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German Pages 306 [308] Year 2023
Juristen als Experten?
bibliothek altes Reich
Herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal
Band 40
Juristen als Experten? Eine Untersuchung zu Wissensbeständen und Diskursen der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert Herausgegeben von Anette Baumann
ISBN 978-3-11-107012-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-107034-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-107072-8 ISSN 2190-2038 Library of Congress Control Number: 2023933240 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Andreas Gail (1526–1587): Assessor (1558–1569), Kupferstich von Sebastian Furck (um 1600–1655); Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Band beruht auf einer Tagung, die im November 2020 unter dem Titel „Juristen als Experten. Eine Untersuchung der Wissensbestände und Diskurse der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert“ pandemiebedingt online stattfinden musste. Der Austausch und die Diskussionen konnten deshalb nur im begrenzten Rahmen stattfinden, was von allen Teilnehmern sehr bedauert wurde. Immerhin bestand aber so die Gelegenheit, dass auch Nachwuchsforscher aus Israel und den Vereinigten Staaten teilnehmen konnten. Mein Dank gilt vor allem Frau Andrea Müller, die in bewährter Weise bereits seit 25 Jahren die Forschungsstelle bei der Organisation von Tagungen und bei der Herstellung von Tagungsbänden zuverlässig und kompetent unterstützt. Auch Frau Bettina Neuhoff vom Verlag Walter de Gruyter möchte ich ausdrücklich für die Betreuung des Bandes und ihre Arbeit danken. Die Buchreihe bibliothek altes Reich (baR) ist bei ihr sehr gut aufgehoben. Nicht zuletzt gilt mein Dank den Autorinnen und Autoren für Ihre Geduld. Anette Baumann Wetzlar im Januar 2023
https://doi.org/10.1515/9783111070346-001
Inhalt Anette Baumann Juristen als Experten? Wissensbestände und Diskurse der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert 1 Tobias Schenk Vom dominus referens zum Berichterstatter
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Sabine Holtz Juristen als Garanten gesellschaftlicher Ordnung. Zur Konsiliarpraxis der Tübinger Juristenfakultät im 17. Jahrhundert 103 Alain Wijffels Die juristische Konsilienpraxis in den burgundisch-habsburgischen Niederlanden: Herbst der Rechtswissenschaft als Kunst des guten 117 Regiments? Horst Carl Juristen als Landfriedensexperten
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Wim Decock Theologen als Rechts- und Wirtschaftsexperten: Ein Beispiel aus der Jesuitenmoral des frühen 17. Jahrhunderts 139 David von Mayenburg Juristen als Pestexperten
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Cornel Zwierlein Georg Obrechts (1547–1612) juristisches Werk
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Stephan Brakensiek Eine Welt in der Stube. Sammlungen als Orte der Welterkenntnis vom 16.–18. Jahrhundert 235
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Inhalt
Armin Schlechter Werke von Speyerer Reichskammergerichts-Juristen im Landesbibliothekszentrum / Pfälzische Landesbibliothek und in der Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer 257 Autorenverzeichnis Index
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bibliothek altes Reich – baR
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Juristen als Experten? Wissensbestände und Diskurse der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert In den Forschungen zur Frühen Neuzeit werden seit einiger Zeit Fragen der Wissensgenerierung verstärkt diskutiert. Hierzu wurden verschiedene Gedankenmodelle, die die Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen untersuchen,¹ und über die Rolle der Akteure, die als Experten bezeichnet werden, entwickelt. So werden Experten unter anderem als Gelehrte definiert, die ein eigenes „Berufswissen“ in einem Kommunikationsprozess² herausbildeten. Die Experten hätten damit eine eigene Wirklichkeit konstruiert und zur sozialen Kontrolle institutionalisiert. Entscheidend für diesen Vorgang sei die alltägliche Routine im Schreibbüro gewesen, bei der immer die gleichen Wissensbestände abgefragt worden seien. Diese Definition diente dem Göttinger Graduiertenkolleg „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“ als Grundlage. Das Kolleg hatte u. a. den Blick auf Relationen und Dynamiken von Wissen innerhalb bestimmter historischer Situationen, wie z. B. den frühneuzeitlichen Hof, gelenkt, um so die spezifische dynamische Rolle des Experten zu historisieren.