn das Römische Recht, insbesondere aber die .Politik' des Aristoteles. Und ein Kernpunkt der neuen Sicht der Dinge war seiner Ansicht nach die Ersetzung des „Untertanen" durch den „Bürger" 22 . Das anschauliche und pointierte Bild ist nicht unwidersprochen geblieben 23 . Anders als Ulimanns Kritiker, die ihm vor allem die Überbewertung der „revolutionierenden" Rolle politischer Theorie vorwerfen, sind wir der Meinung, daß seine Anregungen noch immer bedenkenswert sind. Die Schwächen der Ullmannschen These liegen vermutlich weniger in einer Überschätzung einzelner Diskurse, als in dem sehr breiten, allgemeingeschichtlich motivierten Herangehen an das Thema. Wenn hier die Frage nach dem Begriff des Bürgers in der mittelalterliche Theorie wieder aufgenommen wird, dann können die Erfahrungen dieser mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Diskussion ebenso genutzt werden wie die seither erbrachten Ergebnisse einer methodologischen Debatte in der begriffsund ideengeschichtlichen Forschung 24 . 20
Zur Geschichte des deutschen Begriffs „Bürger" gibt es eine Diss, aus dem Jahre 1952 von von W. Meschke, Das Wort „Bürger". 21 W. Ullmann, Middle Ages, 159ff; vgl. auch ders., Individuum und Gesellschaft, 74-107; ders., Renaissance Humanism, 89-117; ders., Principles of Government, 215-305; ders., Concilium. 22 W. Ullmann; Middle Ages, 164f, beispielsweise. Das Thema greift er in allen Schriften auf, vgl. auch o. Anm. 9. 23 Vgl. bes. die Kritik von F. Oakley, Vision of Politics, 32ff. Vgl. u. Kap. III Anm. 2 u. 4. 24 Die Auffassung, daß man verschiedene „languages" - die Sprachen der Philosophen, Juristen, Humanisten beispielsweise - sorgfaltig unterscheiden muß, ist das wichtigste Ergebnis. Pointiert vorgetragen hat es z. B. J.G.A. Pocock, History and
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I. Einleitung
Insbesondere sind es zwei Dinge, die unseren Zugriff von dem Ulimanns unterscheiden. Belehrt über die Notwendigkeit, einzelne theoretische Diskurse in ihrer Eigenlogik zu verfolgen, wollen wir die theologischen, philosophischen und juristischen Dimensionen der Begriffe in getrennten Arbeitsschritten behandeln. Und: Anders als Ullmann geht es uns nicht um die Frage der Ablösung einer Weltanschaung durch eine andere. Wir erhoffen genauere Auskunft über die Bedeutung der Begriffe, indem wir den Fragehorizont verengen und „Stadtbürger" und „Stadtverfassung" zu Leitmotiven der Untersuchung machen. Damit soll die Vieldeutigkeit, die politischen Grundbegriffen eigen ist, systematisch eingegrenzt werden. „Bedeutungsüberhänge" und Verweise über den hier untersuchten Verwendungszusammenhang hinaus sind dabei methodisch unvermeidbar und stets in die Interpretation der Befunde einzubeziehen25. Nachdem Fragestellung und Zugriffsweise dargelegt sind, bleibt noch das Problem der angemessenen Quellengattungen. Ausführliche Hinweise auf die jeweilige Forschungslage und speziellere methodische Probleme erübrigen sich hier: Sie werden im Zusammenhang der einzelnen Kapitel erörtert. Gottesfurcht und Nächstenliebe hatte Johann von Soest als Grundlagen des „bürgerlichen" Zusammenlebens in der Stadt und als Elemente des viuere ciuiliter genannt. Auf der Suche nach Texten, die Auskunft geben über „Stadt" und „Bürger" im theologischen Diskurs, sind wir auf eine faszinierende Quellengattung gestoßen, die unter unserer Fragestellung noch nicht zusammenhängend ausgewertet wurde. Gemeint sind Traktate und Predigten über die Verfassung der Himmelsstadt und über die Ordnung jener transzendenten Idealstädte, in denen vollkommene Menschen oder Heilige leben26. Die Einbeziehung dieses Genres rechtfertigt sich aus Fortsetzung Fußnote von Seite 19 Ideology, u. ders., Rights and Manners. Ein Würdigung Pococks bei I. HampsherMonk, Languages in Time (mit Bibliographie der Werke Pococks und der einschlägigen Rezensionen bis 1982). Neuere Beispiele dieses Ansatzes sind die Beiträge in: A. Pagden (Hg.), Languages of Political Theory. - Die Versuche, J.L. Austins Sprechakttheorie in die Methodologie der „history of political ideas" zu übertragen, müssen mit Skepsis betrachtet werden. Ambitioniert hatte Q. Skinner, Meaning and Understanding, diese Position 1969 vertreten. Doch auch er ist in seinen neueren Arbeiten vorsichtiger geworden. Zur grundsätzlichen Kritik vgl. P.L. Janssen, Response to Skinner and Pocock. 25 Zur Methodologie einer Begriffsgeschichte, die nicht nur Verwendungsweisen und semantischen Kontexte gebrauchter politischer Begriffe genauer in den Blick nimmt, sondern darüber hinaus Wechselbeziehungen von Sozial- und Begriffsgeschichte sichtbar zu machen imstande ist, vgl. die Aufsatzsammlung von R. Koselleck, Vergangene Zukunft (bes. die im Kap. II zusammengefallen Arbeiten), und dessen Einleitung zum ersten Band des Lexikons .Geschichtliche Grundbegriffe'. 26 Auch H. Kugler, Vorstellung der Stadt, führt hier nicht viel weiter. Vgl. u. Kap. II Anm. 20.
2. Forschungslage im Überblick, Quellenauswahl und Methode
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den genannten Leitmotiven: .Bewohner' dieser Gemeinschaften treten uns eindeutig als Städter entgegen. Der theoretische Zuschnitt der Fragen rückte wie selbstverständlich die Politikkommentare des Spätmittelalters in den Mittelpunkt des Interesses. Bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein hatte man sich schon einmal intensiv mit diesen Schriften auseinandergesetzt, dann aber ging die Zahl der Arbeiten zu diesem Thema merklich zurück27. Die Arbeiten dieser Zeit, zusammen mit einzelnen seither erschienen Aufsätzen und Monographien, bilden das Fundament unserer Beschäftigung mit den Kommentaren zur .Politik'. Die Konzentration auf den „Stadtbürger" fällt bei dieser Literaturgattung am schwersten. Aber an wichtigen Schnittstellen der Argumentation ist auch in den Kommentaren die Stadt als Hintergrund der Vorstellungsbildung präsent und nachweisbar. Der hohe Abstraktionsgrad dieser Quellen wird am Ende abgefangen durch einen Ausblick auf zentrale Werke der politischen Theorie der Zeit. Am vielversprechendsten ist die Forschungslage in bezug auf die juristische Literatur des Spätmittelalters. Insbesondere Rechtshistorikern kommt das Verdienst zu, die Frage nach dem Wesen des Bürgers von der Stadtgesellschaft her neu aufgerollt zu haben 28 . So fanden sie in Rechtsgutachten mittelalterlicher Juristen Spuren philosophischer Argumentationen und Erörterungen prinzipieller Probleme bürgerlicher Existenz. Neben Konsilien haben wir vor allem Glossen und Kommentare zum ^orpus Iuris' sowie eigenständige juristische Traktate zur Beantwortung unserer Fragen verwandt. Jede der drei genannten Quellengruppen wird in einem Kapitel behandelt, jede fordert eigene Schwerpunktbildungen. Steht im theologischen Diskurs die Stadt als ganzheitliche Ordnung im Vordergrund, so werden die philosophischen Texte mehr unter dem Gesichtspunkt „Bürgerbegriff" untersucht. Juristen haben zu beiden Polen unserer Thematik umfangreiche Beiträge geliefert. Und über die konkrete Form der Stadtverfassung und den Status einer Kommune im Verband eines Reiches ist bei ihnen am meisten zu erfahren. Daß die Analyse ihrer Schriften in unserer Untersuchung den breitesten Raum einnimmt, ist daher kein Zufall. Noch auf ein weiteres Ungleichgewicht sei hingewiesen. Bei den Politikkommentaren handelt es sich um Texte eines allgemeineuropäischen Diskurses praktischer Philosophie. Dessen Zentrum blieb das ganze Mittelalter hindurch die Universität Paris; hier wurden Standards gesetzt, die Gelehrte aller 27
Vgl. u. Kap. III Anm. 2. Bes. zu nennen sind die Arbeiten von J. Kirshner und J.P. Canning; vgl. aber auch die u. Kap. IV Anm. 96 angeführten Autoren und Untersuchungen. Methodologische Probleme der Rechtsgeschichte sind, außer in den einleitenden Bemerkungen zum ebengen. Kap., zu finden u. Kap. IV Anm. 89 u. 90. 28
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I. Einleitung
Länder befolgten 29 . Eine Regionalisierung der Fragestellung macht daher wenig Sinn. Beim theologischen und juristischen Diskurs jedoch haben wir schwerpunktmäßig italienische und deutsche Autoren ausgewählt. Diese Entscheidung entspricht eigenem Interesse, ist aber auch von den Quellen her begründbar. Allein Städte im Bereich des mittelalterlichen Kaiserreiches konnten ein hohes Maß an Selbständigkeit langfristig aufrechterhalten; außerdem ging alle Rechtstheorie der Zeit, wenn man einmal die innovative Rolle der Schule von Orléans beiseite läßt, von Italien aus. Abschließend noch eine Bemerkung zur Darstellungsweise. Begriffs- und Theoriegeschichte lebt aus dem einst geschriebenen Wort. Sie ist nur nachvollziehbar, wenn die Texte, über die diskutiert wird, in der Quellensprache überprüft werden können. Das gilt besonders, wenn viele der diskutierten Stellen nur in Manuskriptform oder in schwer zugänglichen Editionen vorliegen. Zitate im Kontext und in der Sprache der Quellen bereitzustellen, ist daher eines der Anliegen der folgenden Darstellung. Andererseits machen umfangreiche fremdsprachige Quellenzitate jeden Text unleserlich. Es wurde deshalb ein variables Verfahren gewählt, das lange Passagen auflöst in Paraphrase, indirekte Rede, deutsche Teilübersetzungen und dies häufig verbindet mit der Einfügung möglichst kurzer, grammatikalisch leicht überschaubarer lateinischer, französischer und italienischer Quellenauszüge. Der zusammenhängende Text wird dann in der Anmerkung gebracht. So soll also im folgenden die Behandlung des Bürgers und der Stadt in mittelalterlichen theologischen, philosophischen und juristischen Diskursen untersucht werden 30 . Vielleicht können die Ergebnisse der Arbeit dazu anregen, nicht nur nach einem Idealtyp des mittelalterlichen Stadtbürgers zu fragen, sondern sich auch Gedanken zu machen über den Idealtyp des Bürgers in der Theoriediskussion dieser vergangenen Zeit.
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Vgl. J. Miethke, Rahmenbedingungen, 94f, über die Ausstrahlungskraft der Pariser Universität auf wichtige Politiktheoretiker des Mittelalters. 30 Im folgenden werden die Termini „Theologen", „Philosophen" und „Juristen" häufig plakativ gebraucht. Präzise ist diese Redeweise eigentlich nur bei den Juristen. Thomas von Aquin beispielsweise, der im III. Kapitel als Philosoph besprochen wird, ist natürlich in erster Linie Theologe. Und viele der behandelten Philosophen sollte man eigentlich besser als Artisten bezeichnen. Auch die Einordnung der Prediger in diese grobe Schematik ist nicht unproblematisch. Die Begriffe „Theologen", „Philosophen" und „Juristen" sollen trotz dieser Bedenken verwendet werden: kann man damit doch in der gebotenen Kürze Teilnehmer der theologischen, philosophischen und juristischen Diskurse kennzeichnen und so die unterschiedlichen „Sprachen" am einfachsten auseinanderhalten. In jedem Einzelfall wird der Status einer Person natürlich genauer beschrieben.
II.
Theologie der Stadt
Im Jahr 1968 erschien eine Untersuchung mit dem Titel ,Théologie de la ville'. Ihr Autor, Jean Comblin, wollte mit Hilfe historischer, soziologischer und anthropologischer Fragestellungen Theologen und interessierte Laien anregen, über die Grundlagen christlichen Zusammenlebens in der Industriegesellschaft neu nachzudenken. Die Stadt, in deren Schoß abendländische Wissenschaft, Technik, Demokratie und Freiheit zum ersten Male das Licht dieser Welt erblickt hatten, ist für Comblin gleichermaßen Vorbild und Modell der Christengemeinde. Seiner Meinung nach müssen die Überlegenheit der Urbanen Lebensform wieder Gegenstand innerkirchlicher Diskussion, praktische Konsequenzen daraus neu durchdacht werden. Es geht dem Theologen um die Wiedergewinnung des „mystère de l'Église locale". Die Stadt ist ihm Inbegriff aller positiven Werte unserer Kultur, aber ebensosehr Ort konkreter Begegnung: „La ville est la communion des hommes par le moyen de leurs corps. Car les hommes ne sont pas des esprits purs. Ils ne communiquent que par la médiation de leur corps. Les idéologies sont fondées sur une conception angélique de l'homme. La ville est le vrai contexte d'une vie humaine développée" 1 . Mittelalterliche Theologen sahen die Dinge anders. Die „Theologie der Stadt", welche sie vom 12. bis zum 14. Jahrhundert in Traktaten und Predigten entwickelten, zielte in ihrer Metaphorik nicht auf praxisnahe Reform der Ortskirchen. „Stadt" bedeutete in diesem theologischen Diskurs zugleich mehr und weniger. Weniger, weil das Ideal nicht konkret, nicht auf innerweltliche Verwirklichung angelegt war; mehr insofern als die ideale Gemeinschaft der Gläubigen, Märtyrer und Heiligen - die übergeschichtliche ecclesia - , und schließlich das Himmlische Jerusalem selbst Züge einer mittelalterlichen Stadt, ihrer Bürgergemeinde und Verfassungsordnung annahmen. Diese Übertragung der mittelalterlichen Stadtwirklichkeit in überirdische Gemeinschaftsformen soll im folgenden mit „Theologie der Stadt" bezeichnet und auf den Begriff gebracht werden 2 . 1 J. Comblin, Théologie de la ville, 11, 15, 470 (Zitat); das Mittelalter spielt für Comblin bei der Wiedergewinnung einer „Théologie de la ville" eine große Rolle, vgl. ebd. Kap. 6.2.: „L'homme, animal de ville, dans la théologie médiévale", 440447. Die Bedeutung der Rezeption der Aristotelischen ,Politik' durch Thomas von Aquin ist Zentrum der Gedankenführung. Aber: Comblins Jahrtausende übergreifende Fragestellung ist nur teilidentisch mit unserer. Inhaltlich gibt es keine Berührungspunkte, in seiner „Théologie de la ville" werden die ins Zentrum unserer Untersuchung gestellten Autoren nicht behandelt. 2 Die Frage ist bisher fast immer in umgekehrter Zielrichtung gestellt worden. So kommt A. Haverkamp in einer neueren Arbeit über .Heilige Städte' bei der Behandlung von Trier, Mainz und Köln zu dem Ergebnis, „daß die in der Bibel und im augustinischen Gedankengut verankerte Vorstellung von der civitas caelestis wie auch
24
II. Theologie der Stadt
Dabei geht es nicht um ein abgelegenes Stück Theologiegeschichte. In der Rekonstruktion dieses Vorgangs, in dessen Verlauf die Himmelsstadt zu einer komplexen Gesellschaftsordnung mit dem Antlitz der mittelalterlichen Stadtgemeinde ausgestaltet worden ist, erschließt sich vielmehr eine vernachlässigte Dimension jenes okzidentalen Prozesses, den Max Weber „Rationalisierung" genannt hat. Die Darstellung der „Theologie der Stadt" beginnt mit den ersten Reaktionen von Klerikern und Theologen auf Städtegründung und Kommunebewegung im Hochmittelalter (1.). Dem hier analysierten negativ besetzten Stadtbegriff wird dann in den Texten von Rufinus und Wilhelm von Auvergne die positive Aufnahme der Metapher „Stadt" in den theologischen Diskurs gegenübergestellt (2.). Punkt 3 und zugleich Zentrum des Kapitels sind Predigten, die Albertus Magnus um 1260 in Augsburg hielt. Darin wird unser Thema in einzigartiger Fülle und konzeptueller Vollständigkeit behandelt. Der Analyse der Predigten des deutschen Dominikaners folgt die Beschäftigung mit den Predigten eines italienischen Ordensbruders. Diese, von Giordano da Pisa gehalten und in der Volkssprache überliefert, bilden in mancher Hinsicht den Höhepunkt der mittelalterlichen „Theologie der Stadt". In ihnen werden Gestalt und Ordnung der Himmelsstadt, jener Città di Dio, den Florentiner Bürgern in aller wünschenswerten Klarheit vor Augen geführt und zum Vorbild empfohlen (4.). Am Ende schließlich steht der Versuch einer typisierende Zusammenfassung der Ergebnisse (5.).
1.
Babylon. Grundmuster klerikaler und frühhumanistischer Stadtkritik
Die Geschichte des Menschen begann in einem Garten, in blühender Landschaft, dem Paradies. Das Ende der Geschichte, das zweite Paradies, so führt Dolf Sternberger den Gedanken weiter, „hat eine ganz andere, ja Fortsetzung Fußnote von Seite 23 der civitas Dei tatsächlich auf die irdische Stadt übertragen werden konnte..." (ders., Heilige Städte, 154). - Mit der hier verfolgten „Theologie der Stadt" ergeben sich kaum Überschneidungen. Nicht die Erklärung irdischer Wirklichkeit durch Metaphern, die einem theologischen Konzept der Himmelsstadt entlehnt sind, interessiert uns vor allem, sondern Thema soll die theoretische Verarbeitung und anschauliche Nutzung der Erfahrung stadtbürgerlicher Wirklichkeit zu einem mehr oder weniger konsistenten Gesamtbild der Himmelsstadt sein (Anstöße in diese Richtung gaben bereits W. Braunfels, Stadtbaukunst in der Toskana, 245f, und H. Bauer, Säkularisierung). Dieses „Gesamtkonzept" soll darüber hinaus nicht unser Konstrukt sein, es muß sich als Ganzes jeweils im Text eines Autors belegen lassen. Oder anders gewendet: Es muß als Modell eine Möglichkeit zeitgenössischen Denkens selbst gewesen sein.
1. Babylon. Grundmuster der Stadtkritik
25
entgegengesetzte Gestalt: die der Stadt. Das Ewige Leben ist ein städtisches" 3 . Das Weltbild, das Sternberger hier auf eine einprägsame Formel bringt, hat ebenfalls seine Geschichte. Frühmittelalterliche Autoren sahen das „Himmelreich" im Bilde des ersten Paradieses als lieblichen Garten, als locus amoenus. Seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, also zeitgleich mit der Entstehung der Kommunebewegung, stellte man den Himmel immer häufiger vor in der Art des Himmlischen Jerusalem, der sancta civitas der Johannesapokalypse. Diese Himmelsstadt, visio pads und Braut Christi, hatte Tore, Mauern und Straßen; sie war bisweilen erbaut aus lebendigen Steinen, aus Steinen, die in ihrer Schönheit, Geschliffenheit und ihrem Ebenmaß für die geläuterten Gläubigen standen 4 . Es ist jedoch gerade nicht dieses Bild der civitas sancta gewesen, das Kleriker des Hochmittelalters als Vorbild und Modell nahmen, wenn sie sich mit der neuen Lebensform Stadt, mit den Bürgern und ihrer Verfassung auseinanderzusetzen hatten. In den konkreten Städten ihrer Zeit sahen diese Autoren eher das genaue Gegenbild der Himmelsstadt, diagnostizierten sie Phänomene, die sie nur in der Metapher der „Hure Babylon" zu deuten imstande waren. Bekannt ist das Diktum des Abtes Guibert von Nogent (1053 - um 1124), für den Schwureinung (communio) ein „neues und sehr schlechtes Wort" (nomen novum ac pessimum) ist; ähnlich das Urteil des englischen Mönches Richard von Devizes, der aus der conjuratio der Londoner Bürger im Jahre 1191 nur Unheil hervorgehen sieht: „Die Kommune ist ein Geschwür am Volksganzen, ein Schrecken dem Königtum, der Kirche ein Schauder" (communia est tumor plebis, timor regni, tepor sacerdotii f .
3
D. Sternberger, Rede über die Stadt, 14. Denselben Sachverhalt hat auch J. Comblin im Auge: „Le paradis est un parc situé à la campagne ... Mais la dernière page de la Bible est la vision de la Ville nouvelle, universelle et éternelle ... De la campagne à la ville, d'un parc de campagne à un parc de ville, c'est comme si la Bible nous montrait un long voyage de l'humanité, et ce voyage ressemble très fort au mouvement que l'histoire des derniers millénaires de l'humanité nous révèle" (ders., Théologie de la ville, 15). 4 Vgl. H. Kugler, Vorstellung der Stadt, Kap. 3: „Himmelsstadt und Stadtgemeinde", 79 ff, bes. 84 f. Vgl. auch den Artikel „Jérusalem Céleste" von É. Lamirande. Zum Thema irdische und himmlische Stadt, Babylon und Jerusalem vgl. die grundlegenden Arbeiten von H. Bauer, Säkularisierung; O. Borst, Babel, bes. 4469; W. Braunfels, Stadtbaukunst in der Toskana, bes. 48ff, 85, 131-139; C. Frugoni, Distant City (hier 24ff); A.I. Galletti, Modelli urbani. 5 Nachweis der Zitate Guiberts und Richards sowie weiterführende Literatur bei K. Schreiner, Kommunebewegung, 139 f; zur Stadtkritik vgl. jetzt auch: ders., Iura et libertates, 61 u. 64. Zum Wortgebrauch von conjuratio, communio im Sinne von „Schwureinung" im Hochmittelalter vgl. P. Michaud-Quantin, Universitas, 129133 u. 156-166, bes. 162. Erst allmählich hat sich eine Unterscheidung in erlaubte
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II. Theologie der Stadt
Tätigkeit und Lebensform der Bürger erschienen vielen hochmittelalterlichen Zeitgenossen als ein einziges Abirren von gottgefälligen Normen und kirchlich geprägten Idealen. Jakob von Vitry ( t 1240), Regularkanoniker in Brabant, später Bischof und Kardinal, erkennt in den Bürgern der „babylonischen Städte" seiner Zeit nichts als einen „zutiefst verlorenen Menschenschlag". Städte sind ihm „gewalttätige und verderbenbringende Gemeinwesen", in denen einer den anderen beneidet und betrügt, durch die darüber hinaus Nachbarn bekämpft und Pilger ausgeplündert werden. In diesen Kommunen würden Häretiker begünstigt und öffentliches Geld zu Wucherzinsen verliehen. Besonders verwerflich findet der Prediger, daß einzelne Bürger sich im Falle der Kreditvergabe durch die Kommune zu Wucherzinsen völlig unschuldig fühlen und meinen, etwaige Sündenstrafen träfen nur die Gesamtheit und nicht die einzelnen: Sed si universitas dampnatur, quomodo ipsi dampnationem evadent; si communia ad infertilirti vadit, remaneant extra si possunt...6. Stadtkritik von Welt- und Ordensgeistlichen, die erste bewußte literarische Reaktion auf die neue Sozialform Stadt im Hochmittelalter, blieb auch in den folgenden Jahrhunderten ein Grundzug alteuropäischen Denkens. Abgehoben vom klerikalen oder monastischen Kontext trat Stadtkritik in philosophischem Gewand, im Streit um die Vorzüge der vita activa und der vita contemplativa auf. Stadtkritik konnte sich schließlich zur Kulturkritik steigern, wenn gelehrte Humanisten die Voraussetzungen wissenschaftlicher und dichterischer Produktivität durch das quirlige, laute und gesellige Leben in den Städten gefährdet sahen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Francesco Petrarca (1304—74), der vielgelesene „Vater des Humanismus". Inmitten einer Lebenskrise flieht der Dichter in den Jahren 1342/43 aus dem päpstlichen Avignon, dem „ruchlosen Babylon" (l'empia Babilonia), in die Einsamkeit der Vaucluse. Mit dieser Flucht will er seinem von Überdruß und Trägheit gezeichneten Alltag in der Stadt entkommen, sein Innerstes in Ordnung bringen und den Grundstein legen für ein sinnvolles Leben; mehr noch, nur auf diese Weise glaubt er überhaupt weiter existieren zu können: per allungar la vita (Sonett 114). Schriftlichen Niederschlag hat diese Krise der Lebensmitte
Fortsetzung
Fußnote von Seite 25
und unerlaubte coniurationes durchgesetzt, vgl. J. Sydow, Städtebünde, 224f, u. ders., Gilde, 117f. 6 Jacques de Vitry, Sermo II, 59 {...violente et pestifere communitates...; pauci sunt hodie in civitatibus Babylonicis, qui in canonem late sentencie non incidant. Unde istud perditissimum genus hominum adeo perit, quod nulli vel pauci evadunt, sed omnes ad infernum properant); Sermo III, 62 (Wucher). Vgl. A. Luchaire, Communes Françaises, 235 - 250, bes. 242 ff (Kapitel: „L'église et le mouvement communal").
1. Babylon. G r u n d m u s t e r der Stadtkritik
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in einem von Petrarca selbst ,Secretum meum' genannten Dialog gefunden 7 . Der Text ist ein fiktives Gespräch zwischen dem Kirchenlehrer Augustin und dem Dichter, der die Ursache für seinen desolaten Gemütszustand (acedia) sucht. Nach längerer Diskussion wird diese Ursache dann ausgemacht: Es ist das Stadtleben (tumultus urbium), das die Nerven des Humanisten zerrüttet und ihn in lethargische Trägheit gestürzt hat. Wer könne, klagt Petrarca, den täglichen Überdruß seines Lebens, den der Anblick dieser zudringlichsten und lautesten aller Städte ihm bereite, in Worte fassen! Plastisch schildert der Poet nach diesem Ausruf die dreckigen Schweine und räudigen Hunde in den Straßen, die lärmenden Fahrzeuge, das vielerlei Volk, Reichtum und Armut, schlimmste hygienische Verhältnisse, kurz „all das, was die an Besseres gewöhnten Sinne beleidigt, edlen Seelen die Ruhe nimmt und das Studium von Kunst und Wissenschaft vereitelt" 8 . Augustinus, der Gesprächspartner des Dialogs, stimmt dieser Zurückführung von Überdruß und Ekel auf das städtische Treiben in allen Punkten zu und bekräftigt die Analyse mit den Worten des römischen Dichters Horaz: „Die ganze Schar der Dichter liebt den Wald und flieht die Städte". Er erinnert Petrarca an dessen eigene Worte, die er einst in einem Brief zum Ausdruck gebracht habe: „Der Wald gefällt den Musen, die Stadt ist Feind den Dichtern" 9 . Die poetische Kritik städtischer Lebensform bedarf keiner weiteren Interpretation. Sie hat eine Wirkungsgeschichte gehabt und ihre Nachfolger gefunden. Doch das ist nicht unser Thema. Festzuhalten bleibt, daß Theologen und Kleriker dem Sozialgebilde Stadt zunächst mit Skepsis und Kritik begegneten. „Stadtkritik" etablierte sich fortan als eigenständige Tradi7
Z u Abfassungszeit u n d biographischem H i n t e r g r u n d vgl. H. Baron, Petrarch's Secretum. Z u m Verständnis der acedia, der Trägheit, als einer der sieben H a u p t s ü n d e n u n d deren andersartige D e u t u n g durch Petrarca im .Secretum' vgl. E. Loos, H a u p t s ü n d e , 173-182. 8 F. Petrarca, Secretum, 120. D a s längere, z.T. paraphrasierte Zitat lautet vollständig: Quis vite mee tedia et quotidianum fastidium sufßcienter exprimat, mestissimam turbulentissimamque urbem terrarum omnium [seil. Avignon], angustissimam atque ultimam sentinam et totius orbis sordibus exundantem ? Quis verbis equet que passim nauseam concitant: graveo/entes semitas, permixtas rabiáis canibus obscenas sues, et rotarum muros quatientium stridorem aut transversas obliquis itineribus quadrigas; tam diversas hominum species, tot horrenda mendicantium spectacula, tot divitum furores: illos mestitia defixos, hos gaudio Iasciviaque fluitantes; tam denique discordantes ánimos, artesque tam varias, tantum confusis vocibus clamorem, et populi inter se arietantis incursum? Que omnia et sensus melioribus assuetos confìciunt et generosis animis eripiunt quietem et studia bonorum artium interpellant. 9
Ebd.: scriptorum chorus omnis amat nemus et fugit urbes ... silva placet Musis, urbs est inimica poetis. Zu H o r a z u n d antiker Stadtkritik, vgl. Borst, Babel, 33-38.
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II. Theologie der Stadt
tion, welche im 14. Jahrhundert d a n n v o n H u m a n i s t e n aufgegriffen u n d laikal g e w e n d e t w o r d e n ist 10 .
2.
Pax urbis und civitas praeclara. „Stadt" als Metapher des vollkommenen Lebens
Seit Beginn der K o m m u n e b e w e g u n g verging mehr als ein Jahrhundert, bevor die irdische Stadt als positives Argument in einem theologischen Diskurs auftauchte. Erst i m 13. Jahrhundert findet m a n „Stadt" als Metapher für brüderliches u n d gottgefälliges Leben; seitdem k o n n t e m a n in den Vorstellungen des H i m m l i s c h e n Jerusalem bisweilen Züge entdecken, die der mittelalterlichen Bürgergemeinde u n d Stadtverfassung entlehnt waren. Beginnen wir diesen G e d a n k e n g a n g mit einer Schrift, in der B a b y l o n zwar als irdische, aber nicht mehr als satanische Stadt, als „ H u r e Babyl o n " gezeichnet w o r d e n ist. Rufinus ( t 1192), Kanonist u n d Bischof v o n Assisi, hat in seinem um 1180 verfaßten Traktat ,De bono pads' die starre Augustinische Entgegensetzung v o n Civitas Dei u n d Civitas Diaboli sive terrena aufgebrochen u n d zugunsten eines d y n a m i s c h e n K o n z e p t e s v o n Welt u n d Geschichte ü b e r w u n d e n " . Dreierlei Frieden unterscheidet er:
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Die Unterscheidung eines frühen, an franziskanischen und stoischen Idealen orientierten, eher weitabgewandten Humanismus, dessen sozialer Hintergrund die ungesicherte Stellung der Humanisten in der Gesellschaft gewesen ist, und eines späteren Humanismus im 15. Jahrhundert, dessen Vertreter Werte des bürgerlichen Lebens verteidigten und selber im politischen Leben aktiv waren, macht H. Baron: Franciscan Poverty. 11 Rufinus, De bono pacis. Dazu vgl. Y.M.-J. Congar, Rufin; M.C. De Matteis, Remigio, CXI - CXVII; K. Arnold, Friedensvorstellungen, 137-144. Im Gefolge der Rezeption der Platonischen Sozialphilosophie zu Beginn des 12. Jahrhunderts über das Bekanntwerden des Timaeuskommentars von Calcidius gelangte ein neues Konzept der Dreiteilung der Gesellschaft in den Gesichtskreis mittelalterlicher Kleriker. Nicht mehr nur nach oratores, bellatores und laboratores teilte man nun ein, sondern differenzierte im Anschluß an Piaton die civitas (Staat/Gesellschaft) in folgende drei ordines: senatores, potentes oder maiores; dann der Stand der milites oder cives honorati; schließlich, in unterschiedlich umfangreicher Aufzählung der Gewerke, Handwerker und Bauern. Bisweilen wurde seitdem auch die Civitas Dei in diese Stände untergliedert. Diese „Theologie der civitaf ist aber nicht zu einer „Theologie der Stadt" geworden. Civitas als Gesellschaft, nicht als Stadt, stand im Zentrum dieses Denkens. Vgl. P.E. Dutton, Civitatis exemplum, bes. 81 (Rezeption der Platonischen Staatstheorie im Mittelalter), 100 (Einteilungsschemata); 107, Anm. 105 und 106 (Civitas Dei: populus triplicis gradus, sapientes, milites, artifices). Vgl. zu unterschiedlichen Gliederungsmodellen der Gesellschaft auch T. Struve, Pedes Rei publicae. Zur funktionalen Dreigliederung in der mittelalterlichen Gesell-
2. Pax urbis und civitas praeclara
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den Frieden Ägyptens, den Babylons und den Frieden Jerusalems. Der ägyptische ist der des Teufels, Christi Frieden ist die pax Jerusalem, die zwar in der ecclesia vorgebildete, aber erst im Jenseits vollendete friedvolle Gemeinschaft der guten Christen und Heiligen. Dazwischen, in dieser Welt, findet sich in gefahrvoller Lage die pax Babyloniae. Dieser Friede vereint Gute und Schlechte; er gründet im Recht und wird erhalten durch wechselseitige Hilfe sowie gegenseitigen Handel. Die Herrschenden leiten das Gemeinwesen in Klugheit; zwischen Herrscher und Beherrschten besteht ein Vertrag12. Den irdischen Frieden differenziert Rufinus weiter in pax orbis, pax urbis und pax domus. Teilt man ersteren auch mit Fremden, letzteren hingegen nur mit Verwandten, so besteht die pax urbis unter Bürgern (cives). Frieden der Stadt ist pax civilis, er gilt dem forum, dem fanum und ist gebaut auf leges et quasdam consuetudinesn. Die pax mundana in ihren drei Erscheinungsformen bringt ein blühendes Gemeinwesen hervor und verbreitet Freiheiten: producit rempublicam, libertates nobilitai. Darüber hinaus und vor allem kommt ihr eine heilsgeschichtliche Funktion zu. Die pax Babyloniae, diese Gemeinschaft der Guten und Schlechten in einer irdischen Herrschaftsordnung, ist Bedingung und Voraussetzung für die pax Jerusalem: pax is ta via quaedam et scala est, per quam ad pacem Jerusalem obtinendam pertingitutJ4. Erreicht wird der Friede Jerusalems, obgleich seit der Auferstehung Christi in der Kirche im Keim vorhanden, wohl erst am Ende der Geschichte, ist dies doch jener Friede, in dem „Freiheit ohne Herrschaft" und „Gemeinschaft ohne Entzweiung" das Zusammenleben der Menschen bestimmen15. Weltlicher Friede und mit ihm der Friede der Stadt, die pax urbis, wurden, zusammen mit ihren Trägern, den Bürgern, im theologischen Diskurs des Rufinus nicht mehr auf die Seite des Satans geschlagen. Sie erhalten einen immanenten Wert zugesprochen, ihre für die Heilsgeschichte notwendige Aufgabe wurde in dieser Deutlichkeit zum ersten Mal postuliert; darin liegt die geistesgeschichtliche Relevanz des Textes. Der Kanonist Rufinus war vertraut mit den korporativen Ideen und vielgestaltigen GeFortsetzung Fußnote von Seite 28 schaft und in der Diskussion der Mediävistik, vgl. die vorzügliche Arbeit von O.G. Oexle, Wirklichkeit und Wissen (Lit.). 12 Rufinus, De bono pacis, 1611 A,B (dreierlei Friede); 1615f (Recht: iustitia); 1616 D (wechselseitige Hilfe: Humanitas,... qua diversa mortalium conditio velmutuis adjuta suffragiis, vel alternis sustentata commerciis retinetur); 1617 D (Klugheit: prudentia); 1617 B,C (Vertrag: pactio, foedus). 13 Ebd. 1621 A,B. 14 Ebd. 1624 C,D. 15 Ebd. 1638 C (...pax illius Jerusalem, ubi libertas sine dominatione, societas sine dissensione...).
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II. Theologie der Stadt
meinschaftsbildungen seiner Zeit, das kann man an den verwendeten Bildern, Begriffen und Wendungen seiner Schrift ablesen 16 . Im Sinne unserer Frage allerdings eignet gerade den Termini civitas, urbs, civis jene dem Mittelalter typische Ambivalenz, die es schwer macht zu entscheiden, ob der Autor im Einzelfall Stadt oder „Staat", Stadtbürger oder „Staatsbürger" bezeichnen will, d.h. ob er civitas als Terminus politischer Theorie gebraucht oder die Verwaltungseinheit meint. Die konkrete Gestalt der mittelalterlichen Stadt tritt dem Leser dieser theologischen Abhandlung noch nicht plastisch vor Augen; man vermutet sie hinter vielen Formulierungen, denkt sie jedoch oft eher mit, als daß sie einem anschaulich und bildhaft entgegentritt. Wir befinden uns nicht nur in einem neuen Jahrhundert, sondern auch auf einer fortgeschrittenen Stufe der Einbeziehung mittelalterlicher Stadtwirklichkeit in genuin theologische Argumentationszusammenhänge, wenn wir im folgenden den Gebrauch der Metapher „Stadt" in einem Werk des Wilhelm von Auvergne (t 1249) betrachten und nachzeichnen. 17 Wilhelm, scholastischer Theologe, Aristotelesgegner und seit 1228 Bischof von Paris, behandelt in einem Abschnitt seiner ,Summa' die Sakramentenlehre. Das Kapitel, ,De sacramento in generali' überschrieben, beginnt mit grundsätzlichen Überlegungen und Unterscheidungen. Der Wert materieller Dinge und Sachverhalte (materialia) könne, so der Bischof von Paris, allein bestimmt werden aus deren Verhältnis und Beziehung zu höheren Zielen und Seinsarten: propter perfectionem ad quam sunt 18. Denn Irdisches werde nur vom Himmlischen, Unvollkommenes nur vom Vollkommenen her begriffen und in seinem Wesen verstanden. Diese so definierte Grundstruktur alles Seins und Erkennens wird dem Leser verdeutlicht und vor Augen geführt mit Hilfe der Metapher „Stadt". Uns interessieren drei Aspekte der umfangreichen Ausführungen : Die Gestalt der Stadt und ihre Unterscheidung von anderen Lebensformen, die Ordnung der Bürgerschaft und schließlich die Frage, wie man Mitglied dieser Gemeinschaft wird. „Stellen wir uns eine Stadt vor", beginnt die Erläuterung des eben gekennzeichneten Grundverhältnisses von Sein und Wesen, „die aus dem Zusammenschluß so vollkommener Menschen besteht, daß deren ganzes Leben nichts anderes ist als Ehrerweisung und Dienst an Gott, als geschul16
Daraufhat hingewiesen Y.M.-J. Congar, Rufin, 440f. Die Schrift des Rufinus hat keine weite Verbreitung gefunden, sein Bild der Stadt Babylon als Gemeinwesen von guten und schlechten Menschen keine Schule gemacht. Gleichwohl behält die Darstellung in unserem Zusammenhang ihren Wert und ihre ideengeschichtliche Bedeutung. 17 Wilhelm von Auvergne, De sacramento. Vgl. dazu: J. Le Goff, Ville et théologie. 18 Wilhelm von Auvergne, De sacramento, 408b H.
2. Pax urbis und civitas praeclara
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d e t e P f l i c h t d e r E h r e , als U n t e r s t ü t z u n g d e r M i t m e n s c h e n " . V e r g l i c h e n m i t d e r V o r s t e l l u n g dieser h e r r l i c h e n S t a d t ist n a c h W i l h e l m s W o r t e n alles a n d e r e w i e ein W a l d , sind d i e a n d e r e n M e n s c h e n gleich w i l d w a c h s e n d e m Holz. Dieses wildgewachsene Holz mit seinen morschen Bestandteilen, m i t u n r e g e l m ä ß i g e m W u c h s , steht in d e m e n t w o r f e n e n Bild f ü r d i e j e n i g e n M e n s c h e n , die außerhalb der Stadt w o h n e n . „ J e n e S t a d t a b e r , dies e d l e u n d g r o ß a r t i g e B a u w e r k , ist g e m a c h t a u s beh a u e n e n u n d k u n s t v o l l g e m e i ß e l t e n S t e i n e n , a u s S t e i n e n , d i e glatt u n d geziert s i n d mit d e m g a n z e n S c h m u c k e d e r B a u k u n s t : D i e e i n z e l n e n B ü r g e r s i n d so gleich d e n S t e i n e n u n d d e m H o l z , w e l c h e v e r h e r r l i c h t s i n d d u r c h d i e S o r g f a l t eines B a u m e i s t e r s " . S i n n f ä l l i g steht in d i e s e n G e d a n k e n d i e Stadt d e m Wald, die N a t u r d e m Kunstwerk, das G e m a c h t e d e m Geworden e n , d e r B ü r g e r d e m R e s t d e r M e n s c h e n g e g e n ü b e r . D i e S t a d t b ü r g e r werden mit schön gebildeten Steinen u n d bearbeitetem Holz verglichen; Geradheit, E b e n m a ß u n d Beständigkeit der kunstfertig behandelten Materialien d e u t e n auf G e r e c h t i g k e i t , Billigkeit u n d T a p f e r k e i t in d e n H e r z e n d e r B ü r g e r " . D a s gestaltete Bild ist e i n d e u t i g : D e r v o n M e n s c h e n g e m a c h t e B a u k ö r p e r S t a d t h e b t sich a u s e i n e r n a t u r h a f t e n , w i l d e n U m g e b u n g hera u s . D i e s e G e g e n ü b e r s t e l l u n g w i r d a u f d i e in b e i d e n R e g i o n e n l e b e n d e n Menschen analog übertragen20.
" Zitat und Paraphrase lauten im Zusammenhang: Imaginabimur civitatem aggregatemi ex hominibus, sic perfectis, ut tota vita eorum sit Dei honorifieentia et obsequium, tota debitum honestatis officium, tota aliorum subsidium. Manifestum est, quod comparatione istius civitatis praeclarae totum residuum hominum, quasi silva est, et singuli residui homines quasi ligna silvático, herum residuum hominum quasi lapidicina et singuli residuorum quasi lapides rudes. Civitas autem ista, sicut aedificium nobile, ac magniflcum ex lignis caesis, artificiosissime que sculptis, atque politis, et omni decore architecturae decoratis: singuli vero cives quasi lapides et ligna omni architectonica diligentia decorata. Quod enim sunt tumor, et tortitudo, sive curvitas, et putriditas in lignis, hoc superbia, avaritia et luxuria in animabus, et quod rectitudo, et planifies, et fìrmitas in lignis, seu lapidibus, hoc iustitia, aequitas, et fortitude in animabus (ebd. 408f H). - Die Vervollkommnung des Menschen vergleicht er ferner mit jenem Prozeß, der aus rohem Gestein und Erz edle Metalle, Gold und Silber, gewinnt. Dazu gab Gott den Menschen Fähigkeiten, Technik und Kunstfertigkeit: Deus ... dedit vires, et artem, et artificium (ebd. 409a C). Ähnlich würden jene heiligen Männer, die Bürger unserer Stadt, herausgebildet, herausgezogen aus dem gesamten Menschengeschlecht. 20 Zum Vergleich der Gläubigen mit „lebendigen Steinen" im noch nicht vollendeten Bau der ecclesia vgl. H. Kugler, Vorstellung der Stadt, 90-101 ; Die mittelalterliche Vorstellung der Himmelsstadt weicht, so Kugler im Anschluß an die literaturund kunstgeschichtliche Forschung, in zwei Punkten vom antiken Stadtkonzept ab : Einmal durch die Betonung der „Gemachtheit", zum anderen durch die zentrale Bedeutung der „Gemeinde" (ebd. 14, 81, 139, passim). Dies beides, zusammen mit der Akzentuierung des Stadt - Land Gegensatzes, habe zu jener mittelalterlichen Modifikation der aus der Antike überkommenen Laudes urbium geführt, an deren
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II. Theologie der Stadt
Die Bürgerschaft und ihre Ordnung zeichnet Wilhelm mit ähnlich scharfen Strichen: In dieser „frohen Gemeinschaft" herrscht Friede; „einer hilft dem anderen" und „man verteidigt sich gegenseitig". In dieser Gesellschaft sind alle Menschen gleich, in Freundschaft verbunden und durch das „Band der Brüderlichkeit" verknüpft. Gemeinsam verrichtet man Gottesdienst, auch sonst trifft man sich in Kirchen und Palästen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind. Die städtische Lebensform ist weiterhin bestimmt von „bürgerlicher Sitte und Lebensart"; will jemand hier wohnen, muß er „bürgerliche Lebensweise annehmen, d.h. Gesetze, Statuten und Gebräuche befolgen". Notwendigerweise besitzt die Stadt auch eine Verfassung. Magistrate jeder Art findet man dort. Kämmerer und Verwalter nennt Wilhelm ebenso wie Schlüsselträger, Torwächter, Beamte bzw. Bürgermeister, Heerführer, Richter und Räte21. Die Stadt ist die Vollendungsform menschlicher Gemeinschaft. „Die Bürger der Stadt sind ohne Zweifel die eigentlichen Menschen in dem Sinne, daß, verglichen mit ihnen, alle übrigen nicht als Menschen, sondern als Tiere anzusehen sind" 22 . Wilhelm entwickelt vor unseren Augen das Idealbild einer Stadt, Ideal allerdings verstanden im platonisch - augustinischen Sinn von Idee. Diese ist Form und Wesen einer Sache, Teilhabe an ihr bestimmt Realitätsgehalt und Struktur irdischer Dinge und Sachverhalte. Vieles von dem bisher Gesagten erinnert an antike Philosophie und Staatskunde 23 . Gleichwohl wird Fortsetzung Fußnote von Seite 31 Ende die spezifisch mittelalterliche Vorstellung „Stadt" stand. Kuglers Kriterien „Gemachtheit", „Gemeinde" und „Stadt/Land - Trennung" sind überzeugend; leider weist er sie als zeitgenössisches Gesamtkonzept nicht nach, immer behandelt er Einzelelemente an einzelnen Quellen. Die Synthese leisten Exkurse in die Realgeschichte (vgl. ebd. 81f, 112-121, 139). - Interessant ist der Hinweis ebd. 140 auf eine Urkunde des Rates von Speyer aus dem Jahre 1430, in der Bürgermeister und Ratsleute mit lebendigen Steinen verglichen werden. 21 Wilhelm von Auvergne, De sacramento, 409b A (mutuo se invicem adjuvantes); ebd. 413a A (sese invicem defendant)·, ebd. 410a H (Gleichheit); ebd. 413b C,D (Freundschaft: amicitia); ebd. 410b E (Brüderlichkeit: naturalis societas, quae vinculo fraternitatis constringit omnes naturaliter); ebd. 410b F (Kirchen und Paläste: Tempia et palatia publicae aedes sunt, et manifestae palam...); ebd. 410b G (Sitten: civiles mores et urbanitas civilis); ebd. 409b A (bürgerliche Lebensweise: civilitatem ... suscipere, hoc est leges, et statuta, moresque subire) ; ebd. 411 D, A (Magistrate : camerali, dispensatores, clavigeri, janitores, praecones, duces, iudices, magistratus). 21 Cives civitatis proculdubio sunt veri nominis homines, adeo ut comparatione eorum caeteri non homines, sed potius ammalia sint habendi (ebd. 409a C,D). Zum Terminus civis civitatis im juristischen Schrifttum als Bezeichnung für „Stadtbürger" vgl. u. Kap. IV.4. " Darauf verweist mit Recht J. Le Goff, Ville et théologie, 35. Wenn er jedoch die Frage nach dem Einfluß der mittelalterlichen Stadtwirklichkeit auf die Ausführungen des Sakramentenkapitels eingrenzt auf den möglichen Reflex des „Paris de Phi-
2. Pax urbis und civitas praeclara
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der Zeitgenosse beim Lesen des Textes weniger an das antike Gemeinwesen gedacht haben als an seine Stadt oder andere Städte des 13. Jahrhunderts ; Kirchen und Paläste, Schlüsselträger, Torwächter u n d Richter, Gesetze, Statuten und Ämter konnte man direkt der Urbanen Welt seiner Zeit zuordnen. Civis civitatis, oft wiederkehrende W e n d u n g im Text, dürfte m a n eher mit „Stadtbürger" als mit „Bürger des Gemeinwesens" übersetzt haben, wie auch die Jurisprudenz derselben Zeit „Stadtbürger" (civis civitatis) ausdrücklich vom Bürger im allgemeinen Sinn (civis) unterschied. Ein weiterer Anhaltspunkt kann die „stadtbürgerliche Interpretation" des Textes erhärten. Der Autor gebraucht gerade an Gelenkstellen seiner Argumentation häufig ein Bild, das in dieser Ausgestaltung seiner eigenen Zeit entnommen ist: Es ist das Beispiel des „Bürgerrechtserwerbs", verb u n d e n mit der Herausarbeitung des Gegensatzes Stadt - Land. Jeder kann Mitglied dieser Gemeinschaft werden u n d damit zugleich schon auf Erden Ansprüche erwerben auf Bürgerschaft in der Stadt Gottes, der civitas Dei. Bürger der geschilderten Stadt sind potentiell auch cives Dei. A u f n a h m e u n d Eingliederung (ingressus in civitatem) eines Eintrittswilligen wird genau beschrieben, der Erwerb von Rechten u n d die Einforderung von Pflichten vorgestellt. „Jene, die vom Land u n d ländlichem Leben in die Stadt übersiedeln und Bürger werden wollen, müssen ihre ländlichen Sitten und ihren Wohnsitz aufgeben, in der Stadt Residenz beziehen sowie bürgerliche Sitten u n d bürgerliche, gemeinschaftsbezogene Lebensart annehmen" 2 4 . Die Stadt ist eine Gesellschaft von Gleichen, was dieser Lebensform widerspricht, m u ß abgelegt werden. Der neu Aufgen o m m e n e empfängt die Freiheit dieser Stadt, er gehört von nun an zu den „Teilhabern an Recht u n d Freiheit" 2 5 . Das Aufnahmeverfahren selbst schildert Wilhelm eindringlich als rechtsförmigen Akt freier Willensentscheidung, als Vertrag zwischen Neubürger u n d Stadt. „Willst d u " , so fragt man den Eintrittbegehrenden, „Christ Fortsetzung Fußnote von Seite 32 lippe-Auguste" im behandelten Traktat, so engt er die Problemstellung unnötig ein. Le Goffs Antwort, „c'est beaucoup plus la cité augustinenne que la ville parisienne", verwundert deshalb nicht. 24 De rure et vita rusticana ad civitatem transeuntibus, et cives effici volentibus, necesse est, mores agrestes, et habitationem desere, civitatemque inhabitare, civilesque mores, et urbanitatem civilem, atque socialissimam assumere (Wilhelm von Auvergne, De sacramento, 410b G). Vgl. das schon in Anm. 21 genannte Zitat; vollständig heißt es dort: qui civitatem istam ingrediuntur ita, ut cives ejus efficiantur, necesse habent civilitatem ejus suscipere, hoc est leges, et statuta, moresque subire (ebd. 409b A). 25 Ebd. 410a H (Gleichheit: omnis inaequalitas lapidum deponitur); ebd. 413a C,D (Et quia ingressu civitatis istius omne, quod ejus civilitati contrarium est, deponitur); ebd. (Freiheit: participes iustitiae, et libertatis civitatis istius).
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II. Theologie der Stadt
werden, willst du das Gesetz befolgen und halten und die Sitten dieser Stadt wahren"? Ein Vertrag wird geschlossen und Freundschaft beschworen, indem der Aufzunehmende sich in vorformulierten Worten vom Satan, dem Feind jener Kommune, lossagt. Freundschaft fordert gemeinsame Feinde. Aufnehmen darf man allerdings nur die, die wirklich Bürger werden wollen: qui cives effici vellent. Friedenspflicht und Absage an Feinde der Stadt hat der Neubürger mit einem festen Gelübde zu bekräftigen. Darüber hinaus muß er sein „Bekenntnis zu Gesetz und Sitten der Stadt und ihres Volkes" ablegen 26 . Nun ist er Mitglied des Verbandes und geht darin auf. Die Fähigkeiten und Tugenden, die in diesem Zusammenhang gefordert werden, sind deshalb nicht individuelle Qualitäten einer Person, sondern formale Voraussetzung und Bedingung der Mitgliedschaft. In einem Punkt allerdings tritt uns der Bürger unmißverständlich als Individuum entgegen: der Erwerb des „Bürgerrechtes" ist unhintergehbar ein Akt persönlicher, freier Willensentscheidung. Die enge Verknüpfung des Stadt - Land Gegensatzes mit dem Thema „Bürgerrechtserwerb" verweist in aller Klarheit auf die mittelalterliche Lebenswelt unseres Autors 27 . Die Betonung des Willensmomentes, des Vertragscharakters beim Aufnahmeverfahren spricht ebenso dafür wie die vereinbarte Absprache über Rechte und Pflichten des Bürgers: Der Mitgliedschaft im Bürgerverband, der Partizipation an dessen Rechten und seiner Freiheit, stehen die Forderungen nach Unterwerfung unter die Gesetze und Statuten, die Absage an frühere Verbündete, wenn sie Feinde der civitas sind, sowie ein dauerndes Wohnen inmitten der Stadtgrenzen (Residenzpflicht) gegenüber. Zum Antagonismus Stadt - Wald tritt, wenn vom Eintritt Außenstehender in das Gemeinwesen die Rede ist, derjenige von Stadt und Land, von städtischer Lebensform und Landleben, hinzu. Die „herrliche Stadt", die Wilhelm vor unseren Augen erstehen läßt, ist Metapher für die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, sie ist ein theologisch gemeintes Bild, das die irdische Gemeinschaft der Gläubigen auf ihre Vollendungsform, auf Gott und sein kommendes Reich bezieht. 26
Ebd. 413b D (...vis Christianus esse?... vis subire et tenere legem, et servare mores civitatis istius?); ebd. ( ...pactum inire, foedusque, et amicitiam firmare per verba ista: Abrenuntias Sathanae, et omnibus pompis ejus?)·, ebd. 414 H, E. (ßrmissima promissione; ... promissio, et professio legis, et morum civitatis, sive populi ipsius). 27 J. Le Goff, Ville et théologie, interpretiert den Stadt - Land Gegensatz als Wiedergeburt der „antique opposition ville - campagne" (ebd. 34). Der Kontext jedoch, der ausdrückliche Zusammenhang mit dem Problem der Aufnahme in den Bürgerverband, spricht m.E. zumindest ebenso für den mittelalterlichen Hintergrund der infragestehenden Äußerungen. Einzelne Elemente der von Wilhelm entwickelten Stadt könnte man auf Ordensgemeinschaften beziehen, so die brüderliche Lebensweise, die Eintrittsformalien und vieles mehr. Insgesamt hat man aber den Eindruck, eine Stadt und nicht ein Kloster zu sehen.
3. Die Stadt auf dem Berge
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D e n n o c h : In der Zusammenschau der Elemente des ganzen Konzeptes, in vielem, was über Stadtgestalt, O r d n u n g der Bürgerschaft und A u f n a h m e eines Menschen {homo) unter die Bürger (cives civitatis) gesagt worden ist, k a n n man den Widerschein der Erfahrung mittelalterlicher Stadtwirklichkeit u n d Kommunebildung sehen. Der Leser dieses Textes mußte sicher nicht in antiker Literatur bewandert sein, um die Bilder, Gleichnisse u n d Metaphern zu deuten. Die Kenntnis des städtischen Lebens seiner Zeit genügte vollauf zum Verständnis dieses ,De sacramento in generali' betitelten Kapitels im Werk von Wilhelm von Auvergne.
3.
Die Stadt auf dem Berge: Heilige Gemeinschaft, brüderliche Ordnung und Mischverfassung im Augsburger Predigtzyklus des Albertus Magnus
Die Rezeption der praktischen Philosophie des Aristoteles in der Mitte des 13. Jahrhunderts hat nicht nur das Denken über Moral u n d Politik im lateinischen Mittelalter verändert und geprägt, sondern auch den theologischen Diskurs inhaltlich bereichert und zu neuen Konzeptionen von Mensch, Gemeinschaft und Kirche geführt 2 8 . Im Gefolge dieser Rezeption wurde aus der „Theologie der Stadt" eigentlich erst ein wirklichkeitsnahes Besinnen auf Verfassung und Sozialstruktur jener besten aller möglichen Gemeinschaften unter Menschen im Himmel und auf Erden. Immer noch war die ecclesia, die Gemeinschaft der Gläubigen, das Gemeinte ; die Stadt aber, ihre bauliche Gestalt, ihre Sozial- u n d Verfassungsstruktur, waren der Erfahrungsraum, dem die Bilder entnommen wurden, antike Staatslehre u n d praktische Philosophie des Stagiriten der konzeptuelle Rahmen der Theoriebildung. Überkommene Themen und traditionelle theologische Modelle blieben daneben bestehen, quantitativ machten sie weiterhin den Hauptbestand der angeführten Argumente aus. Entscheidend aber ist, daß sie verwoben und verschmolzen wurden in der Metapher „Stadt". Albertus Magnus (um 1200-1280), Dominikanertheologe u n d Lehrer des Thomas von Aquin, hat in den Jahren 1248-52 als erster die vollständige lateinische Fassung der Aristotelischen ,Ethik' u n d nach 1265 die .Politik' kommentiert. Vom selben Autor stammt auch ein Predigtzyklus, der die „Theologie der Stadt" in vorher nicht gekannter Weise entwickelte und ausgestaltete 29 . Gehalten wurden diese Predigten entweder 1257 oder 1263 28 Vgl. u. Kap. III Anm. 2, J. Dunbabin, Reception of 2 ® Ed. der Predigten in J.B. werden die Texte so zitiert:
vor allem: G. Wieland, Reception of Aristotle's Ethics; Aristotle's Politics. Schneyer, Alberts Predigtzyklus, 105-147. Im folgenden Nummer der Predigt in römischen, danach die Zeile der
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II. Theologie der Stadt
zur Festoktav des heiligen Augustinus (28. August-4. September) in Augsburg, gesprochen hat sie Albert in der Volkssprache (in vulgati). Lediglich die sechste Predigt, gehalten vor den Kanonikern des Augsburger Domes, ist in Latein vorgetragen worden. Überliefert sind alle, wie damals üblich, nur in der lateinischen Vorlage30. Neben den Domgeistlichen waren die Schwestern und Brüder des Dominikanerordens die eigentlichen Adressaten und Ansprechpartner des gesprochenen Wortes. Thema aller Predigten und einigendes Band der gedankenreichen Ausführungen ist ein Kernsatz der Bergpredigt: „Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein" (non potest civitas abscondi supra montent posita\ Matth. 5,14)31. „Warum", so formuliert Albert im Anschluß an das Thema die eigentliche Frage, „können die heiligen Lehrer mit einer Stadt verglichen werden"? Nach den heiligen Lehrern der Kirche geht die Frage, weil einer ihrer größten, der von den Dominikanern besonders verehrte heilige Augustinus, mit der Festoktav geehrt werden sollte. Sinnbildhaft stehen die heiligen Lehrer für die Kirche in ihrer die Gegenwart transzendierenden überzeitlichen Gestalt; ecclesia und sacri doctores sind häufig austauschbare Begriffe. Die formelhafte Antwort, deren Entfaltung und Auseinanderlegung alle sieben Predigten sind, lautet: Die heiligen Lehrer können „civitas" genannt werden „wegen der Schutzwehr, wegen der Gemeinschaft, wegen der Einheit und wegen der Freiheit" {propter munitionem, propter urbanitatem, propter unitatem et propter libertatem)32. Urbanitas darf man, wie sich zeigen wird, getrost mit Verfassung, unitas mit Rechts- und Sozialgefüge wiedergeben. Unsere Analyse kann weitgehend an die vier Merkmale anknüpfen, mit ihren Hauptgesichtspunkten - Gestalt der Stadt, Ordnung und Struktur der Gemeinschaft sowie Eintritt in die civitas - bewegt sie sich aber zugleich quer zur sachlichen und chronologischen Folge der infragestehenden Texte. Das konkrete Bild der Stadt tritt schon im Thema vor Augen: Die Stadt auf dem Berg. Diese Stadt, so heißt es gleich in der ersten Predigt, hat eine Fortsetzung Fußnote von Seite 35 Predigt in arabischen Ziffern; nach dem Doppelpunkt die Seitenzahl der Edition. Daß ein Vergleich von Alberts Predigten mit dem eben besprochenen Traktat des Wilhelm von Auvergne fruchtbar sein könnte, hat bereits vermutet J. Le Goff, Ville et théologie, 37 Anm. 16: „Une comparaison précise des deux textes serait intéressante". 30 J.B. Schneyer, Alberts Predigtzyklus, 101. 31 Zur Wirkungsgeschichte der Bergpredigt im Mittelalter vgl. B. Stoll, De virtute, bes. 62, 70-108. Die „Stadt auf dem Berge" kann zwar allgemein die Kirche Christi meinen, dies Wort der Bergpredigt wird im Mittelalter aber in der Regel (wie im folgenden bei Albert) auf die Apostel und ihre Nachfolger - die Heiligen, Kirchenlehrer und kirchlichen Amtsträger - bezogen (ebd. 87f, 132032 Albertus Magnus, Predigtzyklus, I 7f, 13f: 105.
3. Die Stadt auf dem Berge
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Mauer. Die heiligen Lehrer der Kirche werden civitas genannt propter munitionem, wegen der Schutzwehr. „Mauern sind die guten Lehrer, die das Volk umgeben und es vor Feinden beschützen" 33 . Mauern und Türme bestehen so aus lebendigen Steinen (de vivis lapidibus), aus Steinen, die edel, wohlgeformt und kostbar sind34. Die Tore sind die Kleriker, vor allem aber die Bischöfe und Prälaten: maxime pastores ecclesiae et praelati35. Auch bei Wilhelm von Auvergne tauchten „lebendige Steine" auf. Dort aber war die ganze Stadt aus ihnen erbaut, standen sie für die Bürger des vollkommenen Gemeinwesens. Bei Albert ist nur die Stadtmauer aus lebendigen Steinen, aus Heiligen, Märtyrern und Kirchenlehrern errichtet36. Die Differenzierung kommt der mittelalterlichen Wirklichkeit näher. Schutzwehr, argumentiert der Dominikaner weiter, kann die Stadt nur sein durch ihre Mauer: Stark muß sie sein, „sich nicht neigen, weder löst sich ein Stein aus ihr, noch wird sie zerstört durch die Zeit" 37 . Vor den Mauern, warnt der Prediger seine Augsburger Zuhörer, ist das Leben gefährlich, treibt sich unser Feind, der Teufel, herum; dort sollte man sich möglichst nicht aufhalten : ideo numquam extra murum istum nobis currendum est, ne capiamur ab ipso38. Außerhalb der Mauer liegen Feld (campus) und Wald (silva)39. Albertus Magnus bleibt nicht bei der Metaphorik stehen. Das von ihm gebrauchte Bild einer Mauer aus lebendigen Steinen begründet er historisch. Zuerst seien Städte gegründet worden, um Schutz und Verteidigung zu gewährleisten40. Die ersten Städte hatten keine Steinwälle: „Bevor nämlich die schwächeren Städte mit toten Mauern umfaßt worden sind, da lebten die Gemeinen in der Mitte und die Stärkeren und Kriegstüchtigeren am äußeren Kreis, damit sie den anderen eine Mauer wären, jene
33 Muri sunt doctores boni, qui cingunt populum et defendunt eum ab hostibus (ebd. I 40: 105). 34 Zur Steinmetapher vgl. ebd. I 65-90: 106f / I 116: 107 / II 10: 111 / III 84-91: 121 / VI 66ff: 135/ VI 310f: 141 / VII die Seiten 143-145. 35 Ebd. VI 73: 136. 36 Das Fundament der Kirche ist in der VII. Predigt ebenfalls aus Edelsteinen gemacht. Ansonsten wird die Steinmetapher fast ausschließlich mit Schutzwehr und Mauer der Stadt in Zusammenhang gebracht. 37 Non enim inclinatur murus, non solvitur lapis, non consumitur vetustate (ebd. VII 41f: 143). 38 Ebd. I 150f. : 108. Daß die Stadtmauer in der christlichen Ikonographie seit dem Frühmittelalter die Welt der Christen von der des Teufels, die Ordnung vom Chaos, gezähmte Natur von urwüchsiger Wildnis trennt, belegt C. Frugoni, Distant City, lOff. 39 Albertus Magnus, Predigtzyklus, I 237f: 110. 40 Ebd. I 17: 105.
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II. Theologie der Stadt
waren so die lebenden Steine der Städte" 41 . Schwäche war demnach der Grund für den Bau steinerner Stadtmauern. Anlaß zum Mauerbau war aber auch die menschliche Konstitution: „Anfangs baute man eine Mauer aus toten Steinen, damit diese die Bürger nachts, w e n n sie ruhten und schliefen, vor den Feinden beschützte. Tagsüber aber waren die Bürger selbst die Mauer und eine weit bessere noch als jene, die man gemacht hat aus toten Steinen" 42 . Nicht nur Funktion und Bedeutung der Stadtmauer zeichnet Albert mit feineren Strichen und deutlicheren Konturen als seine Vorgänger. Auch das, was er zu Verfassungsstruktur und Sozialgefüge der Stadt zu sagen hat, unterscheidet sich von allem bisher in der Theologie Gedachten. „Stadt" k ö n n e n die Lehrer der Kirche genannt werden wegen der Gemeinschaft: propter urbanitatem. Urbanitas ist Ordnung und Herrschaft, ist Gemeinschaft derjenigen, die in einer Stadt unter denselben Gesetzen zusammenleben; urbanitas meint Verfassung, sie vereint monarchische, aristokratische und timokratische Elemente, umfaßt monarchia, aristocratia et thimocratia zugleich 4 3 . D i e Verfassung der vollkommenen Stadt ist, 41
Debiiiores enim priusquam civitates circumdarentur muris mortuis et plebei manserunt in medio et fortiores et ad bellum meliores manserunt extra in circuitu, ut aliis essent murus et isti fuerunt vivi lapides civitatum (ebd. II 11-14: 111). Das ist offensichtlich eine Anlehnung an den in der Antike verbreiteten Topos des Menander, wonach die Wehrhaftigkeit der Männer die beste Mauer für eine Stadt sei (Zit. bei H. Kugler, Vorstellung der Stadt, 92). Albert verknüpft diesen Topos geschickt mit der theologischen Metapher von den lebendigen Steinen. 42 ...propter hoc murus de mortuis lapidibusprimo factus est, ut quando cives de node quiescerent et dormirent ille tunc eos ab hostibus defenderet. Nam de die cives ipsi murus sibi fuerunt et multo melior quam ille, qui de mortuis lapidibus fabricatus (Albertus Magnus, Predigtzyklus, I 84-87: 106043 Modo dicendum est de urbanitate civitatis, quam vocare possumus ordinem sive potestatem vel in theutonico ,Gemeyscaph' illorum, qui in civitate sub civilibus legibus commorantur ista urbanitas idest, Geburscaph ' sive ordo consistit in tribus secundum philosophes et etiam legem divinam, que adeo necessaria sunt cuilibet civitati, quod unum non potest esse sine alio ... Vocantur autem tria haec monarchia, aristocratia et thimocratia (ebd. II 17-24: 111). Das eigenwillige Bild von den drei Verfassungen in einer Verfassung (urbanitas) findet sich ansatzweise bereits in Alberts Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus von 1249 (Albertus Magnus, In iv sententiarum, 807f (Dis. XIX, A, Art. 6)) und ausführlich dann seinem zweiten, in den Jahren 1263-67 verfaßten Kommentar zur Aristotelischen ,Ethik' (Albertus Magnus, Ethicorum libri, 539-542; zu den zwei Ethikkommentaren vgl. G. Wieland, Reception of Aristotle's Ethics, 660; Lit.). Auch im Metaphysikkommentar, ebenfalls um 1262/3 entstanden, werden die drei Verfassungen in einen, von oben nach unten geordneten Wirkungszusammenhang eingereiht; vgl. zu diesem Grundmodell Albertinischer Ontologie die Bemerkungen von S. Krüger, u. Kap. III Anm. 13. Diese Sachverhalte unterstreichen, was die Predigten betrifft, die nicht vollständig gesicherte Autorschaft Alberts; sie legen vielleicht sogar nahe, die Augsburger Predigten eher im Jahr 1263, der Zeit einer intensiven Beschäftigung mit der aus drei
3. Die Stadt auf dem Berge
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ohne daß Albert sie so nennt, Mischverfassung44. Der König ist hier nicht souveräner Potentat mit umfangreicher weltlicher Gewalt, sondern Leiter, Lenker des Staatswesens. In dieser Funktion steht er auf derselben Stufe wie der Stadtvogt in Augsburg. Der König muß Gerechtigkeit lieben, weise, den anderen Vorbild und Beispiel sein. Beratendes Element der Herrschaftsordnung (aristocratia) sind die Weisen und Tugendhaften (sapientes et virtuosi). Diese müssen sich, wie einst der Senat, ständig im
Fortsetzung Fußnote von Seite 38 Verfassungsformen gemischten Herrschaftsordnung, als im Jahr 1257 anzusiedeln. - Die deutschen Begriffe im Text, Gemeyscaph und Geburscaph, sind der städtischen Gesellschaft entnommen. Gebur heißt Nachbar, übersetzt vicinus oder civis. Gebur bezeichnete in Köln, wo Albert überwiegend lebte, den Genossen in der Geburschaft, der Parochie. Allgemeiner konnte „Geburschaft" auch „Bürgerrecht" heißen, in Einzelfällen findet man dafür auch den lateinischen Begriff urbanitas. So zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Kölner Bürgerrechtsverleihungen: urbanitas que dicitur gebuirschaf (H. Stehkämper, Kölner Neubürger, XV). Diesen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen Gerd Schwerhoff. 44 Im zweiten Ethikkommentar (vgl. letzte Anm.) sind aristocratia und timocratia partes regni, Albert spricht dort genau wie in unserem Text von urbanitas, species urbanitatum. Aristoteles hat im entsprechenden Teil des 8. Buches der ,Nikomachischen Ethik' Formen der Freundschaft und Beziehungen innerhalb des Hauses mit Verfassungsformen zu parallelisieren versucht: Vater-Kinder: Königtum; MannFrau: Aristokratie; Kinder untereinander: Timokratie. Der für Aristoteles unaufhebbare, kategoriale Unterschied von polis und oikos bleibt gewahrt: Ausdrücklich spricht er von Analogien, diese stellt er nebeneinander, macht daraus kein Ganzes. Albertus überträgt die Einzelbeziehungen und Vergleiche nun zurück auf das Staatswesen, das Haus tritt in den Hintergrund, aus nebeneinandergestellten Analogien wird eine durchstrukturierte Mischverfassung. W. Arendt, Gesellschaftslehre Alberts, 44—49, hat diesen Abschnitt des Ethikkommentars knapp zusammengefaßt. Wenn man von einem kurzen Hinweis bei G. Fioravanti, Alberto e la Politica, 230 Anm. 81, absieht, ist C. Martin, Commentaries on the Politics, 83f, wohl der einzige, der die systematische Funktion dieser Konzeptualisierung aus dem Ethikkommentar auch für zentrale Aspekte der Interpretation in der ,Politik' Alberts überhaupt bemerkt hat; ebd. 73 u. 86: Rom als Mischverfassung in Alberts Politikkommentar. Vgl. auch u. Kap. III Anm. 45. Für die mittelalterliche Geschichte der Mischverfassungstheorie sind diese o. in Anm. 43 und die u. Kap. III Anm. 13 und 37 genannten Texte von kaum zu überschätzender Bedeutung. Sie liegen früher, sind ausführlicher und inhaltsreicher als die einschlägigen Texte des Thomas von Aquin, von denen die Forschung noch immer den Ausgang nimmt. Die umfangreiche neuere Arbeit von J.M. Blythe, Mixed Constitution, kennt sie nicht. Die gegenwärtig wohl besten Handbücher zur politischen Philosophie des Mittelalters, die Cambridge History of Later Medieval Philosophy (1982) und die Cambridge History of Medieval Political Thought (1988), führen ebenfalls Thomas als Begründer der Tradition an. - Albert war darüber hinaus mindestens so verbreitet wie Thomas, sein Ethikkommentar z.B. eindeutig einflußreicher als der seines Schülers (vgl. G. Wieland, Reception of Aristotle's Ethics, 660; Lit.).
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II. Theologie der Stadt
„ R a t h a u s " a u f h a l t e n , R e c h t p f l e g e n u n d R a t erteilen. R e c h t s f i n d u n g , G e s e t z g e b u n g u n d Statutenerlaß ist ihr A m t 4 5 . D a s dritte E l e m e n t der V e r f a s s u n g , der urbanitas,
ist d i e thimocratia.
Mit
d i e s e m Begriff s o l l e n j e n e o b e r e n Strata der S t a d t g e s e l l s c h a f t erfaßt werd e n , d i e d a s ö k o n o m i s c h e u n d militärische R ü c k g r a t der G e m e i n s c h a f t b i l d e n . D i e s e R e i c h e n u n d M ä c h t i g e n ( d i v i t e s et potentes),
d i e für d i e Stadt
in N o t z e i t e n G e l d b e s c h a f f e n u n d s t ä n d i g e i n e g r o ß e familia
halten k ö n -
n e n , s i n d n o t w e n d i g für j e d e s G e m e i n w e s e n : „ W i r s e h e n in v i e l e n Städt e n , d a ß es e i n i g e sehr M ä c h t i g e u n d R e i c h e gibt, d i e in K r i e g s z e i t e n taus e n d M a n n a u s e i g e n e n Mitteln unterhalten k ö n n e n , u n d d e n n o c h nicht i m R a t der Stadt sitzen ... S o ist es in R o m , in M a i l a n d u n d in a n d e r e n w o h l g e o r d n e t e n Städten" 4 6 . O b w o h l m ä c h t i g u n d m i t ö f f e n t l i c h e n A u f g a b e n betraut, h a b e n d i e s e Bürger o f f e n s i c h t l i c h k e i n e n A n t e i l a m Stadtregim e n t . R e a l g e s c h i c h t l i c h e r H i n t e r g r u n d dieser V e r f a s s u n g k ö n n t e , bei aller Vorsicht, d i e v o n A d l i g e n u n d Patriziergeschlechtern beherrschte K o m m u n e sein, in der K a u f l e u t e u n d Bankiers, sozial u n d ö k o n o m i s c h bereits 45
Albertus Magnus, Predigtzyklus, II 122f: 113 (königliche Gewalt); ebd. VI 15ff: 126 (Stadtvogt: rex quia regit... Similiter si aliquis advocatus est in Augusta propter hoc advocatus non dicitur civium, quia ipsi sunt servi sui, sed quia eos tuetur et regit...)·, ebd. II 230: 116 (Weisheit des Königs); ebd. II 48ff: 112 (Rathaus: domus communitatis)', ebd. II 239ff: 116 (Amt: ...quorum officium fuit omnibus iustitiam facere, item iura invenire et condere ac statuere...). 46 Videmus hoc in multis civitatibus quod aliqui sunt potentes multum et divites et qui tempore belli possunt tenere mille viros in expensis suis et tarnen non sunt de Consilio civitatis ... Sic est in Roma, in Mediolano et aliis civitatibus ordinatis (ebd. II 330ff: 118). Schon im Sentenzenkommentar hatte Albert Schwierigkeiten mit der Timokratie. In spiritualibus erkennt er dort nur die monarchia u n d die aristocratia als Herrschaftsformen im eigentlichen Sinne an, denn timocratia sei lediglich principal s multorum divitum nihil habentium juris in principatu, nisi quia divitiis et pretiis excellunt. (Albertus Magnus, In iv sententiarum, 807f (Dis. X I X , A, Art. 6)). Im zweiten Ethikkommentar steht zu timocratia als pars regni: principatus est principantium in pretiis, sicut qui principan tur super stipendia, vel super nutrimento militum... (ders., Ethicorum libri, 541b). Unwillkürlich denkt m a n an das antike Liturgienwesen. D a ß die potentes u n d divites eine große familia halten u n d Handwerker auf ihre Unterstützung angewiesen sind (ders., Predigtzyklus, II 324: 118) erinnert aber auch an jene cives divites et potentes im Kölner , Großen Schied'von 1258, die recipiunt et recipere consueverunt populares et impotentes in suam protectionem, nominantes vulgari muntman (H.M. Klinkenberg, Schied, 118). Maßgeblicher Schiedsrichter im Streit zwischen Stadt u n d Erzbischof u n d Mitverfasser des „ G r o ß e n Schied" war niem a n d anders als Albertus Magnus (ebd. 93 Anm. 8). Vgl. dazu auch A. Wendehorst, Albertus Magnus; J. Sydow, Städtebünde, 218; u n d v.a. H. Stehkämper, Pro b o n o pacis (hier 301-305, 380). Albert wurde von den Kölner Bürgern mehrfach als Schiedsrichter herangezogen, nicht nur, wenn sie, wie 1252 u n d 1258, ihre vriheit 'va G e f a h r sahen. Der Dominikaner seinerseits fühlte sich verpflichtet, die Konflikte pro bono pacis zu schlichten u n d ad consulendum rei publicae tätig zu werden (ebd. 300 u. 378).
3. Die Stadt auf dem Berge
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mit den alten Geschlechtern gleichgestellt, am Regiment der Stadt noch nicht beteiligt waren. Unter dem Titel unitas, dem dritten Vergleichskriterium, wird die eine, für alle gleiche Rechtsordnung, das unum ius der Bürger behandelt. Die Gesamtordnung des Rechts gliedert sich in zwei Teilbereiche auf: In die Sphäre der justitia communicationis, der austauschenden Gerechtigkeit, und jene der gerechten Verteilung von Ehre und Würde, der justitia distributionis47. Wo beide eine Einheit bilden, leben die Bürger in „vollkommener Freude, in Ehre und Frieden" 48 . Die austauschende Gerechtigkeit ist communicatio rerum und communicatio negotiorum. Drei Anforderungen stellt sie an das Stadtrecht: gewahrt sein müsse das „Gleichartige" (simile), das „Gleiche" (par) und das „Angemessene" (aequum). Das simile verweist auf die Grundlage des sozialen Zusammenlebens der Bürger. Diese sollen eine „Gemeinschaft in Gemüt und Willen" sein, sich wie die ersten Christen „miteinander freuen und miteinander traurig sein". Par, das zweite Element im ius civitatis, bezeichnet die communicatio rerum im engeren Sinne: Sifacio tibi hoc, tu facias mihi aliud, die klassische Formulierung des do-ut-des Prinzips. Denn nur wenn jeder für seine Arbeit (labor) auch den gerechten Lohn (merces/pretium) erhält, bleibt die unitas gewahrt 49 . Gerechter Lohn als angemessener Preis für geleistete Arbeit stellt sich für Albertus aber nicht automatisch über Marktgesetze her, sein Zustandekommen bedarf „obrigkeitlicher" Kontrolle: In der Stadt nämlich gebe es viele Handwerke, die, obwohl gering von Ansehen, jeder Gemeinschaft unentbehrlich seien. Dieser Sachverhalt, hier beruft sich Albert auf den Rat des Philosophen, mache es unumgänglich, daß man Institutionen schafft, „deren Amt es ist, jene, die mechanische Handwerke ausüben, zu überwachen und zu sehen, daß sie nicht müßig sind, sondern ein jeder sein Handwerk gewissenhaft ausübt" 50 . 47
Albertus Magnus, Predigtzyklus, III 19-24: 119. Die in der Edition nicht nachgewiesene Quelle für die Unterscheidung der Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit sowie für zahlreiche Einzelbeispiele in der dritten Predigt ist das V. Buch der ,Nikomachischen Ethik', mit dessen Kommentierung Albert in jenen Jahren zum zweiten Mal beschäftigt war. Zur Rezeption der Aristotelischen Differenzierung der einen Gerechtigkeit in die iustitia distributiva und die iustitia commutativa über Thomas von Aquin in den italienischen Stadtstaaten vgl. N. Rubinstein, Sienese Art, 181f; kritisch dazu: C. Frugoni, 12Iff; Q. Skinner, Ambrogio Lorenzetti, 37f. 48 ...in omni gaudio et honore ac pace (Albertus Magnus, Predigtzyklus, III 24f: 119). 49 Ebd. III 50-65: 120 (simile, par, aequum); ebd. III 80ff: 121 (communicatio affectuum et voluntatum; gaudere cum gaudentibus, flere cumfientibus, Rm. 12, 15); ebd. III 59: 120 (do-ut-des). 50 Multa sunt in civitate officia, quae quidem sunt et videntur vilia, et licet non tibi, sunt tarnen communitati necessaria, propter hoc etiam praecipit .philosophus', quod in civitate aliqui statuantur, quorum officium est omnes illos, qui artes exercent mechani-
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II. Theologie der Stadt
Das dritte Element des Stadtrechts schließlich, das aequum, kennzeichnet die communicatio negotiorum. Die Forderung nach einem gerechten Preis für jede im Handel vertriebene Ware ist Kernpunkt dieser Ordnung. Hier sieht der Dominikaner die größten Gefahren lauern, befürchtet überall Betrug. Ein erfahrener Mann sollte daher bei schwierigen Preiskalkulationen hinzugezogen werden, geleistete Arbeit, entstandene Auslagen sowie investierten Fleiß einschätzen und den „Verbraucherpreis" festsetzen helfen 51 . Obwohl der Prediger die Gefahren von Betrug und Wucher deutlich erkennt, ist er von der Notwendigkeit dieser Sphäre des Austausche vollständig überzeugt, gelten doch die Gesetze der communicatio negotiorum sowohl für den spirituellen als auch für den temporalen Bereich. Albert führt zum Beleg dieser Auffassung das in Lc. 19,11 - 27 überlieferte Gleichnis von jenem hohen Herrn an, der bei seiner Abreise zehn Knechte zu sich rief, ihnen zehn Pfund anvertraute und forderte: „Handelt, bis daß ich wiederkomme" ! (negotiamini dum venio). Das Gleichnis ist, so erfahren die Augsburger Zuhörer, eine unmißverständliche Aufforderung, Handel zu treiben mit irdischen Gütern und in Taten der Nächstenliebe: Do pauperi denarium et mille recipio. Do potum aquae et regnum caelorum
Fortsetzung Fußnote von Seite 41 cas visitare et videre, ne sint otiosi, sed quilibet artem suam excerceat diligenter (ebd. III 162-166: 122f). Vgl. ders., Ethicorum libri, 543b, wo er die Aufgabe der Timokratie sieht in ordinatione ministeriorum necessaria subministrantium, sicut est magistrates pistorum, et coquorum, et pincernarum, camerariorum .... Auch hier ist ein „obrigkeitliches" Interesse an der Überwachung der Zünfte spürbar. Zu den artes mechanicae bei Albert vgl. U. Feldges-Henning, Sala della Pace, 157 u. 160f; vgl. auch u. Kap. III Anm. 13 u. Anm. 37-42. 51 Si tarnen emo rem aliquam, in terra remota possum earn carius vendere hic ad arbitrium probi viri computatis expensis meis, labore et industria (ebd. III 189ff: 123). Daß Fragen nach dem angemessenen Verhältnis von Arbeit und Lohn, Ware und Preis mit einer Stadt, in der Kirchenlehrer und Heilige leben, nichts zu tun habe, weist Albert entschieden zurück: Et quia sumus cives sanctorum et domestici Dei, sicut ait apostolus [Eph. 2,19], si ista necessaria sunt terrenis civibus multo magis eadem in civibus caelestibus attenduntur (ebd. III 76f: 120). Darin und im folgenden zeigt sich die neue Wertschätzung der Arbeit, gerade in den Bettelorden. Himmlisches Leben und Arbeit schließen sich nicht mehr aus, ja, in Alberts Kommentar zur Apokalypse wird umgekehrt die Abwesenheit von Zünften und Handwerk zum Charakteristikum des besiegten, zum infemus herabgesunkenen Babylon: Nullum officium vel artifìcium est ibi unde homo possit panem lucrari, vel aliquid apud Deum mereri (Albertus Magnus, In Apocalypsim 18, 23, zit. U. Feldges-Henning, Sala della Pace, 161). Zur Hochschätzung der Arbeit und der artes mechanicae ν gl. ebd. 151-161; C. Frugoni, Distant City, 160ff, 174-81; HJ. Schmidt, Arbeit. - Zum gerechten Preis vgl. J.W. Baldwin, Just Price; R.A. De Roover, Pensée économique (kommentierte Bibliographie im Anhang), gibt eine gute Einführung in das ökonomische Denken des Mittelalters, viele von Albert angeführte Beispiele findet man hier wieder.
3. Die Stadt auf dem Berge
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accipio. Wer auf solche Weise guten Handel (bona negotiatio) treibt, werde seinen gerechten Preis in jedem Falle bekommen 52 . Wie in allen Angelegenheiten des Tausches und Austausches, so herrscht auch in jenem zweiten großen Bereich der Rechtsordnung, dem der iustitia distributionis, das Wort des Apostels: Unusquisque mercedem accipiet secundum suum laborem. Gemäß Würde und Verdienst jedem das Seine geben heißt zugleich, Königen und Adligen, da sie mehr für das Gemeinwesen leisten, auch mehr zukommen zu lassen; eine einfache Erklärung für Steuern und Abgaben, für tributum und vectigal53. In Alberts Ausführungen zur verteilenden Gerechtigkeit schimmert deutlicher als in den anderen Abschnitten seiner sieben Predigten die ständisch gegliederte Gesellschaft seiner Zeit durch. Die in diesem Kontext angeführten Vergleiche und Veranschaulichungen entstammen eher platonisch-augustinischer als aristotelischer Tradition und Denkweise. Der Stadtbezug ist hier am wenigsten sinnfällig. In dieser Hinsicht bleibt auch der folgende Rat ambivalent: „Wenn du Bürger bist, trage das Deine, lasse dem anderen das Seine, auf daß du jedem die gebührende Ehre erweist, dem Könige und Fürsten mehr, dem Gärtner und Bauern weniger"54. „Freiheit", letzter der vier Punkte des breit angelegten Versuchs, die Anwendung des Stadtbegriffs auf die heiligen Lehrer der Kirche plausibel zu machen, sowie das Thema „Bürgerrechtserwerb" sind die ausstehenden 52
Albertus Magnus, Predigtzyklus, III 205ff: 123f. Das bei Lc. 19 und Mt. 25 berichtete Gleichnis von den anvertrauten Pfunden bzw. Talenten ist gerade bei den Predigern der Bettelorden beliebt und verbreitet. Vgl. etwa die Predigt des Franziskaners Berthold von Regensburg (+ 1272), die dieser um die Jahrhundertmitte, vielleicht sogar in Augsburg, gehalten hat: Von den fiinf Pfunden; Berthold von Regensburg, Vier Predigten, 4-55. Das zweite, dritte und vierte Pfund vergleicht Berthold darin mit Beruf (amt), Zeit (zìi) und Besitz (guot), die Gott jedem Menschen anvertraut hat, mit denen er handeln soll. Die „Ordnung des Warentausches" wird auch hier in aller Ausführlichkeit vorgestellt. Zahlreiche Handwerke, Kaufleute und Geldverleiher treten auf. Wie Albert legt der Minderbruder großes Gewicht auf die „Gemeinschaft" : Christen müssen zusammenleben in guter Nachbarschaft, in Brüderlichkeit und gegenseitiger Hilfe; Bertholds Thema ist Auslegung des inredestehenden Gleichnisses, er entwickelt und deutet es nicht im Rahmen einer „Theologie der Stadt". Zu Bertholds Sicht der städtischen Gesellschaft (mit weiterführender Lit.) vgl. H.J. Schmidt, Arbeit (ebd. 282 eine aufschlußreiche Übersetzung des negotiamini dum venio durch Berthold: Arwaitt unts das ich her wider körne). 53
Albertus Magnus, Predigtzyklus, III 281f: 125 (jedem seinen Lohn); ebd. III 274f: 125 (Steuer und Zoll). 54 ...si civis es, tuum tollas et alteri suum dimitías et ut cuilibet secundum suam distribuas dignitatem regi et principi plus, hortolano et rustico minus (ebd. III 38ff: 120). Das Umfeld dieses Satzes, die ausdrückliche Anknüpfung an Piaton (vgl. o. Anm. 11), macht klar, daß hier „Staatsbürger" gemeint ist, König und Bauer sind beide Mitglieder einer hierarchisch gestuften Bürgergemeinde. Gleichwohl konnten die Hörer dieser Predigt, Stadtbewohner, auch den Eindruck haben „Bürger" würden von „König und Fürst" ebenso abgehoben wie von „Gärtner und Bauer".
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II. Theologie der Stadt
Punkte im Rahmen unserer Beschäftigung mit den Predigten Alberts. Im Zusammenhang mit dem Freiheitsbegriff ist die Tugendlehre Gegenstand der Erörterung. Behandelt werden die Hindernisse auf dem Weg zu vollkommener Willens-, Seelen- und Geistesfreiheit; insbesondere drei Hauptsünden gilt die Aufmerksamkeit des Predigers : Der Völlerei (gula), der Genußsucht (luxuria) und dem Geiz (avaritia). Ob die Anfälligkeit der Stadtbürger für diese drei der sieben Hauptsünden besonders ausgeprägt ist, sei dahingestellt; jedenfalls wird auf Hochmut, Neid, Zorn und Trägheit nicht eigens eingegangen 55 . Für alle Sünden aber, so Albert, gelte das Herrenwort: Wer sündigt, ist der Sünde Knecht. Und ein Knecht kann nicht Bürger jener Stadt auf dem Berge sein : Berg steht für Höhe, hoch meint „hoch in Tugenden, Sinnen, Gedanken und Affekten" 56 . Erziehung, Weisheit, Sitte, so erfährt man in der anschließenden sechsten Predigt ergänzend, unterscheidet die Bewohner der Stadt von den unbelehrbaren rudes 57. Die engere Diskussion des theologisch-philosophischen Freiheitsbegriffs ist an dieser Stelle nicht weiter zu verfolgen. Genannt werden sollen nur noch jene Belege, die Stadtfreiheit in engerem Sinne charakterisieren. „Denn seit alten Zeiten", hieß es bereits zu Beginn der zweiten Predigt, „haben die Bürger eine andere Freiheit, welche bäuerliche Leibeigene oder vom Bürgerrecht Ausgeschlossene nicht besitzen"58. In der vierten 55
Ebd. IV 65-88: 127f. L.K. Little, Vices, 38f, kommt bei einer Analyse der Veränderung in der Reihenfolge der sieben Todsünden zu dem Schluß, daß der soziale Wandel des Hochmittelalters, insbesondere die Urbanisierung und die Ausdehnung von Handel und Geldwirtschaft, bei der Ablösung des Stolzes (superbia) als der schlimmsten der Todsünden durch den Geiz (avaricia) ein wichtiger Faktor gewesen ist. - Aber die Stadtgesellschaft war nicht nur Hintergrund dieser fragwürdigen .Karriere' des Geizes. Die Erfahrung urbaner Lebensformen war es auch, die Poggio Bracciolini schließlich dazu geführt hat, dieses Laster anthropologisch zu erklären. In seinem um 1430 entstandenen Dialog ,De avaritia' reiht er die Habsucht unter die Naturtriebe ein : Damit ist nicht nur eine Gegenposition zur scholastischen Sündenlehre markiert; vielmehr werden der Geiz und eine seiner Folgen, der Reichtum, als notwendige Grundlagen staatlicher Ordnung ins Gespräch gebracht; vgl. H.M. Goldbrunner, Dialog über die Habsucht. Daß auch scholastischen Denkern die gesellschaftliche Notwendigkeit des Reichtums bewußt war, hat Albertus in den hier behandelten Predigten hinreichend belegt, vgl. o. Anm. 46. 56 ...alius est in virtutibus, sensibus, cogitationibus et affectibus... (Albertus Magnus, Predigtzyklus, V 77f: 132). 57 Rudes sunt, qui nullis civium disciplinis erudiri possunt, unde eruditi dicuntur quasi extra ruditatem positi... (ebd. VI 19f: 134). Denn: Urbs non est, ubi non servatur urbanitas, potestas et civilitas non tenetur... (ebd. VI 115f: 137). Die Stadt galt schon Cassiodor als Ort der Bildung und der civilitas, zu dieser Tradition vgl. C. Frugoni, Distant City, 32ff. 58 ...quia aliam libertatem ab antiquis temporibus habent cives, quam non habent rustici prosecutores sive decommunicatores (Albertus Magnus, Predigtzyklus, II 7ff: 111). Die konjekturale Übersetzung fußt auf E. Haberkern/J.F. Wallach, Hilfswör-
3. Die Stadt auf dem Berge
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Predigt wird Stadtfreiheit nun im Anschluß an Aristoteles näher bestimmt als Freiheit der Menschen und ihres Besitzes: Secundum ,philosophum' illa civitas libera est, cuius homines et bona hominum sunt libera 59. Folgt man Albert, dann kann das „Bürgerrecht" jeder erwerben, der, anachronistisch gesprochen, den Willen hat, seine Arbeitskraft besser zu vermarkten. Er beruft sich dabei auf Worte des Predigers Salomo: „Die Arbeit der Narren wird ihnen sauer, weil sie nicht wissen in die Stadt zu gehen", sie leben lieber auf dem Land oder im Wald. Wiederum in Anlehnung an die Heilige Schrift mahnt der Dominikaner dann eindringlich: „Wenn jene nicht töricht wären, würden sie in die Stadt gehen, zu Bürgern werden ... sie würden sich von jener Mauer umschließen und von den Speisen der Stadt erfrischen lassen" 60 . Unsere Interpretation des Augsburger Predigtzyklus ist notwendigerweise interessegeleitete Betrachtung gewesen, nicht alles stellt sich im Text in dieser Schärfe und Deutlichkeit dar. Aber auch der unbefangene Leser wird nicht immer den eigentlichen Gegenstand aller Ausführungen, die heiligen Lehrer der Kirche in ihrer transzendenten, zeitübergreifenden Gemeinschaft, im Auge behalten können. Motto der Predigten und verwendete Begrifflichkeit lenken den Blick ebenso auf den weltlichen Plan Fortsetzung Fußnote von Seite 44 terbuch. Dort (II, 487: „Poursuite, droit de") werden homines de prosecutione definiert als Leibeigene, die ihr Herr mit Gewalt auf sein Gut zurückbringen darf. Communicator (ebd. I, 249: „Gewerkschaft") bezeichnet das Mitglied in einem Gewerk, decommunicator, so könnte man vermuten, das Nichtmitglied. " Albertus Magnus, Predigtzyklus, IV 9f: 126. 60 Sed quid dicit Salomon: Labor, inquit, stultorum afßiget eos, qui nesciunt in civitate pergere (ebd. I, 233f : 110 ; Eccl. 10,15). Diese Narren seien semper in campo und in silvis cum feris et bestiis (ebd. Zeilen 237 u. 239). - Sed si tales stulti non essent, quandoque pergerent in civitatem et efficerentur cives... permitterent se cingi muro isto et cibariis reflci civitatis... (ebd. Zeile 240f). Der im letzten Satz ausgelassene Passus weist auf Paulus, Eph. 2,19, hin. Dort werden die neu in die Gemeinde Christi Aufgenommenen begrüßt: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen" (vgl. auch das zweite Zitat o. in Anm. 51). Das Bild von der Arbeit der Narren, die nicht wissen in die Stadt zu gehen, greift er in der sechsten Predigt nochmals auf, um deutlich zu machen: Urbs non est, ubi non servatur urbanitas, potestas et civilitas non tenetur, sed talia loca vocantur casalia aut castella (ebd. VI 114ff: 136f)· - Der Satz des Apostels Paulus, daß wir dereinst Bürger im Himmel sein werden, hat mittelalterlichen Predigern immer wieder den Vergleich mit der irdischen Stadt in den Mund gelegt. So handelt der Mönch von Heilsbronn in einem seiner Traktate über die Namen Gottes; der vierte Name Gottes, führt er aus, heiße in Latein communio, was auf Gemeinsamkeiten zwischen Gott und Mensch abhebe. Diese Gemeinsamkeit lasse uns nicht nur teilhaben an allen Taten der Heiligen und Märtyrer, sie schenke uns auch die gesellschaft aller engel, also das wir marcktreht vnd hantschlack enphahen, das wir mit den engein ze himel husgenossen vnd burger werden ewecliche (Mönch von Heilsbronn, Tractate, 207). Den Hinweis verdanke ich Klaus Graf.
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II. Theologie der Stadt
wie schon das zu Anfang der ersten Predigt gewählte Beispiel, das Disposition und Angemessenheit der gewählten vier Kriterien plausibel machen sollte. Die Stadt der Athener, sagt Albert dort, sei einst eine jener wohlgeordneten Gemeinschaften gewesen, um deren Vergleich mit den Lehrern der Kirche es im folgenden gehen werde: Selbst Herkules hätte sie mit all seinen Truppen, mit seinem starken und unbesiegten Heer nicht zu bezwingen vermocht: quia istam [civitatem Athenarum]propter optimam ordinationem et cives optimos non potuit expugnare, per istam tota patria fuit defensa 61. Vieles in den Predigten ist genuin theologisches Denken, vieles antikes, von den Kirchenvätern überliefertes Traditionsgut, anderes wiederum ist gleichnishaft, ohne bestimmten Bezug zu dieser Welt. Das alles sprengt immer wieder die Begrenzung auf die Metapher „Stadt". Klammer aller Ausführungen bleibt diese dennoch. Und: Je mehr der Prediger seinen Zuhörern in wiederholten Anläufen die civitas bene ordinata in schöner Anschaulichkeit nahezubringen sucht, desto deutlicher wird ein bestimmtes, klar umrissenes Bild : Die Stadt auf dem Berg, geschützt von hohen Mauern und getrennt vom Umland ; die Stadt, in der Bürger auf andere Weise leben, arbeiten und Angelegenheiten ihres Gemeinwesens regeln als die übrigen Menschen. Die Stadt als gestufte Herrschaftsordnung: dort führen ein weises Stadtoberhaupt und tugendhafte, edle Männer das Regiment, Reiche und Mächtige sind mit öffentlichen Aufgaben betraut. Handwerker, obwohl Mitglieder der Bürgerschaft, sind von politischer Partizipation ausgeschlossen. Anders verhält es sich in der gesellschaftlichen Sphäre der austauschenden Gerechtigkeit. Hier, in den Belangen des täglichen Umgangs, begegnen die Bürger einander als Gleiche. Handel und Handwerk haben ihren festen Platz; Arbeit, Preis und Lohn {labor, pretium, merces) sind positiv belegte Begriffe geworden, mit denen Albert auch in anderen Zuammenhängen gern argumentiert. Die Bürger der vollkommenen Stadt haben, wie die Bürger in den weniger vollkommenen Städten des 13. Jahrhunderts, das freie Verfügungsrecht über ihren Besitz und sind selber persönlich frei. Element des Ganzen ist allerdings nicht der einzelne; die Gemeinschaft besteht aus artes und ordines, aus sozialen Gruppen und Ämtern. Aufgelockert und in ein wärmeres Licht getaucht wird die Eingebundenheit des einzelnen in Gruppen, Verbänden und der Herrschaftsordnung allerdings durch jenes brüderliche Leben in gegenseitiger Anteilnahme, das den Bür61
Ebd. I 28f: 105. Patria ist seit der Zeit der Kirchenväter ein gebräuchlicher Terminus auch für das Himmlische Jerusalem, vgl. E.H. Kantorowicz, King's Two Bodies, 234ff. Kantorowicz legt dar, daß dieser Begriff in der Mitte des 13. Jahrhunderts aus der theologischen Sphäre der Himmelsstadt zurückübersetzt worden ist in irdische Verhältnisse, die dadurch zugleich einen neuen Eigenwert erhielten.
4. Das „wahre Florenz"
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gern im Bild der Urgemeinde vor Augen gestellt und dessen Nachahmung von jedem erwartet wird: wie die Gläubigen zu Beginn sollen auch sie „ein Herz und eine Seele" sein 62 . Die vollkommene Stadt weist zurück auf die Urgemeinde und voraus auf die zukünftige Himmelsstadt. „Gebe Gott", so schließt Albert die Predigt über die Verfassung, „daß wir diese Stadt so regieren, daß herabsteigt unter uns jene himmlische Stadt, von welcher der Apostel spricht: Ich sah die Stadt Jerusalem" 63 . In jedem Fall mehr dem Himmel als der Erde zugeordnet, hat die spirituelle Gemeinschaft der heiligen Lehrer in Alberts Augsburger Predigtzyklus Züge einer mittelalterlichen Bürgerstadt angenommen. Und Bürger waren offensichtlich besonders empfänglich für die hier geschilderte Metaphorik. So etwa gibt das ,Benediktionale von Lübeck' das Schema eines Stadtgründungsritus wieder. Danach „weiht und segnet der Priester das Wachstum der Stadt. Nachher befestigt er ein Kruzifix an einem großen Holzkreuz im Mittelpunkt der Stadt und liest dabei die Stelle aus Matthäus V, 13-16 vor, über die Stadt, die auf einem Berg liegt und nicht verborgen bleibt" 64 .
4.
Das „wahre Florenz". Strukturgleichheit von Bürger- und Himmelsstadt bei Giordano da Pisa
Die erste große Predigtsammlung, die in der Volkssprache überliefert ist, stammt aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts. Fra Giordano da Pisa (1260-1311), Dominikaner im Konvent von Santa Maria Novella, hat diese Predigten in den Jahren 1303-1306 auf den Plätzen und in den Kirchen von Florenz gehalten 65 . Am häufigsten sprach er natürlich in Santa 62
Cor unum et anima una (Albertus Magnus, Predigtzyklus, III 92: 121). Donet Deus ut ita regamus istam civitatem, quod descendat in nos illa civitas caelestis, de qua dicit apostolus s. Vidi civitatem Jerusalem (ebd. II 359f: 119). Der Hinweis zielt auf Apoc. 21,2. - Y. Christe, Angelorum custodia, hat darauf hingewiesen, daß in mittelalterlichen Kommentaren zur Apokalypse das Himmlische Jerusalem in dreierlei Weise interpretiert worden ist: „une cité céleste idéale, déjà présente, le modèle de l'Ecclesia terrena en lutte pour son accomplissement définitif, e la cité de l'avenir..." (ebd. 175). Diese drei Aspekte seien häufig vermischt und miteinander vermittelt gewesen. Im 12. Jahrhundert sei ein weiterer Gesichtspunkt hinzugekommen: Das Himmlische Jerusalem stand dann bisweilen für „le début d'une septième période de nature essentiellement eschatologique" (ebd.). 63
64
O. Borst, Babel, 49. Borst meint mit dem Benediktionale vermutlich das als Wiegendruck überlieferte, um 1486 in Lübeck gedruckte Werk ,Agenda Lubicensis' ; leider ist mir der Text bisher nicht zugänglich gewesen. 65 Standardwerk zu Giordano da Pisa (in älteren Arbeiten Giordano da Rivalto genannt) ist C. Delcorno, Giordano. Dort finden sich auch die überlieferten Manuskripte, die Editionen (IX f) und die einschlägige Sekundärliteratur. Vgl. außerdem
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II. Theologie der Stadt
Maria Novella selbst, Hauptkirche seines Ordens in der Toskana und Sitz eines Studium Generale, oder auf dem weiten Platz vor dem dortigen Hauptportal. Zuhörer und Adressaten waren die Bürger der Stadt. Dem popolo minuto hatte er wenig zu sagen, und Magnaten, so drückt es ein Zeitgenosse aus, „pflegen selten Predigten zu hören" 66 . Giordano da Pisa, der seinen älteren Konventsbruder Remigius von Florenz bald an Ruhm und Zulauf übertraf, war kein enthusiastischer Prophet städtischer Lebensformen. Mönche, so belehrt er seine Zuhörer, sollten eigentlich außerhalb der Stadt, in Wildnis und Wüste ein Leben in Kontemplation und Gebet führen; die Mönche früherer Zeiten (anticamente) hätten das auch so gehalten. Sie aber, die Predigerbrüder, seien auf Geheiß des heiligen Dominikus in die Städte gezogen, um den Menschen dort in ihrem Irrtum und ihrer Sündenkrankheit zu helfen und beizustehen. „Wir machen das nur um euretwillen", ruft er. „Nicht auszudenken ist der Nutzen, den ihr durch uns habt" 67 . Verweilt der Mönch auch nur aus Liebe zu seinen Mitmenschen in dieser Stadt, so erzählt er ihren Bürgern doch oft und mit Begeisterung von jener anderen, besseren „Stadt der Freude", der città di letizia im Himmel. Sehr wichtig sei, sagt Giordano einmal, sie genau zu kennen. Es informiere sich doch auch sonst jeder, der in eine Stadt übersiedeln und dort um der besseren Gewinnchancen willen Bürger werden wolle, vorher genauestens über die Zustände, die am Orte herrschten. Vielmehr noch müßten die, die Fortsetzung Fußnote von Seite 47 C. Frugoni, Distant City, bes. 96-101, 162f, 186ff; D.R. Lesnick, Preaching, bes. 96-133 (Chapter IV: Dominican Preaching and the Creation of Capitalist Ideology); M.C. De Matteis, Remigio, XXXVIII - XLIV; R. Davidsohn, Geschichte von Florenz, IV 3., 69-76. 64 C. Delcorno, Giordano, 57 und 66 - 80 (Gli uditori). Zu den Magnaten, die raro soient audire sermones, ebd. 68. „Harter Kern" der Zuhörerschaft, so Delcorno nach eingehender Analyse der Predigtorte und Themen, sind die Mitglieder der Laienbruderschaften gewesen, d.h. Angehörige zumeist reicher und begüterter Bürgerfamilien, ebd. 70ff. Giordanos Predigten sind als anonyme Mitschriften überliefert, vermutlich verfertigt von einem Ordensbruder. 67 Predigt XXXIX, am 28. August 1303, dem Festtag des heiligen Augustinus, in Santa Maria Novella. Im Zusammenhang: Io voglio che voi sopiate ... che non si confa a noi di stare tra voi in cittade; perocché i monaci, che noi siamo tutti monaci, deono stare fuori delle cittadi, ai diserti, ai luoghi solitarii a contemplare Iddio; e così anticamente faceano i monaci, non stavan mai in città; ma quello venire in città venne da debilezza di spirito al principio, e da morbidezza. Non è convenevole cosa a noi lo stallo qui; ma è proveduto per lo meglio che noi stiamo qui tra voi, acciocché noi v'atiamo. Or che fareste voi, se noi non fossimo? Non si potrebbe dire l'utilità, che voi n'avete di noi... ma tutto questo facciamo pur per lo vostro meglio ...E Santo Domenico per zelo della gente pur volle che le religioni stessero in città (Prediche del Fra Giordano, Tom. II, 17f). Die Nummer der Predigt wird in römischen Ziffern und die Seitenzahl in arabischen nach dieser Edition, Tom. II, zitiert.
4. Das „wahre Florenz"
49
in die ewige Stadt einzugehen und dort Bürger zu werden bestrebt seien, sich unterrichten von dem, was sie dort erwarte 68 . In den Worten des Predigers ist der Erwerb des Bürgerrechts, und zwar „hier" wie „dort", ein Akt vorausschauender, wohlkalkulierter Abwägung. Das Bild der Himmelsstadt entfaltete der Dominikaner dann in einem Zyklus von drei aufeinanderfolgenden Predigten. Darin schilderte er den Bürgern von Florenz in aller Anschaulichkeit die „Zustände in jener Stadt". Am Morgen des 4. Oktober 1304, zum Fest des heiligen Franziskus, sprach er in Santa Maria Novella, am Abend desselben Tages im Dom. Die dritte Predigt, zum Ehrentag der heiligen Reparata, Patrona von Dom und Stadt, hielt er vier Tage später auf der Piazza vor dem Bischofspalast 69 . Thema und Leitmotiv aller drei Predigten ist ein Satz aus Mt. 9,1: Venit in civitatem suam. Wie nun alle Dinge dieser Welt an ihren natürlichen Ort zurückstrebten, philosophiert Giordano gleich zu Beginn und in Anknüpfung an Vorstellungen aus der Aristotelischen Physik, so habe auch der Mensch den Wunsch, in seine Stadt zurückzukehren. Unsere wahre Stadt findet sich jedoch nicht in dieser Welt, vielmehr ist es jene „selige Stadt des ewigen Lebens, wo selige Bürger wohnen" 7 0 ; dort ist unser „natürlicher Ort" (luogo naturale), dorthin zieht uns das „natürliche Verlangen" {naturale appetito). Die ewige „Stadt der Freude" steht für Anfang und Ziel alles wirklichen Strebens ; sie ist Urbild aller Städte auf Erden, die ihren Namen, den Namen città, eigentlich zu Unrecht und nur abgeleitet führen. Denn: „Stadt klingt ganz wie Liebe und in der Liebe werden Städte erbaut" 71 . „Liebe" wiederum verweist auf den göttlichen Ursprung auch der irdischen Stadt. Giordano da Pisa kennt aber noch eine andere, gewissermaßen anthropologische Ursache für das Zusammenleben der Menschen in Städten: „Menschen erfreuen sich am Zusammensein". Und: „Der Weise spricht, daß es eine natürliche Sache und dem Menschen eigen ist, in der Stadt zu leben". Der Mensch sei eben, wie der Phi68
Interviene che la persona quando disidera d'andare ad alcuna cittade là ov'egli crede fare migliore guadagno, ovvero crede esservi più riposato, o che vi crede stare in più letizia, sì si procaccia volentieri, se può, d'esserne cittadino. Costui adunque sogliono adimandare della condizione di quella cotale cittade, ove disidera d'andare. Così noi voglienti andare a dimorare in quella città di vita eterna, ed esseme cittadini, dovremmo volentieri udire e dimandare della condizione di quella cittade (ebd. LV 166). 69
Es handelt sich um die Predigten XLIV-XLVI, 64-100. ...è quella beata cittade di vita eterna, ove sono quelli beati cittadini (ebd. XLIV 66). 71 Città tanto suona come amore, e per amore s'edificare le cittadi (ebd. XLV 77). Diesem Satz in der Mitschrift liegt offenbar ein Wortspiel mit den lateinischen Begriffen civitas und caritas zugrunde, das der anonyme Schreiber weggelassen hat: civitas klingt wie caritas, città aber hat mit amore phonetisch wenig gemein. 70
50
II. Theologie der Stadt
losoph das schon auf den Begriff gebracht habe, ein animale congregale e sociale n. Der Dominikaner sprach von der sozialen Natur des Menschen, von dessen natürlichem Verlangen nach dem Himmelreich und von der Liebe als dem Wesen der Stadt, um seine Zuhörer neugierig zu machen und hinzulenken auf Mitte und Ziel seines Predigtzyklus: auf die Beschreibung der „Seligen Stadt des Paradieses". Diesen Teil leitet er ein mit der Frage, warum man das Paradies denn überhaupt „Stadt" nenne? Stadt (cittade) wird das Paradies genannt, so die Antwort, wegen der Liebe (amore) und wegen der Ordnung (ordine). Daß Liebe und Stadt zusammengehören, wissen wir bereits. Dreierlei ist damit gemeint. Einmal die Liebe, welche Bürger gegeneinander hegen, die alle verbindet wie Ketten aus Erz: l'amore ha catene di ferro. „Liebe" bezeichnet ferner jenes Empfinden, das sich unvermeidlich einstellt, wenn man ein so edles Gebilde betrachtet, wenn man eine Stadt sieht, in der es „nicht Böses noch Elend, weder Krankheit noch Armut gibt". Schließlich und vor allem aber deutet „Liebe" hin auf die Einheit im Wollen, auf die unità di volontà. Mit letzterem hält Giordano seinen Florentinern einen Spiegel vor, diesen Bürgern einer Stadt, in der sich selbst unter Brüdern kaum jemals zwei fänden, die dasselbe wollten, in welcher der eine dieser, der andere jener Partei (parte) angehöre. Die Bürger der Himmelsstadt seien dagegen einander „gute Gefährten" (boni compagni), sie hätten „ein Herz, ein Wollen und ein Streben" 73 . 72
Si dilettare le genti di stare insieme (ebd. XLV 77f.). Das zweite Zitat lautet vollständig: Dice il Savio che naturale cosa e propia è all'uomo stare alla cittade, e la ragione si è questa que, come dice quel grande Savio, l'uomo è animale congregale e sociale, e non sa stare sanza compagnia. Gli altri animali sono salvatichi e stranieri (ebd. XLVI 88f)- Anders als nördlich der Alpen hat in Italien die lateinische Übersetzung des Aristotelischen zoon politikon, hat animal sociale et politicum seine Übertragung in die Volkssprache gefunden. Dante drückt das in seinem etwa gleichzeitig geschriebenen Convivio (IV.4) so aus: L'uomo naturalmente è compagnevole animale. - Nur am Rande bemerkt sei, daß die im obigen Giordano-Zitat gebrauchten Begriffe salvatichi und stranieri in den italienischen Städten der Zeit wohlvertraut waren: Stranieri hatten kein oder noch kein volles Bürgerrecht; cittadini selvatici lebten die meiste Zeit des Jahres im contado, waren nicht voll in die Bürgerschaft integriert, vgl. W.M. Bowsky, Sylvan Citizenship. 73 Ebd. XLV 78 und 80 (Gliederung: amore, ordine)·, ebd. 78 (Ketten aus Erz); ebd. 79 (Stadt ohne Not: ...quella cittade, ove in nullo modo potrà essere nullo male, o nulla miseria, nulla laidezza, nulla povertà); ebd. (einiges Wollen; Gefährten); ebd. 79f ein Zeitbild der Zustände in Florenz: Non si trova oggi in persona questo, eziandìo tra fratelli; imperocché veggiamo oggidì che l'uno tiene quà, e l'altro là; l'uno coll'una parte, e l'altro coll'altra, e però si dividono, e vengono insieme a ree parole, e voglionsi male. Se si trovassero pur due, che in tutte cose si piacessero, e s'accordassero, oh come sarebbe dolce la vita loro insieme! Quanto amore e bene de'essere in quella benedetta cittade; degna solamente ella d'esser detta cittade; che tutti avranno
4. Das „wahre Florenz"
51
Albertus Magnus hatte zuerst die austauschende, dann die verteilende Gerechtigkeit behandelt. Ebenso stellt auch Giordano den egalitären Aspekt der Gemeinschaft an den Anfang. Dann erst spricht er von der anderen Sache (l'altra cosa), deretwegen man den Begriff „Stadt" mit Recht auf das Himmelreich anwenden darf. Diese andere Sache ist „Ordnung", sie besteht in dreierlei: In „Schönheit, Stärke, Großartigkeit" (Bellezza, Fortezza, Grandezza). Das letzte Merkmal hebt auf die Würde ab, die eine Ordnung ausstrahlt, in der, wie bei einem gesunden Körper, ein jedes Glied den ihm gebührenden Platz einnimmt. Die „Stärke" (Fortezza) der gegliederten Ordnung fordert darüber hinaus Einheit und Eintracht (concordia) der Bürger. Zwietracht und Schwäche, neuralgische Punkte auch der zeitgenössischen Stadtgesellschaft, kann man überwinden, wenn „die Angelegenheiten geregelt würden von allen Bürgern" 74 . Die Ausführungen zu Grandezza und Fortezza sind anschaulich, bisweilen mitreißend. Gleichwohl, sie bewegen sich fast ausnahmslos entlang altbekannter Argumentationslinien theologischen Denkens. Zu Neuem stößt Giordano da Pisa aber in der Beschreibung des grundlegenden ersten Kennzeichens himmlischer Ordnung, in der Analyse der Bellezza, vor 75 . „Seht, wie schön eine Stadt ist", ruft er den im Dom versammelten Bürgern zu, „wenn sie wohlgeordnet ist und viele Zünfte beherbergt". Die Schönheit der wohlgeordneten Stadt, der cittade bene ordinata, faßt Giordano im Bild der Zunftordnung. Viele Zünfte gebe es dort und alle zusammen bildeten ein gemeinsames Ganzes. Das eigene Beispiel scheint den Prediger zu beflügeln: „Allzugroß ist die Schönheit, weil es da nicht ein Handwerk gibt, das nicht nützlich wäre". Dann zählt er auf: Schuster, Bäcker, Schneider, am Ende Ritter 76 . „Auf diese Weise also ist die ruhmFortsetzung Fußnote von Seite 50 uno cuore, uno volere, uno intendimento? Das letztere verweist auf die Zustände im Himmlischen Jerusalem, Vorbild und Norm des Handelns ist es, folgt man dem Prediger, aber schon in dieser Welt. 74 Ebd. XLV 80 (Dreigliederung: Bellezza etc.); ebd. 86 (Grandezza: catuno in suo luogo); ebd. 84 (concordia); ebd. 83f (Überwindung der Zwietracht: se le cose andassero ordinate per tutti i cittadini). 75 Auf die große kunstgeschichtliche Bedeutung der Betonung der Bellezza in dieser Predigt Giordanos hat schon hingewiesen W. Braunfels, Stadtbaukunst in der Toskana, 124. Braunfels, wieder unter Hinweis auf Giordano, legt dar, daß sich in der irdischen Stadt auf diese Weise die himmlische Ordnung spiegelt (ebd. 22f). Unsere Interpretation dagegen hebt ab auf den umgekehrten Vorgang, auf die zunehmend irdischen Züge der Himmelsstadt. Erst nachdem die Himmelsstadt das Antlitz der irdischen angenommen hatte, konnte sie wirksames Vorbild und Norm für letztere werden. 76 Dieser begeisternde Redeabschnitt lautet im Zusammenhang: Vedete come è bella la cittade quando è ordinata, e sonci le molte arti!... Bellezza dà come ti dissi. Come è bella cosa la cittade bene ordinata, ove sono le molte arti, e catuna per se, e
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II. Theologie der Stadt
reiche Stadt des ewigen Lebens eingerichtet, denn wie hienieden ein jeder dem anderen nützt in seinem Handwerk und in dem Amte, mit dem er betraut ist, so wird sich auch in jener seligen Stadt niemand finden, der da überflüssig ist"77. Die Zuhörer werden Giordano gut verstanden haben. War doch auch in ihrer Stadt die Zunftordnung grundlegende Dimension der Gesellschafsstruktur und Wirtschafts-, Kultur- und Herrschaftsordnung in einem. Vielleicht verstanden die Florentiner ihren Prediger zu gut. Auf jeden Fall zieht dieser das von ihm selbst so enthusiastisch vorgetragene Beispiel unvermittelt wieder zurück. Ein ungewöhnlicher Vorgang. Der Vergleich mit den Zünften nämlich sei eigentlich kein wirklich angemessener, denn „die Zünfte in der Stadt wurden erfunden wegen der Mängel". Diese Mängel der menschlichen Natur sind Folgen des Sündenfalls; das gewählte Beispiel wird fallengelassen und „Zunftordnung" ersetzt durch die Körpermetapher, durch den organologischen Vergleich. Schönheit besteht auch hier in der geordneten Verschiedenheit, in unterschiedlicher Natur, Farbe, Licht, Funktion ; die Nähe zum irdischen Gemeinwesen allerdings geht in der neuen Metaphorik verloren. Die Ausmalung des Bildes der Himmelsstadt mit Elementen und Strukturen, die der irdischen Wirklichkeit entnommen waren, scheint hier an eine nur schwer überschreitbare Grenze gestoßen zu sein: Die irdische Stadt war der himmlischen zu nahe gerückt. Die Gefahr vorschneller Identifizierung des Irdischen mit dem Himmlischen, die Giordano im Vortrag wohl selbst gespürt hat, wird am Ende der Predigt noch einmal eigens thematisiert: „Diese Städte der Welt sind nicht würdig, Städte genannt zu werden, Gott will das nicht; wir sprechen jedoch so, weil wir uns nicht anders ausdrücken können". Die Gefahr der Übertragung von „unten" nach „oben" soll gebannt werden, indem man das Obere für das Erste erklärt und seine Anwendung auf irdische Sachverhalte erschwert78.
Fortsetzung Fußnote von Seite 51 sono comuni tutte le arti? troppo è grande bellezza; perocché non ci ha arte nulla, che non sia utile; il calzolaio è utile a tutta la cittade, ch'egli calza; il fornaio è utile e necessario, che ti cuoce i pane; il sartore altresì; il cavaliere è utile a tutta la cittade, che la difende (Prediche del Fra Giordano, XLV 80). 77 A questo modo è quella città gloriosa di vita eterna; che siccome ciascheduno quaggiù è utile l'uno all'altro nell'arte sua, ovvero nell'ufficio suo a che è posto; cosi in quella cittade beata non avrà nullo, che ci sia in vano... (ebd. XLV 81). 78 Ebd. 8If (Zurücknahme des Beispiels: Ma questo dell'arti della cittade non è bene proprio esemplo, perocché l'arti della cittade sono trovate per li difetti ... Ma in vita eterna, in quella cittade, non ci ha nullo difetto, nullo)·, ebd. 87 (Verschiedenheit); ebd. 88 (Stadtbegriff : Queste cittadi del mondo non sono degne d'essere chiamate cittadi, non voglia Dio; ma diciamo così che non potremmo altrimenti favellare).
4. Das „wahre Florenz"
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Was kann der Mensch nun tun, um am Ende auch Bürger der Himmelsstadt zu sein? Dazu gibt Giordano in der letzten Predigt einen eindeutigen Hinweis und konkreten Rat. Wie viele seiner Predigten ist auch diese dreigegliedert in Anknüpfung an das Thema: Venit in civitatem suam. Jesus, zählt der Dominikaner auf, hatte nun aber genaugenommen drei Städte: seinen Geburtsort Bethlehem, Kapernaum, die Stätte seines Wirkens, und Nazareth, die Stadt, in der er wohnte. Ebenso, hier wird die Analogie angesetzt, hat auch jeder Heilige drei Städte: Eine Stadt, in der er geboren wird, das ist diese Welt. Dann die, in der er wirkt, d.h. zu der er beispielsweise als Schutzpatron eine besondere Beziehung hat79. Schließlich und vor allem aber die Stadt, in der der Heilige wohnt, die Himmelsstadt; diese wird, der Logik der Analogie folgend, fortan Nazareth genannt. „Nazareth", erklärt der Prediger den auf dem Domplatz versammelten Florentinern, leite sich genau wie der Name ihrer Stadt, wie „Fiorenza", her von „die Blühende, die Blüte {florida, fiorita)". Geschickt weckt er das Interesse der Zuhörer, um es sogleich in rechte Bahnen zu lenken: „Jenes dort oben aber ist das wahre Florenz" 80 . Eingehen kann man in diese Gemeinschaft, so erfahren die Bürger, wenn man den Rat befolgt, den Jesus selbst seinen Jüngern im Gleichnis gab: Ein Herr hatte, bevor er fortzog, seinen Knechten alle Habe übertragen und dem einen zehn, dem anderen fünf Talente, dem dritten schließlich ein Talent gegeben und sie aufgefordert, damit Handel zu treiben, bis er wiederkehrt81. Negoliamini dum venio, diesen Rat als Quintessenz des vorgetragenen Gleichnisses, gibt Giordano an seine Zuhörer weiter. Dieser Rat ist der Schlüssel zum Paradies. Eindringlich ermahnt er seine Bürger: „Gott straft den, der nicht mit seiner Habe wuchert und müßig bleibt", besonders aber jenen, der das Kapital (capitale) nicht nur nicht vermehrt, sondern es auch noch verliert. „Der heilige Mensch", so die Schlußfolgerung, „treibt Gewinn mit dem, was Gott ihm gegeben hat, seien es irdische Reichtümer oder Schönheit des Körpers oder Gesundheit oder Weisheit und Verstand und andere Dinge" 82 . 79 Die dritte Predigt wurde, wie gesagt, am 8. Oktober gehalten, dem Tag der heiligen Reparata. In der vorgetragenen Analogie ist, neben ihrem Geburtsort und der Himmelsstadt, Florenz die dritte Stadt dieser Heiligen: Hier wird sie, neben Maria und Johannes dem Täufer als Stadtpatrona verehrt, sie ist capo e reggitore, e speziai guardiana der Stadt (ebd. XLVI 98). 80 Ebd. XLVI 96 (Quest'altra è significata in Nazaret, eh' è a dire florida, fiorita, come Fiorenza è detta città fiorita di fiori. Ma quella colassù è la diritta Fiorenza). 81 Giordano erzählt das Gleichnis in einer aus beiden überlieferten Versionen (Lc. 19, 11-27; Mt. 25, 14-30) synthetisierten Form. Negotiamini dum venio ist Lc. 19, 13. Vgl. die Ausführungen zu Albert o. Anm. 52. 82 Im Zusammenhang: Dunque se Iddio punisce così chi non guadagna coll'avere suo e sta ozioso; quanto maggiormente punirà coloro, che non solamente non gli asse-
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II. Theologie der Stadt
Der Prediger spricht die Sprache der Bürger, er redet von Vorbildern, die sie verstehen. „Seht, Abraham war unendlich reich, hatte ein Weib und war ein weltlicher Mensch wie ihr; er wußte Gewinn zu machen und ist heute einer der höchsten Heiligen in jenem seligen Leben" 83 . Giordano da Pisa war nicht Vorläufer einer Denkweise, die man mehr als ein halbes Jahrtausend später „protestantische Wirtschaftsethik" nennen sollte. Zu oft hat er sich kritisch zu Handel, Geldverkehr und Zunftwesen geäußert84. Dennoch: Negotiamini dum venio, diesen Rat werden seine Zuhörer auch auf ihr eigenes Leben bezogen haben. Die Warnungen vor Müßiggang und Kapitalverlust, die Aufforderung, das, was man besitzt, zu mehren, stehen zu offensichtlich mit dem Alltag von Handwerkern, Kaufleuten und Bankiers in Verbindung, als daß man diese Ermahnungen nur metaphorisch aufnehmen konnte. Der begeisternde, in konkreten Bildern redende Künder des Himmelreichs steht immer in Gefahr, zu wörtlich genommen zu werden. Ein Florentiner Bürger, der bei allen drei Predigten zugegen war, könnte sich etwa folgende Vorstellung gebildet haben von der „seligen Stadt des ewigen Lebens". Das „wahre Florenz" ist eine überaus schöne, feste und edle Stadt. Die Bürger dort bilden eine vollkommene Gemeinschaft, sind durch das Band der Liebe verbunden und einander gute Gefährten. In diesem Gemeinwesen gibt es keine Parteiung, weder Not noch Elend. Die Ordnung ist gegründet in der sinnvollen und abgestuften Differenzierung der Aufgaben und Ämter, gemeinsames Wollen garantiert in der Eintracht der Bürger. Alle Dinge werden gemeinsam beraten und gestaltet. Vermutlich stellt sich unser Florentiner die Stadt darüber hinaus, trotz der Bedenken seines Predigers, als Zunftordnung vor. Der Mensch, animale congregale e sociale von Natur, gelangt in der Himmelsstadt in sein wahres Wesen: „Selig der", beteuert Giordano, „der dort Bürger sein wird" 85 . Um dort Aufnahme zu finden, muß man sicher ein guter Christ und tugendhafter Mensch sein. Ansonsten, so könnte unser Bürger denken, brauche er nur das zu tun, was er immer schon gemacht hat: Handel zu treiben mit dem, was er hat und kann.
Fortsetzung Fußnote von Seite 53 gnano il capitale, ma perdita grande, non si potrebbe dire. L'uomo santo guadagna coll'avere che Iddio ne dà; o sieno divizie mondane, o bellezza di corpo, o sanitade, o sapienza e senno e l'altre cose (ebd. XLVI 97f). 83 Ecco Abraam fu ricchissimo sanza fine, ed ebbe moglie, e fu mondano come voi, seppe guadagnare, ed è oggi de'maggiori Santi di quella vita beata (ebd. XLVI 97). 84 Vgl. C.Delcorno, Giordano, 53-66. 85 ...beato chi ne sarà cittadino (Prediche del Fra Giordano, XLV 88).
5. Rationalität und Manipulation
5.
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Rationalität und Manipulation. Leistungen und Gefahren einer „Theologie der Stadt"
Die Entwicklung einer „Theologie der Stadt" im 13. und 14. Jahrhundert, hier dargestellt an Texten von Wilhelm von Auvergne, Albertus Magnus und Giordano da Pisa, hat den theologischen Diskurs bereichert, Predigern neue Möglichkeiten der Wirkung eröffnet u n d Stadtbürgern Werte u n d Sachverhalte der eigenen Umwelt im Spiegel der Himmelsstadt vorgehalten. Die „herrliche Stadt", die Stadt der heiligen Lehrer der Kirche u n d jene „Stadt der Freude", von der unsere Autoren gesprochen haben, konnten Zeitgenossen unschwer als Gesellschaftsformationen identifizieren, die den Städten ihrer Zeit in vielen Stücken, manchmal zum Verwechseln ähnlich waren. Die „Wahlverwandtschaft" zwischen Christentum und Stadtgemeinde, von Max Weber mit guten Argumenten behauptet u n d beschrieben 8 6 , hat in der „Theologie der Stadt" ihre präziseste Formulierung und höchste Ausgestaltung gefunden. Das in diesem Kapitel Gesagte soll nun noch zusammengefaßt, typologisch verdichtet und gewertet werden. Wie schon bei der Darstellung selbst sind Leitmotive: Die einzigartige Lage der Stadt, getrennt vom umliegenden L a n d ; ihre Gemeinschafts- und Herrschaftsordnung; schließlich die Frage, wie man Mitgliedschaft in diesem Gemeinwesen erwerben, wie man dort Bürger werden kann. Die Stadt, Sinnbild und Metapher der vollkommenen Gemeinschaft, zeigt sich dem ersten Blick als befestigter Ort in feindlicher Umwelt. Sie ist von großer Schönheit und Stärke. Betont Wilhelm von Auvergne besonders die städtischen Lebensformen, sieht er in jener urbanitas civilis das, was dieses Gemeinwesen vom umliegenden Land mit seinen mores agrestes unterscheidet 8 7 , so ist bei dem Deutschen Albert die Stadtmauer Wahrzeichen der Trennung beider Sphären. Am wenigsten konturiert G i o r d a n o da Pisa den Stadt - Land Gegensatz. Das liegt vielleicht an den andersgearteten Beziehungen der italienischen Städte zu ihrem Kontado, eher aber an der Akzentsetzung des Dominikanerpredigers: Deutlicher als Wilhelm und Albert geht es G i o r d a n o um ein Bildnis der Himmelsstadt selbst und nicht nur um jene vorweggenommene Verwirklichung des 86
Zu den einschlägigen Stellen bei M. Weber und zur Sekundärliteratur vergleiche hierzu den für diese Thematik grundlegenden Aufsatz von K. Schreiner, Stadt in Webers Analyse, 133f. 87 Vgl. auch M. Richter, Urbanitas, bes. 152f: Seit dem 12. Jahrhundert wird, so der Autor, civilas und civilitas immer eindeutiger mit der mittelalterlichen Stadt identifiziert, rusticitas zunehmend negativ belegt. „By the twelfth century, the ,civitas' had become the nucleated settlement with fortifications, the walled town. By then the term generally used for the territorial diocese (still known as civitas to Gregory of Tours) was provincia" (ebd. 153).
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II. Theologie der Stadt
Himmlischen Jerusalem in der übergeschichtlichen Gemeinschaft der Heiligen, Märtyrer und Kirchenlehrer. Zentrum ihrer „Theologie der Stadt" ist allen behandelten Autoren die Ordnung des Gemeinwesens. Die freien Bürger leben in friedvoller, einträchtiger und brüderlicher Gemeinschaft. Einer hilft dem anderen, alle findet man verbunden in Liebe und Freundschaft. Pax, concordia und unitas sind ebenso wie fraternitas, mutuum adiutorium und amicitia Wesensmerkmale der himmlischen Gemeinschaftsordnung. Zugleich aber sind dies Grundwerte und regulative Ideen der irdischen Städte jener Zeit gewesen. Friede, Eintracht und Einheit beschwor man bei innerstädtischen Auseinandersetzungen; Freundschaft, Brüderlichkeit und gegenseitige Hilfe waren Ideale der Bürgerschaft, aber auch Normen anderer Korporationen und genossenschaftlicher Zusammenschlüsse freier und gleicher Menschen88. Gleichheit der Bürger ist das beherrschende Kennzeichen der vollkommenen Stadtgesellschaft. Sie konkretisiert sich im gleichen Recht und in Beziehungen des „Warentausches", d.h. in jener communicatio rerum et negotiorum, deren Gesetze nach Albert sowohl für temporalia als auch für spiritualia verbindlich gelten. Arbeit, Lohn und Preis, Handwerk und Handel sind nicht mehr nur, wie noch in der antiken Philosophie, notwendige und damit ontologisch niedere Bestandteile der menschlichen Ordnung. In der „Theologie der Stadt" werden sie vielmehr zu positiv belegten Begriffen, mit denen sogar Verhältnisse der Himmelsstadt adäquat beschreibbar sind. Brüderliche Gemeinschaft ist nicht das einzige Strukturprinzip des Ganzen; die Verfassung der „herrlichen Stadt" ist zugleich immer auch gestufte Herrschaftsordnung. Schon bevor Thomas von Aquin es in seiner ,Summa theologica' unternahm, den Ursprung politischer Herrschaft über Freie zurückzuverlegen in den Naturzustand des ersten Paradieses89, hatte 88
Vgl. dazu A. Black, Guilds and Civil Society. Black zufolge waren die Ideale „brotherhood, friendship and mutual aid" Grundwerte der „guild community" (inspiriert z.T. durch Theologie und religiöse Bewegungen) noch bevor die politische Philosophie der Aristoteliker und Humanisten sich ihrer bediente (vgl. etwa ebd. 57ff, 690· Umso erstaunlicher ist daher sein Ergebnis, daß die Zunftorganisation, dieses anschauliche Beispiel der Wirklichkeit der genannten sozialen Normen, als politische Organisationsform auf mittlerer Ebene nie Eingang fand in die zeitgenössische Politiktheorie, die eben diese Normen thematisierte (eine gewisse Ausnahmestellung räumt er dem .Defensor Pads' des Marsilius von Padua ein, ebd. 86f)· Das änderte sich, so Black, erst am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als Bodin und Althusius die angeführten Werte zu integrativen Klammern innerhalb politischer Stände, bzw. intermediärer Konsoziationen machten (ebd. 129 - 142). 89 Thomas entwickelt diese radikale Uminterpretation des Naturzustandes unter Rückgriff auf Aristotelische Kategorien in seiner ,Summa theologica', Bd. 7, 119131, (I. 96.4). Vgl. R.A. Markus, Political Authority, bes. 93 ff; D. Sternberger, Ursprung der Herrschaft; W. Stürner, Peccatum, 186-192.
5. Rationalität und Manipulation
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sein Lehrer Albertus Magnus die Ordnung jenes zweiten bereits als „Herrschaft" gedeutet. Jeder Bürger nimmt dort den ihm zukommenden Rang ein, hat die ihm anvertraute Funktion zu erfüllen. Es gibt Herrscher und Beherrschte, besser vielleicht: Leiter und Geleitete, und, genau wie in den Städten der Zeit, verschiedene Grade politischer Partizipation. Einheit besteht in jedem Fall in der Verschiedenheit (diversitas) der Glieder. Wer darüber hinaus, wie das Giordano da Pisa ansatzweise versucht hat, die Einheit der Ordnung im Bild der Zunftorganisation denkt, stößt an die Grenzen mittelalterlicher Ordo-Tradition. Er weist dem egalitären Element einen unangemessenen Rang zu; die Zurücknahme des Beispiels durch den Prediger selbst folgt der Logik des vorgegebenen Rahmens. „Die Christengemeinde war", so formulierte Max Weber, „ein konfessioneller Verband der gläubigen Einzelnen". Wie der Mensch als einzelner aufgrund einer Glaubensentscheidung Mitglied der frühchristlichen Gemeinschaft wurde, trat der Bürger „als Einzelner in die Bürgerschaft ein. Als Einzelner schwur er den Bürgereid" 90 . Eintritt in das Bürgerrecht bezeichnet auch in der „Theologie der Stadt" die Nahtstelle zwischen Individuum und Gemeinschaft. Nur hier sehen wir den zukünftigen Bürger als einzelnen, frei von allen Einbindungen in genossenschaftliche und herrschaftliche Verbandsstrukturen der Himmelsstadt. In den Ausführungen Wilhelms von Auvergne zu diesem Thema entfaltet sich die ganze Dialektik von Individuum und Gemeinschaft, von persönlicher Entscheidung und freiwilliger Einordnung in ein Ganzes. Nicht so differenziert und ausführlich, aber ebenso entschieden begreifen Albertus Magnus und Giordano da Pisa den Eintritt in die Bürgergemeinde als persönlichen Akt freien Willens, als rationale, abwägende Entscheidung für eine bestimmte Lebensform. Die Gemeinschaft der frühen Christen, die Bürgergemeinde des Mittelalters und die Bürgerschaft der Himmelsstadt fordern von jedem einzelnen, der Aufnahme begehrt, das freie Bekenntnis zu den gemeinsamen Grundlagen, Werten und Zielen. Der das Bürgerrecht der Himmelsstadt erstrebende Mensch handelt außerdem im Bewußtsein, daß es dabei um nichts weniger geht als um die Mitgliedschaft in der höchsten und vollkommensten aller möglichen Gemeinschaften. Der cittadino celeste ist, in den Begriffen Giordanos gefaßt, als Mensch und als einzelner zu seinem Ziel und in sein Wesen gelangt. Der Bürger der „Stadt der Freude" ist animale congregale e sociale aufgrund persönlicher, freier Willensentscheidung. Die Prediger des Spätmittelalters haben ihren Zuhörern das Himmlische 90
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 747. Der Eintritt in die Gemeinschaft war für Weber zugleich die Abstreifung aller Sippenbindungen, vgl. K. Schreiner, Stadt in Webers Analyse, 134f.
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II. Theologie der Stadt
Jerusalem nähergebracht. Sie haben verstanden, diese transzendente Zielvorstellung irdischen Daseins mit anschaulichem Inhalt zu füllen und auszustatten mit einer der irdischen civitas perfecta-ldee vergleichbaren Ordnung. „Ihre" Stadt, so mußten die Zuhörer empfinden, und die des Himmels glichen sich in vielen charakteristischen Zügen. Damit waren diesseitige und jenseitige Lebensformen vielfältig aufeinander beziehbar, Verhaltensmuster dieser wie jener Welt im gleichen Kontext rational diskutierund begründbar geworden. Die Parallelität von Himmlischem und Irdischem konnte zur normativen Stärkung der Kommune beitragen, Legitimation stiften und das Alltagsverhalten von Bürgern, mindestens zeitweise, beeinflussen 91 . In diesem Sinne handelt es sich eindeutig um eine Rationalisierung des theologischen Diskurses über die „letzten Dinge". Diese unbestreitbare Leistung ist aber nicht die ganze Wahrheit. Die Himmelsstadt war, wie die irdische, eine Stadt der Bürger, und das hieß auch : der Männer. Frauen hat man lediglich „mit-gedacht", weder als Geschlecht noch als beispielgebende Referenzgruppe tauchten sie in den Texten der Prediger auf. Dabei wurden die dritte und fünfte Predigt Alberts des Großen vor Augsburger Dominikanerinnen gehalten. Giordano kannte zwar die heilige Reparata, würdigte sie auch als „Herrin" seiner Stadt ; er sprach davon, daß Abraham ein Weib hatte und (man muß wohl ergänzen : trotzdem) einer der größten Heiligen in jenem „seligen Leben" geworden ist; Maria wurde vereinzelt erwähnt. Über das Leben der Frauen in der „Stadt der Freude" aber war nichts Konkretes zu erfahren. Die Einbeziehung der Aristotelischen Philosophie in den Diskurs über Gestalt und Lebensordnung der civitas coelestis hat diesen Grundzug mittelalterlichen politischen Denkens sicher noch gestützt und verstärkt. In der europäischen Vormoderne war die Idee vom Menschen als animal civile auch in der Variante „Himmelsbürger" nur schwer auf Frauen anwendbar. Die „Theologie der Stadt" barg allerdings nicht nur zeit- und gesellschaftsbedingte Defizite. In ihrer Propagierung lagen auch konkrete Gefahren. Je ähnlicher die civitas coelestis ihrem diesseitigen Gegenbild wurde, je näher sie an die Erde heranrückte, desto größer waren Anlaß und Versuchung, schon die irdische Stadt zum Versuchsfeld nachge91
Mit der Verwobenheit von Himmlischem und Irdischem waren die Bürger im übrigen bestens vertraut: Verstand sich doch jede Bürgergemeinde zugleich als Sakralgemeinschaft (vgl. H. Schmidt, Städtechroniken, 87-97) und zählten einige Städte doch Gott selbst unter ihre Bürger. So überliefert der Berner Chonist Justinger das Sprichwort: got ist ze bern burger worden, wer mag wider got kriegen? (zit. ebd. 87). Und das Bürgerbuch der Stadt Lahr von 1356 beginnt die Aufzählung der Namen der einzelnen Bürger mit ihrem vornehmsten Einwohner: Unser herre Got ist burger an der stat zuo Lare (C. Bühler, Stadtgründung, 112f)· Klaus Graf machte mich freundlicherweise auf diese Stelle aufmerksam.
5. Rationalität und Manipulation
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schichtlicher, totaler und vermeintlich himmlischer Ordnung zu machen. Besonders in Krisenzeiten gelang es Predigermönchen, Franziskanerspiritualen, selbsternannten Propheten oder Verkündern neuer Ideale immer wieder, mit dem Vokabular einer solchen Theologie einzelne soziale Gruppen oder große Teile einer Stadtbevölkerung davon zu überzeugen, daß hier und jetzt die Zeit für eine neue Ordnung der Dinge gekommen sei. Die ganze Skala häretischer und religiöser Bewegungen tut sich hier auf. Vom Bekenntnis einzelner Persönlichkeiten, die ihre Weisheit ohne sichtbare Folgen dem Papier anvertrauten, bis zur gelungen Etablierung eines „Gottesreiches" spannt sich der Bogen der Möglichkeiten. In Florenz gab es Prediger, die vom Heranrücken einer Zeit redeten, in der die „Würmer der Erde auf grausame Weise die Löwen, Leoparden und Wölfe fressen", in der „die Popolanen und das geringe Volk Tyrannen, Fürsten und mächtige Herren töten werden". Man las Propheten, die davon sprachen, daß in dieser Stadt schon bald das Friedensreich einkehre, wenn „einer ihrer kleinen Bürger zum Herrscher gemacht wird"; einer, der die Stadt „von allem Bösen reinigt, in ihr alle Bürger zur Ruhe kommen läßt, ihren Kontado vergrößert und ihren Namen berühmt macht". Hier sah man schließlich auch die geglückte Institutionalisierung prophetischer Macht auf dem irdischen Plan unter einem charismatischen Führer, dem Dominikaner Savonarola. Der erklärte Florenz zum „Himmlischen Jerusalem" und entwarf zugleich eine Herrschaftsordnung nach dem Bilde der aristotelischen Mischverfassung in der Tradition spätmittelalterlicher politischer Philosophie. Politische Theorie, Theologie der Stadt und eigenständige kommunale Traditionen vereinte dieser Prediger zur Vision einer totalen, eschatologisch-republikanischen Lebensordnung 92 . n
Das erste Zit. aus einem anonymen Tagebuch berichtet um 1390 von der Prophétie eines Minderbruders aus dem Jahre 1368, der für das Jahr 1378 (Ciompi-Aufstand) das zit. „vorhersagte". Im Zusammenhang: E nel detto anno,... saranno grandi novitadi e paure e orrori, intanto ch'e vermini della terra crudelissimamente divoreranno leoni e leopardi e lupi, e le merle e gli altri uccielli piccioli odieranno gli ghiotti uccielli rapaci. Ancora gli popolani e giente minuta...uccideranno tutti tiranni e falsi traditori, e disporranuogli del loro istato e grandezza, co' molti principi e potenti Signori (Diario d'anonimo fiorentino, 389). Das zweite Zit. entstammt einem Briefe, der vorgeblich von „Meistern" aus Toledo und England verfaßt, in Paris im Jahre 1365 kopiert und an einen Kardinal Anibaldo degli Orsini geschickt worden ist. Darin wird für 1380 eine grande novità prophezeit, in deren Gefolge Kriege, Wirren und Aufruhr einsetzen. Diese Schrecknisse, die auch Florenz heimsuchen, werden beendet, ...quando vno suo picciolo cittadino sara fatto dessa gouernatore el quale auegna che con faticha signoreggerà grande tempo con contentamento de nobili. Costui la purgherà dogni male e in essa tutti i suoi cittadini fara riposare el suo contado alargando e magnificando il suo nome (Lettere da maestri, fol. 1 ν). Der „kleine Bürger", heißt es ebd. weiter, werde drei Städte unter die Herrschaft von Florenz bringen, parti e diuisioni auslöschen und bei seinem Tode die Stadt zurücklassen in liberta
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LI. Theologie der Stadt
Bekanntes Beispiel nördlich der Alpen ist das Täuferreich zu Münster. Endzeitgläubige Verfechter der Erwachsenentaufe wollten ihre Idee von Reformation und Erneuerung dort verwirklichen und ein Gemeinwesen nach alttestamentarischen Mustern schaffen : als religiösen Bund mit Prophetenamt und Ältestenrat, eine nova Israhelis respublica und zugleich „neues Jerusalem". Auf die genauere Bestimmung inhaltlicher und formaler Ähnlichkeiten, auf die Herausarbeitung der gesellschafts- und ideengeschichtlich erheblichen Unterschiede beider „Gottesstaaten" kommt es nicht an. Angedeutet werden sollte nur die mögliche Spannweite einer „Theologie der Stadt". Das Florenz des Savonarola und das Täuferreich zu Münster sind in diesem konkreten Sinne beredte Zeugnisse für die Ambivalenz jeder Rationalisierung: Sie kann Abläufe und Verhalten durchund einsichtiger, aber auch manipulierbarer machen. Bilder und Konzepte, die in der Absicht entwickelt wurden, das Leben in der irdischen Stadt auf vernünftig nachvollziehbare Weise am Modell der Himmelsstadt zu disziplinieren, konnten umschlagen und zu Instrumenten einer unkalkulierbaren Retheologisierung der kommunalen Gesellschaft werden 93 . Der „Himmel auf Erden" erwies sich, untheologisch gesprochen, in allen Fällen als Hölle. Der Auszug der Bürgerschaften aus der Geschichte machte sie umsomehr zu deren Spielball. Die angeführten Beispiele aber schmälern weder die theologie-, ideenund sozialgeschichtliche Bedeutung der vorgestellten Konzeption noch die Rationalisierungsleistung ihrer Schöpfer. Das mittelalterliche Stadtbürgertum, das, wie Weber in seiner bekannten historischen Intuition einmal schrieb, in der Abendmahlsgemeinschaft von Antiochien seine „Konzeptionsstunde" hatte 94 , erfuhr in der „Theologie der Stadt" seine Verklärung. Zum ersten Mal in der Geschichte war damit die „bürgerliche" Lebensform potentiell Norm und Ideal für alle Menschen geworden, sprengte ihre ideologische Bedeutung den engen realgeschichtlichen Rahmen, der dieser Sozial- und Verfassungsform in der alteuropäischen GeFortsetzung Fußnote von Seite 59 und im regimentó comune e pacifico (Leitbegriffe auch der offiziellen Sprache Florentiner Urkunden). Dazu vgl. D. Weinstein, Savonarola, 50f ; dieser zit. die Belege ebenfalls, bringt sie aber nur in einer englisch paraphrasierten Version. Hauptthema von Weinsteins faszinierendem Buch ist Savonarolas „Himmlisches Jerusalem": Florenz in den 1490iger Jahren und die politische Theologie dieser Zeit. 93 Zum stadtgeschichtlichen Hintergrund des Täuferreiches vgl. H. Schilling, Aufstandsbewegungen; die Verfassungsentwürfe schildert E. Wolgast, Herrschaftsorganisation (ebd. 183 : Israhelis respublica). - Beispiele einer Instrumentalisierung der Idee des „neuen Jerusalem" für weltliche Ziele stadtrömischer Machtpolitik sind die Briefe Cola di Rienzos, vgl. M.-B. Juhar, Romgedanke bei Cola, 16ff, 119ff, passim. 94 M. Weber, Religionssoziologie II, 40.
5. Rationalität und Manipulation
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sellschaft zukam. Daß ihr Reich nicht von dieser Welt war, unterschied die normgebende Kraft des mittelalterlichen Stadtbürgertums von den Idealen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Transzendenz eines Telos aber war im vormodernen Europa selten ein Nachteil, wenn es darum ging, das Handeln von Einzelnen und Gruppen zu motivieren. Auch als man mehr als zwei Jahrhunderte nach Giordano da Pisa Irdisches und Himmlisches theologisch strenger voneinander schied, behielt die Bürgerstadt mindestens gleichnishaft ihre vorbildgebende Funktion. Noch Martin Luther greift 1528 in seiner Schrift ,Vom abendmal Christi', Grundwerk lutherischen Eucharistieverständnisses, auf die überlieferte Metaphorik zurück. Wir leben auff erden/ aber wir leben nicht yrdissch, beginnt er seine Auslegung des Sinnes menschlicher Existenz, um dann diese Struktur im Gleichnis zu verdichten und zu erklären: Denn wie ein wanderer, der nur kurze Zeit in der Stadt weilt, von sich sagt: Ich bin zu Wittemberg/ und bin nicht zu Wittemberg/...denn ich habe hie kein burger recht/ nere und gelebe auch der Wittemberger recht und guter nicht, wandelt der Mensch auf Erden. Der Reformator schließt und bringt das Bild auf eine theologisch verallgemeinerbare Formel: Also schreibt auch S. Paulus Colo 3 das unser Politeuma das ist/ unser burgerschafft odder bürgerlich wesen ist nicht hie sondern ym hymel95.
95
Martin Luther, Vom abendmal Christi, 424f.
III.
„Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
Als Johannes von Viterbo in seinem um 1250 verfaßten , Liber de regimine civitaturri die Ursache für das Zusammenleben so vieler Menschen in einer civitas erläutern will, weist er seine Leser vorsichtshalber genauer auf den Gegenstand seiner Untersuchung hin: „Ich spreche nicht von der heiligen Himmelsstadt Jerusalem..., deren Auslegung überlasse ich Theologen und Heiligen..., sondern ich rede über die Städte dieser Welt" 1 . Nachdem im letzten Abschnitt mittelalterliche Prediger und Theologen Auskunft über die Beschaffenheit des Himmlischen Jerusalem und die dort lebenden Himmelsbürger gegeben haben, wenden wir uns in diesem Kapitel ganz im Sinne des Johannes von Viterbo den „Städten dieser Welt" und ihren irdischen Bürgern zu und fragen, wie diese sozialen Formationen in der politischen Philosophie des Spätmittelalters gesehen und auf den Begriff gebracht worden sind. Es geht im folgenden um die Rekonstruktion einer scholastischen „Theorie" des Bürgers und der Stadt im Mittelalter in typologischer Absicht. Diese „Theorie" ist bewußtes Produkt der Interpretation und im historischen Material so nicht vollständig auffindbar. Sie ist dennoch nicht unhistorisch. Es wird vielmehr versucht, in den vielfältigen Konzeptualisierungen der Scholastiker eine gemeinsame Struktur aufzudecken und zu benennen. Theoretische Abhängigkeiten, individuelle Ansichten der Autoren interessieren dabei nur am Rande und insoweit sie Aufschluß über den gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund und die mittelalterspezifische Sicht der Dinge geben. Die Konzeptualisierung sollte weiter von genügend hoher Abstraktion sein, um die gesamte mittelalterliche Diskussion im Prinzip zu übergreifen und so einen operationalisierbaren Rahmen abgeben für das, was in der scholastischen politischen Philosophie unter den Begriffen civis, civitas, animal civile, vivere civile verstanden worden ist. Als Quellengrundlage boten sich die seit den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts vorliegenden Kommentare zur Aristotelischen .Politik' an 2 . In ihnen haben mittelalterliche Gelehrte sich zum ersten Mal systema1
Das Zitat lautet im Zusammenhang: Non dico de civitate sancta Ierusalem celesti, que dicitur civitas magna, civitas dei nostri, cuius interpretationem relinquo theologicis et divinis, quoniam non est meum ponere os in celum: sed dico de civitatibus huius seculi... (Johannes von Viterbo, De regimine civitatum, 2180- W- Nippel habe ich für fachlichen Rat, weiterführende Hinweise, bes. aber für die Zeit zu danken, die er sich zur Besprechung einzelner Thesen dieses Kapitels nahm. 2 Bibliographien der mittelalterlichen Kommentare zur .Politik': C.H. Lohr, Latin Commentaries, und, erweitert um neue Funde, C. Flüeler, Mittelalterliche Kommentare. - Einige grundlegende Werke zur Rezeption der Aristotelischen .Politik':
64 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie tisch mit einem Hauptwerk antiker politischer Theorie auseinandersetzen müssen. Diese Anstrengung des Begriffs ist zur Grundlage des vormodernen politischen Aristotelismus geworden, hier wurde die „Sprache" entwickelt, in der Universitätsgelehrte, Theologen und Philosophen sich verständigten, wenn sie über „politische Herrschaft" und den Menschen als „staatenbildendes Lebewesen", über „Stadt" und „Staat", „Bürger und politische Partizipation" reden und streiten wollten. Die genannten Themen stehen, etwa in der erwähnten Reihenfolge, denn auch im Zentrum unserer Untersuchung; am Ende wird das Ergebnis mit den entsprechenden Wortgebräuchen in ausgesuchten Hauptwerken mittelalterlicher politischer Philosophie verglichen. Der moderne Betrachter des epochalen Vorganges der Rezeption der Aristotelischen , Politik' muß sicher den antiken Hintergrund des Textes immer wieder reflektieren, um Abstände und Brechungen begreifbar zu machen. Absicht dabei aber kann nicht sein, Kommentatoren vergangener Zeiten vorzuhalten, sie hätten, eingebunden in ihren Wertekosmos, Aristoteles nicht richtig verstanden oder vordergründig interessegeleitet gedeuFortsetzung Fußnote von Seite 63 C. Martin, Commentaries on the Politics; ders., Some Commentaries; M. Grabmann, Kommentare zur .Politik'; J. Dunbabin, Reception of Aristotle's Politics; P. Czartoryski, Recepcja; L.J. Daly, Renaissance Commentaries; den letzten Forschungsstand, neue Ergebnisse und weiterführende Befunde jetzt bei C. Flüeler, Rezeption, und ders., Artistenfakultät: hier (Rezeption 29-36, Artistenfakultät 134ff) finden sich ein guter Überblick über verschiedene Arten von Kommentaren (bes. Literal- und Quaestionenkommentar) sowie Hinweise über ihren Einsatz in Lehre und Disputation an Universitäten und Ordensstudien, über Verbreitung, Traditionsbildung und Publikum; (die Dissertation von F.E. Cranz, Aristotelianism, war mir leider nicht zugänglich). - Einen knappen Überblick zur Politikrezeption geben beispielsweise A. Black, Guilds and Civil Society, 76-85; J. Miethke, Politische Theorien, 8Iff; Q. Skinner, Political Philosophie, bes. 395-402; D. Wyduckel, Princeps Legibus Solutus, 105-119. - Gute Gesamtdarstellungen des ideengeschichtlichen Hintergrundes der Rezeption sind immer noch die Werke des O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 502-644 („Die publicistischen Lehren des Mittelalters"), und von W. Ullmann, Middle Ages, 159-73; ders., Principles of Government, 215305; ders., Individuum und Gesellschaft, 74-107; ders., Renaissance Humanism, 89-117 (grundsätzliche Kritik an Methode und Werk Ullmanns hat F. Oakley, Vision of Politics, geübt. Bedenkenswert ist dabei insbesondere die Relativierung der epochalen Bedeutung, die Ullmann der Politikrezeption zumißt (ebd. 32fif). Er knüpft hier an Überlegungen von G. Post, Studies, 3 u. passim, an. C.J. Nederman (s.u. Anm. 4) argumentiert in ähnlicher Weise). - Brauchbare Zusammenstellungen der neueren Literatur zur mittelalterlichen politischen Theorie findet man u.a. in : S.M. Babbitt, Oresme; J.M. Blythe, Mixed Constitution; dann auch in Cambridge History of Medieval Political Thought; Cambridge History of Later Medieval Philosophy; Cambridge History of Renaissance Philosophy. - Zur Wirkungsgeschichte der Aristotelischen .Politik' in der frühen Neuzeit vgl. H. Dreitzel, Arnisaeus, A. Löther, Verfassungsbegriff, u. M. Stolleis, Reichspublizistik, 80-90, 104-125.
1. Animal civile: Mensch oder Bürger?
65
tet. Dieser häufig begegnende Topos ist ebenso schlicht wie methodisch schwer beweisbar. Ziel unserer Untersuchung ist demgegenüber, die Semantik und Syntax der Sprache des politischen Aristotelismus für die uns interessierenden Begriffe in der Zeit von der Mitte des 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zu beschreiben und die Befunde typologisch zu verdichten. Ein im Vergleich zu Aristoteles ungewöhnlicher Wortgebrauch, eine von der Textvorlage abweichende Gewichtung von Sachverhalten können, wenn sie nur oft genug und an systematisch entscheidender Stelle auftreten, im Zusammenhang einer solchen Fragestellung dann zu Indikatoren für ein neues „Sprachspiel" werden oder, unverfänglicher ausgedrückt, zu Hinweisen auf eine andere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Schlußfolgerungen solcher Art lassen sich methodisch vertretbar am ehesten in der intensiven Beschäftigung mit einem einzigen Genre gewinnen. Textgattungen haben ihre eigene Logik und Tradition. Heuristischer Ausgangspunkt und zugleich These der folgenden Darstellung ist die begründete Vermutung, daß in den Kommentaren zur Aristotelischen ,Politik' die scholastische „Theorie" des Bürgers in nuce enthalten ist, daß hier allgemeine Grundmuster mittelalterlichen Denkens über „Stadt" und „politische Partizipation" aufweisbar sind. Wenn man diese These plausibel belegen kann, ist die Frage nach dem Einfluß der Politikkommentare auf das politische Denken der Zeit immer noch von großem Interesse; im Kontext der Rekonstruktion einer Sprache hat sie allerdings einen nachgeordneten Rang.
1.
Animal civile: Mensch oder Bürger? Die Rezeption der Aristotelischen ,Politik' und die mittelalterliche Stadt
Die Verfasser der mittelalterlichen Kommentare zur Aristotelischen .Politik' waren sich in einem Punkte einig: Das Königtum ist die beste der drei guten Verfassungsformen 3 . Die Projektion mittelalterlicher Königstheorie in den antiken Text und die irritierende Zurückführung des Beweises auf die Autorität des Aristoteles verwundern nur auf den ersten Blick. Näher betrachtet handelt es sich auch hier um einen der zahlreichen Belege für die erkenntnisleitende Funktion und sinnstiftende Kraft gesellschaftlicher Normen und Werte. So haben moderne Historiker auf der einen Seite denn auch die revolutionierende Wirkung der Rezeption der Aristotelischen .Politik' im 13. Jahrhundert auf das moralisch-politische Denken des Mittelalters betont; auf der anderen Seite jedoch wurden gerade in letzter Zeit die Komplexität dieses Rezeptionsvorganges sowie die vielfäl3
Vgl. C. Martin, Some Commentaries, 37f; L.J. Daly, Renaissance Commentaries, 43 u. passim.
66 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie tigen Brechungen und Bedeutungsverschiebungen, die sich in der Übertragung antiker Konzeptionen von Staat und Gesellschaft auf mittelalterliche Verhältnisse ergaben, immer deutlicher 4 . Modernität und Traditionsgebundenheit sind kaum noch einlinig markierbar. Ein Ergebnis der in Bewegung geratenen Urteilsbildung ist für uns von besonderem Interesse: Autoren des Spätmittelalters, so die einhellige Meinung, haben das in der .Politik' bereitgestellte Potential selten genutzt, um die Stadtgesellschaft ihrer Zeit, jenes dynamische und zukunftweisende Ferment des Feudalismus europäischen Typs, genauer zu analysieren 5 . Aber: War die Stadt auch kein bevorzugtes Analyseobjekt der gelehrten Zeitgenossen, so war sie doch der Boden, auf dem die Rezeption und Aneignung der ,Politik' des Stagiriten stattfand, war sie die Bedingung der Möglichkeit produktiver Auseinandersetzung mit diesem Werk. Weder die islamische Welt noch Byzanz konnten das leisten 6 . Diese nur scheinbar 4
Neben den o. in Anm. 2 angeführten Werken vgl. dazu bes.: D. Sternberger, Drei Wurzeln, 4 0 - 5 7 ; J. Schmidt, Raven With a Halo (zur Adaption der Begriffe polis, koinonia, koinonia politike im Aristotelismus des Spätmittellaters); G. Fioravanti, Alberto e la Politica, behandelt zahlreiche Irrtümer und Fehlinterpretationen der ersten Kommentatoren; im Zentrum steht der Politikkommentar des Albertus Magnus. - C.J. Nederman, Aristotle as Authority, hat darauf verwiesen, daß die aristotelischen Theoreme, mit deren Hilfe man im Mittelalter politisch dachte und argumentierte, häufig nicht den politisch-moralischen Schriften des Stagiriten entlehnt waren, sondern aus dessen Metaphysik und Naturphilosophie stammten. So wurde das der Physik entnommene cessante causa, cessât effectus beispielsweise in den Diskussionen um die Rechtmäßigkeit einer regelmäßigen Steuer immer wieder als Argument des „Philosophen" ins Feld geführt (zum ciceronischen Hintergrund vieler politischer Begriffe, die man mit dem Namen des Aristoteles verband, vgl. ders., Origins of Society). Auch C. Fliieler, Rezeption, 9-15, hat nachdrücklich den Einfluß der Metaphysik auf Inhalte und Methoden der politischen Philosophie des 13. Jahrhunderts betont und die zentrale Rolle der Lehre des Avicenna in diesem Zusammenhang deutlich gemacht. 5 „...in the Middle Ages", so das Fazit von A. Black in seiner Analyse der Politikrezeption durch die Scholastik, „there was no philosophy of the city as such" (ders., Guilds and Civil Society, 76; vgl. auch ebd. 82). Vgl. auch O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 638f. 6 Die ,Politik' ist das letzte große Werk des Aristoteles, das ins Lateinische übertragen worden ist, und das einzige, welches nicht durch die Araber vermittelt wurde. Es gab, soweit man weiß, keine arabische Überliefung des Textes. Die Staatstheorie des Piaton scheint den Bedürfnissen arabischer Gelehrter mehr entgegengekommen zu sein. In Byzanz gab es seit dem 11. Jahrhundert vereinzelte Auseinandersetzungen mit dem Werk, aber keine eigenständige Tradition der Exegese. Vgl. die TeilÜbersetzung des 1070-1080 verfaßten byzantinischen Kommentars des Michael von Ephesos durch E. Barker, Political Thought in Byzantium, 136-141. Zur Vorgeschichte der lateinischen Übersetzung der .Politik' vgl. C. Flüeler, Rezeption, 2-8; die translatio imperfecta (1252a-1273a 30: das erste und einen Teil des zweiten Buches) wurde in den Jahren 1255 bis 1261, die translatio completa vor 1267/8 verfaßt (ebd. 23, 27; ders. Artistenfakultät, 128f).
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dem zuvor referierten Befund widersprechende Aussage zielt auf drei Sachverhalte. Einmal, und das ist kein trivialer Tatbestand, lebten die Kommentatoren in Städten. Die meisten waren Angehörige der stadtsässigen Bettelorden oder an Universitäten lehrende Magister und Theologen 7 . Die Stadt war im Spätmittelalter darüber hinaus die einzige Gesellschaftsformation von hinreichender Komplexität, die für viele Themen der ,Politik' das Anschauungsmaterial liefern konnte. Einem Europäer des 9. Jahrhunderts hätte das infragestehende Werk wenig zu sagen gehabt. Schließlich, und auch dieser Gesichtspunkt wird oft ignoriert, ist die Stadt das ganze Mittelalter hindurch diejenige Gestalt der Wirklichkeit, die Zeitgenossen unwillkürlich in den Sinn kam, wenn sie die Wörter civis, civitas und libertas lasen, hörten oder benutzten. Ist die spannungsreiche Übertragung der aristotelischen politischen Philosophie auf regnum und ecclesia unbestreitbar die vorausweisende und produktive Leistung des mittelalterlichen Aristotelismus gewesen 8 , so blieb doch seinen Grundbegriffen immer eine gewisse Ambivalenz eigen, ein Schwanken in ihrem Bezug auf Stadt oder Staat. Begriffsverbindungen wie das häufig begegnende civitas vel regnum, civitas et regnum sind ein klarer Beleg für diese Ambivalenz, die erst der moderne Staatsbegriff langsam aufzulösen imstande war9. 7
Die o. in Anm. 2 genannten Bibliographien von C.H. Lohr und C. Flüeler lassen sich nicht ganz auf einen Nenner bringen. Flüeler fügt viel Neues hinzu, ergänzt und schreibt anders zu. Versucht man dennoch, beide Arbeiten ineinanderzublenden, so zählt man 47 Autoren, die sich in Kommentaren, Quaestionen und einschlägigen Kompendien der praktischen Philosophie mit der .Politik' des Aristoteles auseinandergesetzt haben. Es finden sich 21 in der Stadt lebende und lehrende Magister und Theologen, dann 19 Angehörige der stadtsässigen Bettelorden (OP: 9; OESA: 6; OFM: 2; OCarm: 2). Der Rest verteilt sich auf 2 Autoren aus dem Benediktiner- und 1 aus dem Zisterzienserorden. 4 Personen konnten nicht auf Anhieb eingeordnet werden. Ergebnis: 40 von 47 Kommentatoren sind eindeutig der städtischen Lebenswelt zuzurechnen. 8 Vgl. T. Renna, Aristotle and French Monarchy; Β. Tierney, Ideal Constitution, bes. 1 u. 8; O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 58If (Kirche als „Politie") u. 638f (civitas-regnum). 9 Kommentatoren der , Politik' wiesen bisweilen gleich zu Beginn ihrer Ausführungen auf dies Problem hin. So erläutert Walter Burley in seinem weit verbreiteten Kommentar die Textstelle, derzufolge die ciuitas erst jene communitas sei, die das berte viueregewährleiste, mit der Präzisierung des Wortgebrauchs: Aristoteles meine per ciuitatem indifferenter ciuitatem et regnum (ders., Lectura Politicorum, fol. Iva; zit., mit weiterem Beleg und Reflexionen über die Wirkung des Burleyschen Politikkommentars, auch bei V. Herold, Commentarium, 66f)· - Zahlreiche Belege für den mittelalterlichen Wortgebrauch von civitas im Sinne von „Staatswesen" einerseits und im Sinne einer Einordnung in eine Hierarchie von Gemeinwesen (civitas, provincia, regnum, imperium) andererseits geben S.M. Babbitt, Oresme, 45ff, Anm. 7379, u. C.N.S. Woolf, Bartolus, 274ff. - Zur Leistung des Staatsbegriffs vgl. W. Mager, Entstehung des Staatsbegriffs, bes. 96: „Staat als umfassender Begriff der politischen Einheit ist erwachsen aus zwei verschiedenen Wurzeln, aus status der Ver-
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Jeder, der im Mittelalter scientia politica betrieb, der politisch-ethische Texte oder Probleme mit Hilfe antiker Begriffe kommentierte, hatte so ständig anzudenken und sich abzugrenzen gegen Konnotationen, die die verwendeten Begriffe in anderen Diskursen der Zeit mit sich führten. Dennoch: An entscheidenden Stellen des Argumentationsganges, dann, wenn man seinen Lesern etwas besonders deutlich machen und anschaulich erklären wollte, schien zwischen den Zeilen die unmittelbare gesellschaftliche Wirklichkeit des Autors auf, der Erfahrungsraum, aus dem heraus er dachte und schrieb: die Stadt. Die ersten Kommentatoren der Aristotelischen .Politik' mußten in der Erschließung zunächst unvertrauter Text- und Sachprobleme erhebliche Schwierigkeiten überwinden. Dolf Sternberger hat eindringlich die Interpretationshindernisse dargestellt, die sich allein aus der Übersetzung vom Griechischen ins Lateinische, die immer zugleich auch eine Übertragung von Begriffen und Modellen einer vergangenen Kultur in eine andersgeartete Gegenwart gewesen ist, ergaben 10 . Im Griechischen schon durch die Etymologie vermittelte Sinnzusammenhänge und gesellschaftliche Erfahrungen gingen im Medium der Sprache des Übersetzers und vor dem Hintergrund einer anderen Wirklichkeit oft verloren. Als Aristoteles zu Beginn des ersten Buches der .Politik' „das Politische" kennzeichnen will und in diesem Kontext die Aufgaben von König und Staatsmann unterscheidet, charakterisiert er die Herrschaftsausübung des letzteren folgendermaßen: Der Staatsmann leite „nach den Regeln der entsprechenden Wissenschaft" das Gemeinwesen so, „daß er abwechselnd regiere und regiert werde" (kata meros archon kai archomenos\ 1252a 15f). Den letzten Teil des Satzes übersetzt der Dominikaner Wilhelm von Moerbeke in seiner um 1265 entstandenen und bis ins 15. Jahrhundert hinein maßgeblichen Übertragung mit secundum partem principalis et subjectum. Anders als bei den griechischen Wörtern archon und archomenos, verschiedene Genera verbi von archein, ist bei den Partizipien der zwei unterschiedlichen lateinischen Verben principari und subici die kategoriale Kluft zwischen Herrschen und Beherrschtwerden spürbar. Nicht Amtswechsel, nicht „politisches Regiment", sondern Herrscher und Untertan, eben princeps und subjectus drängen sich der Vorstellungsbildung unmittelbar auf. Geht bei der NichtÜbersetzung von politikos - die aus dem Lehnwort politicus abgeleiteten Wörter sind in den europäischen Sprachen Fortsetzung Fußnote von Seite 67 fassungsform, Herrschaftsweise gemäß der aristotelisch-thomistischen Verfassungsklassifikation (status = forma, species politiae, reipublicae, regiminis) und andererseits aus dem status des Fürsten, Königs, Herzogs (status principis, regalis, regis, ducalis, ducis etc.)". 10 D. Sternberger, Drei Wurzeln, 40-57.
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bis heute üblich - die semantische N ä h e zu polîtes, politeuma und polis verloren, so verschwindet im eben angeführten Beispiel der in der antiken Polis jedem bekannte und allein im Gebrauch verschiedener Formen desselben Verbs bezeichnete Amtswechsel als Kennzeichen des Politischen hinter einer hierarchischen Ordnung v o n Herrscher und Beherrschten". Albertus Magnus (1193-1280), wohl der erste Kommentator der .Politik' 12 , hatte Schwierigkeiten gerade mit diesen wichtigen Unterscheidungen. U m das Politische v o m Königlichen abzuheben, unternimmt er folgenden Erklärungsversuch: Secundum partem principans et subjectum k ö n n e man am besten am Beispiel der Stadt verdeutlichen. Dort nämlich herrsche jemand „ g e m ä ß den Gesetzen, Volksbeschlüssen und Statuten des Gemeinwesens" (legibus et plebiscitis et statutis communitatis). Er herrsche aber, argumentiert Albertus weiter, zugleich secundum partem, und das heiße in diesem Zusammenhang nichts weiter als secundum particularem civitatem. D e n n der Herrscher einer Stadt sei schließlich zugleich dem K ö n i g Untertan, der ihn in sein Amt eingesetzt habe: subjectus regi, qui eum in parte suae sollicitudinis constituit. Der K ö n i g steht, so Alberts Wortgebrauch an dieser Stelle, der communitas einer gens, der untergeordnete Herrscher der civitas vor 13 . Nicht der antike politikos, der im Wechsel re11
Vgl. ebd. 50. Zur Zitierweise der Aristotelischen Werke, insbesondere der .Politik', vgl. o. Kap. I Anm. 1. 12 Das Werk entstand vermutlich um 1265, vgl. Thomas v. Aquin, Sententia Politicorum, A 8, C. Flüeler, Rezeption, 29 (ebd. 22 Anm. 79 zur Benutzung der translatif) imperfecta durch Albert). - Instruktiv zu Alberts Kommentar: C. Martin, Commentaries on the Politics, 50-86; außerdem G. Fioravanti, Alberto e la Politica. 13 Im Zusammenhang: Wenn ...aliquis ,praeest' alicui communitati sine[=sive]genti propria potestate, tunc dicunt esse .regale'. Rex enim est principatum tenens super gentem propria potestate. Quando autem aliquis principatur civitati, ,secundum rationem disciplinae', hoc est, legibus et plebiscitis et statutis communitatis .secundum partem', hoc est, secundum particularem civitatem, ,et subjectus' regi, qui eum in parte suae sollicitudinis constituit, tunc dicunt esse .Politicum ' (Albertus Magnus, Politicorum libri, 8b). - D. Sternberger, Drei Wurzeln, 47, und G. Fioravanti, Alberto e la Politica, 200f, behandeln diese Stelle unter dem Thema „Mißverständnisse", wobei sie einräumen, Albertus sei durchaus imstande gewesen, den Amtswechsel in einem regimen politicum zu verstehen. Kern der Sache ist allerdings Alberts eigentümliche Politikrezeption, die Königtum, Aristokratie und Politie als drei Aspekte einer Verfassung sieht. Der Gegenwartsbezug dieser Adaption liegt auf der Hand: vgl. o. Kap. II Anm. 43 u. 44. - S. Krüger hat in ihren Erläuterungen zur ,Ökonomik' des Konrad von Megenberg darauf aufmerksam gemacht, daß Konrads Zuordnung von aristocracia und policía zu den Städten, der monarchia zu den größeren Territorien, dem ontologischen Ansatz des Albertus entspreche, „der zum Vergleich des Einflusses der höheren Intelligenzen auf die niederen das Stadtregiment wählt" (Konrad von Megenberg, Werke: Ökonomik, 28 Anm. 112). Ebd. das Albert-Zit. aus dessen Kommentar zur Metaphysik, II. tr.2 c. 21: Aliud autem simile est in regimine civitatis, in quo omnes qui in aristocratia sunt et qui in timocratia, respiciunt ad regem. Similiter autem faciunt et qui sunt in officiis et artium communicationibus et re-
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giert und regiert wird, ist Vorbild dieser Kommentierung; vielmehr sehen wir als Beispiel politischer, im Unterschied zu königlicher Herrschaft den mittelalterlichen Stadtvogt. Stadt und regimen politicum wurden so bereits in einen konzeptuellen Zusammenhang gebracht, bevor Ptolomaeus von Lucca in Fortführung des Fürstenspiegels seines Lehrers Thomas von Aquin diesem Thema die klassische Gestalt gegeben hat. Hier allerdings, bei dem Deutschen Albertus, ist die Stadt ganz eingebettet in das Reich, dort, bei dem Italiener Ptolomaeus, tritt sie uns als autonomer Stadtstaat entgegen. Ebenfalls im ersten Buch der .Politik', in dem Aristoteles einen weiteren Begriff von menschlicher Gemeinschaft zu entwickeln sucht als in den folgenden, auf die griechische Poliswelt konzentrierten Abschnitten 14 , steht das wohl berühmteste Axiom seiner politischen Philosophie. Es besagt, daß „der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen (physei politikon zoori) ist". Erläuternd fügt der Philosoph hinzu: „Derjenige, der aufgrund seiner Natur und nicht bloß aus Zufall außerhalb des Staates lebt {ho apolis dia physin kai ou dia tycheri), ist entweder schlechter oder höher als der Mensch"(1253a 1-4). Die Übertragung dieses Grundaxioms politischer Theorie ins Lateinische und die mittelalterliche Kommentierung des damit gemeinten Sachverhalts sind nun in zweierlei Weise interessant. Semantisch aufschlußreich ist, daß Wilhelm von Moerbeke zoon politikon mit animal civile wiedergibt. Dieser eindeutige Sprachgebrauch hat sich im übrigen Schrifttum des Mittelalters nicht durchgesetzt; man bevorzugte animal sociale, animal politicum oder eine Verbindung beider. Indem der Übersetzer und die Kommentatoren an dieser wichtigen Stelle die Wortverbindung animal civile wählen, bleibt auch im Lateinischen die semantische Nähe zu civitas, civis und civilis phonetisch gewahrt. Aussagekräftiger als der sprachliche Befund ist allerdings die inhaltliche Kommentierung des Sachverhalts. Thomas von Aquin (1225-1274) 15 , Schüler und Ordensbruder des Albertus Magnus, versucht seinen Lesern die Aristotelischen Erläuterungen zum Begriff des zoon politikon mit Hilfe eines eingängigen Vergleiches näherzubringen: Sei der Mensch auch von Natur ein Gemeinschaftswesen, so könne man doch Zweifel hegen, ob Fortsetzung Fußnote von Seite 69 spìciunt ad se una ad aliam, sicut officiorum communicatio ad timocratiam et timocratia ad aristocratiam et aristocratia ad regnum sive ad regem, ita quod semper superior informat inferiorem. 14 So ein Ergebnis der Arbeit von W. Kullmann, Politisches Lebewesen, bes. 431. 15 Die Auflistung auch nur der wichtigsten Arbeiten zur politischen Philosophie des Thomas würde den Raum einer Anmerkung sprengen; vgl. die o. in Anm. 2 gen. .Zusammenstellungen der neueren Literatur' und W. Gebauer, Aufnahme der Politik. Den Zusammenhang von politischem Denken und gesellschaftlicher Erfahrung bei Thomas thematisiert J. Catto, Ideas and Experience, bes. 14.