³ Frühneuzeitliche Juristen spielen dabei nur am Rande eine Rolle, der Fokus liegt hier eindeutig im Mittelalter und bei Laienrichtern.⁴ Basis hierfür bildeten die Überlegungen von Peter L. Berger und Frank Rexroth/Teresa Schröder-Stapper (Hrsg.): Experten, Wissen, Symbole. Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen. Berlin/Boston 2018 (HZ, Beiheft 71). Frank Rexroth/Teresa Schröder-Stapper: Woran man Experten erkennt. Einführende Überlegungen zur performativen Dimension von Sonderwissen während der Vormoderne, in: Dies. (Hrsg.), Experten, Wissen, Symbole. Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen. Berlin/ Boston 2018 (HZ, Beiheft 71), S. 7–28, S. 17. Siehe hierzu u. a. die Veröffentlichungen: Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hrsg.): Wissen maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. München 2012 sowie Frank Rexroth/Teresa Schröder-Stapper: Woran man Experten erkennt. Einführende Überlegungen zur performativen Dimension von Sonderwissen während der Vormoderne, in: Dies. (Hrsg.), Experten, Wissen, Symbole. Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen. Berlin/Boston 2018 (HZ, Beiheft 71). Siehe Uta Kleine: Zwischen Kloster und Kurie. Mönche als Rechtsexperten und die Entwicklung der forensischen Oralität im päpstlichen Gerichtswesen (1141–1256), in: Rexroth/Schröder-Stapper (Hrsg.), Experten, Wissen, Symbole (wie Anm. 1), S. 69–116, und Eva Schumann: Wissensvermittlung leicht gemacht. Die Vermittlung gelehrten Rechts an ungelehrte Rechtspraktiker am Beispiel der volkssprachigen Teufelsprozesse, in: Rexroth/Schröder-Stapper (Hrsg.), Woran man Experten erkennt (wie Anm. 3), S. 182–213. https://doi.org/10.1515/9783111070346-002
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Thomas Luckmann, die sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit beschäftigten.⁵ Den Wissenschaftlern ging es vor allem darum, Wissen als ein Ergebnis von Aushandlungsprozessen zu begreifen bei denen alltäglichen Praktiken eine besondere Bedeutung zukam. Der Experte wird dabei als Wissensträger gesehen, der sich in einer bestimmten Kommunikationssituation besonders auszeichnet. Er hat dabei die Rolle, die Komplexität der Welt zu erklären und so Orientierung und Entlastung für den Laien zu bieten. Gleichzeitig gibt damit der Laie ein Teil seiner Handlungs- und Entscheidungsautonomie auf.⁶ Während sich die Göttinger Wissenschaftler eher auf den einzelnen Experten fokussierten, legte Ludwik Fleck bereits in den 1920er Jahren den Schwerpunkt seiner Überlegungen vor allem auf die Diskurssituation einer mehr oder minder geschlossenen Gruppe von Experten, die sich ständig weiterentwickle. So definiert Fleck in seinem Werk „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ die Wissensträger eines Faches als eine Gemeinschaft von Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen.⁷ Es ging Fleck also vor allem darum, wie Experten Kommunikation über ihr Wissen betreiben und welche Wissensformen sie daraus entwickeln. Die Ausbildung des einzelnen Individuums, das durch eigene Identität, Mitgliedschaft, theoretisches Rüstzeug sowie praktische Erfahrenheit definiert ist, macht den Einzelnen zu einem Vertreter einer bestimmten kollektiven Anschauung.⁸ Fleck hat dafür den Begriff des „Denkkollektivs“ geprägt. Dieses „Denkkollektiv“ besitzt zudem eine innere Geschlossenheit, die Zwang ausübt und die ihn von anderen „Denkkollektiven“ abgrenzt.⁹ Ergänzt und erweitert werden Flecks Vorstellungen durch Cornel Zwierlein.¹⁰ Dieser sieht menschliche Entscheidungen und Handlungen als Reaktion auf eine geänderte Weltwahrnehmung und untersucht die daraus folgenden Auswirkungen
Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 27. Aufl., Frankfurt/Main 2018. Frank Rexroth: Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich/Ders./Matthias Roick (Hrsg.),Wissen, maßgeschneidert. München 2012 (HZ, Beiheft 57), S. 12–44, S. 20 f. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt 2017. Ebd., S. XXXVI und S. 61. Ebd., S. 135. Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 74).