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diese Wesensbestimmung nicht nur allgemein, sondern für jeden einzelnen Menschen und schlechthin gelten solle. Denn, so das überraschende Argument des Aquinaten, nicht alle Menschen seien schließlich Bewohner von Städten (habitatores ciuitatum)\ Der dunkle Hinweis des Aristoteles auf jene, die von Natur oder aus Zufall nicht in der Gemeinschaft leben und deshalb schlechter oder höher als der Mensch sind, erklärt sich dem mittelalterlichen Autor unter seiner Prämisse wie von selbst: „Einige sind nicht-politisch aus Zufall, weil sie aus der Stadt vertrieben sind oder weil sie aufgrund ihrer Armut die Felder bestellen und Tiere hüten müssen". Stadt und Land, der Bereich ziviler Lebensordnung und jene von Armut und bäuerlicher Arbeit gekennzeichnete Sphäre, treten im Bild auseinander. Neben dem Zufall als Ursache dafür, daß einige ein nicht-politisches Leben führen, nennt Aristoteles einen weiteren Grund: diaphysin;propter naturarti in der Übertragung Moerbekes. Den Hinweis auf die Natur als Begründung für die Ungleichheit unter den Menschen bezieht Thomas von Aquin wie selbstverständlich auf die Verfaßtheit dieser Welt nach dem Sündenfall: „Das geschieht aufgrund der Verderbtheit der menschlichen Natur" 1 6 . Aus einer marginalen Bemerkung des Stagiriten, deren Bedeutung noch in neuerer Forschung umstritten ist17, wird so ein Theorem, das „bürgerliches" Leben als Wesensbestimmung des Menschen in einen direkten Zusammenhang mit der Stadt bringt. Der Mensch als animal civile ist unter der Hand des mittelalterlichen Interpreten zum animal civitatis geworden; und civile meint „städtisch". Pointiert zusammengefaßt: Der natürliche Ort des Menschen ist die Stadt. Die Existenz bäuerlicher Arbeit und Plakkerei dagegen gründet in Schicksal und Sündenfall. Der Handlungsspielraum des gefallenen Menschen ist aber nicht nur durch die Gefahr des eben geschilderten Zurückbleibens hinter der eigenen Wesensbestimmung gekennzeichnet. Dialektischer Kontrapunkt der negativen Folgen des Sündenfalls ist der Heilige. Ganz in diesem Sinne deutet Thomas die andere von Aristoteles angeführte Möglichkeit nicht-politischen Lebens. „Höher " Im Zusammenhang: Posset autem hoc alicui uenire in dubium ex hoc quod ea que sunt secundum naturam omnibus insunt; non autem omnes homines inueniuntur esse habitatores ciuitatum. Et ideo ad hanc dubitationem excludendam consequenter dicit quod aliqui sunt non ciuiles propter fortunam, utpote quia sunt expulsi de ciuitate; uel propter paupertatem necesse habent excolere agros aut ammalia custodire...Set si aliquis homo habet quod non sit ciuilis propter naturam, necesse est quod uel sit prauus, utpote cum hoc contingit ex corruptione nature humane (Thomas v. Aquin, Sententia Politicorum, A 78b). 17 Vgl. W.L. Newman, Politics of Aristotle Bd. 2, 120f. G. Bien, Grundlegung, 70ff; Α. Kamp, Politische Philosophie, 62-68; vgl. auch die umfangreichen Erläuterungen zur Forschungskontroverse um diese Stelle bei E. Schütrumpf, in: Aristoteles, Politik. Buch I, 207-223.
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als der Mensch", damit könnten nur die Vollkommeneren gemeint sein, die ohne menschliche Gemeinschaft zu leben imstande sind, „wie es gewesen ist bei Johannes dem Täufer und dem seligen Eremiten Antonius" 18 . Viele Kommentatoren des Spätmittelalters übernehmen an dieser Stelle die Interpretation des Aquinaten, einige fast wörtlich, andere in aufschlußreichen Varianten. Johannes Versor (t nach 1482) führt als Beispiele jener Vollkommeneren die beati Antonius, Benedikt und Hieronymus, aber auch den Philosophen Diogenes an. Ein Leben außerhalb der Stadt dagegen fristen seiner Ansicht nach viele, quia nimis pauperes existentes non possunt ciuiliter viuere, sed coguntur ciuitatem exire et agros colere, vt ex labore manuum suarum viuant Ein bekanntes Bild drängt sich auf: die Vertreibung aus dem Paradies. - Jemand, der ein nicht-politisches Leben führen, der aus Armut Felder bestellen und Tiere hüten muß, wird für einen Anonymus aus dem 15. Jahrhundert schließlich schlicht zu einem Menschen, der es sich nicht leisten kann, in der Stadt zu wohnen: homo pauper non Valens inhabitare ciuitatem propter neccessariorum carentiam. Von diesen, die das Schicksal zu einem kärglichen Leben außerhalb der Stadt bestimmt hat, unterscheidet der Anonymus dann noch jene, die „von Natur aus" nicht-politisch sind: die nämlich hätten keine „merkliche Neigung, in der Gemeinschaft der Bürger oder anderer Gemeinschaften zu leben". Im Unterschied zu Aristoteles, der in diesem abstrakten Zusammenhang bewußt nicht von polites redet, spricht der mittelalterliche Autor unbedenklich von „Bürgern", von der communitas ciuium 20. Der Abstand zur Antike ist evident. " Auf est melior quam homo, in quantum scilicet habet naturam perfectiorem aliis hominibus communiter, ita quod per se sibipossit suffleere absque hominum societate: sicut fuit in Iohanne Baptista et beato Antonio heremita (Thomas v. Aquin, Sententia Politicorum, A 78b). 19 Johannes Versor, Libri Politicorum, fol. 3vb-4ra. Versor unterscheidet ausdrücklich und genauer, als das andere mittelalterliche Autoren tun, das Prädikat ciuilis von gregalis und socialis. Im Gegensatz zu gregalis und socialis könne man ciuilis nur auf den Menschen, nicht aber auf Tiere beziehen : Ciuile autem solum conuenit homini quia ciuilitas ordinatur ad aliquam virtutem (ebd. fol. 3vb). Die Autorschaft des Johannes Versor scheint noch nicht völlig gesichert zu sein, vgl. C. Flüeler, Rezeption, 369. Zu Johannes Versor vgl. M. Grabmann, Kommentare zur Politik, 6575; zu seiner vermuteten Mitgliedschaft in der Bursa Montana zu Köln ebd. 65f; zur Tätigkeit als Professor der Pariser Artistenfakultät und Abfassungszeit der Kommentarwerke ebd. 67f. Über die Karlsuniversität in Prag als eines der Verbreitungszentren der Kommentare Versors im mitteleuropäischen Raum vgl. F. Smahel, Versor und seine böhmischen Schüler, bes. 71 f. 20 Im Zusammenhang: ...dupliciter homo dicitur inciuilis. Primo secundum fortunam, et talis est homo pauper non Valens inhabitare ciuitatem propter neccessariorum carentiam. Alii sunt induites secundum naturam ut illi, qui non habent notabilem inclinacionem ad communitatem ciuium vel aliquarum communitatum (Anonymus, Liber Polliticorum, fol. 328vb).
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Eine solche Verengung der Gedankenführung des Aristoteles kann nur hinreichend verstanden werden, wenn man bedenkt, daß der Begriff des animal civile im Mittelalter eine folgenreiche Akzentverlagerung erfuhr. Aristoteles begründete mit seiner Lehre vom zoon politikon eine teleologische Wesensbestimmung, welche in ihrer praktischen Konsequenz die Vollendungsform menschlichen Seins erst in der Polis zu sehen vermochte. Mittelalterliche Autoren lockerten diesen Zusammenhang und bezogen Willensfreiheit und Sündenfall als unhintergehbare Elemente jeder Anthropologie in die Grundlagen ihres Philosophierens ein. Ergebnis war ein Bild vom Menschen, das zwar weniger präzise, dafür aber sehr flexibel war. Es erlaubte, die Elemente Sündenfall, Ordostruktur der Welt und das Heilige miteinander zu verbinden und zu Themen genuin politischen Philosophierens zu machen. Der Gewinn an Interpretationsfreiheit und der neue Akzent können gerade an den Kommentaren verdeutlicht werden. Wenn man sagt, der Mensch sei animal civile von Natur aus, dann heiße das, so die Meinung der mittelalterlichen Interpreten antiker Staatstheorie, genaugenommen: Der Mensch hat von Natur eine Neigung zu geselligem Leben. Ob diese Neigung (inclinatio) sich im Leben eines einzelnen Menschen schließlich durchsetzt, ob guter Wille und geeignete Leitung die seit dem Sündenfall labile Verfaßtheit des menschlichen Charakters zum Guten wenden können, steht dann auf einem anderen Blatt. Nicolaus de Waldemonte bringt im bisher Johannes Buridanus zugeschriebenen Politikkommentar die gar nicht mehr so neue Sicht der Dinge auf den Punkt: Der Mensch sei animal ciuile von Natur, das aber nur „im Prinzip" (initiatiue) und nicht „vollendet" (completiue). Seine Ursache hat dieser Sachverhalt nach Nicolaus in der Willensnatur des Menschen, in seiner Freiheit, Gutes zu tun und Böses zu meiden: Quia homo sit a volúntate et electione in communicatione ciuili. Zwar drängten Sprachbesitz und ein naturalis impetus ad amicitiam den Menschen, in Gemeinschaft mit anderen zu leben; die Unterscheidung von Gut und Böse, wahr und falsch, zuletzt Wollen und Gelingen sind aber jedem einzelnen persönlich abverlangt 21 . Die Tugend hält damit 21
Nicolaus de Waldemonte, Quaestiones Politicorum, fol. IVr-VIr; bes. fol. Vr/v. (C. Flüeler hat diesen bisher Buridanus zugeschriebenen Kommentar mit guten Gründen als Werk des Nicolaus de Waldemonte, Magister an der Pariser Artistenfakultät, reklamiert, vgl. Flüeler, Rezeption, 153-159 (Entstehungszeit: nach 1360, wahrscheinlich zwischen 1379 und 1387), u. ders., Artistenfakultät, 135f; schon B. Michael, Buridan, 893, hatte gewisse Zweifel an der Autorschaft Buridans). Grignaschi, Buridan, 141f, wertet die zit. begriffliche Fassung von civitas und animal civile als Beleg für einen nominalistisch-voluntaristischen Ansatz. Das würde gut zu einer Beobachtung von A. Nitschke, Naturerkenntnis, 170, passen: danach verfügte der Mensch in der politischen Theorie seit dem 13. Jahrhundert „über eine mit Mängeln versehene Natur und konnte nur hoffen, durch sein Handeln zur Voll-
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Einzug in die G r u n d b e s t i m m u n g e n v o n Mensch u n d G e m e i n w e s e n . Der „natürliche" Begriff des M e n s c h e n ist zum normativen A x i o m , die „naturgemäße" G e m e i n s c h a f t zum a u f g e g e b e n e n Ziel geworden. D a z u n o c h einmal Johannes Versor, der im K o m m e n t a r zu dieser Stelle das W e s e n der inclinatio naturalis näher erläutert: Besagte „ N e i g u n g " sei nicht in allen M e n s c h e n gleich stark, d e n n die virtutes insunt nobis a natura inchoatiue et imperfecte, a volúntate vero completiue et perfecte 22. D i e polis als natürlicher Ort des zoon politikon ist in der mittelalterlichen K o m m e n t i e r u n g zur civitas, zu der v o m U m l a n d u n d den dort ausgeübten Tätigkeiten geschiedenen Stadt geworden. D i e gefallene Natur eröffnet d e m M e n s c h e n drei W e g e : In der G e m e i n s c h a f t der civitas kann er in sein W e s e n gelangen; er kann, w e n n er das verfehlt, herabsinken zu bäuerlicher Lebensweise oder aber, in Übersteigung des normalen menschlichen M a ß e s , zum Einsiedler u n d Heiligen werden. D i e Aristotelische Lehre v o m M e n s c h e n als zoon politikon wurde so eingeschmolzen in ein christliches Weltbild, in ein M o d e l l der Wahlfreiheit zwischen sündhaften, wes e n s g e m ä ß e n u n d übermenschlichen Lebensformen. Erfuhr in diesen Erläuterungen zum Aristotelischen A x i o m die Stadt als Ort der vita civilis auch eine ungeahnte Erhöhung, so darf d o c h nicht übersehen werden, daß
Fortsetzung Fußnote von Seite 73 kommenheit zu kommen". Das ist Nitschke zufolge Indikator für eine neue Wahrnehmung von Natur und Mensch, die den Körpern eine innewohnende Kraft zuspricht und den Menschen zu einer „bewegenden Größe" macht (ebd. 237). - Die zitierte Begriffsbestimmung des Nicolaus de Waldemonte steht in einer seit dem 12. Jahrhundert verbreiteten, auf Cicero und Augustin zurückgehenden Interpretationslinie: Die von mittelalterlichen Zeitgenossen immer wieder auf Aristoteles zurückgeführte Lehre von der Naturgemäßheit staatlicher Gemeinschaft trägt, wie C.J. Nederman in seinem Aufsatz ,Origins of Society' umfangreich belegt, genau betrachtet eher ciceronische Züge. Nederman behandelt die Politikkommentare zwar nicht, sein Ergebnis, daß das Theorem von der inclinatio naturalis im Mittelalter die Aristotelischen Wesensdefinitionen von Mensch und Gesellschaft gewissermaßen unterlaufen hat, deckt sich jedoch mit unserem Befund. Die Bevorzugung des indifferenteren Terminus animal sociale im übrigen Schrifttum des Mittelalters mag ebenfalls in diese Richtung deuten (vgl. dazu O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 629; W. Gebauer, Aufnahme der Politik, 150-152). Aber: Auch der Aristotelische Begriff des zoon physei politikon zielt eher auf die Bedingung der Möglichkeit wahren Menschseins als auf eine schlichte anthropologische Bestimmung des Menschen, so jedenfalls E. Schütrumpf in seiner Kommentierung von Aristoteles, Politik. Buch I, 208f. Interessanterweise kommt Schütrumpf ebd. in Auseinandersetzung mit der neueren Forschung zu ähnlichen Ergebnissen wie Johannes Versor, der civilis dezidiert auf Tugend und damit allein auf den Menschen, socialis auf Tiere und Menschen gleichermaßen bezog, vgl. o. Anm. 19. Sieht man es so, dann rücken mittelalterliche Aristoteliker und Cicero doch wieder etwas enger mit Aristoteles zusammen. 22
Johannes Versor, Libri Politicorum, fol. 4va.
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sich daraus keine Theorie der Stadt entwickelt hat. Die Ambivalenz des civitas-Begriffs hat sich in der Kommentierung anderer Passagen der ,Politik' nie verengt auf die Bedeutung „städtisches Gemeinwesen". Dennoch können die angeführten Beispiele eigenwilliger u n d zeitgebundener Aristotelesexegese f ü r die tiefgreifende Wirkung stehen, welche die Stadtgesellschaft auf das Denken der Kommentatoren ausgeübt hat. Die Selbstverständlichkeit, in der sie das vivere civile mit der Urbanen Lebensform ihrer Zeit in Beziehung setzten, spricht für die hohe Wertschätzung, die gelehrte Zeitgenossen dieser Sozialgestalt entgegenbrachten. Die Prägung theoretischer Wahrnehmungsmuster durch die Wirklichkeit ist jedoch keine Einbahnstraße. Theorie ihrerseits wird Instrument des Handelns in der Welt, die sie zu erklären vorgibt. Das scheinbar so kurzschlüssige, nicht ganz durchdachte Inbeziehungsetzen von menschlicher Natur mit städtischer Lebensform kann zu bewußtem Appell und Aufruf zum Handeln werden. Sei erst die Stadt zerstört durch Bürgerzwiste, mahnt der Florentiner Dominikaner Remigius (1235-1319) seine Mitbürger zu Beginn des 14. Jahrhunderts, bleibe vom Bürger nur das Schattenbild seiner selbst: Ohne Stadt „fehlt ihm Tugend u n d Handlungsfähigkeit, die er einst besaß". Weder Ritter noch K a u f m a n n , weder Handwerker noch Amtsträger könnten ihren gewohnten Beschäftigungen nachgehen. Den civis florentinus müsse man, seiner Stadt beraubt, d a n n besser flerentinus nennen. Remigius schließt seine schonungslose Analyse mit den beschwörenden Worten. Et si non est civis non est homo, quia ,homo est naturaliter animal civile'21. „ M e n s c h " u n d „Bürger" waren schon von Thomas von Aquin in einen engen begrifflichen Zusammenhang gebracht worden. Sein Florentiner Schüler u n d Ordensbruder interpretierte den Zusammenhang als Identität. Mensch sein konnte man nur als Bürger.
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Im Zusammenhang: Unde destructa civitate remanet civis lapideus aut depictus, quia scilicet caret virtute et operatione quam prius habebat; puta miles in militaribus, mercator in mercatoribus, artifex in artiflcialibus artis sue, offlcialis in officialibus, pater familias in familiaribus et universaliter liber in operibus liberis, puta ire ad podere suum, facere ambasciatas, habere dominia aliarum civitatum. Ut qui erat civis florentinus per destructionem Florentie iam non sit florentinus dicendus, sed potius flerentinus. Et si non est civis non est homo, quia .homo est naturaliter animai civile', secundum philosophum... (Remigius von Florenz, De bono communi, 18; fast gleichlautendes Zitat, aber mit Hinweis auf die dissensio civium ders., D e b o n o pacis, 62). Vgl. M.C. De Matteis, Remigio, bes. CXXIV-CLVII (Lit.), und E.H. Kantorowicz, King's Two Bodies, 478ff.
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2.
III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
Zweierlei Bürger und das Wesen der Herrschaft. Erste Versuche der Anwendung der neuen Theorie auf die eigene Wirklichkeit
Erfuhr die Stadt in der politischen Philosophie der Scholastiker auch keine systematische Analyse, so war die Rezeption der Aristotelischen .Politik' doch für die Beurteilung der Stadt als eigenständiger Lebens- und Verfassungsform von nicht zu unterschätzender Wirkung. Selbst Autoren, denen es ausschließlich um eine Theorie der Monarchie ging, die in ihren Ausführungen die Stadt gewöhnlich unterhalb des regnum und der provincia ansiedelten, konnten nun nicht mehr umhin, civitas als kleinste der möglichen politischen Gemeinschaften zu denken. Allein „die Herübernahme der aristotelischen Lehre von den Staatsformen", so beurteilt Otto von Gierke diesen Sachverhalt, bedrohte „das göttliche Recht der Monarchie" 24 . Noch ein anderer Faktor verstärkte, zumindest für die Kommentatoren der .Politik', diese Tendenz und zwang mittelalterliche Gelehrte immer wieder, sich auf die Stadtgesellschaft ihrer Zeit zu besinnen: Die Ausführungen des Stagiriten zum Begriff des Bürgers waren ohne Rekurs auf städtische Verhältnisse nur schwer nachvollziehbar. Da es sich hierbei um einen zentralen Abschnitt und grundlegenden Teil des Gesamtwerks handelt, konnte man nicht kommentarlos zusammenfassen oder einfach darüber hinweggehen. Welche Auslegung haben nun die Aristotelischen Ausführungen zum Bürgerbegriff, die den ersten Teil des dritten Buches der ,Politik' ausmachen, im Mittelalter gefunden? Der „Bürger" war ja in den europäischen Städten bereits eine soziale Wirklichkeit, als um 1265 die Aristotelische .Politik' von Wilhelm von Moerbeke ins Lateinische übersetzt wurde. Es ist daher nicht verwunderlich, daß mittelalterliche Autoren in ihren Kommentaren zu diesem Werk den Begriff des Bürgers als desjenigen, der „am Gerichte und an der Regierung teilnimmt" (1275a 23), zunächst und vor allem auf die Stadtgesellschaft anwandten". In der von Königsherrschaft und Adel geprägten Welt Alteuropas legte der Text des Aristoteles selbst eine solche Interpretation nahe: „So existiert der Bürger, wie wir ihn bestimmt haben, vor allem in der Demokratie" (1275b 4f); Demokratie als Verfassungsform konnte, wenn überhaupt, nur mit der autonomen Bürgerstadt in Verbindung gebracht werden 26 . 24
O.v. Gierke, Althusius, 64 Anm. 21. Die Scholastiker, so Grignaschi, „ont toujours expliqué la définition aristotélicienne du ,polîtes' [gr.] en fonction des Communes" (M. Grignaschi, Civis, 76). Dieser Aufsatz ist grundlegend für den Bürgerbegriff der Scholastik. 26 Ein Beispiel: Die von Demagogen getragene Herrschaft des Volkes, eine der Ari25
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Aristoteles gibt aber noch eine weitere Definition des Bürgers, die nicht fordert, daß ein Bürger aktuell und tatsächlich die politischen Entscheidungen fällt, sondern lediglich verlangt, daß er in bestimmte Ämter gewählt werden kann: In diesem Sinne ist „Bürger, wer das Recht hat an der beratenden oder richtenden Behörde teilzunehmen" (1275b 19). Die potestas communicandi principatu consiliativo vel iudicativo, wie Moerbeke diese Stelle übersetzt, ist darüber hinaus vielfältig interpretierbar. In Abhebung von Regierungsämtern meint die Formulierung bisweilen Teilhabe an Ämtern überhaupt und zielt dann besonders auf niedere Positionen oder ganz allgemein auf die Beteiligung „am Beraten und Entscheiden" (1281b 30f). Es ist diese Bestimmung des Bürgers, nicht die geläufigere erste, die mittelalterliche Denker in der Regel aufgegriffen haben. Nur in dieser Fassung des Bürgerbegriffs konnten sie politische Partizipation von einzelnen und Gruppen hinreichend flexibel diskutieren und zugleich anerkennen und voraussetzen, was den Menschen dieser Zeit eine Selbstverständlichkeit gewesen ist: Daß es jene gibt, die unangefochten ein angestammtes Recht auf Herrschaft haben. Das ist noch kaum bemerkt, geschweige denn zu einem Leitfaden der Erforschung der Aristotelesrezeption im Mittelalter gemacht worden. Neben dem „Bürger schlechthin" {polîtes haplos, civis simpliciter in der lateinischen Übertragung) muß man, so Aristoteles weiter, bei einigen Personengruppen von „Bürgern mit gewisser Einschränkung" reden. Gemeint sind hier Kinder und Greise, die man üblicherweise noch nicht oder nicht mehr zu den „Bürgern schlechthin" zählt (1275a 15). Schließlich differenziert er die Gedankenführung noch, indem er argumentiert, mit „Bürger" sei nicht in allen Verfassungen dieselbe soziale Gruppe gemeint: Einige Staaten würden auch Handwerker und Tagelöhner zu Vollbürgern machen, im besten Staat seien sie selbstverständlich von der Bürgerschaft ausgeschlossen (1278a 8f)· Bei aller Komplexität der Begriffsbildung aber gilt, und das ist in diesem Kontext entscheidend: Die Trennungslinie verläuft bei Aristoteles immer zwischen Bürger und Nichtbürger 27 . Anders im Mittelalter. Aus der eher beiläufigen Erwähnung eines „Bürgers mit gewisser Einschränkung", den Aristotelischen Hinweisen auf die Abhängigkeit einer Definition des Bürgers von der Verfassungsform und Fortsetzung Fußnote von Seite 76 stotelischen Formen der Demokratie, sieht Albert in der Stadt Genua: qui modus est in civitatibus Lombardiae, ut in Genua (Albertus Magnus, Politicorum libri, 345a). Die italienischen Städte kommen bei Albert häufiger vor, vgl. C. Martin, Some Commentaries, 39f, u. G. Fioravanti, Alberto e la Politica, 229f. 27 Zum Aristotelischen Bürgerbegriff vgl. W.L. Newman, Politics of Aristotle Bd. 1, 226-246, E. Schütrumpfs Erläuterungen in Aristoteles, Politik. Buch II u. III, 381444, sowie die entsprechenden Abschnitte der anderen o. in Anm. 17 genannten Werke.
78 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie der eindeutigen Bevorzugung der Teilhabe an Gericht und Rat als Kriterium politischer Partizipation wurde bei den mittelalterlichen Kommentatoren und Philosophen eine differenzierte Lehrtradition, in deren Rahmen man verschiedene Grade des Bürgerseins unterschied und darüber hinaus den Akzent des Bürgerbegriffs mehr auf Wahl und Zustimmung als auf aktive Teilnahme an Regierungsgeschäften legte. Nicht Herrschaft, Regierung oder die aktuelle Herrschaftsausübung standen im Zentrum der mittelalterlichen Diskussion um Rechte und Pflichten eines civis, sondern die Einbindung einer möglichst breiten Bürgerschaft in die Belange des Gemeinwesens und die Sicherung eines weitgefächerten Konsenses durch Partizipation. Die engere Bestimmung des Bürgers kommentiert Albertus Magnus etwas dunkel, aber doch so, daß einem unmittelbar Führungsgruppen in den Sinn kommen: Qui enim ex dignitate civilitatis potest esse judex et princeps in civitate, vere civis est. Er erklärt seinen Lesern nicht, wer damit gemeint sein könnte, vermutlich hält er diese Aussage für selbstexplikativ. Eine praktikablere und angemessenere Definition des „Bürgers schlechthin" aber ist in seinen Augen zweifellos die Teilhabe an der „beratenden und richterlichen Gewalt" {participare principatu consiliativo et judicativo). Er übernimmt sie unbefangen und gebraucht sie oft 28 . Die Gruppen, die Aristoteles zu Beginn des 3. Buches von der Bürgerschaft ausschließt, referiert der Dominikaner sinngemäß, er nennt die Kinder und Greise ganz aristotelisch cives secundum quid. Ein Nebensatz der Überleitung zur eigentlichen Bürgerdefinition macht ihm jedoch Schwierigkeiten. Wenn man den „Bürger schlechthin" betrachten wolle, so Aristoteles, müsse man alle denkbaren Einschränkungen zunächst beiseite lassen, weil man sonst auch die „Ehrlosen und Verbannten" (atimoi kai phygades) einzubeziehen hätte (1275a 19). Es ist dies eine Gruppe von Menschen, denen das Bürgerrecht aberkannt worden ist29. In Unkenntnis der Sachlage übersetzte Wilhelm von Moerbeke atimoi wortgerecht, aber vielfältig interpretierbar mit viles. Albert rechnet diese richtungweisend den cives secundum quid zu, denn wie die Greise zählen sie gewissermaßen „nicht mehr" zu den „Bürgern schlechthin"; er läßt sich durch die lateinische Übersetzung dann noch verleiten, den Begriff unspezifisch auszuweiten: Ehrlose sind 28
Albertus Magnus, Politicorum libri, 209a (enge Definition). Zum weiten Begriff urteilt C. Martin: „This is one of Albert's favourite, reiterated ideas" (ders., Commentaries on the Politics, 56; ebd. 240 Anm. 19 werden die Belegstellen für diese Behauptung geliefert: Albertus Magnus, Politicorum libri, 225, 227, 277, 344, 397, 479, 489, 565, 577, 669). 29 Ähnlich wie O. Gigon übersetzt E. Schütrumpf (Aristoteles, Politik. Buch II u. III, 50) atimoi denn auch mit: „Leute, denen das Bürgerrecht entzogen wurde". Vgl. auch Schütrumpfs Kommentar ebd. 387f, und W.L. Newman, Politics of Aristotle III, 135.
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ihm schlicht servi, wohl zu verstehen im mittelalterlichen Sinn als Menschen, welche das Gemeinwesen schützt30. Alberts Interpretation war kein „Ausrutscher". Sein Schüler Thomas von Aquin sah die Dinge ähnlich. Die ciuitas begreift Thomas als ein „Ganzes", dessen Teile die Bürger sind, sie ist nichil aliud... quam quedam ciuium multitudo. Im Anschluß daran unterteilt er die partes ciuitatis, die Bürger, in zwei unterschiedliche Gruppen. Er spricht wie Albertus Magnus von ciues simpliciter und von dues secundum quid. Hatte Aristoteles in diesem Kontext eigens hervorgehoben, daß man jene, die lediglich in der polis wohnen, und solche, die an den dortigen Gerichten ihr Recht vertreten können, nicht deswegen schon unter die Bürger rechnen dürfe, so werden diese Menschen unter der Hand des mittelalterliche Kommentators zu „Bürgern mit gewisser Einschränkung". Die Population der ciues secundum quid umfaßt nunmehr vier Kategorien: Menschen, die in der Stadt wohnen, auch serui und adueñe; diejenigen, die „Bürger" genannt werden, weil sie der Gerichtsbarkeit des Gemeinwesens unterstehen ; dann die, welche Aristoteles mit dem Terminus eigentlich meinte: Greise und Kinder; schließlich Verbannte und übelbeleumdete Personen (infames personé). Eine aufschlußreiche Erweiterung des Kreises der ciues imperfecti bringt die Diskussion über den Bürgerstatus der Handwerker. Thomas rechnet sie am Ende den ciues secundum quid zu : Et sicut serui et pueri sunt quidem aliqualiter ciues set non perfecte, ita etiam est et de artifìcibus 31. 30
Albertus Magnus, Politiconim libri, 209a. Vgl. C. Martin, Commentaries on the Politics, 68. Zur Interpretation des Terminus vilis, den Thomas mit infamis (s.u.) wiedergibt, vgl. M. Grignaschi, Civis, 79 Anm. 26. 31 Thomas v. Aquin, Sententia Politicorum, A186b (ciuitas); A187a (ciues secundum quid); ebd. A198a (artifices). An dieser schwierigen Stelle der .Politik' ist unbedingt die Übersetzung von E. Schütrumpf (Aristoteles, Politik. Buch II u. III, 49f; Erläuterungen, 386ff) zu bevorzugen, weil in ihr ganz klar wird, daß der Wohnsitz und der Besitz gewisser Rechte der Vertretung vor den Gerichten der Polis in keiner Weise etwas über den Bürgerstatus einer Person aussagen. Lediglich die Metöken werden im Text des Aristoteles, und in dieser Übersetzung, in eine gewisse Nähe zu Kindern und Greisen, den .Bürgern mit Einschränkung' also, gesetzt. - Eine Ausdehnung des Bürgerbegriffs, die die Bedenken des Aristoteles vom Tisch wischt, ist auch in der ,Summa Theologica', Bd. 13, 457 (I-II. 105.3, ad 2), des Thomas greifbar. Bei dem Problem der Geltung der Rechtsordnung für Fremde macht er gegen die Ansicht, daß niemand für das bestraft werden könne, das nicht in seiner Macht steht, geltend, daß es sich so nicht generell verhalte: Denn gebe es zwei Arten von Bürgern: Simpliciter quidem civis est qui potest agere ea quae sunt civium: puta dare consilium vel judicium in populo. Secundum quid autem civis dici potest quicumque civitatem inhabitat, etiam viles personae et pueri et senes.... Ebenso von den politischen Funktionen ausgeschlossen werden dann die unehelich Geborenen (spurii), die Eunuchen und die Zugewanderten (advenae); zur Gemeinschaft zählt er diese Gruppen aber auch, lebten sie doch ebenfalls in der Stadt. Unmittelbar vor der eben zit. Bürgerdefinition hat Thomas sich ebd. (I-II. 105.3, ad 2) mit der Art der
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Mit der Einordnung der Handwerker kommt die städtische Lebenswelt des Interpreten erneut in den Blick. Schon vorher hatte Thomas diesen Personenkreis eindeutig den Städten seiner Zeit zugeordnet und bemerkt, daß sie dort einen großen Teil der Bevölkerung ausmachten: cum uideamus nunc non modicam partem ciuitatis ex artifìcibus esse32. Ein Interpretationsrahmen war damit abgesteckt. Man konnte fortan den Bürgerbegriff sehr weit ausdehnen, ohne einer bestimmten Führungsgruppe das alleinige Recht auf Herrschaft streitig zu machen. Indem man die anderen als „Bürger mit gewisser Einschränkung" faßte, war zugleich jedoch gefordert, diesen je unterschiedlich definierten und zusammengesetzten Personengruppen mindestens einen „droit d'être bien gouverné" einzuräumen, ein Recht, das im Mittelalter auch den subditi liberi einer Monarchie nur schwer abzusprechen war 33 . Die Kluft zwischen civis secundum quid und subditus ist in dieser Zeit nicht allzu groß. Die Stadtgesellschaft trat aber nicht allein auf derart vermittelte Weise in den Zusammenhang der Rezeption des Aristotelischen Bürgerbegriffs. Vielmehr diente sie gerade hier immer wieder als Beispiel, Erfahrungen aus dem Raum der Stadt drängten sich in diesem Kontext am ehesten auf. Die Wirklichkeit von Bürgergemeinde und Zunftwesen spiegelt sich besonders im Werk des ersten Kommentators, dem man aus diesem Grunde in neuerer Zeit „democratic sympathies" attestierte 34 . Aristoteles führt an zentraler Stelle seines Diskurses die Verfassung von Karthago an, um den Bürgerbegriff in einem zweiten Anlauf allgemeiner zu fassen und bereits die Teilnahme an der „beratenden oder richterlichen Behörde" als hinreichende Bestimmung des polites festzusetzen. An einer Stelle des Gedankengangs heißt es kurz: „Ebenso ist es in Karthago: alle Rechtsfragen werden von bestimmten Behörden entschieden" (1275b 12ff). Albertus liest im Moerbeketext irrtümlich statt „Rechtsfragen" (sententias) „Senat" (senatus) und erläutert: Et vocat senatus confraternitates et artificum societates in quibus praeest unus semper tamquam judicans eos, et dirigens 35. Fortsetzung Fußnote von Seite 79 Zugehörigkeit der Frauen zum Gemeinwesen beschäftigt und gesagt, die mulieres seien keine cives simpliciter, was in diesem Kontext wohl den Schluß erlaubt, daß er sie ebenfalls den cives secundum quid zurechnet. 32 Thomas v. Aquin, Sententia Politicorum, A153. 33 M. Grignaschi, Civis, 85. 34 C. Martin, Commentaries on the Politics, 82 (Zit. ist die Uberschrift des Abschnitts); ders., Some Commentaries, 39f (nachfolgende Ausführungen zu Albertus Magnus gründen auf der Arbeit und den Thesen Martins, bes. auf der erstgen. Dissertation, 77-84). Daß Alberts Sympathie für die Demokratie allerdings, was Handwerker und Kaufleute anbetrifft, sehr enge Grenzen hat, zeigt G. Fioravanti, Alberto e la Politica, 205-208, und ders., Servi, 41 Iff. 35 Albertus Magnus, Politicorum libri, 210b. Vgl. M. Grignaschi, Civis, 76f.
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Der Zunftvorstand ist „Behörde" in der mittelalterlichen, nicht aber in der antiken Stadt. Was sind nun diese von Albertus auch sonst oft ins Feld geführten Gemeinschaften der Handwerker und Bruderschaften, was genau haben sie mit Bürgerbegriff und Gemeinwesen zu tun? Der Schlüssel zur Antwort liegt in Alberts eigentümlicher, uns bereits vom Ethikkommentar her bekannten Konzeption einer Gesamtverfassung, welche alle drei guten Herrschaftsformen des Aristoteles in sich enthält 36 : „In der Verfassung einer Stadt oder eines Volkes ist das Königtum wegen der Ordnung aller Dinge da. Die Aristokratie ist Ordnung der Gleichen im .Staat', die wir in der Umgangssprache Barone nennen. Timokratie ist notwendige Ordnung der dienstbaren Gewerbe, wie wir sie finden beim Amt der Bäcker, Köche, Gastwirte, Kämmerer und anderer Ämter" 37 . Hier, in den ersten Kapiteln des 4. Buches der , Politik', knüpft der deutsche Kommentator an das bereits entwickelte Modell prinzipiell an. Er entfaltet jedoch die dort unterhalb des Königtums als Aristokratie und Timokratie behandelten Ordnungen zu einem ganzen Kosmos unterschiedlichster Korporationen und sozialer Gruppen, die er, unter veränderten Gesichtspunkten, mit den Oberbegriffen oligarchia und democratia auf einen gemeinsamen Nenner zu
bringen sucht. Ganz in dieser Absicht fragt Albert nicht einfach mit Aristoteles nach „der Ursache davon, daß es mehrere Verfassungen gibt"
36
Dazu vgl. o. Kap. II Anm. 43-46 mit Lit. Sicut enim in urbanitate civitatis vel gentis regimen [ = regnum] est in ordinatione omnium: aristocratia autem in ordinatione partum in principatu, qui partum utuntur dignitate, quos vulgariter barones vocamus: timocratia in ordinatione ministeriorum necessaria subministrantium, sicut est magistratus pistorum, et coquorum, et pincemarum, camerariorum, et huiusmodi aliorum (Albertus Magnus, Ethicorum libri, 543b; statt regimen im von uns benutzten Text, lese ich mit G. Fioravanti, Alberto e la Politica, 230 Anm. 81, der die Werkausgabe Lyon 1651 zugrundelegt: regnum). Die hier aufgezählten Dienstämter erinnern, darauf machte mich Klaus Graf dankenswerterweise aufmerksam, noch mehr an die überlieferten „Hofämter" als an die neueren Handwerkerzünfte. - Zu den zahlreichen Nennungen von fratemitates, artificia, artifices, artes in Alberts Aristoteleskommentaren und ihrem Bezug zur Geschichte seiner Zeit vgl. C. Martin, Commentaries on the Politics, 78 ; G. Fioravanti, Alberto e la Politica, 207; ders., Servi, 415f; U. Feldges-Henning, Sala della Pace, 157, 160f; vgl. auch o. Anm. 13. - Zu unterschiedlich akzentuierten .Mischverfassungen' und Timokratievorstellungen Alberts in anderen Kontexten vgl. o. Kap. II Anm. 43-46 u. 50. Im Politikkommentar klingt diese Vorstellung direkt an bei der Besprechung der spartanischen Verfassung. Diese Herrschaftsform ist in Alberts Verständnis eine politia composita ex omnibus; partes civitatis sind hier omnes politiae, regnum scilicet, aristocratia, et democratia (ders., Politicorum libri, 171a). An anderer Stelle weist er darauf hin, daß auch der frühe römische Prinzipat eigentlich eine Mischung aus Monarchie und Demokratie gewesen sei (ebd. 130f). 37
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(1289b 27), sondern formuliert: quae sit causapluralitatispolitiarum in una et eadem civitate 38. Aristoteles sieht die Ursachen für die vielfältigen Herrschaftsformen begründet in der je unterschiedlichen Zusammensetzung der Gemeinwesen aus verschiedenen sozialen Klassen und Berufsgruppen sowie der daraus resultierenden Machtverteilung in einer politia. Albert deutet diese Teile als eigenständige Ordnungen, als Politien in der civitas. Beim Konzept der „Vielheit von Verfassungen in einem Gemeinwesen" arbeitet Albert mit einem Begriff von politia, der diese gleichsetzt mit communicatio im Sinne einer Interessen-, Berufs- oder Lebensgemeinschaft auf mittlerer Ebene, zwischen Individuum und ,Staat' 39 . Strukturprinzip dieser Korporationen ist, daß sie ihre Angelegenheiten nach je eigenen Gesetzen regeln, nach Statuten, die den gemeinsamen ökonomischen Interessenlagen ihrer Mitglieder (aequalitates communicantium) entsprechen 40 . „Gesellschaften" solcher Art unter den „Mächtigen und Reichen" nennt Albertus nun oligarchiae; im „Volk" hingegen heißen sie democratiae: quot enim societates populi communicantes in uno aliquo, tot necesse est esse democratiasl Wo es bei Aristoteles um unterschiedliche Formen der Demokratie geht, handelt der Predigermönch von Berufsgenossenschaften, von Zünften: So sei eine Art der Demokratie jene, die wir unter den „mechanischen Künsten" anträfen. Davon gebe es ebensoviele, wie sich artes mechanicae fänden. Den Grund der Differenzierung sieht unser Autor in den Erfordernissen der Arbeitsteilung: „Dies muß notwendigerweise in dem Maße vervielfacht werden, als es verschiedene Arten jener Dinge gibt, die ver- und gekauft werden, wie Wein, Wolltuch, Leinen, Leder und anderes". All das bedarf einer angemessenen Ordnung und so müsse es „in jeder Zunft einen Vorsteher der Handwerker geben". Darüber hinaus hätte ein Marktaufseher (ordinator fori) über den ordnungsgemäßen Ablauf von Kauf und Verkauf zu wachen sowie zu achten auf „angemessenen Zins und Gewinn". Aus eigener Erfahrung berichtet Albert schließlich noch von den Seefahrergilden in Brindisi
38
Ebd. 326a. Politia est ordo communicationis: et ideo quot sunt differentiae communicationum, tot erunt ordines communicationum, et tot politiae (ebd. 326b). Dabei ist communicatio die lateinische Übersetzung von koinonia, beides sind sozial- und politiktheoretische Grundbegriffe; ebenso das in diesem Zusammenhang synonym gebrauchte societas: Zur Adaption dieser Begriffe im 13. Jh. vgl. J. Schmidt, Raven With a Halo, 299ff u. 308f. 40 ...et secundum aequalitates communicantium necesse est differre leges et jura communicationum: aliis enim utuntur communicantes in equis, aliis communicantes in mercatione, aliis communicantes in navigatione (Albertus Magnus, Politicorum libri, 328a). 39
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u n d Marseille 4 1 . Organisationsform u n d Berufsspezifik weisen die „ D e mokratien" eindeutig als Z ü n f t e aus, ihre Qualifizierung als politiae läßt die Möglichkeit „politischer" G i l d e n zumindest ahnen 4 2 . U n k l a r bleiben in diesen ,De partibus
civitatis'
u n d ,De specibus
democra-
tiae et oligarchiae' überschriebenen Kapiteln viele Einzelheiten, vor allem aber die funktionale E i n o r d n u n g der Teile ins Ganze. D i e Identifikation v o n senatus und artificum societates im engen Z u s a m m e n h a n g mit der Bes t i m m u n g des „Bürgers im eigentlichen Sinne", v o n der unser Exkurs zu Alberts Bürgerbegriff seinen A u s g a n g n a h m , bleibt trotz allem als Argument für eine politische Teilhabe der Z ü n f t e am G e m e i n w e s e n etwas blaß. Zweierlei darf d e n n o c h festgehalten w e r d e n : Systematisch entspricht der Zugriff des K o m m e n t a t o r s im Falle der societates populi seinem Grundkonzept von einem gegliederten G e m e i n w e s e n , das verschiedene abgestufte „ O r d n u n g e n " in sich faßt. Dies K o n z e p t ist nicht Ergebnis einer textgetreuen Aristotelesexegese, sondern das Resultat eigener theoretischer Denkvoraussetzungen u n d differenzierter Beobachtung der gesell41
Ebd. 342f (democratiae, oligarchiae). - Über die „Zünfte": ,Altera autem', supple, species democratiae est, .quae circa artes', supple mechanicas, et illa multiplicatur secundum multiplicationem artium mechanicarum: in quibuslibet enim necesse est esse unum ordinatorem artificii illius artis...Et hanc necesse est multiplicari secundum diversitates specierum eorum quae venduntur et emuntur, ut vinum, lana, panni, corium, et huiusmodi. In omnibus enim talibus necesse est unum esse ordinatorem fori omnium illorum qui communicant in foro illius rei emendo et vendendo secundum acquale damni et lucri, secundum quod dicit Aristoteles in V ,Ethicorum' (ebd. 343a). Seefahrergilden ebd. 343b. Der Bezug auf das 5. Buch der ,Ethik' als auch die „Aufsicht" über die Ämter erinnern an die Ausführungen Alberts im Augsburger Predigtzyklus, vgl. o. Kap. II bes. Anm. 47-51. 42 „Pace Martin... I can find no trace of support for political guilds", urteilt A. Black, Guilds and Civil Society, 83, über C. Martins Albert-Interpretation (vgl. auch ebd. 29). Unsere Einschätzung (ähnlich: G. Fioravanti, Servi, 416) bewegt sich zwischen den Thesen beider Autoren. Von politischen Gilden im engeren Sinne zu reden, fällt bei Albert schwer, weil er deren politische Teilhabe an legislativen und exekutiven Organen des Gemeinwesens nicht explizit zum Thema macht. Hier im Politikkommentar, wie schon in ,Ethik' und Predigtzyklus, ist die politisch-partizipatorische Dimension der „dritten Ordnung" (Timokratie bzw. Demokratie) seltsam ausgeblendet. Eine Erklärung dafür liegt sicher in der Logik des Genres: Systematisierung eigener Gedanken ist nicht Aufgabe eines Kommentars. Realgeschichtlicher Hintergrund dürfte darüber hinaus jedoch einfach die Tatsache sein, daß die historische Stunde politischer Zünfte noch nicht geschlagen hatte, daß Albert die „alte", von cónsules bzw. Geschlechtern beherrschte Kommune vor Augen stand. Eine „politische Dimension" kann man diesen societates populi und artium communications des Albertus dennoch nicht absprechen. Nahmen sie doch öffentliche Aufgaben der Marktregulierung wahr und deuten die „eigenen Gesetze und Rechte" ein bestimmtes Maß an Selbstverwaltung an. Und ihre wie immer zu fassende Qualifizierung als politia, senatus, democratia, ihre definitive Einbindung in die funktionale Herrschaftsordnung (vgl. o. Anm. 13) kann letzten Endes nicht anders als politisch begriffen werden.
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schaftlichen Wirklichkeit unter Zuhilfenahme der von Aristoteles bereitgestellten Begriffe und Theorien. Und: Die enge Vertrautheit mit der städtischen Lebenform scheint der eigentliche Grund dafür gewesen zu sein, daß die so vielfältigen Erscheinungsformen von Demokratie und Oligarchie, die der Stagirit im vierten Buch entwickelt, im einheitsuchenden Blick des Dominikaners als Variationen mittelalterlichen Zunft- und Korporationswesens erscheinen konnten. Wie alle Kommentatoren war Albertus Magnus der Meinung, daß das Königtum die beste der drei guten Herrschaftsformen sei. Zugleich aber zeigte er, im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, stets Sympathien für die Demokratie und den Wunsch eines Volkes, nach eigenen Gesetzen zu leben ; denn, wie es an einer Stelle lapidar und unvermittelt heißt: ... populus gaudet esse in libertóte43.
3.
Zweierlei Teilhabe. Herrschende und andere Bürger im regimen politicum
Kommentatoren der Aristotelischen .Politik' beantworteten im Anschluß an Thomas die Frage des Aristoteles nach den zur Bürgerschaft zählenden Gruppen und Klassen meist so, daß sie grundsätzlich, jeder jedoch auf seine Weise, Bürger zweierlei Art unterschieden. Wie aber sahen und interpretierten sie nun die politischen Rechte des „Bürgers im eigentlichen Sinne" genauer, welche sozialen Gruppen ihrer eigenen Zeit bezeichneten sie als cives simpliciter, welche als cives secundum quid? Die so einfach formulierte Problemstellung ist nur auf Umwegen einlösbar, der eigentümliche Beitrag der mittelalterlichen Philosophie zum Begriff des Bürgers nur im Rückgriff auf Kommentierungen anderer Passagen der .Politik' zu verstehen. Ausgangspunkt unseres Gedankengangs, zugleich Beginn einer folgenreichen Akzentverlagerung zentraler politischer Theoreme sind Reflexionen des Thomas von Aquin, besonders aber Ausführungen seines Schülers Petrus von Alvernia zum Bürgerbegriff. 43
Ebd. 303a. ; vgl. auch 344. Zur Einschätzung der Demokratie bei Albert vgl. o. Anm. 34, 40, 41 ; M. Grignaschi, Oresme et la Politique, 103f, verweist darauf, daß für Albert die Demokratie, anders als bei Aristoteles, eine der „guten" Verfassungen, in gewissem Sinne sogar die „forme originaire de la Cité", gewesen sei. Entspräche sie doch am ehesten der Gleichheitsforderung, der naturgemäß ein hoher Rang zukomme: Die Natur mache schließlich, wie schon Gregorius gelehrt hätte, alle Menschen gleich: quae omnes fecit aequales (Albertus Magnus, Politicorum libri, 305a). Zu Alberts Bestimmung der Demokratie als ursprünglicher Herrschaftsform vgl. ebd. 344a: Daß die Demokratie die „erste (prima)" der Verfassungen sei, hier argumentiert Albert im Geiste der Lex regia, heiße: quodprima potestasprincipandi fuit populi antequam iilam ex volúntate transferrent in imperatorem. Ob diese Übertragung endgültig war oder wieder zurückgenommen werden konnte, darüber ist man im Mittelalter nie einig geworden.
3. Zweierlei Teilhabe
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Das Sechserverfassungschema war nicht das einzige Klassifizierungsmodell, mit dem man seit der Rezeption der praktischen Philosophie des Aristoteles Herrschaftsformen unterschied und analysierte. Daneben und häufiger noch bediente man sich einer dichotomischen Einteilung der politischen Wirklichkeit. Ausgangspunkt war auch hier die , Politik', genauer: jene uns schon bekannte Überlegung zum Unterschied des „Politischen" vom „Königlichen". Thomas von Aquin hatte, genau wie sein Lehrer Albertus Magnus, Schwierigkeiten mit der Erklärung dieses Sachverhalts. Anders aber als der deutsche Kommentator fand Thomas eine Lösung, die der herrschenden Tradition politischen Denkens wahlverwandt war und daher wie selbstverständlich von den nachfolgenden Generationen adaptiert worden ist. „Amtswechsel" als Charakteristikum des „Politischen", secundum partem principan et subjici in der verfänglichen Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, wurde im Gefolge der Thomasischen Uminterpretation zu einem bloßen Wechsel der Sicht auf verschiedene Aspekte der Herrschaftsausübung einer Person oder Personengruppe. Grundsätzlich unterscheidet Thomas erst einmal zwei Formen von Herrschaft: „Ein Regiment nämlich ist königlich, wenn jener, der das Gemeinwesen leitet, die Vollgewalt {plenaria potestas) innehat; politisch aber ist ein Regiment, wenn der, der leitet, die Zwangsgewalt (potestas coartata) gemäß bestimmten Gesetzen des Gemeinwesens besitzt"44. Nur auf den letztgenannten Herrschertyp könne, so Thomas weiter, jenes secundum partem principari et subjici sinnvoll angewendet werden. „Teils herrschen", heiße für einen solchen Regenten dann: „herrschen in den Angelegenheiten, die seiner Macht unterliegen"; „teils beherrscht werden" bedeute für ihn: „beherrscht werden in den Dingen, in denen er dem Gesetz unterworfen ist"45. Nicht Amtswechsel, nicht Partizipation der Bürger oder Wahl 44
Regale quidem est regimen quando ille qui ciuitati preest habet plenariam potestatem, politicum autem regimen est quando ille qui preest habet potestatem coartatam secundum aliquas leges ciuitatis (Thomas von Aquin, Sententia Politicorum, A72b). 45 ...regimen politicum: quasi secundum partem principetur, quantum ad ea scilicet que eius potestati subsunt, et secundum partem sit subiectus quantum ad ea in quibus subicitur legi (ebd. A73a). Vgl. D. Sternberger, Drei Wurzeln, 48ff. J.M. Blythe, Regal and Political Power, entwickelt, mit weiteren Belegen, aus diesem Grundgedanken das gesamte politische Denken des Aquinaten und konstruiert so dessen Einheit (vgl. bes. ebd. 550f). In allen Werken, so die These dieses Autors, ist Thomas Befürworter einer „temperierten" Herrschaftsform, einer auf Gesetzesherrschaft sowie „checks and balances" beruhenden „mixed constitution" (ebd. 564). Ob es sich um „checks and balances" im verfassungstechnischen Sinn handelt, muß bezweifelt werden, ebenso bleibt die als regimen politicum rekonstruierte „Mischverfassung" weitgehend interprétatives Modell des modernen Autors. Dieses vermag verschiedene Aspekte im Œuvre des Thomas auf neue und fruchtbare Weise zu verbinden und aufzuschlüsseln. Bei Thomas selbst aber ist eine so definierte Grundverfassung
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III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
des Regenten stehen im Zentrum einer solchen Analyse des „Politischen", vielmehr reicht allein die Gesetzesbindung des Herrschers aus, um eine Verfassung als „politisch" zu qualifizieren. Soziale Zuordnung und Zahl der Herrschaftsträger konnten in dieser Sicht der Dinge zu einem Merkmal zweiten Ranges werden, wenn es darum ging, unterschiedliche Formen von Herrschaft zu begreifen und ihre Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Auch nach der Rezeption antiker politischer Theorie blieb die Idee des Rechts Kern aller mittelalterlichen Auffassungen vom Gemeinwesen. Die Ausblendung des Amtswechsels und damit die Unterbelichtung der allgemein partizipatorischen Dimension im Begriff des politikos an dieser fundamentalen Schnittstelle der Rezeption des politischen Ideenguts des Aristoteles war nicht ohne Folgen für die Interpretation des polites. Erst vor diesem Hintergrund wird eigentlich verständlich, warum man im politischen Aristotelismus des Spätmittelalters von „Bürgern" reden, ihre Rechte und Pflichten diskutieren konnte, ohne deren direkte politische Mitwirkung am Gemeinwesen eigens zu thematisieren. Ein weiterer Baustein zu einem solchen Gebäude mittelalterlicher Weltsicht ist dem Werk des Petrus von Alvernia (t 1304) zu entnehmen. Dieser Pariser Artist und Theologe führte den im 6. Kapitel des 3. Buches abbrechenden Politikkommentar des Thomas von Aquin zu Ende; er hat die ersten sechs Kapitel dieses Buches in einem eigenständigen Kommentarfragment erklärt und schließlich noch einen bedeutenden Kommentar zur .Politik' in Quaestionenform vorgelegt. Aus seiner Feder stammt eine der wirkungsgeschichtlich folgenreichsten Konzeptualisierungen der Begriffe „Bürger" und „politische Partizipation", die wir kennen 46 . Fortsetzung
Fußnote von Seite 85
der politischen Wirklichkeit nicht unter dem Terminus „MischVerfassung" zum favorisierten oder normativen Ideal politischer Herrschaft gemacht worden. Die auch heute noch in ihrer Bedeutung für das politische Grundverständnis des Aquinaten umstrittenen Stellen ST I-II. 95.4.3. u. 105.1 sind als Beleg dafür zu wenig. Eine im Recht gegründete, auf den Konsens der Beherrschten gebaute Ordnung im Sinne der mittelalterlichen Tradition, und das ist der Hintergrund des aquinatischen Politikverständnisses, sollte man nur dann unter den Oberbegriff „Mischverfassung" bringen, wenn der Autor selbst in unterschiedlichen Kontexten diesen Verfassungstyp als vorbildlich erklärt. In diesem Sinne ist Albertus Magnus mit seiner Ineinanderblendung der drei Verfassungsformen weit eher ein Befürworter der Mischverfassung' als Thomas. Zu einer genaueren Unterscheidung verschiedener Begriffe von Mischverfassung, insbesondere auch zu einem präziseren Begriff von „checks and balances" vgl. W. Nippel, Mischverfassungstheorie, 18-27 u. bes. 161 ff, 171 ff (regimen politicum et regale bei Fortescue und die Quellen dieser Vorstellung bei Thomas bzw. Ptolomaeus von Lucca; Lit.). 46
Biographische und bibliographische Daten zu Petrus in der Einleitung zu dessen Kommentarfragment von G.M. Grech (Petrus von Alvernia, Super librum Politico-
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Gleich am Beginn seines Kommentarfragments zu den ersten sechs Kapiteln des dritten Buches spricht der Thomasschüler eine wichtige Differenz an. Politia könne man danach begreifen als ordo habitantium in civitate\ civitas meine in Abhebung davon und aus einem anderen Blickwinkel gesehen dann aber auch multitude civium47. Sind Herrschaftsordnung aller Einwohner und Bürgergemeinde unterscheidbare Gestaltungsprinzipien einer Gesellschaft, entsteht notwendigerweise die Frage nach Abgrenzung und Bezug beider Systeme. Petrus versucht eine Antwort, indem er mit Aristoteles nach dem Wesen des Bürgers fragt. Wie für sein antikes Vorbild ist ihm der Bürger, nicht der Einwohner, pars civitatis; unstrittig auch, daß nichts anderes den Bürger so gut kennzeichnet wie das participare iudicio et attingere adprincipatum. Aber, was heißt das? Aristoteles überlegt in den der zitierten Stelle nachfolgenden Ausführungen, ob die Inhaber von Ämtern mit unbestimmter Dauer - Stimmrecht in Volksgericht und Volksversammlung ist gemeint - im selben Sinne Bürger sind und teilhaben an der arche, wie die Personen, die Regierungsämter bekleiden. Die selbstgestellte Frage kann er nur für die Demokratie, in der die Volksversammlung alle wichtigen Entscheidungen fällt, uneingeschränkt positiv beantworten (1275b 4f)· Daß Teilnahme an Volksgericht und Volksversammlung ausreichende Kennzeichen des Vollbürgers sind, bekräftigt der antike Philosoph in einer beherzten Stellungnahme: „Doch es wäre lächerlich, jenen die Regierungsfunktion abzustreiten, die die bedeutendsten Angelegenheiten entscheiden" (1275a 28). Wilhelm von Moerbeke übersetzte diesen Passus nicht mit. Vielleicht fällt Petrus von Alvernia die Gesamtbeurteilung des zu kommentierenden Sachverhalts deshalb noch schwerer. Beispiele jener zeitlich nicht determinierten Ämter sind, in Moerbekes Übertragung, praetor et concionator. Nach einigem Überlegen, ob diese principatus indeterminati schon die Qualität eines Vollbürgers ausmachen, kommt Petrus zu einem anderen Ergebnis als der Autor des Textes, den er zu kommentieren hat. Er sagt, unbefristete Ämter seien nicht „Herrschaft schlechthin" (principatus simpliciter), sondern „Herrschaft mit gewissem Zusatz" (principatus secundum Fortsetzung Fußnote von Seite 86 rum, 17-42). Grundlegend: J.M. Blythe, Mixed Constitution, 186-221, bes. 195f, 204f, 210ff; C. Flüeler, Rezeption, 88-131; ders., Artistenfakultät; M. Grignaschi, Civis, 81ff; C. Martin, Commentaries on the Politics, 87-156, bes. aber 142-145. C. Flüeler zur Bedeutung des Quaestionenkommentars: Dieser „Politikkommentar kann als repräsentativer Vertreter der politischen Philosophie jener Zeit betrachtet werden" (Artistenfakultät, 135). 47 ...politia non est aliud quam ordo habitantium in civitate (Petrus von Alvernia, Super librum Politicorum, 74). Und: Sed civitas est qoddam totum; constat enim expluribus partibus sicut quodlibet aliud totum. Est enim civitas multitude quaedam civium (ebd. 75).
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appositionem); ihre Ausübung könne deshalb auch nicht den „Bürger schlechthin", sondern nur den mit „gewissem Zusatz" kennzeichnen 48 . Die Aufspaltung des einheitlichen Herrschaftsbegriffs, der Aristotelischen arche, führt notwendigerweise zu der grundsätzlichen Frage nach dem Wesen von Herrschaft überhaupt. Petrus zieht aus diesem Tatbestand weitreichende Schlüsse: Sed est intelligendum quod attingere ad principatum contingit dicere multipliciter. Uno modo ita quod principetur; et sic non omnes cives attingunt. Alio modo est attingere ad principatum quia attingit ad iudicium, vel quia eligit principantem, vel habet vocem in eligendo illum qui eligit. Et iste est civis simpliciter. Terminus igitur et ratio definitiva quae congruit omnibus qui dicuntur cives, si qua est, maxime haec est. Eine sinngemäße Übersetzung könnte lauten: „Man muß wissen, daß .Herrschaft ausüben' vielerlei bedeuten kann. Einmal, daß jemand herrscht; in diesem Sinn betrifft es nicht alle Bürger. Zum andern meint,Herrschaft ausüben': Befaßtsein mit Gericht oder daß man den princeps wählt oder eine Stimme hat bei der Wahl desjenigen, der wählt. Und jener (erste) ist der Bürger schlechthin. Der Begriff aber und die genaue Bestimmung, die allen, die Bürger genannt werden, zukommt, ist vor allem dies (zweite)"49. Der Kontext, in dem die Definition steht, macht deutlich, daß Petrus Wahlrecht und richtende Tätigkeiten allen Bürger zugesteht, aber die wirkliche Ausübung von Herrschaft, das principan, auf die cives simpliciter, die „Bürger schlechthin", begrenzt. Secundum quid, secundum appositionem, simpliciter sind im Wortgebrauch nicht, wie man oft liest, inhaltlich feststehende Qualifízierungen, sondern kontextuelle Relationsbegriffe. Die inhaltliche Dimension aber ist es, die fortan die Diskussion um das Wesen des Bürgers bestimmen sollte. Hier wird schon kurze Zeit nach der Rezeption des Grundwerkes antiker politischer Philosophie ein Trend gesetzt: Der enge und der weite Bürgerbegriff des Aristoteles werden tendenziell in zwei unterschiedliche Bürgerdefinitionen auseinandergelegt. Mittelpunkt der Kontroverse ist in der Folgezeit nicht der „herrschende Bürger", sondern der Bürger, der rät, richtet, wählt. Der principatus simpliciter unterscheidet den „Bürger schlechthin" vom „Bürger mit gewissem Zusatz" oder, wie im zweiten Zitat, vom „Bürger" im allgemeinen. Der Bürger, der herrscht, wird vor die Klammer gezogen, aus einem einheitlichen, flexiblen Konzept ist eine ge48
Illud enim quod commune est praetori et concionatori secundum quod oportet utrumque vocali, innominatum est. Gratia tarnen determinationis dicamus huiusmodi principatus esse principatus indeterminatos non simpliciter sed secundum appositionem; et ponimus illos cives qui attingunt ad huiusmodi principatus non simpliciter cives sed secundum appositionem (ebd. 80). Zu den Schwierigkeiten, die mittelalterliche Kommentatoren mit dem Begriff praetor, der Übersetzung von dikastes (Richter), hatten vgl. S.M. Babbitt, Oresme, 28f Anm. 87. 49 Petrus von Alvernia, Super librum Politiconim, 80.
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stufte, duale Ordnung geworden. Anders als der Athener, der in Ausübung ungeteilter arche eine Volksversammlung besucht, hat der einfache Bürger einer späteren Zeit lediglich einen principatus secundum appositionem. .Herrschen geht nicht alle Bürger an': Diese Aussage wurde in zahlreichen Kommentaren zur opinio communis. In den Quaestionen zur .Politik' wählt Petrus einen ähnlichen Zugriff, setzt aber andere Akzente in der Differenzierung der Gruppen. Er sagt: Der „Bürger schlechthin" könne selbst zu einem Rats- oder Richteramt gewählt werden, er partizipiere „aktiv"; der „Bürger mit gewisser Einschränkung" dagegen „passiv, insoweit er dem Richter gehorcht, indem er wählt oder doch wenigstens der Wahl zustimmt" 50 . Wahl und Zustimmung zur Wahl sind auch im Kommentarfragment des Alverniers Charakteristika des civis gewesen. Pointierter als dort wird in den Quaestionen die Wählbarkeit zu den Ämtern Ausgangspunkt einer Unterscheidung der Bürgerschaft in solche, die potentiell selbst in Rat und Gericht sitzen, und andere, die das nicht tun. Die Gruppe der Passivbürger ist außerdem weiter gefaßt als die der cives im vorausgehenden Beispiel. Und sie ist in sich geteilt. Genau wie dort umfaßt sie Personen, die bestimmte Wahl- oder Akklamationsrechte haben, gewissermaßen die Kerngruppe der mittelalterlichen Bürgerdebatte. Passivbürger ist jetzt aber auch jeder, der lediglich der Gerichtsbarkeit eines Gemeinwesens unterliegt: inquantum iudicanti obediat, wie es im Zitat heißt. Personen solcher Art tauchen im Text bereits einige Zeilen vorher bei der Definition des „Bürgers mit gewissem Zusatz" (ciuis cum adiectione) auf. Dort werden sie dues iustitiati genannt. Offensichtlich sind damit jene von Aristoteles angeführten Menschen gemeint, die zwar ihr Recht vor städtischen Gerichten vertreten, aber aufgrund dieser Tatsache allein mitnichten zu den Bürgern gezählt werden könnten (1275a 9). Auch diese, liest man bei Petrus nun erstaunt, partizipierten passiv: passive participant. Ja, selbst Menschen, deren Status dem eines Knechtes ähnelt, sind in dieser Aufzählung noch „Bürger mit gewissem Zusatz". Petrus nennt sie „andere Bürger, die wie Knechte gehorchen" 51 . 50
Sed intelligendum quod attingere ad consiliativum vel iudicativum dupliciter dicitur. Vel active, in quantum probabiliter ad talia eligatur aliquis. Vel passive, inquantum iudicanti obediat, vel eligat, vel saltern eleccioni consentiat. Et primo modo atingunt ad principatus hos dues simpliciter. Secundo autem modo dues secundum quid dicti (Petrus von Alvernia, Questiones Politicorum, fol. 291rb; die Quaestio ist ed. von M. Grignaschi, Civis, 94-96, hier 96: im folgenden wird die Seitenzahl der Ed. in Klammern nach der Folioseite genannt; die Interpunktion ist ergänzt). 51 Neben Kindern und Greisen nennt er als dues imperfecti: alii autem ex eo quod saltim passive istis participant, ut ciues iustitiati; alii dues expulsi; alii dues obedientes ut senti (Petrus von Alvernia, Questiones Politicorum, fol. 291rb (M. Grignaschi, Civis, 95)). Ich lese mit C. Martin, Commentaries on the Politics, 268 Anm. 117,
90 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie Das letzte Zitat wirft Probleme auf. W o befand sich eigentlich das untere Ende der Skala, wer konnte dort noch zu den „Bürgern" gezählt werden? D i e Standardfrage betrifft zunächst Handwerker und niedere Personen (battami et viles personae). Petrus von Alvernia sagt von ihnen im Kommentarfragment, ähnlich wie sein Lehrer Thomas im Paralleltext: Ja, sie sind cives, meist jedoch nur secundum quid. Anders als sein Lehrer begründet er diese Aussage auch: Handwerker und niedere Personen gehörten zwar im Gegensatz zu den abkömmlichen Vollbürgern der Sphäre der Produktion, dem Reich der Notwendigkeit, an; Bürger in einem gewissen Sinne müßten sie aber doch wohl sein, sie wären schließlich Lohnarbeiter und keine Hörigen, in der Stadt geboren und keine Ankömmlinge, im Besitz eines Stadthauses und keine Fremden 5 2 . Eine widerspruchsfreie Antwort auf unsere Frage nach der Einbindung des Handwerkers in die Bürgergemeinde wird aber an dieser Stelle des Kommentars mit gutem Grunde nicht gegeben. D a s k ö n n e man nur, so Petrus, wenn der Bürgerstatus im Kontext der unterschiedlichen Herrschaftsformen jeweils gesondert abgehandelt und analysiert werde. Dies Argument ist gut aristotelisch, seine Erläuterung nicht: „Aufgrund der Verschiedenheit der Verfassungen also werden die Arten der Bürger eingeteilt. Darum gibt es verschiedene Arten v o n Bürgern. Besonders aber gibt Fortsetzung Fußnote von Seite 89 eindeutig iustitiati (Grignaschi dagegen bietet als Lesart instituti an), was jenem im vorstehenden Zitat genannten Bürger, der iudicanti obediat, zudem sehr nahe kommt. - Die Ausführungen des Petrus sind noch in einer andern Hinsicht frappant: Anders als man immer wieder lesen kann (etwa bei M. Riedel, Bürger, 690), hat es den „Aktivbürger" mit besonderen Partizipationsrechten schon vor der Französischen Revolution gegeben. C. Mossé, Citoyens actifs, hat, mit begriffsgeschichtlich wenig befriedigenden Ergebnissen, den Ursprüngen dieser Begriffsbildung in der Antike nachgespürt. Die Wurzeln der Tradition müssen, wie das Petrus-Zit. zeigt, wohl eher im Mittelalter gesucht werden, vgl. dazu U. Meier, Burgerlich vereynung. Vgl. auch u. Anm. 68 u. u. Kap. IV Anm. 130, 154. 52 Non enim debent [seil, banausi et viles personae] dici servi, quia mercenarii sunt. Et differunt servi a mercenariis. Nec possunt dici adventitii, quia nati sunt in ea [scil. civitate]. Nec peregrini, quia domus habent in ea (Petrus von Alvernia, Super librum Politicorum, 109). Der Einwohner einer mittelalterlichen Stadt, der handwerkliche Tätigkeiten ausübt, Minderbürgerrecht besitzt, ohne magistratsfähig zu sein, könnte nicht treffender beschrieben werden. Das Schema ist allerdings weit genug, um auch andere Deutungen zuzulassen. - Petrus fragt dann: Sub qua parte civitatis debeant reponP. Antwort: Genau wie Greise und Kinder könne man sie den cives imperfecta zurechnen. Anders als die von handwerklicher Tätigkeit befreiten (absoluti), abkömmlichen Vollbürger gehörten diese Berufsgruppen zur Sphäre der „Notwendigkeit", ohne die keine Gesellschaft existieren kann: ...in parte illa in qua necessaria communiter omnibus praeparantur. Sunt ministri sive artifices (ebd. 110). Zur Geringschätzung von Kaufleuten und Handwerkern in den Politikkommentaren vgl. G. Fioravanti, Servi, bes. 411-416; ders., Alberto e la Politica, 205-208.
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es verschiedene Arten untertäniger Bürger". Die Passage im Kommentar des Thomas lautet sehr ähnlich, nur spricht der Aquinate nicht von cives subiecti, sondern nennt diese soziale G r u p p e dues subditi In den Quaestionen des Petrus sind, wie wir sahen, selbst noch diejenigen als „Bürger mit gewisser Einschränkung" bezeichnet worden, die der Gerichtsbarkeit unterliegen. Das reichte herunter bis zu den ciues obedientes ut serui. Diese cives werden sich wohl nur noch durch ihren freien Stand von den Leibeigenen unterschieden haben 5 4 . Die Dichotomisierung, die Unterscheidung in zwei voneinander abhebbare Sorten von Menschen, Bürgern oder Untertanen scheint dem mittelalterlichen politischen Denken sehr entgegengekommen zu sein. Die Vorliebe f ü r antagonistische Bezeichnungen ganzer sozialer G r u p p e n , f ü r duale Einteilungen gesellschaftlicher Wirklichkeit ist vermutlich auch die Ursache einer eigentümlichen Verschiebung der Diskussion um das Wesen politischer Partizipation im Aristotelismus des Mittelalters gewesen. Im 11. Kapitel des dritten Buches der .Politik' erwägt Aristoteles, ob man nur den „wenigen Vorzüglichen" oder auch der „ M e n g e " , den „Vielen", einen Anteil an den Ämtern einräumen solle. Er kommt zu dem Ergebnis, d a ß diese „Vielen" in ihrer Gesamtheit bisweilen gute Urteiler abgäben, d a ß es überdies gefährlich sei, sie völlig von den Ämtern auszuschließen: „Es bleibt also nur übrig", lautet die Schlußfolgerung, „sie am Beraten und Entscheiden teilnehmen zu lassen" (1281b 30f). „Höhere Ämter", darauf weist Aristoteles nachdrücklich hin, sind nicht Gegenstand dieser Diskussion. Petrus von Alvernia, auch hier Begründer einer eigenständigen und wirkungsmächtigen Tradition, nimmt in der Fortsetzung des Thomasischen Politikkommentars den Diskurs über politische Rechte des Bürgers an die-
53 Et ideo secundum diversitatem politiarum diversificantur species civium. Sunt ergo plures species civium. Et maxime sunt plures species civium subiectorum (Petrus, Super librum Politicorum, 110). - Thomas von Aquin, Sententia Politicorum, A 198b: Cum enim sint plures politie specie différentes..., necesse est etiam quod ciuis habeat plures species; et maxime ista differentia attenditur quantum ad ciues subditos. 54 Vgl. o. Anm. 51. C. Flüeler, Rezeption, 73-73, beschäftigt sich ausführlich mit der Sklaventheorie in den Politikkommentaren. Zur Abgrenzungsfrage sagt er: „Der servus unterscheidet sich klar von anderen Untertanen, wie der Frau oder dem civis. Zwei Wesensmerkmale trennen ihn von dem Herrn und anderen Untertanen: Er gehört seinem Herrn, das heißt, er ist im Besitz des Herrn. Ferner unterscheidet sich die Konstitution seines Körpers von derjenigen des Herrn" (ebd. 70). C. Flüeler, Servitus, 302, schildert auch, wie Thomas von Aquin versucht hat, verschiedene Grade der Unfreiheit zu differenzieren und diese unterscheidet nach: servus simpliciter, servus secundum quid. Letzterer non simpliciter libertatem amisit, sed solum secundum illud ad quod se obligavit (zit. ebd. (aus: Thomas, ,De perfectione spiritualis vitae')).
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ser Stelle des Textes erneut und grundsätzlich auf. Es geht seiner Meinung nach nicht allein um Kompetenz- und Machtverteilung zwischen den „wenigen Tugendhaften" (pauci virtuosi) und der „Menge" (multitude); vorab und in erster Linie nämlich sei ein grundlegender Sachverhalt zu klären. Denn, er greift dabei eine abschätzige Bemerkung des Aristoteles zu den „barbarischen" Völkern auf, „aus dem Gesagten ist offenkundig, daß es zweierlei Menge gibt. Eine nämlich ist tierhaft, in ihr hat niemand Verstand noch Maß, sondern neigt zu tierhaftem Handeln. Die andere ist jene Menge, in der jeder einiges an Verstand besitzt, auch der Klugheit zuneigt, und alle vernünftigen Argumenten zugänglich sind" 55 . Nur die letztgenannte multitudo hat das Recht, am „Beraten und Richten" teilzunehmen sowie „Herrscher zu wählen und zurechtzuweisen". Selbstverständlich besteht auch diese Bevölkerungsgruppe aus Klugen und weniger Klugen, aber: „Wenn auch nicht jeder eine so vollkommene Tugend besitzt, daß er selbst auf rechte Weise regieren kann, so hat dennoch die Menge zusammengenommen in Angelegenheiten der Wahl und Zurechtweisung ausreichende Tugend und Klugheit" 56 . Die andere Menge dagegen, die multitudo bestialis, kann Petrus zufolge keines dieser Rechte für sich in Anspruch nehmen. Genau wie die multitudo im Königreich bzw. dort, wo einer allein an Tugend herausragt, hätten diese Menschen keinerlei Partizipationsrechte. Aufschlußreich ist, daß Petrus das Königtum hier aus der Partizipationsdebatte herausnimmt: „Im Königtum nämlich, wenn nur einer wirklich klug ist und die anderen mit gleichsam herrscherlicher Gewalt (dominativo principatu) regiert werden, so daß die Unteren dem Oberen (superiori) gehorchen, ist es nicht an55
Apparet enim ex dictis, quod duplex est multitudo. Una quidem bestialis, in qua nullus habet rationem vel modicam, sed inclinatur ad bestiales actus...Alia est multitudo ubi omnes aliquid habent rationis et inclinantur ad prudentiam, et bene suasibiles sunt a ratione (Petrus von Alvernia, Expositio Politicorum, 151a). Die enorme Wirkungsgeschichte dieser Interpretation erklärt sich sicher auch aus dem Umstand, daß spätmittelalterliche Zeitgenossen diese Fortsetzung des Politikkommentars des Thomas durch seinen Schüler für ein Werk des Aquinaten selbst gehalten haben. Die Urteilsfähigkeit der Menge (eine genaue Analyse der entsprechenden Passagen in der Aristotelischen .Politik' jetzt bei J.T. Bookman, Wisdom of the Many), in der Antike das stärkste Argument für die Demokratie, wird hier zum Differenzierungsmerkmal zweier Arten von Menschen, zweier multitudines; zur Aufladung des Begriffs corpus politicum im 13. Jh., dessen Verbindung zu corpus mysticum, populus und vor allem zur im folgenden thematisierten multitudo ordinata vgl. E.H. Kantorowicz, King's Two Bodies, 21 Of. 56 ...quod participare debent principatu aliquo modo, saltern quantum ad consiliativum et iudicativum...Et ratio huius est, quia quamvis quilibet non habeat virtutem perfectam, unde recte se possit habere in principatu, tamen tota multitudo sufficienter virtutem habet, et discretionem in eligendo et corrigendo (Petrus von Alvernia, Expositio Politicorum, 151 b) ; ebd. 152b ist in Bezug auf die multitudo non vilis die Rede von einer potestas in eligendo et corrigendo principem.
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gemessen, daß die Menge Macht hat; in einer Verfassung aber, in der es eine gleiche (aequalis) Menge gibt, ist es angemessen" 57 . Teilhabeberechtigt ist in Gemeinwesen der letztgenannten Art - vermutlich denkt Petrus an „politische" Herrschaftsformen im Sinne des Thomas - allein die in der anschließenden Tradition meist multitudo bene ordinata genannte Menge. Daß auch sie nicht homogen ist, hörten wir schon. Petrus unterteilt in Anknüpfung an die im Text aufgezählten Ämter „das Gericht", „der Rat", „das Volk" (sprich „Volksversammlung") genauer: Die Menge, die die potestas in electione et correctione principum innehat, bestehe aus sapientes, maiores, prudentes, aus mediocres und aus dem populus. In einer andern Wendung heißt sie multitudo ex sapientibus mediocribus et inferioribus 58. Die notwendige Wirkungseinheit von Klugen und weniger Klugen wird auf verblüffend einfache Weise erklärt: Nur beide zusammen könnten politisch wirksam agieren. Denn die sapientes hätten die rechte Vernunft, allein das Volk aber die Macht, die Schlechten (mali) zu zwingen und zu strafen. Die gute Menge also ist ein Verbund von Klugheit und Stärke. Sie handelt, indem sie zusammentritt, ist damit Institution 5 '. In den Quaestionen zur ,Politik' entwickelt Petrus vergleichbare Gedanken. Einige Punkte jedoch faßt er anders, andere präzisiert er. Die multitudo bestialis wird ohne Umschweife der Despotie zugeordnet60. Und Kontrapunkt einer von der guten Menge geprägten Verfassung ist nun nicht das Königtum des einen, alles überragenden Mannes, sondern der principatus despoticus. Was man sich unter den in der Thomasfortsetzung genannten „Schlechten", zu deren Zügelung sowohl die Vernuft der Klugen als auch die Macht des Volkes nötig sind, vorstellen muß, wird in den Quaestionen an einem Beispiel verdeutlicht: Zu den mali zählt auch der princeps, der sündigt61. Darüber hinaus wird im Quaestionenkommentar die stabilitätssichernde Funktion einer Wahl des Herrschers durch das 57
In regno enim si unus sit simpliciter prudens et alii regantur quasi dominativo principatu, ut inferiores obediunt superiori, non expedit multitudinem habere potestatem; sed in politica, ubi multitudo est aequalis expedit (ebd. 152b). Zur Geschichte der Idee der beiden multitudines im Rahmen der Politikrezeption vgl. J. Dunbabin, Reception of Politics; C. Martin, Commentaries on the Politics, 150f. Zur Aufnahme derselben in das politische Denken des Mittelalters allgemein K. Schreiner, Correctio Principis. 58 Petrus von Alvernia, Expositio Politicorum, 153b. 59 Unum est ratio recta; hoc autem habet ista multitudo per illos sapientes. Aliud est potentia, ut possit coercere et punire malos; hoc autem habet per populum (ebd. 153b). Zu Institution: Nicht jeder Teil dieser Menge für sich habe Macht, sed totum aggregatum ex praetorio Consilio et populo (ebd. 153a). 60 Petrus von Alvernia, Questiones Politicorum, fol. 296 rb. Diese Quaestio ist transkribiert bei C. Flüeler, Rezeption, 232f. 61 Petrus von Alvernia, Questiones Politicorum, fol. 296ra.
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Volk besonders unterstrichen: Liebten die Menschen doch ihre eigenen Werke wie Söhne und gehorchten sie einem von ihnen gewählten Herrscher am Ende sicher mehr62. Am Ende der Quaestio erklärt Petrus noch, auf welche Art von Gemeinwesen seine Überlegungen abzielten: nämlich auf die communitas mixta, d.h. eine ciuitas, in der es eine multitude mixta, eine aus Weisen und belehrbaren gewöhnlichen Menschen zusammengesetzte Menge, gibt63. Noch ein weiteres Ausschlußkriterium wird ins Feld geführt: Er spreche in diesem Zusammenhang ausschließlich „von einem Gemeinwesen, das nicht einem anderen untersteht: dort nämlich ist die Zurechtweisung des Herrschenden Sache des Höhergestellten (spectat ad superiorem)"64. Auch wenn man an dieser Stelle an unabhängige Städte und an Städte mit Stadtherrn denkt, die konkrete Gestalt der gemeinten Verfassung bleibt letztlich in der Schwebe65. Der Exkurs über die ersten fünf Kapitel des dritten Buches hinaus hat dennoch einiges eingebracht. Voraussetzungen, Formen und Spielarten politischer Partizipation wurden in den Ausführungen zu den zwei unterschiedlichen multitudines differenzierter thematisiert als in der zuvor geschilderten Kommentierung des Bürgerbegriffs. Doch wieder ist es die gleiche Denkfigur. Einmal sind da die domini et principes. Deren Recht, im eigentlichen Sinne zu partizipieren, zu herrschen, ist unstrittig und steht nicht zur Disposition. Darin entsprechen diese den zuvor behandelten cives simpliciter. In beiden Fällen wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, was heute höchst begründungsbedürftig ist: Daß es bestimmte Menschen gibt, die „Herrschaft im eigentlichen Sinne" ausüben, die im Besitz des principatus simpliciter sind. Dann gibt es eine größere Personengruppe, deren Mitglieder an Rat und Gericht teilhaben, denen darüber hinaus ein Wahl-, Akklamations- oder Rügerecht zugestanden wird, die multitudo bene ordinata. Und schließlich ist da noch die andere, die „tierische" Menge derjenigen, die weder regieren noch wählen, weder raten noch kritisieren dürfen. In der Folgezeit hat man das Problem politischer Partizipation und bürgerlicher Teilhabe am Gemeinwesen weitaus häufiger im Rückgriff auf die zuletzt behandelte Aristotelesstelle diskutiert, als im al62 Et iterum homines diligunt sua opera utfìlios ut quinto ethicorum et multitudo [...] principi quern elegit magis obediet (ebd.). 63 Ebd. fol. 296 rb. - Was man sich unter der Bezeichnung mixta vorstellen muß, hat der Autor schon in der vorangehenden Quaestio ausgeführt: multitudo benepersuasibilis mixta ex sapientibus et ex vvlgaribus bene persuasibilibus (ebd. fol. 295 va). 64 Et intelligo de ciuitate que non est sub alia constituía, ibi enim correctio principis special ad superiorem (ebd. fol. 296 rb). 65 Das gebrauchte Bild ähnelt Vorstellungen, die Bartolus ein halbes Jahrhundert später am Problem der Absetzung eines tyrannischen Herrschers und zu den civitates superiorem recognoscentes, bzw. non recognoscentes entwickelt, vgl. u. Kap. IV.3.
3. Zweierlei Teilhabe
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leinigen Rekurs auf den Bürgerbegriff. Beide Zugriffe wurden oft zugleich bemüht, beide bedienten sich letztlich derselben Argumente u n d führten zu analogen Schlußfolgerungen. Tendenz war in beiden, lieber Rechte von G r u p p e n als Rechte von einzelnen zu thematisieren und eher gestufte Ordnungen verschiedener Art gegeneinander abzuwägen, als den Begriff politischer Partizipation an eine klar definierte G r u p p e zu binden: an den „Bürger schlechthin". Trotzdem Petrus von Alvernia zu erkennen gab, daß politische Partizipation vor allem ein Problem „politischer Verfassungen" unterhalb des Königreiches ist, blieben die von ihm je unterschiedlich differenzierten Gruppen sozial doch stark unterbestimmt. Das wird eher an seinen Interessen als am allgemein hohen Abstraktionsgrad der universitär betriebenen Politikwissenschaft gelegen haben. Denn ein Mailänder Anonymus gebraucht in einem wohl um 1300 verfaßten Politikkommentar realitätsnähere Vergleiche. Im Anschluß an Petrus nennt der unbekannte Autor eine „tierische und knechtische u n d auf keine Weise zu Tugenden überredbare Menge"(multitudo bestialis et servilis et non persuadibilis aliquo modo ad virtutes), die, bestehend unter anderem aus niederen Handwerkern, kein Recht auf politische Partizipation geltend machen könne. Dieses Recht spricht er allein der anderen Menge zu. U n d in der findet sich erneut die uns schon bekannte Abstufung von Bürgern zweierlei Art. Zwar müsse das, was alle betrifft, auch von allen beraten werden, wie es jene bekannte Maxime Römischen Rechts fordert; einige aber, die virtuosi, herrschten schlechthin (simpliciter), andere dagegen nur auf gewisse Weise. Sie geben Rat oder wählen jene, die „schlechthin herrschen". Vom Wahlverfahren selbst hat dieser K o m m e n t a t o r eine sehr klare Vorstellung. Er schildert es in einer Weise, die deutlich jene aus den italienischen Städten des 13. Jahrhunderts bekannte Mischung aus Bestimmung von Wahlmännern und Akklamation der getätigten Wahl durch die Volksversammlung hervortreten läßt. Wählen nämlich sollten nicht alle Mitglieder der „ g u t e n " Menge, sondern nur bestimmte Personen aus den führenden Geschlechtern und oberen Zünften (artes principaliores) der Stadt. Diese deputati des Volkes nehmen dann die eigentliche Wahl vor. Anschließend müssen sie den, den sie gewählt haben, der Menge präsentieren u n d bestätigen lassen: „ u m zu sehen, ob es der Menge gefällt, u n d wenn es nicht gefällt, k a n n die Wahl verhindert werden" 6 6 . 66
Der Kommentar des Mailänder Anonymus ist nicht ediert. Die Zitate sind entnommen J. Dunbabin, Reception of Politics, 734f Anm. 47 u. 48: ...ita quod aliqui virtuosi principentur in tali multitudine simpliciter et dirigant alios in flnem determinatum talis principatus, et alii habeant aliquod principatum sicut consilium vel principentur aliquo modo exsequendo vel in eligendo alios qui debent simpliciterprincipari... Ulterius est intelligendum quod non oportet sic multitudinem eligere principem quod
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III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
Drei soziale und politisch unterschiedlich berechtigte Gruppen, für die es in der Gegenwart des Autors zudem Äquivalente gibt, heben sich voneinander ab. Mit den „Tugendhaften, die herrschen", könnten eigene oder von auswärts berufene Herrschaftsträger gemeint sein. Sie und die aktiven Wähler wird man zu den städtischen Führungsgruppen zählen dürfen. Die, die das Recht haben, getroffene Entscheidungen zu bestätigen oder zu verwerfen, stehen vermutlich für jene große Gruppe von Angehörigen politisch berechtigter Zünfte und für andere zur universitas avium zäh-
lende Personen, die in Gremien der großen Räte sitzen, sich im Parlament versammeln, denen jedoch der Aufstieg in höchste politische Ämter selten gelingt. Abgeschichtet, ohne politische Rechte jedweder Art, findet man am Ende der Skala Menschen aus „unterbürgerlichen" Schichten, die multitudo bestialis. Beim Begriff „tierhafte Menge" wird manchem gutsituierten Stadtbürger sicher unvermittelt der randalierende Pöbel' oder der popolo minuto in den Sinn gekommen sein: Hat doch der Furor im Fresco
Ambrogio Lorenzettis vom „Schlechten Regiment" in der Sala della Pace des Kommunepalastes von Siena vermutlich nicht zufallig die Gestalt eines schwarzen Tieres, das im Begriff ist, einen Stein zu werfen 67 .
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Citoyen oder bourgeois, Reichs- oder Stadtbürger? Themen und Tendenzen in den Politikkommentaren des 14. und 15. Jahrhunderts
Am Ende des 13. Jahrhunderts, nur wenige Jahrzehnte nach der Übersetzung der Aristotelischen .Politik' ins Lateinische, war der Rahmen abgesteckt, die Struktur aller nachfolgenden Diskussion um den Bürgerbegriff Fortsetzung Fußnote von Seite 95 quilibet existens in civitate habeat vocem in eligendo principem; sed sic quod unus de una tota progenie et in istis artibus quae principaliores [sunt] habeat vocem in eligendo, et non omnis...isti sic deputati a tota multitudine ducunt illum quem elegerunt praesentare multitudini, videndum utrum placeat multitudini, et si non placet, potest electio impediri Zu Entstehungszeit und Enstehungsbedingungen des Kommentars vgl. C. Flüeler, Rezeption, 12 lf, und bes. A. Zoerle, Commento anonimo (dieser Autor arbeitet an einer vollständigen Edition des Textes). - Vgl. H. Keller, Städtische Selbstregierung, zu den komplexen Wahlverfahren italienischer Kommunen, die nicht einfach nur Wahl, sondern häufig die Wahl der Wahlmänner, sogar die Wahl oder Bestätigung der Wahlmänner der Wahlmänner durch die Volksversammlung kennen. - Zum Rechtssatz ,Quod omnes tangit' vgl. o. Kap. I Anm. 5. 67 Ohne die Verbindung zur multitudo bestialis der zeitgenössischen Politiktheorie zu ziehen, sah auch Q. Skinner die Gestalt des Tieres in Ambrogios Fresco als Darstellung der „tierischen Menge": „This we are surely intended to recognize as a representation of the brutish multitude, especially as we see it armed with a stone in just the manner that the Breves of Siena had warned the city police to expect from the mob" (ders., Ambrogio, 33).
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entwickelt und in den Grundzügen festgelegt. Das mittelalterliche Konzept vom Bürger war dehn- und differenzierbarer als sein antikes Vorbild, im mancher Hinsicht beschritt man völlig neue Wege. Das Konzept war, hierin Antwort auf Anforderungen einer gewandelten Welt, anwendbar ebenso auf das Königtum wie auf die zeitgenössische Stadtgesellschaft. Den naheliegenden Einwand, der Aristotelische Bürgerbegriff sei nicht auf das Königtum übertragbar, weist schon Petrus von Alvernia in seinen Quaestionen zur .Politik' entschieden zurück: Im Königreich gebe es schließlich nicht nur das „ Amt des Herrschens" {principatus regendi), sondern auch „viele andere Ämter (principatus), zu denen jeder der genannten Bürger schlechthin Zugang hat". Darüber hinaus, so knüpft er an die von ihm vorher entwickelte Unterscheidung an, habe in dieser Verfassung jedermann irgendeinen Anteil an der Herrschaft, und sei es nur passiv: saltim passive68. Nicolaus de Waldemonte sieht das ähnlich, allerdings mit erstaunlichen begrifflichen Varianten. Dieser Kommentator steht in der ideengeschichtlichen Forschung zur Rezeption der ,Politik' in dem zweifelhaften Ruf, der einzige gewesen zu sein, der die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie civis und civitas keiner eigenständigen Untersuchung gewürdigt hat 69 . Politische Partizipation diskutiert Nicolaus im Kontext einer Analyse der multitude bene ordinata, deren Begriff er zudem restriktiv deutet. Politische Mitsprache steht danach nur den Führungsgruppen der Gesellschaft zu70. Eine solche Interpretation entbehrt nicht der Logik. Wenn das „Regieren" zu einer Angelegenheit wird, die nicht alle Bürger angeht, dann ist es ein kurzer Schritt zur Ausblendung dieser Bevölkerungsgruppe bei der Frage nach dem Wesen der Herrschaft im eigentlichen Sinne. Genauso jedenfalls scheint das der Pariser Magister zu meinen. Soviel ist richtig: Nicolaus de Waldemonte behandelt den Bürgerbegriff nicht in einer eigenen Quaestio. Auf das Definitionsproblem stößt er aber doch, und zwar im Zusammenhang mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Standort einer Person, die alle anderen an Tugend überragt (Politik 1284a 4ff u. 1288a 15ff). „Bürger" seien ein Verband von Gleichen, erläu68
Dicendum quod in regno non solum est principatus regandi (sic) ad quem attingit unus, sed et multi alii ad quos potest quilibet ciuis simpliciter dictus attingere et Herum quilibet, licet non active, saltim passive ut prius dictum est (Petrus von Alvernia, Questiones Politicorum, fol. 29Iva). Im Gegensatz zum „herrschaftlichen" Königtum in Anm. 57 ist hier wohl ein „politisches" gemeint. Vgl. auch C. Martin, Commentaries on the Politics, 11 If. 69 So M. Grignaschi, Civis, 84 Anm. 33 (die Äußerung war natürlich auf Buridanus bezogen, der bis vor kurzem für den Autor dieses Kommentars gehalten worden ist, vgl. o. Anm. 21). 70 Vgl. M. Grignaschi, Buridan, 140; ebd. 129f, 136f u. passim: multitudines; dazu vgl. auch J. Dunbabin, Reception of Aristotle's Politics, 735ff.
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tert er in diesem Zusammenhang, vereint in amicitia und concordia. Weiterhin bezeichne Bürgersein ein Verhältnis dieser Gleichen zum Herrschen, nenne man doch keinen Menschen ciuis absolute sed in respectu. In bezug auf die Herrschaftsordnung bedeute das dann, daß dem Bürger die potestas communicandi principatu consiliatiuo et iudicatiuo zustehe. Was aber ist, das war der Ausgangspunkt seines Exkurses zum Bürgerbegriff, mit dem, der aus diesem Verband der similes herausragt? Ein so gearteter Mensch sei zweifellos zum Regieren und Gesetzgeben berufen, lautet die Antwort am Ende. Er stehe deshalb oberhalb der Bürger: Ille non est dicendum ciuis, sed superciuis71. In Nicolaus' Bild steigt der Aristotelische Bürger im engeren Sinn auf zum gewählten Monarchen, zum superciuis; der weitergefaßte Bürger dagegen wird zur gesellschaftlichen Gruppe gleicher Menschen mit Partizipationsrechten unterhalb der monarchischen Spitze. Ausgeblendet bleibt die „unvernünftige Menge". Nachfolgende Generationen hatten keine Schwierigkeiten, den Argumenten eines Petrus von Alvernia oder eines Nicolaus de Waldemonte an diesem Punkte zu folgen. Fürst, Bürger und Volk waren Begriffe, die man variabel aufeinander beziehen und gegeneinander absetzen konnte. In dieser Tradition steht noch der deutsche Aristotelismus des 17. Jahrhunderts, wenn er im Reich lediglich die Reichsstände - Kurfürsten, Fürsten und Reichsstädte - als veri cives anerkennt. In der mittelalterlichen Diskussion 71
Der Reihe nach: ...sicut est in foto vniuerso ita est in policía bene recta et ordinata. Sed sic est quod in toto vniuerso ille qui excedit alios non est expellendus igitur.... Finde sich ein so überragender Mann, müsse er gewählt werden, in tali policía princeps habeatur per electionem. Die Menschengruppe, die dieser gewissermaßen übersteigt, kennzeichnet dreierlei: Freundschaft unter Gleichen, ein Verhältnis zum herrschenden Teil und zum Staatswesen: Tercio supponendum est quod ratio ciuis, secundum quam aliquis dicitur ciuis constitit in quadam proportione hominum habitantium in ordine ad principantem. patet quia homo non dicitur ciuis absolute sed in respectu. Quarto notandum est quod homo dicitur ciuis respectiue in ordine ad policiam. patet ex diffinitione eius posita supra in isto tercio in quo dicitur quod ciuis est homo cui est potestas communicandi principatu consiliatiuo et iudicatiuo. Conclusio: ...homo excedens alios in aliquo bono in policía est dicendus superciuis. Probatur quia ille non est dicendus ciuis sed superciuis cui subicitur lex... (Nicolaus de Waldemonte, Quaestiones Politicorum, fol. XLVr f)· - Auch Walter Burley behandelt diese Stelle in ähnlicher Weise, er bezieht sie direkt auf das englische Königtum : Der superexcedens in virtute gleiche dem deus gloriosus. Als Herz (cor) belebe er die dues als seine membra... adfìnem politie qui est felicitas. Zusammenfassend: ...et propter intimam dilectionem ad regem est intima concordia inter dues et est regnum fortissimum sicut hodie patet de rege anglorum, propter cuius excedentem virtutem est maxima concordia in populo anglicano quia quilibet est contentus de gradu suo sub rege...In politia enim optima oportet enim quod princeps ultra rationem ciuis supra dues existens vt lex eis et non sub lege coartatur... (ders., Lectura Politicorum, fol. 35vb). Vgl. C. Martin, Commentaries on the Politics, 157-189, bes. 183ff, 280 Anm. 103; S.H. Thomson, Burley's Commentary, bes. 577f (beide geben Textauszüge aus anderen MSS).
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u m das W e s e n des Bürgers allerdings blieb die Stadtgesellschaft bevorzugtes Referenzobjekt. D a z u n o c h einige w e n i g e Beispiele aus d e m 14. u n d 15. Jahrhundert. Sie sollen das bisher Gesagte praktisch veranschaulichen u n d vertiefen, mehr aber n o c h Entwicklungsfähigheit, Plastizität u n d Anwendbarkeit der herausgearbeiteten Struktur dokumentieren. Zunächst j e d o c h , u n d bevor u n s l o h n e n d e r e Texte beschäftigen, m u ß ein erstaunlicher N e g a t i v b e f u n d zumindest angerissen w e r d e n : A b g e s e h e n v o n T h o m a s u n d d e m eben behandelten Mailänder A n o n y m u s , w e n n er d e n n ein Mailänder war, h a b e n italienische Autoren des Spätmittelalters die sprödesten und, was den Gegenwartsbezug der D i s k u s s i o n u m den Stadt- u n d Bürgerbegriff angeht, die am wenigsten ergiebigen K o m m e n tare zur ,Politik' des Aristoteles verfaßt 7 2 . Anders als ihre transmontanen Zeitgenossen g e h e n sie mit den Termini civis u n d civis secundum quid zwar vorsichtiger um u n d werden d e m Text des Stagiriten häufig eher gerecht. A u c h sind die italienischen K o m m e n t a t o r e n des 15. Jahrhunderts im Gebrauch der Begriffe civitas, populus, multitudo oder respublica bisweilen genauer u n d differenzierter 7 3 . Ihre eigenen politischen Erfahrungen j e d o c h 72
Gemeint sind hier die Kommentare von Donatus Acciaiolus (1429-1478), Guillelmus Becchius F l o r e n t i u s OESA ( t 1491), Paulus Nicolettus Venetus (1369/721429) und Raimundus Acgerii OFM (14. Jh). Das oft und gerne als einer der ersten Humanistenkommentare zitierte Werk von Becchius ist, in den für unsere Fragestellung einschlägigen Abschnitten zumindest, eine schlichte, um einige Wörter verkürzte oder verlängerte Kopie des Politikkommentars von Thomas von Aquin. Vielleicht ist das bisher verborgen geblieben, weil dem Kommentar die Politikübertragung des Leonardo Bruni voransteht, dessen Begriffe der „Interpret" des Textes dann auch gebraucht oder richtiger gesagt: dessen von Moerbeke abweichende Begrifflichkeit Becchius in den Text des Thomas inseriert. - Eine gewisse Ausnahme, was den Gegenwartsbezug betrifft, scheint der Kommentar des Guido Vernani zu sein, vgl. J. Dunbanin, Guido Vernani, bes. 377f; die Ausführungen zum Bürgerbegriff gehen allerdings über das bisher Gesagte kaum hinaus, auch Guido hält den civis simpiiciter für den eigentlichen Bürger, der allein iudex, princeps, concionator sein könne. Interessant seine ,elitäre' Definition von concionator: qui in congregatane populi leges conditas ut sententias latas vel aliqua negotia proponit (zit. ebd. 380). 73
Die begrifflichen und theoretischen Innovationen des Quattrocento sind allerdings häufig nicht das Verdienst der Kommentatoren selbst, sondern ergeben sich vielfältig aus der neuen lateinischen Übersetzung der , Politik' aus dem Griechischen durch Leonardo Bruni (1438). Zur Bedeutung dieses Werkes für die Begriffsgeschichte von respublica vgl. W. Mager, Republik, 566. Aristoteles nennt gleich zu Beginn der .Politik' die bedeutendste aller Gemeinschaften polis oder koinonia politike\ Wilhelm von Moerbeke übersetzt dieses sich gegenseitig erläuternde Begriffspaar mit civitas et communicatio politica, Leonardo Bruni mit civitas et civilis societas, vgl. auch J. Schmidt, Raven With a Halo, 295. - Die frühneuzeitlichen volkssprachigen Übersetzungen der , Politik' verwenden im Italienischen città et ciuile società (Brucioli 1547); im Französischen cité et compagnie civile (Le Roy 1562); im Englischen citie or ciuill society (1598); schließlich mehr als zweihundert Jahre spä-
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kommen kaum je direkt zur Sprache. Ihr Text bleibt gelehrter, dann humanistischer Diskurs. Ausnahme ist da schon, wenn Donatus Acciaiolus (1429-1478) hinter den Akkusativ populum veranschaulichend puta Florentinum hinzufügt 74 . Die Auseinandersetzung mit den Werken dieser gelehrten Autoren ist für eine Begriffsgeschichte von respublica oder societas civilis fruchtbar und gewinnbringend. Dieselben Schriften geben wenig her, wenn es um das Problem der Anwendung der Aristotelischen Ideen von polis und petites auf die mittelalterliche Stadtgesellschaft geht. Ob die ungebrochene Selbstverständlichkeit, mit der diese Autoren den Bürgerbegriff handhaben, ob die Unbefangenheit, in der sie die Stadt als „Staat" sehen, letzten Endes nur die frühe Ausbildung einer professionellen Kommentierung des Textes, humanistisch-textkritische Verengung der Fragestellung oder aber unbewußter Reflex der eigenen „stadtstaatlichen" Existenz gewesen ist, darüber kann man spekulieren ; Schlüsse sollte man aus der fehlenden Applikation einer kommentierten Theorie auf die Wirklichkeit allerdings nicht ziehen : ex nihilo nihil. Im Jahre 1374 übergab Nikolaus von Oresme (t 1382), Pariser Magister und später Bischof von Lisieux75, seinem König und Förderer Karl V. von Frankreich die erste uns erhaltene volkssprachige Übersetzung der Aristotelischen .Politik' zusammen mit einem selbst verfaßten Kommentar. Motiv dieser Arbeit war königlicher Auftrag, aber auch das Bewußtsein, daß ein so wichtiges Werk in der Landessprache zugänglich sein muß. Habe doch schon Cicero gesagt: ,Les choses pesantes et de grande auctorité sunt delectables et aggreables as gens ou le language de leur pais'16. Nikolaus zeigt sich in seiner Kommentierung als produktiver Erbe einer mehr als hundertjährigen Tradition der Exegese. Bei ihm finden sich alle bisher Fortsetzung Fußnote von Seite 99 ter im Deutschen bürgerliche Gesellschaft, Staatsgesellschaft (Schlosser 1798) und bürgerliche Vereinigung, Staatsvereinigung (Garve 1799) (ebd. 299 Anm. 14). In den volkssprachigen Übertragungen des 16. Jahrhunderts ist die Nähe des Attributs „civile" zur Vorstellung „Stadt" sicher sinnfälliger als in der lateinischen Fassung. 74 Donatus Acciaiolus, Politicorum commentarli, fol. 82v. Dazu gibt es keine umfangreichere Untersuchung. Vgl. deshalb die Ausführungen zu seinem Kommentar der Aristotelischen ,Ethik' bei A.M. Field, Philosophical Renaissance, 131-166 u. 405-439 (16-22: Biographie). 75 Grundlegende Monographie ist S.M. Babbitt, Oresme. Biographische Daten in der Einleitung der hier benutzten Edition von A.D. Menut. Für unsere Fragestellung vgl. aber bes. M. Grignaschi, Civis, 83f; ders., Oresme et la Politique, bes. 105— 115; J.M. Blythe, Mixed Constitution, 471-563, bes. 522-533 („The Multitude"). 76 Nikolaus von Oresme, Politiques, 44b (Proömium). Ebd. I I a der Hinweis auf eine frühere, jedoch verlorengegangene französische Übersetzung der .Politik': Ein Pierre de Paris soll um 1305 diese Übertragung des lateinischen Textes des Wilhelm von Moerbeke verfaßt haben.
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entwickelten Denkfiguren u n d Schemata, die er in eigenständiger Weise nutzt, um Politik und Gesellschaft seiner Zeit besser zu verstehen. Bei ihm finden sich aber auch all die bekannten Unsicherheiten u n d Brechungen, die in der Übertragung des antiken Textes auf die Gegenwart entstanden sind. Er versäumt nicht, seine Leser auf Probleme solcher Art hinzuweisen, wenn er etwa erklärt, mit cité könne man einmal, wie im Falle von Rouen und Paris, „ S t a d t " meinen, d a n n aber auch „ H e r r s c h a f t s f o r m " (poliete): Et en ceste maniere, tout un royalme ou un païs est une grande cité, qui contient pluseurs cités partiales'11. Diese Harmonisierung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gelingt Oresme jedoch nicht immer. So denkt auch er, ähnlich wie Albertus Magnus, bei „politischer Herrschaft" zunächst an die regionalen Herrschaftsbildungen seiner Zeit, an Städte u n d Länder. Gleich in der dritten Glosse seines Kommentars stellt er klar: ...princey politique est sous princey royal, sus une cité ou país. Der Amtswechsel, an dieser Stelle das Aristotelische Kriterium des Politischen, verschwindet bei Oresme sogar schon im Text der Übersetzung: Car quant un homme a la souveraine présidence, ce est princey royal; mes quant il gouverne selon les paroles de la discipline, ce est a dire selon les lais de la cité et il est en partie tenant princey et en partie subject sous le roy, adonques ce est princey politique78. Diese als Übersetzung des antiken Textes ausgewiesene Passage wird es den französischen Lesern schwer gemacht haben, unter „politischer Herrschaft" im aristotelischen Sinne etwas anderes zu verstehen als Herrschaft in der Stadt. Königliche u n d politische Herrschaft unterscheiden sich darüber hinaus nicht ihrem Wesen nach, sondern schlicht u n d einfach darin, d a ß die eine der anderen übergeordnet ist: ...il different seulement en quantité, comme un grand cheval et un petit79. Das Wesen der Herrschaft, insbesondere natürlich das der königlichen, begreift Nikolaus von Oresme anders als die Mehrzahl seiner Vorgänger u n d Zeitgenossen. Diese haben die Frage des Aristoteles, „ o b es besser ist, vom vollkommenen Menschen oder von den vollkommenen Gesetzen beherrscht zu w e r d e n " (1286a 8), in der Regel zugunsten des ersteren, und das heißt zugunsten der Machtfülle eines Kö-
77 Ebd. 119b (III.3; im folgenden bezieht sich die römische Zahl in der Klammer auf das Buch, die arabische auf das Kapitel der , Politiques' des Oresme). Zu den verschiedenen Bedeutungen von citè bei Oresme vgl. M.S. Babbitt, Oresme, 5Iff. 78 Ebd. 45b (1.1). J.M. Blythe, Mixed Constitution, 490f, kann weder in Thomas von Aquin noch in Petrus von Alvernia die Vorläufer einer solch ungewöhnlichen Interpretation sehen. Aber: Oresme konnte sie bei Albertus Magnus, seinem großen Vorbild (er zitiert ihn mehr als vierzig mal, mehr als alle anderen Kommentatoren, vgl. S.M. Babbitt, Oresme, 20, 24-29), finden oder sie einfach für „selbstverständlich" halten: oder beides. 79 Nikolaus von Oresme, Politiques, 45b (1.1).
102 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie nigs entschieden 80 . „Souveränität" bedeutet aber für Oresme gerade nicht die über den Gesetzen stehende, von einem, mehreren oder vielen ausgeübte plena potestas. In der plentere puissance sieht er im Gegenteil das gemeinsame Merkmal der drei schlechten Herrschaftsformen 8 1 . „Souveränit ä t " in seinem Verständnis bleibt, trotzdem sie „oberste Gewalt" ist, immer gebunden an Recht und Gesetz. Neben der Herrschaft der Gesetze ist ein anderer Grundzug im politischen Denken des Nikolaus von Oresme mindestens genauso aufschlußreich: Politische Partizipation wird auch bei ihm auf grundsätzliche Weise eher bei der Frage der Natur der unterschiedlichen multitudines diskutiert als im Zusammenhang mit der Bürgerdefinition. Partizipation des Bürgers wird, so könnte man aus der Gewichtung der verschiedenen Interpretationen schließen, zum Sonderfall von politischen Rechten sozialer G r u p p e n in einer wie immer strukturierten multitude raisonnable et honorable. Es versteht sich fast von selbst, daß Oresme einer multitude bestiale keinerlei politische Rechte einräumt. Aber selbst die andere, die „vernünftige u n d ehrenhafte Menge" besitzt Herrschaftsrechte nur in eingeschränktem M a ß e ; habe doch der ,Philosoph', so jedenfalls vermutet Oresme, nicht gemeint, diese Menge doie tenir le princey et le gouvernement cotidian. Die aktuelle, alltägliche Herrschaftsausübung nämlich obliege nur einer kleineren G r u p p e von Herrschaftsträgern: doit estre un souverain ou pluseurs qui tiennent le princey et l'exercent selon les lays. Keine Diskussion. Abgehoben davon verbleiben der „vernüftigen Menge" politische Rechte auf drei Ebenen des politischen Systems: die Wahl der Herrscher, das Recht ihrer Kontrolle und Zurechtweisung, schließlich all das, was mit Gesetzgebung, Gesetzesänderung u n d Zustimmung zu erlassenen Gesetzen zu tun hat. Die genannten drei Dinge gehörten aus gutem G r u n d in die Zuständigkeit der multitude raisonnable et honorable·, es heiße schließlich mit Recht, que ce que touche tous doit estre approuvé de tous82.
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Vgl. T. Renna, Aristotle and French Monarchy. Nikolaus von Oresme, Politiques, 178b (IV.IO). Zur „Herrschaft der Gesetze" bei Oresme vgl. J.M. Blythe, Mixed Constitution, 484-505. 82 Im Zusammenhang: Item, se la multitude est raisonnable et honorable, encor me semble que il ne entent pas qu'elle doie tenir le princey et le gouvernement cotidian quant a distribution d'offices et quant as jugemens, mes doit estre un souverain ou pluseurs qui tiennent le princey et l'exercent selon les lays... Mes tele multitude peut avoir domination quant a .iii. choses, ce est assavoir quant a /'election dez princes toutes foiz que tele election a lieu. Item, quant a la correction des princes ou cas que il abuseroient de leur dignité et que il dissiperoient et destruiroient le bien publique... Tiercement, quant a la constitution ou mutation et acceptation des lays... Car l'en dit que ce que touche tous doit estre approuvé de tous. Et par aventure, Alistóte par ,policeme' entent ces .iii. choses (Nikolaus von Oresme, Politiques, 142a (III.17)). Aristoteles meint 81
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Der Mailänder Anonymus hatte an dieser Stelle ähnlich argumentiert. Nicht nur die Berufung auf die römischrechtliche Maxime ,Quod omnes tangit', auch die Gliederung in drei prinzipiell unterscheidbare Personengruppen erinnert an diesen Autor. Ob eine von der Forschung bisher unbemerkte literarische Abhängigkeit vorliegt, ist für uns nicht von Interesse: Die Vorstellung, daß es Menschen gibt, die Herrschaftsrechte haben, andere wiederum, denen eine klar definierte Teilhabe am Gemeinwesen zukommt, und endlich viele, die weder das eine noch das andere für sich reklamieren dürfen, scheint mittelalterlichen Autoren unmittelbar eingeleuchtet zu haben. Die multitude raisonnable et honorable hat in jeder angemessenen Herrschaftsform ein legitimes Recht auf politische Mitsprache 83 . Was soll man sich unter einer so definierten Teilmenge der Gesamtbevölkerung eines Gemeinwesens aber konkret vorstellen? Zwei Überlegungen können uns einer Antwort auf diese Frage näherbringen. Demokratie und Politie unterscheiden sich prinzipiell, so die eigenwillige Lesart des Nikolaus von Oresme, in der Beschaffenheit der jeweils herrschenden Menge. Hat in der Demokratie die multitude populaire die Herrschaft inne, so bezeichnet „Menge" in einer wohleingerichteten commune policie et en aristocracie die multitude et congregation universele de tous les princeys ou offices et des principalz citoiens. Diese Gruppe von Amtsträgern und führenden Bürgern nun hat jene im letzten Absatz beschriebenen Partizipationsrechte in Besitz. Oresme weist eigens auf die einschlägigen Kapitel des 3. Buches hin. Darüber hinaus gibt er ein Beispiel : Et tele chose est aucunement semblable a l'assemblee general des Maistres de l'Etude de Paris84. Kann der Hinweis auf das korporative Selbstverwaltungsgremium der Pariser Universität eine Vorstellung von der Art der gemeinten Herrschaftsausübung vermitteln, so verweist das Adjektiv honorable im Begriff der herrschaftsfähigen Menge auf die soziale Gruppe, die der Autor häufiger mit principalz citoiens terminologisch zu fassen sucht. Honorableté, unverzichtbare Eigenschaft für Amtsführung und Mitsprache in jedweder guten Verfassung, wird im 8. Kapitel des 6. Buches genauer und auf grundsätzliche Weise definiert: Honorableté est honestement gouverner sa chose familiaire et tenir estât. Grant estât bedeute zugleich auch grande honorableté; die unter dieser obersten Gruppe angesiedelten Personen, die moiens, sind entsprechend im Besitz der petite honorableté, den povres petis populaires schließlich eigne keinerlei Ehrbarkeit: sunt de nulle honoraFortsetzung Fußnote von Seite 102 mit politeuma natürlich nicht diese Partizipation „zweiten Ranges", sondern vor allem die Ordnung der höchsten Ämter. »3 Vgl. J.M. Blythe, Mixed Constitution, 509, 514 u. 528. 84 Nikolaus von Oresme, Politiques, 274a (VI. 12).
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bleté85. Die ständischen Konnotationen der Begriffsbildung sind unverkennbar. Besitz und Standschaft waren in der mittelalterlichen Welt hinreichende Determinanten der Stellung einer Person oder Personengruppe im Gemeinwesen. Die Grundzüge der politischen Philosophie des Nikolaus von Oresme sind damit zumindest soweit angerissen, daß unsere zentrale Frage auch an diesen Autor gerichtet werden kann: die Frage nach dem Wesen des Bürgers und, im Anschluß daran, nach den gesellschaftlichen Gruppen, die zur Bürgerschaft zählen, sowie jenen, denen man das Recht verwehrt, partes civitatis zu sein. Die Glosse zum Kernsatz der Aristotelischen Bürgerdefinition im 1. Kapitel des 3. Buches faßt den Begriff citoyen denkbar weit. Ce est a dire que celui qui est citoien peut estre juge sans ou oveques autres ou qui peut estre prince seul ou oveques autre ou autres ou qui peut avoir voies en election de princes et de juges ou en conseil publique. Mit participer en princey meine Aristoteles, so scheint es dem Kommentator jedenfalls, in dem Zusammenhang aber nicht allein die souveraine dominación, sondern quelqunque posté publique ou auctorité ou office publique honnorable. Wer faktisch (de faict) diese Tätigkeiten ausübt, ist „Bürger". Aber auch derjenige, der das Recht hat (qui est habile), diese Ämter zu bekleiden und den angegebenen Tätigkeiten nachzukommen, ist Bürger in vollem Sinne. Dies Recht wiederum sei gegründet in Abstammung und Geburt, in Stand, Macht oder Besitz86. Habiiis esse, habilitas bezeichnet hier wie im Sprachgebrauch spätmittelalterlicher Juristen die uneingeschränkte Amtsfähigkeit eines Vollbürgers. Noch im selben Kapitel unterscheidet Oresme jenen eben genannten, der 85
Ebd. 268b (VI.8). Die „mittleren Bürger" stehen für Oresme unter den „Reichen und Adligen" (les riches et les nobles, ebd. 186a (IV. 15)), an anderer Stelle über den sers (ebd. 189a (IV. 16)). - Oresme gebraucht estât bisweilen als Terminus technicus für troies estas (les.iii.estas..., gens d'armes, gens de conseil et gens sacerdotal; ebd. 322a (VII.27)); daraufhat verwiesen M. Grignaschi, Oresme et la Politique, 114. 86 Im Anschluß an die vollständig zitierte Bürgerdefinition heißt es weiter: Car chescun tel participe aucunement en princey ou en jugement. Item, par princey Aristote entent souvent, ce semble, non pas seulement la souveraine dominacion mes generalment quelqunque posté publique ou auctorité ou office publique honnorable qui resgarde toute la communité ou aucun membre de elle. Et donques citoien est celui qui participe de faict en aucune de teles choses ou qui est habile a ce, consideré son lignage ou nativité, son estât, sa puissance, ses possessions, etc. (Nikolaus von Oresme, Politiques, 115b (III. 1)). Die weitgefaßte Bürgerdefinition erinnert an Burley: ...quiprincipatur uel in aliquo iudicat uel habet eligere iudices aut consulem aut aliqualiter communicat in regimine ciuitatis secundum quamcumque policiam hic sic ciuis est (Walter Burley, Lectura Politicorum, fol. 27va). M. Grignaschi, Civis, 90, liest in seinen MSS die drei letzten Worte hic simpliciter civis est. Im hier benutzten MS ist eine solche Lesart nicht möglich, die Bezeichnung civis an dieser Stelle entspricht auch eher dem bisher ermittelten Wortgebrauch.
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faktisch gerade regiert, und den, der das Recht auf Ämter geltend machen kann, noch einmal terminologisch, nicht aber begrifflich: Ersterer ist citoien simplement, letzterer, qui est habile et peut estre esleu, citoien aucunement". Das Begriffspaar „Bürger schlechthin" und „Bürger im bestimmten Sinne", in der bisherigen Tradition der Aristotelesexegese meist auf Personengruppen mit unterschiedlicher Rechtsstellung und Partizipationschance bezogen, wird in der Interpretation des französischen Gelehrten und Königsberaters zur bloßen Unterscheidung in Bürger, die gerade im Rat sitzen oder öffentliche Ämter bekleiden, und andere, die das gerade nicht tun. Jeder der regiert, der in Rat und Gericht sitzt, der eine Stimme hat bei Wahlen, aber auch jeder, der diese Rechte prinzipiell und legalerweise für sich in Anspruch nimmt, ist citoien. Die soziale Gruppe, die Oresme bei der Kommentierung des Aristotelischen Bürgerbegriffs vor allem im Auge hat, muß nicht auf Umwegen erschlossen werden. Im Schlußsatz der oben ausführlich zitierten zentralen Glosse nennt er sie ausdrücklich beim Namen : Et aucuns appellent telz citoien bourgois, car il pevent estre maires ou esquevins ou conseuls ou avoir aucunez honnorabletés autrement nommees™. Bürgermeister, Schöffen, Ratsleute und ehrbare Bürger, kurz: die Führungsgruppen der mittelalterlichen Stadtgesellschaft, kommen diesem Kommentator zuerst in den Sinn, wenn er erklären muß, was es denn heißt, ein Bürger zu sein. Ob die genannten Amtsträger sich sozial und politisch von denen, die eine „gewisse Ehrbarkeit" haben, unterscheiden ; ob diese Unterscheidung entlang der Linien souveraine domination - office publique honnorable oder grande honorableté - petite honorableté verläuft, geht aus dem Text nicht klar hervor, ist aber zu vermuten. Deutlich wird in jedem Falle: Der citoyen prima facie ist für Nikolaus von Oresme der bourgeois. Amtsfähigkeit und Ehrbarkeit sind nun in der Stadt des Mittelalters Prä87
Nikolaus von Oresme, Politiques, 116b (III.l). Zu habilitas, civilitas vgl. u. Kap. IV Anm. 133. Habilitas als Terminus technicus für „uneingeschränkte Amtsfähigkeit" wird im Florenz des 15. Jahrhunderts beispielsweise zum Kennzeichen des Vollbürgers, habilitas hebt diesen ab von anderen Bürgern, die lediglich im Besitz des Bürgerrechts, der civilitas, sind. Interessanterweise ist es der Florentiner Leonardo Bruni gewesen, der diesen wichtigen Begriff der kommunalen Rechtssphäre in seine Neuübersetzung der Aristotelischen ,Politik' übertragen hat. So heißt es an der entscheidenden Stelle nicht mehr mit Wilhelm von Moerbeke: Bürger sei derjenige cui enim potestas communicandi principatu consiliativo vel iudicativo zukomme. Bruni übersetzt vielmehr: Bürger einer Stadt nennen wir den, cui enim habilitas est participandi potestatis publicae deliberativae et iudiciariae (Texte in Albertus Magnus, Politicorum libri, 204). Donatus Acciaiolus kommentiert diesen Passus knapp und bringt den Inhalt im letzten Satz der Glosse auf den Punkt: ,Habilitas', idestpotestas (ders., Politicorum commentarli, fol. 80r). 88 Nikolaus von Oresme, Politiques, 115b (III.l).
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dikate, die man selten Zunfthandwerkern oder gar ärmeren Schichten der Einwohnerschaft zuerkannte. So verwundert es denn auch nicht, daß Oresme im 6. Kapitel des 3. Buches nur allzu bereitwillig seiner Vorlage folgt und die Banausen (gens de cuisine, bouchieres, chavetiers) ohne Umschweife aus der Bürgerschaft einer guten Politie verbannt. Citoien en bonne policie könnten schließlich nur die freien, abkömmlichen Bürger sein: ...les frans, qui ne sunt pas occupés en œuvres corporelesw. Die Stadtgesellschaft, die in den Oresmeschen Analysen zum Bürgerbegriff Vorbild und Hintergrund gewesen ist, war kein egalitärer Verband, der große Teile der Einwohnerschaft umschloß. Vollbürger dieses Gemeinwesens ist vielmehr allein der sozial hochgestellte und reiche, der „ehrbare Bürger". Die Mitgliedschaft in diesem Verband scheint weniger in der freien Willensentscheidung von einzelnen oder Gruppen ihren Rechtsgrund gehabt zu haben als in Geburt, Reichtum, Familien- und Standeszugehörigkeit. Die so umrissene Stadt war aber dennoch keine ständisch verfestigte und verkrustete Gesellschaftsformation. Als Nikolaus im 7. Buch noch einmal auf „mechanische Künste", auf „Kaufleute" und laboureurs de terres zu sprechen kommt und entscheiden muß, ob man sie unter gewissen Umständen nicht doch in die Bürgerschaft aufnehmen darf, verneint er das unter Bezugnahme auf das 1. Kapitel des 3. Buches zwar erneut und entschieden. Aber er räumt nach einigem Überlegen immerhin ein: Mes nientmoins, aucuns telz ou leur enfans pevent estre peu a peu disposez a aucune vertu, et venir a estât honorable. Die Begründung seiner Auffassung findet der Autor hier nicht in den Büchern des Philosophen, sondern in der Heiligen Schrift. Erhebe doch auch „Unser Herr" den povre laboureur und erhöhe den povre bannause und lasse sie sitzen unter den Fürsten seines Reiches, wie es im Psalm geschrieben steht: ,Suscitons a terra inopem et de stercore erigens pauperem, ut sedeat cum principibus, cum principibus populi sui'90. Die Vorstellung vom sozialen Aufstieg einzelner Personen und Familien, wenn er sich nur langsam, gradweise oder über Generationen vollzog, vertrug sich gut mit der biblisch begründeten Idee einer ständisch gegliederten Welt. In den Kommentaren zur .Politik' des Aristoteles haben interessierte Zeitgenossen die Sprache des politischen Aristotelismus kennen- und dessen Begriffe und Theorien anzuwenden gelernt. Zusammen mit den Kommentaren war die .Politik' aber nicht nur Schule politischen Denkens und Steinbruch, aus dem man Argumente jeder Art einfach wahllos abholen konnte. In diesem Steinbruch, um im Bilde zu bleiben, wurden die Steine Ebd. 124 (III.6). Ebd. 305 (VII.17). Vgl. K. Schreiner, Sozialer Wandel, bes. 247 u. 256 (stufenweiser Aufstieg). Vgl. auch u. Anm. 94 (Johannes Versore Auffassung vom möglichen sozialen Aufstieg einzelner Handwerker unter die „ehrbaren Bürger"). 90
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nicht nur gebrochen, sondern auch bearbeitet, geformt und in großem Stil vorgefertigt. So blieben die Gebäude, die man aus ihnen errichtete, immer gebunden und bezogen auf das kunstfertig aufbereitete Material, aus dem sie bestanden. Man hat aus der Aristotelischen Vorlage Modelle der Königsherrschaft geschmiedet, aber auch, auf mittlerer Ebene gewissermaßen, zahlreiche Gedanken des Stagiriten aus ihrem ursprünglichen Kontext genommen und zu Mustern im zeitgenössischen politischen Diskurs gemacht. So waren beispielsweise Fragen der Geburt in der Stadt, der Abstammung von alteingesessenen Bürgern und die Forderung, vor Erwerb des Bürgerrechts eine bestimmte Zeit in der Stadt gewohnt zu haben, virulente Themen des stadtbürgerlichen Alltags. Da Aristoteles diese Dinge nicht eingehend behandelte, versuchten spätmittelalterliche Kommentatoren der antizipierten Nachfrage gerecht zu werden, indem sie die eigenen Fragen locker an den Aristotelischen Text anknüpften 91 . Das Problem der Abstammung von „bürgerlichen Eltern", von Aristoteles im Zusammenhang der Wesensdefinition des polites für irrelevant erklärt, greift Johannes Versor heraus und macht es, ganz im Sinne der eben postulierten Nachfrage, zu einem der Schwerpunkte seiner Analyse. Doch zunächst zu unserem Hauptthema. „Herrschaft ausüben", mit diesem Argument beginnt Johannes Versor die Ausführungen zum Bürgerbegriff, könne zweierlei bedeuten. Einmal, daß man „herrscht". Das betreffe jedoch nicht alle Bürger. Zweitens kann man attingere ad principatum sagen, wenn jemand „befaßt ist mit Richten oder den princeps wählt oder eine Stimme bei der Wahl desselben hat, und dieser ist im Sinne des Philosophen der Bürger schlechthin". Man müsse aber einmal abklären, fährt der Autor nach den uns mittlerweile nicht neuen Reflexionen fort, was mit " Das von Aristoteles nur in einer Aufzählung verschiedener Personengruppen erwähnte Problem „unehelicher Geburt" ist in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in Stadt und Ordenswesen ein vieldiskutiertes Problemfeld. So nehmen sich viele Kommentatoren dieses Themas auch ausführlicher an, als es ihre Textvorlage fordert. Nikolaus von Oresme, Politiques, 265a: Quant .ii. ou .iii. bastars sunt receus as honneurs l'en dissimule ou l'en ne l'aperçoit gueres; mes quant il sunt grant multitude, chescun voit que ce est inconvenient. Et par ce appert que bastars ou illegitimes ne doivent pas estre citoiens en bonne policie. Die Wichtigkeit der Geburt hatte Oresme bereits bei der Bürgerdefinition betont, vgl. o. Anm. 86. Vgl. auch den Ausschluß der „unehelich Geborenen" von den politischen Funktionen in der,Summa theologica' des Thomas, o. Anm. 31 ; Guido Vernani macht in seiner Kommentierung der Bürgerdefinition des Stagiriten aus seiner Meinung gegenüber Fremden keinen Hehl: Credo autem quod puer natus ex civibus et senex iam decrepitus magis possunt dici cives quam quicumque adventicii (zit. J. Dunbabin, Guido Vernani, 380). Die von Thomas und anderen postulierte Gleichstellung der Fremden mit den Knaben und Greisen in der Bürgerschaft, die generelle Zuordnung aller Gruppen zu den „Bürgern mit gewisser Einschränkung", ging ihm offensichtlich entschieden zu weit. Vgl. auch u. Anm. 95ff.
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III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
„Herrschaft" in einer Stadt denn überhaupt sinnvollerweise gemeint sein kann. Herrschaft, er knüpft an bereits Bekanntes (Petrus von Alvernia), sei von zweierlei Art. Einmal nenne man die summa dignitas Herrschaft. Dieser Begriff sei bei der Diskussion um den Bürgerbegriff jedoch fehl am Platze. Das Wort „Herrschaft" kann darüber hinaus in weitem Sinne gebraucht werden, dann fiele jedwedes öffentliche Amt darunter. Der Terminus technicus für einen solchen Wortgebrauch, Versor erinnert an den Beginn des 1. Buches der ,Politik', sei principatus politicus. „Politische Herrschaft" ist seiner Meinung nach die beste Kennzeichnung bürgerlicher Partizipation. Hier herrschten nicht nur die, die actualiter die Macht hätten oder die „würdig" seien, zur Herrschaft zu gelangen. Mit „Herrschen" werde in dieser Verfassungsform sogar die Tätigkeit oder Funktion dessen adäquat bezeichnet, „der im Raten oder Entscheiden zustimmen kann" ; und genau das sei der Bürger92. Daß „Herrschen" und „Teilhaben" zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte sind, legt Johannes Versor in der zweiten Quaestio des 4. Buches noch einmal nahe. Zu Beginn dieses Textes, der sich mit den mittleren Bürgern befaßt, bekräftigt er Bekanntes: daß Bürger der ist, der am „Raten und Entscheiden" teilhat. Herrschen, Regieren ist mit diesem participare consiliatiuo et iudicatiuo nicht gemeint, denn als Versor darangeht die positiven Merkmale der dues medij zu schildern, zählt er auf : Die Mittleren gehorchten leichter, liebten den princeps mehr als Arme und allzu Reiche, hätten größere Liebe untereinander und, so die erstaunliche Wendung, „mittlere Bürger wollen nicht herrschen (nolunt principan)"93. 91
Vno modo ita quod Otlingens ad principatum principetur, et sic non omnes dues attingunt. Alio modo contingit attingere ad principatum quia attingit ad iudicium vel eligit prineipantem vel habet vocem in eligendo ilium, et ille est secundum philosophum ciuis simpliciter. Nam ciuis est qui habet potestatem communicandi prineipatu consiliatiuo vel iudicatiuo, isti enim sunt actus et operationes principales in ciuitate, et ideo cum aliquis istas operationes attingit modo predicto dicitur simpliciter ciuis (Johannes Versor, Libri Politicorum, fol. 38vb). Vgl. die fast wörtliche Übereinstimmung mit Petrus von Alvernia o. Anm. 49. - Zu „politischer Herrschaft": Sciendum tercio, quod principatus potest capi dupliciter. Vno modo pro summa dignitate, et sic non capitur in proposito. Alio modo capitur principatus large, prout scilicet se extendit ad quemeumque principatum seu officium publicum. Et iste principatus proprie dicitur politicus, vt dicitur primo huius, et sic intelligitur in defìnitione ciuis. Unde tali prineipatu dicitur principali non solum ille qui actualiter habet principatum, ymmo etiam qui dignus est assumi ad huncprincipatum: vel etiam, qui habet assentire in Consilio vel iudicio pertinente ad istum principatum, et talis dicitur ciuis. Ex quibus potest apparere quid sit ciuitas (Johannes Versor, Libri Politicorum, fol. 39ra). 93 Ebd. fol. 63ra-65va. - Bürgerbegriff: ebd. fol 63ra. - Die Mittleren seien die optimi dues: ...quia medij dues faciliter obediunt..., quia medij plus amant principem quam pauperes et nimis diuites, plus etiam amant se mutuo..., quia medij ciues nolunt principari... (ebd. fol. 64r). Zu den „Mittleren" in mittelalterlicher Politiktheorie und Stadtchronistik vgl. U. Meier, Burgerlich vereynung.
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Die Teilung der civitas ist evident. Es sollen offensichtlich regimentsfähige Führungsschichten abgehoben werden von Bürgern, die aus Praktikabilitätserwägungen und im Interesse an einem stabilen Gemeinwesen das Recht haben, „an der beratenden oder richtenden Behörde teilzunehmen" (1275b 19 im Sinne von 1281b 30). Im Zentrum der Ausführungen zum Bürgerbegriff des 3. Buches stehen auch bei Versor die prekären und klärungsbedürftigen Rechte und Aufgaben der zweiten Klasse von Bürgern. Ebenso klar, wie die Abgrenzung der allgemeinen Bürgerschaft nach oben, ist die Ausschließung „unterbürgerlicher" Schichten: Einwohner, serui, Handwerker, Schutzgenossen, Fremde und Frauen. Aber: Handwerker können unter Umständen Bürger werden. Voraussetzung, das gilt nicht nur für die Oligarchie, ist die Erlangung einer gewissen Ehrbarkeit sowie eine hinreichende finanzielle Ausstattung, um „frei für das Gemeinwesen" zu sein 94 . Und in bestimmten Städten haben, wie wir jetzt sehen werden, selbst Fremde eine Chance, Bürger zu werden und in den öffentlichen Angelegenheiten mitzureden. Denn wird die Bürgerdefinition so eng gezogen, daß allein den eingesessenen Bürgern Rat und Gericht zukommt, dann, so jedenfalls könnte eine weitere These Versors modern formuliert lauten, erzeugt das in einer bestimmten Art von Stadtgesellschaft zwangsläufig enorme soziale und politische Spannungspotentiale. Prinzipiell nämlich müßten zwei Arten der Stadt unterschieden werden: Einmal die kleineren ciuitates particulares-, davon abzuheben seien jene großen Menschenansammlungen wie Paris, Brügge und Köln. In diesen Städten nun lebten, vergleichbar in dieser Hinsicht eher mit einem Königreich, „Menschen jedweder Region und Sprache". Der Zuzug so vieler Menschen, noch dazu von oft unterschiedlicher Sprache, beschwöre, da ist Versor sicher, in Städten dieser Größen94
Nichtbiirger: Johannes Versor, Libri Politicorum, fol. 38vb. - Handwerker: Verum est tarnen, quod aliqui artifices possunt aliquando assumi ad principatum seu dignitatem, si inuenti fuerint honorabiles et honore digni, et si locupletes satis etiam fuerint, ita quod libere et sine indigentia vite necessariorum possint reipublice vacare (ebd. fol. 39rb). - Erstaunlich, daß Frauen im Zusammenhang der Bürgerdefinition des 3. Buches überhaupt erwähnt werden, das „wie" verwundert weniger: mulieres vero ciues dici non possunt, quia mulieris consilium est inualidum (ebd. fol. 38vb). Dies Urteil ist denn auch der Diskussion entnommen, die Aristoteles zu Ende des 1. Buches führt (Pol. 1260a lOff). Dort geht es darum, ob die Frau an der praktischen Vernunft teilhat, und es wird die These vertreten, daß sie im Gegensatz zum Sklaven zwar praktische Vernunft besitzt, aber „nicht voll wirksam". In Moerbekes Übersetzung: Der Frau komme ein consiliativum invalidum zu; daraus macht schon der Aquinate: eius [seil, femine] consilium est inualidum (Thomas von Aquin, Sentenza Politicorum, A 115a). In der ,Summa theologica' hat Thomas die mulieres in einem Zuge mit den cives secundum quid behandelt, vgl. o. Anm. 31. Zur Abgrenzung von Frauen und Sklaven bei Thomas vgl. C. Flüeler, Servitus, bes. 288ff, zu Frauen in der politischen Theorie A. Löther, Unpolitische Bürger.
110 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie Ordnung ständig die Gefahr von Zwietracht (dissensio), Aufruhr (seditio) und Zerstörung {perditio) herauf. Die Integration Fremder ist daher drängendes Alltagsproblem. Wie aber soll man mit den Zuwanderern umgehen? Um die concordia ciuium strukturell zu festigen, gelte es daher, vom allgemein anerkannten und in Kleinstädten auch mit Erfolg praktizierten Brauch, Fremde u n d Ausländer von Amt u n d Würde auszuschließen, mit Bedacht abzuweichen u n d diese Gewohnheit sachte zu modifizieren. Versor fordert Mut zu neuen Integrationsstrategien: In den volkreichen Städten sollten „Menschen aus verschiedenen Regionen u n d unterschiedlicher Zunge auf irgendeine Weise an der Herrschaft partizipieren, damit Ankömmlinge und Fremde auf gewisse Weise Bürger sind". N u r so könnten diese Personengruppen in die Stadtgesellschaft eingebunden werden, nur so lernen, ihre neue Stadt zu lieben. Die genannte prophylaktische Maßn a h m e zur Wahrung des inneren Friedens hat aber auch eine klar bestimmte Grenze: „Die wirklichen und geborenen Bürger sollten mehr und größere Herrschaftsbefugnisse haben, mehr und höhere Würden u n d öffentliche Ämter bekleiden als die Neuankömmlinge und Auswärtigen" 9 5 . Im 5. Buch, wo es um die Ursachen von Aufruhr und Verfassungswandel geht, schärft Johannes seinen Lesern diese Grenze noch einmal ein und plädiert für eine langsame Eingliederung der Neubürger in die Bürgergemeinde: ad euitandum seditiones extranei non sunt statim in ciues recipiendiH. Die Ausführungen des Pariser Magisters aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zeugen von einem lebendigen Gegenwartsinteresse. Er macht sich Gedanken über beunruhigende Probleme seiner Zeit. Absicht seiner Rat95
...notandum est, quod duplex est ciuitas, quedam est ex hominibus diuersarum regionum et diuersorum ydeomatum indifferenter constituía, sicut est parisius brugis colonia et similes in quibus reperiuntur homines cuiuscumque regionis vel lingue existant. Et talis ciuitas magis habet naturam regni ymmo potius vniversi, quam naturam particulars ciuitatis, et ideo ipsa est perfectissima et completa. Alia est ciuitas quodam modo particularis, in qua non reperiuntur tot diuersitates hominum...Sic etiam maxime vitanda est dissensio in communitate, seu seditio et perditio, quia sicut per concordiam ciuium conflrmatur et conseruatur ciuitas in suo esse, ita per discordiam et seditionem dissipatur. Suppositis istis dicitur ad dubium, quod expedit in ciuitate communi siue vniuersali diuersarum regionum vel ydeomatum homines principatum aliquem participare, et ita adueñas et extráñeos ibidem aliqualiter ciues esse. Patet, quia hec ciuitas magis diligetur et amabitur ab incolis eius seu habitatoribus. Si enim adueñe et extranei non possent honoribus et dignitatibus in ea participare sicut intranei, haberent causam inuidie et minoris dilectionis seu amoris ad illam ciuitatem: et inde oriri possent seditiones et partialitates. Videtur tarnen magis expedire, vt proprii et innati ciues habeant plures et maiores principatus dignitates et officia politica quam adueñe seu extranei. Sed in aliis ciuitatibus particularibus non expedit aduenam et extraneum participare principatum et dignitatem (Johannes Versor, fol. 39v). 96 Ebd. fol. 78ra.
5. Grade der Bürgerschaft und Arten der Herrschaft
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schläge ist, die öffentliche Ordnung großer Städte zu stabilisieren und unter Bedingungen hoher sozialer Mobilität einen breiten Konsens mit zumutbaren Kosten für die herrschenden Gruppen zu wahren. Die ehrbaren Bürger der Städte Paris, Brügge und Köln wären, hätte man sie denn gefragt, sicher nicht vorbehaltlos zufrieden gewesen mit der pragmatischen Begründung einer vorsichtigen Politik der Eingliederung von Zuwanderern. Einverstanden gewesen wären sie schon eher mit der Prämisse, von der die Überlegung des Johannes Versor ihren Ausgang nahm: Daß nämlich der in der Stadt und „von Bürgern Geborene" bei der Zuteilung von Amt und Würde den Ankömmlingen und Fremden vorzuziehen sei: Werde er doch von seinen Mitbürgern mehr geliebt und liebe er seinerseits die Stadt und ihre Güter mehr als die Neuen. Und wohlwollend zugestimmt hätten sie vermutlich auch der Auffassung dieses besonders in Mitteleuropa vielgelesenen Kommentators der Aristotelischen ,Politik', daß der natus ex ciuibus die Regierungsgeschäfte mit größerem Engagement betreibe als derjenige, der erst kürzlich in die Stadt gezogen sei97. Der amor civitatis eines „Zugezogenen" ist von alteingesessenen Bürgern nicht erst und nicht nur im Mittelalter mißtrauisch beargwöhnt und in Zweifel gezogen worden.
5.
Grade der Bürgerschaft und Arten der Herrschaft. Versuch einer idealtypischen Modellbildung auf der Textgrundlage der Politikkommentare
Die Beschäftigung mit den Kommentaren zur ,Politik' des Aristoteles hat kein einheitliches Bild vom Bürger und seiner Stadt, von Bürgergemeinde und politischer Partizipation ergeben. Eindeutige Bilder, die unmißverständlich soziale Gruppen und politische Rechte bezeichnen, waren der mittelalterlichen politischen Theorie insgesamt fremd. Ein und derselbe Autor arbeitete in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen, nicht immer deckungsgleichen Begrifflichkeiten und Traditionen. Die Erläuterung eines Gedankens und die Einordnung in bekannte gelehrte Diskurse waren wichtiger als durchgängige Konsistenz der gebrauchten Begriffe und Theorien. In diesem Sinne ist die Kommentarliteratur durchaus kein Sonderfall. Die eben beschriebene Eigenart politischer Wissenschaft findet sich hier allerdings um so mehr, als es gattungsgemäß nicht um Theo91
Unde ceteris paribus natus ex ciuibus alicuius ciuitatis seu in aliqua ciuitate, in honoribus et dignitatibus est adueñe et extraneo preferendus, tum quia magis diligitur a ciuibus, tum quia magis diiigit ciuitatem et eius bona, tum etiam quia magis verisimile est innatum et intraneum magis sollicitare in regimine ciuitatis quam extraneum et
aduenam (ebd. fol. 39va).
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III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
rie, sondern um Kommentierung von Theorie geht. Gerade unter dieser Voraussetzung ist es erstaunlich, daß bereits im 13. Jahrhundert Grundmuster der Argumentation ausgebildet worden sind, die in ihren Akzenten u n d Schwerpunkten deutlich anders lagen als der kommentierte Text. Dabei weichen die Kommentatoren im einzelnen oft weniger von Aristoteles ab, als es, wenn man das entwickelte Gesamtbild betrachtet, zunächst scheint. Gerade deshalb ist es wichtig, noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, daß die im folgenden zusammengefaßte „Theorie des Bürgers und der Stadt" ein Stück weit Produkt unserer Interpretation ist. Da sich die so herausgearbeiteten Charakteristika durchgängig u n d über zwei Jahrhunderte aufweisen lassen, ist jedoch die A n n a h m e nicht unbegründet, daß die Autoren selbst die Dinge auf eben diese Weise wahrgenommen haben. Alle behandelten Autoren haben die in einer civitas lebende Bevölkerung zunächst in zwei, grundsätzlich aber in drei politisch unterschiedlich berechtigte Klassen aufgeteilt. Die erste und die letzte G r u p p e stellen die Kommentatoren dabei kaum vor analytische Probleme. Das sind einerseits diejenigen, denen man ein „angestammtes" Recht auf Herrschaft, mindestens aber die volle Amtsfähigkeit verdächtig diskussionslos zuerkennt: die „Bürger schlechthin", die Ehrbaren oder, am häufigsten genannt, die principes. Sowohl im Mittelalter als auch in der neueren Forschung handelt es sich, aus unterschiedlichen G r ü n d e n , um die am wenigsten problematisierte Teilmenge. Meist wird sie als eigenständige Kategorie gar nicht Gegenstand der Reflexion. Am anderen Ende der sozialen Rangordnung, ebenfalls „selbstverständlich", gibt es d a n n die große Zahl der von jeglicher Partizipation Ausgeschlossenen : die Menschen der multitude bestialis oder, im engeren Kontext der Bürgerdefinition, die von den einzelnen Autoren unterschiedlich zu den „Bürgern mit Einschränkung" gerechneten oder ausgeschlossenen G r u p p e n der Frauen, Kinder, Knechte, Sklaven, Handwerker und Fremden. Zwischen den genannten Polen liegt die interessanteste G r u p p e : die „Mittelschicht". Sie umfaßt, je nach Autor und Diskussionszusammenhang, die Mehrzahl der Personen aus der multitude bene ordinata, mitunter den aktualiter nicht-herrschenden Vollbürger oder Teile der „Bürger mit gewisser Einschränkung". Die spätmittelalterliche Bürgerdebatte kreist vornehmlich um diese Gruppe, bei der es nicht um souveraine domination, summa dignitas, principan geht, aber doch um „öffentliche" oder „politische" Ämter, um Teilhabe im Sinne eines principatus secundum appositionem oder eines weitgefaßten participare Consilio et iudicio. Die vornehmsten Rechte der zweiten Bürgerklasse sind Raten, manchmal Entscheiden bzw. Richten und vor allem Wählen. Petrus von Alvernia hat das mit potestas in eligendo et corrigendo principem auf den Begriff gebracht. „ W a h l " wird häufig so definiert, daß noch die Akklamation zur Aufstel-
5. Grade der Bürgerschaft und Arten der Herrschaft
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lung von Wahlmännern und die Bestätigung der Gewählten unter den Begriff fallen. So kann man auch den unteren Strata der Bürgerschaft gefahrlos politische Partizipation anbieten. Im Vergleich zu Aristoteles sind die Unterbelichtung der „Herrschaft im engen Sinne" sowie die Betonung und Gewichtung des Wahl- und Konsensgedankens vielleicht die signifikantesten Merkmale der behandelten Texte: Nicht Amtswechsel, nicht Wählbarkeit, sondern aktives Wahlrecht und politische Beteiligung an Willensbildungsprozessen der Herrschenden sind der politische Kern des weiten Bürgerbegriffs im Aristotelismus des Spätmittelalters. Der Bürgerbegriff der Kommentatoren ist dehnbar genug, um, abgesehen von der Tyrannis, auf alle Herrschaftsformen übertragen zu werden. In seiner allgemeinsten Form kann er dann, wie bei Petrus von Alvernia, auch cives subiecti einschließen und jene, die in einem Königreich weder mitreden noch mitregieren dürfen, aber doch passive partizipieren. Trotz der enormen Flexibilität einer solchen Begriffsbildung sind die mit dem Aristotelischen Bürgerkonzept zusammenhängenden Themen und Probleme vor allem an Beispielen und vor dem Hintergrund der Stadtgesellschaft diskutiert worden. Allein in der Stadt, und das haben nicht nur Nikolaus von Oresme und Johannes Versor deutlich gesehen, können die aktuell Herrschenden und die Bürger, die wählen, raten und richten, aus ein und derselben politisch berechtigten Klasse stammen. Ehrbarkeit, Amtsfähigkeit, Abkömmlichkeit und Tugend kennzeichnen diesen Personenkreis. Bei näherem Hinsehen ergibt sich meist auch hier, daß die einheitliche politische Klasse sozial erneut auseinanderfällt in Bürger, die herrschen oder das Recht haben, die höchsten Ämter selbst zu bekleiden, und all die anderen, die in irgendeiner Weise raten, wählen und akklamieren dürfen. Handwerker werden von einigen Autoren zur letztgenannten Teilgruppe gezählt, von anderen aus der Bürgerschaft ausgeschlossen. Sozialen Aufstieg und damit den Erwerb politischer Partizipationsansprüche konzediert man unter bestimmten, allerdings klar eingegrenzten Bedingungen. So bei Nikolaus von Oresme im Falle eines langsamen venir a estât honorable oder, wie bei Versor, in der Möglichkeit einer Integration sonst vom Bürgerrecht ausgeschlossener Gruppen aus politisch-pragmatischen Gründen. Noch bei einem anderen Grundgedanken der Aristotelischen Philsophie ist die Stadtgesellschaft bevorzugtes Referenzobjekt der mittelalterlichen Autoren gewesen. Albertus Magnus, Nikolaus von Oresme und Johannes Versor können sich „politische Herrschaft" zunächst und am einfachsten als an Gesetze gebundene Stadtherrschaft im Verband eines Königreiches (Albertus, Oresme) oder als Herrschaft unterhalb der summa dignitas vorstellen (Versor). Wie beim Bürgerbegriff, wie in der Diskussion um die politische Teilhabe von einzelnen und Gruppen am Gemeinwesen löst sich
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auch hier der von Aristoteles angeführte Amtswechsel als Kriterium des Politischen auf in eine gestufte Ordnung und die Forderung einer Bindung des princeps an die leges civitatis. In einem brillanten Aufsatz hat Nicolai Rubinstein erst kürzlich die „republikanische" Linie der Begriffsgeschichte des Wortes politicus herausgearbeitet. Alberts Interpretation sieht er dabei lediglich als Beispiel für die Schwierigkeiten der ersten Kommentatoren mit dem Aristotelestext98. Unsere Belege aber sprechen dafür, daß „politische Herrschaft" im Mittelalter noch eine andere Konnotation gehabt hat: Sie ist nicht nur an Gesetze gebundene, gewählte Herrschaft auf Zeit über Freie; „politische Herrschaft" kann auch eine Herrschaft zweiten Grades unterhalb der obersten Gewalt, auf kommunaler oder regionaler Ebene bezeichnen. In einer von Kaisertum und Monarchie geprägten Zeit sicher keine allzu fernliegende Auffassung. Wenn man unsere Befunde abheben will von der bisherigen Forschung, können drei Gesichtspunkte thesenartig angeführt werden: 1. Die Kommentatoren waren in erster Linie am weitergefaßten Bürgerbegriff des Aristoteles interessiert (1275b 19), am Bürger, der richtet und rät. Der Bürger im engen Sinn (1275a 23), civis simpliciter, wurde, manchmal unter Ausblendung des Amtswechsels, zur „herrschenden Klasse". Er, der herrscht, wurde sehr knapp behandelt, es bestand offensichtlich kein Erklärungsbedarf. Communis opinio der Forschung war bisher: Kommentatoren sahen den Bürger als den, der herrscht, rät und richtet. Davon abgehoben, in Ausdeutung einer mißverstandenen Aristotelesstelle über den Status von Kindern und Greisen, hätten die Interpreten des Stagiriten dann den Begriff des civis secundum quid kreiert, der selbst dues obedientes ut serui umfassen könne". Dagegen ist jetzt zu sagen: Schon im Bürger, der herrscht, richtet und rät, nichts anderes eigentlich als die Ineinanderblendung des engen und weiten Aristotelischen Bürgerbegriffs, steckte die Möglichkeit der Zweiteilung in solche, die herrschen (1275a 23), und andere, die raten und richten dürfen (1275b 19). Hier genau setzte der Diskurs über die beiden multitudines (1281b 30) an und bestimmte die multitude bene ordinata als Bevölkerungsteil, dem aus Gründen politischer Stabilität mindestens ein Recht " N. Rubinstein, Politicus, 44 Anm. 20 (Albert). Auch bei V. Sellin, Politik, 802806, findet sich diese für unsere Fragestellung aufschlußreiche Dimension des Begriffs nicht. " Am pointiertesten in einem der wichtigsten Beiträge zu diesem Thema, bei M. Grignaschi, Civis, bes. 82f ; aufschlußreich auch, daß Grignaschi die von ihm selbst im Anhang edierte Stelle aus den Quaestionen des Petrus über die „passive" Teilhabe, die dem civis secundum quid aktives Wahlrecht und Zustimmung zur Wahl zubilligt (ebd. 96), im eigenen Text nicht nutzt. Die Meinung Grignaschis wird referiert bei C. Flüeler, Rezeption, 98f.
5. Grade der Bürgerschaft und Arten der Herrschaft
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des Ratens und Entscheidens, des Wählens und Zurechtweisens einzuräumen war. Principari stand für die eigentliche Herrschaftsausübung, während participare auch, mitunter vor allem die Konsens-, Kontroll- und Wahlrechte meinte. Die Tätigkeitsfelder dieser Gruppe von Bürgern konnte man nochmals ausweiten und hatte dann: Richten (meist im Sinne von Entscheiden), Raten, Zurechtweisen, Wählen, Zustimmen, Anteilhaben am Rechtsschutz der Bürgerschaft. Der civis secundum quid war wesentlich diesem Teil der Bürgerschaft zugeordnet, bezeichnete mitunter dessen untere Strata. Aber: secundum quid, secundum appositionem blieben immer Relationsbegriffe, sie kennzeichneten Gruppen nur nach dem, was sie nicht hatten. So konnten sie einmal, im Gegensatz zu herrschenden Bürgern, für den Bürger allgemein stehen, dann wieder für soziale Gruppen gebraucht werden, die innerhalb der Bürgerschaft am unteren Rande angesiedelt waren. Eine aristotelisch-technische Definition des Bürgerbegriffs der mittelalterlichen Kommentatoren könnte lauten : Ihr civis simpliciter folgte der Bestimmung in 1275a 23 mit dem Akzent auf „Herrschaft ausüben". Bürger im allgemeinen war gefaßt nach 1275b 19, interpretiert im Sinne von 1281b 30; politische Teilhabe in irgendeinem Sinne galt als wesentlich. Der weitere Begriff konnte schließlich noch einmal ausgedehnt werden und bezeichnete dann selbst Personen, die, wie die Untertanen in einem Königreich oder Einwohner einer Stadt, lediglich Nutznießer der Rechtsordnung waren. 2. Im Zusammenhang damit stand die Herausarbeitung zweier Herrschaftsbegriffe, die variabel applizierbar waren auf das Spannungsfeld Königtum - Kommune oder, innerhalb des Gemeinwesens, herrschende Bürger - durch Raten, Wählen und Zustimmen partizipierende Bürger. Im ersten Fall war der Terminus technicus, der die städtische Herrschaftsform bezeichnete, regimen politicum, principatus politicus; im zweiten Fall konnte er das auch sein, wurde dann aber weiter differenziert entlang der Linie: Herrschen - Richten, Raten, Wählen, Zustimmen. Oder man unterschied generell zwei Arten von attingere ad principatum, wobei das Richten, Wählen, Zustimmen „Herrschaft mit gewissem Zusatz" war. Daß principatus politicus auch Herrschaft zweiten Ranges, im Gegensatz zur Königsherrschaft, und Herrschaft im Sinne von Teilhabe unterhalb der Ebene des obersten Magistrats meinen konnte, daß dies über mindestens zwei Jahrhunderte nachweisbar Ansicht vieler Vertreter der schulmäßig betriebenen politischen Wissenschaft war, ist bisher noch nicht thematisiert worden. 3. Die Analyse des Begriffs zoon politikon (1253a 2ff) verlockte manche Kommentatoren zu einer vorschnellen Identifikation des animal civile mit dem civis und führte zu einer engen, etwas anachronistisch anmutenden
116 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie Verbindung der Begriffe „Mensch" und „Stadtbürger". Dies ist nicht, wie man bei der Behandlung einzelner Kommentatoren in Nebensätzen manchmal lesen kann, individuelles und kurioses Mißverstehen des Textes. Es handelt sich vielmehr um ein durchgehendes, daher ernstzunehmendes Interpretament. Die historische Wirklichkeit, insbesondere der städtische Lebensraum der Kommentatoren, hat bei vielen der genannten Akzentverschiebungen Pate gestanden. Ein exaktes Maß für den Einfluß der gesellschaftlichen Realität auf das Denken der Kommentatoren wird sich allerdings nicht ermitteln lassen: Denn die „andere Wirklichkeit", der zu kommentierende Text, war und ist für jeden Gelehrten eine Welt, die ihre eigene Existenzberechtigung hat und eigenen Gesetzen folgt. Welche der möglichen Wirklichkeiten sich in Texten spiegelt, ist nicht immer so klar, wie es scheint.
6.
Wahl und Zustimmung als Elemente konsensgestützter Herrschaft. Die Bürgerkonzeption der Politikkommentare im Kontext der spätmittelalterlichen scientia politica
Es ist aufschlußreich und reizvoll, die an den Politikkommentaren gewonnenen Ergebnisse mit der Theorie des Bürgers und der Stadt in anderen Gattungen politischer Philosophie des Mittelalters zu vergleichen. Dies soll im folgenden an ausgewählten Beispielen demonstriert werden. Gerade an den großen und außergewöhnlichen Gestalten der Theoriegeschichte kann man zeigen, wie sehr noch die selbständigsten und originellsten Gedankengebäude der Semantik jener schon in den Kommentaren vollständig ausgebildeten, allgemeinen „Sprache des politischen Aristotelismus" verpflichtet bleiben. Abhängigkeiten und Erstbelege sind, um es noch einmal zu sagen, historisch interessant, aber methodisch unerheblich. Es geht um den Nachweis ein und derselben Struktur. An erster Stelle soll das meistgelesene Werk politischer Theorie dieser Zeit befragt werden, die in zehn mittelalterliche Sprachen übersetzten ,De regimine principum libri III' des Aegidius Romanus (1243/47-1316)100. Nicht nur Theologen und Philosophen, auch die gelehrten Juristen und Notare der Zeit, um die es im nächsten Kapitel geht, bezogen ihre Kenntnisse der praktischen Philosophie des Aristoteles weitaus häufiger aus die100 Vgl. W. Berges, Fürstenspiegel, bes. 211-228. Lateinische Fassung 1277-79; französisch ca. 1282, 1330 u. 1444; italienisch 1288 u.ö.; kastilianisch 1345; katalanisch; portugiesisch; mittelhochdeutsch; mittelniederdeutsch etwa 1400; englisch um 1400 und 1411/12; altschwedisch 1335-50; hebräisch (ebd. 320-27). Zu dieser Schrift vgl. auch J. Miethke, Politische Theorien, 89-94; T. Strove, Staatsauffassung, 178-196.
6. Wahl und Zustimmung als Elemente konsensgestützter Herrschaft
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sem Fürstenspiegel als aus den Kommentaren zur .Politik'.101 Aegidius, Augustinereremit und Thomasschüler, interessieren Bürger und Stadt nur am Rande; da jedoch die .Politik' Grundlage und ständiger Referenztext seiner Ausführungen ist, kann er eine zumindest plakative Einordnung dieser Gesellschaftsformation nicht vermeiden. So behandelt er im 3. Buch pflichtgemäß das Sechserverfassungsschema. Nachdem Monarchie und Aristokratie sowie deren „schlechte" Varianten, Tyrannis und Oligarchie, vorgestellt sind, fahrt Aegidius fort: „Drittens können Herrschaftsformen danach unterschieden werden, daß in einer ciuitas viele herrschen". Der italienische Autor kennt, obwohl er meist in Paris lebt und seinen um 1280 verfaßten Fürstenspiegel dem zukünftigen König von Frankreich gewidmet hat, die Verhältnisse in seinem Geburtsland gut; so exemplifiziert er die Analyse der dritten guten Herrschaftsform denn auch an Italien: „Allgemein nämlich herrschen in den Städten Italiens die vielen, d.h. der ganze populus". Man wird populus getrost mit popolo, der korporativ verfaßten Bürgerschaft der italienischen Kommunen dieser Zeit, wiedergeben dürfen. In diesen Städten, Aegidius überträgt juristische und Aristotelische Kategorien auf die Stadtgesellschaft, sei bei der Statutengesetzgebung, bei der Wahl der Podestà (potestates) und bei deren Zurechtweisung der consensus totius populi erforderlich. Mehr als der eingesetzte Herrscher aber herrsche dort das Volk, das diesen „wählen und zurechtweisen (eligere et corrigere)", das Gesetze erlasse könne, an die sich der Podestà zu halten habe. Das Ziel dieser gubernatio populi genannten Herrschaft ist, das bonum commune „der armen, der mittleren Personen und der Reichen und aller gemäß ihrem Stand" zu verwirklichen102. Die Verfassung des Popolo, das 101
Die Abhängigkeit z.B. des Bartolus vom Fürstenspiegel des Aegidius ist Thema bei D. Quaglioni, Regimen ad populum. 102 Tertio possunt distingui principatus, ex eo quod in ciuitate dominantur multi, communiter enim in ciuitatibus Italiae dominantur multi, vt totus populus; ibi enim requiritur consensus totius populi in statutis condenáis, in potestatibus eligendis, et etiam in potestatibus corrigendis. licet enim semper ibi adnotetur potestas vel dominus aliquis, qui ciuitatem regat; magis tarnen dominatur totus populus, quam dominus adnotatus, eo quod totius populi est eum eligere et corrigere, si male agat: etiam eius totius est statuta condere, quae non licet dominum transgredí. In tali ergo principatu, vbi dominantur multi vt totus populus, vel intenditur bonum commune egenorum, mediarum personarum, et diuitum, et omnium secundum suum statum...Principatus tarnen populi si rectus sit, eo quod non habeat commune nomen, Politia dicitur. Nos autem talem principatum appellare possumus gubernationem populi (Aegidius Romanus, De regimine principum, fol. 268v f)· Multi vt totus populus erinnert an die korporationstheoretische Unterscheidung omnes ut singuli, omnes ut universi: nur letztere sind Träger korporativer Handlungen, deren Legitimität im consensus communis liegt, vgl. O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 391. Dazu und zur Statutengebung der Städte vgl. u. Kap. IV. 1.
118 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
Recht der Statutengebung, die Wahl des auf Zeit amtierenden „Herrn" und der Syndikatsprozeß, der hohen Funktionsträgern am Ende ihrer Dienstzeit gemacht wird, treten dem Leser klar vor Augen. Wichtiger aber ist folgendes: Neben Wortgebräuchen wie multi vi totus populus und condere statuta, die der römischrechtlichen Korporationstheorie der Zeit entlehnt sind, finden sich die zentralen Termini des weiteren Bürgerbegriffs eligere et corrigere ebenso wieder wie die Trennung der direkten Herrschaftsausübung von der Teilhabe qua Wahl, Kontrolle und Zustimmung. Der Sonderfall populärer Gewalt allerdings und der Umstand, daß der Podestà nicht der eigenen Bürgerschaft angehörte, unterstreichen das in besonderer Weise und geben dem ganzen eine wirklichkeitsnahe und andersgeartete Färbung 103 . Das Wesen „politischer" und „königlicher Herrschaft" zu klären, ist professionelle Aufgabe der Kommentatoren gewesen. Sie haben das oft in erstaunlicher Weise gemeistert, sind im festgefügten Rahmen ihrer Gattung aber selbst zu keiner theoretisch stringenten und befriedigenden Lösung gelangt. Es blieb Ptolomaeus von Lucca (1236-1326) überlassen, diese Problematik aufzugreifen und zu einer verallgemeinerbaren Theorie der Herrschaft weiterzubilden. Im Anschluß an die Unterscheidung, die Aristoteles zwischen dem „Königlichen" und dem „Politischen" macht, entwickelt der Thomasschüler Ptolomaeus in der Fortsetzung des Fürstenspiegels seines Lehrers eine folgenreiche Theorie des regimen politicum104. „Politische Herrschaft" ist derzufolge ein dominium plurium. Im Gegensatz zum dominium despoticum et regale zeichnet sich die politische Herrschaftsform aus durch die Wahl der rectores, durch zeitlich befristete Ämter und durch den Umstand, daß die Herrschaftsausübung der auf solche Weise bestellten Personen nicht ad arbitrium, sondern „gemäß den Statuten" der jeweiligen Stadt geschieht. In seiner eigenen Zeit sieht Ptolomaeus diese Art der Herrschaft, welche die einzig angemessene sei unter Menschen „von tapferem Sinn und Kühnheit des Herzens", vor allem in den „italienischen Städten". Er erkennt sie aber auch in den Städten Galliens und Germaniens, in denen die Menschen ebenfalls politice leben. Dort allerdings mit dem Unterschied, daß sie in einigen Dingen „beschränkt durch die Macht des Königs oder Kaisers" sind. Politice vivere
103
Zur Podestà-Verfassung und zur Herrschaft des Popolo vgl. L. Martines, Power and Imagination, 50-78 u. 475-478 (Lit.). 104 Zur politischen Philosophie des Ptolomaeus vgl. C.T. Davis, Ptolemy and the Roman Republic; ders., Republican Propaganda: Ptolemy; D. Sternberger, Drei Wurzeln, 58-84; T. Struve, Staatsauffassung, 165-178; zum real- und theoriegeschichtlichen Hintergrund vgl. N. Rubinstein, Marsilius and Italian Political Thought, bes. 51-54.
6. Wahl und Zustimmung als Elemente konsensgestützter Herrschaft
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bezeichnet eine Lebens- und Verfassungsform, in der die Herrschenden quadam civilitate regieren und das Regiment „angenehm" (suave) ist105. Menschen von einiger Tugend leben nach der Ansicht des Autors dieses Fürstenspiegels, den man im Mittelalter für ein Werk des Thomas von Aquin gehalten hat, also vornehmlich in der freien Stadt oder der Stadtrepublik. Der Mensch als animal civile, sicher hatte Ptolomaeus diese Stelle im Politikkommentar seines Lehrers gekannt, ist eben, wenn er nicht schlecht ist oder ein widriges Schicksal ihn zum Bauern und Hirten gemacht hat, in der Sicht der Zeit zuerst und zunächst habitator civitatis. Zwischen dem Menschen als „politischem Lebewesen" und dem „tugendhaften Bürger", der politice in einer Stadt lebt, gibt es, wie wir gesehen haben, Verbindungslinien und fließende Übergänge. Civitas und Kirche sind bei Ptolomaeus von vergleichbarer Struktur. Denn genau wie die ecclesia ein corpus mysticum, d.h eine differenzierte Einheit ist, umgreift die civitas verschiedene Ordnungen: Ptolomaeus sieht dort distinctes gradus in civibus quantum ad domos et familias, quantum ad artes et officia. Geschlechter-, Zunft- und Herrschaftsordnung werden verbunden durch die „einigende Kraft" der Liebe: „Alles nämlich ist durch jenes Band der Gemeinschaft, das die Liebe ihrer Bürger ist, geeint"106. Schon kurz vorher im Text ist das Motiv angeschlagen worden. Denn es sei allein „die Kraft der Liebe, die eine Stadt gründet und erhält"107. Ähnliches hatte auch Giordano da Pisa in seiner Predigt an die Florentiner gesagt108, aber anders als Giordano im gesprochenen Wort, muß der schreibende Predigermönch seine Quellen nennen: Es sind Dionysius und Augustinus.
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Ptolomaeus von Lucca, De regimine principum, 284ff: Buch II, Kap. 8, und 325ff: IV. 1 u. IV.2 („politische Herrschaft"; Unterscheidung principatuspoliticus principatus despoticus, regimen politicum - regimen regale; Bezug auf Italien, Germanien; civilitas, regimen politicum suave). - Qui autem virilis animi et audacia cordis, et in confidentia suae intelligentiae sunt, tales regi non possunt nisi principatu politico...Tale autem dominium maxime in Italia viget (ebd. 336a: IV.8); diese Zuschreibung bezieht er aber nicht auf das ganze Italien seiner Zeit - im Königreich Neapel und in der Lombardei, ausgenommen Venedig, könne man nur per viam tyrannicam regieren - , sondern allein auf die Stadtrepubliken (ebd.). 106 Ebd. 331a: IV.4 (distincti gradus; Omnia tarnen unita in vinculo societatis, quod est amor suorum civium). Zu den Folgen der Übertragung des Begriffs corpus mysticum auf irdische Gemeinwesen vgl. o. Anm. 55. 107 Amor est virtus unitiva, ut Dionysius tradii... virtus amoris, qui civitatem constituit et conservât, ut Augustinus dicit (Ptolomaeus von Lucca, De regimine principum, 330a; unsere Ed. bringt ebd. Anm. 2 u. 3 die genauen Nachweise: „Dion., De div. Nom., c. IV, par. 15 (PG 3, 714 B)...S. Aug., De Civ. Dei, XIV, c. 28 (PL 41, 436)"). 108 Città tanto suona come amore, e per amore s'edificaro le cittadi (zit. o. Kap. II Anm. 71).
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III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
Mit Ausnahme der theologischen Dimension seiner Idee von der Liebe der Bürger untereinander, die eher dem im letzten Kapitel dargestellten Diskurs angehört109, sind uns alle Theoreme der politischen Philosophie des Ptolomaeus von Lucca aus den Politikkommentaren bekannt. Die Verbindung der vorliegenden Elemente der Sprache des politischen Aristotelismus zur Theorie aber ist originäre Leistung des Dominikaners. Das gleiche kann man von Marsilius von Padua (t 1342/43) sagen, dem vielleicht herausragendsten politischen Philosophen des Mittelalters110. Da die Philosophie des , Defensor pacts' nicht Gegenstand unserer Ausführungen sein kann, werden wir uns auf einen zentralen Punkt des Werkes beschränken. Marsilius schreibt: Civem autem dico, secundum Aristotelem 3o Politice, capitulis 1°, 3° et 7°, eum qui participai in communitate civili, principatu aut consiliativo vel iudicativo secundum gradum suum. Die deutsche Übersetzung von Walter Kunzmann lautet: „Bürger nenne ich nach Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 1, 3 und 7, wer in der staatlichen Gemeinschaft an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat, je nach seinem sozialen Rang". Auch die englische Übertragung von Alan Gewirth unterscheidet die „governmental, deliberative, or judical function" der Partizipation 1 ". Wenn, wie wir nachzuweisen versucht haben, der zentrale Punkt der mittelalterlichen Bürgerdiskussion nicht Herrschaft qua Regierung (principari), sondern Teilhabe (participare) unterhalb der Regierungsämter eines Gemeinwesens gewesen ist, spricht vieles dafür, daß man anders übersetzen kann: Man sieht, wenn man die Dinge unter dieser Perspektive betrachtet, eigentlich auch nur zwei Funktionen oder „Behörden": nämlich den principatus consiliativus und den principatus iudicativus. „Bürger" wäre 109 Theologisches und philosophisches Denken ist im übrigen nicht so streng getrennt, wie unsere Aufschlüsselung verschiedener Diskurse suggerieren könnte. Als z.B. Nikolaus von Oresme an der o. Anm. 77 zitierten Stelle den Begriff cité erklären soll, erwähnt er unter den verschiedenen Bedeutungen auch, daß damit die Himmelsstadt gemeint sein könne: Item, la glorieuse compagnie de Paradis est appelee cité. 110 Die folgende Auswahl aus der umfangreichen Literatur zu Marsilius bietet einen guten Zugang und weiterführende Lit.: H. Bielefeldt, Bürgerrepublik, 101-127; A. Black, Guilds and Civil Society, 86-95; M. Damiata, Marsilio; W. Kölmel, Regimen Christianum, 518-534; Marsilio da Padova (Kongressbeiträgen aus dem Jahre 1980); J. Miethke, Politische Theorien, 111-116; ders., Marsilius; T. Struve, Staatsauffassung, 257-288; W. Stürner, Peccatum, 202-207; H.G. Walther, Imperiales Königtum, 161-175; M. Wilks, Corporation. Fast ein Kommentar zu diesem Werk: A. Gewirth, Marsilius and Medieval Political Philosophy, vgl. bes. 167-199. Zum historischen Hintergrund vgl. N. Rubinstein, Marsilius and Medieval Political Thought (vgl. auch dessen Aufsatz in den gen. Kongressbeiträgen). 111 Marsilius von Padua, Defensor Pads, 120 (lat.Text)/121 (deutsch), (Teil I, Kap. 12, § 4). Englisch: A. Gewirth, Marsilius and Medieval Political Theory, 175.
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im Text des Marsilius dann der, der „in der staatlichen Gemeinschaft an der beratenden oder richtenden Gewalt teilhat". Das entspräche exakt der weitergefaßten Aristotelischen Definition des polîtes als desjenigen, dem, so übersetzte Wilhelm von Moerbeke 1275b 19, die potestas communicandi principato consiliativo vel iudicativo zustehe. Vom „aktuellen" Regieren, vom Herrschen im eigentlichen Sinne, ist, wenn man die Stelle so liest, bei Marsilius nicht die Rede. Principan wird im Zusammenhang mit der Analyse der pars principans abgehandelt 112 , die in vielen Stücken den Ausführungen der spätmittelalterlichen Kommentatoren zur multitude bene ordinata gleicht: Correctio et electio principis sind dabei auch für Marsilius .Grundrechte' der universitas civium\ das alles kennen wir und muß nicht mehr näher erörtert werden. Unter dieser Prämisse könnte auch ein weiterer Kernsatz des Marsilius anders übertragen werden. Die eben gegeben Bürgerdefinition trifft nach Meinung des Paduaners am ehesten auf die Verfassungsverhältnisse einer Politie zu, „bei der", übersetzt Kunzmann, „jeder Bürger irgendwie an der Staatsform oder am Rat wechselweise je nach seiner sozialen Stellung, seiner Fähigkeit oder wirtschaftlichen Lage teilhat"113. Die zentrale Passage lautet lateinisch: participai aliqualiter principatu vel consiliativo vicissim. Man darf das sicher auch wiedergeben mit: „er partizipiert auf irgendeine Weise, wenigstens aber wechselweise an der beratenden Gewalt". Es geht nicht um zwei Sachverhalte, sondern beispielhaft darum, dem Leser das participare in der denkbar weitesten Bedeutung des Begriffs vorzustellen. In den Verweisen auf andere Aristotelesstellen, die Marsilius 112 D. Sternberger, Die Stadt und das Reich, will belegen, daß Marsilius nicht aus der mittelalterlichen, bes. der italienischen Stadtwirklichkeit seine politischen Erfahrungen zieht, sondern dezidiert und generell das Reich im Auge hat. In diese eigenwillige und etwas einseitige Lesart hätte ,unsere' Übersetzung gut gepaßt. Aber auch Sternberger sieht in dieser Stelle nur die mittelalterlich unterlaufene (das bezieht sich auf das secundum graduiti), engere Bürgerdefinition des Aristoteles (ebd. 102). Zu Literatur und Kritik der „italienischen Interpretation" ebd. 118-124. Sternberger weist ebd. 141 darauf hin, daß bei Marsilius der Monarch oder die pars principans „Bürger unter Bürgern" ist und nennt als Beleg das letzte Kapitel des Werkes. Zum einzigen Mal wird dort die Verbindung vom Bürger- zum Regentenbegriff gezogen: Primus namque civis vel civilis regiminis pars, principans scilicet (Marsilius von Padua, Defensor Pacis, 1102; Teil III, Kap. 3). Gerade die Singularität des Belegs und der Kontext, der diesen primus civis mit den Rechten und Pflichten der multitudo subiecta in Beziehung setzt, sprechen mindestens für einen Wortgebrauch, der den Aristotelischen Bürger im engeren Sinne bezeichnet und den die Kommentatoren umschrieben mit: qui principatur. Trifft das zu, dann verläuft die Trennlinie Bürger im engeren, Bürger im weiteren Sinne bei Marsilius zwischen pars principans und cives. Die Formulierung primus civis erinnert darüber hinaus an jenen superciuis des Nicolaus de Waldemonte, der über der Bürgerschaft steht, vgl. o. Anm. 71. 1,3
Marsilius von Padua, Defensor Pacis, 76f (1,8,3).