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auf Prozesse und Strukturen im politischen Umfeld.¹¹ Sein Fokus ist deshalb vor allem auf die Perspektive der Experten als Akteure in ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Umfeld gerichtet. Entscheidungen und Entscheidungsfindungsprozesse haben bei ihm eine besondere Bedeutung, da sie „Kopplungsstellen … von der Gegenwart in eine Zukunft“¹² sind und somit geänderte Formen von Gegenwarts- und Zukunftswahrnehmung wirksam werden. Sie sind außerdem Orte der Osmose zwischen Theorie und Praxis.¹³ Bezieht man diese Modelle auf die Juristen der Frühen Neuzeit, so stellt man relativ schnell fest, dass diese Definitionen nur zum Teil auf juristisches Wissen und die Arbeit damit anwendbar sind. Denn ein Jurist zu sein bedeutet vor allem,Wissen über das Recht zu haben und gleichzeitig Werte und Maßstäbe zu wissen bzw. zu entwickeln, die dem Juristen in seiner Eigenschaft als Jurist auferlegt sind. Sie befähigen ihn, Entscheidungen zu treffen, deren Basis die Inanspruchnahme der eigenen Kenntnisse der Rechtsmaterie bildet.¹⁴ Deshalb muss – um das Spezifische der juristischen Arbeit und ihres Expertentums definieren zu können – zuerst einmal gefragt werden, ab wann Juristen eigentlich die eigene Sachkenntnis für eine bestimmte Rechtsfrage als ausreichend bewerteten und wie dieser Prozess genau ablief.¹⁵ Die oben geschilderten Definitionen können deshalb nur dazu dienen, dieses Spezifikum genauer herauszuarbeiten. Dies ist Ziel des vorliegenden Bandes. Zwei Beispiele aus dem neu entdeckten Quellenbestand der Notizen der Richter¹⁶ des Reichskammergerichts sollen dieses Anliegen verdeutlichen. Sie ermöglichen es – wenn auch nur im beschränkten Umfang – einen direkten Blick in den Entscheidungsfindungsprozess eines der Höchsten Gerichte des Alten Reiches zu Ebd., S. 22. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24. Der Entscheidungsfindungsprozess wurde bereits unter dem Aspekt der Herstellung und Darstellung von Entscheidungen betrachtet. In dem gleichnamigen Sammelband Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin 2010 (ZHF, Beiheft 44), analysiert von Loewenich mit den Instrumentarien von Niklas Luhmann die Entscheidungsfindung am Reichskammergericht. Sie beschränkt sich dabei zum größten Teil auf die Normen, da die Richternotizen zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt waren. Siehe: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.): Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne. Berlin 2010 (ZHF, Beiheft 44), und Maria von Loewenich: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen im Verfahren des Reichskammergerichts, in demselben Band, S. 157–188. Mündliche Hinweise hierzu von Prof. Dr. Thorsten Keiser, Universität Gießen. Anette Baumann: Die Gutachten der Richter – Ungedruckte Quellen zum Entscheidungsprozess am Reichskammergericht (1524–1627). Wetzlar 2015 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 43). Siehe auch: http://data.rg.mpg.de/rkg/DFG02.mdb und http://da ta.rg.mpg.de/rkg/2014-06-22_Richterprotokolle_gesamt.pdf.