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III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
selbst in den beiden von uns behandelten Paragraphen gibt, werden der Kontext und die Absicht seiner Auffassung vom Wesen des Bürgers klarer. Beide Male verweist er nämlich auf das 4. Kapitel des 6. Buches: Dort hält es Aristoteles für angemessen, daß in einer bestimmten Art der Demokratie zwar alle Bürger das Wahlrecht haben, „Recht sprechen und zur Rechenschaft ziehen", die Wählbarkeit zur „höchsten Behörde" jedoch an einen Zensus gebunden wird. Das entspräche genau unserer Übersetzung und Interpretation. Aber noch etwas anderes springt ins Auge. Etwas, über das die mittelalterlichen Kommentatoren selbst nie Auskunft gegeben haben, das vielleicht deshalb der modernen Forschung entgangen ist: Und das ist nichts Geringeres als die eigentliche Quelle ihres weiten Bürgerbegriffs. Liest man die Passage in der Moerbekschen Übertragung noch einmal nach, dann findet man alle Begriffe wieder, die wir im Kontext der Diskussion um das Wesen des Bürgers im 3. Buch mühsam herausgearbeitet haben. In einer bestimmten Art von Demokratie nämlich, schreibt Aristoteles an der besagten Stelle des 6. Buches (1318b 27ff), sei es durchaus üblich gewesen, „ d a ß alle die Behörden wählen (eligere principatus) und zurechtweisen (corrigere) und entscheiden giudicare), daß aber in den höchsten Ämtern allein die Gewählten herrschen (principan)". Auch komme es vor, liest man schon einige Zeilen vorher, daß viele bereits zufrieden sind, wenn nicht sie selbst wählen, sondern statt ihrer eligibiles secundum partem ex omnibus. Hier haben wir alles zusammen: Wahl, Zurechtweisung, Rechtsprechung und sogar die Wahl der Wähler. Abgehoben vom Volk finden sich die obersten Ämter, die Regierung, in der Hand einer fraglos akzeptierten Führungsgruppe, deren Mitglieder durch das Prädikat honorabilitates eindeutig als Angehörige der „Ehrbarkeit" ausgewiesen sind 114 . Die Beschreibung erinnert in der Tat an die Aristotelische Diskussion der Politie als Mischung aus oligarchischen und demokratischen Elementen (1294b 30ff). Marsilius kann diese Stelle deshalb mit Recht als Beleg für die Herrschaftsstruktur der Politie anführen. Wichtiger jedoch ist, daß dieser Exkurs zu folgender Erkenntnis geführt hat: Der Bürgerbegriff, den spätmittelalterliche Autoren in ihren Ausführungen zum 3. Buch der .Politik' eigentlich im Sinn hatten, wenn sie wie Petrus von Alvernia von der potestas in eligendo et corrigendo principem oder der Wahl der Wähler handelten, entstammt einem anderen Diskus114 Quoniam apud quosdam ,demous'[griech.], quamvis non participent electione principatuum, sed quidem eligibiles secundum partem ex omnibus...Propter quod utique et expediens est prius dictae democratiae, et existere consuevit eligere quidem principatus, et corrigen' et judicare omnes: principali autem maximis electos, et ab honorabilitatibus majoribus (Moerbekes Text in: Albertus Magnus, Liber Politicorum, 573a; deutsch: eigene Übersetzung).
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sionszusammenhang. In dem geht es nicht so sehr um das Wesen des Bürgers, sondern um die Mischung oligarchischer und demokratischer Techniken mit dem Ziel, ein Gemeinwesen unter Beibehaltung einer gegebenen Sozial- und Machtstruktur stabil zu halten. Vieles, was modernen Autoren bei der Art, in der die Kommentatoren den a'vi's-Begriff faßten, „mittelalterlich" schien, erklärt sich so zwangloser als unnachgewiesene Ineinanderblendung verschiedener Kontexte aus demselben Werk. Dennoch: Die Herübernahme des weitgefaßten, Herrschaft ausklammernden Partizipationsbegriffs aus dem 6. Buch in die Kommentierung des Bürgerbegriffs im 3. Buch, Aristoteles selbst hat hier ja grundsätzlicher argumentiert, offenbart das wirkliche Interesse der behandelten Autoren vermutlich mehr und unverfänglicher, als die in der Forschung beliebte These der Adaption einer nur halb verstandenen oder „mittelalterlich" gebrochenen Theorie. Doch noch einmal zu Marsilius. Er hat in den von uns besprochenen Textteilen offensichtlich nach Argumenten gesucht, mit deren Hilfe er die Untersuchung der Frage nach der Wählbarkeit zum höchsten Amte im Staatswesen von der Frage nach der politischen Partizipation der Bürger abkoppeln konnte. Die Ämter unterhalb der pars principalis werden im Anschluß dann, und das ist der andere thematische Schwerpunkt in beiden genannten Zitaten, secundum gradum vergeben. Oder, wie es im zweiten Falle heißt: iuxta gradum et facultatem seu conditionem. Marsilius kennt, wie die andern Aristoteliker, unterschiedliche Grade an Ehrbarkeit, unterschiedliche Berufsgruppen und abgestufte Vergabe von Ämtern115. Alles in allem: Was den Bürgerbegriff angeht, was Differenzierungen innerhalb der Bürgerschaften betrifft, sprengt dieser in vieler Hinsicht .revolutionäre' Denker an keinem Punkt den Rahmen des herausgearbeiteten Paradigmas. Aus welcher Gruppe oder sozialen Schicht derjenige stammt, der als pars principans doch einer der Hauptgegenstände des umfangreichen Werkes ist, steht nie zur Diskussion, Marsilius geht es allein um die Einbindung des „herrschenden Teils" in das Gemeinwesen und in dem Zusammenhang dann um die Beteiligung der Bürgerschaft. Und so sind seine Aus115
Marsilius von Padua, Defensor Pacis, 136f (1,13,4), wo er der honorabilitas, id est collegium optimatum, bes. die Wählbarkeit in die höchsten Ämter (das pretorium) zuerkennt, während die agricole, artifices et huiusmodi Zugang zum concilium haben. Die Frage der „Abkömmlichkeit" behandelt Marsilius weniger rigide als andere: Auch den „weniger Gelehrten", den stulti, müsse man zugestehen, daß sie participant intellectu et iudicio agibilium. Ihre Fähigkeit komme zwar derjenigen der „Abkömmlichen nicht gleich"(non equaliter vacantibus), berechtige aber doch zur Teilhabe am Gemeinwesen (ebd. 138f; 1,13,4). Zum Terminus honorabilitas als Übersetzung des Aristotelischen timema vgl. A. Gewirth, Marsilius and Medieval Political Philosophy, 180 Anm. 7.
124 III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie führungen auch hier ein Stück weit konventionell. Natürlich trifft dies Urteil nur auf einen kleinen Teil seiner Schrift zu. Denn mehr als andere akzentuiert er die korporativen Strukturen der civitasni. Die durchgängige Unterscheidung der exekutiven und legislativen Dimensionen eines Staatswesens ist nie vorher und selten danach so überzeugend auf den Begriff gebracht worden. Und einzigartig bleibt insbesondere die Leidenschaft, mit der sich dieser defensor pads in einer Zeit politischer und sozialer Umwälzungen an eine Öffentlichkeit wendet. Einzigartig auch die Prägnanz in der Formulierung seines Ziels: Frieden durch genaue Bestimmung der Aufgaben der geistlichen und weltlichen Gewalt, Konsensstiftung durch gestufte Partizipation der Bürger. Schon sein Begriff von „guter Herrschaft" zeugt davon: Neben der Ausrichtung auf das „Gemeinwohl" sind es vor allem die subditorum voluntas und deren consensus, die eine gute Herrschaftsform von einer schlechten kategorial unterscheiden" 7 . Der letzte Autor, den wir heranziehen wollen, gibt ein Bild des Bürgers, das präzise der ermittelten Grundstruktur entspricht. Es handelt sich um Wilhelm von Ockham (ca. 1285-1347/48), dessen ,Dialogus' sicher zu den außergewöhlichsten Stücken mittelalterlicher Politiktheorie gezählt werden muß" 8 . Die dort nachlesbare Übernahme des Bürgerbegriffs aus dem Kommentarfragment des Petrus von Alvernia ist so frappant, daß wir das Kapitel getrost mit Ockham zusammenfassen und den Reigen der Autoren mit ihm schließen können. Er sagt, Stadt (ciuitas) sei Menge der Bürger {multitude ciuium). In ihr gebe es Herrscher (principantes) und Untertanen (subiecti), letztere auf zweierlei Weise: Zunächst die körperliche Arbeit verrichtenden Knechte, Tagelöhner und Handwerker (serui, mercenarii, bannausi): Die jedoch seien nicht richtig Bürger (non sunt proprie dues). Wer aber gehört dann zur multitude ciuium, wer ist Herrscher? Die Antwort: „Andere in der Stadt aber sind dergestalt Untertanen, daß sie auf bestimmte Weise an der Herrschaft teilhaben (participant); denn sie sind, 1,6 Vgl. A. Black, Guilds and Civil Society, 86-95, bes. 89, 93f. Daß Marsilius ein korporativ verfaßtes Gemeinwesen im Sinn hatte, ist 1972 erstmals pointiert von M. Wilks herausgearbeitet worden. Dieser Autor weist mit Nachdruck darauf hin, daß Marsilius politische Teilhabe nie am Bürgerbegriff diskutiert, sondern immer im Zusammenhang mit .Korporationen' besprochen hat: „...Marsilius carefully avoids talking in terms of the cives themselves, and speaks only of the corpus or universitas of the citizen" (M. Wilks, Corporation and Representation, 257; vgl. ebd. auch 260, 2870117 Marsilius von Padua, Defensor Pacis, 74f (1,8, 2 u. 3). 118 Eine hervorragende Einführung in Ockhams politische Philosophie und umfangreiche Literaturangaben findet man jetzt im Nachwort der deutschen Teilübersetzung des ,Dialogus' von J. Miethke (Wilhelm von Ockham, Dialogus. Auszüge, 209-260).
6. Wahl und Zustimmung als Elemente konsensgestützter Herrschaft
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obwohl sie nicht herrschen (principentur), doch auf gewisse Weise mit Herrschaft befaßt: weil sie zu Gericht und Rat gerufen werden oder weil sie entweder den Herrschenden selbst oder die Wähler des Herrschenden wählen. Der Herrschende (principalis) aber in einer Stadt wird von Aristoteles bisweilen .Politheuma' genannt" 11 '. Die Dreiteilung der Einwohnerund die Zweiteilung der eigentlichen Bürgerschaft ist evident. Unmißverständlich auch, daß principati und participare durch eine kategoriale Kluft getrennt sind. Herrschen geht eben nicht alle Bürger an. Zu Anfang wurde gesagt, daß es nicht darum gehe, einem Kommentator des Spätmittelalters nachzuweisen, er habe Aristoteles nicht richtig verstanden. Das geschah aus gutem Grund. Die althistorische Forschung sieht neuerdings in der .Politik' des Aristoteles mehr angelegt als die in der Geschichtsschreibung politischer Ideen immer wieder bemühte, letztlich auf die Demokratie zugeschnittene Bürgerdefinition. Insbesondere Wilfried Nippel hat versucht, Aristoteles neu zu befragen nach den konzeptuellen Angeboten, die er einer vornehmlich oligarchisch verfaßten griechischen Staatenwelt machen konnte. Nippel kommt zu folgendem Ergebnis: Bei Aristoteles lasse sich eine „implizite Theorie einer gemäßigt oligarchischen, auf Akzeptanz durch die Gesamtheit der Bürger gründenden Herrschaft fassen". Diese gewähre einer „breiten Bürgerschaft politische Rechte von faktisch begrenzter Bedeutung, jedoch beachtlichem Symbolwert", was in erster Linie eine „Mitwirkung bei der Wahl der Amtsinhaber" meine. Darüber hinaus biete die Elite dieser gemäßigten Oligarchie vielen Menschen den durch die Zugehörigkeit zur Bürgergemeinde vermittelten „Rechtsschutz" 120 . Unsere Befunden deuten in dieselbe Richtung, aber sie erweisen das, was Aristoteles eher mitgeliefert hat, als zentralen Kern mittelalterlicher Theorie des Bürgers: Es geht darin um ein Modell breiter bürgerlicher Partizipation unterhalb der Ebenen tasächlicher Herrschaftsausübung, es geht um Konsensstiftung durch Teilhabe. In diesem ganz besonderen Punkte, vorausgesetzt die eben referierte These und unsere Ergebnisse stimmen, haben die Politikkommentatoren Aristoteles dann doch „besser" verstan119
A Iii autem in ciuitate sic sunt subiecti, quod aliquo modo participant prineipatum, quia quamuis non principentur, tarnen aliquo modo ad prineipatum attingunt: quia ad iudicium vocantur et consilium, vel eligunt prineipantem, aut electores principalis. Principans autem in ciuitate aliquando vocatur ab Aristotele ,policemia' (Wilhelm von Ockham, Dialogus, 794 Z. 15-19 (IILI.ii, c. 5)). Eine etwas anders akzentuierende deutsche Übersetzung dieser Stelle in : Wilhelm von Ockham, Dialogus. Auszüge, 103. Zum Gebrauch der Aristotelischen .Politica' durch Ockham vgl. ebd. 196f. Die Formulierung des Petrus von Alvernia, auf die sich Ockham vermutlich bezieht, ist o. Anm. 49 nachzulesen. Zur Unterscheidung von participare und principali bei Versor vgl. o. Anm. 93. 120 W. Nippel, Bürgerideal und Oligarchie, 7.
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III. „Bürger" und „Stadt" in der spätmittelalterlichen politischen Philosophie
den als manche ihrer modernen Interpreten. Das „bessere Verständnis" liegt in diesem Fall vielleicht darin begründet, daß Aristoteles und seine späteren Kommentatoren Bürgerbegriff und politische Partizipation vor dem Hintergrund einer ähnlich strukturierten Gegenwart betrachteten und analysiert haben: vor dem Hintergrund der antiken Polis und der mittelalterlichen Stadtgesellschaft, die, was die Fragen politischer Mitwirkung der Bürgerschaft angeht, sicher vor vergleichbaren Schwierigkeiten und ähnlich gelagerten Problemen standen. Die Übertragung des Bürgerbegriffes auf das Königreich, seine Ausweitung nach unten; gewisse Aspekte einer Theorie politischer Herrschaft als Herrschaft zweiten Ranges; dann die Betonung der korporativen Elemente, die vom einzelnen gelöste Thematisierung politischer Partizipation im Kontext der Lehre von den zwei multitudines und ständische Konnotationen bei der Beschreibung von Großgruppen; weiter: bestimmte Vorstellungen von sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Integration; vor allem aber die Tendenz zur Abhebung des „Herrschens" (principati) vom „Teilhaben" (oft: participaré) - das sind, was die Frage nach dem Wesen von Bürger und Herrschaft angeht, die mehr oder weniger „mittelalterspezifischen" Erkennungsmerkmale der „Sprache des politische Aristotelismus". Diese Sprache konnte nur ausgebildet werden in einem Gesellschaftssystem, das die freie, sozial und funktional differenzierte Stadt kannte. Der politische Aristotelismus hat seinerseits dazu beigetragen, das städtische Gemeinwesen als eine der guten Herrschaftsformen in das Weltbild der Zeit einzugliedern. „Bürger" als Prototyp des animal civile und „Stadt", hier dasselbe Ergebnis wie am Schluß des letzten Kapitels, hatten als zentrale Kategorien in diesem Diskurs eine theoretische Bedeutung, die der Wirklichkeit ihrer Zeit insgesamt nicht entsprach. Vielleicht war es nicht nur mangelnde Sprachkenntnis oder Ignoranz, sondern Einsicht in die Problematik der Anwendung der Aristotelischen .Politik' auf die eigene Gegenwart, welche deutsche Bibliothekare des Spätmittelalters bewog, das Werk unter folgenden Titeln in ihre Verzeichnisse aufzunehmen: ,Von der stat seteri oder ,das p. von den siten der stethe' oder kurz und bündig ,b. der statsytteri121.
121
Zit. P. Lehmann, Ehrentitel, 151.
IV.
Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
Die Rezeption der Aristotelischen .Politik' im 13. Jahrhundert war auch für die Rechtsgelehrten der Zeit nicht ohne Bedeutung. An dieses Werk knüpften sich schließlich immer wieder Hoffnungen konkurrierender Berufsgruppen: Mit der ,Politik', so glaubten viele Theologen und Artisten damals, könnte man das einträgliche Monopol, das Juristen in der politischen und rechtskundigen Beratung von Fürsten und Gemeinwesen hatten, unterlaufen und durchbrechen 1 . Roger Bacon (t nach 1292) schätzt in seinem , Compendium studii philosophiae' die Kompetenz der praktischen Philosophen in Fragen des Staatswesens höher ein als die der Juristen: Juristae sunt mechanici respectu philosophantium. Rechtsgelehrte hätten im Corpus Iuris lediglich eine Quelle positiver Gesetze, Philosophen dagegen in der .Politik' des Aristoteles ein Werk, das über die Ursachen von Recht, Gerechtigkeit und Frieden Auskunft gebe und mit dessen Hilfe man daher ein vollkommenes Gemeinwesen zu errichten vermöchte: Aristoteles „lehrt, auf welche Weise die unterschiedlichen Gesetze dieser Welt entstehen, welche schlecht sind und Städte sowie Königreiche zugrunde richten, wie sie vermieden oder abgeschafft werden müssen ; damit schließlich das eine vollkommene Gesetz, das den Wegen der Philosophie folgt, aufgerichtet wird, und mit Frieden und Gerechtigkeit Städte und Länder erlöst" 2 . Auch Nikolaus von Oresme (t 1382) will seinen Lesern beweisen, daß die Philosophie selbst in Fragen der Gesetzgebung der Juristerei seiner Zeit überlegen ist. Den Legisten, nos legistes, wirft er vor, daß sie nur das 1 Im deutschen protestantischen Aristotelismus des 17. Jahrhunderts sollte den „Politiken" eine ähnliche Aufgabe zugeschrieben werden. Diese waren im Lehrbetrieb der lutherischen Universitäten die Textgrundlage einer auf praktische Anwendung zielenden Wissenschaft, Adressaten waren der „Adel und die bürgerlichen Honoratioren als Herrschaftsschicht". Der Versuch einer „Professionalisierung des gelehrten Politicus" ist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gescheitert: dem in der politischen Wissenschaft ausgebildeten .Politiker' gelang es nicht, in den Berufsfeldern der Theologen, Juristen und Hofleute Fuß zu fassen (so H. Dreitzel, Conring, 141, 144-155; Zit. 154). Zur Rolle der aristotelischen .Politiken' im Deutschland der frühen Neuzeit vgl. auch ders., Grundrechtskonzeptionen, 183f ; ders., Arnisaeus, 412-428; M. Stolleis, Reichspublizistik, bes. 80-85, 106-112. 2 Docet...quomodo oriuntur leges diversae in mundo et quae sunt malae et corrumpunt civitates et regna et qualiter vitari debent et destruí, ut tandem statuatur una lexe perfecta iuxta vias philosophiae, quae sähet in pace et iustitia civitates et regiones (Roger Bacon, Compendium studii philosophiae, 422: zit. G. Fioravanti, Albero e la Politica, 214); ebd. 211 (mechanici). Vgl. dort auch die ähnlich lautenden Äußerungen von Albertus Magnus und Aegidius Romanus, 209-215.
128 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters Römische Recht kennten, es zudem für das einzig geschriebene Gesetz hielten und meinten, daß es, nähme man lokale Gewohnheiten einmal aus, generelle Geltung habe. Juristen machten weder Unterschiede zwischen den im Römischen Recht genannten droiz naturelz und den dort aufgeführten droiz positis, noch differenzierten sie hinreichend nach verschiedenen Herrschaftsformen, unterschiedlichen Rechtsgebräuchen oder nach geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen. Kurz: Die Behauptung der Legisten, alle müßten nach den Gesetzen Roms leben, ist nichts weiter als grande simplece et erreur contre raison naturele3. Noch Leonardo Bruni (1369-1444), der die Aristotelische ,Politik' neu aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt hat, ist von der praktischen Bedeutung dieses Werkes überzeugt. Er schickt am 24. November 1438 ein Exemplar an die Signoria von Siena und empfiehlt diese doctrina de regendis gubemandisque civitatibus den Herren des obersten Magistrats der Nachbarrepublik zur Lektüre. Auch wenn er ihr Gemeinwesen für optime regiert halte: Die Beschäftigung mit der übersandten Schrift könne durchaus beitragen zu einem weiteren incrementum rectae gubemationis*. Aber: Die Aristotelische .Politik' konnte die in sie gesetzten berufspraktischen Erwartungen nicht erfüllen. Das verwundert kaum. Der Text ist derart komplex und vielschichtig, daß es selbst ausgewiesenen Kennern bisweilen schwerfällt, deskriptive und normative Passagen zu unterscheiden. Aus den acht Büchern mit ihren jeweils unterschiedlichen Ansätzen, Interpretationsabsichten und Entstehungszusammenhängen haben auch moderne Philosophen und Historiker noch keine widerspruchsfreie Lehrmeinung zu destillieren vermocht. Mittelalterliche Kommentatoren versuchten diesen offensichtlichen Nachteil zu kompensieren, indem sie in Form der Quaestionen bestimmte Themenkomplexe systematisch abhandelten, strafften und zusammenfaßten. Ein anderer Weg lag in der systematischen Ausarbeitung Aristotelischer Theoreme im Rahmen der Fürstenspiegelliteratur. Auf diese Weise hat die praktische Philosophie des Griechen tatsächlich Eingang gefunden in viele Diskurse der Zeit. Aegidius Romanus und Thomas von Aquin (zusammen mit Ptolomaeus von Lucca) schrieben die bekanntesten und verbreitetsten Werke mit dem Titel ,De regimine principum'. Ein Einbruch in die starke Position der Juristen auf professionellem Gebiet ist Theologen, Philosophen und Humanisten jedoch auch so versagt geblieben. Es ist nicht gelungen, aus der praktischen Philosophie des Aristoteles ein Handbuch zu schmieden, das, was den rechtspragmatischen Gebrauchswert betrifft, imstande war, dem , Corpus Iuris' aussichtsreich Konkurrenz zu machen. 3 4
Nikolaus von Oresme, Politiques, 243b. Leonardo Bruni, Brief an die Signoren von Siena, 143.
IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters 129
Gegenstand der folgenden Ausführungen soll nun dieser mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit so eng verknüpfte juristische Diskurs sein. Dabei konnte nicht, wie im Falle der Kommentare zur Aristotelischen .Politik', eine einzige Quellengattung Zentrum der Darstellung sein. Zwar bezogen sich auch Rechtsgelehrte in der Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Bürgers und der Struktur von Herrschaft auf ihr Grundwerk, auf das , Corpus Iuris CivilisDer handbuchartige Charakter dieser Zusammenstellung spätantiker Rechte und der intendiert praktische Umgang mit seinen Grundaussagen verlangten von den Rezipienten dieses Gesetzeswerkes aber ein Vorgehen, das sich methodisch wesentlich vom Zugriff der Politikkommentatoren unterschied. Die Struktur des Textes legte eine stark problemorientierte, segmentierte sowie zwischen den einzelnen Gattungen der Juristenliteratur und der gesellschaftlichen Praxis vermittelnde Form der theoretischen Auseinandersetzung nahe. Und noch ein Sachverhalt kommt hinzu, der die Beschränkung auf eine Gattung von vornherein ausschloß: Es gab einen regen Austausch von Ideen zwischen den Interpreten der beiden großen Sammlungen des zivilen und des kanonischen Rechts, zwischen , Corpus Iuris Civilis' und , Corpus Iuris Canonici'. Ja, Kanonisten, Dekretisten und Dekretalisten haben viele Dinge präziser gesehen und früher auf den Begriff gebracht, als das im unmittelbaren Anschluß an das Römische Recht Iustinians möglich war. Anwendbare Theorien entstanden in der Rechtswissenschaft aus diesen Gründen nicht so sehr in diskursiver Aneignung und Durchdringung eines einzigen vorgegebenen Textes, sondern im Bezugsfeld einzelner Probleme und ihrer Interpretation in unterschiedlichen Textsorten. So stehen im folgenden Kommentare zum , Corpus Iuris', eigenständige juristische Traktate und praktische Anwendung der Rechtssätze in Konsilien nebeneinander. Der Wort „Theorie" soll bei all dem nicht verwendet werden als Bezeichnung für eine logisch aufgebaute, widerspruchsfreie und systematische Lehre zur wissenschaftlichen Erklärung empirischer Sachverhalte. Es bezeichnet hier vielmehr den Versuch gelehrter Juristen, wichtige gesellschaftliche Phänomene ihrer Zeit mit den ihnen zur Verfügung stehenden begrifflichen Hilfsmitteln zu erfassen, um auf diese Weise adäquates rechtspraktisches Handeln möglich zu machen. Genauer besehen müßte man von wissenschaftlich disziplinierter Verwendung tradierter Theoreme in praktischer Absicht reden, die, obwohl nie zur eigentlichen Theorie verdichtet, eine gewisse einheitliche Struktur und wiederkehrende Begründungsmuster aufweisen. Trotz der nicht zu unterschätzenden Gefahr systematisch motivierter Verallgemeinerungen, die in der Verwendung dieses Begriffs liegen, halten wir der Einfachheit halber und unter den genannten einschränkenden Bedingungen am Terminus „Theorie" fest.
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Im ersten Abschnitt wird rekonstruiert, wie Glossatoren und Kanonisten in den ersten beiden Jahrhunderten der Rezeption des Römischen Rechts die mittelalterliche Stadt mit Hilfe ihres begrifflichen Instrumentariums zu fassen suchten. Die Abschnitte zwei und drei stellen die juristische „Theorie der Stadt" auf ihrem Höhepunkt dar. Anhand der Begriffe „autonome" und „unabhängige" Städte sollen theoretische Tiefenschärfe und praktische Relevanz dieser Lehre erörtert werden. Die Kommentatoren des Corpus Iuris, auch Postglossatoren genannt, stehen dabei im Fokus der Betrachtung. Thema des vierten Abschnitts ist die juristische Konzeption des Bürgers im Spannungsfeld von individuellen Interessen und philosophischen Wesensbestimmungen. Abschnitt Fünf beleuchtet insbesondere die partizipatorische Dimension stadtbürgerlicher Existenz und ordnet die juristischen Überlegungen zur Stadtverfassung ein in die philosophischen Traditionen der Zeit. Am Ende steht ein typologisches Resümee der Ergebnisse dieses Kapitels; Beispiele des Begriffsgebrauchs von civis Romanus illustrieren schließlich die Grenzen der Verengung des Bürgerbegriffs auf die Stadt.
1.
Civitas und Imperium. Das Problem der rechtstheoretischen Einordnung der freien Kommunen in den Reichsverband
Die Rezeption des Römischen Rechts in Europa vollzog sich unterschiedlich je nach Ort, Zeit und Form. In Italien war Römisches Recht seit dem 12. Jahrhundert anerkanntes Gemeinrecht; es ergänzte Feudal- und Stadtrecht. In Deutschland wurde es in größerem Umfang erst im 15. und 16. Jahrhundert adaptiert und in einem komplexen, zeitlich, regional und funktional differenzierten Prozeß mehr oder weniger stark durchgesetzt; Ausnahme war allerdings das mittelalterliche Kaiserrecht: hier flöß bereits sehr früh römischrechtliches Ideengut ein5. Auch im Deutschen Reich 5
Differenzierten Zugang zu Themen und Gattungen des , Corpus Iuris Canonici' und des ,Corpus Iuris Civilis' im Mittelalter, zu deren Lehre und Rezeption sowie eine passable Einführung in Quellen und Sekundärliteratur bei H. Coing (Hg.), Privatrechtsgeschichte I, bes. 129-383 die Abschnitte: P. Weimar, Glossatorenzeit (ebd. 151: Anleitungen zur Auflösung von Allegationen und Abkürzungen beim Zitieren von Rechtsquellen); N. Horn, Kommentatoren; K.W. Nörr, Kanonistische Literatur. Unverzichtbar weiterhin F.C.v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts, bes. die Bde. III-VI. In den gen. Werken von H. Coing und F.C. v. Savigny finden sich alle notwendigen biographischen und bibliographischen Angaben zu den im folgenden behandelten Juristen und ihren Werken, zu Gestalt und Lehre des , Corpus Iuris'. - Grundlegend zum Verhältnis der beiden Rechte zu politischer Theorie und Realgeschichte: W. Ullman, Law and Politics, bes. 81-116 („Scholar-
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war die Theorie des lus commune, also die Lehre von der subsidiären Geltung römisch-kanonischen Rechts, ein wesentliches Element der Rezeption der fremden Doktrin. Mehr als im Falle der politischen Philosophie, die als gesamteuropäisches Phänomen Gemeingut der damaligen gelehrten Welt gewesen ist, hat man bei der Behandlung von Begriffen und Theoremen im , Corpus Iuris Civilis' daher auf zeit- und länderspezifische Eigenheiten zu achten. Methodisch und sachlich bietet sich jedoch an, die Theorie des Bürgers und der Stadt im juristischen Diskurs vor allem an Texten der beiden berühmtesten Rechtsgelehrten des Mittelalters zu erörtern, an Bartolus und Baldus. Diese beiden zentralen Gestalten postglossatorischer Tradition haben wie niemand vor- oder nachher das gesamte Korpus beider Rechte aufgearbeitet, systematisiert und auf die Wirklichkeit ihrer Zeit anwendbar gemacht. Ihre Kommentare, Traktate und Konsilien bildeten den Kern des alteuropäischen mos italicus. Das Römische Recht ist weitgehend in der Form, die ihm diese beiden Italiener gegeben haben, im Europa nördlich der Alpen rezipiert worden. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa lassen sich erst vor diesem Hintergrund klarer akzentuieren. Doch zunächst zur Ideengeschichte juristischer Begriffe vor Bartolus. Die Probleme, die Dekretisten und Dekretalisten, Glossatoren und Postglossatoren in der Auseinandersetzung mit dem , Corpus Iuris Civilis' zu bewältigen hatten, glichen strukturell den Schwierigkeiten, vor denen die Kommentatoren der Aristotelischen ,Politik' gestanden haben: Die Welt, die sie zu erklären hatten, war nicht mehr die Welt, in der die Texte, auf die sie sich beriefen, entstanden waren. Konnte man bei Fragen des Kaiserrechts die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen noch bisweilen vergessen6, so stellte sich im Falle der Einordnung der zeitgenössischen Stadt in Fortsetzung Fußnote von Seite 130 ship of Roman Law"), 161-190 („Scholarship of Canon Law"); M.P. Gilmore, Argument from Roman Law, 15-45; F. Calasso, Glossatori (politische Theorie der Glossatoren); S. Mochi Onory, Fonti canonistiche (politische Theorie der Kanonisten). Für unser Thema materialreich und immer noch anregend O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 186-826 („Die mittelalterliche Staats- und Korporationslehre", „Die Aufnahme der Korporationstheorie in Deutschland"). Vgl. auch die entsprechenden Kap. in R.W. u. A.J. Carlyle, Political Theory in the West, bes. Bd. 2 u. Bd. 6 (v.a. 13-29, 76-89, 144-157, 293-324); E.H. Kantorowicz, King's Two Bodies, 201-218 u. 291-313; P. Costa, Iurisdictio. Für Italien W. Engelmann, Wiedergeburt, bes. aber F. Ercole, Da Bartolo all'Althusio, 49-156. - Gute und knappe Einführungen für die im folgenden behandelten Fragen sind: J.P. Canning, Sovereignty and Corporation Theory; D.R. Kelley, Clio. Zur Jurisprudenz als „Sprache" vgl. ders., Civil Science. 6 Kaiserrecht war allerdings nicht identisch mit römischem Kaiserrecht. Im spätmittelalterlichen deutschen Reich wird letzteres gleichberechtigt behandelt mit den
132 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters das juristische Weltbild der Sachverhalt nicht mehr so einfach dar. Die Aufgabe wurde dadurch weiterhin kompliziert, daß die Kommunen seit dem 12. Jahrhundert eigene rechtliche Traditionen entwickelten, deren Begriffe sich mit den römischrechtlichen nur teilweise deckten. Den römischrechtlichen und kanonistischen Rechtslehrern des 12. und 13. Jahrhunderts ist es letztlich nicht gelungen, die juridische Gestalt der Urbanen Gesellschaft mit den Mitteln ihrer Interpretation des Römischen Rechts dogmatisch befriedigend und eindeutig zu klären. Für eine zeitgemäße Handhabung des Rechts auf diesem Felde bereiteten sie jedoch den Boden, indem sie neue Denk- und Argumentationsmuster im Zusammenhang mit der Frage nach dem Rechtsstatus unabhängiger Königreiche entwickelten. Sie modernisierten und funktionalisierten Teile des , Corpus Iuris' und brachten so Begriffe des überkommenen Kaiserrechts in Einklang mit der Existenz „souveräner" Könige in dem einen Regimen Christianum. Richtungweisend war hier die Dekretale ,Per venerabilem' Innozenz' III. aus dem Jahre 1202. Sie bündelte die Ergebnisse kanonistischer Arbeit des vorangegangenen Jahrhunderts. Auf sie, aber auch auf Azo und Accursius berief man sich, wenn man erklärte: Ein rex in temporalibus superiorem non recognoscens sei imperator in regno suo 7. Besonders Legisten, die für die Monarchen von Frankreich und Sizilien Standpunkt zu beziehen hatten, bedienten sich seit etwa 1280 dieser Formeln gern und oft. Die Frage, ob die Unabhängigkeit Siziliens oder der westlichen Königreiche nur de facto oder auch de jure bestehe, blieb allerdings selbst bei den Verteidigern jener regna gegen imperiale Rechtsansprüche umstritten 8 . Gleichviel : Mit den Denkfiguren rex-imperator, superiorem non recognoscens und de iure de facto waren Spielräume der juristischen Diskussion eröffnet, die in der Folgezeit auf das Thema „Stadt und Reich" Anwendung finden sollten. Durch die Brille des , Corpus Iuris Civilis' betrachtet, war der deutsche Kaiser Rechtsnachfolger des römischen Imperator, die Teile seines Reiches Provinzen und die Städte darin Munizipien. Der Abstand zwischen Theorie und Realität liegt auf der Hand: Waren doch die Städte des Mittelalters nicht allein jene verwaltungsmäßig der Provinz untergeordneten municipio, ihre Stadträte nur bedingt mit den römischen Dekurionen und Fortsetzung Fußnote von Seite 131 Rechtsaufzeichnungen der Sachsen-, Schwaben- und Frankenspiegel; vgl. H. Coing, Römisches Recht, 93f. 7 Gute Darstellungen, auch der Forschungskontroversen, bei G. Post, Public Law, 453 - 482 (rex imperator), und H.G. Walther, Imperiales Königtum, 65-85, bes. 84. Vgl. zum kanonistischen Hintergrund der rex-imperator-These S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, bes. 271-288. 8 Vgl. H.G. Walther, Imperiales Königtum, 85-111.
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ihre Bürger bestenfalls cum grano salis mit den cives Romani vergleichbar 9 . Obwohl politisch und rechtlich eingebunden im Reich, hatten die mittelalterlichen Städte ein hohes Maß an Autonomie und Selbstregierung erkämpft oder verliehen bekommen. Und anders als den spätantiken Verwaltungsbezirken, genannt civitates, eignete den civitates Imperii, den civitates liberae und den civitates Lombardiae et Tusciae eine Rechtssubjektivität und, verbunden damit, eine Handlungsfreiheit völlig neuer Art. Kanonisten und Glossatoren des Hochmittelalters erkannten diesen Tatbestand sehr wohl, hatten aber Schwierigkeiten, die autonomen Stadtkommunen mit dem Instrumentarium der Römischen Rechtswissenschaft eindeutig zu verorten. Besonders der Grad der Unabhängigkeit der Städte von ihren Stadtherren war immer wieder strittig. So behandelt Hostiensis (t 271) in einer Erörterung korporativer Rechte unter anderem die Städte. Auch sie seien verfaßt nach den iura corporum. Die civitates Lombardiae aber leiteten daraus eine illegitime Unabhängigkeit ab, weil sie ihren „Herrn, wenn sie ihn auch haben, nicht anerkennen". Sie verhielten sich damit nicht, „wie es einer respublica geziemt", sondern täten es dem König von Frankreich gleich. Unbehagen klingt mit in dieser Feststellung nicht rechtskonformer Faktizität. In solchen Fällen müsse der dominus eigentlich einschreiten. Sei es doch nicht zu akzeptieren, wenn diese Korporationen „anfangen, ihre Grenzen zu überschreiten und Rechte und Gerichtsbarkeit des dominus zu usurpieren" 10 . Die bei Rechtsgelehrten auch vor dem 14. Jahrhundert häufig begegnende Beobachtung der faktischen Unabhängigkeit italienischer Stadtstaaten vom Kaiser widersprach zentralen Aussagen des , Corpus Iuris Civilis'. Den Abstand zwischen der Wirklichkeit Iustinians und der eigenen Welt überspielte man mit Hilfskonstruktionen und Zusatzannahmen; nur die wichtigste soll hier vorgestellt werden. Wollte man der Stadt beispiels9
Zur Munizipalverfassung im spätantiken Römischen Reich vgl. W. Liebenam, Städteverwaltung, bes. 431-476. 10 Unde et haec iura collegiorum, sive corporum, vigent in civitatibus potissime Lombardiae, quae et si dominum habeant, ipsum tarnen non, ut expediret Reipublicae, recognoscunt, sicut nec Rex Franciae...Ideo quamvis praedicta corpora sive collegia.. .suos incipiunt términos excedere et jura sive iurisdictionem domini usurpare, de iure sunt per eundem dominum refrenandi et coercendi... (Hostiensis, ad X.l.31.3, zit. P. Costa, Iurisdictio, 236f. und ebd. Anm. 17; besprochen auch bei O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 290). - Weitere Belege dafür, daß und wie Legisten und Kanonisten des 12. und 13. Jahrhunderts die autonomen Kommunen ihrer Zeit wahrgenommen haben, u.a. bei U. Nicolini, Autonomia; J. Sydow, Einheit und Vielfalt; ders., Gilde; ders., Städtebünde. Ebenfalls dazu, bes. aber zum Vorwurf der Usurpation herrschaftlicher Rechte, vgl. J.P. Canning, Baldus, 94f; ders., Sovereignty and Corporation Theory, 470; P. Costa, Iurisdictio, 213f, 236; F. Ercole, Da Bartolo all'Althusio, 78ff; O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 201.
134 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters weise plena iurisdictio zuerkennen, stellte man sie auf eine Stufe mit der antiken römischen Provinz und verglich den Podestà mit dem praeses provinciae. In der Glosse des Franciscus Accursius ( t 1259/63), in der die Gelehrsamkeit der Glossatoren ihre abschließende Gestalt fand (man zitierte dies Werk schon damals einfach als „die Glosse"), heißt es: Potestas bezeichne eum qui habet merum imperium, quales sunt regentes prouincias. Und in einem anderen Zusammenhang wird vom selben Autor festgestellt: Hodie hätten einzelne Städte ihr eigenes Regiment, was einst nur Provinzen zustand". Ähnlich analysiert Cino da Pistoia (1270-1336/7), der Lehrer des Bartolus, die Sachlage in seinem Kommentar zum Codex: „Wir Italiener haben Regenten in unseren Städten, die wir potestates nennen". Heute, fährt er fort, seien Städte aufgestiegen ad modum prouinciarum; den potestates dieser Städte komme daher dieselbe volle Gerichtsbarkeit zu, welche einst in den Händen des praeses prouinciae lag. Das merum imperium sei, so bemerkt Cino im historischen Rückblick, den ciuitates Lombardiae einst vom Kaiser im Frieden von Konstanz (1183) verliehen worden. Der Podestà einer Stadt vollziehe seitdem die Gerichtsbarkeit und ihm obliege es, im Auftrag der Stadt die utilitas Reipublicae zu wahren 12 . Aktualisie-
" Im Zusammenhang: ,Qui magistratum':per hoc intellige municipalem perpotestatem eum qui habet merum imperium...quales sunt regentes prouincias vel clarissimi et superiores...potest enim quilibet magistratus legem condere non generalem sed specialem (Accursius, Glossa in Digestum vetus, 45 (fol. 24ra): ad D.2.2.1.1.: § Qui magistratum, l. Hoc edictum, D. Quod quisque iuris). - ...et nota unum locum appellari unam prouinciam: sed hodie non videtur habere locum sed in eadem ciuitate esse debent cum singule ciuitates habeant sua regimino: vt olim singule prouincie (ders., Glossa in Codicem, 439 (fol. 221rb): ad C.7.33.12.: § Id est in unaprouincia, l. Cum in longi, C. De praescriptione longi temporis). Vgl. dazu und zu folgendem P. Costa, Iurisdictio, 213f. Schon Azo hatte um 1200 den praesides provinciarum und sublimes magistratus das merum imperium zuerkannt, vgl. u. Anm. 31. Noch etwas kommt hinzu: Placentinus, Accursius und Boncompagno beispielsweise waren der Meinung, daß den Städten in der Provinz Italien ein höheres Maß an Freiheit zustehe als den Gemeinwesen in anderen Provinzen des Reiches, denn Italien sei schließlich die domina provinciarum. Zur Geschichte der Idee der libertas Italiae seit den Kämpfen der Lombardenliga gegen Kaiser Friedrich I. bis zur Formulierung des genannten Prinzips vgl. R.L. Benson, Libertas, hier 202f. 12 ...nos Italici habemus in ciuitatibus Rectores, quos vocamus potestates,...constat hodie, ciuitates ad modum prouinciarum esse redactas...Et sie potestas ciuitatis potest censeri vice praesidis, maxime ex concessionibus Principum, qui concesserunt merum imperium ciuitatibus, ut Federicus in pace Constantiae concessit ciuitatibus Lombardiae... Sed praeses prouinciae omnem iurisdictionem habet in sua prouincia...Ergo a simili, et potestas in sua ciuitate (Cino da Pistoia, In Codicem, fol. 137Ab: ad C.3.5.1 : l. Generali lege, C. Ne quis in sua causa). Ebd. fol. 138b der Hinweis auf die utilitas Reipublicae.
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rungen ähnlicher Art wurden an den Begriffe decuriones und cónsules erprobt 13 . Der folgenreichste Adaptionsversuch Römischen Rechts aber war die Ausbildung der mittelalterlichen Korporationstheorie. In unserem Zusammenhang meint das die Übertragung des universitas- und dann des respuW/ca-Begriffs auf das städtische Gemeinwesen14. Die Ursachen für diese epochale Transformation lagen in der Logik der Adaption selbst. Wenn man den Staatsbegriff des , Corpus Iuris Civilis ' zunächst lediglich auf das Imperium glaubte übertragen zu können 15 , blieb kaum etwas anderes übrig, als alle anderen politischen Formationen der Zeit unter einen unverfänglicheren Terminus zu subsumieren. Dieser Terminus war universitas. Indem Juristen universitas in dieser Weise verwandten, steigerten sie das politische Bedeutungsfeld des Begriffs. Königreiche und autonome Städte konnte man zwar de iure dem Reich unterordnen, ihnen aber kaum, wie den antiken römischen Korporationen, eine publizistische, d.h. staatsrechtliche Dimension, aberkennen. Die Politisierung wurde allerdings tendenziell unterlaufen und verwässert durch das ungeheuer breite Anwendungsspektrum des Begriffs. Vom kleinsten Hospital bis zum Königreich konnte jeder selbstverwaltete, in irgendeinem Sinne autonome Verband mit eigenen Satzungs- und Vermögensrechten darunter gefaßt werden. Die Stadt stand gewissermaßen im Zentrum dieses Spannungsfeldes. Mittelalterliche Juristen haben deshalb gerade in Auseinandersetzung mit dieser Gesellschaftsform ihr theoretisches Instrumentarium immer von neuem geprüft und geschärft. Welche Rolle spielte nun die begriffliche Erfassung der mittelalterlichen Stadtgesellschaft in der Ausbildung der alteuropäischen Körperschaftstheorie? Wichtige Anstöße gingen sicher aus von der Beschäftigung mit 13 Vgl. P. Costa, Iurisdictio, 215ff (decuriones, consiliarii), 217ff (consul). Vgl. dazu auch J. Sydow, Einheit und Vielfalt, 194f. 14 Standardwerk: O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, bes. 186-238 (Glossatoren), 238-351 (Kanonisten), 351-415 (Glosse bis Bartolus). Grundsätzliche Kritik an Gierkes Ansatz hat es schon sehr früh gegeben. Im Zentrum stand dabei meist seine Interpretation der fictio iura-Theorie der Kanonisten, die er als Antipode einer „germanischen", ganzheitlich-konkreten Vorstellung von Rechtssubjektivität einer organischen Einheit von Einzelwesen betrachtete. So hat E.H. Kantorowicz, King's Two Bodies, 306ff, eindringlich auf den mittelalterlichen Bedeutungsgehalt des Terminus „Fiktion" hingewiesen, der nicht modern-abstrakt gemeint ist: fictio figura veritatis; vgl. auch J.P. Canning, Corporation, 15-19 (Diskussion und neuere Lit.). - Zur Begriffsgeschichte von universitas grundlegend P. Michaud-Quantin, Universitas; zu respublica W. Mager, Republik. 15 O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 198f; später faßte man auch das Reich als universitas auf (ebd. 356), die Glossatoren allerdings hielten an der Unterscheidung zwischen Imperium (Rechtsnachfolger des antiken Imperium Romanum) und den anderen politischen Verbänden, wie Königreichen und Städten, fest (ebd. 198).
136 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters rechtlichen Problemen kirchlicher Teilverbände. Kanonisten vor allem entwickelten entscheidende Theoreme einer Lehre vom Wesen der Korporation als einer die einzelnen Mitglieder überdauernden Institution, als eines Ganzen, dessen Strukturprinzip ein rational beschreibbares Verhältnis der „Glieder" zum „Haupt" ist. Rechtssubjektivität und Einheit dieses corpus brachten sie auf der Begriff der persona ficta. Der Kanonist und Papst Innozenz IV. (Sinibaldus Fliscus, t 1254) war hier die zentrale Gestalt. Und früher als Legisten ordneten Kanonisten das Handeln der Körperschaft durch Verfahren der Bestallung rechtsverbindlich agierender Vertreter oder durch eine juridisch geregelte Wahl- bzw. Abstimmungspraxis der versammelten Gesamtheit der Mitglieder16. Aber: Ein entscheidendes Movens bei der Übertragung des «mvers/for-Modells auf die Ebene politischer Gemeinwesen wird die Existenz unabhängiger Kommunen gewesen sein. Die Einordnung kirchlicher Korporationen in die eine ecclesia stand nie prinzipiell zur Disposition. Und die faktisch unabhängigen Königreiche waren selten grundsätzlich durch Ansprüche des Kaisertums in ihrem Bestand gefährdet. Ganz anders dagegen unterlagen die Führungsgruppen der Städte und Stadtstaaten dem ständigen Zwang der Legitimation ihrer „von alters her" ausgeübten Rechte. Im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts weist der in Bologna lehrende englische Kanonist Richardus Anglicus (um 1162-1242) auf eine zukunftsträchtige Möglichkeit der Begründung von Herrschaft hin. In einer Glosse zur Dekretale , Causam' Alexanders III. versteht er die universitas civitatis als autochthone Quelle von iurisdictio und imperium. Um die Rechte vom Kaiser unabhängiger Könige zu begründen, greift er auf die Herrschaftsstruktur der Stadt zurück, deren Kenntnis er bei seinen Lesern unbefangen voraussetzt: „Denn die universitas einer Stadt kann Gerichtsbarkeit 16 Vgl. O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 273-283, 308ff. Zur Struktur kirchlicher Korporationen grundlegend B. Tierney, Conciliar Theory, 106-153. Vgl. auch ders., Constitutional Thought, 19-25; dort, 26f, hat Tierney herausgearbeitet, daß es zwei grundsätzlich verschiedene Modelle der universitas mit unterschiedlichen Implikationen für die Geschichte der politischen Ideen gegeben habe: „The Roman law model and the canon law model". Nach dem römischrechtlichen Modell liegt die Gewalt ursprünglich in der Gemeinschaft und wird dann an einen Amtsträger delegiert. Das Modell des kanonischen Rechts war komplexer, in ihm griffen zwei eigenständige Quellen der Autorität ineinander: Der Bischof beispielsweise, einmal im Amt, besaß durch die Weihe eine vom Kapitel nicht ableitbare Würde und Gewalt. Das Kapitel andererseits delegierte nicht die ganze Gewalt; genau wie der Bischof hatte es eigenes Land und eigene Gerechtsame, für die es auch eigene Prokuratoren bestellte. Zwei Arten der Repräsentation verschränkten sich: „Representation as a personification of the community in its head, and representation as a delegation of authority by a community to an agent" (ebd. 27). - Zur Forschungsdiskussion über die Rolle Innozenz' IV. in der Ausbildung der Korporationstheorie vgl. J.P. Canning, Baldus, 192.
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und Befehlsgewalt übertragen, um wieviel mehr dann erst die universitas eines Königreiches" 1 7 . D i e universitas einer Stadt aber, das ist seit Irnerius, dem Begründer der Glossatorenschule in Bologna um 1100, das „Volk": universitas, id est populus18. Angelpunkt und Kern der in den nächsten zwei Jahrhunderten kontrovers geführten Debatte über die Rechte der universitas civitatis waren Rechtsprechungs- und Gesetzgebungsgewalt eines korporativ verfaßten Volkes bzw. der v o n ihm gewählten Vertreter. Terminus technicus dafür ist iurisdictio gewesen. Iurisdictio, neben imperium und potestas der zentrale politische Begriff der mittelalterlichen „Staatstheorie", konnte im vormodernen Europa für „Herrschaft" überhaupt stehen. Wie jeder Grundbegriff der politischen Sprache ist auch iurisdictio vielfältig auslegbar. Er bezeichnete ebenso eine unterschiedlich anwendbare Relation der Über- und Unterordnung wie ein Ensemble v o n konkreten Rechten. Von der einfachen Rechtsprechung, modica coercitio, bis zum merum imperium, der mit Zwangsgewalt ausgestatteten Gerichts- und Amtsherrschaft, fielen sehr unterschiedliche Sachverhalte darunter. In den meisten Fällen aber gebrauchte man den Terminus, um den herausgehobenen Rechtscharakter eines unabhängigen politischen Verbandes zu kennzeichnen: seine Gerichtshoheit, Amtsgewalt und, nicht nur bei Städten oft im Zentrum der Diskussion, Gesetzgebungsbefugnis 1 9 . Indem die civitas Teil des juristischen Diskurses über die möglichen legitimen Träger von iurisdictio und 17
Patet reges multos imperatori non subici. Videtur enim, quod sicut per violentiam essent subditi, quod violenter possint adpropriam redire libertatem...Nam universitas civitatis, multo magis regni iurisdictionem et imperium conferre potest... (Richardus Anglicus, Gl. ad c. 7 ,Causam': Comp.1.4.18 = ad X.4.17.7, zit. aus dem vollständigen Text bei S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, 253). G. Post, Studies, 466, ordnet genau diese Stelle in die Vorgeschichte von Per venerabilem ein, ohne allerdings die universitas civitatis, durch die das Argument doch erst seine Plausibilität erhält, auch nur zu erwähnen. Vgl. auch B. Tierney, Constitutional Thought, 2If, der in diesen Ausführungen des Richard Anglicus eine der Wurzeln der Idee Hugo Grotius' von der Christenheit als einer „assembly of states~that recognized no temporal superior" sieht. 18 Zit. R.W. u. A.J. Carlyle, Political Theory in the West II, 57 Anm. 1. " Vgl. B. Tierney, Constitutional Thought, 29-53; auch P. Michaud-Quantin, 247252 ; aufschlußreich die tabellarische Zusammenstellung der Bedeutungen von iurisdictio und imperium bei Bartolus von C.N.S. Woolf, Bartolus, Appendix C, 405ff; vgl. D. Wyduckel, Princeps Legibus Solutus, 68-71, 76-79; v.a. aber P. Costa, Iurisdictio, passim, bes. 110-120 (verschiedene Definitionen), 125f (Relationsbegriff); Stadt: Gesetzgebung, Rechtsprechung, Herrschaft: ebd. 146ff, 158, 161ff, 167-172, 175f, 206-217, 238f, 245f u. 251-261. Im 15. Jahrhundert schließlich wurde potestas statuendi häufig als Synonym für iurisdictio gebraucht. Gesetzgebungsgewalt, bisher ein Teil des umfassenden iurisdictio-Konzepts, wurde Kern des übergeordneten Begriffs: „...il modello dell'azione politica non è più il giudicare, ma il legiferare"(ebd. 176). - Zu iurisdictio im Sinne von merum imperium vgl. auch u. Anm. 31.
138 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
imperium wurde, hatte auch für die Städte im Reich das Thema einer „aufsteigenden", nicht vom Kaiser abgeleiteten Gewalt Eingang gefunden in den juristischen Diskurs. Ganz so einfach lag die Sache allerdings nicht. Schon bei der Frage, wer denn in der Gleichung populus - universitas genau mit „Volk" gemeint sei, gerät man in Schwierigkeiten. Kanonisten und Legisten gingen offensichtlich unterschiedlich streng mit diesem Grundbegriff um. Im Irnerius zugeschriebenen Traktat ,De aequitate' hat der korporativ verfaßte populus die Pflicht, für die ihm angehörenden Menschen zu sorgen, und von daher auch das Recht, Gesetze aufzustellen: ut legem condat. Gesetzgebung, so drückt derselbe Autor den Sachverhalt in einer Glosse zu D. 1.3.1. aus, komme der respublica bzw. dem populus zu, und zwar universitatis iure20. Bulgarus (t um 1166), der wohl angesehenste der quattuor doctores, präzisiert: Gesetzgebungsgewalt habe das Volk oder der Magistrat, der sie an Stelle des Volkes ausübt21. Wird die Gesetzgebungsgewalt in diesen Texten der frühen Glossatoren auch scheinbar abgeleitet aus dem „natürlichen" Verhältnis der Teile zum Ganzen, so kann doch kaum ein Zweifel bestehen, daß der populus als Träger der iurisdictio im Anwendungsfall immer der populus Romanus war. Dieser hatte bekanntlich, wie es die lex regia formuliert, die Macht dem Kaiser übertragen. Einige, wie Irnerius, Placentinus und Roger, meinten nun, diese Übertragung sei endgültig und nicht widerrufbar. Andere, so Azo und Hugolinus, sagten, das römische Volk habe weder die ganze Macht übertragen, noch die übertragene potestas unwiderruflich konzediert. Man könne sie auch zurückfordern: revocare 22. Im Zusammenhang mit Fragen der Gesetzgebungsbefugnis und der höchsten Gewalt meinte also „Volk" bei den Glossatoren anfangs „römisches Volk". Von diesem, zumindest darin war man sich einig, ging prinzipiell alle potestas aus. Die universitas eines einzelnen populus civitatis aber war ebenfalls Teil der Erörterung der Geltung von Recht und Gesetz. Und 20
Universitas, id est populus, hoc habet officium, singulis scilicet hominibus quasi membris providere. Hinc descendit hoc ut legem condat... (De Aequitate 2, zit. R.W. u. A.J. Carlyle, Political Theory in the West II, 57 Anm. 1). Und: ,Lex est' v. reipublica. Y. s. populi, quod unum et idem est re ipsa, secundum diversas inspectiones hec nomina recipit: populus universitatis iure precipit. idem singulorum nomine promittit et spondei (ad D.I.3.1. zit. ebd. Anm. 2). Vgl. U. Nicolini, Autonomia, 154f. 21 Vigor iudiciarius ideo est in medio constitutus ne singuli ius sibi dicant. Non enim competit singulis, quod permissum est tantum universitati, vel ei qui obtinet vicem universitatis, id est populi, qualis est magistratus: alioquin contingeret occasio majoris tumultos (Bulgarus, Ad D.50.17 commentarius, zit. R.W. u. A.J. Carlyle, Political Theory in the West II, 57 Anm. 3). 22 Vgl. ebd. 58-67 (Den Terminus revocare benutzt u.a. Azo ad C.l.14.8., zit. ebd. 65 Anm. 2).
1. Civitas und Imperium
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zwar bei der Frage nach der juristischen Qualität des Gewohnheitsrechtes. Bereits Irnerius erkennt in seiner ,Summa Codicis' die consuetudo cuiusuis oppidi unumschränkt an, solange sie dem ius scriptum des römischen Volkes nicht widerspricht23. Das Volk einer einzelnen Stadt, so heißt es in einer Sammlung von Thesen bekannter Juristen aus dem 12. Jahrhundert, könne seine consuetudo specialis durchaus beibehalten, wenn sie nur communi consensu comprobata sei und dem Naturrecht nicht widerspreche. Man unterschied in diesem Kontext dann häufig zwischen der lex universalis, die nur vom römischen Volk oder vom Kaiser erlassen werden konnte, und der lex particularis, dem eingebürgerten Gewohnheitsrecht eines Gemeinwesens. Viele Rechtsgelehrte waren darüber hinaus der Meinung, daß im Gebiet einer Stadt das dort geltende Partikularrecht unter gewissen Umständen das übergeordnete Recht des Kaisers breche24. Die Schwäche der Partikularrechtstheorie der Glossatoren lag in einer ungenügenden Unterscheidung der Termini Gewohnheit, Gesetz und Statut25. Die Anerkennung des Ortsrechts führte so auch nicht auf geradem Wege zur Behauptung der potestas statuendi einer Stadt. Kanonisten waren in der Frage der Gesetzgebungsgewalt eines populus civitatis weit weniger skrupulös als ihre romanistischen Kollegen. Weil sie ihre Argumentation nicht unbedingt mit dem , Corpus Iuris Civilis' in Einklang bringen mußten, konnten die Lehrer des kanonischen Rechts unbefangener und grundsätzlicher von freien Städten reden. Civitates und regna hatten ihrer Meinung nach unableitbare Herrschaftsrechte: Imperium et iurisdictio, so sagte Richardus Anglicus. Im etwa 1140 entstandenen ,Decretum Gratiani', Grundtext und Inspirationsquelle allen kanonistischen Denkens, heißt es gleich in der ersten Distinktion unter Berufung auf Isidor: lus ciuile est, quod quisque populus vel ciuitas sibi proprium
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Set in hoc differunt, quod ius scriptum nisi ciuitatis Romane non admittitur, ius autem consuetudinarium non solum urbis Rome sed etiam cuiusuis oppidi recipiendum est, dum tarnen iurì scripto non obuiet (Irnerius, Summa Codicis, 306 (VIII.48): ad C.8.52.: Que sit longa consuetudo). Zu Statuten- und Gewohnheitsrecht im Verhältnis zum gemeinen (römischen) Recht in Italien vgl. W. Engelmann, Wiedergeburt, bes. 52f, 81-93, 109-128, 145ff, 160ff, 186ff. Zum Gewohnheitsrecht, trotz aller Kritik, immer noch grundlegend S. Brie, Gewohnheitsrecht, vgl. hier bes. 96-127 („Die Glossatoren"). 24 Die ,Codicis Chisiani collectio* in den .Dissensiones dominorum', 15Iff, enthält in § 46 eine Sammlung bekannter, z.T. anonymer Rechtsmeinungen aus dem 12. Jahrhundert zu dem Thema: An consuetudo legem vincat vel abrogare possiti (Zit. ebd. 152f). Die Antworten fallen unterschiedlich aus. 25 Vgl. S. Brie, Gewohnheitsrecht, 96ff, 103; erst die Postglossatoren hätten eine „Theorie des Gewohnheitsrechts" aufgestellt (ebd. 129) und die consuetudo abgesetzt von lex/statutum (ebd. 134f). Vgl. auch U. Nicolini, Autonomia, 152f.
140 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters diuina humanaque causa constituit26. In enger Anlehnung an Gratian sprachen dann einige Kanonisten des 12. Jahrhunderts jedem Volk und jeder Stadt vorbehaltslos das Recht des selbstgesetzten ius civile zu. Die zwischen 1181 und 1185 geschriebenen ,Glossae Stuttgardienses" folgern aus der von Gratian angeführten Isidorstelle: „Jede civitas kann Recht setzen". Denn, so lautet die Begründung, wenn aus dem „Konsens der Bürger" Gewohnheitsrecht hervorgeht, dann „kann das mit demselben Argument vom ius civile gesagt werden" 27 . Universitates, die die volle Gerichtsbarkeit haben, Innozenz IV. greift in der Mitte des nächsten Jahrhunderts den Gedanken auf, können „Statuten machen" (statuta faceré), genau wie sie „Gewohnheit" zu begründen vermögen (consuetudinem inducere)2'. Zwischen Statuten- und Gewohnheitsrecht erkannten die Kanonisten einen sachlichen Konnex. Quelle beider war die universitas, der populus, 16
Gratian, Decretum, 2b (D.l, c.8). Zur Interpretation dieses Textes in der frühen Dekretistik vgl. S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, 132-138; J. Sydow, Städtebünde, 22Iff. - Populus wurde von den nachfolgenden Interpreten des , Corpus Iuris Canonici' unterschiedlich weit gefaßt. Man findet Formulierungen wie: die civitas sei ein corpus, diese Körperschaft wiederum ein populus tarn nobilium quam ignobilium (zit. S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, 136). Andere Autoren engen den Bedeutungsumfang beträchtlich ein. Johannes Teutonicus (t 1245) liefert in seiner Glosse zur ,Compilatio IV eine Erläuterung des Begriffs populus, die klar macht, daß er damit nur die .ratsfähigen' Führungsgruppen meint: nomine populi comprehendunturpatricii et senatores (zit. J. Sydow, Einheit und Vielfalt, 194). - Die frühen Glossatoren hätten auf einen der zit. Gratian/Isidor-Stelle vergleichbaren Text zurückgreifen können, auf 1.1.2.1.: Nam quod quisque populus ipse sibi ius constituit, id ipsius proprium civitatis est vocaturque ius civile, quasi ius proprium ipsius civitatis (neben dem ius civile Romanorum steht als Beispiel hier ausdrücklich das ius civile Atheniensium). Zur Wirkungsgeschichte dieser Stelle vgl. O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 215f. Aber: Vorbild der Glossatoren ist im Kontext der Debatte um die rechtsetzende Kraft der civitas vor allem die kanonistische Tradition gewesen, vgl. S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, 67ff (vgl. ebd. 132-139, 242-263 zur „progressiven" Rolle der Kanonisten bei der Ausbildung der Lehre einer eigenständigen potestas condendae legis der autonom konzipierten universitas regni sowie der universitas civitatis), und U. Nicolini, Autonomia, 146ff. O.v. Gierke hat den Einfluß der Kanonistik in diesem Zusammenhang nicht ausreichend gewürdigt, wie er denn auch insgesamt deren Rolle unter- und den anstaltlichen Akzent ihres Korporationsbegriffs überschätzt. 27
lus civile est, quod queque civitas sibi constituit. Ex hoc habes, quod ,quelibet civitas potest ius condere', quod ius civile civitatis illius dicetur. Nam si,consensu civium' potest consuetude constituí et dicitur ius consuetudinarium, ,eadem ratione de iure civili potest dici' (Glossae Stuttgardienses, 193, zit. S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, 133). Zu Entstehungszeit und -ort vgl. K.W. Nörr, Kanonistische Literatur, 372. Zur Bedeutung vgl. J. Sydow, Einheit und Vielfalt, 195f. 28 Vniversitates autem quae habent iurisdictionem, possunt facere statuta super omnibus, quae ad iurisdictionem suam pertinent, sicut et consuetudinem inducere possunt... (Innozenz IV., Commentarla, ad Χ I.2.8., fol. 4rb.). Vgl. P. Costa, Universitas, 153f, J. Sydow, Gilde, 119-123.
1. Civitas und Imperium
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die Stadt, war der consensus civium. Über alle Parallelität mit dem Gewohnheitsrecht hinaus aber, und darin liegt der entscheidende Beitrag der Kanonistik, ist die potestas statuendi ein von der consuetudo begrifflich unterscheidbares, ursprünglich und wesentlich jeder Stadt zukommendes Recht. Erst die potestas statuendi macht Königreiche und Städte zu autonomen politischen Verbänden. Bezeichnenderweise behandelt denn auch Bemardus Papiensis (t 1213), der Begründer der Dekretalistik in Bologna, in der vor 1198 verfaßten , Summa decretalium' die Rechtsetzungsgewalt einer Stadt nicht unter dem Titel De consuetudine, sondern im De constitutionibus überschriebenen Teil seines Werkes. Zu den Personen und Institutionen, die Konstitutionen erlassen können, zählt er im Bereich der Kirche Papst und Konzilien, in secularibus nennt er Kaiser und Stadt: Civitas etiam potest facere legem municipalem19. Johannes Andreae (um 1270— 1348) braucht in seiner 1301 verfaßten Glossa ordinaria zum , Liber sextus' an diesem Punkte dann lediglich auf Bekanntes hinzuweisen, wenn er abschließend feststellt: Schon Tankred (t um 1236) habe gesagt, daß „in vielen lombardischen Städten" Gewohnheitsrecht eingeführt worden sei per statuta civitatum30. War das kanonische Recht in der Analyse autonomer politischer Verbände auch unstreitig weiter fortgeschritten als die Romanistik, so hing die rechtspraktische Bedeutung dieser Lehre doch stark davon ab, wie die Legisten auf das Theorieangebot reagierten. Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Stadtherr wurden selten vor geistlichen Gerichten entschieden. Und: Fragen der Einordnung der freien Stadt in das Reich mußten letztlich mit Hilfe des Römischen Rechts beantwortet werden. Die Glossatoren haben sich dieser Entwicklung denn auch nicht verschlossen. Sie akzeptierten neben der allgemein anerkannten Geltung des Gewohnheitsrechts auch bald das Recht einer Kommune, statuta municipalia zu setzen. Idealtypisch beantwortet ist die Frage nach dem Wesen der Gesetzgebungsgewalt in dem berühmten Streit des Azo Portius (f 1220) mit seinem Kollegen, dem Rechtsgelehrten Lothar. Kaiser Heinrich VI., so die verbreitetste Version der Geschichte, habe beiden Juristen die Frage vorgelegt, wer im Besitz des merum imperium sei. Nicht die legendäre Rah25
Im Zusammenhang: Constitutio est ius humanuni in scriptis redactum...Constitue™ potest in secularibus Imperator; civitas etiam potest facere legem municipalem. In ecclesiasticis constituere potest Apostolicus, synodus universalis, synodus patriarchatis et synodus metropolitana; aufschlußreich die anschließende Bestimmung der Aufgabe des officium constitutionis: permittit, punit, imperai atque vetat (Bernardus Papiensis, Summa Decretalium, 3 (1.1.§ 1 -4)). Vgl. S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, 255; gleichlautende Äußerungen ebd. 248 Anm. 2 u. 255ff. 30 Secundum Tane, qui etiam dixit talem consuetudinem esse in multis civitatibus lombardiae induetam per statuta civitatum (Johannes Andreae zit. S. Mochi Onory, Fonti canonistiche, 246 Anm. 43.).
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menhandlung, aber seine Antwort hat Azo selbst in der , Summa aurea' authentisch überliefert: Merum imperium als höchste Form der iurisdictio, argumentiert der gefragte Lehrer des Römischen Rechts, sei zunächst einmal „Hochgerichtsbarkeit" : Habere gladij potestatem animaduertendi in facinorosos homines, quod etiam potestas appellator. Darüber hinaus bezeichne man mit diesem Terminus Rechtsetzungsgewalt. Wie die Hochgerichtsbarkeit liege diese im höchsten Sinne beim Kaiser, nur er allein könne statuere generalem aequitatem. Aber: Die potestas gladij sei ohne Zweifel auch im Besitz von praesides prouinciarum und sublimes magistrate; darüber hinaus müsse er, Azo, im Falle der Gesetzgebung einräumen, daß ein , jeder Stadtmagistrat in seiner Stadt neues Recht setzen kann". Mit dieser ehrlichen und zukunftweisenden Antwort verlor Azo das vom Kaiser als Preis auf die beste Antwort ausgesetzte Pferd ; die von anderen breit ausgewälzte Geschichte kondensiert bei ihm zu dem einen Satz: Ob hoc amiserim equum, sed non fuit aequum31. Lothar gewann: nicht, weil er das „Rechte", sondern weil er das in dieser Situation einzig „Richtige" sagte. Odofredus (t 1265), bedeutender post-accursischer Bologneser Legist, bringt diese Konzeption vielleicht am präzisesten auf eine Formel: Habe auch einzig der Kaiser die Macht, eine für alle geltende lex generalis zu begründen, so gelte gleichwohl, daß der magistratus municipalis condii legem specialem, vi liget illos de suo territorio32. Personengebundenes Recht, Territorialprinzip und Gesetzge31
Nach der zit. gladij potestas geht es weiter: Hoc merum imperium soli princìpi competere, et eum solum habere quidam dicunt...Sed certe etiam sublimes magistratus habent merum imperium...Nam et praesides prouinciarum habent ius gladij...Plenam ergo vel plenissimam iurisdictionem soli principi competere dico..., et ipse solus statuere generalem possit aequitatem...Concedo tarnen quod quilibet magistratus in sua ciuitate ius nouum statuere potest... merum imperium etiam aliis sublimioribus potestatibus competere dico: licet ob hoc amiserim equum, sed non fuit aequum (Azo, Summa aurea, fol. 47vb: ad C.3.13: De iurisdictione omnium iudicum). Die umfangreichste und wirkungsgeschichtlich wichtigste Version, der hier gefolgt wird, stammt von Odofredus (Interpretatio in pandectarum libros, fol. 38rb f: ad D.2.1.3, § 9: I.Imperium, D. De iurisdictione)·, Azo selbst referiert nur seine Argumente, die Rahmenhandlung (als realgeschichtliches Ereignis im übrigen möglich, aber nicht belegt) deutet er lediglich an. Zu verschiedenen Varianten dieser Geschichte vgl. M.P. Gilmore, Argument from Roman Law, 18f, u. F.C.v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts IV, 180 ff. Die Bedeutung der schon im 13. Jahrhundert unter Gelehrten weit verbreiteten Erzählung für die Geschichte des Stadtbegriffs ist bis heute selten bemerkt worden; O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 215f, nennt sie im Zusammenhang mit den statuta municipalia (dort auch weitere Belege), ohne allerdings den Einfluß der Kanonisten zu erkennen; dazu vgl. o. Anm. 26. - Zu „Partikulargesetzen" vgl. auch o. Anm. 11 (Accursius: Der Stadtmagistrat könne eine lex specialis erlassen). 32 Sed si obijcias solus princeps potest legem condere non alius, responde secundum quosdam secundum tempora huius edicti: quilibet magistratus poterai legem statuere,
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bungsgewalt einer Stadt gehen, aufeinander bezogen, in diese Definition ein. Alberto da Gandino (t nach 1310), der die kanonistische und romanistische Diskussion eines Jahrhunderts in seinen ,Quaestiones statutorurrí auswertete und in wirkungsgeschichtlich bedeutsamer Weise für die konkrete Stadtgesellschaft fruchtbar machte, kann am vorläufigen Ende einer verschachtelten Theoriegeschichte die selbstgestellte Frage, wer eigentlich Statuten erlassen dürfe, kurz und bündig beantworten: ...die quod civitas. Et dicitur statutum lex municipalise. Im Anschluß beschreibt Alberto das Gesetzgebungsverfahren. Er unterscheidet sorgfältig zwischen der Funktion des Podestà als demjenigen, der die Rechtsprechung aktuell ausübt, einerseits, und der Funktion des consilium als des gesetzgebenden Gremiums andererseits. Ein Statut, das dem Naturrecht nicht widerspricht, darf seiner Meinung nach auch gegen ein vom Kaiser erlassenes Gesetz verstoßen. Es bleibt gültig34. Gewohnheitsrecht und neugeschaffenes, „gewillkürtes" Statut waren die beiden Pfeiler kommunalen Rechtslebens und städtischer Autonomie seit dem 12. Jahrhundert 35 . Die Wissenschaft vom Römischen Recht brauchte fast zwei Jahrhunderte, um aus beiden Sachverhalten eine allgemein anerkannte und praktisch anwendbare Lehre zu machen. Damit hatte die Theoriebildung am Ende des 13. Jahrhunderts eine Stufe erreicht, auf der man einzelne Rechtsprobleme freier Kommunen ein guFortsetzung Fußnote von Seite 142 in suo territorio: quia non erat translata potestas condendi legem in principem a populo, sed hodie est secus: quia solus princeps, potest legem condere: vel dicatis, quod est venus, quilibet magistratus etiam hodie potest legem condere in suo territorio...; solus princeps potest legem generalem condere: vt omnes de suo imperio liget: sed magistratus municipalis condii legem specialem, vt liget illos de suo territorio (Odofredus, Interpretado in pandectarum libros, fol. 42r f: ad D.2.2.I.: I. Hoc edictum, D. Quod quisque iuris; zit. auch bei P. Costa, Iurisdictio, 148 Anm. 84). 33 Alberto da Gandino, Quaestiones statutorum, 157b (c.I). 34 Sed qualem modum servabunt in statutis et reformationibus faciendis? Et die quod in Consilio; (et) necessarium est quod ibi sint decuriones et fìat propositio, et proponatur in Consilio quid placet illis de Consilio debere fieri, presente potestate, cum potestas habet quod eo presente fieri debet propositio, quia nisi esset presens non valeret... (ebd. 157f; c. II). Ebd. 159a (c. VIII: Statutum contra ius civile). - Zur notwendigen Präsenz des Podestà beim Gesetzgebungsverfahren in den Ratsgremien der Städte und zu der Durchbrechung dieses Prinzips in Florenz gegen Ende des 14. Jahrhunderts, als man die auetoritas et potestas populi Florentini zum Rechtsgrund der Ordnung erklärte, vgl. R. Fubini, Representation, 227f. Zur Differenzierung von Rechtsprechung und Gesetzgebung im Begriff der iurisdictio seit der Mitte des 13. Jahrhunderts vgl. P. Costa, Iurisdictio, 153-157. Zu Alberto vgl. F. Calasso, Glossatori, 97, zur potestas statuendi noch M. Sbriccoli, Interpretazione dello statuto, bes. 31-41 (Alberto: 35ff; Lit.), P. Michaud-Quantin, Universitas, 247-252, u. D. Wyduckel, Princeps Legibus Solutus, 76-79. 35 Vgl. G. Dilcher, Stadtkommune, 156f.
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tes Stück weit fassen konnte. Auch juristisch ließen sich Fragen des Partikularrechts, der Selbstverwaltung und Statutengebung nun einigermaßen praktikabel beantworten. Eine konsistente juristische „Theorie der Stadt" allerdings ist auf diese Weise nicht zustande gekommen. Das Kernstück einer solchen „Theorie" : das Problem der „Souveränität" und damit die Frage nach dem Rechtscharakter ausgeübter Herrschaft und Gerichtsgewalt, konnte erst in bezug auf das Imperium und andere Königreiche, nicht aber für autonome Städte befriedigend analysiert und geklärt werden. In diesem Zusammenhang muß auf zwei weitere Traditionslinien hingewiesen werden, mit deren Hilfe man schon vor dem 14. Jahrhundert die rechtsdogmatische Stellung autonomer Kommunen im Reichsverband stärken konnte. Zum einen war das die Anpassung des populus RomanusBegriffs an die Zeitumstände und zum anderen die Übertragung des Terminus respublica auf das städtische Gemeinwesen. Wenn die Glossatoren aus ihrem Verständnis von textgerechter Interpretation des , Corpus Iuris Civilis' heraus die Qualifizierung populus zunächst nur auf die Stadt Rom und das Kaiserreich anwandten, so finden sich bei ihnen doch auch eigenständige Wurzeln für eine Erweiterung und Vertiefung des Wortgebrauchs. Die Konzeption eines Partikularrecht setzenden populus civitatis wies, wie wir sahen, langfristig ebenso über sich hinaus wie die schon früh belegte rechtsphilosophische Verallgemeinerung des Volks-Begriffes mit Hilfe ciceronischer Gedanken. So heißt es in einer frühen Sammlung von verba legalia beispielsweise: Populus est collectio multorum ad iure vivendum, quae nisi iure vivat, non est populus36. In zahlreichen Teilgebieten der juristischen Theoriebildung liegt der Wendepunkt um das Jahr 1300. Cino da Pistoia verfaßte 1314 seine , Commentario in CodicemMit diesem Werk holte er die neue, in Orléans gelehrte Rechtswissenschaft nach Italien und wurde so zum eigentlichen Begründer der Kommentatorenschule in seinem Land. Der realitätsbezogene Zugriff einer neuen Juristengeneration, die die überkommenen Ergebnisse romanistischer und kanonistischer Gelehrsamkeit selbständig und sachbezogen verarbeitete, zeigt sich auch in der Behandlung des Terminus „Volk". Cino referiert die verschiedenen Meinungen zur Gesetzgebungsgewalt des populus Romanus, neigt schließlich zu der Ansicht, daß diese auctoritas dem Volk, dem Präfekten und dem Senat zustehen, und schließt: „Von diesen Meinungen halte dich an die, die dir mehr gefällt, mich kümmerts 36 De verbis quibusdam legalibus, 131a. Vgl. F. Calasso, Glossatori, 92-97, zum popu/wi-Begriff, und P. Costa, Iurisdictio, 243-251. Azo formuliert ähnlich, sein Grundbegriff hier ist aber nicht populus, sondern civitas: Civitas est hominum multitudo seu collectio ad iure vivendum (Zit. und weitere Hinweise zur Geschichte dieses ciceronisch gefaßten Stadtbegriffs in der römischrechtlichen Literatur bei J. Kirshner, Civitas sibi faciat civem, 700 Anm. 23, auch Anm. 22).
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nicht. Denn wenn das römische Volk auch tatsächlich Gesetz oder Gewohnheit machte, so weiß ich doch, daß dies außerhalb der Stadt nicht beachtet würde". Der Eingrenzung auf der einen entsprach bei demselben Autor die Verallgemeinerung auf der anderen Seite: Populus tarnen alicuius loci potest legem interse facere". In dieser konkreten Hinsicht waren das Volk von Rom und die Bürgerschaften autonomer Gemeinwesen zum ersten Mal gleichberechtigte Rechtssubjekte geworden. Das Schicksal der Lösung von Rom und der Übertragung auf andere Korporationen teilte auch der Begriff respublica. Schon im 12., verstärkt dann im 13. Jahrhundert gebrauchte man respublica gewissermaßen untechnisch zur Bezeichnung einer civitas oder eines municipium. Argumentierte man grundsätzlich, vergaß man allerdings selten hinzuzufügen, daß respublica im , Corpus Iuris Civilis' streng genommen nur auf Rom oder das Reich bezogen werde". Pilius (t nach 1207) beschäftigt sich 1192/93 in seinem Kommentarfragment zu den , Tres libri' - ein Werk, das in die vielgelesene , Summa super Codiceni des Azo eingefügt und unter dessen Namen zitiert wurde - ausführlich und beispielhaft mit diesem Problem: Den Namen respublica lege man einer anderen Stadt als Rom nur im „uneigentlichen" Sinne bei. „In Wahrheit und eigentlich" könne aber allein Rom so genannt werden. Auch bezeichne man die Besitztümer einer anderen Stadt „mißbräuchlich" als „öffentlich", denn ciuitates loco priuatorum habeantur. Diese pflichtgemäße Erinnerung an die „reine Lehre" hindert den Autor aber nicht daran, den Begriff in den folgenden Rubriken für jede Stadt zu verwenden: In hac rubrica respublica improprie ponitur pro qualibet ciuitate3®. „Uneigentlich" wird zum Hinweis darauf, daß man mit der Ambivalenz der Begriffe vertraut ist. Ähnlich schildert Accursius den " ...de his opinionibus tene, quae magis tibi placet, quia ego non curo. Nam si populus Romanus faceret legem ve/ consuetudinem de facto, scio quod non seruaretur extra vrbem (Cino da Pistoia, In Codicem, fol. 29rb: ad C.l.14.12.: I. Si imperialis, C. De legibus). - Ders., In Digesti veteris libros, 695 (fol. 31ra): ad D.2.2.1, no. 11: l. Hoc edìctum, D. Quod quisque iuris (Gesetzgebungsbefugnis jedes Volkes). Vgl. P. Costa, Iurisdictio, 245f. 311 Vgl. W. Mager, Republik, 561. P. Costa, Iurisdictio, 232f, gibt zahlreiche Belege für den Wortgebrauch bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Vgl. auch O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 357f. 39 In primis tarnen illud sciendum est quod in hac rubrica respublica improprie ponitur pro qualibet ciuitate, vt dictum est non romana. Nimirum vere et proprie sola et romana ciuitas recte appellatur respublica. Unde bona ciuitatum abusiue dicuntur publica cum ciuitates loco priuatorum habeantur (Pilius, Cum essem Bononie, 432a: ad C.l 1.30: C. De iure reipublice). Ebd. 432b führt er als Beispiel von Rechten, die nur einer respublica zustehen, u.a. das vom Kaiser verliehene Münzrecht (ius fabricande monete) seiner Stadt ' Bologna an. Zur Textgeschichte und Einfügung in die ,Summa' des Azo vgl. F.C.v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts IV, 338341 u. V, 30; ebenso P. Weimar, Glossatorenzeit, 202f u. 204.
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mehrfachen Sinn des Wortes respublica. „Eigentlich" bezeichne es die respublica romanorum oder die ciuitas romana, „uneigentlich" aber auch „jedwede Stadt" oder sogar „jedes Munizipium" 40 . Ungeachtet der terminologischen Vorbehalte verwandten Glossatoren die Begriffe respublica und bona publica bereits seit dem 12. Jahrhundert regelmäßig zur Charakterisierung der Rechtsqualität der Stadtgesellschaft ihrer Zeit. Gerade in der Frage des Rechtsstatus der Einkünfte und des Vermögens einer Kommune ließ sich der enge Wortgebrauch des , Corpus Iuris Civilis' kaum rechtfertigen. Denn „Fiskus" war im Römischen Recht integrale pars reipublicae; indem man das ius fìsci den autonomen Stadtgemeinden letzten Endes schon aus Gründen einer halbwegs adäquaten Erfassung der Wirklichkeit einräumen mußte, konnte man den mit diesem Rechtstitel so eng verbundenen Begriff der respublica langfristig nicht allein Rom vorbehalten41. Am Ende dieses ersten Durchgangs durch den komplexen und mehrdimensionalen Prozeß der Anwendung der Sprache des Römischen Rechts auf die mittelalterliche Stadtgesellschaft bis zum 14. Jahrhundert können wir einzelne Traditions- und Diskussionslinien erkennen. Grundlegend war die Einbeziehung der Stadt in die seit dem 12. Jahrhundert ständig fortentwickelte Korporationslehre, die jeder universitas einen gewissen Grad an Autonomie und Selbstverwaltungsrechten zusprach: zu nennen sind Jurisdiktion, wie eingeschränkt auch immer, Wahl der Vorsteher und Vermögensnutzung. Besonders Kanonisten akzentuierten für den körperschaftlichen Verband das Konzept einer den Wechsel der Mitglieder über40
...et nota quod tribus modis respublica dicitur primo romanorum, vt hic. Item pro ciuitate romana tantum et tunc proprie...Item pro qualibet ciuitate et tunc improprie. ..Ponitur et quarto vt pro quolibet municipio (Accursius, Glossa in Autenticum, 135 (fol. 2ra): ad Auth.l : De haeredibus et falcidia). In seiner Gl. ad C.l 1.30 argumentiert Accursius genau wie Pilius vor ihm und setzt bei Fragen des eigenen Rechts (auch er nennt das Münzrecht), der Administration und der Abgaben respublica romanorum und respublica aliarum ciuitatum praktisch gleich (Accursius, Glossa in Tres libros, 377 (fol. 223ra f): ad C.l 1.30: C. De iure reipublicé). 41 Vgl. O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 202 (frühe Belege der Anwendung von respublica auf die Stadt); auch werde, so Gierke, „der hinzugefügte Vorbehalt .uneigentlicher' Redeweise ziemlich bedeutungslos... Ja mitunter sagen sie es ganz offen, daß sie der Korporation als solcher eine eigne öffentlichrechtliche Sphäre beilegen" (ebd.). Genauso sehen und belegen das P. Michaud-Quantin, Universitas, 286, u. J.P. Canning, Baldus, 123, der außerdem darauf hinweist, daß es schon im , Corpus Iuris Civilis' selbst einzelne Beispiele für die Anwendung des Begriffs respublica auf andere Städte als Rom gibt: z.B. C.8.17.4. (Der Verweis ebd. auf Azo ist allerdings irreführend: ad C.l 1.30 in Azos ,Summa super Codicem' ist von Pilius und nicht von Azo, vgl. o. Anm. 39) - Zu fiscus vgl. O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 359f; E.H. Kantorowicz, King's Two Bodies, 164-192, 299 u. passim; P. Michaud-Quantin, Universitas, 204 Anm. 11 u. 286; F. Ercole, Da Bartolo all'Althusio, 77f, 214ff; grundlegend: F.E. Vassalli, Natura del fisco, hier bes. 190ff.
1. Civitas und Imperium
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dauernden, durch gewählte Verteter rechts- und handlungsfähigen abstrakten Gesamtperson, zusammengefaßt und terminologisch verdichtet im Begriff der persona ficta. Die Heraushebung der civitas und die Akzentuierung ihrer Sonderstellung im Kontext der Korporationstheorie konnte unterschiedlich formuliert werden. Einmal, indem man die freie Stadt, deren Existenz man ungeachtet der daraus resultierenden Theorieprobleme nicht leugnete, mit Jurisdiktions- und Selbstverwaltungsrechten der alten römischen Provinz ausstattete und ihren Podestà kurzerhand zum praeses provinciae machte. Dann aber auch durch die Anerkennung städtischer Gewohnheitsrechte, verbunden mit der sich langsam durchsetzenden Zusatzannahme, daß jede unabhängige Kommune Gesetzgebungsbefugnisse und damit plena iurisdictio verwalte oder besitze. Letzteres wurde vor allem von Kanonisten angestoßen. Legisten rezipierten Teile dieser Theorie und bauten sie ein in ihre Vorstellung einer im Kaiser gipfelnden Gesellschaftsordnung. Die Ablösung der römischrechtlichen populus- und Konzeptionen von Rom und dem Reich schließlich hatte die Tendenz, besonders das städtische Gemeinwesen normativ aufzuwerten. Desiderat blieb trotz aller Fortschritte im einzelnen eine theoretisch stringente und unverwechselbare Verortung der autonomen Stadt im hierarchischen Geflecht von Korporationen verschiedener Größe und Rechtsqualität. Desiderat blieb auch eine konkretere Analyse städtischer Ratsherrschaft. Vielversprechende Ansätze und zahlreiche Einzelergebnisse zum Verhältnis der „Glieder" zum „Haupt", der Bürger zum Magistrat, zu den Mechanismen der Wahl und Bestellung von Repräsentanten sind nie zu einer wirklichkeitsnahen Beschreibung „stadtbürgerlicher Herrschaft" weiterentwickelt worden. Diese Aufgabe haben erst Bartolus und Baldus in Angriff genommen. Ihre nun zu erörtende Theorie der universitas superiorem non recognoscens knüpfte die vorliegenden Fäden zusammen und verband sie zur ersten juristischen Theorie der unabhängigen Stadt im Reichsverband. Mehr noch als in den Jahrhunderten zuvor tritt bei den Kommentatoren die Stadt ins Zentrum der Theoriebildung. Bei aller Spannweite des universitas- Begriffs, so kann man mit Otto von Gierke sagen, ist für Legisten und Postglossatoren die civitas immer „der eigentliche Typus der Korporation" gewesen42.
42
O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 356. - Ebd. 355-368 die ganze Bandbreite der Anwendung des universitas-Begriffs bei den Postglossatoren; der Terminus wurde nun auch für das Reich verwandt.
148 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
2.
Unabhängige und autonome Städte. Postglossatorische Theorie der Stadt als Versuch einer subsidiären Legitimation von Herrschaft
In der Geschichtsforschung steht neuerdings das vertraute Bild der autonomen mittelalterlichen Stadt zur Disposition. Selbst Florenz, bisher das Paradebeispiel einer freien Stadtrepublik, war danach eingebunden in Machtstrukturen regionaler und überregionaler Art, die den säkular-kommunalen Rahmen sprengten und den Raum „souveränen", genuin politischen Handelns beträchtlich eingrenzten. Handlungsträger in diesem Bild ist nicht mehr die selbständige Kommune oder gar jene vielzitierte civitas sibi princeps des Bartolus, diese wird vielmehr ausdrücklich der Ideologie zugeschlagen. An die Stelle der juristischen Fiktion tritt ein städtisches Gemeinwesen, das das Vertrauen seiner Bürger nur mit Hilfe kirchlicher Institutionen und päpstlicher Garantien aufrecht zu erhalten, das Legitimität und Bestand seiner Verfassung nur im Rekurs auf öffentliche Rituale, Zeremonien und das „Heilige" zu sichern vermochte. Politik ist folglich kaum mehr der Bereich autonomer, zweckbestimmter, am Diesseits orientierter Entscheidungen gewählter, rechenschaftspflichtiger und am Gemeinwohl orientierter Amtsträger, sondern eine arte del compromesso, gehandhabt von familiär eng verflochtenen, im Eigeninteresse agierenden kirchlichen und kommunalen Führungsclans. Der letzter Akt dieser „Kunst des Kompromisses" spielte, so eine weitere Pointe dieser Sicht der Dinge, außerdem oft an Gerichtshöfen einer übergeordneten Macht: Im Falle von Florenz war es die römische Kurie, an der viele Konflikte innerhalb der Florentiner Führungsgruppen ihren endgültigen Ausgleich fanden 43 . Hier soll nicht über die berechtigte Korrektur liebgewordener Vorstellungen geurteilt werden. Nur soviel: Die hartnäckige Erinnerung an die Tatsache, daß die mittelalterliche freie Stadt kein moderner säkularer Staat gewesen ist, kann vernachlässigte Aspekte kommunalen Lebens, insbesondere die rituell-religiöse Dimension stadtbürgerlicher Identitätsbildung, neu in den Blick bringen. Das ist jedoch nicht Thema dieser Arbeit. Anregend aber bleiben die jüngsten Anstöße auch im folgenden allemal, wenn es darum geht, die Rechtsgelehrten des Spätmittelalters nach den Merkmalen und Grenzen städtischer Autonomie zu befragen. Das Interesse darf unter dieser Vorgabe nicht nur gerichtet sein auf die zeitgenössische Herausarbeitung der „souveränen" Rechte unabhängiger Stadtstaaten 43
R.C. Trexler v.a. hat diese Auffassung in zahlreichen Veröffentlichungen vertreten, dezidiert zuerst 1972 in ders., Lord Pope; mit ausgeweiteter Fragestellung als Gesamtkonzeption ders., Public Life (Lit.). Neuerdings auch R. Bizzocchi, Chiesa e potere (hier, 124, als Kapitelüberschrift: „L'arte del compromesso").
2. Unabhängige und autonome Städte
149
und autonomer Städte. Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen Vernetzungen der städtischen Gemeinwesen in Reich und Kirche stets mit zu bedenken und in die Beurteilung konkreter Handlungsräume einzubeziehen. Vielleicht ist der Abstand zwischen ältester und neuester „Theorie der Stadt" am Ende gar nicht so groß, wie es die jüngst formulierten Bedenken gegen eine unreflektierte Anwendung der abstrakten juristischen Doktrin von der civitas sibi princeps auf die Verhältnisse der Vergangenheit zunächst nahelegen. Legisten und Kanonisten haben seit dem 12. Jahrhundert einige praktikable Theoreme entwickelt, um mit den Mitteln der Jurisprudenz strittige Fragen der Rechtsnatur einer Stadt zu beantworten. Indem sie die Begriffe iurisdictio, merum imperium, fiscus und potestas statuendi in den Mittelpunkt ihrer Kontroversen stellten, haben sie jedoch zugleich auch Schwerpunkte politischer Theorie neu gesetzt und Akzente der politischen Sprache verschoben. Der deutsche Kaiser, der in der Auseinandersetzung mit den Städten des regnum Italiae seit dem Reichstag von Roncaglia im Jahre 1158 immer häufiger auf römischrechtlich geschulte Juristen zurückgriff, um Reichsrechte einzufordern, wurde dem imperator des , Corpus Iuris Civilis' immer ähnlicher. Nur noch selten stand er als rex Lombardiae, Feudalherr der oberitalienischen Städte, im Mittelpunkt der juristischen Auseinandersetzungen. Cecil Ν. Sidney Woolf hat diesen begriffsgeschichtlich bedeutsamen Transformationsvorgang beschrieben und auf den Punkt gebracht: „the king of Italy was lost in the Imperator Romanorum". Konfliktfalle zwischen Kaiser und Stadt, bisher unter den Titeln „Rechte und Freiheiten", „Regalien" und „Immunität" verhandelt, konnten nun oft wirksamer unter den „staatsrechtlichen" Termini merum imperium, iurisdictio und potestas legem condendi geklärt und gefaßt werden. Merum et mixtum imperium, dessen Besitz Vertreter italienischer Städte seit dem 13. Jahrhundert immer wieder auf den Frieden von Konstanz im Jahre 1183 zurückführten, taucht als Begriff im Vertragstext selbst bezeichnenderweise noch nicht auf. In dieser Dialektik von römischrechtlichen Konzeptionen und mittelalterlicher politischer Sprache, aus der keine der beiden Seiten unverändert hervorging, liegen die Wurzeln einer Entwicklung, die schließlich, verbunden und verflochten mit der Arbeit an der Aristotelischen praktischen Philosophie, zu einer neuen Sicht von Mensch, Staat und Gesellschaft führen sollte. Meilensteine auf dem Weg waren die Schriften des Bartolus de Saxoferrato (1314-1357) und seines Schülers Baldus de Ubaldis (1327-1400). Noch der Begründer einer neuen Sicht der Dinge, Jean Bodin (t 1596), erinnert an die beiden Rechtsgelehrten und nennt sie respektvoll principes juris scientiae*4. 44
Dieser Absatz fußt auf C.N.S. Woolf, Bartolus, 127-134 (Ablösung der feudal-
150 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
Nicht nur der Kaiser, sagt Bartolus, auch eine Stadt könne von der Anklage der Infamie freisprechen. Seine Begründung: „Weil heute jedwede Stadt Italiens, besonders aber Tusziens, einen Herrn nicht anerkennt, in sich ein freies Volk beherbergt und im Besitz des merum imperium ist, hat sie im Volk auch die gleiche Macht wie der Kaiser im Ganzen". Diese ciuitates Italiae, meint derselbe Autor in einem anderen Zusammenhang, hätten wie der princeps das Recht, jemanden vom Bann zu lösen und die Rückkehr zu erlauben, denn ipsae sunt principes sibi ipsis45. Die superiorem non recognoscens Formel, bisher „wertneutral" nur bei Königen gebraucht, hat Bartolus, erweitert und vertieft durch den einprägsamen Topos civitas sibi princeps, zum Kern seiner Theorie der Stadt gemacht. Stadt und Königtum, schon in der politischen Theorie im Doppelbegriff civitas vel regnum als politische Verbände vergleichbarer Art gekennzeichnet, sind jetzt auch eingegangen in die gelehrte juristische Theoriebildung als selbständige Gemeinwesen. Was genau kennzeichnet nun die freie, fürstengleiche Stadt, was unterscheidet sie von derjenigen, die einen Superior anerkennt, und was sind die inneren und äußeren Grenzen ihrer „Souveränität"? In der Beantwortung dieser Fragen sollen im folgenden die chronologische Perspektive des vorangegangenen Abschnitts aufgegeben und die Werke des Bartolus und Baldus sowie, wenn neue Gesichtspunkte hinzukommen, Schriften anderer Juristen systematisch analysiert werden. Grundlegende Merkmale jeder unabhängigen Stadt, Bartolus greift BeFortsetzung Fußnote von Seite 149 rechtlichen durch römischrechtliche Termini); ebd. 133 (Zit.: „king of Italy"); ebd. 134 Anm. 1 (merum imperium und Friede von Konstanz); ebd. 393 (Bodin Zit.). Unsere langfristig argumentierende These geht über Woolf hinaus. Auch heute noch ist die Arbeit dieses englischen Gelehrten unverzichtbare Grundlage für jedes Studium der Ideen des Bartolus; bes. wichtig für das folgende ebd. das Kap. II. 3: „The Empire and the Civitates", 112-207. Zu Bartolus vgl. außerdem: Bartolo (Beiträge in zwei Jubiläumsbänden) und F. Ercole, Da Bartolo all'Althusio, 49-217, bes. 70-118, 143-157, 214-217. - Auch für deutsche Juristen existiert der Kaiser im 15. und 16. Jahrhundert „kaum mehr als reale Person, sondern gewissermaßen als ein rationalisierter Wirkungszusammenhang" (E. Isenmann, Reichsrecht, 596). 45 Quaero vtrum ciuitas vna possit infamiam irrogare, vel super infamia dispensare? Videtur quod non...causa infamie non est de iurisdictione ciuitatis, cum sit reseruata principi...Solutio: dicerem cum quaelibet ciuitas Italiae hodie, et praecipue in Tuscia, dominum non recognoscat in seipsa habet liberum populum, et habet merum Imperium in seipsa, et tantam potestatem habet in populo, quantam Imperator in vniuerso (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 141vb: ad D.48.1.7, no. 14: I. Infamen, D. De publicis iudiciis). - ...et idem intelligo in istis ciuitatibus Italiae, quia ipse sunt principes sibiipsis, quia possunt exult dare licentiam reuertendi (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 184va: ad D.48.19.4, no. 4: l. Relegati, D. Depoenis). Bei C.N.S. Woolf, Bartolus, 155-160 und bei P. Costa, Iurisdictio, 256-259, sind Zusammenstellungen der einschlägigen Bartolus-Texte zu civitas superiorem non recognoscens, civitas sibi princeps. Viele der hier zit. Texte findet man auch dort.
2. Unabhängige und autonome Städte
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kanntes auf, sind einmal der Besitz von plena iurisdictio bzw. merum et mixtum imperium und insbesondere die damit verbundene potestas condere legem. Außerdem kann jedes Gemeinwesen, das keinen Superior anerkennt, Steuern und Abgaben erheben; wer aber das iusfìsci ausübt, ist notwendigerweise eine respublica. Nicht jede Stadt hat diesen Komplex von Rechten und Privilegien, und nicht jede Stadt, die sie insgesamt ausübt, hat sie im selben Sinne. Bartolus unterscheidet die Gemeinwesen anhand unterschiedlicher Kriterien: nach Größe, Qualität der ausgeübten Rechte und Quelle ihrer Gerichts- und Befehlsgewalt. Alle komparativen Ordnungsmodelle werden jedoch an Bedeutug übertroffen von jener dualen Kategorisierung der civitas superiorem recognoscens, die im folgenden „autonome Stadt" genannt werden soll, und der civitas superiorem non recognoscens, fortan als „unabhängige Stadt" bezeichnet46. Bartolus arbeitet in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichen Einteilungsschemata. Einmal unterteilt er vniuersitates herkömmlich in prouincia, ciuitas und Castrum seu municipium 47. Ein anderes Mal differenziert er nach drei Größenordnungen und zählt auf : Die vniuersitas larga, die prouincia, hier wie im ersten Fall, mit merum et mixtum imperium; die vniuersitas minus larga, die ciuitas, hier wie im ersten Fall mit eingeschränkter iurisdictio", schließlich die vniuersitas minima, das Castrum oder die uilla, die der ciuitas untergeordnet sind und keine eigenständige Gerichtsbarkeit besitzen. Eine universitas superiorem non recognoscens ist die so gefaßte civitas sicher nicht. Bartolus selbst rückt diese eng am , Corpus Iuris Civilis' entwickelte Modellbildung zurecht und räumt ein, daß bestimmte Städte der Lombardei merum et mixtum imperium auch aufgrund von „Privileg" oder „Gewohnheit" innehätten 48 . 46
Diese Begriffsbildung folgt der juristischen Terminologie, sie ist angeregt worden durch J.P. Canning, Baldus, 98f; wir fassen Autonomie aber enger: Kleine Landstädte zählen u.U. zu den civitates superiorem recognoscentes, also den autonomen Städten. Sie werden in der Regel keine Gerechtsame haben, die sich mit denen einer Reichsstadt oder einer ökonomisch potenten, großen Stadt, die nur locker mit ihrem Landesherrn verbunden ist (Hamburg z.B), vergleichen lassen. Wenn hier autonome Städte mit unabhängigen verglichen werden sollen, sind in erster Linie autonome Städte mit umfangreichen Herrschafts- und Jurisdiktionsrechten gemeint: Nur an diesen kann man die spezifische Differenz zwischen superiorem recognoscens-non recognoscens deutlich herausarbeiten. 47 Bartolus, In primam Digesti veteris partem, fol. 47va f: ad D.2.1.3, no. 7ff : § Videamus ergo de mero, /. Imperium, D. De iurisdictione. Zu den unterschiedlichen Dreiteilungen vgl. auch F. Ercole, Da Bartolo all'AIthusio, 80f, 107-112 (in den Anm. dort auch die einschlägigen Texte). 4β ...debetis scire, quod nos habemus triplicem vniuersitatem. Vna est larga, quae facit prouinciam, haec de iure communi habet merum, et mixtum imperium...Secunda vniuersitas est minus larga, quae constituit ciuitatem. et huic de iure communi cohaerent iurisdictiones tantum, vsque ad certam quantitatem, et in leuioribus criminalibus sed
152 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
Die Sache wird klarer, wenn man die Systematisierungsversuche aus der Perspektive der Stadt betrachtet. Bartolus bietet hier folgende Sicht an: Drei Ordnungen von Städten gebe es. Maximae ciuitates nenne man solche mit eigenem Gerichtshof, die andere Städte unter sich hätten und das merum imperium ausübten. Nur letzteres träfe auf die zweite Kategorie, die ciuitates magnae zu, über andere Städte herrschten diese allerdings nicht. Der dritten Ordnung, den ciuitates paruae dagegen, komme all das nicht zu, sondern nur die Art der Gerichtsbarkeit, die man üblicherweise defensores ciuitatum zubillige. Der Hintergrund einer solchen Argumentation ist schnell gefunden. Auch hier liefert die römischrechtliche prouincia das Modell für die oberste Kategorie des Schemas, die über mehrere Städte herrschende ciuitas maxima: Denn heutzutage „kann jede Stadt, die ein bestimmtes Territorium besitzt und keinen Superior anerkennt, Provinz genannt werden" 4 '. „Provinz" als Terminus technicus für jeden mit Gerichtshoheit und Herrschaftsrechten ausgestatteten Verband war bekannt. Ausbaufähig und rechtsgeschichtlich bedeutsam war die territoriale Konnotation dieses Grundbegriffes, der die Transformation mittelalterlicher Herrschaft zur Territorialgewalt besonders präzise zu fassen gestattete. Neu und weiterführend ist in diesem Zitat die Qualifizierung superiorem non recognoscens. Sie erst fügt die Begriffsgeschichte von provincia
Fortsetzung Fußnote von Seite 151 merum et mixtum imperium, non habent magnum...Fallit in quibusdam ciuitatibus, quibus hoc est concessum de iure communi, vt ciuitati Romanae...et alijs quibusdam ciuitatibus Lombardiae, quae hoc habent ex illa constitutione, Federici extrauag. de pace Constan...Aliae uero ciuitates habent merum, et mixtum imperium, vel expriuilegio speciali, uel ex consuetudine legitima, uel forte utuntur eo de facto. Est tertia vniuersitas minima, ut Castrum, uilla et similia: et ista, si quidem subsunt alicui ciuitati, uel alteri castro magno, nullam iurisdictionem habent, sed ciuitas, cui subsunt, habet iurisdictionem in eis (Bartolus, In primam Digesti noui partem, fol. 23rb: ad D.39.2.1, no. 3 : l. Cum res, D. De damno infecto). Der gleiche Text, mit kleinen Abweichungen, findet sich in einem Gutachten: Bartolus, Consilia, fol. 44rb: Consilium 189, no. 1. 49 ...tres erant ordines ciuitatum: quaedam maxime, quaedam magnae, quaedam paruae. Maximae dicebantur ille in quibus erat forum causarum, cui suberant multe aliae ciuitates, etiam habentes merum imperium. Magne ciuitates dicebantur illae, quae etiam habentes merum imperium non tamen habebant alias sub se. Paruae dicebantur illae, quae non habebant merum imperium sed solam iurisdictionem, quae datur defensoribus ciuitatum...Tamen quaelibet ciuitas habens distinctum territorium, quae superiorem non recognoscit, potest dici prouincia... (Bartolus, In secundam atque tertiam Codicis partem, fol. 33vb: ad C.l 1.21.1, no. 2 u. no. 4: /. Propter, C. De metropoli Beryto). Vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 143; P. Costa, Iurisdictio, 254. In einem anderen Kontext gebraucht Bartolus die gleiche Einteilung, dort allerdings besitzt die mittlere Gruppe von Städten nur mixtum imperium, vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 143 Anm. 2.
2. Unabhängige und autonome Städte
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ein in die Theorie der unabhängigen Stadt. Als Ergebnis darf man festhalten, „provincia, universitas larga e civitas maxima sono sinonimi" 50 . Den unabhängigen Städten eignet ein hohes Maß an Selbständigkeit. Folgende Themen und Argumente finden sich bei Bartolus: „Freie Städte" haben, wie berichtet, merum et mixtum imperium, auch das Recht, Verbannungen aufzuheben und von Infamie freizusprechen. Ihre Substanz ist ein populus liber. Ein freies Volk kann per Statut Minderjährigen die Verwaltung ihrer Güter anvertrauen, da die Stadt eines freien Volkes ipsamet sibi princeps est. Der populus liber „kann Gesetz und Statut machen wie es ihm gefällt", er ist imperium sui ipsius5[. Unabhängige Städte können ihren eigenen Rektor wählen, sogar ihr eigenes Appellationsgericht sein52. Bartolus gebraucht den Begriff respublica für autonome Städte und Munizipien ebenso wie für die unabhängigen civitates. Ganz der Tradition verpflichtet, unterscheidet er von diesem umfassenderen RepublikBegriff einen engen, der nur das Reich und die Respublica Romanorum meint und gekennzeichnet ist durch die Identität von Republik und Fiskus. In Weiterführung der Tradition wird bei Bartolus nun das ius fìsci, nicht die Qualität respublica, zum Kriterium der Unterscheidung von autonomen und unabhängigen Städten. In Städten, „die de iure vel de facto keinen Superior anerkennen, wie die Städte Tusziens, ist die Stadt sich selbst Fiskus"53. Als konkretes Beispiel dienen wieder einmal die Floren50
P. Costa, Iurisdictio, 254. Zu Provinz vgl. auch C.N.S. Woolf, Bartolus, 123, 142f, 144, u. F. Ercole, Da Bartolo all'Althusio, 78-84, 11 Of (P.Costa, Iurisdictio, 254f Anm. 38, kritisiert wohl zurecht die von Ercole, 83f, vorgenommene Differenzierung zwischen Provinz und unabhängiger Stadt). „Provinz" auch u. in Anm. 84. - Zur Wirkungsgeschichte von „Provinz" bis ins frühneuzeitliche Deutschland vgl. D. Willoweit, Territorialgewalt, bes. 27f, 282. 51 ...quod per statuta ciuitatum non possit concedi minoribus administratio bonorum suorum, quia hoc princeps reseruauit sibi, aber: Ciuitates tarnen, quae Principem non recognoscunt in dominum, et sie earum populus liber est...possent hoc forte statuere, quia ipsamet ciuitas sibi princeps est (Bartolus, In primam Digesti veteris partem, fol. 131va: ad D.3.1.3, no. 1 : /. Denique, D. De minoribus 25 annis). - Nam quidam est populus liber, qui habet omnem iurisdictionem, et tunc potest facere legem, et statutum prout sibi placet (Bartolus, In secundam atque tertiam Codicis partem, fol. 26rb f : ad C. 10.63.5, no. 4: I. Si quod, C. De legationibus). Vgl. F. Ercole, Da Bartolo all'Althusio, 82-84. 52 Pone, quod est ciuitatis, quae non recognoscit superiorem et quae eligit ipsa sibi rectorem, nec habet alium officialem, quis erit judex appellationis? Respondeo, Ipse populus, seu ordo, qui ipsum officialem facit, quia solus reperitur superior ipsi populo, et sibi princeps est... (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 194va: ad D.49.1.1, no. 10: § Si quis in appellatione, I. Appellandi usus, D. De appellationibus). Zur Wahl von Amtsträger vgl. auch C.N.S. Woolf, Bartolus, 124f. 53 Zum unterschiedlichen Gebrauch von respublica bei Bartolus vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 116-122. - Nota glossa que dicit, quae bona vacantia non applicantur alteri ciuitati, sed fìsco, et verum dicit in ciuitatibus que recognoscunt superiorem: sed in his,
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tini et alii Italici, die in Kriegszeiten gabellae (Verbrauchsteuern) erheben, um das Heer zu finanzieren. Und an anderer Stelle heißt es im Anschluß an die bekannte Unabhängigkeitsformel: Ciuitates libere...possent[seil, collectant] imponere quomodo sibi piacerei54. An der unschwer erweiterbaren Fülle der Belege erkennt man das starke Interesse dieses Juristen an einer Theorie der Stadt, die die faktischen Verhältnisse im Norditalien des 14. Jahrhunderts rechtskonform zu begreifen vermag. Daher sein ständiges Rekurrieren auf Formeln wie hodie, de facto und superiorem non recognoscens. Bleibt man an diesem Punkte stehen, kann Bartolus als Begründer einer Lehre des souveränen Stadtstaates erscheinen, eine Rolle, die ihm nicht selten auch zugedacht worden ist. Wie immer im Felde mittelalterlicher Politik- und Rechtstheorie sind die Dinge komplizierter, als es zunächst scheint. Was unterscheidet eigentlich die Städte, die einen Superior anerkennen, die autonomen Städte, von den unabhängigen Städten? Überspitzt könnte man formulieren: notwendigerweise zunächst einmal nichts! Praktisch können „kaisertreue" Städte im regnum Italiae, aber auch deutsche Freiund Reichsstädte die gleichen oder doch vergleichbare Jurisdiktions- und Herrschaftsrechte kraft kaiserlichen Privilegs haben. Bartolus selbst hat das immer wieder eingeräumt. Theorieimmanent ist nicht der Umfang der Rechte die différencia specifica der Konzeption, sondern die Art ihres Erwerbs, ihre Ableitung und Begründung. Genau hier lagen die aktuellen Probleme und Konfliktlinien im italienischen Trecento, die Fragen, auf die ein italienischer Jurist Antwort geben mußte. Nur deshalb die Konzentration auf die civitates superiorem non recognoscentes. Man muß einmal genauer fragen, welche Sorte von Städten dieser Gelehrte und Praktiker im Auge hatte. Aufschluß kann ein Text geben, in dem Bartolus die populi extranei definitorisch trennt vom populus Romanus und diesen wiederum einteilt in drei Gruppen mit unterschiedlichen Unabhängigkeitsgraden. Erstens seien da gentes, die dem Römischen Reich gehorchten und damit zweifellos zum populus Romanus gehörten. Zweitens gebe es jene Völker, die non Fortsetzung Fußnote von Seite 153 que non recognoscunt superiorem, de iure, vel de facto, vi ciuitates Tuscie, est ipsamet ciuitas fiscus. Vocatur enim populus liber... (Bartolus, In primam Digesti veteris partem, fol. 165va: ad D.5.3.22: § Ait Senatus, I. Item veniunt, D. De hereditatis petitioned Weitere Belege C.N.S. Woolf 119-122, 159, P. Costa, Iurisdictio, 257 Anm. 41. 54 Ad euidentiam primae partis debes scire, quod sicut hodie faciunt Fiorentini et alij Italici, quando sunt guerrae, ipsi imponunt magnas gabellas (Bartolus, In secundam atque tertiam Codicis partem, fol. 33va: ad C.6.33.3, no. 1 : I. Edicto, C. De edicto divi Hadrianì). - Zu collecta ebd., fol. 25rb: ad C. 10.62.1., no. 24:1. Earn quae, C. De mulieribus. Vgl. F. Ercole, Da Bartolo all'Althusio, 76f, 215f.
2. Unabhängige und autonome Städte
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obediunt in totum, aber doch nach dem Gesetz des römischen Volkes lebten und bekennten, daß der Kaiser der „Herr aller" ist. Es sind dies „die Städte Tusziens, Lombardiens und ähnliche, und diese gehören auch zum römischen Volk". Drittens kenne man schließlich noch Völker, die weder dem Kaiser Folge leisteten, auch nicht nach römischen Gesetzen lebten, dennoch aber zum populus Romanus zählten. Venedig ist Beispiel. Die libertas Venedigs nämlich sei ebenfalls einmal verliehen worden vom römischen Reich55. Obwohl die Begriffe nicht auftauchen, spricht vieles dafür, die Unterscheidung der drei Arten von Zugehörigkeit zum populus Romanus in Parallele zu setzen mit den drei Kategorien städtischer Gemeinwesen, um deren Abgrenzung und Definition es Bartolus immer wieder geht. Die ersten gentes entsprächen in diesem Bilde den civitates superiorem recognoscentes (den autonomen Städten), die zweiten und dritten den civitates superiorem non recognoscentes (den unabhängigen Städten). Die zweite und dritte Kategorie unterschieden sich dann darin, daß die einen de facto, letztere de iure unabhängig sind56. De iure unabhängig sind sicher auch die vorher erwähnten „auswärtigen Völker". Gemeinsam ist den Völkern, die dem Kaiser gehorchen, und jenen, die das nicht in allen Dingen tun, daß beide die Gesetze des römischen Volkes anerkennen. Zwischen diesen beiden Kategorien liegt das Definitionsproblem, ja der Kern der bartolinischen Theorie der Stadt, und nicht in der einleuchtenden, aber auch etwas irreführenden Einteilungen nach der Größe von Gemeinwesen und Territorium. Nach dieser Freilegung des Problems ist zu klären, was es für einen Unterschied macht, ob man dem Kaiser einfach gehorcht oder ob man das nur in aliquibus tut, ihn aber dennoch als dominus omnium anerkennt. Eine 35 ...quod duo sunt genera gentium principaliter, primo populus Romanus. Secundo populi extranei. Zum populus Romanus: quaedam sunt gentes quae Imperio Romano obediunt et istae sine dubio sunt de populo Romano, quaedam sunt, quae non obediunt Romano Imperio in totum, sed in aliquibus obediunt, vt quia viuunt secundum legem populi Romani et Imperatorem Romanorum esse dominum omnium fatentur, vt sunt ciuitates Tusciae, Lombardiae et similes, et istae etiam sunt de populo Romano... Quidam sunt populi, qui nullo modo obediunt Principi, nec istis legibus viuunt, et hoc dicunt se facere ex priuilegio Imperatoris, et isti similiter sunt de populo Romano, vt faciunt Veneti. Nam cum illam libertatem ipsi habere se dicant ab imperio Romano... (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 214vb: ad D.49.15.24, no. 2 - no. 4: I. Höstes, D. De captivis et postliminio). 56 So sieht es auch P. Costa, Iurisdictio, 258. - Bartolus kennt noch andere Städte, die de iure nicht zum Reich, aber dennoch zum populus Romanus gehören: die ciuitates donatae Ecclesiae\ vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 122. Bartolus nimmt Perugia, seine eigene Stadt, als Beispiel für eine weitere Differenzierung der Nomenklatur: Einst der Kirche geschenkt, habe diese wiederum der Stadt die Freiheit gegeben. Die Folge sei, quod Ciuitas Perusina non subsit Ecclesiae nec Imperio (Bartolus, In secundam atque tertiam Codicis partem, fol. 18vb: ad. C. 10.31.61, no. 1: l. Neque, C. De decurionibus et eorum filiis); vgl. H.G. Walther, Der gelehrte Jurist, hier 298.
156 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
eher formale Antwort liegt auf der Hand: Wer nur in „einigen Dingen" gehorcht, muß gegebenenfalls sagen können, warum er das in anderen nicht tut. Große, aber nicht vollständige Unabhängigkeit bedarf in Konfliktfällen kluger Verteidigung, ist ein guter Boden für die Weiterbildung des Rechts. Die inhaltliche Seite dieses Prozesses soll etwas näher ins Auge gefaßt werden. Fluchtpunkte des Versuchs, kaiserunabhängige Herrschaftsausübung im regnum ltaliae zu legitimieren, sind ein methodisches Axiom und eine inhaltliche These. Methodisch argumentiert Bartolus in schwierigen Fällen mit der bereits vertrauten Unterscheidung de iure - de facto. Wichtiger aber ist die inhaltliche Voraussetzung seiner Ausführungen. Im Anschluß besonders an die kanonistische Tradition überträgt er die unbestrittene Position, daß der consensus civium Rechtsgrund des Gewohnheitsrechts ist, auf das Statutarrecht und die Gesetzgebungsgewalt allgemein. Beide, Gewohnheits- und Statutarrecht, gründen seiner Meinung nach gleichermaßen im consensus populi; wie die consuetudo bedarf daher das statutum vom Begriff her eigentlich keiner Bestätigung durch einen Herrn. Beide, Gewohnheit und Statut, unterscheiden sich lediglich in ihrer Temporalstruktur (Gewohnheit braucht Zeit, um rechtswirksam zu gelten) und darin, daß es sich einmal um „schweigenden", im anderen Fall um „ausgedrückten Konsens" handelt. Beide Arten des Konsenses haben die gleiche rechtsstiftende Kraft: ...tacitus et expressus consensus equiparantur, et sunt paris potentiaeBaldus kann die Übertragungsleistung seines Lehrers dann verallgemeinern zu einer Theorie konsensbegründeter potestas statuendo und, geradezu in Umkehrung des Beweisganges, sagen : Est enim consuetudo taciturn statutum5i. Hat man „Konsens" als Quelle der Geltung von Recht und Gesetz erst einmal erkannt und ernstgenommen, ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Vorstellung einer vom Superior unabhängigen Gewalt und zur Konzeption der unabhängigen Stadt. Das Axiom einer im 57
Bartolus, In primam Digesti veteris partem, fol. 17ra: ad D.I.3.31, no. 4: I. De quibus, D. De legibus senatusque consultis et longa consuetudine. Grundlegend W. Ullmann, Concilium, 711-715. Vgl. auch J.P. Canning, Baldus 95f (Zit. u. weitere Belege); S. Brie, Gewohnheitsrecht, 128-164, bes. aber 133-136, 138ff. Vgl. auch den Baldus Text u. Anm. 67. 58 Baldus ad Auth., , £ i qui iuraf (ad C.7.72.9.), zit. Canning, Baldus, 245. (Canning hat im Appendix seiner Arbeit, 230-270, alle für uns wichtigen Auszüge aus den Werken des Baldus umfassend ediert. Da uns die Werke dieses Autors nicht zugänglich waren, wird Baldus im folgenden vor allem nach Cannings Edition zitiert; die dort angegebenen Verweise, die jedem das Auffinden der zit. Stelle im Werk des Baldus selbst ermöglichen, werden ebenfalls übernommen). Vgl. zu Baldus' Konsenstheorie ebd. 100-104 (temporale Struktur der consuetudo 103). Punktuell hatten schon Glossatoren die lex municipalis als consuetudo scripta bezeichnet und damit Statut und Gewohnheit zusammengerückt; eine Konsenstheorie ist daraus nicht entstanden, vgl. S. Brie, Gewohnheitsrecht, 98.
2. Unabhängige und autonome Städte
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consensus civium wurzelnden Ordnung war in der juristischen Lehre der archimedische Punkt, an dem man den Hebel ansetzen konnte zu einer alternativen, mindestens aber zur subsidiären Grundlegung „stadtbürgerlicher Herrschaft". Erkenntnis und Interesse lagen dicht beieinander. Es ging, auf den einfachsten Nenner gebracht, um eine Vertiefung der Lehre vom Gewohnheitsrecht, um flankierende Begründungsstrategien für den Tatbestand, daß italienische Städte ehemals vom Kaiser verliehene Rechte seit langer Zeit selbständig ausübten und kaiserliche Rechtsansprüche als verjährt betrachteten. Die Schwierigkeit lag theoretisch nicht so sehr im Felde der herkömmlichen gewohnheitsrechtlichen Argumentation als in der Frage, ob Verjährung hoheitliche, fürstengleiche Rechte zu begründen vermag. Bartolus war sich nicht ganz schlüssig. Ungültig ist Verjährung seiner Meinung nach sicher in Zeiten der Vakanz und des imperialen oder kirchlichen ,Schismas'. Ist sie aber gültig im Falle jener so zahlreichen italienischen Städte, die faktisch im Besitz von Immunität und voller Gerichtsbarkeit sind? Zum Teil, Bartolus behandelt das Problem mehrfach, hätten diese Städte das merum imperium legalerweise: In dem Falle leiten sie es her ex privilegio ab imperio oder ex illa constitutione de pace ConstantieS9. Dann gebe es jene, die im Besitz dieser Rechte sind aufgrund von „Verjährung oder Gewohnheit" (ex praescriptione vel consuetudine). Hier liegt die Sache nicht so einfach, denn eigentlich kann das merum imperium als ein ius corporale nicht durch Verjährung erworben werden. Der Jurist aber muß nicht nur schlüssige Theorien produzieren, er hat ebenso Erläuterungen für nicht wegzudiskutierende Tatbestände zu finden. Das Ergebnis ist auch bei Bartolus oft eine Kompromißformel : Will eine Stadt den legalen Besitz der Hoheitsrechte belegen, „hat sie notwendig eine concessio principis nachzuweisen; ebenso eine sehr lange Zeit, in der besagte Stadt das merum imperium ausübt. Liegt der Fall so, daß dies nicht durch eine concessio principis bestätigt, die Ausübung des merum imperium aber glaubhaft gemacht wird, ist es dennoch gültig"60. Herrschafts59
Diskussion und Texte bei C.N.S. Woolf, Bartolus, 139-142 (Vakanz, „Schisma"), 134, 137f (vom Kaiser verliehenes merum imperium). Vgl. auch den Text o. in Anm. 48. 60 Scitis quod ciuitates Italie communiter non habent merum imperium, sed vsurpauerunt. Dico tarnen si ciuitas vellet se defendere et merum imperium exercere, quod habet necesse allegare concessionem principis. Item longissimum tempus, quo dicta ciuitas merum imperium exercuit, isto casu posito, quod non probaretur de concessione principis, tarnen probaret se exercuisse merum imperium, valet (Bartolus, In primam Codicis partem, fol. 48rb: ad C.2.3.28, no. 5.: I. Si certis annis, C. De Pactis). Zu dieser vieldiskutierten Stelle vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 135f; H.G. Walther, Imperiales Königtum, 181; ders., Gedächtnis, 227, hat den Text in einer für die Verjährungsproblematik grundlegenden Arbeit neuerdings etwas anders gelesen: Um le-
158 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
ausübung durch Privileg steht unmittelbar neben einer solchen, die ihre Legitimität aus dem longissimum tempus praktischen Tuns bezieht. Nicht ganz deutlich ist, ob Städte, die ihre Unabhängigkeit ersessen haben, einfach gleichzusetzen sind mit den in ähnlichen Zusammenhängen häufig genannten civitates, die Herrschaft unwidersprochen, aber ex usurpatione für sich reklamieren 61 . Unklar bleibt ebenso der rechtstheoretische Konnex zwischen de facto unabhängigen Städten und anderen, die ein kaiserliches Privileg als Grundlage ihrer Handlungsfähigkeit haben. Die rechtschöpfende Kraft der Gewohnheit hat Bartolus auf eindrucksvolle Weise in Beziehung gesetzt zur potestas statuendi eines freien Volkes. Jene die Rechte anderer negierende Kraft der Verjährung bedurfte noch der Klärung. Eine Aufgabe, die der Schüler seinem Lehrer abnahm. Baldus schließt die juristische Lücke zwischen der de facto unabhängigen Stadt und der de iure auch weiterhin bestehenden Rechtsstellung des imperator Romanorum mit der Rechtsvermutung, daß Verjährung zustandekomme durch tempus longum und per patientiam seitens des Kaisers. Hundert Jahre, in denen auch das römische Volk seine libertas ersessen hätte, nennt er als notwendigen Zeitraum. Auffallend ist die Länge der geforderten Zeit, im , Corpus Iuris Civilis' waren für die longissimi temporis praescriptio in der Regel dreißig, bei öffentlichen Angelegenheiten vierzig oder sechzig Jahre vorgesehen. Entscheidend und neu aber ist, aus der langfristigen Ausübung ehemals imperialer Hoheitsrechte die schweigende Zustimmung des Kaisers zu folgern: „Denn die patientia animi [seil, des Kaisers], bekräftigt durch die Länge der Zeit, ist kein geringerer Rechtsgrund
Fortsetzung Fußnote von Seite 157 gale Ersitzung durch Verjährung handele es sich nur, wenn die concessio prineipis zugleich mit dem Beleg langer Ausübung der Gewalt vorliegt; erst, wenn dies der Fall ist, könne auch ein mittlerweile unwirksam gewordenes Privileg die Rechtmäßigkeit nicht mehr beeinträchtigen. Wir folgen hier, obwohl uns Walthers subtilere Interpretation mehr zusagt, einstweilen der communis opinio. - Übertrieben dagegen ist sicher die These Q. Skinners, dieser Text belege, daß Bartolus die italienischen Stadtstaaten als „fully independent sovereign bodies" betrachtet (ders., Foundations I, 11). Daß Skinner ebd. die Formel superiorem non recognoscens durch Bartolus entwickelt sieht und behauptet, sie sei dann durch die Legisten Philipps des Schönen (t 1314) zum Schlagwort Rex in regno suo est Imperator weitergebildet worden, ist nicht nur theoriegeschichtlich falsch, sondern auch chronologisch unmöglich (das kann den hohen Wert dieses modernen Grundwerkes politischer Ideengeschichte allerdings nicht schmälern). 41 Vgl. die Bartolus-Texte zit. bei C.N.S. Woolf, 137, die von ihrem ähnlichen Aufbau her eine Gleichsetzung nahelegen. Woolf, ebd. 136, behauptet denn auch: „...usurpation must be accepted as a valid title to the right, and put on a level wih concession and prescription". Dazu vgl. aber H.G. Walther, Gedächtnis, 225ff, der hier einen kategorialen Unterschied sieht.
2. Unabhängige und autonome Städte
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als die concessio"62. Die Gewohnheit der Bürger von Venedig und Genua, selbst ihren Herzog zu wählen, kann so zwanglos begründet werden „mit der Gewohnheit, aus der heraus der Kaiser dies weiß und aufgrund ihres guten Regiments auch toleriert (tolérai)"63. Die Freiheit der unabhängigen Stadt und das der autonomen Stadt verliehene Privileg des Kaisers finden auf diese Weise ihren Platz im einen System des ius commune: „Städte aber, die in eigener Freiheit und unter völlig eigenständigem Regimente leben, bedürfen keines fremden Beistandes, denn sie gebrauchen ihre eigenen Gesetze. Dabei ist es gleich, ob sie dies kraft eines Privilegs oder kraft der verjährungstiftenden Gewohnheit tun" 64 . Das freie Volk einer unabhängigen Stadt kann durch Gewohnheit und Statut Recht setzen, es kann ausgeübte Hoheitsrechte durch eine im vorausgesetzten Wissen des Kaisers begründete Verjährung ersitzen. Gerade Baldus' Theorie der patientia bzw. scientia imperatoris macht klar, daß die Lehre von der civitas superiorem non recognoscens keinen grundsätzlich antikaiserlichen Impuls hatte. Die von Bartolus und seinem Schüler häufig gebrauchte rechtstechnische Formulierung, unabhängige Städte handelten in obrigkeitlicher Funktion vicem principis, stützen eine solche Sicht der Dinge65. Baldus erkennt in veränderten machtpolitischen Verhältnissen die Ursache für die verjährungsrechtlich abstützbare faktische Aneig62
Dico quod licet contra imperium et Romanam ecclesiam non prescribitur super his que reservata sunt in signum specialis prelationis et preeminentie, ...tarnen forsan tanto spacio centum annorum prescribitur. Vnde prescripsit populus Romanus libertatem,facit [D.49.15.24], ubi loquitur de populis liberis...et ita Federicus in decima collatione concessit Lombardis in pace Constantie..., ergo et eodem modo per patientiam tribuere, quia non minus operatur animi patientia firmata longi temporis causa quam concessio (Baldus ad C.7.38.1. zit. Canning, Baldus, 250). Friedrich II. hatte 1231 in den Konstitutionen von Melfi in Angelegenheiten des Fiskus die Verjährung auf hundert Jahre heraufgesetzt und damit an eine Frist angeknüpft, die sich die Kirche seit der Spätantike vorbehielt, so H.G. Walther, Gedächtnis, 229. Über die politisch-theologische Aufladung des Fiskus-Begriffs und die in diesem Zusammenhang begründbare lange Verjährungsfrist in fiskalischen Fragen vgl. E.H. Kantorowicz, King's Two Bodies, 182ff. Baldus scheint in dieser Tradition der Verjährungsdebatte zu stehen. 63 Sed nunquid populus propter absentiam imperatoris potest eligere sibi ducem, sicut faciunt Veneti et Ianuenses? Respondeo quod non de iure, quia non est confìrmatus a superiore...sed de consuetudine, ex quo imperator seit et tolerat propter bonum regimen eorum, dico quod ipsi iuste dominantur... (Baldus ad C. 1.2.16. zit. Canning, Baldus, 119 Anm. 83.). 64 Civitates vero que vivunt in propria liberiate et absolute proprio regimine non indigent alieno adminiculo quia suis iuribus utuntur. Idem si faciunt auctoritate privilegii vel consuetudinis prescripte (Baldus ad C.7.46.2. zit Canning, Baldus, 249). 45 So J.P. Canning, Baldus, 116 u. 119. Nicht nur Baldus, wie Canning nahezulegen scheint, auch Bartolus benutzt diese Formulierung häufig, vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 158; O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 395; W. Ulimann, Concilium, 722 Anm. 50, 724 Anm. 58.
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nung der regalia. Zwischen den italienischen Städten und dem Kaiser besteht seiner Ansicht nach nicht mehr das gleiche Vertrauensverhältnis wie früher: „Denn einst gab es einen Kaiser, der auf Autorität bedacht war und nach der utilitas publice rei sah; nun aber ist weder beim Kaiser noch bei den Untertanen dieselbe Treue"66. Ein beachtliches Argument, das historische, rechtliche und psychologische Elemente zu einer präzisen Beschreibung der tatsächlichen Situation vereinigt. Es deckt Beziehungen zwischen einer historisch veränderten Welt und der aktuellen Praxis der Herrschaftsausübung auf, ohne der Versuchung zu erliegen, aus der faktischen Ohnmacht des Kaisers den Zusammenbruch seiner Rechtsposition zu folgern. Die ständige, nur selten unterbrochene Abwesenheit des imperator Romanorum ist die Substanz des de /ac/o-Arguments. In einer Zeit, in der Kaiser nur sporadisch im regrtum Italiae auftauchen, Städte untereinander Krieg führen, Signori die Herrschaft in zahlreichen Kommunen übernehmen, geht es den Kommentatoren vor allem darum, die Theorie der Stadt in einem Maße auszubilden, daß der in Deutschland selbstverstandliclie, regelmäßige Rekurs auf die kaiserliche Autorität ein Stück weit überflüssig und durch juristisch selbstexplikative Theoreme substituiert wird. Man erreichte das durch die Auszeichnung einer bestimmten Art Korporation, der civitas: deren korporative Gerechtsame wurden „staatsrechtlich" gesteigert, deren de facto Unabhängigkeit juristisch neutralisiert, verteidigt oder ins allgemeine Reichsrecht eingefügt. Die Zugehörigkeit der civitates zum Reich konnten Juristen dabei gleichzeitig unterstreichen, indem sie die Gesetze des Reiches in ihrer subsidiären und übergeordneten Geltung auch für die unabhängigen Städte anerkannten. Baldus ging auf dem vorgezeichneten Weg an einigen Punkten noch weiter. In einem umfangreichen Kommentar zur Digestenstelle 1.1.9. legt er das philosophische Fundament für die Gesetzgebungsgewalt eines populus tiefer als bis dahin üblich: Populi sunt de iure gentium ergo regimen populi est de iure gentium. Baldus fährt fort: „Regierung kann nicht sein ohne Gesetze und Statuten; also: aus demselben Grund, aus dem ein Volk sein Dasein hat, bezieht auch das Regiment in ihm seine Existenz". Das Volk hat, Baldus formuliert philosophisch, eine forma propria und damit zugleich „die Aufgabe, sein Dasein zu erhalten". Es kann ohne Wissen des Superior Gewohnheit als ius taciturn begründen und Statut als ius expres66
Sed ut dixi civitates que realiter superiores non recognoscunt et infiscant sibi regalia hoc habent de consuetudine...Sed de iure constat potestatem soli principi reservatam a civitatibus esse exemptant...Sed olim erat princeps auctorìtatem et utilitatem publice rei prospiciens; nunc vero non eadem fides est in principe nec in subditis, perempto enim seu mortificato nimis uno extremorum aliud extremum pati necesse est (Baldus ad D.I.8. Ruhr. zit. Canning, Baldus, 249).
2. Unabhängige und autonome Städte
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sum setzen ; beides hat seine Legitimationsbasis im consensus populi. Diese Theorie gilt nicht nur allgemein: Unter die völkerrechtliche Bestimmung des Rechtes der Selbstregierung fallen auch die Städte, „deren Magistrat aus Gewohnheit oder de iure nicht bestätigt wird durch einen Superior" 67 . Die korporationstheoretisch argumentierende Verteidigung der Selbstverwaltungsrechte einer universitas civitatis konnte neben „staatsrechtlichen" Theoremen fortan auch „völkerrechtliche" Beweise geltend machen. Der Gedanke, daß eigene Regierung und Rechtsordnung notwendigerweise jedem Volke zugesprochen werden müssen, war, einmal formuliert, prinzipiell ablösbar vom Kontext seiner Entstehung. Ausgestattet mit der Dignität des ius gentium lag, wie im Falle des völkerrechtlich interpretierten Axioms pacta sunt servanda68, ein weiterer ausbaufähiger Topos bereit zur Diskussion kontroverser Rechtspositionen und Gesellschaftsbilder. Baldus zählt die Munizipien nicht mehr zu den Verbänden, die respublica genannt werden dürfen. Unterste Spezies dieser Gattung sind civitates. Im Verständnis dieses Rechtsgelehrten sind die so bezeichneten Gemeinwesen aber keine abgesonderten politischen Einheiten, er sieht sie vielmehr als membra des einen Reichskörpers mit dem caput Rom. Ein solcher Wortgebrauch umfaßt ohne Zweifel autonome und unabhängige Städte69. 47
Nota ergo quod populi possunt sibifacere statuta... Modo restât videre nunquid in tali statuto requiratur auctoritas superioris et videtur quod non, quia populi sunt de iure gentium ergo regimen populi est de iure gentium...Sed regimen non potest esse sine legibus et statutis, ergo eoipso quod populus habet esse habet per consequens regimen in suo esse...Preterea quantum unumquodque habet de forma essentiali tantum habet de virtute activa; sed populus habet formam ex se, ergo et exercitium conservandi se in esse suo, et in forma propria...Sed lex contenta est consensu populi, ergo et nos...Preterea populus potest inducere ius taciturn sine consensu et conscientia superioris...ergo potest inducere ius expressum, id est statutum...// Sed si talis est civitas, cuius magistratus de consuetudine vel de iure non confirmatur per superiorem, tunc apud talem civitatem est piena iurisdictio... (Baldus ad D.I. 1.9. zit. Canning, Baldus, 245 u. 247.). Canning hat diesem ebd. 245-248 ed. Kommentar ein eigenes Kapitel gewidmet, ebd. 104-113. Mehr zur Wirkungsgeschichte dieser Denkfigur bringt O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 438. 68 Vgl. D. Wyduckel, Princeps Legibus Solutus, 82-85. Zit. ebd. 85 Anm. 128 die Meinung des Bartolus, daß der Kaiser mit Städten eingegangene Verträge einhalten müsse: Nam pacta sunt de iure gentium...Iura gentium sunt immutabilia. 69 Nota quod respublica dicitur tribus modis: primo modo pro tota congregatione fldelium imperii, seu pro toto imperio; secundo modo pro república urbis Rome; tertio modo pro qualibet civitate. Et sic respublica quandoque stat pro capite et membris simul, quandoque pro capite tantum scilicet pro urbe Romana, quandoque pro aliis membris (Baldus ad D. V. Const. ,Omnem' zit. Canning, Baldus, 251). Vgl. ebd. 124 Cannings Gesamteinschätzung des Wortgebrauchs bei Baldus: „The level of independence of a city-respublica would vary between autonomy and sovereignty..., but only as a respublica can a city be sovereign...", mit all den damit verbundenen Rechten. Auch in dieser Interpretation rücken autonome und unabhängige Stadt eng zusammen.
162 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters In ihrem Gebiet, hier lockert Baldus den Wortgebrauch seines Lehrers, hat jede Stadt bestimmte Fiskalrechte; selbst Munizipien gesteht er zwar keinen Fiskus im engeren Sinn, aber doch eine bursa communis zu 70 . Baldus kennt respublica und ius fisci aber auch noch in einem restriktiveren Sinn. Das Recht, Zoll zu erheben, beginnt er den entsprechenden Gedankengang, sei ausschließlich dem Superior vorbehalten, sei signum superioritatis: „...nach der Gewohnheit Italiens aber sind Städte, die sich selbst regieren, auch selbst Superior, ... denn diese werden respublice genannt, nicht dagegen Burgen oder Dörfer" 7 1 . Nur Städte, die einen Superior nicht anerkennen, besäßen einen proprius fiscus, heißt es an einer anderen Stelle72. Haben andere einen „uneigentlichen Fiskus", also ein selbstverständliches Recht auf eigenes Finanzgebaren, mit dessen Einordnung allein die Juristen sich schwertaten? Ein enger und ein weiter Republik-Begriff, gekoppelt mit unterschiedlich interpretierten und zugeordneten Vorstellungen vom Wesen des Fiskus, waren theoretisch problematisch. Dennoch ist es mittelalterlichen Juristen nicht wirklich gelungen, die Ambivalenz der Begriffe zu beseitigen. Paulus de Castro (t 1441) unternimmt den Versuch, beide Termini auf die unabhängige Stadt zu begrenzen. Die Qualität respublica, sagt er, habe heute im allgemeinen nur jene ciuitas que non recognoscit superiorem. „Unterworfene Burgen und Städte" dagegen nenne man respublica lediglich „im Vergleich". In Wirklichkeit seien sie pars reipublice. Auch der Begiff „Fiskus" beziehe sich proprie allein auf die respublica73. Der traditionale Gebrauch 70 ...quelibet civitas in suo territorio succedit in locum fìsci (Baldus Rep. ad C.1.1.1. zit. Cannig, Baldus, 250). -Municipio enim proprie fiscum non habent, ut [C.10.10.1], licet habeant bursam communem, ut [D.3.4.1, 1](ders. ad C.7.73. Rubr. zit. Canning, Baldus, 251). Vgl. ebd. 120f u. 124f. 71 Isla enim iura pedagiorum sunt specialiter reservata superiori in signum superioritatis,...superior autem secundum consuetudinem Italie sunt ipse civitates que per se reguntur,...nam ipse dicuntur respublice non castra vel ville (Baldus, Cons. 2. 369 zit. Canning, Baldus, 251). 72 Et an civitates habeant proprium fiscum suum ? Dico quod non, nisi quedam que superiorem non recognoscunt, que per sua statuta et consuetudines habent iura fisci (Baldus ad D.I.8. Rubr. zit. Canning, Baldus, 250). 73 Rem autem publicam non habebat olim nisi populus romanus vel imperator...et hodie quelibet ciuitas que non recognoscit superiorem. alie vero ciuitates vel castra subdita non dicuntur proprie habere rempublicam. licet largo modo videantur habere. ..collegia vero que sunt infra ciuitatem vel Castrum, et sic sunt pars ipsius reipublice, non debent habere rem publicam quoquo modo, sed habent similitudinem illius quo ad regimen vt in his que sequuntur hie in textu, quia habent aream communem, et dicunt quidam quod appellatur fiscus non est proprie nisi apud rempublicam, que dicitur camera fiscalis, et non est penes ciuitates subditas... (Paulus de Castro, Super prima et secunda Digesti veteris, fol. 95 ra: ad D.3.4.1.1.: § Quibus autem permissum, l. Ñeque societas, D. Quod cuiuscumque universitatis). Zu dieser Entwicklung vgl. O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 640; W. Mager, Republik, 561; J.P. Canning,
2. Unabhängige und autonome Städte
163
von proprie und similitudo sollte skeptisch machen. Auch hier wurde lediglich eine Tendenz bezeichnet, das letzte Wort in dieser Sache aber war es nicht. Entscheidender als die mißglückte Eingrenzung des respublica-Begúíís auf unabhängige Städte war die Grenzziehung nach unten: Munizipien und befestigte Orte zählte man fortan kaum mehr dazu. Autonome und unabhängige Städte sind so gleichermaßen die „Gewinner" dieser Entwicklung. Zu deren römischrechtlicher Aufwertung gesellte sich eine theologisch-philosophische. Nicht nur die Kirche, das König- oder Kaiserreich ist für Baldus ein corpus mysticum. Auch der populus einer Stadt ist bei ihm hominum collectio in unum corpus misticum, ist persona universalis und damit unsterblich: populus nunquam moritur. Die Anwendung der ekklesiologischen Metapher vom corpus mysticum auch auf politische Verbände war Tradition seit dem 13. Jahrhundert. Und sie blieb kein Arkanwissen der Gelehrten. Anfang des 15. Jahrhunderts ist der Florentiner Chronist Gregorio Dati jedenfalls bestens mit dieser Denkfigur vertraut. Trotz militärischer Überlegenheit, schreibt er in seiner um 1410 verfaßten , Istoria di Firenze\ hätte ein Tyrann wie der Mailänder Herzog Giangaleazzo Visconti die Bürgerstadt Florenz letztlich nicht besiegen können: Denn „die Kommune kann nicht sterben und der Herzog war ein einzelner sterblicher Mensch, so daß nach seinem Ende auch sein Staatswesen ein Ende nahm" 7 4 . - Wir wollen hier einhalten. Bei der Komplexität und Fülle der verwertbaren Information verliert man leicht die eigenen Fragen aus den Augen und vergißt, nach Motiv und Nutzen solcher Konzeptualisierungen zu forschen. Fortsetzung
Fußnote von Seite 162
Baldus, 125. Unsere Deutung ist im folgenden etwas vorsichtiger als die der genannten Autoren, die hier bereits den Anfang einer Verengung des Begriffs auf unabhängige Städte vermuten. - Auch Reichsstädte der frühen Neuzeit nannten sich respublicae, vgl. W. Mager, Respublica und Bürger, 73ff; H. Schilling, Republikanismus, 108, 13lf, 139 Anm. 85. 74 ...il Comune non può morire e il Duca era un solo uomo mortale, che finito lui, finito lo stato suo (Gregorio Dati, Istoria di Firenze, 74). Zu corpus misticum vgl. J.P. Canning, Corporation, bes. 13, 19 (persona universalis), 22f; ders., Baldus, 185-208, bes. 189 (nunquam moritur). Ebenso O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 365f, 430, u. E.H. Kantorowicz, King's Two Bodies, bes. 21 Of, 298-304. Vgl. auch o. Kap. III Anm. 55. Auch wenn in der frühen Neuzeit ein Land, etwa die Landschaft Wallis, bisweilen mit freye Republic (zit. P. Blickle, Kommunalismus, 548) bezeichnet werden konnte, liegt in der politischen und juristischen Theorie des Spätmittelalters zwischen Dorf und Stadt eine scharfe Grenze. Im allgemeinen war civitas, übersetzt mit „Stadt", die untere Einheit, der man noch staatliche Qualität zuerkannte. Baldus, vgl. o. Anm. 71, lehnt die Übertragung des Prädikats respublica auf Dörfer ausdrücklich ab, und mir ist kein Fall bekannt, in dem ein unterstädtisches Gemeinwesen mit der Metapher des corpus politicum oder gar des corpus mysticum beschrieben worden ist.
164 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
3.
Der ferne Kaiser. Theorie der Stadt und gesellschaftliche Wirklichkeit: Die Anwendung der Lehre in Italien und Deutschland und die Frage nach dem cui bono
Autonome Städte (civitates, civitates magnae, civitates superiorem recognoscentes), so könnte man in der Beantwortung der Frage nach den spezifischen Unterschieden beider Städtesorten antworten, müssen nicht unbedingt weniger Rechte haben als unabhängige (civitates maximae, civitates superiorem non recognoscentes). Das „kaiserliche" Siena ist ein sprechendes Beispiel. Im Jahre 1355, nachdem das „oligarchische" Regiment der ,Nove' gescheitert war, führte Karl IV. dort durch kaiserliches Privileg den status popularis liber ein. In seinem Diplom verbrieft er den Senesen die plena libertas und das Recht, leges municipales pro qualitate temporum zu erlassen sowie Officiates, Rectores et gubernatores Civitatis zu wählen. Er gewährt der Stadt ex ... Imperiali delegatione et concessione presenti iurisdictionem plenariam merumque et mistum Imperium et gladij potestatem. Das galt ausdrücklich für das Stadtgebiet, den Kontado sowie die unterworfenen Städte und Gemeinden. Keine unabhängige Stadt konnte eine bessere Rechtsposition besitzen75. Autonome Städte sind vertraglich an ihren Herrn gebunden, der zudem den Umfang ihrer Rechte bestimmt. Sie sind eindeutiger verortbar in der Hierarchie der Rechtsordnung. Jedoch auch sie gehen gestärkt aus dem juristischen Diskurs hervor: Der populus einer autonomen Stadt kann nun korporationstheoretisch begründbare Jurisdiktions- und Selbstverwaltungsrechte für sich reklamieren. „Konsens der Bürger" ist als Argument für die Rechtsetzungsgewalt eines Gemeinwesens auf die Dauer ebensowenig einschränkbar auf unabhängige Städte wie das einmal entwickelte Axiom regimen populi est de iure gentium. Auch sind konkrete Herrschaft, sind Wahl-, Abstimmungs- und Repräsentationsformen im Innern nicht abhängig davon, ob man einen Superior hat oder nicht. Wie die civitates superiorem non recognoscentes hat die autonome Stadt theoretisch die Chance, ihre Rechte durch Ersitzung gegen den Zugriff des Superior zu immunisieren. Was bleibt, ist der Unterschied in der komplexeren Begründung der Rechte, der höhere Grad der Selbständigkeit, das nicht Eingebundensein in kaiserliche Heerfolge und Reichssteuersystem. Und auch das manchmal nur theoretisch. Italienische Städte haben noch im Spätmittelalter die wenigen Heerzüge deutscher Kaiser nach Rom finanziell unterstützt. Florenz, nach Bartolus Musterbeispiel einer civitas 75 Die Rolle Karls IV. bei der Einsetzung einer popolaren Verfassung in Siena 1355 behandelt P. Rossi, Carlo IV. Im Anhang, 36-39, ist das Diplom Karls ed. (Zit. ebd. 37).
3. Der ferne Kaiser
165
sibiprinceps, schickte 1355 eine Gesandtschaft zu Karl IV., der auf seinem Zug zur Kaiserkrönung in Pisa Station gemacht hatte. Mit der einmaligen Summe von hunderttausend Florenen und dem Versprechen einer jährlichen Zahlung von viertausend Florenen erkaufte man sich dort die Lösung vom Bann Heinrichs VII., die Bestätigung alter Rechte und den Bestand der popolaren Verfassung. Die acht Prioren und der Bannerträger der Gerechtigkeit, zusammen bildeten sie die alle zwei Monate neu gewählte Signoria der Stadt, wurden bei dieser Gelegenheit kurzerhand zu „Reichsvikaren" ernannt. Matteo Villani (t 1363) beschreibt die Verhandlungen mit dem Kaiser in seiner ,Cronica' sehr genau. Er spricht am Ende von der Erinnerung an die patti e privilegi imperiali und der arrota della graziosa libertà del detto imperadore inverso il nostro commune. Noch auf derselben Seite beginnt ein zwei Kapitel umfassender Exkurs, der die antica libertà der toskanischen Städte als Erbschaft dalla civiltà del popolo romano interpretiert. Die Unterwerfung unter den Kaiser kann so wenigstens noch als libera sommessione erscheinen76. Nicht nur Juristen hatten Schwierigkeiten, verschiedene Herrschafts- und Freiheitsbegriffe, die oft am selben Ort und zur selben Zeit in Umlauf waren, miteinander in Einklang zu bringen. Die Frage drängt sich auf : Warum eigentlich die ganze Anstrengung des Begriffs? Warum die Entwicklung so scharfsinniger Konsens- und Herrschaftstheorien, wenn man nur eine „Theorie reichsstädtischer Freiheit" hätte weiter fassen brauchen? Ein Teil der Antwort ist schon gegeben. Der Kaiser war selten in Italien, hieraus bezog das de /ac/o-Argument seine Stärke, ihn zum alleinigen Garanten der Geltung von Rechten zu machen deshalb riskant. Zusätzliche Begründungsstrategien waren gefordert und opportun, denn die faktisch über lange Zeit selbständig ausgeübten Hoheitsrechte bedurften dringend einer Interpretation, die prinzipiell auch ohne eine ständig mögliche Berufung auf Reichsrechte und die damit verbundene Gefahr einer kostenträchtigen Appellation an den fernen Imperator auskam. Die so gekennzeichneten unsicheren Rechtslagen und Machtverhältnisse stimulierten die referierten beachtlichen und wirkungs76
Matteo Villani, Cronica I, 378 (vicari), 379 (privilegi), 380 (antica libertà); (Buch IV, Kap. 76 f). Zur Freiheitskonzeption Matteos vgl. jetzt H. Dickerhof, Ordnung der Toskana, bes. 82ff. Zum traditionellen Verhalten der italienischen Städte bei Anwesenheit des Kaisers vgl. J.P. Canning, Baldus, 18f; F. Ercole, Dal comune al principato, 280-295, bes. 282 Anm. 1; ders., Da Bartolo all'Althusio, 143-156, bes. 148. Zum Lob des deutschen Kaisers bzw. Königs durch den .Republikaner' Coluccio Salutati vgl. P. Herde, Politik und Rhetorik, 163f, 202f. L. Martines, Lawyers and Statecraft, bes. 340: 1414 versucht Filippo Corsini in einer Versammlung (pratica)I seine Florentiner Mitbürger zu einer Allianz mit dem deutschen König Sigismund zu bewegen ; er argumentiert, die Florentiner seien schließlich fideles des Reiches und hätten von diesem Privilegien und andere Dinge erhalten.
166 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters geschichtlich folgenreichen theoretischen Innovationen aber nur zum Teil. Die entscheidenden Motive der juristischen Arbeit dieses Jahrhunderts zeigen sich erst im Zusammenhang mit zwei Transformationsvorgängen, die die italienische Stadtgeschichte dieser Zeit grundlegend prägten: In zahlreichen Städten ging die Herrschaft der alten Kommune über in die Signoria eines einzelnen. Und: Die ökonomisch und militärisch stärksten Städte betrieben eine konsequente Politik der Ausbeutung ihres eigenen Kontados und versuchten darüber hinaus, andere Gemeinwesen mit militärischer Macht zu unterwerfen und ihren expandierenden Territorien einzuverleiben. Jede Beschäftigung mit der postglossatorischen Theorie unabhängiger Städte muß auf diese beiden Phänomene eingehen. Die meisten Gelehrten der Zeit, ob Theologen, Philosophen oder Juristen, haben das Aufkommen der Signoria verurteilt 77 . Wenn Juristen darauf beharren, daß nur ein populus liber die plena iurisdictio legitimerweise ausüben dürfe, dann muß der emphatische Gebrauch der Wendung „freies Volk" vor allem als Reaktion auf diese tiefgreifende Verfassungsänderung gesehen werden. Signoria war Tyrannis. Tyrannis und legitime Herrschaft vertrugen sich nicht. Bartolus hat dem Thema ein eigenes Werk gewidmet, den Traktat ,De tyranno'. Im Proömium bittet er um Gottes Hilfe bei der Befreiung von „tyrannischer Knechtschaft", auf daß alle gemeinsam sich laben könnten an der dulcitudo libertatis. In den subtilen Differenzierungen verschiedener Arten von Tyrannen steht immer wieder die Stadtgesellschaft im Mittelpunkt seines Interesses. Gerade beim Lesen dieser Schrift kann man ein Gespür dafür bekommen, welche Möglichkeiten der Intervention der deutsche Kaiser noch hätte wahrnehmen können, welche Rolle er im Denken der Italiener des 14. Jahrhunderts noch spielte. Der Imperator avancierte in diesem Kontext zum potentiellen Verteidiger des populus liber, zum Verbündeten „republikanischer" Städte im Kampf um die „Süße der Freiheit" 78 . Bartolus fordert den princeps geradezu auf, Tyrannen in Städten, die ihn als Herrn anerkennen, abzusetzen, oder, wo das nicht möglich ist, die Herrschaft des Tyrannen wenigstens mit dem Titel eines vicarius Imperii zu legalisieren. Zwar werde so die Tyrannei nicht abgeschafft, ihre furchteinflößende und gewalttätige Atmosphäre aber dennoch gemildert: ut ex hoc ille tyrannus minus timeat et minus populum gravet19. 77
Vgl. N. Rubinstein, Marsilius and Italian Political Thought; ders., Pensiero politico italiano, 155f, weist aber auch auf eine andere Tradition im politischen Denken hin, die den Signore als Befrieder der Bürgerkämpfe, als dominus iustus sieht. 78 Bartolus; De tyranno, 175 Z. 14f. Vgl. auch o. Anm. 75 u. u. Anm. 147. 79 Bartolus, De tyranno, 205 (Z. 604f). Vgl. dazu die Einleitung der Ed. von D. Quaglioni (Lit.); C.N.S. Woolf, Bartolus, 162-174, bes. 170f; F. Ercole, Da Bartolo all'Althusio, 257-311. - So schreibt Cola di Rienzo um die Mitte des 14. Jahrhun-
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Baldus versucht, die Verfassung eines freien Volkes gegen Umsturzversuche zu schützen, indem er den politischen Straftatbestand des crimen laesae maiestatis anwendbar macht auf den Fall des bewaffneten Angriffs auf den status populv. „Und so wird derjenige mit dem Tode bestraft, der mit Waffengewalt beabsichtigt, die Verfassung des Volkes zu ändern ..., denn das ist ein Majestätsverbrechen" 80 . Die Idee des populus liber bezieht Stärke und Aktualität mitnichten aus der Frontstellung der italienischen Städte zum deutschen Kaiser. Die realgeschichtliche Brisanz des schillernden Konzeptes vom „freien Volk" gründet vor allem in seiner ideologischen Verwertbarkeit im Kampf der Führungsgruppen der alten Kommune gegen den „inneren Feind", den zur Alleinherrschaft strebenden Signore, den Tyrannen. Will man die eigentliche Spitze und Absicht der juristischen Theorie der unabhängigen Stadt erkennen, ist ein anderer historischer Vorgang jedoch von alles überragender Bedeutung: die Eroberung und Konsolidierung eines die Grenzen der alten Kommune sprengenden Territoriums. Kaiser und Reich geraten hier ganz aus dem Blick. Adressat einer so gewendeten superioritas-Lehre sind die Untertanen : Eigene, aber vor allem Bürger unterworfener, ehemals freier Gemeinwesen. Der Vergleich der unabhängigen Stadt mit der römischrechtlichen Provinz, einst juristisches Hilfsmittel der adäquaten Beschreibung einer veränderten Welt, erhält, territorial gewendet, im 14. Jahrhundert einen Sinn, der paradoxerweise jener antiken Bedeutung von provincia wieder näherkommt. Das Festhalten an diesem Topos erklärt sich deshalb ebensosehr aus der Tradition wie aus der Anwendbarkeit auf neue Sachverhalte. Bartolus hatte civitates maximae, die Herrschaft über andere Städte ausüben und ein territorium distinctum besitzen, „Provinzen" genannt. Derselbe Autor gebraucht in einem anderen Kontext die aufschlußreiche Wendung superior populus vel princeps. Todsünde sei es, sich gegen deren Gesetz aufzulehnen, habe doch schon Paulus im 13. Römerbrief gesagt ,omnis anima subdita sit PrincipiDie Fortsetzung Fußnote von Seite 166 derts mehrere Briefe an den deutschen König Karl IV. Darin fordert er den zukünftigen Kaiser auf, gegen die norditalienischen Stadttyrannen vorzugehen: Et pro certo ipsi tyranni omnes et voratores imperii, quoniam iusticiam exclusam a mundo desiderarti. ..mortificatimi semper imperium concupirent, ne sub imperiale iusticia corruant (zit. M.-B. Juhar, Romgedanke bei Cola, 126; vgl. dazu ebd. 119-129; ebd. 18, 119f, u.ö.: Rom als Paradies bzw. neues Jerusalem). 80 Et sicpunitur pena mortis qui intentât mutare statum populi cum armis [C.9.42.2], quia est crimen lese maiestatis (Baldus ad X. 1.32. Rubr. zit. Canning, Baldus, 251). 81 Sed si quis facit contra precaeptum legis, peccai mortaliter...qui non obedient Principi, morte morietur. Et alibi dicit Paulus ad Romanos 13: Omnis anima subdita sit Principi...Et qui voluntati eius resistit, voluntati Dei resistit, et damnationem sibi acquirit. Cum ergo superior, populus, vel princeps hoc praecipiat, si quis facit contra le-
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rechtstheoretische und theologische Erhöhung des Begriffs populus superior ist evident. Was genau aber meint superioritasl An dieser Stelle ist es ratsam, den akademischen Diskurs kurz zu verlassen und zu fragen, in welchen Zusammenhängen römischrechtlich geschulte Zeitgenossen in den Städten selbst das Theorieangebot der Jurisprudenz aufgriffen und verwendeten. Die Beispiele, sie sollen für die große Zahl ähnlich gelagerter Fälle stehen, sind wiederum der Florentiner Geschichte entnommen. Dafür bietet sich eine in der Forschung weitgehend unbeachtet gebliebene Sammlung von Rechtsstandpunkten des Kardinals Dominicus Tuscus an. Sie trägt den Titel ,Practicarvm conclvsionvm ivris in omni foro freqventiorvm... tomus\ ist also ein Werk, das die vor Gericht am häufigsten gebrauchten practicae conclusiones iuris namhafter Juristen aus dem Spätmittelalter jedem interessierten Benutzer, thematisch geordnet, handbuchartig zugänglich macht. Kurz: Ein praktisches Nachschlagwerk für konkrete Rechtsfälle. Die Rubrik 402 durchbricht die schlagwortartige Gliederung und bringt Beispiele aus einer einzigen Stadt; in ihnen sieht der Kompilator offensichtlich verallgemeinerungsfähige Lösungen verbreiteter juristischer Probleme. Es ist überschrieben .Florentinorum facta et alia notabilia' und enthält Auszüge aus den Consilia des Bartolus, Baldus sowie zahlreicher Florentiner Juristen des 14. und 15. Jahrhunderts82. Da es um die Semantik der angewandten Begriffe geht, werden die unterschiedlichen Autoren im folgenden nicht angeführt. Paulus de Castro steht, was die Anzahl der Nennungen betrifft, unter den Florentiner Juristen hier an erster Stelle. Florentini de facto, heißt es im achten Exempel, prout Rex Franciae non recognoscunt imperium. Eine Formulierung, die, ohne Hinweis auf den französischen König und variiert mit der Wendung superiorem non recognoscens, auch die Gutachtenauszüge 5, 9, 10, und 19 bringen. Einmal, in Nr. 4, heißt es schlicht: die ciuitas Florentiae sei ein dominium liberum. Die Respublica Florentinorum komme an Macht der Respublica Romanorum gleich, liest man unter 10, 13 und 83; sie habe daher legitimerweise einen Fortsetzung Fußnote von Seite 167gem, peccai mortaliter (Bartolus, In primam Codicis partem, fol. 81va: ad C.2.28.1, no. 15: /. Quaero, Sacramenta, Authentica, D. Si adversus venditionem), Vgl. auch W. Ulimann, Concilium, 725. 82 Dominicus Tuscus, Practicarvm conclvsionvm ivris tomus, 558-561. R. Trexler, Lord Pope, 135 Anm. 55, bedankt sich bei D. Maffei für den Hinweis auf diese Schrift. Trexler, der die dort referierten Thesen von der unabhängigen Stadt summarisch begreift als historische Anknüpfungspunkte für eine irreführende Vorstellungsbildung von der mittelalterlichen Stadt in der modernen Geschichtswissenschaft, wertet dieses Werk selbst nicht aus; das gilt, soweit ich sehe, auch für andere Historiker, die die Florentiner Stadtgeschichte untersuchen, oder Forscher, denen es um eine Geschichte der politischen und juristischen Ideen geht.
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Fiskus (Nrn. 11, 14, 17, 18, 83). Florenz besitze iura Imperij et supremam iurisdictionem (Nr. 6, vgl. auch 31, 34), quia principis locum habet (Nr. 34). Die Stadt könne Gesetze und Statuten machen (Nr. 16) und frei darüber entscheiden, ob sie leges Imperiales befolge oder nicht (Nrn. 8, 19). Das einunddreißigste Konsilium bringt das auf die Formel: Leges suas, et statuta, licet inualida, seruant Florentini, quicquid velini, et content iura in contrarium. Neben diesen Theoremen der unabhängigen Stadt stehen bezeichnenderweise gleichberechtigt jene Argumente, die Freiheit und Herrschaft vom Kaiser ableiten. Das neunte Beipiel weist auf König Rudolf hin, von dem die Republiken der Venetier, Genueser und Florentiner ihre Freiheit erkauft hätten. Und Nr. 20 berichtet, wie sehr sich Papst Honorius gefreut habe, als Florenz und Lucca ihre libertas vom Kaiser erwarben und diesen damit von den Grenzen des Kirchenstaates fernhielten. Fiskal- und Herrschaftsrechte sah man begründet im Status einer ciuitas superiorem non recognoscens, aber auch in kaiserlicher Autorität: Iura fiscalía, et regalia habet Commune Florentiae authoritate Caesarea (Nr. 17, ebenso 63: ex concessione Caesaris)83. Ein Widerspruch zwischen beiden Begründungsstrategien wurde offenbar nicht empfunden. Worum es bei diesen rechtstheoretischen Statusfragen der unabhängigen Stadt Florenz letztlich geht, zeigt sich im siebten Musterfall: „Und weil die Stadt Florenz eine solche Autorität in ihrem Territorium hat wie der Kaiser im Ganzen, deshalb kann sie ihre Untertanen mit unerhörten und außerordentlichen Lasten belegen". Die überwiegende Zahl der nach dem zwanzigsten Exempel folgenden achtzig Konsilien handeln von den Gehorsams- und Steuerpflichten unterworfener Städte in Kontado und Distrikt: von Pisa, Arezzo, Pistoia, Prato, Sarzana, San Miniato, San Gimignano, Buzano, Monte Catino, von unterworfenen Burgen und Landgemeinden, von der Privilegierung der eigenen Bürger. „Territorium" wird als Terminus technicus für den Florentiner Herrschaftsbereich ebenso benutzt wie comitatus oder, in Nr. 34, das römischrechtliche prouincia. Die Städte dieses „Reiches" sind unter der superioritas von Florenz: Sarzana ciuitas fuit subiecta Communi Florentiae habenti supremam superioritatem (Nr. 29). Die oft beschworenen Freiheit der civitas superiorem non recognoscens war realiter bisweilen nicht viel mehr als ein Freibrief zur Unterdrückung anderer84. 85
Dominicus Tuscus, Practicarvm conclvsionvm ivris tomus, 558-561. Die Numerierung ist am Rande vermerkt und leicht aufzufinden, eine vollständige Wiedergabe der zit. Stellen sprengt den Raum einer Anm. 84 Ebd. - Das deutsch wiedergegebene Zit., ebd. Nr. 7, 558b, lautet vollständig: Et quod ciuitas Florentiae habeat tantam authoritatem in territorio suo, quantam Imperator in vniuerso; ideo potest imponere subditis suis superindicta, et onera extraordinaria, et illa facere ordinaria, bona confiscare, fingere prout princeps. Eine typische Be-
170 IV. Bürgerbegriff u n d städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
Noch zwei Fälle aus Florentiner Archiven. Messer Piero Gaetani, Bürger von Pisa, hatte im Jahre 1406 die Florentiner bei der Eroberung seiner Stadt unterstützt. Als Dank war ihm das volle Bürgerrecht der siegreichen Stadt verliehen worden. Er siedelte über nach Florenz. Als 1412 auf Geheiß von Florenz der Magistrat von Pisa eine besondere Steuer auf seine Bürger umlegen mußte, sollte Messer Piero als civis originarius dort ebenfalls seinen Beitrag leisten. Nunmehr Florentiner Bürger, legte er Einspruch ein. Dem Einspruch wurde stattgegeben. In einem der angeforderten Rechtsgutachten wird als Grund genannt, daß Messer Piero schließlich das Bürgerrecht des Gemeinwesens genieße, das „der Superior der Kommune von Pisa ist" (est privilegiatus a superiore comunis pisarum)%s. Etwa zur selben Zeit beschwerten sich die Bürger von Castiglion Aretino, einem befestigten Ort im Territorium, über die hohen Steuerlasten und machten geltend, daß dieser Ort unter dem Schutz, nicht unter der Herrschaft von Florenz stehe. Im Auftrag der Stadt Florenz verfertigte Alessandro Bencivenni ein consilium, das den Protest für null und nichtig erklärt. Die Castiglionesen nämlich seien gänzlich der Florentiner Herrschaft unterworfen, denn, so heißt es in blumiger Sprache, ...Commune Florentie floret ut princeps inter suos subpositos. Untertanen aber könne Florenz „verpflichten" und über sie merum et mixtum imperium et gladii potestatem ausüben 86 . Die genannten Beispiele bringen den wirklichen Adressaten der juristischen Theorie der unabhängigen Stadt in den Blick. Diese Theorie nützte vor allem den Führungsgruppen der expandierenden Stadtstaaten. Gegen den Kaiser brauchte man nur selten eigene Rechte zu verteidigen, außerdem arrangierte man sich, wenn er dann doch einmal erschien, auf herkömmliche Weise. Den eigenen Bürgern mußte man Herrschaftsrechte und Gerichtsgewalt in der Regel nicht erst beweisen. Übrig bleiben unterworfenen Landgemeinden, Burgen und Städte. Für die allerdings benöFortsetzung Fußnote von Seite 169 handlung des Themas „unterworfene Städte": Pisarum ciuitas effecta de Comitatu Florentiae subiacet legibus Florentiae etiam factis, antequam esset effecta subiecta...Et fuit grauata ciuitas Pisarum de anno 1411 ad soluendum ßorenos bis mille singulo mense (ebd. 559a, Nr. 21. u. 22). Interessant der Vergleich mit der „Provinz": Prouincia censendo est ciuitas Florentiae, quia principis locum habet; ideo praetor Florentiae habet plenam praesidis authoritatem (ebd. 559b, Nr. 34). 85 Den Fall schildert L. Martines, Lawyers and Statecraft, 415f (Zit. 416). J. Kirshner, Nature and Culture, 183 Anm. 16, sagt zum Beispiel des Messer Piero von Martines, im Florentiner Staatsarchiv fänden sich hunderte ähnlicher Fälle. 86 Vgl. L. Martines, Lawyers and Statecraft, 416f (Zit. 417). Martines bringt in dem „Lawyers look at the state" überschriebenen Kapitel, ebd. 405-455, eine Fülle von Belegen für die Anwendung der Idee der civitas superior im Florenz des 14. bis 16. Jahrhunderts.
3. Der ferne Kaiser
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tigte m a n dringend eine Lehre, die Herrschaft, Gesetzgebung u n d Rechtsprechung der siegreichen civitas superior aus autochthonen Quellen ableitete; eine Lehre, die aus der faktischen Unterwerfung eine rechtsförmige Herrschaft machte 8 7 . Kriegführung gegen Nachbarstädte u n d unterworf e n e G e m e i n d e n , im Sinne des , C o r p u s Iuris Civilis' schlicht „Bürgerkrieg", gehörte d e n n auch zu den Prärogativen der unabhängigen Stadt. Bartolus: „ D e n n heute k ö n n e n die italienischen Städte rechtmäßig z u m Krieg gegen ihre Untertanen u n d F e i n d e rüsten, da sie einen Herrn nicht anerkennen" 8 8 . D i e u n a b h ä n g i g e Stadt wurde in diesen theoretischen Bem ü h u n g e n zu einem politischen Verband, gegen dessen Bedrückung sich untertänige G e m e i n d e n u n d besiegte Städte nicht zu wehren vermochten, gegen dessen Herrsch- u n d Expansionsgelüste eine Appellation an Kaiser oder Papst aussichtslos war: Vielleicht der präziseste Sinn der Formel superiorem non recognoscens. Es ist bekannt, d a ß die K o m m e n t a t o r e n die kaiserliche Oberherrschaft de iure nicht wirklich in Zweifel z o g e n , daß ihre Interessen gerichtet waren auf theoretische L ö s u n g e n praktischer Probleme der italienischen Städte 8 9 . W e n n m a n diesen in der Forschung überwiegend unvermittelt 87
Im Konflikt zwischen unterworfenen Städten und superior bedienten sich beide Seiten häufig der gleichen, aber unterschiedlich interpretierten römischrechtlichen Topoi. Und das gilt im Herrschaftsbereich des .tyrannischen' Herzogs von Mailand ebenso wie im Territorium des republikanischen' Florenz. Zum juristischen Diskurs in Mailand vgl. jetzt J.W. Black, Ducal Authority. - In der Bürger- und Einwohnerschaft nutzte man die römische Rechtslehre allerdings auch, und zwar zur Steigerung der obrigkeitlichen Elemente im Herrschaftsverständnis, vgl. L. Martines, Lawyers and Statecraft, bes. 430ff. 88 Sed hodie ciuitates Italiae possunt licite praeparare exercitum contra subditos, et inimicos suos, cum dominum non recognoscant... (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 153vb: ad D.48.4.3, no. 2: /. Lex duodecim tabularum, D. Ad legem Iuliam maiestatis). Vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 199. 89 Historiker der politischen Ideengeschichte überbewerten die Lehre von der civitas sibi princeps in der Regel und sehen in ihr eine Theorie des „souveränen Stadtstaates" (vgl. beispielhaft die zit. Meinung Q. Skinners in Anm. 60). Andere äußern sich zu dem Problem im allgemeinen vorsichtiger (vgl. H.G. Waither, Imperiales Königtum, 184). Aber oft stehen auch hier die Behandlung der unabhängigen Stadt und die de iure weiterbestehende Herrschaft des Kaisers nebeneinander: Vgl. die Kritik an F. Ercole durch P. Costa, Iurisdictio, 259. Costa selbst schlägt die Analyse juristischer Theorien am Leitfaden zweier „Sprachen" vor, der „linguaggio di validità e di effettività", die ihre eigenen Regeln haben (vgl. bes. 20-28, 84-87). Die „Sprache der Tatsächlichkeit" überlagere die „Sprache der normativen Geltung" dabei immer mehr, ohne sie abzuschaffen, oder, da es zwei „Sprachspiele" sind, ihr wirklich zu widersprechen. Wenn man sagt, die toskanischen Städte seien de facto frei, bedeutet das in dieser Interpretation keine mindere Rechtsposition, nur eine andere: „hanno una posizione di supremazia perfettamente legittima..., ma semplicemente spostata rispetto all'asse della gerarchia..." (ebd. 258). Inhaltlich und methodisch zu vermitteln versucht auch J.P. Canning, Baldus, 115-119 (überzeugend,
172 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters mit der Behandlung der Theorie der „souveränen" Stadt geäußerten Befund, der in diesem Kontext oft nicht mehr als den Status einer einschränkenden Randbemerkung hat, zum Leitfaden seiner Interpretation macht, gewinnt man zwar kein neues, aber doch ein deutlich anders akzentuiertes Gesamtbild. Postglossatorische „Theorie der Stadt" kann dann begriffen werden als Theorie fürstengleicher Städte in einem stark gelockerten Reichverband 9 0 . In dieser Sicht der D i n g e unterscheiden sich italienische Städte rechtstheoretisch nur noch graduell von den deutschen Frei- und Reichsstädten. Der wesentliche Unterschied liegt in der faktischen Selbständigkeit und Handlungsfreiheit italienischer K o m m u n e n , in ö k o n o m i schen Ressourcen und Staatsbildungsprozessen, die in dieser G e g e n d Europas weiter fortgeschritten waren als anderswo. Das Verdienst der Postglossatoren war, für diese Verhältnisse in praktischer Absicht eine Theorie kaiserferner Herrschaft entworfen zu haben, die drängende Fragen beantwortete und Begründungsdefizite ausglich. Diese Lehre enthielt Elemente, die auch in folgenden Jahrhunderten noch ihre erstaunliche Anwendungsbreite und Verallgemeinerungsfähigkeit erweisen sollten. Ein Souveränitätslehre der Stadt war sie nicht. Für eine solche Interpretation spricht die Art und Weise, in der die italie-
Fortsetzung Fußnote von Seite 171 allerdings stark zugeschnitten auf Baldus); ebd. 125f der Gedanke, daß die Lehre von der unabhängigen Stadt besondere Bedeutung hat in bezug auf Untertanen und Herrschaftsbildung. Ähnlich schon C.N.S. Woolf, Bartolus, 197. L. Martines hat seine Studien dann bes. in diese Richtung gelenkt, vgl. seine Bemerkungen in ders., Lawyers and Statecraft, 415 Anm. 30 u. 437. Martines kommt inhaltlich zu bedeutsamen Ergebnissen, die auch Hintergrund unserer Urteilsbildung gewesen sind, eine theoretisch befriedigende Vermittlung mit der weiterbestehende Theorie der Kaiserherrschaft findet man bei ihm jedoch nicht. A. Checchini, Presupposti giuridici, arbeitet in der Interpretation bartolinischer Theorie der Satzungshoheit heraus, daß, im Gegensatz zur „originären Rechtsordnung" eines Königreiches wie Sizilien, die Rechtsordnung einer italienischen Kommune nicht „originär", sondern „derivativ" ist. Er kommt zu dem interessanten und eigenwilligen Schluß, daß die Statuten und damit die Ordnung der Städte im Verhältnis der Subsidiarität zum Römischen Recht stehen und nicht, wie allgemein angenommen, umgekehrt (vgl. bes. 95ff). ,0 Der pragmatisch-historische Zugriff dieser Arbeit läßt sich methodisch-formal am ehesten mit der linguistisch-strukturalen Konzeptualisierung P. Costas in Einklang bringen (s. Anm. 89). Statt wie er von zwei „Sprachen", sollte man vielleicht besser von einer „Sprache", die flexibel genug ist, für unterschiedliche Adressaten verschiedene Wortfelder und Begründungsaxiomatiken bereitzustellen, reden. Auf der höchsten Ebene der Theorie legaler Herrschaft bestanden nie Erklärungsdefizite. „Unvereinbarkeiten" ergeben sich erst, wenn moderne Historiker die verschieden adressierten Wortfelder und Rechtfertigungsstrategien im Interesse widerspruchsfreier Systembildung ineinander blenden. Mittelalterliche Gelehrte hatten mit „mehrfachem Schriftsinn" keine Probleme.