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werfen. Die Richternotizen sind eine neue Quellengattung, die lange unentdeckt blieb und von der Forschung noch kaum beachtet wird.¹⁷ 1531 klagten die Mindener Stifte gegen die Stadt Minden vor dem Reichskammergericht.¹⁸ Die Stifte waren der Ansicht, dass die Plünderung der Kirchen durch die städtischen Bürger Landfriedensbruch sei. Das Gericht ließ sich mit einer Bearbeitung vorerst einmal Zeit. Schließlich verfügten die Richter im März 1536 ein erstes Mandat mit einer Strafandrohung von sechzig Mark. Außerdem sollte die Stadt alles Entwendete den Stiften zurückerstatten. Der Tatbestand des Landfriedensbruchs war nach Meinung der Richter aber nicht erfüllt. Die Stadt wollte das Mandat jedoch nicht anerkennen und eine weitere Beratung der Richter wurde notwendig. In einer Sitzung vom 18. März 1536 wurde über die Verhängung des Banns als Folge der Nichtbefolgung des Mandats durch die Stadt Minden diskutiert.¹⁹ Diese Sitzung wird durch den von Bayern präsentierten Richter Caspar Everhardus²⁰ in seinem Notizbuch ausführlich beschrieben. Der Referent Philipp Burckhardt war gegen die Verhängung der Acht wegen der Missachtung des zweiten
Siehe hierzu Peter Oestmann: Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/ Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG 37), S. 15–54 und hierzu: Peter Arnold Heuser: Zur Bedeutung der Vor- und Nachkarrieren von Reichskammergerichts-Juristen des 16. Jahrhunderts für das Studium ihrer Rechtsauffassungen. Eine Fallstudie, in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Juristische Argumentation – Argumente der Juristen. Köln/Weimar/Wien 2004 (QFHG 49), S. 153–218. In jüngster Zeit gibt es aber neue Ansätze: Siehe Peter Oestmann: Entscheidungsfindung und Entscheidungsdarstellung am Reichskammergericht, in: Anja Amend-Traut/Ignacio Czeguhn/ Ders. (Hrsg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper. Entscheidungsfindung und Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Rechtskultur. Köln/Weimar/Wien 2021 (QFHG 75), S. 371–386, vor allem S. 386. Der Prozess ist in der Literatur sehr bekannt, allerdings nicht aus den Richternotizen von Everhardus: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, HB VI 15, fol. 155r–163r. Auch Tobias Branz: Reformationsprozesse am Reichskammergericht. Zum Verhältnis von Religionsfriedens- und Landfriedensbruchtatbeständen und zur Anwendung der Tatbestände in reichskammergerichtlichen Reformationsprozessen. Aachen 2014 (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 8), S. 140–144 kennt die Quelle nicht – sie war damals noch unbekannt –, beschreibt aber den Sachverhalt detailliert und kenntnisreich. Anette Baumann: Die Tatbestände Landfriedens- und Religionsfriedensbruch am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert, in: Hendrik Baumbach/Horst Carl (Hrsg.), Landfrieden – epochenübergreifend. Neue Perspektiven der Landfriedensforschung auf Verfassung, Recht, Konflikt. Berlin 2018 (ZHF, Beiheft 54), S. 233–254, S. 243. Everhardus war Professor in Ingolstadt, bevor er als Präsentatus von Bayern an das Reichskammergericht ging. Siehe Anette Baumann: Reichskammergericht und Universitäten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: HZ 292 (2011), S. 365–395, S. 391.
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Mandats, da es sich bei dem zweiten Mandat nur um die Fortsetzung des Verfahrens handle.²¹ Der vom Kaiser präsentierte Burckhard forderte aber, dass die Stadt die Priester wieder einsetzen müsse und die Kosten tragen. Die Richter Everhardus und Heinrich Faut²² stimmten – zwar mit einigem Bedenken – dem Referenten zu. Morus²³ wollte dagegen ein Mandatum sine clausula erkennen, um so auch den Mindener Bürgern Einreden zu ermöglichen.²⁴ Visch²⁵ stimmte im Großen und Ganzen Morus zu, während Selbwitz ein Mandat grundsätzlich nicht gerechtfertigt sah und meinte, dass man für diesen Prozess die Religionsartikel anwenden müsse.