3. Der ferne Kaiser
173
nische Doktrin seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland Aufnahme fand. Otto von Gierke hat diesen lebendigen Prozeß der Adaption umfangreich dokumentiert. Er untersucht die Anwendung des Begriffs universitas superiorem non recognoscens auf Reichsstände sowie Reichsstädte und arbeitet heraus, daß man demgegenüber Landstädte den civitates superiorem recognoscentes, im Zweifelsfalle der neugebildeten Kategorie civitas status mixti zurechnet. Gierke beschreibt den römischrechtlichen Hintergrund der Formel, man könne imperium merum et mixtum durch „Verleihung oder Ersitzung" erwerben, und deckt traditionsabhängige Züge auf in der These, daß civitates imperiales in ihrem Territorium jura Principis habent et vicem Principis obtinent. „Man nahm", so Gierkes Gesamteinschätzung, „die seit Bartolus ausgebildete prinzipielle Unterscheidung zwischen Verbänden mit und ohne Superior mit dem Zusatz auf, daß ohne Superior jede universitas sei, die keinen anderen Superior als den Kaiser habe. Insbesondere war es das Reichskammergericht selbst, bei welchem diese Auffassung durchdrang"". Dem ist nichts hinzuzufügen. Nur: Die Wendung „keinen anderen Superior als den Kaiser" muß nicht unbedingt „Zusatz" sein. Theorieimmanent gibt es keinen Grund, weshalb italienische Städte des 14. Jahrhunderts diese Qualifizierung nicht akzeptiert haben könnten. Zumindest de iure. Nürnberger Ratskonsulenten des 15. Jahrhunderts unterscheiden sich in ihrer Argumentationsweise bei der Verteidigung alter Freiheiten kaum von ihren italienischen Kollegen. So verwahren sich die Juristen dieser Reichsstadt gegen kaiserliche Eingriffe in das Recht der eigenen Statutengebung. In einem eigens zu diesem Zwecke verfaßten .Responsum' wird festgestellt, daß man das merum vnd mixtum imperium, das ist galgen vnd 91 O. v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 696f; dem Thema ist das gesamte 3. Kap. gewidmet: „Die Aufnahme der Korporationstheorie in Deutschland", 645-826. Ebd. 693-697 (Reichsstände, Reichsstädte); 696 Anm. 27 (civitates imperiales)· 697712 (Landstädte, civitates status mixti : 701). - P. Moraw, Verfassungsposition der Freien Städte, 26, weist auf einen Gedankenkomplex hin, der seit dem 13. Jahrhundert den Rechtsstatus einer freien Stadt im Bewußtsein ihrer Bürger kennzeichnet: Es „entstand die Auffassung, die Freie Stadt sei gefürstet". Beispiele für die Selbstbezeichnung „gefürstete freie Städte" bei E. Isenmann, Reichsstadt und Reich, 22ff, 26. Ebd. 89-189, und ders., Reichsrecht, 618-625, zu Mitwirkung und Stimmrechten der Städte auf Reichstagen (bzw. kaiserlichen und königlichen Tagen) bis zur Durchsetzung eines „Votum decisivum" im Jahre 1648. Die Vorstellung von der Fürstengleichheit der freien Stadt hat sich in Deutschland offiziell nicht durchgesetzt. Aber: Daß sie behauptet worden ist, zeigt wiederum erstaunliche Parallelen zu Italien. Außerdem haben es die deutschen Städte ζ. T. erfolgreich verstanden, mit Hilfe des Römischen Rechts die wichtigsten „inneren" Prärogative eines Fürsten für sich zu reklamieren (so das Recht der Selbstregierung und eigenen Gesetzgebung, vgl. nächste Anm.). Die Reichsstandschaft der Frei- und Reichsstädte machte diese darüber hinaus, wenn nicht fürstengleich, so doch sicher „fürstenähnlich".
174 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
stock, innehabe u n d damit die vollen gewalt vnd macht. Als Rechtsgrundlage für die legitime Ausübung der Herrschaft verweist man ebenso auf die concessio principis wie auf das oben besprochene Bartolinische Axiom von der rechtsbegründenden Kraft der prescriptio longissima u n d der consuetude. Insbesondere letztere mache in Fragen der Setzung neuen Rechts den Rekurs auf den Kaiser überflüssig, „weil das durch Gewohnheit, eingeführt im schweigenden Konsens des Volkes, geschehen kann, denn die Gewohnheit ist in diesem Falle gleichbedeutend mit Statut". Überhaupt sei es billig, hier verläßt man den Boden der Rechtswissenschaft und urteilt grundsätzlich, das man nach Verwandlung der zeyt verwandet menschliche gesatz, das auch newen kranckhaiten new artzney zugeaigent werden. Zusammengebunden mit Auszügen aus Schriften und Konsilien italienischer und deutscher Juristen, mit U r k u n d e n , Ordnungen und anderen rechtsbedeutsamen Materien, erschließbar durch Register, war das ,Responsum'jedem Nürnberger Ratsherrn oder Ratskonsulenten in der Ratsbilbliothek zugänglich. Aus dem 15. Jahrhundert sind fünfzehn Nürnberger „Ratschlagbücher" dieser Art überliefert 9 2 . In seiner Arbeit über diese Nürnberger Quellen hat Eberhard Isenmann weitere Gutachten besprochen und zahlreiche andere genannt. Er kommt zu dem Schluß, daß es in den Konsilien und Traktaten vor allem darum ging, „das Untertanenverhältnis der städtischen Einwohner und der Hintersassen des Landgebietes durch eine gesicherte Kompetenz der städtischen Gerichte...zu festigen". Kein Unterschied zu Italien also. Mit der Behauptung des Rechtes autonomer Statutengebung, so interpretiert Isenm a n n das Interesse der Nürnberger Juristen an der italienischen Lehre, wollte man teure Appellationen an den Kaiser vermeiden. Wenn Betroffene jedes neue Statut in Frage stellen u n d an den Kaiser appellieren konnten, hätte das „große Mühen, erhebliche Reisespesen und K o s t e n " verursacht. „Dieser pragmatische Gesichtspunkt ist angesichts der damali-
92
Das ,Responsum' ist besprochen und z.T. ed. bei E. Isenmann, Reichsrecht, 571576. Die Zit. finden sich ebd. 572 Anm. 121 (merum imperium) u. 572f Anm. 122 (prescriptio); ebd. das deutsch wiedergegebene Zit.: ...quod non requiritur superioris autoritas, attento etiam in hoc, quod consuetudine, que inducitur tacito consensu populi, illud posset induci, cum consuetude in hoc equiualeat statutum; 574 (Verwandlung der zeyt)·, zu den Ratskonsulenten und der Ratsbiblothek ebd. 548-562. - Zur Begründung von Rechtsveränderungen vgl. K. Schreiner, Sozialer Wandel. 2 5 7 269. Der frühneuhochdeutsch wiedergegebene Passus des ,Responsuml zur Verwandlung der zeyt lautet in lateinischer Version : secundum varietatem tempora varientur et statuta humana (zit. E. Isenmann, Reichsrecht, 574 Anm. 126 ; das Gutachten ist zweisprachig verfaßt). Hier ist offensichtlich der verbreitete Topos diversitas temporum Grundlage des Arguments, dazu vgl. K. Schreiner, „Diversitas Temporum", bes. 401-408. Zur Rezeption des Römischen Rechts in den Stadtrechtsreformationen des ausgehenden 15. Jahrhunderts vgl. E. Isenmann, Deutsche Stadt, 83f (Lit.).
3. Der ferne Kaiser
175
gen immensen Gesandtschaftskosten...durchaus von Gewicht" 93 . Trifft das zu, dann wird erst recht verständlich, warum italienische Juristen ihre ganze intellektuelle Kreativität in die Entwicklung einer Theorie der unabhängigen Stadt investierten. Deutsche Rechtsgelehrte haben die italienische Doktrin der civitas superiorem non recognoscens unbedenklich und wortgetreu auf Frei- und Reichsstädte übertragen, sie haben Mitbestimmungsrechte der Städte im Reich eingeklagt unter Berufung auf das Natur- und Völkerrecht, aber auch mit der Parömie ,Quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari'9*. Innovativ waren sie in der Ausarbeitung der Bartolinischen Konzeption der autonomen Stadt. Das Theorem der civitas superiorem recognoscens bildeten sie weiter zu einer differenzierten Lehre der mediatisierten Landstadt. Im deutschen Teil des Reiches lagen die Kernpunkte des theoretischen Interesses und die realen Konfliktlinien nicht vorrangig im Streit zwischen Kaiser und Städten. Mittelpunkt zahlreicher juristischer Diskurse in der frühen Neuzeit waren vielmehr die Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Landesherr, Thema auch hier Fragen der Geltung alter Freiheiten durch Ersitzung oder Verleihung, der Eingriffsrechte des Fürsten in lange Zeit unangefochten ausgeübte Gerichts-, Verwaltungsund Herrschaftsrechte. Zentrale Rechtspositionen und Begründungsstrategien, die im italienischen Trecento zur Stärkung der Rechtsposition der civitas superiorem non recognoscens gegen kaiserliche Ansprüche entwickelt worden waren, wurden im frühneuzeitlichen Deutschland diskutiert als Probleme der civitas superiorem recognoscens. Juristen, die Rechte autonomer deutscher Städte gegen Herrschaftsansprüche der Landesherrn verteidigten, konnte aufbauen auf Theorien und Argumentationsmuster, die ihre italienischen Kollegen fast zwei Jahrhunderte früher im Dienst unabhängiger Städte erarbeitet hatten. Demgegenüber versuchte der frühneuzeitliche Landesherr in die Fußstapfen der civitas superiorem non recognoscens des italienischen Trecento zu treten95. Mit dem Eindringen der rö93
E. Isenmann, Reichsrecht, 558 („Untertanenverhältnis") u. 571 („Kosten"). Ebd. 618-625 (Natur- und Völkerrecht; Mitbestimmung); ebd. 619f, 623 (,Quod omnes tangit). Zu letzterem vgl. auch o. Kap. I Anm. 5 und o. Kap. III Anm. 66, 82, u. H. Schilling, Republikanismus, 109. 95 Vgl. etwa die Argumente im Konflikt der waldeckischen Grafen und der Stadt Korbach bei G. Menk, Herrschaftskonflikt. Bes. 54f (Korbachs altherprachte freiheitt)·, 64f (merum et mixtum imperium, jus constituendi magistratus... und jus superioritatis der Stadt). In ihre ersessenen Rechte könne der waldeckische Graf schon deshalb nicht eingreifen, argumentierten die Korbacher Bürger, weil er lediglich einzuordnen sei pro inferioribus comitibus, superiorem recognoscentibus. Der Graf sah das anders und wies diese Einschätzung als eingebildeten wahn entschieden zurück und pochte demgegenüber auf seine onzweifeliche superiority (ebd. 580- - Vgl. auch O.v. Gierke, Genossenschaftsrecht III, 692ff, 763-798. 94
176 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
mischrechtlichen Korporationstheorie in die komplizierten Rechtsverhältnisse des Deutschen Reiches änderten sich die eingefahrenen Lösungsmuster in beiden Systemen. Juristen mußten ihre Karten neu mischen.
4.
Bürger und Mensch. Der juristische c/ra-Begriff und das Problem philosophischer Anthropologie
Die unabhängigen, aber auch viele autonome Städte hatten im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reichsverband juristisch begründbare Handlungsspielräume erkämpft, die sie mit Reichsfürsten praktisch auf eine Stufe stellten. Der Grad politischer Aktionsfähigkeit eines Systems hängt aber nicht nur ab von äußeren Determinanten. Aktionsfähigkeit bestimmt sich auch aus der Struktur des Systems selbst. Anders ausgedrückt: Die Politik, die ein Rat betrieb oder betreiben konnte, war nicht unabhängig von der Verfassung einer Stadt. Der Grad der Offenheit politischer Führungsgruppen fiel dabei ebenso ins Gewicht wie die Regelung politischer Mitsprache von Gemeinde und Zünften durch Wahlverfahren oder durch formelle und informelle Formen der Kontrolle. Haben wir im letzten Abschnitt betrachtet, wie Rechtsgelehrte die autonomen Rechte der Städte mit Hilfe römischrechtlicher, korporationstheoretischer und natur- oder völkerrechtlicher Theoreme faßten und verteidigten, so soll der Blick nun vom Ganzen abgewandt und auf dessen Teile gerichtet werden. Zunächst werden die Postglossatoren allgemein nach ihrem Begriff vom Bürger befragt und das heißt bei Juristen: nach Status und Inhalt des Bürgerrechts sowie der rechtsphilosophischen Qualität des Begriffs civis selbst. Dann, im fünften Abschnitt, wird genauer analysiert, auf welche Weise die Jurisprudenz das Verhältnis des Bürgers zur Stadt definierte, wie Verfahren politischer Partizipation und Repräsentation in dieser Wissenschaft gesehen wurden. Die Grenzen auch der laikalen Selbstbestimmung im Innern der autonomen und unabhängigen Stadtgesellschaften sollen bei all dem nicht aus den Augen verloren werden. Cives quidem origo manumissio adlectio adoptio, íncolas vero domicilium facit, heißt es im ,Corpus Iuris Civilis' C. 10.40.7., und unter D.50.1.1. steht: Municipem autem nativitas facit aut manumissio aut adoptio. Gebürtigsein bzw. Geburt, Freilassung, Wahl und Annahme an Kindesstatt macht also den „Bürger", der Wohnsitz lediglich den „Einwohner". Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts sind diese beiden Texte verstärkt ins Zentrum gelehrten Interesses getreten und Ausgangs- oder Bezugspunkte
4. Bürger und Mensch
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der Diskussion um das Wesen des Bürgers geworden". Bartolus bündelte die kontroversen Bestimmungsversuche, sein Schüler Baldus brachte Ergebnisse des philosophischen Diskurses ein und am Ende stand ein Bürgerbegriff, der genügend spezifisch und hinreichend verallgemeinerungsfähig war, um der Debatte über Partizipation und Freiheitsrechte in der vormodernen europäischen Gesellschaft bis ins 18. Jahrhundert hinein als tragfähige konzeptuelle Grundlage zu dienen. Schon bei der Wortwahl im , Corpus Iuris Civilis' beginnen für den mittelalterlichen Juristen die Schwierigkeiten . Einmal, in C. 10.40.7., ist von cives und incolae, im zweiten Falle, unter D.SO. 1.1., allein vom municeps die Rede. Wer aber ist der municeps, fragt Bartolus im Kommentar zu D.50.1.1, und antwortet zunächst ausweichend: „Heute gebrauchen wir dieses Wort im weiten und uneigentlichen Sinne". Dann definiert er mit Hinweis auf die oben zitierte Codexstelle: Municeps sei ein nomen generis; ciuis ciuitatis, incola, aber auch castellanus seien demgegenüber nomina specierum. Etymologisch leite sich municeps her von munerum particeps, bezeichne also allgemein jeden, der Anteil an den Lasten des Gemeinwesens hat97. Mit knappen Strichen ist in diesen Ausführungen der ciuis ciuitatis dem generellen Terminus municeps logisch untergeordnet und damit zugleich exklusiv verengt worden : Der „Bürger einer Stadt" unterscheidet sich kategorial vom bloßen Einwohner, aber auch vom politisch vollbe96 Grundlegend D. Bizzarri, Cittadinanza. Rechtshistorisch orientierte Lexikonartikel: E. Cortese, Cittadinanza (für Italien; 138f: „scienza giuridica"); Κ. Kroeschell, Bürger (für Deutschland). Neuere Arbeiten W.M. Bowsky, Medieval Citizenship; J.P. Canning, Political Man; ders., Baldus, 159-184; J. Kirshner, Nature and Culture; ders., Civitas sibi faciat civem; ders., Cives ex privilegio; ders., Baldus on Naturalization; U. Meier, Konsens und Kontrolle; D. Quaglioni, Legal Definition; P. Riesenberg, Civism and Roman Law; ders., Citizenship at Law; W. Ulimann, Rebirth of the Citizen. Alle zit. Werke behandeln zwar bes. Italien, ihre Ausführungen zur Diskussion in der Jurisprudenz sprengen jedoch den nationalgeschichtlichen Rahmen; die in Italien beschrittenen Lösungswege und die dort gefundenen Formeln haben seit dem 15. Jahrhundert auch Verbreitung in Deutschland gefunden. Speziell für Deutschland fehlen entsprechende Arbeiten, die insbesondere die Behandlung des Bürgerrechts in Rechtsgutachten zum Thema machen. Vgl. aber demnächst U. Heckert, Mustergutachten. Zu materiellem Bürgerrecht und städtischem Bürgerbegriff in Deutschland vgl. E. Isenmann, Deutsche Stadt, 93-106 (Lit.). 97 ...hodie vtimur isto vocabulo large, et improprie...quaero, qualiter intelligatur nomen municepes? Gl. C. de incolis, I. dues, dicit, quod municeps est nomen generis, ciuis, et incola sunt nomina specierum...Dico tarnen latius, quod verbum, ciuis, non potest adaptari omnibus municipibus, vt puta aliquis est oriundus de quodam castro libero, hic non poterit dici ciuis illius castri, nec incola, sed appellabitur municeps hoc nomine generali...et sic apparet quod hoc nomen, municeps, est genus ad ciuem ciuitatis, et ad castellanum alicuius castri... (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 217rb, ad D.50.1.1, no. 1: /. Municipem, D. Ad Municipalem). Bezugnehmend auf den Anfang sagt er ebd. fol. 217vb, no. 15 : Hic notandum quod secundum etymologiam vocabuli, municeps dicitur quasi munerum particeps.
178 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters rechtigten Mitglied eines unterstädtischen Gemeinwesens, dem Bewohner des befestigten Ortes. Die nun folgenden Erklärungen u n d Beispiele lassen keinen Zweifel aufk o m m e n : „Bürger" ist f ü r Bartolus vor allem „Stadtbürger". Doch gehen wir der Reihe nach vor. Was heißt „Geburt macht den Bürger?" Es fällt auf, daß Bartolus in diesem wirkungsgeschichtlich kaum zu überschätzenden Digestenkommentar die Frage auf den civis einschränkt; im Text D.50.1.1. selbst ist nativitas auf municeps bezogen. Bartolus beginnt: Die Glosse erläutere den Terminus „ G e b u r t " im Sinne von natiuitas paterna vel propria. Überprüft man den Bartolinischen Hinweis auf Accursius, stellt man fest, daß die Adjektive vertauscht sind. Das geschieht nicht zufällig: die Postglossatoren engen den vielfältig interpretierbaren Begriff nativitas mehr und mehr ein und verstehen „ G e b u r t " schließlich als „väterliche Abstammung" 9 8 . Bartolus steht in dieser Tradition. Er erläutert den Sachverhalt an virulenten Problemkreisen seiner Gegenwart: „Ist ein Kontadobewohner, der in der Stadt geboren wird, Bürger, oder ist der Bürger, der im K o n t a d o geboren wird, deshalb K o n t a d o b e w o h n e r " ? Eine solche Auffassung, die „ G e b u r t " mit Geburtsort gleichsetzt, sei nicht zu akzeptieren, denn zwischen Bürger u n d Landbewohner bestehe eine genuine differentia de iure communi, die durch eine solche Konstruktion unzulässigerweise verwischt wird. So werde der comitatensis zum Beispiel zu höheren Lasten herangezogen als der ciuis, ersterer müsse eine Kopfsteuer leisten, die man letzterem nicht auferlegt. Bartolus zieht den Schluß : „ D e r vom Bürger Geborenen, wird, wo immer das auch geschieht, Bürger sein. Ebenso wird der von einem Kontadobewohner Geborene, wo immer er auch geboren wird, nur ciuis comitatensis sein" 99 . 98
Dazu vgl. D. Bizarri, Cittadinanza, 104; dort auch das Accursius Zit. und weitere einschlägige Belege zur Verengung des Begriffs „Geburt" auf väterliche Verwandte. Das konnte soweit gehen, daß man, wie in einem Florentiner Wahlgesetz von 1404, consors vel conjunctus bestimmt als „Vater, Onkel väterlicherseits und Bruder (frater carnalis ex eodem patre)", vgl. J. Kirshner, Cives ex privilegio, 244. 99 Im Zusammenhang: Sequitur in textu natiuitas...et dicit glossa quod natiuitatepaterna, vel propria...Item qui nascitur in comitatu, in aliqua villa, vel castro subdito ciuitati, effìcitur ciuis illius ciuitatis...Sed circa hoc dubitatur vtrum comitatensis natus in ciuitate sit ciuis, vel ciuis natus in comitatu sit comitatensis...? Quidam dicunt quod sic, quia inspicitur origo, vi hic cum sim. Ad declarationem istius questio. oportet te alia scire, vtrum de iure communi aliqua sit differentia inter ciuem, et comitatensem. Respondeo sic, quia comitatensis tenetur ad maiora onera, potest enim imponi collecta pro ea parte, quae vocatur capitatio, quae ciuibus non potest imponi...et sic natus ex ciue, vbicunque nascatur, erit ciuis. Item natus ex comitatensi, vbicunque nascatur, erit ciuis comitatensis (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 217rb f: ad D.50.1.1, no. 3 u. 4: /. Municipem, D. Ad municipalem). Weitere Belege für die Unterscheidung cives de civitate - cives comitatenses im Werke des Bartolus bei J. Kirshner, Civitas sibi faciat civem, 704f.
4. Bürger und Mensch
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Im Kommentar desselben Titels, zum Paragraphen , Filius' der Lex ,Assumptio\ wird Abstammung in Anlehnung an Oldradus dann genauer bestimmt als quis sequitur originem in patris, et aui, non autem aliorum parentum antiquorum l0°. Der idealtypische Bürger ist also der civis civitatis, der väterlicherseits vom einem Bürger abstammt. Die Einengung der mittelalterlichen Bürgerdiskussion auf den Stadtbürger bezieht, das machen bereits die angeführten Belege deutlich, ihre Plausibilität aus dem stets gegenwärtigen Problem der Abgrenzung einer Bürgerschaft von Personengruppen oder Verbänden, die auf dem flachen Lande wohnen, oder solchen, die als Einwohner nicht vollberechtigte Mitglieder der Gemeinde gewesen sind. Wie aber steht es mit jenen anderen Verfahren, durch die man zum Bürger werden kann: mit Freilassung, Annahme an Kindesstatt und Wahl? Alle wurden von den Kommentatoren pflichtgemäß erklärt, im Zentrum einer innovativen Diskussion stand aber vor allem die Wahl, die adlectio. Das Problem und die Modalitäten der Neuaufnahme von Bürgern, die Frage nach ihrer Einbindung ins Gemeinwesen, insbesondere die damit zusammenhängende Wählbarkeit zu den höchsten Ämtern, waren in jeder Kommune zentrale und umstrittene Themen des politischen Diskurses. Bürgerrecht in der mittelalterlichen Stadt war eben kein individuelles Grundrecht. Civilitas, cittadinanza, burgereht definierte vielmehr in räumlich unterschiedlicher und zeitlich veränderlicher Weise die Zugehörigkeit einer Person zu einem politischen Verband und bestimmte damit zugleich deren Rechtsstatus und ökonomischen Handlungsspielraum 101 . Die utilitas publica setzte fest, wer dazugehörte und wer ausgeschlossen blieb, welche Rechte gewährt und welche Pflichten gefordert wurden. Die konkreten Bestimmungen waren ständig im Fluß, sie waren direkter Ausdruck der politischen Machtverhältnisse und der konfliktträchtigen Willensbildungsprozesse in der universitas civium102. Im Proömium der Volgarefassung der Florentiner Statuten wird deshalb eigens begründet, warum man insbesondere die Wählbarkeit zu den Ämtern erst im letzten Buch behandelt: per100
Bartolus, In secundam Digesti noui partem, 218rb, ad D.50.1.6.1, no. 1: § Filius, 1. Assumptio, D. Ad municipalem. !0! Einführend D. Waley, Stadtstaaten, 104-109, bes. 107; E. Isenmann, Deutsche Stadt, 93-106. Zum politischen und antagonistischen Charakter der Gesetze zum Bürgerrecht vgl. M. Sbriccoli, Interpretazione dello statuto, 17-47, bes. 19f, 27f, 407f. Zu den verschiedenen Schreibweisen von cittadinanza vgl. D. Bizzarri, Cittadinanza, 91 Anm. 3. Civilitas deutsch mit „Bürgerrecht" zu übersetzen, ist schon im Mittelalter üblich gewesen; vgl. etwa das Formelbuch des Bernold von Kaisersheim aus dem Jahre 1312, in dem steht: Man solle den Antragstellern unter gewissen Umständen das ius ciuilitatis gewähren, quod wlgo burgerreht dicitur (zit. L. Rockinger, Briefsteller, 899). 102 So D. Bizzarri, Cittadinanza, 98.
180 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
che contiene cose frequentimente mutabili, come alla repubblica e di bisogno™3. Gerade die Frage nach Umfang und Art der Aufnahme von Neubürgern wurde oft zum neuralgischen Punkt der Auseinandersetzung zwischen innerstädtischen Interessengruppen und Zunftverbänden. Darin wird deutlich, daß existentielle Fragen zur Diskussion standen. Hatte der Neubürger auch selten mit dem Erwerb des Bürgerrechts zugleich die Wählbarkeit zu den Ämtern erworben - in den meisten Kommunen dauerte das zehn, zwanzig oder mehr Jahre, oft stiegen erst Angehörige der nachfolgenden Generationen zu wirklichen Vollbürgern auf - , so ging es doch um nichts Geringes. Es ging um Rechtsschutz in gerichtlichen Belangen sowie Rechtsgleichheit in „privatrechtlichen" und ökonomischen Angelegenheiten: um das Privileg der Erwerbstätigkeit, die Möglichkeit des Kaufs oder Vertriebs von Waren, um das Recht, Land- und Grundbesitz im städtischen Territorium zu erwerben, um Tax- und Zollbefreiungen 104 . In Italien forderte man in Streitfällen, die das Bürgerrecht betrafen, schon im 14. Jahrhundert regelmäßig juristische Gutachten ein. Hierin liegt der reaîgeschichtliche Grund für die besondere Aufmerksamkeit, die Rechtsgelehrte dem römischrechtlichen Theorieangebot der adlectio in civilitate erwiesen haben. Doch zurück zu Bartolus' Digestenkommentar. Punkt sechzehn seiner Erläuterung zu D. 50.1.1. widmet er der Frage, was es heißt, durch receptio Bürger einer Stadt zu werden. Da dies nicht hinreichend an dieser Stelle des , Corpus Iuris Civilis' behandelt wird, verweist er auf C. 10.40.7, stellt um und variiert: Cives facit origo, manumissio, adoptio, et electio. Das hier electio genannte Verfahren, führt er weiter aus, gründe in der conuentio vel constitutio ciuitatis oder, anders ausgedrückt, in der Satzungshoheit einer Stadt. Ein weiterer Kreis schließt sich. Die im consensus populi begründete potestas legem condendi kennen wir bereits als genuines Recht der unabhängigen, aber auch vieler autonomer Städte. Bartolus verknüpft die Diskussion um die Aufnahme von Neubürgern nun bezeichnenderweise mit dieser Traditionslinie und kann aus gutem Grund zu dem Ergebnis kommen, „daß durch eigenständige Aufnahme, im Eingehen eines Vertrages mit einer Person, die Stadt selbst den Bürger macht (ciuitas sibi faciat 103
Archivio di Stato Firenze, Statuti 31, fol. 3v. Manche Historiker sehen denn auch in diesen handfesten materiellen Vorteilen die eigentliche Substanz der juristischen Bürgerdiskussion. Das ist beispielsweise die These von P. Riesenberg, Citizenship at Law, bes. 343, u. ders., Civism and Roman Law. Aber auch Riesenberg erkennt die anderen Dimensionen dieser Debatte an und betont in seinem Aufsatz ,Citizenship and Equality' die Bedeutung politischer Partizipation (ebd. 436) sowie die langfristigen gesellschaftlichen Auswirkungen einer im Bürgerrecht garantierten Gleichheit: „In fact, citizenship may be seen as the principal institutionalization of equality" (ebd. 438). 104
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ciuerri). Und dies sehen wir durch die Gewohnheit gewährleistet"105. Im Gegensatz zu anderen Vertragsformen, heißt es an anderer Stelle desselben Titels, geht die ciuilitas contracta über auf die Söhne des ins Bürgerrecht aufgenommenen Neubürgers106. Geltungsgrund der Bürgeraufnahme und der Austattung der novi cives mit Privilegien ist die im Gewohnheitsrecht fest verankerte Stadtverfassung. Der ciuis ciuitatis ist Produkt der ciuitas. Und: Dies trifft für autonome und unabhängige Städte gleichermaßen zu. Gerade im Hinblick auf die übliche, allzu kurzschlüssige Einordnung dieser Befugnis als Merkmal der civitas superiorem non recognoscens, muß in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, daß im Verständnis der Juristen Bürgerrechtsverleihung im Kompetenzbereich beider Städtesorten lag oder liegen konnte107. Landsassen und Bewohner befestigter Orte hat Bartolus ebenso vom geborenen Bürger abgesetzt wie die Einwohner der eigenen Stadt. Die Beschäftigung mit der Aufnahme Fremder unter die cives civitatis hat die Bürgerschaft nun selbst in zwei Gruppen geteilt. Über die Gruppen der Nichtbürger (cives comitatenses, incolae) erheben sich die cives ex privilegio und schließlich die cives originarti et antiqui. Zahlreiche Streitfälle, behandelt in Konsilien der Juristen, drehen sich fortan um dieses Auseinanderfallen der Bürgerschaft in die mit unterschiedlichen Rechten ausgestattenten Gruppen der alteingesessenen Bürger und der Neubürger. Auftraggeber der Konsilien waren Magistrate der Städte, meist jedoch jene homines novi selbst, die sich in ihren Rechten geschmälert und als Mitglieder der Bürgerschaft nicht ausreichend akzeptiert fühlten. Juristen haben immer wieder versucht, die Rechtsstellung ihrer Mandanten derjenigen der alteingesessenen Bürger möglichst anzugleichen und letztere davon zu überzeugen, daß auch der Neubürger ein verus civis sei. In diesem Bemühen 105 Secundo no. quod aliqui possunt recipi in ciuitate, vt muñera nobiscum faciant, et sic receptione contrahitur ciuilitas...tamen prior lectura magis placet, vt receptione propria ex contractu habito cum aliquo ciuitas sibi facial ciuem. Hoc videmus seruari de consuetudine...Hoc modo intellige d. I. dues, C. de incolis lib. χ. vbi dicitur, quod dues facit origo, manumissio, adoptio, et electio. Nam ibi recitatur isla lex. In eo vero, quod ibi dicitur de electione, intelligo conuentione, vel constitutione ciuitatis facta cum aliquo (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 217vb: ad D.50.1.1, no. 16: I. Municipem, D. Ad municipalem). Grundlegend dazu J. Kirshner, Civitas sibi faciat civem, bes. 708. 106 ...quod ciuilitas contracta ex conuentione transeat ad filios (Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 219ra, ad D.50.1.17, no. 2: § Patris domicilium, l. Libertos, D. Ad municipalem). 107 Beispiele solcher .Kurzschlüsse' etwa bei Kirshner, Civitas sibi faciat civem, 697f u. 710; bei W. Ullmann, Concilium, 724ff. Dagegen hat, im Rekurs auf Calasso, A. Checchini, Presupposti giuridici, 86, deutlich gemacht, daß auch die einem Herrn unterworfene Stadt Menschen zu Bürgern machen kann (er zit. Panormitanus: Licet civitas sit sub dominio, nihilominus potest ex contractu facere civem).
182 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters stießen sie bisweilen auf beachtliche Einsichten, die das W e s e n des Bürgers auf grundsätzliche Weise zu b e s t i m m e n imstande waren. D a z u einige w e n i g e Beispiele. A n f o r d e r u n g u n d V e r w e n d u n g v o n Rechtsgutachten waren keine esoterischen Akte. Sie f a n d e n im Lichte einer interessierten Öffentlichkeit statt. In den meisten Städten m u ß t e n kleine u n d große Ratsgremien einem Antrag auf Verleihung des Bürgerrechts zustimmen. D a z u wurde das lateinisch verfaßte K o n s i l i u m in der Volkssprache vorgelesen 1 0 8 . Bartolus verwahrt sich in einem seiner Konsilien dagegen, daß derjenige, der statuteng e m ä ß zum Bürger einer Stadt gemacht w o r d e n ist, nur „uneigentlich" Bürger genannt werde. Seiner M e i n u n g nach sind s o w o h l der n e u e als auch der alteingesessene Bürger Arten ein u n d der selben Gattung: des civis civitatis. G e n a u wie die Stadt kein G e b i l d e des ius naturale sei, sei das G e b o r e n w e r d e n allein kein ausreichender Bestimmungsgrund des Bürgers: „ E s ist also die Einrichtung des ius civile, die j e m a n d e n zum Bürger macht". M a n dürfe deshalb nicht unterscheiden nach cives naturaliter u n d cives civiliter. Vielmehr sei jeder civis civiliter, der eine propter naturalem originem, der andere propter aliam causam. D i e C o n c l u s i o ist schnell gesetzt: Jeder A u f g e n o m m e n e ist „wahrhaftig u n d eigentlich Bürger", „daher m u ß er behandelt w e r d e n als Bürger jener Stadt, die ihn z u m Bürger macht" 1 0 9 . 108 W.M. Bowsky, Medieval Citizenship, 206ff, beschreibt den konkreten Weg einer solchen Petition im Siena des Jahres 1311 vom Antrag selbst über die Stellung von Bürgen, die Zahlung einer Bürgschaft, die Beschlußfassung im Rat, bis zum überprüften Nachweis, daß nach einem Jahr ein Haus im Werte von mindestens 100 Lira gebaut und dieses der Kommune als Sicherheit für künftige Taxzahlungen angeboten worden ist. Auch die Arbeiten von J. Kirshner behandeln ähnlich anschauliche Fälle. Letzterer weist in ,Baldus on Naturalization' auf die rituelle Dimension des Verfahrens hin: Man beschwor im Bekenntnis, devotus amatorpopuli et communis zu sein und fortan in dieser Stadt „leben und sterben zu wollen", den amor patriae als Grundverfassung des Bürgers. Damit, wie topologisch diese Wendungen auch sein mochten, erinnerte man Neu- und Altbürger gleichermaßen an grundsätzliche Werte ihrer Lebensform. Kurz: „...the process of naturalization was a vehicle of political education and a rite of civic solidarity, serving as a bridge upon which the newcomer and the native stood, however briefly, as equals" (ebd. 293). Vielleicht wollte man mit der Beschwörung eindeutiger Loyalität auch der Gefahr der nach Römischem Recht möglichen und damals durchaus praktizierten Doppelbürgerschaft entgegenwirken, vgl. dazu A. Checchini, Presupposti giuridici, 87-91. 109
Der Text ist ed. bei J. Kirshner, Civitas sibi faciat civem, 713: Quidam est effectus civis alicuius civitatis per statutum vel reformationem. Queritur, art dicatur vere civis, an improprie? In questionepredicta sciendum est quod aliquem esse civem non est actus naturalis, sed iuris civilis...quia civis dicatur a civitate... quia de iure naturali non erat civitas et nascendo quis non efficiebatur civis. Est ergo constitutio iuris civilis que facit aliquem civem... Unde non est dicendum quod quidam sunt cives naturaliter, quidam civiliter. Immo est dicendum quod omnes sunt cives civiliter: aliqui tarnen
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Strittig war in der Regel, ob ein ins Bürgerrecht aufgenommener homo novus die gleichen Rechte wie ein alteingesessener civis originarius in Anspruch nehmen dürfe. Baldus befaßte sich in mehreren Konsilien mit diesem Problem. Die Argumente, die er zugunsten eines Kleinhändlers, der sich vor langer Zeit in Venedig niedergelassen und das dortige Bürgerrecht angenommen hatte, anführte, lassen an philosophischem Scharfsinn nichts zu wünschen übrig. Der Rechtssatz, der gegen seinen Klienten sprach, war: Origo non potest mutari. Gegen die daraus abgeleitete Folgerung, daß man civis originarius nur durch Geburt, nicht durch Privileg werden könne, bezog Baldus Position. Bereits in seinem Kommentar zum , Liber S ex tus ' hatte er die aristotelische Auffassung, daß die consuetude eine altera natura sei, aufgegriffen und erweitert zu der kühnen These, ein bleibender Ortswechsel könne selbst die origo eines Menschen ändern: „Weil die Gewohnheit eine zweite Natur ist, das heißt, weil sie die Natur ändert (alterans naturarti)". Im Konsil geht er nicht soweit. Aber auch hier stellt er Gewohnheit und alltägliches Tun und die daraus ableitbaren Rechte über Privilegien, die allein durch die Geburt vermittelt worden sind: ...consuetude vincit naturam iure posterioritatis, nam posteriora mutant priora. Praktisch bedeute das: „Dort ist man mehr Bürger, wo man dasjenige tut, was einem Bürger obliegt, das heißt, wo man mit Leib und Seele seinen ständigen Aufenthalt genommen hat". Ja, schon wenn man an einem Orte lange Zeit als Bürger behandelt worden ist, persönliche und sachliche Lasten getragen hat, müsse man als aufgenommener Bürger betrachtet werden 110 . In einem anderen Gutachten des Baldus de Ubaldis für einen homo novus, diesmal aus Florenz, geht es erneut um den Bürgerbegriff. Die GleichFortsetzung Fußnote von Seite 182 propter naturalem originem, aliqui propter aliam causam...Sed iste est sic receptus, ergo vere et proprie civis est...Unde debet tractari ut civis illius civitatis que eum civem facit. - Vgl. die Besprechung des Bartolus-Kommentars ad D. 41.3.15. durch J. Kirshner, Baldus on Naturalization, 31 Of; auch in diesem ebd. ed. Kommentar behandelt Bartolus Neu- und Altbürgerschaft als Spezies einer Gattung (aufschlußreich die Beschreibung der Aufnahme, ebd. 310 Anm. 54: ...quod nullus possit effici civis nisi de volúntate maioris consilii ipse praesens in Consilio recipiatur, ut alii cives). 110 Das Konsilium und sein theorie- und realgeschichtlicher Hintergrund ist Gegenstand der Arbeit von J. Kirshner, Nature and Culture. - Ebd., 199 Anm. 72, das Baldus-Zit. zu VI.2.2. ( D e foro competenti): ...locus originis sit alteratus per contrariam consuetudinem, quia consuetude est altera natura, id est, alterans naturam. Das Konsil ist ed: ebd. 204-206: Das ,consuetudo vincit' Zit. ebd. 205 Z. 54f; die übersetzte und die paraphrasierte Stelle: Item, licet absolute loquendo utrobique sit civis, tarnen, comparative loquendo, ibi magis est civis ubi magis facit ea que sunt civium, idest ubi corpore et animo residentiam perpetuam collocavit...Et videtur recipi in civem, si longo tempore est tractatus ut civis, solvendo muñera personalia vel mixta, ut collectas (ebd. 206 Ζ. 69ff u. 820-
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heit zwischen Alt- und Neubürger wird hier mit dem bekannten Grundsatz antiker Philosophie ars imitatur naturarti begründet. Sein Mandant sei, faßt Baldus zusammen, „ein wahrer Bürger nicht von Natur, sondern durch die Kunst, denn Bürgerschaft ist etwas Machbares"" 1 . Der Gesetzgeber und der Jurist können, gewissermaßen anstelle der Natur, einen Neubürger kreieren, dessen ontologischer Status dem des Alteingesessenen gleicht. Ressentiments und Vorurteile wird man mit solchen Ausführungen nicht aus der Welt geräumt haben. Die Wählbarkeit zu den höchsten Ämtern der Stadt blieb dem Neubürger in der Regel über Jahrzehnte vorenthalten. Einheimische behielten allein deshalb sicher ihre Zweifel, ob das Recht jemanden tatsächlich zum civis originarius machen konnte. Aber gerade in Einzelfällen haben Juristen immer wieder erfolgreich ihre Stimme erhoben und so die Idee eines über den Parteiungen und Interessen stehenden Rechts wachgehalten. Die Praxis, strittige Bürgerrechtsfälle mit Hilfe angeforderter Rechtsgutachten zu lösen, gab es nicht nur in Italien. Auch in Deutschland wurden seit dem Ende des 15. Jahrhunderts Konsilien nachgefragt und geschrieben. Bartolus und Baldus sind die Autoritäten, auf die deutsche Juristen am häufigsten zurückgriffen. Exzerpte aus ihren Schriften finden sich auch im Nachlaß Conrad Peutingers (1465-1547). Der bekannte Augsburger Stadtschreiber, Politiker und Humanist hatte Rechtswissenschaft in Italien studiert. Er schrieb einflußreiche Gutachten zu Fragen des Wirtschaftsrechts, darunter die berühmte Stellungnahme zur Monopolfrage aus dem Jahre 1530. Im erwähnten Nachlaß ist nun auch ein Konsil überliefert, in dem das Bürgerrecht eigens thematisiert wird" 2 . Ob das als Muster konzipierte Gutachten von ihm selbst stammt, ist nicht mit Sicherheit auszumachen ; für uns ist diese Frage ohne Belang. Gegenstand des Konsils mit dem Titel ,Si principis subditus ciuis factus sit' ist der Rechtsstatus von drei aus Bayern zugewanderten Bürgern, die seit einem halben Jahr, seit zehn sowie seit vierzig Jahren in Augsburg ansässig sind und das dortige Bürgerrecht genießen. Zur Diskussion stehen 111 Der Rechtsstreit des Ser Orlando mit der Kommune Florenz wird ausführlich geschildert und dokumentiert von J. Kirshner, Baldus on Naturalization. Das consilium ist ed. ebd. 325-330. Der zit. Text ebd. 326 Z. 79ff : Ergo est verus civis, non natura sed arte, quia civilitas est quid factibile.... Zum Problem der civilitas acquisita bei Bartolus und v.a. Baldus vgl. J.P. Canning, Baldus, 169-184; ebd. 171ff dessen Auseinandersetzung mit J. Kirshner um die richtige Deutung des „fiktiven" Elements im Begriff des civis ex privilegio: Der „created citizen" bei Baldus sei nicht, wie Kirshner meine, eine einfache fictio iuris, sondern „a true citizen but a fictive original" (ebd. 174). 112 U. Heckert, Mustergutachten, hat das Konsil sowie dessen rechts- und stadtgeschichtlichen Kontext eingehend untersucht; das MS des Gutachtens hat er mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
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Rechte, die ihr ehemaliger Landesherr, der Herzog v o n Bayern, n o c h geltend m a c h e n kann. Theoretisch aufschlußreich sind die A u s f ü h r u n g e n z u m Falle des seit zehn Jahren in Augsburg w o h n e n d e n Bürgers „B". D i e B e s t i m m u n g Kaiser Sigismunds, heißt es dort, d a ß m a n nach einjähriger Verjährungsfrist Freiheit erlange, sei multum rationabilisui. D i e Begründ u n g verweist auf einen im ,Decretum GratianV überlieferten Text Papst Gregors des G r o ß e n , in dem es u m die Freilassung v o n Hörigen miserationis et pietatis intuitu geht. D a s Gutachten zitiert daraus, grammatikalisch verändert u n d naturrechtlich schärfer akzentuiert, als Kernsatz: „ M e n schen, die die Natur anfangs frei g e s c h a f f e n , d e n e n das Völkerrecht das Joch der Knechtschaft auferlegt hat, sollten in d e n Stand der ursprünglichen Freiheit zurückversetzt werden" 1 1 4 . D i e Lehre v o n der Verjährung herrschaftlicher Rechte nach einem Jahr, in den meisten Stadtrechten enthalten in der Formel „frei nach Jahr u n d Tag", ist hier zusammengebracht mit der verbreiteten, meist an Gregor a n k n ü p f e n d e n Vorstellung v o n der seit der Erlösungstat Christi prinzipiell m ö g l i c h e n Wiederherstellung der durch Sünde u n d Schuld verlorengegangenen prìstina libertas. 113
Et hec prescripcio annalis Sigismundi Imperatoris pro liberiate vendicando, est multum rationabilis (Conrad Peutinger, Si subditus ciuis factus sit, fol. 293v). Der Bezug auf Sigismund meint dessen Bulle aus dem Jahre 1431 (in diesem Jahr war er im übrigen noch nicht Kaiser), in der er die seit dem 13. Jahrhundert üblichen kaiserlichen Erlasse gegen die „Pfahlbürger" erneuerte, vgl. U. Heckert, Mustergutachten. 114 Ut homines quos ab inicio natura liberos protulit, et ius gencium iugo seruitutis substituit, pristine restituerentur libertatis (Conrad Peutinger, Si subditus ciuis factus sit, fol. 293v). Der nach diesem Text folgende Quellennachweis Peutingers bezieht sich auf eine Freilassungsurkunde Gregors I., überliefert in Gratian, Decretum, Sp. 709: II. C. 12, q. 2, c. 68. Dort ist in ähnlichen Worten von der Befreiungstat Christi die Rede, der uns den Weg zu göttlicher Gnade und alter Freiheit neu eröffnet hat: Cum redemptor noster, totius conditor creaturae, ad hoc propiciatus humanam uoluit camem assumere, ut diuinitatis suae gratia dirupto, quo tenebamur captiui, uinculo seruitutis, pristinae nos restitueret libertati, salubriter agitur, si homines, quos ab initio natura liberos protulit, et ius gentium iugo substituit seruitutis, in ea, qua natifuerant, manumittentis benefico libertati reddantur. Die Erlösungstat Christi und die fromme und mildtätige „Wohltat" des Freilassenden werden im Gutachtenauszug weggelassen, aus dem Tun des Erlösers wird eine allgemeine naturrechtliche Maxime. Warum der Augsburger Jurist die Stelle auf das Problem des Bürgerrechts glaubte beziehen zu können, zeigt der Fortgang des Gratian-Textes ebd.: ...uos.., fámulos sanctae Romanae ecclesiae, cui Deo auctore deseruimus, liberos ex hac die ciuesque Romanos effecimus\ im Akt der Freilassung werden die Menschen gleichzeitig zu Bürgern gemacht. - Die Wirkungsgeschichte dieser Gregorstelle von dem durch Christus wiedereröffneten Weg zur „ursprünglichen Freiheit" kann man im .Sachsenspiegel' des Eike von Repgow ebenso verfolgen wie in der Begründung der Freilassung von 5600 servi in Bologna im Jahre 1256, sie findet sich in deutschen Stadtrechten und in Freilassungsordonnanzen französischer Könige: ausführlich dazu B. Töpfer, Naturrechtliche Freiheit; vgl. auch W. Stürner, Peccatum, 161f.
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Was aber geschieht in Zweifelsfällen? Einmal werde, das Argument kennen wir von Baldus, das Wissen des Herrn vorausgesetzt, denn Β sey auß dem lannde Beyern offenbarlich, vnd nit flüchtiger, oder verborgener weise kommen115. Interessanter ist eine andere Überlegung im unmittelbaren Anschluß an die erwähnte Gratianstelle. Wisse der Herr vom Weggang seines Hörigen nicht, heißt es da, liege schlicht eine neglegentia domini vor; bestehende Rechtsansprüche seien damit verwirkt und nach Jahresfrist erloschen. Die Stellen, die zur Stützung dieser These aus den beiden Rechten herangezogen werden, offenbaren in Wort- und Auswahl die Interpretationsabsicht des Augsburger Juristen. Zuerst wird verwiesen auf das ,Decretum Gratiani'l. Dist. 35, c. 2 sowie auf D. 2.14.27.2. und losgelöst vom Text formuliert: Res enim de facili reuertitur ad suam naturam. Dann schreibt der Autor in sinngemäß richtiger Anlehnung an D. 40.5.24.10. und C. 15.1.3.: Libertati enim maximus debetur fauor contra rigorem iuris. Und schließlich wird für den vorliegenden Kasus formuliert: „Und im Zweifel ist zugunsten der Freiheit zu entscheiden". In dubio pro liberiate est iudicandum erinnert an den in dieser Form allerdings erst im 19. Jahrhundert geprägten Rechtssatz ,In dubio pro reo': Im Bezugstext Peutingers, unter D. 42.1.38, ist tatsächlich von beiden Sachverhalten die Rede, von Unschuldsvermutung bei Angeklagten und von „Freiheitsvermutung" im Falle der Freigelassenen116. So verschmelzen im Augsburger Mustergutachten aus dem frühen 16. Jahrhundert Freiheit nach Jahr und Tag und pristina libertas, naturrechtliche Freiheit und Freiheit als hochrangiges, von der Rechtsordnung im Zweifel vorrangig zu schützendes Gut zu einem Begriff. Und wieder ist es die Frage nach dem Wesen des Bürgers gewesen, die den Verfasser eines Rechtstextes veranlaßt hat, über verallgemeinerungsfähige Bestimmungen 115
Conrad Peutinger, Si subditus ciuis factus sit, fol. 294r. Ebd. fol. 293v f. - Als Bezug für in dubio pro liberiate wird genannt in c.fl. de re iudicata, also die letzten Kap. von D. 42.1.; genauer ist gemeint das c. 38: Inter pares numero iudices si dissonae sententiae proferantur, in liberalibus quidem causis...pro liberiate statutum optinet, in aliis autem causis pro reo (dazu zit. Peutinger noch in c. ex kalendis deprobatione: die Eingangskap. von D. 22.3., wohl c. 7). - In enger Anlehnung an das zit. D. 42.1.38. wird im Jahre 1811 die der Sache nach seit der Antike vertraute Formel der Unschuldsvermutung durch Stübel in den allseits bekannten Wortlaut in dubio pro reo gebracht, vgl. P. Holtappels, In dubio pro reo, 3f, bes. 82f. Holtappels stellt die Frage, woher das im Digestentext selbst nicht begegnende in dubio entlehnt sei; Holtappels vermutet, „daß er [Stübel] das Zitat, ohne es zu prüfen, übernommen hat. Es konnte jedoch nicht festgestellt werden, von wem" (ebd. 83). Da es im eben gen. Digestenzit. nicht nur um den „Angeklagten", sondern auch um „Freiheit" geht, da weiterhin bei Peutinger im Zusammenhang mit pro liberiate das infragestehende in dubio auftaucht, dürfte es ein lohnendes Unterfangen sein, einmal zu prüfen, ob die gängige Textgestalt der Unschuldsvermutung nicht der Freiheitsvermutung nachgebildet ist. 116
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des Menschen nachzudenken. Das praktisch motivierte Nachdenken über den Bürger kam selten ohne Rückgriff auf grundlegende Theoreme der philosophischen Anthropologie aus. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, wenn die juristische Theorie des vergesellschafteten Menschen schon im Spätmittelalter auf die Aristotelische Vorstellung vom Menschen als zoort politikon zurückgriff. Politiktheoretische Begriffe wie civilis, vivere civile und homo politicus tauchten seit dem 13. Jahrhundert vereinzelt im juristischen Schrifttum auf 117 . Insbesondere aber war es Baldus, der die Idee des animai civile systematisch und folgenreich in die Rechtswissenschaft einführte. Den Menschen, schreibt er im Kommentar zum Codex, könne man auf dreierlei Weise betrachen : Einmal als individuum ex anima et corpore constitutum; dann als corpus iconomicum, wie im Falle eines paterfamilias oder Abtes ; und „drittens kann er betrachtet werden als ein corpus civile seu politicum". Das wiederum kann zweierlei bedeuten. „Vor allem", so Baldus, bezeichne man damit die jeweiligen Herrscher, wie den „Bischof einer Stadt" oder den „Podestà". Löst man den Blick vom einzelnen und richtet ihn auf die Menge, gewinnt man ein anderes Bild: „Denn in der Gemeinschaft wird der natürliche Mensch zum politischen und aus vielen zusammen ein Volk". Nicht jeder populus aber ist eine „politische" Gemeinde im strengen Sinne des Wortes. Dies Prädikat verleiht Baldus nur jenem Volk, das „von Mauern umfaßt wird und eine Stadt bewohnt; dies werde im eigentlichen Sinn politisch genannt: von polis quod est civitas". Vom anderen Volk, dem populus rusticanus, gelte das so nicht 118 . Den dreierlei Betrachtungsweisen, sagt Baldus an anderer Stelle, entsprächen die drei Wissenschaften Ethik, Ökonomie und Politik" 9 . Wichtig sind in diesem Zusammenhang noch zwei andere Punkte. Zunächst und vor allem die tendenzielle Gleichsetzung von politischer Gemeinschaft und Stadt. Das heißt zugleich, daß der homo naturalis erst als Mitglied Beispiele bringt J.P. Canning, Baldus, 161 f u. ders., Political Man, 203f. Die incidenter quod homo potest tripliciter consideran. Vno modo prout est per se quoddam individuum ex anima et corpore naturaliter constitutum, ut [D.21.2.56,2], Secundo modo potest consideran prout est quoddam corpus iconomicum, id est, princeps familie, ut [D.50.16.195,1], sicut est paterfamilias et abbas monasterii. Tertio modo potest consideran prout est quoddam corpus civile seu politicum sicut est episcopus civitatis et potestas, et hoc si consideretur in preeminentia. Sed si consideratur in congregatione tunc homo naturalis effleeretur politicus, et ex multis aggregatis fît populus, ut [D.41.3.30]. Iste populus quandoque muris cingitur, et incolit civitatem; et idem proprie dicitur politicus a polis quod est civitas. Alius est populus rusticanus qui habitat in castris vel villis, et ibi habet suum domicilium, ut supra [C.6.23.31.7 (Baldus ad C.7.53.5. zit. Canning, Baldus, 2590· Der Text wird besprochen ebd. 159-169; Baldus leitet nicht nur politicus, sondern, an anderer Stelle, auch populus von polis ab (ebd. 161 Anm. 5). Vgl. auch J.P. Canning, Political Man, 200ff. 118
Vgl. Baldus ad D.l.l.Rubr. zit. Canning, Baldus, 260.
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eines populus civitatis wirklich zum homo politicus avanciert. Eine ähnlich deutliche Identifikation des animai civile mit dem civis civitatis hatten wir bereits in der Behandlung der Politikkommentare herausgearbeitet. Dazu kommt ein weiteres. Das Nachdenken über die Struktur des corpus politicum beginnt mit dessen herausragenden Vertretern, den Regenten einer Stadt. Erst danach wendet sich der Jurist der congregatio zu und nennt deren Elemente, die „politischen Menschen". Die Trennung der Herrschaftsausübung von der Mitgliedschaft in der Bürgergemeinde, Grundmuster des politiktheoretischen Diskurses, findet so in der Rechtswissenschaft ihr Gegenstück120. Die Einbeziehung der philosophischen Sicht des Menschen in die juristische Lehrtradition - Baldus benutzte neben homo politicus ebenso animal civile wie animal sociale121 - war einmal ein Akt von großer theoriegeschichtlicher Tragweite. Ursprünglicher noch aber handelte es sich um einen Vorgang, den man vor dem Hintergrund drängender Probleme der zeitgenössischen Rechtspraxis sehen und einordnen muß: Ähnlich wie die Begründung des regimen populi aus dem Völkerrecht war die juristische Adaption der aristotelischen Anthropologie Ergebnis und Nebenprodukt jenes säkularen rechtsgelehrten Bemühens, das nach selbstexplikativen Alternativstrategien für die Rechtfertigung der eigenmächtigen Nutzung einst vom Kaiser verliehener Regalien suchte122. Im Verlauf dieses Prozesses sind Mensch und Gemeinschaft auch für Juristen naturrechtlich und philosophisch interpretierbare Phänomene geworden. Wer die Autonomie der Stadtgesellschaft aus „natürlichen" Ursachen begründen wollte, mußte auch sein Menschenbild ein Stück weit ändern. Indem der Mensch als „staatsbildendes Lebewesen" Gegenstand der Rechtswissenschaft wurde, war der Boden gefestigt für eine „naturrechtliche" Betrachtung des Staates selbst. Parallelen zu den beiden vorausgegangenen Abschnitten drängen sich auf. Die von der juristischen „Theorie der Stadt" herausgearbeiteten Merkmale der civitas sibi princeps ließen sich, einmal entwickelt, nur schwer auf die unabhängige Stadt einschränken. Ebensowenig konnte 120 J.P. Canning, Baldus, 160, sieht in dieser Trennung lediglich „the notion of grades of citizen" vorgeprägt. Was soll in diesem Kontext aber dann die Nennung des Bischofs? Sie wäre zumindest erklärungsbedürftig. Und: Der Podestà (und der wird nach üblichem Wortgebrauch gemeint sein), für eine kurze Amtsfrist gewählt, war statutengemäß forensis : Auswärtiger, also Nicht-Bürger. Die Ergebnisse unseres Kap. III legen demgegenüber nahe, hier eine kategoriale Kluft zwischen herrschenden und in anderer Weise partizipierenden homines politici zu vermuten. 121 Ebd. 165 f. 122 Canning, ebd. 167, meint „the concept of natural, political man provides a philosophical justification for the de facto argument" ; was in etwa auf das gleiche hinausläuft.
S. Partizipation und Bürgerherrschaft
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man die juristischen Konzeptionen des civis civitatis, die diesem gewährten einträglichen Privilegien, das Postulat der Rechtsgleichheit oder die im Zusammenhang der Bürgerdefinition entwickelten philosophischen Theoreme begrenzen auf Bürger der civitas superiorem non recognoscens. Es gibt keinen triftigen Grund, den Bürger einer autonomen Stadt mit anderen Augen zu sehen: Auch dieses Gemeinwesen durfte Bürgerrecht verleihen; seine Bürger konnten Bürgerschaft sicher als secunda natura oder, wie das Beispiel aus Augsburg zeigte, als Modellfall der prístina libertas empfinden; und nach juristischer Belehrung hätten man auch der Meinung zugestimmt, als Mitglieder einer Stadtgemeinde zugleich und eigentlich homo politicus zu sein. Nicht die Lehre von der unabhängigen Stadt war das eigentlich innovative Moment der juristischen Bürgerdebatte. Die wirkungsgeschichtlich bedeutsamere Dimension des Diskurses lag vielmehr vor aller inhaltlichen Qualifikation bereits in der Tatsache, daß grundlegende Fragen der Rechtstheorie und Politikwissenschaft exklusiv an der städtischen Herrschafts- und Gesellschaftsform erörtert worden sind.
5.
Partizipation und Bürgerherrschaft. Individuelle Rechte und korporative Formen politischer Teilhabe
Wenn man einmal den Standpunkt einnimmt, daß die Juristen des Spätmittelalters keine Theorie der souveränen Stadtrepublik zu entwickeln beabsichtigten, verliert die eingangs des zweiten Abschnitts referierte moderne Polemik gegen die Vorstellung von der civitas sibi princeps ihre Spitze gegen die Postglossatoren. Ihre Berechtigung in der gegenwärtigen rechtsgeschichtlichen Diskussion ist davon allerdings unberührt. Auch die folgenden Überlegungen, die politische Partizipation und Struktur der Stadtverfassung zum Gegenstand haben, sind, das sei vorweg gesagt, nicht eingrenzbar auf die fürstengleiche Stadt; sie gelten vielmehr für unabhängige Städte und autonome Gemeinwesen mit entsprechenden Privilegien gleichermaßen123. Der Stadtherr - ob Kaiser, König, Fürst oder Bischof ist in diesem Kontext nur Randthema. Seine Rechte werden ebensowenig bestritten wie die Existenz einer anderen Macht innerhalb der Stadtmauern geleugnet. Hatte doch die Kirche, und das heißt in den meisten der hier behandelten Städte: der Bischof, eine Gewalt aus eigenem Recht, 123 C.N.S. Woolf, Bartolus, 188f, hat dies deutlich gemacht: Träfen Bartolus' Ausführungen zur Struktur der Herrschaft auch am ehesten auf unabhängige Städte zu, so könne man sie doch ebensogut auf „dependent cities" anwenden. Denn seine Theorie „is not based upon the independence of the city, but upon the conception of the government, as a representation of the Universitas" (ebd. 189). Vgl. auch u. Anm. 147.
190 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters eigene Herrschaftsbefohlene u n d zugleich die potestas die Bürger 124 .
spiritualis
auch über
Baldus bringt das N e b e n e i n a n d e r zweier Herrschaftssysteme in e i n e m G e m e i n w e s e n in f o l g e n d e s Bild: „ D i e weltliche u n d die geistliche G e w a l t müssen wechselseitig Hilfe austauschen, weil sie brüderlich leben, gleichw o h l in jener Bruderschaft die Kirche größer u n d freier ist" 125 . A n d e r s w o bemerkt derselbe Autor, daß in einer Stadt das Gericht des Bischofs mehr als das des Podestà gelte, weil letzterer in m a n c h e n Fällen unter d e m Bis c h o f stehe, nie j e d o c h umgekehrt 1 2 6 . U n d in seiner am E n d e des letzten Abschnitts erörterten B e h a n d l u n g des M e n s c h e n als G l i e d des corpus politicum hatte Baldus ganz in diesem Sinne Bischof u n d Podestà als herausrag e n d e Vertreter des populus civitatis genannt u n d als Prototypen des homo politicus vorgestellt. So darf m a n gerade bei der Herausarbeitung der juristischen Theorie politischer Partizipation nicht vergessen, daß Zeitgenossen die säkulare Herrschaft der Bürger immer nur als Teil eines grundsätzlich bipolaren Systems sahen. Erst im Z u s a m m e n s p i e l v o n geistlicher u n d weltlicher G e w a l t erkannte m a n die Gestalt des Ganzen 1 2 7 . Aristoteles hatte den Bürger bestimmt als denjenigen, „der am Gerichte 124 Grundlegend dazu J.P. Canning, Baldus, 131-148. Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob Kleriker den Bürgern zuzurechnen seien. In der Tradition der Lehre von den duo populi der Laien und Kleriker verneinten einige die Frage, wohingegen andere im Rekurs auf das ,Corpus Iuris Civilis' annahmen, daß sie Bürger seien. Baldus war dieser Meinung ebenso wie Paulus de Castro, der argumentierte, Kleriker machten zusammen mit den Laien die respublica aus, sie erfreuten sich an den Privilegien des Gemeinwesens, brauchten aber die Lasten der Laien nicht zu tragen (ebd. 138ff). Vgl. auch W. Ullmann, Concilium, 728. - Das Verhältnis BischofStadt war in italienischen Städten, in denen der Bischof schon früh weltliche Herrschaftsansprüche an die Kommune abtrat, sicher anders als in den deutschen Städten mit Bischofssitz. Die geistliche Gerichtsbarkeit aber ist natürlich auch nördlich der Alpen Bestandteil kommunalen Rechtslebens gewesen. Bürger- und Kultgemeinde waren zudem in keiner alteuropäischen Stadt klar unterscheidbare Lebensbereiche. 125 Et nota quod potestas secularis et ecclesiastica debent sibi invicem auxilia mutuare, quia fraternizant, licet in ista fraternitate ecclesia sit maior et magis libera (Baldus ad X.2.28.7. zit. Canning, Baldus, 256). Vgl. ebd. 144f. 126 In eadem civitate ille est principalior forus sub quo sunt alii, unde...forus episcopi est maior foro potestatis, quia potestas quandoque est sub episcopo, non econtra, ut no. [D.3.1.9.7 (Baldus ad C.6.33.3. zit. ebd. 256). 127 Vgl. o. Anm 118. Die Gleichzeitigkeit von weltlicher und geistlicher Ordnung in der mittelalterlichen Stadt betont auch M.C. De Matteis, Societas Christiana, passim, bes. 232 u. 236. Ebd. 232 wird Remigius von Florenz zit., der die humana lex aufteilt in civilis et ecclesiastica und dann die lex civilis noch einmal differenziert nach imperialis et municipalis. Daß der fromme Bürger, eigentlich Bürger zweier „Republiken", der partikularen seiner Stadt und der universalen aller Christen ist, empfanden einige schon damals durchaus als Problem, vgl. A. Brown, City and Citizen, 104.
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und der Regierung teilnimmt" oder, in seiner weiteren Definition, als einen, „der das Recht hat, am Beraten oder Entscheiden teilzunehmen". In der Untersuchung des juristischen Bürgerdiskurses war von politischer Partizipation bisher noch nicht die Rede. Es ging um Definition und Wesen des Stadtbürgers, um die Frage der Mitgliedschaft im privilegierten Bürgerverband, vor allem also um den Bürger als Träger materieller Rechte und Nutznießer des Schutzes seiner Kommune. Tatsächlich stand das Problem politischer Teilhabe dabei auch nur selten im Zentrum des Interesses. Wenn es dennoch behandelt wurde, geschah dies meist im Kontext der Neubürgerdiskussion. Bei den cives originarii et antiqui setzte man die entsprechende Amtsfähigkeit im allgemeinen voraus. Im Interesse ihrer Klienten, vielleicht auch aufgrund ihrer theoretischen Orientierung an einer einheitlich im gleichen Recht vergesellschafteten Bürgerschaft, haben die Rechtsgelehrten stets betont, daß cives ex privilegio ebenso wie cives originarii „wahre Bürger" seien. Beide, so sagte Bartolus oben, müsse man als Spezies der einen Gattung „Stadtbürger" definieren: sunt cives civiliterJ28. Beide, darauf besteht Baldus, hätten Teil sowohl an den Lasten als auch an den ehrenvollen Ämtern der Kommune: nam cives muneribus et honoribus cognoscuntur. Stünden Neubürgern die publici honores nicht offen, argumentiert Baldus im Umkehrschluß, würde man behaupten, daß sie nicht proprie Bürger sind: Besäßen sie in diesem Falle doch keinen Anteil am „höchsten und größten Kennzeichen des Bürgerrechts"129. Aber: Mochte die Gleichsetzung beider Gruppen auf dem Felde der allgemeinen Rechtsgleichheit noch zutreffen, so klafften bei der Frage der Amtsfähigkeit doch Norm und Wirklichkeit unübersehbar auseinander. Der Wortgebrauch, den Baldus in seinen zahlreichen Beiträgen zugunsten eines einheitlichen Bürgerbegriffs benutzte, offenbart selbst, daß es gerade eine andersgeartete Realität gewesen ist, die das Bemühen des Juristen immer neu in Gang setzte. In einem Rechtsgutachten stellt er klar: Wer per statutum Bürgerrecht erlange, gleiche völlig den cives naturales, denn er sei de eodem civili corpore et universitate active et passive130. Der Blick geht vom Ganzen auf die Teile. Die erstaunliche Begrifflichkeit erinnert an die Bestimmung aktiver und passiver Partizipation, die Petrus von Alvernia zum Unterscheidungsmerkmal der „Bürger schlechthin" von den 128
Vgl. o. Anm. 109. Außerdem J. Kirshner, Civitas sibi faciat civem, 710, u. J.P. Canning, Baldus, 177. 129 Baldus ad C. 6.23.9. zit. Canning, Baldus, 263. Die deutsch paraphrasierte und zit. Passage ebd.: Qui autem non participant in publicis honoribus non dicuntur proprie cives, quia non tractantur ut cives in eo quod est supremum et maximum civilitatis argumentum. 130 Baldus, Cons. 3.299 zit. Canning, Baldus, 264.
192 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters „Bürgern mit gewisser Einschränkung" gemacht hatte 131 . Sie zeigt darüber hinaus an, daß der Autor grundsätzlich mit unterschiedlichen Bürgerarten rechnet: Jedes Postulat, das die Einheit einer d i c h o t o m i s c h verfaßten Wirklichkeit fordert, setzt im G r u n d e die Existenz eines D u a l i s m u s voraus. In e i n e m anderen Konsil unterstreicht Baldus das n o c h , i n d e m er nicht nur v o n Alt- u n d Neubürgern, sondern sogar v o n verschiedenen Arten der cives pactionati redet. Einerseits gäbe es den civis honorarius, der lediglich die öffentlichen Lasten mitzutragen hätten, d a n n aber auch j e n e n Bürger, der ins volle Bürgerrecht a u f g e n o m m e n w o r d e n sei, omnes favores civium g e n ö s s e u n d et active et passive habetur pro rive132. Im 15. Jahrhundert wird diese Unterscheidung schließlich als so grundsätzlich e m p f u n den, daß m a n c h e Juristen das Bürgerrecht (civilitas) einer Person kategorial abheben v o n der Amtsfähigkeit (habilitas), der C h a n c e also, einträgliche oder ehrenvolle Herrschaftspositionen im G e m e i n w e s e n s zu bekleiden. D a b e i verstand m a n civilitas als unwiderrufbares pactum zwischen Bürger u n d Stadt, habilitas dagegen wurde interpretiert als eine v o m Willen der Bürgerschaft abhängige Qualifikation, die ständiger A n p a s s u n g an eine veränderliche Wirklichlichkeit bedurfte 1 3 3 . 131 Vgl. o. Kap. III Anm. 50f, 68. Canning erwähnt diese Parallelität im Wortgebrauchs nicht. Das Konzept der Aktivbürgerschaft haben wir zuerst in der politischen Philosophie entwickelt gefunden. Ob damit eine weitere Übertragung philosophischer Begriffe in den juristischen Diskurs vorliegt, bedürfte der weiteren Klärung. 132 Baldus, Cons. 1.460. no. 2f. zit. Canning, Baldus, 180 Anm. 62. Canning versucht zu zeigen, daß Baldus die natürlichen und fiktiven Elemente des Bürgerbegriffs (letztlich also Alt- und Neubürger) gewissermaßen ontologisch gleichstellt, daß er diese Äquivalenz letztlich begründet in der aristotelisch verstandenen, politischen Natur des Menschen (ebd. 176-182; 182: „Aristotelian view"). Ein Befund, der unser Konzept bestätigen würde. Dennoch: Cannings Interpretation dürfte überzogen sein. Die Verbindung des Begriffs homo politicus (zit. o. Anm. 118) mit der fictio iuris „Neubürger" stellt erst der moderne Autor her. Trotzdem bleibt bedenkenswert, und das hat Canning vortrefflich herausgearbeitet, mit welcher Hartnäckigkeit dieser mittelalterliche Jurist daran gegangen ist, den Bürgerbegriff von der universitas civium her abstrakt-einheitlich zu denken. 133 Vgl. J. Kirshner, Cives ex privilegio, bes. 257-262. Ebd. 262 der Kommentar des Paulus de Castro zu einem Florentiner Statut von 1351 : ...non fuit eis concessa habilitas ad officia simpliciter, sed solum civilitas ad omnia, sicut si essent veri et originarli cives. Mit diesem Argument wurde der Familie Pratesi der Zugang zu den Ämtern streitig gemacht. Die Formulierung „Bürgerrecht in allem, als ob sie wahre und geborene Bürger wären", in Abhebung von habilitas zeigt sehr deutlich, daß jede Behauptung der Gleichwertigkeit des Neubürgerstatus mit der geburtsmäßig vermittelten Bürgerschaft, zumindest was ihre Verallgemeinerungsfähigkeit betrifft, mit Vorsicht betrachtet werden muß (vgl. ders., Baldus on Naturalization, 302 Anm. 33f, u. ders., Messer Francesco, 87: ein Aufstieg in die höheren Ämter gelang den novi cives in Florenz ausgesprochen selten; kam es in Einzelfällen doch einmal vor, waren es meist Familienmitglieder der nächsten Generationen). - Zur Verwendung von
5. Partizipation und Bürgerherrschaft
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Jenseits aller Zweifel an der Gleichrangigkeit von neuen und alteingesessenen Bürgern läßt das theoretische und rechtspraktische Bemühen um diesen wichtigen Gegenstand einer kontrovers geführten Diskussion doch erkennen, daß verschiedene Bürgerarten wahrgenommen wurden. Und noch etwas ist deutlich hervorgetreten. Der „aktive" Bürger, derjenige, der auch Ämter bekleiden kann, ist der Bürger im eigentlichen Sinne. Derjenige, der im Besitz des Bürgerrechts ist, aber lediglich die Lasten des Gemeinwesens zu tragen hat, wird weniger hoch eingeschätzt. Zur universitas civium rechnet man ihn jedoch wie selbstverständlich hinzu. Was „Amtsfähigkeit" dann im einzelnen bedeutet, ob sie generell identisch ist mit politischer Partizipation, wird im Diskurs um den Bürgerbegriff nicht erörtert. Der Bürger als einzelner ist Träger von personengebundenen Rechten. Politische Partizipation behandeln Juristen, ähnlich wie die zeitgenössischen Philosophen, im Zusammenhange mit multitudines und universitates, als Privilegien von Gruppen und Korporationen. Wie kaum ein anderer Rechtsgelehrter hat sich Bartolus mit dem Phänomen „Stadtverfassung" auseinandergesetzt. Dabei behandelt er konkrete institutionelle Organisationsformen ebenso wie rechtsphilosophische Probleme der Repräsentation oder der Einordnung des regimen civitatis in das Aristotelische Verfassungsschema. Die herrschaftliche Verfassung einer Stadt ruht seiner Meinung nach auf dem Volk134. Dieses handelt als korporatives Ganzes, als totus populus, indem es sich versammelt in der adunantia, arrenga, dem parlamentum oder im consilium majus. Mit diesen Begriffen wurden die Bürgerschaft, die Volksversammlungen und die großen Ratsgremien der Städte bezeichnet; popolo, arengo, parlamento, consiglio del comune, consiglio del popolo waren die entsprechenden italienischen Begriffe, in deutschen Städten wird man dabei an Institutionen wie Bürgerschaft, Gemeinde, Gemeinheit und den Großen Rat denken. Das Parlament hat nun verschiedene Aufgaben. Seine vornehmste Pflicht ist, den Rat zu wählen: Parlamentum...habet...consilium eligereils. DaneFortsetzung Fußnote von Seite 192 habilitas im philosophischen Diskurs vgl. o. Kap. III Anm. 87. - Zur Veränderbarkeit gesetzmäßiger Bestimmungen, die die Amtsfähigkeit betreffen, vgl. o. Anm. 101-103. 134 Grundlegend für Bartolus' Theorie der Stadtverfassung C.N.S. Woolf, Bartolus, 181-189; H. Hofmann, Repräsentation, 219-221; hauptsächlich aber W. Ullmann, Concilium, 716-723 (in der von uns benutzten Bartolus-Ed. steht consilium statt concilium) 133 Der Text, aus dem der Satz entlehnt ist, wird im folgenden häufiger zit., er lautet zusammenhängend: Item nota quod de iure communi ad consilium ciuitatis spectat facere electiones offtcialium, et syndicorum...Et sic non erit opus arrenga vel adunantia generali: arrenga tarnen illud, seu parlamentum, ubi non est aliquis superior, habet ab initio consilium etigere...Istud consilium sic electum postea repraesentat totum po-
194 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters ben, u n d ebenso bedeutend, hat die Volksversammlung u m f a s s e n d e K o n trollrechte. S o m u ß der im Parlament versammelte totus populus gehört werden bei Wiedereinsetzung ins Bürgerrecht, bei Veräußerung der immobilia ciuitatis, bei der Einführung neuer Steuern, bei Angriffskriegen u n d , sehr bezeichnend, bei der Veränderung v o n Statuten : D i e gewählten Entscheidungsträger dürften nicht statuere aliquid, quod sit contra statuta et ordinem factum a toto populo a quo ipsi authoritatem habent. D a die authoritas v o m Volk verliehen wird, haben die durch das Volk G e w ä h l t e n selbstverständlich auch nicht die Macht, v o n sich aus die Verfassung einer Stadt zu ändern: non... possunt mutare ordines et regimina ciuitatum. Ob der populus sein Mitbestimmungs- u n d Konsensrecht in einer Volksvers a m m l u n g ausübt oder, w i e im 14. Jahrhundert üblicher, im G r o ß e n Rat, ist rechtstheoretisch v o n untergeordneter Bedeutung 1 3 6 . D i e Wahl- u n d Kontrollrechte des versammelten populus
sind der erste
Fortsetzung Fußnote von Seite 193 pulum... (Bartolus, In secundam atque tertiam Codicis partem, fol. 16ra: ad C. 10.31.2, no. 8: /. Observare, C. De decurionibus). Vgl. W. Ullmann, Concilium, 716. 136 Bartolus, In secundam Digesti noui partem, fol. 225vb-227va: ad D.50.9.4., bes. no. 9 - no. 16, (Zit. in no. 9 und no. 11): I. Ambitiosa decreta, D. De decretis ab ordine faciendis. Aufzählung auch bei W. Ullmann, Concilium, 722; C.N.S. Woolf, Bartolus, 184f, mit weiteren Kompetenzen. Daß die authoritas vom Volk abgeleitet sei, führten Kölner Bürger noch im 17. Jahrhunderts gegen ihren Rat als Argument ins Feld; denn, so hieß die Begründung, apudpopulum potestas, vgl. G. Schwerhoff, Korporative Partizipation. Das Konsensrecht der Bürgerschaft war eben kein realitätsfernes Konstrukt. Es galt in großen .Stadtstaaten' wie Florenz und Siena, in deutschen Frei- und Reichsstädten, aber auch in kleineren Kommunen, die im Herrschaftsbereich eines weltlichen oder geistlichen Herrn lagen. H. Schilling, Republikanismus, 114, gibt eine Aufzählung der „Materien", für die in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschen Städten „Bürgerbeteiligung gefordert wurde": „Finanzfragen", „militärische Unternehmungen", „Veränderungen in den .Stadtkonstitutionen"'. Bartolus sah das genauso. Auch W. Ehbrecht, Form und Bedeutung, 130, kommt bei der Beschäftigung mit inneren Unruhen in Minden 14051535 zu dem Schluß, daß ein „Konsenszwang der Bürgergemeinde" besteht, dessen Mißachtung zu Konflikten führt. Und H. Rüthing hat in seinem Buch über .Höxter um 1500', eine Stadt von 2000 bis 2500 Einwohnern, Elemente gemeindlicher Partizipation herausgearbeitet, die gut in das Schema des Bartolus passen : Der totus populus Höxters war die gemeynheydt: „Die Gemeinheit hatte Korporationscharakter, denn sie konnte klagen und verklagt werden" (ebd. 72). Bei der „Gestaltung der Außenbeziehungen" (insbesondere bei „Abschluß von Verträgen"), der „Verwaltung des kommunalen Vermögens und der städtischen Einkünfte", bei städtischem „Haus- und Landverkauf" sowie der Satzung neuen Rechts konnte der Rat nur im Konsens mit Zünften und Gemeinheit handeln (ebd. 760· Das Wahlrecht hatte die Bürgerschaft delegiert: Es waren Elektoren, die die Ratsleute wählten (ebd. 94ff); daß diese Norm in der Praxis auf ein „modifiziertes Kooptationssystem" hinauslief (ebd. 79), ist in unserem Zusammenhang vernachlässigbar.
5. Partizipation und Bürgerherrschaft
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Pfeiler der Verfassung. Der zweite ist der vom Volk gewählte Rat. „Der so gewählte Rat repräsentiert das ganze Volk" oder, wie es an anderer Stelle heißt: Consilium representat mentem populin\ Der Rat herrscht als repräsentatives Gremium im Namen der ganzen Stadt. In Anlehnung an den Basler Konziliaristen Johannes von Segovia hat Hasso Hofmann dafür den Begriff „Identitätsrepräsentation" geprägt: die „dynamische Gleichsetzung eines Teils mit dem Ganzen", und zugleich darauf hingewiesen, daß man sich eine so verfaßte Ordnung nicht genossenschaftlich im Sinne von „herrschaftsfrei" vorstellen darf 138 . Hofmanns Ergebnis wird durch einen Befund bestätigt, der uns nicht mehr in Erstaunen versetzt: In keinem der für die Struktur der Stadtverfassung einschlägigen Kommentare zu den Digesten und zum Codex geht Bartolus auf das Problem der sozialen Repräsentativität der repraesentatio ein. Er setzt vermutlich voraus, daß nur bestimmte Personenkreise das passive Wahlrecht besitzen. Ein Blick auf seine Ausführungen im Traktat ,De regimine civitatis' macht die Vermutung zur Gewißheit. Dort erklärt Bartolus, daß im regimen ad populum, der adäquaten Herrschaftsform für kleinere Städte, die Menge regiert, indem sie Amtsträger auf Zeit bestimmt. Diese multitudo seu populus umfaßt nicht alle Bewohner der Stadt, ausgeschlossen bleiben die vilissimi, wohl unterbürgerliche Schichten. Und: Gut ist dieses Regiment nur, wenn Lasten und Ämter verteilt werden secundum gradus débitos. Bei größeren Gemeinwesen, dort ist das regimen per paucos angemessen, wird die Sache noch klarer. In Städten dieser Art, Florenz und Venedig sind Beispiele, herrschten divites et boni homines. Obwohl die Führungsgruppen der Stadt sich aus den wohlhabenden Schichten rekrutieren, ist diese Verfassung keine Oligarchie. Bartolus zählt sie zu den guten Herrschaftsformen, weil die Führungsgruppen in Städten solcher Größenordnung, obwohl es in Relation zur Gesamtstadt wenige sind, absolut gesehen doch noch eine beachtliche Anzahl Menschen umfassen. Dieser Um·
,37
Der deutsch zit. Satz ist aus dem lat. Text in Anm. 135. Der andere aus Bartolus, In primam Digesti veteris partem, fol. 17va: ad D. 1.4.1, no. 10: /. De quibus, D. De legibus senatusque consultis et longa consuetudine. " 8 H. Hofmann, Repräsentation, 213; Segovia: representado idemptitatis; Beispiel sei, ut consulatus representat civitatem eodem utens nomine et potestate (zit. ebd. 212). Daß die Konziliaristen und bes. Johannes von Segovia sich stark an der juristischen und politiktheoretischen Diskussion in den Stadtstaaten orientiert haben, ist ein Leitmotiv bei A. Black, Council and Commune, vgl. bes. 171-175, 207. Stadt und Bürger sind im Konziliarismus immer wieder Referenzpunkte der Argumentation gewesen. Dennoch: Sie standen nie im Zentrum, waren Beispiel, nicht Explanandum. Der spannende Diskurs über die rechte Verfassung der Kirche, in dem die Aristotelische .Politik' ebenso eine wichtige Rolle spielte wie die postglossatorische Theorie der civitas, bleibt deshalb unberücksichtigt.