²⁶ Nach einer weiteren Diskussion, die der Autor Everhardus nicht mehr vollständig protokolliert hat, einigten sich die Richter auf die Verhängung der Acht. Allerdings wollte das Gericht damit nicht das Vergehen der Bürger der Stadt Minden verurteilen, sondern die Richter wollten vielmehr – nachdem die Stadt Minden glaubte, das erste Mandat des Gerichts ignorieren zu können – damit die Autorität des Gerichts im Reich aufrechterhalten.²⁷ Das Urteil ist also eindeutig politisch motiviert. In der Literatur wird davon geredet, dass die Acht „wegen des beharrlichen Ungehorsams“²⁸ der Mindener Bürger verhängt worden sei. Die neu entdeckte Quelle der Richternotizen des Everhard zeichnet aber ein anderes Bild. Es ging nicht nur um die Aufrechterhaltung der Autorität des Gerichts gegenüber der Stadt Minden, sondern um das Ansehen des Gerichts im gesamten Reich. Die eigentlichen Handlungen der Mindener Bürger wurden zum willkommenen Anlass des Gerichts, sich Autorität zu verschaffen.²⁹ Das zeigt einmal mehr den komplexen Entscheidungsfindungsprozess der Richter, in den neben juristischen Argumenten
Württ. Landesbibliothek Stuttgart, HB VI 15, fol. 163r. Er war ebenfalls vom Kaiser präsentiert. Hartmann Mohr wurde 1523 von Kurköln an das Gericht präsentiert. Siehe Baumann: Reichskammergericht und Universitäten (wie Anm. 20), S. 392. Miriam K. Dahm: Die Pfändungskonstitution gemäß RKGO 1555, Teil 2, Tit. XXII und ihr Verhältnis zum Landfrieden. Aachen 2008 (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte, Bd. 4), S. 64. Dr. Konrad Visch war durch den Oberrheinischen Kreis präsentiert worden. Er spielte bei der Redaktion der Reichskammergerichtsordnung von 1548 eine große Rolle. Siehe Baumann, Reichskammergericht und Universitäten (wie Anm. 20), S. 388, Anm. 114. Ebenda fol. 165r. Siehe hierzu auch Baumann: Die Tatbestände Landfriedens- und Religionsfriedensbruch (wie Anm. 19), S. 242 f. Branz: Reformationsprozesse am Reichskammergericht (wie Anm. 18), S. 143. Siehe hierzu auch die umstrittene Frage der Einordnung des Mindener Prozesses als Reformationsprozess. Gabriele Haug-Moritz: Religionsprozesse am Reichskammergericht. Zum Wandel des reichspolitischen Konfliktpotentials der Kammergerichtsjudikatur im Reich der Reformationszeit (1530–1541), in: Anette Baumann/Joachim Kemper (Hrsg.), Speyer als Hauptstadt des Reiches. Politik und Justiz zwischen Reich und Territroium im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin/Boston 2016 (bibliothek altes Reich, künftig: baR 20), S. 23–34, S. 27 f., S. 33.
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eben auch politische Überlegungen mit einflossen. Entscheidend ist hier aber auch: die Mehrheit der Richter wollte auf keinen Fall auf einer religiösen Ebene argumentieren. Im zweiten Beispiel kann man die Besinnung der Richter auf ihre eigenen Kernkompetenzen beobachten. Es zeigt sich, dass die gelehrten Juristen des Reichskammergerichts auch auf die Expertise nicht gelehrter Juristen vertrauten und wirft neue Blicke auf die bisher in der Forschung vernachlässigte Austrägalgerichtsbarkeit³⁰. So schildert der Richter Werner von Themar um 1550 einen Fall in dem es um die „custodia“ also die Gefangennahme eines Adeligen ging.³¹ Graf Johannes von Leuchtenberg hatte seinen Bruder Georg (1502–1555) gefangengesetzt. Georg war aus der Haft geflohen und hatte beim Reichskammergericht auf Landfriedensbruch geklagt. Der Senat diskutierte darüber ausführlich und erklärte sich in diesem Fall ausdrücklich für nicht zuständig, da es dafür keine speziellen „ordinationes“ gebe. Erheblich sei in diesem Fall, aus welchen rationalen Gründen die Bewachung von Georg veranlasst worden sei. Wichtig sei zudem die Qualität der Behandlung, die gut gewesen sei. Auch könne man keine Justizverweigerung oder ähnliches erkennen. Schließlich stellten die Richter fest, dass das Reichskammergericht selbst nicht tätig sein könne. Man die Angelegenheit jedoch in die Hände von Adeligen legen wolle. Hierzu sollten Grafen berufen werden, die sich gerade in Speyer aufhielten. Die Richter wählten einen Grafen von Solms und Graf Ladislaus von Haag. Während sich über den Grafen von Solms nichts Näheres herausfinden lässt, ist Graf Ladislaus von Haag (um 1505–1566) kein Unbekannter.