196 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters stand sei in Krisenzeiten ein Hindernis möglicher Parteibildung, da „viele neutral bleiben, die die Verfassung der Stadt aufrechterhalten" 1 3 9 . Divites et boni homines herrschen. D a ß die „ G u t e n " fast immer reich sind, stört niemand 1 4 0 . D o c h sparen wir u n s ,De regimine civitatis' n o c h etw a s auf u n d führen die A n a l y s e der institutionellen Ordnung der Stadt in den K o m m e n t a r e n des Bartolus ein Stück weiter. A u s der Wahl der „ V o l k s v e r s a m m l u n g " war der „ R a t " hervorgegangen. Dieser tritt öffentlich z u s a m m e n ; sind zwei Drittel der Ratsmitglieder a n w e s e n d , werden A b s t i m m u n g e n nach d e m Mehrheitsprinzip durchgeführt 1 4 1 . Über legislative A u f g a b e n hinaus hat das concilium civitatis das Recht, die officiates zu bestimmen, die die tägliche juristische u n d administrative Arbeit leisten (Prioren, A n z i a n e n , Konsuln), s o w i e Experten zu wählen, die finanzielle Transaktionen begutachten oder die Statuten der Stadt einer Revision unterziehen 1 4 2 . Mit der Dreigliederung der Stadtverfassung in Bürgerschaft, 139
Zum regimen adpopulum seu regimen multitudinis: ...iurisdictio est apudpopulum seu multitudinem, non autem quod tota multitude simul apta regat; sed regimen aliquibus ad tempus committit secundum vices et secundum circulum...Quod autem dico per multitudinem, intelligo exceptis vilissimis...Sed in dictis civitatibus, si honores et muñera secundum gradus débitos distribuuntur, bonum est regimen (Bartolus, De regimine civitatis, 164 Ζ. 344ff). Zum regimen per paucos: hoc est per divites et bonos homines civitatis... dico quodpauci sunt respectu multitudinis civitatis, sed sunt multi respectu ad aliam civitatem: et ideo quia sunt multi per illos regi multitudo non dedignatur. Item quia sunt multi non possunt de facili inter se dividi, quin multi remaneant medii, qui statum civitatis substentant (ebd. 164f Z. 362ff). Vgl. Η. Keller, Städtische Selbstregierung, 606 zu diesem Text: „Das Problem der Repräsentativität liegt außerhalb des Reflexionshorizonts". 140 Darauf hat H. Keller, ebd. 607f, mit Nachdruck hingewiesen ; Keller arbeitet in diesem wegweisenden Aufsatz heraus, daß man die Kommuneverfassungen mit dem Oligarchie-Begriff nicht hinreichend fassen kann. Zeitgenossen forderten „die Wahl der Besten, Geeignetsten, Nützlichsten. Niemand nahm Anstoß daran, daß dies ...oft zugleich Leute aus dem Kreis der Reichen und Reichsten waren" (ebd. 607f). Wahlverfahren sollten - durch Erweiterung des Zugangs zu den Ämtern, durch schwer manipulierbare Losverfahren und durch Verminderung der Zahl von Familienmitgliedern, die nacheinander oder gleichzeitig in wichtigen Ämtern sitzen durften - vor allem verhindern, daß die „oligarchische" Struktur sich verfestigte und zur Herrschaft einzelner Familien wurde. Ziel von Reformen war daher nicht in erster Linie die soziale Verbreiterung des Zugangs zu den Ämtern, sondern die stete Rückbindung der Führungsgruppen an ihre politische Verantwortung: an das bonum commune. Diese hier kurz zusammengefaßten Ergebnisse der Arbeit Kellers decken sich mit unseren Befunden: Wenn immer die gleichen sozialen Gruppen und Familienclans herrschen, wenn das darüber hinaus als selbstverständlich angesehen wird, braucht man das Problem der „Herrschaft im eigentlichen Sinne" auch nicht ausführlich zu erörtern. 141 Alle Belege bei W. Ulimann, Concilium, 718f. 142 Zur Wahl der Amtsträger (des obersten Magistrats, in Deutschland würde man vom „Kleinen Rat" reden) vgl. den Text o. in Anm. 135. Zusammenstellung der „judical, administrative and economic officers" bei W. Ulimann, 717f; ebd. 718f:
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Großen Rat und Kleinen Rat, erweitert um die sporadische Bestellung von besonderen Ausschüssen, faßt Bartolus die vielfältigen Ausprägungen mittelalterlicher Stadtverfassung zu einem Idealtyp zusammen. Die hier vorgeführte Zusammenstellung der Texte offenbart sicher die Interpretationsabsicht moderner Autoren, die gezogene Quintessenz ist dennoch kein reines Konstrukt: Hat doch Bartolus selbst sein Grundmodell mehrfach in hinreichender Komplexität referiert143. Wer mit idealtypischen Verfahren arbeitet, rechnet damit, daß die Wirklichkeit konkret je anders aussieht. Die Kompetenz der Volksversammlung beispielsweise wird selten so umfangreich wie beschrieben gewesen sein, hat diese Institution doch seit dem 13. Jahrhundert beschleunigt Machteinbußen hinnehmen müssen. Auch wird das parlamentum in unterschiedlichen Stadtverfassungen unterschiedliches Gewicht gehabt haben. Bartolus selbst hat das deutlich erkannt und in einem beispiellosen Entwurf versucht, Herrschaftsformen und Größe von Gemeinwesen zu korrelieren und das Ganze begrifflich zu durchdringen mit Hilfe der damals fortgeschrittensten Gesellschaftstheorie: der aristotelischen scientia politica. Dieser Entwurf ist die schon erwähnte Schrift ,De regimine civitatis'. Der Traktat hat die Absicht, Juristen mit der aristotelischen Politiktheorie bekannt zu machen144. Bartolus knüpft an den Fürstenspiegel des Aegidius Romanus an, die darin verwendeten aristotelischen verba benutzt er jedoch nicht: illa enim turiste, quibus loquor, non saperent. Gleich zu Beginn greift er das in den Digesten 1.2.2. überlieferte Bild der Verfassungsentwicklung des Römischen Reiches von der Vertreibung der Könige bis zur Etablierung der Kaiserherrschaft auf und wendet darauf das Aristotelische Schema der Herrschaftsformen an. Neben dieser Dynamisierung der Aristotelischen Konzeption steht deren Diversifizierung. Jeder der drei guten Herrschaftsweisen ordnet er die seiner Meinung nach optimale Größe eines Gemeinwesens zu. Und über Aristoteles' Sechserschema hinaus meint er noch eine siebte Verfassungsform zu erkennen: Die HerrFortsetzung Fußnote von Seite 196 Abstimmungsverfahren; ebd. 720f: Statutenrevision. Zu alldem vgl. auch C.N.S. Woolf, Bartolus, 182-188; H. Hofmann, Repräsentation, 220; O.v Gierke, Genossenschaftsrecht III, 390-398. 143 Insbesondere sind folgende umfangreichen und sehr konkreten Kommentare zu nennen: Die o. in Anm. 135 u. 136 zit. Texte (letzterer zusammenhängend ed. bei C.N.S. Woolf, 183-185) u. Bartolus, In primam Digesti veteris partem, fol. 9r ff: ad D.I. 1.9: /. Omnespopuli, D. De iustitia et iure. 144 Zu dem Traktat vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 174-180; H.G. Walther, Der gelehrte Jurist (zur Reflexion römischer und Peruginer Geschichte in dieser Schrift), bes. 299f. Grundlegend und ausführlich zum real- und theoriegeschichtlichen Hintergrund die brillante Analyse von D. Quaglioni, Regimen ad populum, bes. 221225.
198 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
schaft vieler, regional verwurzelter Tyrannen in der Stadt Rom. Mit Recht habe Aristoteles diese Version einer schlechten Herrschaft nicht behandelt: est enim res monstruosa145. Der Traktat enthält eine Fülle einschlägiger Erörterungen zum Problemkreis „bürgerliches Regiment". Ein Ergebnis, es ist bereits angeklungen, geht uns unmittelbar an: Die angemessene Verfassung einer Stadt ist, wenn es sich um kleine Städte handelt, das regimen ad populum-, bei größeren dagegen die Herrschaft per paucos. Königtum ist auch bei Bartolus die beste aller möglichen Verfassungen, als optimale Ordnung aber wird es eingeschränkt auf den populus maximus, auf weiträumige, Städte und Provinzen übergreifende Territorien. Damit waren die Städte zum ersten Mal befriedigend eingeordnet in die herrschaftliche Welt Alteuropas' 46 . Und noch etwas ist wichtig: Das Theorem der unabhängigen Stadt ist in dieser Schrift ohne Belang. Im Anschluß an die besprochene Forderung, daß ein gutes regimen ad populum die Ämter secundum gradus dignos vergibt, sagt er deutlich, was passieren sollte, wenn das nicht geschieht. In diesem Falle handele es sich um ein malum regimen, dessen reformatio dann dem Superior der Stadt obliege147. Im Zusammenhang mit der Frage nach der angemessenen Herrschaftsform größerer Städte stellt sich der Jurist einem Problem von grundsätzlicher Bedeutung. Was geschieht, so beginnt er, wenn in einer Stadt die Bevölkerung zunimmt und sie eigentlich das regimen ad populum aufgeben und zur Herrschaft der wenigen überzugehen hätte? Die Antwort zeigt, daß Bartolus seine Theorie nicht als schematische Einteilung einer komplexen Wirklichkeit konzipiert hat. Die letzte Entscheidung über die angemessene Lebensform überläßt er den Bürgern selbst: „Es kann nämlich sein, daß ein menschlicher Verband oder ein Volk so sehr gewöhnt ist an eine gewisse Art der Regierung, daß es ihnen gleichsam zur Natur geworden ist und sie auf keine andere Weise zu leben wissen. Dann muß man die alte Regierungsform beibehalten" 148 . Auch die Bürger einer größer ge145 Bartolus, De regimine civitatis, 153 Z. 92 (Juriste); ebd. 150ff (römische Geschichte; hier bezieht sich Bartolus auf Thomas von Aquin, De regimine principum, 5f: I, 4); 162-168 (Größe und Herrschaft); 152 Z. 71 (res monstruosa). Zur genaueren Analyse des hier geschilderten Bildes der Verfassungsgeschichte und den darin enthaltenen Vorstellungen vom Verfassungswandel vgl. U. Meier, Molte rivoluzioni, 138ff. 146 Bartolus, De regimine civitatis, bes. 162-165. 147 Gleich im Anschluß an das erste in Anm. 139 gegebene Zit. heißt es: si vero inequaliter, tunc est malum regimen et ad superiorem spectat reformatio (Bartolus, De regimine civitatis, 164 Z. 355f)148 Potest enim esse, quod una gens velpopulus ita assuefacti sunt certo modo regendi, quod eis quasi in naturam conversum est et aliter vivere nescirent. Tunc antiquus modus regiminis servandus est (ebd. 165 Z. 376ff).
5. Partizipation und Bürgerherrschaft
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w o r d e n e n Stadt dürfen also weiterhin unter ihrer vertrauten „Volksherrschaft" leben. D e m regimen ad populum gehört die ganze Z u n e i g u n g des Peruginer Rechtsgelehrten. Er verweist auf eigene Erfahrung mit dieser Verfassung in Perugia, das unter dieser Regierungsart in pace et unitate crescit et floret. Ja, eine solche Herrschaft scheint magis Dei quam hominum regimen zu sein. Oft s c h o n hätte sich gezeigt, daß die in einer „Vers a m m l u n g gemeiner M e n s c h e n " gefaßten Beschlüsse v o n größerer Klugheit waren als das Urteil der W e i s e n u n d Erfahrenen. Kronzeuge dieser emphatischen Sicht der D i n g e ist erstaunlicherweise Karl IV., der deutsche Kaiser: „ D i e s e Herrschaftsform hat der genannte erlauchteste Kaiser, als ich bei ihm weilte, in h ö c h s t e m M a ß e empfohlen" 1 4 9 . D i e Vorstellung eines regimen civitatis, das bei überschaubarer G e m e i n d e g r ö ß e v o m Volk getragen wird u n d d a n n „ m e h r Gottes d e n n der Menschen R e g i m e n t " genannt w e r d e n darf, bringt Bartolus o h n e theoretische Brüche z u s a m m e n mit der tradierten Idee einer im Kaiser g i p f e l n d e n Ord149
Das Lob dieser Herrschaft verdient im ganzen zit. zu werden: Hoc etiam apparet ex dicta auctoritate libri Regum: videtur enim magis regimen Dei quam hominum. Hoc etiam experimur in civitate Perusina, que isto modo regitur in pace et unitate, crescit et floret, regentes earn secundum vices suas a nullo se custodiunt sed ipsi custodiuntur ab omnibus, et sepe visum est per consilium hominum communium deliberan quedam, que sapientibus et prudentibus male facta visa sunt; eventus vero manifestavit esseprudentissime facta. Hoc ideo est, quia magis Dei quam hominum regimen est: hunc regendi modum dictus illustrissimus imperator, cum apud eum essem, maxime commendavi (ebd. 163f, Ζ. 334ff). Bartolus erinnert hier an seinen Besuch bei Karl IV. im Jahre 1355 in Pisa, vgl. o. Anm. 75. Er war also etwa zur gleichen Zeit dort wie die o. Anm. 76 erwähnte Florentiner Gesandtschaft, die die Bestätigung alter Freiheiten mit hunderttausend Goldflorenen erkaufte. - D. Quaglioni, Regimen ad populum, hat sich mit dieser Stelle besonders intensiv auseinandergesetzt und den Bezug auf das Buch der Könige (genauer: l.Sam.8) mit Recht in den Mittelpunkt gestellt (passim, bes. 20lf u. 22Iff). In l.Sam.8 verlangt das Volk Israel von Samuel die Ablösung des Regiments der Richter und die Einführung des Königtums, also einer strengeren Herrschaftsform. Gott sagt, heißt es dann im 7. Kap., Samuel solle dem Volk gehorchen, denn sie hätten nicht Samuel verworfen, sondern Gott selbst, sed me ne regnem super eos : Die Herrschaft war bis zu diesem Zeitpunkt gewissermaßen regimen Dei. Quaglioni zit. ebd., 216 Anm. 55, Ptolomaeus von Lucca, De regimine principum, 286f: II.9. Dieser hatte die Schriftstelle herangezogen, um das Regiment Samuels, also die Herrschaft der Richter vor Einführung des Königtums, als regimen politicum vom nachfolgenden regimen regale abzusetzen. - In der zit. Passage steckt noch mehr verdichtete politische Theorie, als bisher bemerkt worden ist: Daß die Regenten in dieser Herrschaftsform von allen geschützt werden, erinnert an die ,Philippischen Reden' Ciceros; daraus wird folgender Passus auch von Ptolomaeus von Lucca zit. : ...ut tradii Tullius in Philippicis: „nullum maius armatorum praesidium charitate et benevolentia civium, qua oportet principantem esse munitum, non armis"(De regimine principum, 285b f: H.8.). Und die Einschätzung, daß das Urteil der versammelten Menge oft besser ist als das der weisen einzelnen, ist uns schon aus der Beschäftigung mit der Aristotelischen .Politik' vertraut als das wichtigste klassische Argument für die Demokratie, vgl. o. Kap. III Anm. 55.
200 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
nung. Die ausführliche juristische Analyse einer dreigegliederten Herrschaftsstruktur in den Kommentaren zum Codex und zu den Digesten wird im Traktat ,De regimine civitatis' philosophisch vertieft und die Stadtverfassung als legitime Herrschaftsform systematisch in das politische Weltbild der Zeit eingebaut. Mit dieser beachtlichen Syntheseleistung steht, was das Problem „Stadtregiment" betrifft, die mittelalterliche Gesellschaftstheorie auf ihrem Höhepunkt. So könnten wir mit Bartolus von Saxoferrato unsere Behandlung des politischen Systems der Stadt im Denken der Juristen vorzüglich schließen. Aber einige Fragen sind noch offen. Das liegt weniger an den teils sperrigen Texten oder ihrer unzureichenden Interpretation als am Grundproblem jeder Synthese. Verschiedene Textsorten sind nicht uneingeschränkt ineinander zu blenden. Wenn man trotzdem zu einer angemessenen Vorstellungsbildung gelangen will, muß man die Ebene des durch Quellen abgesicherten Diskurses verlassen und versuchen, getrennte Konzeptualisierungen in ein sachlogisch einigermaßen kohärentes Bild zu bringen. Am Ende der Beschäftigung mit den juristischen Theoremen politischer Partizipation bleibt unscharf, was die Formel des Baldus „aktiv und passiv als Bürger angesehen werden" genau meint. Wenn active nur heißen soll, daß jemand an der Volksversammlung teilnimmt, dann ist nicht ganz einzusehen, warum in der Neubürgerdebatte um diese Qualifikation derart gerungen wurde. Keiner wird einem civis novus den Zugang zum Parlament verwehrt haben. Einen Sinn macht der Begriff nur, wenn man die Bekleidung öffentlicher Ämter (honores et favores) darunter versteht. Also: Der „Aktivbürger" hat das passive Wahlrecht. Hier taucht bereits das nächste Problem auf. Wie soll man Bürger, die die Volksversammlung besuchen dürfen, von denen abheben, die zu den Ämten wählbar sind? Die Trennungslinie kann dabei kaum mit der Unterscheidung civis ex privilegio und civis verus et originarius zusammenfallen. Bedenkt man die Sache einmal unter dieser Perspektive, ergibt sich folgendes Bild. Alt- und Neubürger partizipieren an der Volksversammlung. Aristoteles hatte in diesem Zusammenhang von „unbefristeten Ämtern", mittelalterliche Aristoteliker im Gefolge des Petrus von Alvernia von „Herrschaft mit gewissem Zusatz" oder wie Johannes Versor und Wilhelm von Ockham von „Teilhaben" (participare) im Unterschied zu „Herrschen" (principari) geredet lso . Die eigentlichen Ämter werden unter den alteingesessenen Bürgern secundum gradus débitos verteilt: Das kann durchaus bedeuten, daß ein Teil der eingesessenen Bürger nie in Ämter gelangt, also genau wie die Neubürger „passives" Segment der Gemeinde bleibt, oder lediglich Positionen im ebenfalls angeführten Großen Rat 150
Vgl. o. Kap. III Anm. 48, 93, 119
5. Partizipation und Bürgerherrschaft
201
(consilium majus) besetzen darf; die Größe dieses Anteils wird sich, das hatte Bartolus deutlich gemacht, nach der Bevölkerungszahl einer Stadt ebenso richten wie nach der Art ihrer Verfassung. In größeren Städten, die per paucos regiert werden, muß man außerdem damit rechnen, daß die von Bartolus im Codex-Kommentar mit Wahlrecht ausgestattete Volksversammlung nur noch Kontroll- oder Akklamationsfunktion ausübt und die Wahrnehmung ihrer Rechte auf den ebenfalls genannten Großen Rat übergegangen ist. In jedem Falle gilt: Der Rat - und das heißt konkret: der Kleine Rat als oberster Magistrat - „repräsentiert" das Volk. Auch im juristischen Diskurs kann man demnach deutlich unterscheidbare Formen bürgerlicher Partizipation erkennen: Der Neubürger, der die materiellen Rechte und den Schutz der Kommune genießt, kann an der Volksversammlung teilnehmen. Dort steht er neben dem alteingesessenen Bürger, der, beispielsweise wegen seines sozialen Ranges oder auch seines Sonderstatus' als Magnat, keine politischen Ämter ausüben darf. Beide partizipieren „passiv". Jenseits dieser Scheidelinie ist der Vollbürger, der secundum gradum amtsfähig ist. Er partizipiert „aktiv". Die Grenze ist semipermeabel: ein Vollbürger wird die Volksversammlung besuchen, ein Neubürger oder ein Bürger ohne Amtsfähigkeit dagegen nicht im Rat sitzen. Diese Grenzziehung schließt selbstverständlich sozialen Aufstieg nicht aus. Überraschend der Grad der Übereinstimmung mit den Gedanken des Petrus von Alvernia: „Teilhaben an Rat und Gericht", sagte dieser, könne man zweifach interpretieren. Einmal active, indem man zu diesen Ämtern gewählt werde; oder aber passive, „indem man der Gerichtsbarkeit unterliegt, indem man wählt oder doch mindestens der Wahl zustimmt" 151 . Faßt man einmal dieses Interpretament mit der „standesgemäßen" Verteilung der Ämter unter einen Begriff, dann wird selbst innerhalb der Gruppen der Aktiv- und Passivbürger noch eine weite Skala von Möglichkeiten der Zuordnung von politischer Teilhabe, rechtlichem Status und sozialer Lage denkbar. Der Kern eines „weiten" Bürgerbegriffs, hier stimmen der juristische und der philosophische Diskurs überein, sind Wahl und Zustimmung. Die denkbar umfänglichste Interpretation der Rechtsgelehrten ist das Konzept des tacitus consensus, der „schweigenden Zustimmung" der Bürgerschaft zur Rechts- und Verfassungsordnung. Den „engen" juristischen Begriff charakterisiert die Wählbarkeit zu den Ämtern; Philosophen hatten beim civis simpliciter oft schlicht von principari geredet. Rechtsgleichheit in „straf- oder privatrechtlichen" Belangen vereint die politisch unterschiedlich berechtigten Gruppen und erlaubt, von der einen Bürgerschaft zu sprechen. Wie in der politischen Philosophie also verläuft die kategoriale 151
Zit. o. Kap. III Anm. 50.
2 0 2 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
Kluft innerhalb der Bürgerschaft zwischen den Tätigkeiten des Herrschens einerseits und des Wählens oder Zustimmens zu lebenswichtigen Fragen der Kommune andererseits. Das Verhältnis von Bürger und Herrschaft ist damit flexibel bestimmt. Geht es um materielle Rechte, steht der einzelne Bürger im Zentrum, handelt man von politischer Partizipation, werden Gesamtheiten diskutiert: populus, multitude, parlamentum, concilium majus, concilium. Als Verteilungsschlüssel der honores civitatis fungiert allein das vielfältig interpretierbare secundum gradum. Die Abstraktheit des Prinzips entspringt vielleicht jener oben erwähnten Einsicht, daß die universitas civium den Zugang zu Ämtern stets neu zu definieren hat: perche contiene cose frequentimente mutabili'52. Auffallend, aber durchaus typisch für mittelalterliches Denken ist die Abwesenheit der Zünfte im skizzierten Bild. Diese Verbände, über deren Mitgliedschaft in vielen Städten politische Teilhabe organisiert war, sind von den meisten Gesellschaftstheoretikern der Zeit als Instrumente politischer Partizipation ignoriert worden 153 . Ansätze finden sich jedoch. Baldus bemerkt einmal, daß es universitates zweierlei Art gebe: Einige Körperschaften hätten das regimen active, id est habent regere. Andere dagegen seien passive tantum et habent regi et non regere. Als Beispiel für letztere nennt er unter Berufung auf Aristoteles die rustici qui non participant politica154. Die Verwendung des Relationsbegriffs passive tantum für die Bauern erinnert erneut an den Wortgebrauch bei Petrus von Alvernia, der noch den geringsten Untertanen eines Königreiches eine Teilhabe saltim passive zugestanden hatte. „Bloß passive" Teilhabe einer bäuerlichen Körperschaft wird jedoch nicht mehr die Elemente Wahl und Zustimmung enthalten, sondern nur noch jenes dritte, das Petrus in die Worte
152 Aus den Florentiner Statuten, vgl. o. Anm. 103. Es ist im übrigen erstaunlich, wie lange die im 14. Jahrhundert entstandenen Differenzierungen zu verfolgen sind. Vgl. z.B. den Artikel „Bürger" in Zedlers Universal-Lexicon aus dem Jahre 1733. Dort wird der Bürger abgesetzt vom Einwohner, der gebohrne Burger vom erkiesten Neubürger. Sind beide nicht ratsfähig, werden sie unvollkommene Burger genannt. Wer Zugang zu den Ämtern hat, darf sich dagegen bezeichnen als wahrer und vollkommener Burger (J.H. Zedier, Bürger, 1875ff). Weder die Theorie noch die Praxis scheint sich geändert zu haben. 153 Das ist These und Thema bei A. Black, Guilds and Civil Society; vgl. auch o. Kap. II Anm. 88. 154 Ungekürzt: Quedam sunt universitates, que habent regimen active, id est que habent regere; quedam passive tantum, id est que habent regi et non regere, ut rustici qui non participant politica, nam agricole non participant politica secundum Aristotelem (Baldus ad X. 1.31.3, n. 5 zit. J.P. Canning, Political Man, 207). Dieser Text ist ein außergewöhnliches Zeugnis politisch-juristischer Analyse und entspricht dem im letzten Kap. entwickelten Wortgebrauch. Es ist nicht, wie Canning ebd. meint, „a somewhat obtuse way" politische Partizipation zu definieren.
6. Rechtsgelehrte „Theorie des Bürgers und der Stadt"
203
faßte: passive inquantum iudicanti obediat15S. So steckt in in dieser Passage des Baldus eine ganze Politiktheorie in nuce. Von universitates, die politisch partizipieren, wäre es nur ein kleiner Schritt gewesen zu politischen Zünften. Was der vielversprechende Anfang einer Theorie der Zunftherrschaft hätte werden können, ist singulärer Befund geblieben.
6.
Rechtsgelehrte „Theorie des Bürgers und der Stadt". Typologische Rekapitulation und die Grenzen der Begriffe
Nach der eingehenden Beschäftigung mit der juristischen Theorie des Bürgers und der Stadt wird man die anfangs zitierte Einschätzung des Roger Bacon, daß die Rechtsgelehrten im Vergleich zu den Philosophen nur medianici sind, nicht mehr teilen wollen. Man muß diese Meinung, zusammen mit ähnlich lautenden Äußerungen der Theologen und Artisten, als das nehmen, was sie im Grunde genommen waren: interessegeleitete Theoreme, mit denen man eigene berufliche Qualifikationen anpries, um so in der von Juristen monopolisierten Sphäre der Beratung öffentlicher Amtsträger Fuß zu fassen. Aber nicht nur gegenüber dieser mittelalterlichen Beurteilung des juristischen Diskurses ist Skepsis angebracht. Auch der zu Beginn des zweiten Abschnitts referierte jüngste Versuch, die Theorie der civitas sibi princeps in die Nähe einer Chimäre souverän-säkularer Herrschaft zu rücken, trifft nicht die Theorie selbst, sondern eine bestimmte Variante ihrer modernen Interpretation. Kein mittelalterlicher Jurist hat die Stadt je wirklich abgekoppelt vom Reich. Die subsidiäre Geltung Römischen Rechts war schließlich nichts anderes als die Anerkennung der Reichszugehörigkeit in ihrer höchsten Abstraktion. Und selbst die Existenz konkurrierender geistlicher Herrschaft im einen Gemeinwesen wurde unumwunden akzeptiert, war gewissermaßen der Normalfall. Kirchenrecht galt sowieso. Gegenüber diesen Einschätzungen des juristischen Diskurses im allgemeinen und der rechtsgelehrten Theorie der Stadt im besonderen muß man hervorheben, daß die Erträge juristischen Denkens, was unsere Fragestellung betrifft, beachtlich sind. Sie sollen am Ende zusammengefaßt werden. Dabei können, mit Ausnahme des Umstandes, daß genau dieses Thema in dieser Form vorher noch nicht behandelt worden ist, die hinter uns liegenden Ausführungen zu Bürger- und Stadtbegriff spätmittelalterlicher Juristen nicht viel Originalität für sich beanspruchen. In Detailfragen sind zwar Nuancierungen, Uminterpretationen, einige neue Einblicke
155
Saltim passive zit. o. Kap. III Anm. 68; iudicanti obediat zit. Kap. III Anm 50.
2 0 4 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
oder bisher nicht gesehene Parallelen zwischen verschiedenen theoretischen Diskursen herausgearbeitet worden. Der Rechtshistoriker jedoch wird alle grundsätzlichen Positionen juristischer Theorie der Stadt schon einmal anderswo gelesen oder ausführlicher dargestellt und analysiert gefunden haben. Wenn man diesen Ausführungen etwas zugute halten will, dann bestenfalls die Sturheit, mit der alle Theorie zurückbezogen wurde auf ihre Praxis. Ein Verfahren, das bei der pragmatischen Natur rechtsgelehrten Wissens nicht unzulässig ist. Und die erstaunlichste Erfahrung, die man dabei machen kann, ist, daß alle wichtigen Fragen nach Wesen und Status des Bürgers, nach Begriff und Struktur der Verfassung beantwortet werden können, ohne die theoretische Substanz jener Idee der civitas superiorem non recognoscens auch nur annähernd zu klären. Um diese Idee, und darin sehen wir ihre eigentliche begriffsgeschichtliche Bedeutung, hat sich der Versuch der Postglossatoren organisiert, alternative oder subsidiäre Begründungsstrategien zu entwerfen. Diese sollten die alltägliche Ausübung von Herrschaft in einem kaiserfernen Reichsteil absichern und so den kommunalen Führungsgruppen kalkulierbares politisches Handeln nach innen und außen ermöglichen. Die einmal erreichten Ergebnisse juristischen Bemühens wurden schnell zu praktisch verwertbarem „Allgemeingut" auch für mächtige autonome Städte. Ob die vorgetragene These in dieser grundsätzlich pragmatischen Zuspitzung neue Akzente setzt oder Altbekanntes bloß ungewohnt formuliert, ist unerheblich: Rechtsgeschichtlern und Historikern der politischen Ideengeschichte wird sie in keinem Falle genügen. Wer lediglich nach Bürgerbegriff und Stadtverfassung fragt, wer systematische Fragen der Souveränität und philosophische Probleme widerspruchsfreier Theoriebildung beiseite lassen kann, mag damit zufrieden sein. Die herausgearbeiteten Befunde waren Ergebnisse der Interpretation komplexer Begriffstraditionen und unterschiedlicher Textsorten. Jede weitergehende Verallgemeinerung dieser Ergebnisse birgt Gefahren. Bei aller Skepsis soll am Ende dennoch eine thesenhafte Zusammenfassung stehen. Dabei kann man, je nach eigenem wissenschaftlichen Selbstverständnis, die nachfolgenden Punkte als pointierte Aneinanderreihung diverser, an unterschiedlichstem Material erbrachter Einzelergebnisse nehmen, gewissermaßen als registerartiges Resümee. Man kann die Zusammenstellung aber auch lesen als Vorschlag zur Rekonstruktion des Idealtyps „Theorie des Bürgers und der Stadt im juristischen Diskurs". Unter dieser Lesart erhält man vielleicht am ehesten eine Vorstellung davon, was an konsistenter „Theorie der Stadt" damals wirklich möglich gewesen wäre. Daß bei Idealtypen nie alle Elemente zugleich Teile einer vorfindlichen Wirklichkeit sind, versteht sich nach jahrzehntelanger Weber-Rezeption fast von
6. Rechtsgelehrte „Theorie des Bürgers und der Stadt"
205
selbst 156 ; daß spätmittelalterliche Juristen unser ausgeprägtes „Theoriebed ü r f n i s " nicht teilten, wird ihnen niemand im Ernst vorhalten. Die wichtigsten vorgestellten Theoriestücke sind: 1. Die unabhängige Stadt (civitas superiorem non recognoscens) hat merum et mixtum Imperium bzw. plena iurisdictio. - Im 13. Jahrhundert wurde die kaiserunabhängige Ausübung dieser Herrschaftsrechte noch als Usurpation gebrandmarkt; durch die Anwendung des römischrechtlichen provi'ncia-Begriffs auf mittelalterliche Städte und die Heraushebung der civitates aus der Fülle anderer Korporationen aber gelang es langfristig, deren Rechsstatus aufzuwerten. Aus municipia wurden civitates liberae. 2. Civitates liberae sind im Besitz der potestas legem condendi, ihre Rechtsordnung u n d Gesetzgebungsgewalt wurzelt im consensus civium. Die Ausdehnung der Lehre vom Gewohnheitsrecht auf das Statuarrecht schuf die Voraussetzung einer Konzeption, nach der bestimmte Korporationen auf dem Felde der Justiz und Statutengebung weitgehend unabhängig von einem Superior handeln konnten. 3. Unabhängige Städte üben Gerichts-, Gesetzgebungs- und Herrschaftsrechte selbständig aus, sind sibi princeps; sie besitzen Fehderecht. Unabhängige Städte herrschen als Superior über Einwohner, Umland und unterworfene Gemeinden. Für Untertanen ist Appellation an einen anderen Superior daher nicht möglich. 4. Diesen Rechtsstatus kann m a n begründen mit dem Nachweis des Vorliegens einer consuetude praescripta, einer verjährungstiftenden Gewohnheit, und untermauern mit der Rechtsvermutung des stillschweigenden Wissens des princeps. Flankierend zu dieser rechtstechnischen Argumentation steht der Verteidigung autochthoner Herrschaft d a n n noch das Theorem regimen populi est de iure gentium zur Verfügung. 5. Autonome Städte (civitates superiorem recognoscentes) können die unter 1 - 4 genannten Herrschaftsrechte innehaben, wenn d a f ü r eine concessio principis vorliegt. Einmal erworbene Rechte sind absicherbar durch Verjährung. - Die Beziehung zum princeps ist die spezifische Differenz zwischen autonomen und unabhängigen Städten, nicht der U m f a n g der Rechte. 6. Es gibt Städte dreierlei Größe. Die sehr große, über andere Städte herrschende Stadt (civitas maxima), die große autonome Stadt (civitas magna) und die kleine, untergeordnete Stadt mit eingeschränkten Herrschaftsrechten (civitas parva). - Klar ist, d a ß erstere vornehmlich civitates superiorem non recognoscentes und letztere ausschließlich civitates superiorem recognoscentes sind. Mit der zweiten G r u p p e dürften hauptsächlich autonome Städte gemeint sein. Aber ebenso, wie man in diese Kategorie prinzipiell 156
Vgl. K. Schreiner, Stadt in Webers Analyse, 124f (Lit.).
206 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
unabhängige Städte wird einordnen dürfen, muß man davon ausgehen, daß unter maximae civitates auch jene mit allen Herrschaftsrechten ausgestatteten Kommunen faßbar sind, die einem princeps gehorchen : Zu denken ist etwa an „ghibellinische" Städte in Italien, Frei-, Reichs- und ökonomisch starke Landstädte (Hansestädte) in Deutschland. Größe (Bevölkerungszahl, Territorium, ökonomische und politische Potenz), Umfang der Herrschaftsrechte und deren Herkunft sind drei unterschiedlich kombinierbare Elemente jeder komplexen juristischen Beschreibung des Status einer civitas. 7. Unabhängige, aber auch bestimmte autonome Städte sind im Besitz des ius fìsci, man kann sie respublicae nennen. In ihnen herrscht ein populus liber. Ein „freie Volk" lebt nach eigener Rechts- und Verfassungsordnung, sein größter Feind ist der Tyrann in den eigenen Mauern. Im Kampf gegen den zur Alleinherrschaft strebenden Signore, im Erhalt der dulcitudo libertatis ist der Kaiser potientiell Verbündeter der Städte. Genau wie Kirche, Kaiser- oder Königreich wird der populus civitatis interpretiert als unsterbliche hominum collectio in unum corpus mysticum mit einer Generationen und Zeiten überdauernden Substanz. Jeder, der gegen den status populi gerichtete Umsturzversuche unternimmt, macht sich eines „Majestätsverbrechens" schuldig und wird mit dem Tode bestraft. 8. Angemessene Herrschaftsform ist bei kleineren Städten das regimen ad populum, bei größeren das regimen per paucos151. Volksversammlung, Großer Rat, Kleiner Rat und sporadisch einberufene Expertenkommissionen mit Sondervollmachten bilden die Grundpfeiler städtischer Verfassungsordnung. Partizipationschancen im Gemeinwesen sind gestaffelt von Kontroll- und Wahlrechten der Volksversammlung bis zur Ausübung aktueller Herrschaft im Kleinen Rat. Die entscheidenden Schnittstellen liegen zwischen Volksversammlung, Großem Rat und concilium. An der Volksversammlung partizipiert jeder Bürger, Ämter oberhalb dieser Grenze verteilt man secundum gradum. Der Kleine Rat, gewählt aus Vollbürgern, „repräsentiert" die Bürgerschaft. In dieser Diskussion war nicht civis, sondern populus Grundbegriff. 9. Der Stadtbürger (civis civitatis) hebt sich ab vom bloßen Einwohner (incola), von den politisch berechtigten Mitgliedern der Gemeinden des unterworfenen Umlandes (cives comitatenses) und den Bauern (rustici). Zum Adel, wenn man einmal vom Magnatenproblem absieht, besteht keine kategoriale Kluft. Die Binnendifferenzierung der Bürgerschaft verläuft entlang folgender Linien: Nur der amtsfähige Bürger ist „Aktivbürger": active et passive habetur pro cive. Der „Passivbürger" hat lediglich 157
Auch Johannes Versor hatte klar gesehen, daß es einen Zusammenhang von Herrschaftsform und Größe einer Stadt gibt, vgl. o. Kap. III Anm. 95.
6. Rechtsgelehrte „Theorie des Bürgers und der Stadt"
207
Zugang zur Volksversammlung. Wahlrecht, mindestens aber gemeindliche Kontrolle sind die weitestgefaßten Charakteristika des „politischen" Bürgers, der kleinste gemeinsame Nenner des vivere civile. Die Bürgerschaft insgesamt stellt sich unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe dar als vielfaltig gegliederter Organismus, dessen Ämter secundum gradus dignos auf unterschiedliche soziale Gruppen ungleich verteilt sind. An der Spitze der Pyramide stehen die divites et boni homines', lediglich „passiv" partizipieren Neubürger und Altbürger ohne Amtsfähigkeit; ausgeschlossen sind unterbürgerliche Schichten: incolae und vilissimi. 10. Herzstück des juristischen Nachdenkens über das Wesen des Bürgers ist nicht das Problem politischer Partizipation, sondern die Frage nach Umfang und Inhalt eines rivis-Begriffs, der Alt- und Neubürger, der amtsfähige und nicht zu den Ämtern wählbare Bürger gleichermaßen zu umschließen vermag. Hier bekennen Juristen Farbe und sagen, was einen Bürger zum wahren Bürger (avis verus) macht. Man gibt sich nicht zufrieden mit der ungleichen Verteilung von Eigentum und Macht, sondern lenkt den Blick auf das, was allen Bürgern gemeinsam ist: Lebensform, Rechtsgleichheit, Freiheit. - Das signifikante Merkmal dieser Debatte ist der Nachdruck, der auf eine einheitliche Konzeption des civis civitatis gelegt wurde, und die Emphase, mit der auch der nicht amtsfähige Bürger zum civis verus erklärt worden ist. Die Rechtswissenschaft näherte sich auch hier grundsätzlichen Problemen politischer Philosophie. Und so ist es kein Zufall, daß für einen Juristen der in den Mauern einer Stadt lebende Mensch zum Prototypen des vergesellschafteten homo politicus hat werden können. Civis war Stadtbürger und civitas Stadt. Das Ergebnis ist eindeutig. Wenn man an dieser Stelle einhielte, wäre dies allerdings nur die halbe Wahrheit. In anderen, hier nicht erörterten Kontexten und Diskursen konnten diese Begriffe selbstverständlich auch weitere Bedeutungen annehmen. Aber das ist kein entscheidender Punkt. Nicht, daß unterschiedliche Begriffsgebräuche nebeneinander stehen, ist erstaunlich und bedenkenswert, sondern der Umstand, daß die antiken Begriffe vor allem im Zusammenhang ihrer Anwendung auf die mittelalterliche Stadt produktive Weiterentwicklung und innovative Bearbeitung erfuhren. Die Anknüpfung an den antiken Diskurs und die Ausweitung des Begriffsumfanges erfolgte dann sogar häufig auf dem Umwege über die Stadtgesellschaft. Damit sind die Grenzen unserer Thematik erreicht. Anhand einiger weniger Beispiele aber soll diese Transformationsleistung am Ende doch noch eigens thematisiert werden. Denn mit Grenzen kann nur derjenige richtig umgehen, der weiß, was sich auf der anderen Seite befindet. Die subsidiäre Geltung dès Römischen Rechts und die Anerkennung des Kaisers als Haupt des Imperium Romanum waren keine praxisfernen
2 0 8 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
Theoreme. Diese Grundsätze hatten vielmehr fundamentale Bedeutung für zahlreiche aus Städten verbannte Bürger. Mit der Verbannung waren sie der Stadt verwiesen, Güter wurden eingezogen und zurückbleibende Verwandte von Ämtern ausgeschlossen. Aber rechtlos waren die exbanniti nicht. Der Verbannte, sagt Bartolus, verliere weder den Schutz des Völkerrechts noch den der iura communia ciuitatis Romanae, also der Gesetze des imperium Romanum: Schließlich sei er nicht aus dem Reich, sondern nur aus jener bestimmten Stadt verjagt worden. Baldus schließt sich dieser Meinung ohne Abstriche an und bekräftigt, der Verbannte büße die Rechte seiner eigenen Stadt ein, nicht aber die „allgemeinen Rechte der Römischen Bürger"1S8. Die Idee des civis Romanus war die juristische Residualkategorie, mit deren Hilfe entrechtete und verbannte Bevölkerungsgruppen ein Mindestmaß an Rechtssicherheit einzufordern vermochten. Die Idee konnte aber auch in bewußter Erinnerung an die alte Größe Roms aufgegriffen, ideologisch interpretiert und zum aktuellen Kampfbegriff gemacht werden. Cola di Rienzo (1313-1354) hat civis Romanus in dieser Weise verwandt. Am 19. September 1347 schreibt der Volkstribun und „Befreier Roms" an seine „Brüder und Freunde", die Prioren und den Bannerträger der Stadt Florenz: Zur Erneuerung eines Bundes freier Städte sende er, Cola, den Florentinern das Banner Roms, eine „Standarte der Freiheit und Zeichen der Vereinigung". Motiv für Colas diplomatische Aktivitäten war, die Städte Italiens unter der Führung Roms im Kampf gegen die um sich greifende Tyrannis zu vereinen und die Rechtsposition der Kommunen im Reich zu stärken. Als Geschenk bietet er den Florentinern und anderen cives civitatum sacre Italie an, sie zu cives Romani zu machen. Damit seien sie Mitglieder des populus Romanus und könnten, wie einst das Römische Volk, die Wahl des Kaisers vornehmen159. 158
...quod exbannitus perdit illam ciuitatem, et omnia iura, et priuilegia illius ciuitatis. Iura autem gentium, item iura communia ciuitatis Romanae sunt imperij Romani, ideo non perdit ea. Nam non est transfuga Romani imperij, sed illius ciuitatis tantum, vbi est bannitus... (Bartolus, Consilia, fol. 130rb: Tractatus bannitorum, no. 10). Vgl. C.N.S. Woolf, Bartolus, 200-203. - Licet [seil, banniti] amittant iura et bona proprie civitatis, tarnen non amittuntur iura communia civium Romanorum (Baldus ad C.6.24.1. zit. Canning, Baldus 252). Vgl. ebd. 127f u. 153f. Auf das Thema geht auch ein D. Bizzarri, Cittadinanza, 107-109. 159 Seine Abgesandten habe er instruiert, den Florentinern das Urbis stantale, libertatis et unionis in signum zu überreichen. Die Gesandten seien ausgestattet mit der Gewalt, de unione et liga inter nos et vos renovanda et facienda zu verhandeln (Cola di Rienzo, Epistolario, 71 : Brief XXIV Ζ. 110-115). - Et ut dona et gratia Spiritus sancii participarentur per Ytalicos universos, fratres et fllios sacri Romani populi pervetustos, omnes et singulos cives civitatum sacre Ytalie cives Romanos effecimus et eos admictimus ad electionem imperii ad sacrum Romanum populum rationabiliter devo-
6. Rechtsgelehrte „Theorie des Bürgers und der Stadt"
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Das war kein singulärer Vorschlag, sondern Programm. Schon vorher formulierte Cola di Rienzo den Gedanken in seinem sogenannten Edikt vom 1. August desselben Jahres. Darin erhebt er alle Städte Italiens zu civitates liberae und tut kund, „daß Wir alle vorgenannten populi und Bürger der Städte Italiens zu Römischen Bürgern machen, erklären und ausrufen ; auch wollen Wir, daß sie sich fortan des Privilegs Römischer Freiheit erfreuen". Von Interesse ist an dieser Stelle nicht, wie aussichtsreich oder wie ernstgemeint der Vorschlag war, sondern was genau cives civitatum und populi bedeuten sollen. Vermutlich spielt Cola hier bewußt mit der Ambivalenz der Begriffe: Rechtstechnisch, und der Notar Cola kannte sich in der Jurisprudenz seiner Zeit vortrefflich aus, bezeichnen sie „Stadtbürger" und „Bürgerschaft". Erst in einem zweiten Schritt kann man ihre weitere Bedeutung mobilisieren und in Zusammenhang mit dem antiken Wortgebrauch bringen. Ideologieverdacht liegt nahe. Man ist versucht zu denken : Obwohl Cola scheinbar alle Italiener anspricht, und so interpretiert die neuere Forschung diese Aufrufe, sind die wirklichen Adressaten seiner Briefe allein die Bürgerschaften der einzelnen Städte, vielleicht sogar nur deren Führungsgruppen 160 . Waren das Bild des antiken Rom und die im ,Corpus Iuris Civilis' überlieferten Vorstellungen vom populus Romanus auch die ausdrücklich genannten Quellen der zahlreichen Versuche, über den Begriff des civis Romanus das Konzept des Stadtbürgers zu transzendieren, so blieb die Stadtgesellschaft doch selbst hier ständiger Bezug. Der Spielraum zwischen weitem und engem Bürgerbegriff, zwischen Stadtbürger und Römischem Bürger, wurde geschickt genutzt. Mit solcherlei Kunstgriffen konnte man auch die Bevölkerungsgruppen ideologisch in das eigene Politikkonzept einbinden, denen man Stadtbürgerrecht und politische Partizipation versagte. In uneinholbarer Meisterschaft hat Coluccio Salutati (1331-1406) diese Klaviatur der Begriffe beherrscht. In seiner , Invectiva' verteidigt der FloFortsetzung Fußnote von Seite 208 luti (ebd. 69 Z. 67ff). Zu der politischen Ideologie Colas in diesen Jahren vgl. M.-B. Juhar, Romgedanke bei Cola, 61-101; zu seinen Motiven ebd. 66ff. 160 ...decemimus, declaramus et pronunctiamus ipsam sanctam Romanam urbem caput orbis et fundamentum fidei Christiane, ac omnes et singulas civitates Italie liberas esse... et ex nunc omnesprefatospopulos et cives civitatum Italie facimus, declaramus et pronunctiamus cives esse Romanos, ac Romane libertatis privilegio de cetero volumus eos gaudere (Cola di Rienzo, Epistolario, 49f: XVII Ζ. 33-40). Vgl. M.-B. Juhar, Romgedanke bei Cola, 80ff. Juhar interpretiert die zitierte Passage als „Erklärung der Italiener zu Römischen Bürgern" (ebd. 81 Anm. 91). Überhaupt hat die Forschung in ihrer Fixierung auf den italienischen Einheitsgedanken und die intendierten Formen „parlamentarischer" Vertretung der Städte diese vermutlich beabsichtigte Ambivalenz im Gebrauch der besagten Begriffe übersehen. Zu Colas Bürgerbegriff vgl. auch D. Bizzarri, Cittadinanza, 109.
210 IV. Bürgerbegriff und städtische Herrschaft im gelehrten Recht des Mittelalters
rentiner Kanzler und Humanist die dulcissima libertas der eigenen Stadt gegen die Staatsauffassung seines Mailänder Amtskollegen Antonio Loschi. Dieser hatte die Ansicht vertreten, daß man nur unter einem Signore gut leben könne. Insbesondere scheint Salutati dessen Bemerkung geärgert zu haben, daß die Florentiner Untertanen im Kontado im Falle eines Mailänder Sieges über Florenz nur einen Herrn gegen den anderen austauschen müßten. Das sei nun, empört er sich, in keiner Weise haltbar. Auch jene nämlich, die extra nostrae civitatis moenia entweder in municipio oder in agris lebten, seien ein Teil des Populus Florentinus, seien Florentiner. Denn: „Was sonst heißt Florentiner", die rhetorisch ausgefeilte Passage erreicht ihren Höhepunkt, „als von Natur und im Recht Römischer Bürger und folglich frei und kein Knecht zu sein" 161 . Wichtige Elemente des eigenen Bürgerideals hat Salutati damit sicher getroffen. Die Einbeziehung der außerhalb der Stadt lebenden Untertanen sieht zunächst aus wie eine Ausweitung des Begriffs „Florentiner Bürger". Bei genauerem Hinsehen aber entdeckt man, daß hier lediglich von persönlicher Freiheit als Kennzeichen eines „Römischen Bürgers" die Rede ist. Kontadobewohner, mit ungemessenen Abgaben belastbar und ohne politische Teilhabe, hatten in der Regel kaum Chancen, das Bürgerrecht ihrer civitas superior zu erwerben. Indem Salutati sie „Florentiner und Römische Bürger" nennt, ist ihm ein ideologisches Glanzstück gelungen: Menschen emphatisch als „Gleiche" zu definieren, ohne bestehende Ungleichheiten zu gefährden 162 . Aristoteliker hatten den philosophischen c/vw-Begriff auf das Königreich 161
Coluccio Salutati, Invectiva, 14 (libertas), alle anderen Zit. ebd. 32; Quid enim est Florentinum esse, nisi tarn natura quam lege civem esse romanum, et per consequens liberum esse et non servum? (ebd.). W. Ulimann, Rebirth of the Citizen, 23, klammert im selben Zit. romanum ein und sieht in dieser Äußerung dann eine theoretisch geniale Überhöhung der juristischen Aspekte des geborenen und „gemachten" Bürgers (angezeigt in der Wendung tarn natura quam lege); Salutati erfasse damit „the very essence of citizenship". Wenn man den weiteren Kontext des SalutatiZitats betrachtet, ist diese Interpretation sicherlich problematisch. 162 R. Fubini, Sovranità statale, hat kürzlich die zitierten Argumente aus Salutatis Invektive - genauer: das Changieren zwischen populus Florentinus und civis romanus - als Versuch interpretiert, die Wirklichkeit des „nuovo stato territoriale" begrifflich zu fassen (ebd. 300· Diese interessante These muß unserer Analyse, die ,Ideologieverdacht' anmeldet, nicht unbedingt widersprechen. - Vgl. ebd. 50 die Ausführungen Leonardo Brunis (t 1444) zum Begriff civitas. In einem Brief an N. Niccoli vom 20. Februar 1409 unterscheidet Bruni zwischen urbs und civitas, wobei er letztere gut ciceronisch definiert als congregatio hominum iure sociatorum et eisdem legibus viventium. In dieses Konzept von civitas sind auch Bürger unterworfener Städte und Umlandbewohner integrierbar, es entspricht insofern durchaus dem im letzten Kapitel vorgestellten weiten, selbst noch auf Königreiche anwendbaren Bürgerkonzept, vgl. etwa o. Kap. III Anm. 50, 68.
6. Rechtsgelehrte „Theorie des Bürgers und der Stadt"
211
übertragen. Italienische „Politiker" erweiterten den römischrechtlichen Bürgerbegriff, der in der hier behandelten juristischen Debatte auf den civis civitatis zusammengeschrumpft war, und übertrugen ihn auf den territorialen bzw. „nationalen" Plan. In beiden Diskursen aber war es die Perspektive der Stadt, die Begrifflichkeit und Interpretationsrichtung angab. Auch im Mittelalter hat es daneben stets andere Theorietraditionen gegeben, die cives abstrakt als Elemente des Gemeinwesens, in schlichter Abhebung von nobiles und rustici oder einfach als Mitglieder des Römischen Reiches definierten. Auf diesen Feldern jedoch fand die produktive Verschmelzung antiker Vorgaben mit den Anforderungen einer veränderten Gegenwart nicht statt. Erst Reichspublizisten des 17. Jahrhunderts haben die theoretischen Implikationen des Begriffs auf Reichsebene ernstgenommen und kontrovers durchgespielt. Grundsätzlich ging es dabei um die Frage, ob man im strengen Sinne nur den Reichsständen das Prädikat politischer Partizipation und damit die Bezeichnung cives zugestehen dürfe, oder ob im Bürgerbegriff selbst vielleicht doch die Aufforderung lag, politische Partizipation auf breitere Schichten verteilt zu denken 163 . Aber das ist ein anderes Thema.
163 Zu Reichsständen als „Bürgern" vgl. D. Willoweit, Territorialgewalt, 343. - Zur Verwendung des Begriffs im frühneuzeitlichen Staatsrecht vgl. H. Dreitzel, Grundrechtskonzeptionen, bes. 200-203; „...im civis-Begriff, so Dreitzel ebd. 203, blieb immer „ein Residuum an aktiven politischen Statusrechten erhalten". Zum gewandelten Verhältnis Bürger - Staat in der frühen Neuzeit vgl. W. Mager, Respublica und Bürger.
V.
Schluß und Ausblick
Von der Himmelsstadt sind wir über die Stadt der Philosophen zu den autonomen und unabhängigen Städten der Juristen gelangt. Am Ende soll der Weg vom Himmel zur Erde nicht noch einmal gegangen werden ; auch nicht in umgekehrter Richtung. Dennoch wollen wir eine knappe Zusammenfassung einiger Befunde bieten. Predigten und theologische Texte, Politikkommentare und juristisches Schrifttum wurden nach den zugrandeliegenden Vorstellungen von „Bürger" und „Stadt" untersucht. Die Logik jedes einzelnen Diskurses ist möglichst gewahrt, zu frühe Verallgemeinerung vermieden worden. Obwohl in allen drei Bereichen unterschiedliche Themen behandelt und anders ausgerichtete Interessen verfolgt wurden, lassen sich vergleichbare Konturen deutlich erkennen : Das Nachdenken über das Wesen des Bürgers und die Struktur der Stadtverfassung verlief jeweils entlang ähnlicher Trennungslinien und kristallisierte sich um verwandte Thesen. Die Ähnlichkeiten von Argumentationsmustern und Ergebnissen in unterschiedlichen Diskursen erstreckten sich sogar auf zentrale Defizite der Begriffsbildung. Von der Forschung bestenfalls als Unschärfe, Rezeption nicht verstandener Begriffe oder Arbeit mit unverbundenen Theoriestükken zur Kenntnis genommen, kann hinter den scheinbar mißglückten Anstrengungen des Begriffs mehr stecken als vermutet. Philosophen benutzten zur Charakterisierung der städtischer Herrschaft den Begriff principatus politicus. Damit kennzeichneten sie einmal eine Art der Ordnung des Gemeinwesens, die Legitimität aus der Mitwirkung der Bürger bezog. Manchmal aber erhielt principatus politicus auch die Nebenbedeutung: „Herrschaft" unterhalb des Königtums, gewissermaßen Herrschaft zweiten Ranges (Albertus Magnus, Nikolaus von Oresme, Johannes Versor)1. Ähnlich schwer taten sich Juristen mit dem Konzept der unabhängigen Stadt. Einmal schilderten sie diesen Herrschaftstyp als sibi princeps, ein anderes Mal als privilegierte Korporation, die ihre Macht vicem principis ausübte, also in Stellvertretung des Kaisers2. Die theoretische Verortung städtischer Herrschaft im mittelalterlichen Ordo blieb immer etwas unscharf. Das lag nicht am Unvermögen der Theoretiker, sondern an der Verfaßtheit einer Wirklichkeit, in der man das „Regiment der Stadt" nur ausnahmsweise auf eine Stufe setzen konnte mit Königs- und Kaiserherrschaft. Selbst im Faktum nicht zu Ende gedachter Konzeptualisierungen spiegeln sich bisweilen gesellschaftliche Verhältnisse wieder. Diese Grundeinschätzung kann selbst die Berücksichtigung der Arbeiten eines Leonardo Bruni (1369-1444) nur wenig modifi1 2
S.o. 69f, 101, 108, 159. S.o. Kap. IV.2 u. 3.
214
V. Schluß und Ausblick
zieren. Auch bei dieser herausragenden Gestalt des Florentiner Bürgerhumanismus findet sich kein lupenreines bürgerliches Weltbild. Zwar nannte Bruni in einer Trauerrede zu Ehren des für die Republik gefallenen Heerführers Nanni degli Strozzi die populare Verfassung einmal die „einzig rechte Regierungsform"; denn nur in ihr, so die Begründung, gäbe es „wahre Freiheit", „Rechtsgleichheit" und die „gleiche Hoffnung, in Amt und Würde zu gelangen". Aber in einem Brief über die Verfassung von Florenz aus dem Jahre 1413, der die Frage nach der richtigen Herrschaftsform weniger emotionsbefrachtet thematisierte, führte Bruni neben dem status popularis auch das regrtum und die aristocratia als species legittima an. Beide Texte sind sicher außergewöhnliche Dokumente für ein erwachendes „republikanisches" Bewußtsein. Am Ende allerdings hätte auch Bruni der Ansicht, daß für großflächige Staaten das regnum die beste Herrschaftsform ist, kaum widersprochen. Und daß Kaiser- oder Königsherrschaft einen höheren Rang als der status popularis innehat, war dem Sekretär des Papstes und späteren Florentiner Kanzler ohnehin klar. Der genannte Brief war im übrigen adressiert ad magnum principem imperatorem, zu der Zeit König Sigismund 3 . Der kleine Abstecher in den Florentiner Bürgerhumanismus hat vielleicht angedeutet, daß man in der Formulierung grundlegender Axiome des „Politischen" seit jener ersten konkreten Anwendung des Aristotelischen Verfassungsschemas durch Brunetto Latini ein gutes Stück weiter gekommen war. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der hier untersuchten Philosophen und Juristen gewesen. Philosophen ordneten die Bürgerstadt der dritten „guten" oder der dritten „schlechten" Herrschaftsform, der politia oder democratia zu. Sie hätten ebenso gut aristocratia und oligarchia nehmen können: Dieser Begriffsgebrauch für städtische Gemeinwesen ist jedoch in den Politikkommentaren selten auffindbar. 3
Aequa omnibus libertas, legibus solum obtemperans, soluta hominum metu. Spes vero honoris adipiscendi ac se attollendi omnibus par...Ita popularis una relinquitur legitima reip. gubernandae forma, in qua libertas vera sit, in qua aequitas iuris cunctis pariter civibus, in qua virtutum studia vigere absque suspicione possint (Leonardo Bruni, Oratio, 230f)- Zu dieser oratio funebris von 1428 vgl. H. Baron, Crisis, 412— 432. - Aut enim unus gubernat; quod dicitur regnum. Aut prestantes quidam viri; quam gubernandi spetiem Greci aristocratiam, nostri optimates dixere. Aut populus ipse regit; que speties a Grecis democratia, a nostris vero popularis status nominatur. Harum autem trium spetierum legittimarum tres item labes consignantur... (Leonardo Bruni, Ad magnum principem, 182). Dazu vgl. H. Baron, Epistolary Description. Zu Barons Konzept von „Bürgerhumanismus" vgl. den Forschungsüberblick bei A. Rabil Jr., „Civic Humanism", und D.R. Kelley, Civil Science, 69f. Zu Brunis Versuchen, mit Hilfe des Römischen Rechts und unter Rückgriff auf antike politische Theorie ein Konzept des souveränen Territorialstaats und einen nicht mehr nur an die Stadt gebundenen Bürgerbegriff zu entwickeln, vgl. R. Fubini, Sovranità statale. Bruni greift hier Ansätze Coluccio Salutatis auf, vgl. o. Kap. IV Anm. 161 f.
V. Schluß und Ausblick
215
Juristen behandelten die Herrschaftsform „Stadt" ungleich konkreter als Philosophen. Sie unterschieden die wähl- und kontrollberechtigte Volksversammlung von Rats- und Exekutivgremien. Sie statteten die Korporation civitas mit umfangreichen Gesetzgebungs-, Jurisdiktions- und Herrschaftsrechten aus. Man sprach autonomen und unabhängigen Städten das Prädikat respublica zu4. Mit der Theorie der civitas superiorem non recognoscens haben Rechtsgelehrte darüber hinaus versucht, die Ausübung legitimer Herrschaft ein Stück weit aus sich selbst heraus zu begründen. Dabei war, wie wir sahen, die Theorie der unabhängigen Stadt nicht prinzipiell gegen kaiserliche Suprematsansprüche entwickelt worden. Die Lehre sollte vielmehr den Führungsgruppen einer civitas superior Rechtstitel liefern, mit denen Eroberung und Untertänigkeit im Territorium begründ- und absicherbar waren 5 . Bartolus schließlich hat die Verfassungslehre des Stagiriten in die Rechtswissenschaft eingeführt. Regimen per paíteos und regimen ad populum waren seiner Meinung nach die für Stadtgesellschaften angemessenen Herrschaftsformen. Von den Vorzügen des regimen ad populum erzählte dieser Rechtsgelehrte und Bürger von Perugia mit besonderem Engagement. Er nannte es gar „mehr Gottes als der Menschen Regiment", vergaß aber nicht, den Superior einer so verfaßten Stadt zum Einschreiten zu ermuntern, falls dort die Ämter nicht secundum gradus dignos verteilt würden 6 . Auch hier wieder eine Formulierung, die nur 4
Zur Herrschaftsform „Stadt" vgl. o. Kap. IV.2; zur Partizipation der Bürgerschaft o. Kap. IV.5, bes. Anm. 136; zu „Republik" vgl. o. Kap. IV Anm. 69-74. - P. Blickle hat in mehreren Arbeiten versucht, eine Theorie des „Kommunalismus" zu entwickeln, die Dorf und Stadt als zwei Varianten selbstregierter Organisation des alltäglichen Lebens begreift (etwa in ders., Kommunalismus, 530ff). Die höchste Steigerung des „Kommunalismus" ist seiner Meinung nach der „Republikanismus", in dem die Organisation alltäglichen Lebens in eine Staatsform umschlägt; auch das geschehe gleichermaßen bei landschaftlichen Organisationen (in der Schweiz zum Beispiel) und bei Städten, vgl. ebd. 546ff. Hier soll nicht gegen diesen anregenden Konzeptualisierungsvorschlag argumentiert werden. Die mittelalterliche Theoriebildung allerding kam zu anderen Ergebnissen als die moderne. Theologen, Philosophen und Juristen haben in der Regel streng zwischen Stadt und Dorf, Bürger und Umlandbewohner/Bauer (sieht man einmal von der unspezifischen Ausdehnung des Bürgerbegriffs auf alle Einwohner eines Reiches ab: vgl. u. Anm. 9), unterschieden (vgl. o. Kap. IV Anm. 69ff, 97, 118). Baldus hatte Dörfern weder das Prädikat respublica zuerkannt (s.o. Kap. IV Anm. 71), noch den universitates der rustid gestattet, selbst ein regimen active auszuüben: Denn non participant politica (s.o. Kap. IV Anm. 154). - Zur kritischen Diskussion des „Kommunalismus" vgl. den von Blickle hg. Band .Landgemeinde', bes. den „Diskussionsbericht", 489505. Vielleicht könnte eine intensivere Einarbeitung zeitgenössischer Theorieangebote zu Weiterentwicklung und Diversifizierung des Kommunalismusmodells beitragen. 5 6
S.o. Kap. IV.3. S.o. 198. Vgl. auch o. Kap. IV Anm. 136.
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V. Schluß und Ausblick
Leser des 20. Jahrhunderts verwirrt: Zeitgenossen sahen keinen Widerspruch zwischen der Anerkennung eines Stadtherrn und der Selbstherrschaft des städtischen Gemeinwesens. Gerade Juristen haben deutlich erkannt, daß die säkulare Herrschaftsausübung nur ein Aspekt der Stadtordnung gewesen ist. Bischof und Podestà gemeinsam galten als Repräsentanten des populus. Ihr Zusammenwirken hat Baldus mehrfach betont 7 . Rechnet man das Miteinander von Geistlichem und Weltlichem hinzu, dann war die irdische Stadt in der Tat eine überaus komplexe Struktur. Die Himmelsstadt aber stand der irdischen in nichts nach: Denn daß die Verfassung aus herrschaftlichen und genossenschaftlichen Elementen zusammengesetzt war, daß dem gestuften Herrschaftsaufbau eine Gemeinschaft gleicher Bürger gegenüberstand und der vertikalen Ordnung der Macht die horizontale Ordnung des .freien Warentausches', wußten bereits diejenigen, die bei den Predigten des Albertus Magnus in Augsburg über die „Stadt auf dem Berge" oder des Giordano da Pisa in Florenz über die Città di Dio aufgepaßt hatten 8 . Schwankten die Vorstellungen vom Status des regimen civitatis zwischen Unabhängigkeit und Einbindung in ein Ganzes, so bewegten sich die Versuche, das Wesen des Bürgers zu begreifen, zwischen den terminologischen Polen „Stadtbürger" und „Mensch". Fangen wir den Rückblick mit dem Vertrautesten an: Jeder Bürger hatte das Recht politischer Mitwirkung am Gemeinwesen. Dabei zeigte sich gleich eine grundlegende kategoriale Kluft. Auf der einen Seite standen jene, die lediglich wählen, kontrollieren oder doch mindestens zustimmen durften, deren Konsens bei grundlegenden politischen Entscheidungen auf jeden Fall unabdingbar war 9 ; auf der anderen Seite befanden sich die „Herrschenden". Teilhaben im allgemeinen {participare) wurde bisweilen von herrschen (principari) deutlich abgehoben, in anderen Zusammenhängen der „passiven" Partizipation die „aktive" entgegengesetzt. Die Unterscheidung in passive und aktive Partizipation (Petrus von Alvernia, Baldus) ist vielleicht der interessanteste Vorschlag im Bemühen um eine adäquate Erfassung gestufter Teilhabechancen gewesen: Aktives Wahlrecht könnte man nach dieser Formel als die höchste Form passiven, die Bekleidung ehrenvoller Magistratsämter als den Inbegriff aktiven Bürgerrechts ansehen. Der Verband 7
S.o. 187-190. S.o. Kap. II.3 u. 4. ' Die genannten politischen Rechte sind für A. Black, Guilds and Civil Society, 53, interessanterweise der Kern stadtbürgerlicher Partizipationsforderungen: „Counsel, consent and election were the procedural values most commonly invoked in early towns". In diesem Kontext bleiben natürlich der lediglich unter dem Schutz des Gemeinwesens stehende Bürger, der mittelalterliche civis Romanus und der „Bürger im Reich" ausgeklammert, vgl. o. Kap. III Anm. 50f u. 68; IV Anm. 158— 161. 8
V. Schluß und Ausblick
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freier, rechtsgleicher Bürger fächerte sich auf, Ämter wurden secundum graduiti vergeben. Das Grundmodell konnte variiert werden, unterschiedliche Zuschreibungen politischer Teilhabe an bestimmte soziale und „ständische" Gruppen waren denkbar 10 . Dieses Thema ist in den Zusammenfassungen des dritten und vierten Kapitels ausführlich behandelt worden. Nur an einen Punkt sei erinnert. Die Erörterung politischer Teilhabe wurde zwar bei Philosophen und Juristen auch in der Auseinandersetzung um den Bürgerbegriff geführt (bei der Abgrenzung der cives simpliciter von den cives secundum quid, der cives veri et originarli von den cives ex privilegio). Vornehmlich aber fand die Debatte statt im Kontext politischer Rechte von Gruppen und Gesamtheiten. Deren Bezeichnungen wechselten. Funktionale Gruppen nannte man multitudines, pauci, multi, parlamentum, concilium, officiates, populus ; soziale Gruppen divites, pauperes, artifices, viles. Bei „ständischen" Zuschreibungen war die Sache etwas schwieriger: ständisch gemeint waren sicher jene Grade der honnorabletés bei Oresme und den Philosophen, ebenso verhielt es sich vermutlich bei honor, dem am häufigsten für „Amt" gebrauchten Begriff, und den scheinbar neutralen Termini sapientes, virtuosi und boni homines". Eine Mischung verschiedenster Konnotationen in einem der angeführten Begriffe war wohl keine Seltenheit. Insgesamt gesehen haben Philosophen Partizipation eher als Frage der Zuschreibung gewisser intellektueller und moralischer Fähigkeiten zu bestimmten Gruppen, Juristen mehr als rechtstechnisches Problem der Selbstregierung einer korporativ verfaßten Stadt interpretiert. Eine Theorie „politischer Zünfte" aber hatten weder Philosophen noch Juristen entwickelt. Ansätze dazu fanden sich allenfalls bei Albertus Magnus und bei Baldus12. Wer bei der Frage eng ausgelegter politischer Teilhabe stehenbliebe, hätte sicher viel erfahren über die Vorstellungen dieser Zeit vom Wesen des Bürgers; die Quintessenz der spannenden und kontroversen Theoriebildung aber wäre ihm entgangen. Insbesondere nämlich standen die knappen und eher beiläufigen Ausführungen über die „herrschenden" Bürger in Kontrast zu den lebendigen Schilderungen und Reflexionen 10
S.o. Kap. III.3, 4, 6; Kap. IV.4, 5; und die Zusammenfassungen 114ff, 200ff. Der Begriff „Aktivbürger", bisher immer mit der Französischen Revolution in Zusammenhang gebracht, hat vermutlich in diesem mittelalterliche Diskurs seine Wurzeln, vgl. o. Kap. III Anm. 50f, 68; Kap. IV Anm. 130, 154. - Auch die „Stadt auf dem Berge", die Albertus Magnus in seinem Predigtzyklus ausführlich beschrieb, hatte verschiedene Stände, kannte unterschiedlich am Gemeinwesen partizipierende Gruppen, s.o. 38ff. 11 Diese Termini wurden in den Städten der Zeit für Mitglieder von Führungsgruppen verwendet, vgl. S. Bertelli, Consilia sapientum; R. J. Weber, Vir bonus et sapiens, bes. 48ff, 53ff. 12 S.o. 82ff, 202.
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V. Schluß und Ausblick
über Bedingung und Wesen der Zugehörigkeit zur Bürgerschaft. Die Frage der Mitgliedschaft eines Menschen in der universitas civium war in den untersuchten Texten der theoretisch folgenreichste Stimulus zu stets neuem Nachdenken über den status civium. „Bürger" hieß demnach vor allem anderen: Mitglied der Bürgerschaft. Nicht dazu gehörten Bauern, Hirten, Umlandbewohner 1 3 sowie, im juristischen Diskurs, Bürger unterworfener Gemeinden (cives comitatenses) und bloße Einwohner ohne Bürgerrecht (incolae). Eine Abgrenzung nach „oben", zum Adel, war kein begriffsrelevantes Thema. Jeder Bürger genoß den Schutz der Kommune und besaß gleiche materielle, „private" Rechte. Politische Partizipation wurde, wenn man sie in diesem Kontext überhaupt behandelte, sehr weit interpretiert; einige Autoren sahen schon bestimmte Anhörungs- und Akklamationsrechte als ausreichend an. Man bestand auf Teilhabe allgemein, stellte aber keine hohen Ansprüche 14 . Bei der Diskussion eines weitergefaßten Bürgerbegriffs ging es zentral um die Bestimmung der unteren Ränder des Definitionsbereichs, um die Integration einzelner Menschen oder sozial eher niedrig eingeschätzter Gruppen in die Gemeinschaft. Hier entfalteten mittelalterliche Gelehrte ihre ganzen intellektuellen Fähigkeiten. Sie redeten von cives secundum quid und von der dem Urteil „Vieler" innewohnenden Vernunft 15 . Sie diskutierten über Probleme sozialen Aufstiegs und stießen bei der Frage nach dem Maß der Rechte, die man unteren Strata der Bürgerschaft oder Neubürgern zugestehen sollte, immer wieder auf fundamentale Axiome theologischer Soziallehre, auf grundlegende Theorien philosophischer Anthropologie oder auf prinzipielle Einsichten, die jeder Rechtspraxis voraus- und zugrundelagen und die das konkrete Urteil über den Status eines Menschen bestimmen konnten. So räumte Nikolaus von Oresme die Möglichkeit eines Aufstiegs von Handwerkern in den „ehrbaren Stand" der Bürger ein: schließlich hätte auch Gott nach den Worten des Psalmisten den povre laboureur erhöht und sitzen lassen unter den Fürsten seines Volkes. Aber Oresme mahnte in dieser Sache ebenso zur Vorsicht wie später Johannes Versor. Letzterer 13
Ausnahme: der „Bürger im Reich", s. o. Anm. 9. S. bes. o. Kap. III. 1 u. 2; IV.4. Unter dem Gesichtspunkt eines weitgefaßten Teilhabekonzeptes gab es interessante Differenzen in der Verwendungsweise einzelner Grundbegriffe der politischen Philosophie. Hatte Aristoteles mit politeuma vor allem den „herrschenden Teil" in einem Gemeinwesen bezeichnen wollen (worin ihm beispielsweise Ockham folgte, vgl. o. Kap. III Anm. 119), so sah Nikolaus von Oresme policeme als Inbegriff der Wahl- und Kontrollrechte des Bürgers, also gerade nicht als Terminus zur Bezeichnung von „herrschenden" Tätigkeiten (s.o. Kap. III Anm. 82). Bei Martin Luther schließlich hieß politeuma schlicht burgerschafft im Sinne des Besitzes von burger recht (s.o. Kap. II Anm. 95). 15 S.o. 92f, 199. 14
V. Schluß und Ausblick
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sah die Eintracht der Bürger bedroht durch den Zustrom fremder Menschen mit zum Teil anderer Muttersprache. Der Gefahr stabilitätsgefährdender Ausgrenzung der Zuwanderer durch die Alteingesessenen stellte er ein Konzept entgegen, das den Neubürgern gewisse Mitspracherechte gewährte, bei wichtigen Ämtern aber auf den amor ciuitatis der innati ciues setzte 16 . Philosophen sahen hier eher ein Problem der Grenzsicherung nach unten. Juristen interessierte anderes. In Fragen der Neubürgerschaft häufig zu Rate gezogen, mußten sie Auskunft geben über das, was einen Menschen eigentlich zum Bürger macht. Bartolus verwies auf die rechtstiftende Kraft der Korporation Stadt, die alle Mitglieder als cives civiliter definiert. Baldus reflektierte über „Bürgerschaft" als „zweite Natur" des Menschen und legte die pragmatische Dimension jedes gesellschaftstheoretischen Begriffs frei, wenn er sagte: Bereits denjenigen betrachtete man als „Bürger", der die Pflichten eines Bürger über lange Zeit gewissenhaft ausgeübt hätte (facit ea que sunt civium). Conrad Peutinger brachte die bekannte Vorstellung einer „nach Jahr und Tag" erworbenen Freiheit in begriffliche Nähe zur pristina libertas aller Menschen, und im Falle der Rückforderung eines in die Stadt geflohenen Hörigen verlangte er in einprägsamer Paraphrase Römischen Rechts: In dubio pro liberiate est iudicandum Zugehörigkeit zur Gemeinde war selbstverständlich auch bei den Bewohnern der „Herrlichen Stadt", der „Stadt auf dem Berge" oder der Città di Dio das alles entscheidende Merkmal. Wilhelm von Auvergne, Albertus Magnus und Giordano da Pisa behandelten das Thema. Am ausführlichsten schilderte Wilhelm den Eintritt in die civitas praeclara als „Bürgerrechtserwerb". Nach einem regelrechten Aufnahmeverfahren waren die „ N e u e n " participes iustitiae et libertatis Von solchen Einschätzungen war es dann nur ein kleiner Schritt zur Identifizierung von „Bürger" und „Mensch" (Remigius von Florenz), habitator civitatum/civis und animal civile (Thomas von Aquin u.a.), homo politicus und „Stadtbürger" (Baldus) 19 . Die communitas civium, vom Land abgehobene Lebensform, wurde in dieser Metaphorik zum eigentliche Ort des Menschen (homo civilis). Manchmal fungierte die Mauer als Zeichen der Grenze zwischen den unterschiedlichen Rechtsbereichen und Lebensformen, als Scheidelinie verschiedener Menschensorten. Nicht eingeschlossen in eine derart weit gefaßte Bürgerdefinition waren jene Gruppen, die außerhalb der Mauer bäuerliche Arbeiten verrichteten. Theologen schließlich diente das Bild der Mauer zur Scheidung heilsgeschicht16
S.o. S.o. 18 S.o. " S.o. 17
106, 109. Kap. IV.4, hier: 182, 183f, 185f. 33f, 44f, 48f. 70ff, 75, 187f.
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V. Schluß und Ausblick
lieh unterschiedlich qualifizierter Regionen. Innerhalb des Mauerringes lebten die Heiligen, die vollkommenen Menschen, die Himmelsbürger; außerhalb die anderen: auf dem Land, im Wald, in „dieser Welt", bedrängt und versucht vom Teufel20. Trennung von Stadt und Land, die Mauer als Sinnbild des Schutzes, als Symbol eines privilegierten, friedlichen oder „politischen" Zusammenlebens der Bürger: Diese Ideen fanden sich bei Theologen, Philosophen und Juristen an zentralen Punkten ihrer Reflexionen über das Wesen „bürgerlicher" Lebensform. Civitas, idest titra vim habitas, hatte Johannes von Viterbo gesagt21. Als Musterfall des animai civile oder im Bilde des cittadino celeste avancierte der Stadtbürger zum Inbegriff des Menschen. Johann von Soest, von dem wir in der Einleitung berichteten, stand also bereits in einer mehr als zweihundertjährigen Tradition, als er burgher mit animal polliticum identifizierte22. Als seine Quelle nannte er „den Philosophen". Er hätte sich ebenso auf den Theologen Thomas, den Juristen Baldus, auf Prediger wie Remigius von Florenz oder Giordano da Pisa berufen können. Und noch etwas bestätigt sich. Wieder ist es ein sehr weit gefaßter, aber eindeutig auf „Stadt" bezogener Bürgerbegriff gewesen, der Ausgangspunkt produktiven Weiterdenkens antiker Ideen war. Der enge Konnex von Bürger und Wesensbestimmung des Menschen, die Konzentration auf den Stadtbürger und die Ausblendung unterbürgerlicher oder bäuerlicher Bevölkerungsteile kennzeichneten wichtige Gelenkstellen in allen untersuchten Diskursen. Die vielfältigen Einsichten in das Wesen des Menschen und die Struktur der Herrschaft, die spätmittelalterliche Autoren in Auseinandersetzung mit der Sozialform Stadt gewonnen hatten, sind nie zu einer „bürgerlichen Weltanschauung" geronnen. Noch weniger als das „bürgerliche Individuum" einer späteren Zeit konnte der Stadtbürger letzten Endes für den „Menschen" stehen und seine Gesellschaft blieb, mehr noch als die bürgerliche des 19. Jahrhunderts, partikulare Erscheinung. Aber das schmälert nicht den Wert der gewonnenen Erkenntnisse. Im Diskurs um den Stadtbürger wurden die antiken Ideen Gleichheit, Freiheit und Teilhabe, die Vorstellung einer wehrhaften Friedensordnung und das Ideal vom vivere civile erstmals auf eine Gesellschaftsformation übertragen, in der Bankiers, Kaufleute und Handwerker die bestimmenden sozialen Gruppen gewesen sind. In der Anwendung auf eine veränderte Wirklichkeit änderten sich die Konnotationen der benutzten Begriffe. Dabei spiel20
Besonders Albertus Magnus hatte die trennende Funktion der Mauer hervorgehoben und ausgestaltet, s.o. 37, aber auch bei Juristen wie Baldus trennte die Mauer unterschiedliche Rechts- und Verfassungsformen, s.o. 187. 21 S.o. 11. 22 S.o. 16.
V. Schluß und Ausblick
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ten theoretisch weder die Betonung des Ökonomischen noch die Abgrenzung vom Adel eine wichtige Rolle. Wirkungsgeschichtlich entscheidend war allein das Faktum der nie ganz unproblematischen Einbindung von mercatores und artifices in die Theorie des Bürgerverbandes, wichtig auch die Akzentuierung des Wahlgedankens und dessen Erweiterung zur Idee der Repräsentation. All das hat langfristig zu einer neuen Auffassung von Teilhabe und Gemeinwesen geführt. Von der griechischen Vorstellung des Amtswechsels hatte sich das mittelalterliche Ideal konsensgestützter Herrschaft schließlich weit entfernt. Rechenschaft über Ergebnisse und Leistungen einer Untersuchung vorzulegen, bleibt immer ein zweifelhaftes Vergnügen. Nur ein Punkt sei daher genannt. Der Nutzen dieser Arbeit liegt in der Verfolgung vieler einzelner Begriffs- und Ideengeschichten, in deren thematischer Zusammenbindung und dem abschließend vorgenommenen Versuch der Gewichtung unterschiedlicher Dimensionen der Bürger- und Stadtkonzepte von Theologen, Philosophen und Juristen. Die produktiven Impulse, die von der Beschäftigung mit einem weiten Bürgerbegriff und der Analyse einer „Herrschaft zweiter Ordnung" ausgingen, wurden auf diese Weise wohl erstmals umfangreich dokumentiert und herausgearbeitet. Für den, der eine Formel will: Idealtyp der gelehrten mittelalterlichen Bürgerdebatte ist der freie Stadtbürger, der in einem privilegierten Verband rechtsgleicher Genossen Mitglied ist, mindestens rudimentäre Wahl- oder Akklamationsrechte besitzt und bisweilen stehen kann für den Menschen schlechthin. Eine „bürgerliche Weltanschauung" konnte erst mit der bürgerlichen Gesellschaft entstehen. Deren Mitglieder entwickelten dann allerdings Ideen und Ideale, die den eben genannten zum Verwechseln ähnlich sind. Und genau wie Remigius von Florenz oder Johann von Soest hatte man noch fast ein halbes Jahrtausend später Probleme mit der klaren begrifflichen Trennung von Mensch und Bürger23. Realgeschichtlich führte kein gerader Weg von der stadtbürgerlichen zur bürgerlichen Gesellschaft, die Berufung auf ideologische Kontinuitäten macht dennoch Sinn. Vertreter des Bürgertums haben so mit Recht die Wurzeln ihrer Ideologie in den Werten der mittelalterlichen Städter gesucht24. Dabei kam ihnen zugute, daß die rezipierten Begriffe bereits in der hier behandelten Zeit durch die Arbeit von Theologen, Philosophen und Juristen auf ein theoretisch ver23 Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) hat in seinen geschichts-, politik-und erziehungstheoretischen Schriften bekanntlich die dialektische Spannung zwischen den Begriffen Mensch und Bürger (citoyen) immere wieder aufgegriffen und deren kategoriale Differenz und mögliche Identität zu Angelpunkten seiner Philosophie gemacht, vgl. dazu I. Fetscher, Politisches Denken, bes. 485f, 498f u. 526f (Lit.). 24 Vgl. K. Schreiner, Kommunebewegung.
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V. Schluß und Ausblick
allgemeinerbares Niveau gebracht worden sind. Und selbst die Überschätzung der Rolle der Städte in der liberalen Geschichtsdeutung des 19. Jahrhunderts hatte ihr Gegenstück: Besaß die Stadtkommune doch schon in den gelehrten Diskursen des 14. und 15. Jahrhunderts eine theorieinterne Bedeutung, die ihre realgeschichtliche Relevanz im System des ausgebildeten Feudalismus weit überstieg. Wenn es eine Verwandtschaft zwischen spätmittelalterlicher Stadt und bürgerlicher Gesellschaft gab, dann lag sie zwar auch auf dem Felde ökonomischer, sozialer oder herrschaftlicher Strukturen. Ähnlicher als die Gesellschaftsformationen selber aber waren sich die Ideologien beider Systeme. Und besonders eng verwandt sind einige Grundannahmen der hier vorgestellten „Theorie des Bürgers" mit wichtigen Überzeugungen der „bürgerlichen Weltanschauung". Ob direkte wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge bestehen, ist eine andere Frage. Doch von „Verwandtschaft" spricht man auch bei Familienangehörigen, die sich nicht kennen. Der citoyen und der bourgeois, der Groß- und der Kleinbürger des Ottocento hätten sich vermutlich auch wiedergefunden in dem eingängigen Bild, das Remigius von Florenz einst zur Ermahnung seiner Zeitgenossen entwarf. Es mag deshalb am Ende noch einmal bemüht werden. Bevor der Dominikaner den Florentinern ,si non est civis non est homo' ins Stammbuch schrieb, schilderte er in aller Anschaulichkeit die Folgen einer durch Bürgerkämpfe zerstörten Stadt. Kein civis Florentinus könnte, destructa civitate, den Beschäftigungen nachgehen, die er vorher ausübte, die ihm gewissermaßen Lebensinhalt waren: „Militärische Angelegenheiten", „Handel", „Handwerk", „Ausübung von Ämtern", „Familienvorstand sein"; außerdem müßte er fortan auf jene Betätigungen eines „Freien" verzichten, die Remigius offensichtlich besonders hoch schätzte: „Gesandtschaftsreisen unternehmen", „über andere Städte herrschen" und „sein Landgut besuchen" 25 . Eine wirklich beeindruckende Palette „bürgerlicher Tätigkeiten". Die Arbeit auf dem Landgut, darüber schwieg der Prediger allerdings, verrichteten natürlich andere.
25
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Abraham 54,58 Accursius, Franciscus Franciscus Accursius Aegidius Romanus 116-118,127,128, 197 Alberto da Gandino 143 Albertus Magnus 5,9,24, 35-47, 51, 53, 55-58,66,69f., 77-86, 101, 113f., 127, 213,216f., 219f. Alessandro Bencivenni 170 Alexander III. (Papst) 136 Althusius 56 Ambrogio Lorenzetti 96 Anonymus ( 14. Jh. Italien) 59 f. Anonymus (Florentiner Chronist) 59 Anonymus, Mailänder (Politikkommentator) 95 f., 99,103 Anonymus (Politikkommentator) 72 Anibaldo degli Orsini 59 Antonio Loschi 210 Antonius 72 Aristoteles 5,9,12-16,19,21,23,30, 35, 38f., 41, 45,49f., 58,63-128, 183, 187f., 190f., 197-200, 202, 215, 218,220 Augustinus 10,27,36,48,74,119 Avicenna 66 Azo Portius 132, 134, 138, 141 f., 144f. Baldus de Ubaldis 131,147,149f., 156, 158-163, 167 f., 183 f., 186 ff., 190 ff., 200-203, 208, 215, 216-220 Bartolus de Saxoferrato 94,117,131, 134, 137, 147-159, 161, 164, 166 ff., 171, 174 f., 177-184,189,191, 193201,208,215,219 Benedikt von Nursia 72 Bernardus Papiensis 141 Bernold von Kaisersheim 179 Berthold von Regensburg 43 Bodin, Jean -»Jean Bodin Boncompagno 134 Brunetto Latini 13 f., 17, 214 Búlgaras 138 Calcidius 28 Cassiodor 44
Cicero 66, 74, 100, 144, 199, 210 Cino da Pistoia 134,144 Cola di Rienzo 60,166 f., 208 f. Coluccio Salutati 165, 209 f., 214 Conrad Justinger 58 Conrad Peutinger 184-186,219 Dante Alighieri 9, 50 Diogenes 72 Dionysius Areopagites (Pseudo-) Dominicus Tuscus 168 ff. Dominikus 48 Donatus Acciaiolus 99 f., 105 Eike von Repgow
119
185
Filippo Corsini 165 Fortescue 86 Francesco Petrarca 26 f. Franciscus Accursius 134,145 f., 178 Franziskus 49 Friedrich I. (Kaiser) 134 Friedrich II. (Kaiser) 159 Giangaleazzo Visconti 163 Giordano da Pisa 5,24,47-55, 57 f., 61,119, 216,219 f. Girolamo Savonarola 59 f. Gratian 139 f. Gregor der Große (Papst) 84,185 Gregor von Tours 55 Gregorio Dati 163 Grotius, Hugo -» Hugo Grotius Guibert von Nogent 25 Guido Vernani 99,107 Guillelmus Becchius 99 Heinrich VI. (Kaiser) 141 Heinrich VII. (Kaiser) 165 Herkules 46 Hermannus Alemannus 14 Hieronymus 72 Honorius (Papst) 169 Horaz 27 Hostiensis 133 Hugo Grotius 137 Hugolinus 138
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Personenregister
Innozenz III. (Papst) 132 Innozenz IV. (Papst) 136, 140 Irnerius 137 ff. Isidor von Sevilla 10,139 f. Iustinian 133 Jakob von Vitry 26 Jean Bodin 56,149 Jean-Jacques Rousseau 221 Jesus 53 Johann von Soest 15 ff., 20, 220 f. Johannes (Apokalypse) 25,47 Johannes (der Täufer) 53,72 Johannes Andreae 141 Johannes Buridanus -> Nicolaus de Waldemonte Johannes von Segovia 195 Johannes Teutonicus 140 Johannes Versor 72,74, 106-111,113, 200, 213,218 f. Johannes von Viterbo 10 f., 14,63, 220 Justinger, Conrad -> Conrad Justinger Karl IV. (Kaiser) 164 f., 167 Karl V. (französischer König) Karl Marte» 9 Konrad von Megenberg 69
100
Leonardo Bruni 9, 99, 105, 128, 210, 213 f. Lothar 141 f. Luther, Martin -» Martin Luther
Paulus de Castro 162,168,190,192 Paulus Nicolettus Venetus 99 Petrarca, Francesco -» Francesco Petrarca Petrus von Alvernia 84, 86-95,97 f., 101,108,112ff., 122,124f., 191 f., 200 ff., 216 Petrus Lombardus 38 Peutinger, Conrad -» Conrad Peutinger Philipp der Schöne (französischer König) 158 Piero Gaetani 170 Pierre de Paris 100 Pilius 145 f. Placentinus 134, 138 Piaton 28,43,66 Poggio Bracciolini 44 Ptolomaeus von Luccca 70, 86,118— 120,128, 199 Raimundus Acgerii 99 Remigius von Florenz 48,75, 219-222 Reparata (Sancta - Heilige) 49, 53, 58 Richard von Devizes 25 Richardus Anglicus 136 f., 139 Robert Grosseteste 13 Roger 138 Roger Bacon 127 Rousseau, Jean-Jacques -»JeanJacques Rousseau Rudolf (deutscher König) 169 Rufinus 24, 28 ff.
Matteo Villani 165 Maria 53,58 Marsilius von Padua 56,120-124 Martin Luther 61,218 Menander 38 Michael von Ephesos 66
Salomo 45 Samuel 199 Savonarola, Girolamo -» Girolamo Savonarola Sigismund (Kaiser) 165, 185, 214
Nanni degli Strozzi 214 Nicolaus de Waldemonte 73,97 f., 121 Nikolaus von Oresme 100-107, 113, 120, 127f., 213, 218
Tankred 141 Thomas von Aquin 22 f., 35, 39, 41, 56,69-72, 75,79f., 84ff., 90-93,99, 101, 107, 109, 119, 128, 220f.
Odofredus 142 Oldradus 179 Orlando 184
Walter Burley 67, 98, 104 Wilhelm von Auvergne 24, 30-37, 55, 57,219 Wilhelm von Moerbeke 9,13,68,70f„ 76ff., 80, 85, 87, 99f„ 109, 121 f. Wilhelm von Ockham 124f., 200, 218
Panormitanus 181 Paulus 42,45,61,167