³² Ladislaus hatte kein juristisches Studium absolviert, sondern war dem Kriegsdienst ver Ein Thema, das in den Richternotizen sehr ausführlich behandelt wird. Siehe hierzu Konrad Bünting: Niedersächsische Staatsbibliothek Hannover 1022 Zg Ms II 276 D 202, f. 169r-170v. Bei dieser Handschrift könnte es sich auch um Notizen eines Praktikanten handeln, da Bünting nicht als Assessor geführt wird. Zu Austrägalgerichtsbarkeit allgemein, siehe Michael Kotulla: „Austrägalinstanz“, in: HRG 1, Sp. 387–388. Berlin 2005. Siehe auch Siegrid Westphal: Austräge als Mittel der Streitbeilegung im frühneuzeitlichen Adel des Alten Reiches, in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Mit Freundschaft oder Recht? Inner- und außergerichtliche Alternativen zur kontroversen Streitentscheidung im 15.–19. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2015 (QFHG 65), S. 159–174. Umfangreiche Forschungen für die Frühe Neuzeit gibt es hierzu nicht. ÖStA HHStA Wien, Handschrift blau, Nr. 781, fol. 16v–17r von Werner von Themar. Johann Werner von Themar hatte die Rechte studiert. Von 1531 bis 1534 war er in der Artistenfakultät in Heidelberg eingeschrieben. Zwischen 1535 und 1541 erfolgte seine Promotion zum Doktor der Rechte. Schließlich wurde er Reichskammergerichtsassessor. Johann Werner von Themar gehörte dem Heidelberger Juristenkreis an und starb 1553 in Speyer. Siehe Baumann: Die Tatbestände Landfriedens- und Religionsfriedensbruch (wie Anm. 19), S. 238, Fußnote 42. Siehe Biographie Ladislaus von Frauenberg, Graf zu Haag 1557, in: Stephan Kemperdick (Bearb.): Das Frühe Porträt. Aus den Sammlungen des Fürsten von zu Liechtenstein und dem Kunstmuseum Basel. München/Berlin/London/New York 2006, S. 103–109.
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pflichtet. Georg von Leuchtenberg und er hatten in der Schlacht von Pavia gemeinsam gekämpft. Er war also ein Vertrauter oder wenigstens Bekannter des gefangenen Grafen. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass Ladislaus Großvater Sigmund von Fraunberg (1437–1521) Graf zu Haag Kammerrichter, also Stellvertreter des Kaisers am Reichskammergericht, gewesen war.³³ Seine Mutter Amalia von Leuchtenberg (1469–1538) war außerdem in zweiter Ehe mit Wilhelm Werner Freiherr von Zimmern (1485–1575) verheiratet, der als Richter und späterer Kammerrichter ebenfalls in Speyer lebte.³⁴ Entscheidend war letztendlich hier nicht die juristische Expertise, sondern allein die Standesqualität des Adels mit den daraus folgenden Vernetzungen und Bekanntschaften sowie der praktische Umstand der Anwesenheit der beiden Adeligen am Sitz des Reichskammergerichts in Speyer. Beide Episoden sind nur Beispiele für die Komplexität juristischer Verfahrensweisen, ihr Umgang mit Wissen und den daraus folgenden Entscheidungsprozessen und den beteiligten Akteuren. Die Untersuchung der Richternotizen steht erst am Anfang.³⁵ Die angeführten Beispiele und die in der Forschung gemachten unterschiedlichen Definitionen von Experten lenken den Blick gezielt auf die grundsätzlichere Frage, wie in der Justizpraxis Wissen überhaupt generiert und angewandt wurde. Erkenntnisse darüber sind nicht einfach zu gewinnen, da das Wissen der Juristen sich aus der Rechtspraxis und aus dem publizierten Recht speiste und sie dazu eine Vielfalt von Quellen nutzten. Pragmatische Literatur und populäre Medien, wie Handbücher für Praktiker, Flugschriften und Einblattdrucke, stehen neben gelehrten Abhandlungen, wie Traktaten, Regimentsliteratur sowie juristische Dissertationen. Hinzu kommen mündliche Elemente. Das Beispiel über den Grafen von Leuchtenberg zeigt es deutlich. Es entstand ein medialer Kontext, indem sich in einem juridisch-politischen Gedankenaustausch vielgestaltige, auch interdependente Wissensbestände und Praktiken trafen. Zur Erforschung bedarf es deshalb
Siehe Biographie Sigmund von Fraunberg, Graf zu Haag, in: Kemperdick (Bearb.): Das Frühe Porträt (wie Anm. 32), S. 66–71. Zu Zimmern in seiner Rolle als Assessor, Kammerrichter (= Vorsitzender des Reichskammergerichts) und Visitator siehe Anette Baumann: Visitationen am Reichskammergericht. Speyer als politischer und juristischer Aktionsraum des Reiches (1529–1588). Berlin/Boston 2018 (baR 24), S. 19– 21, 66 f., 89, 104, 109–111, 132, 155, 161. Zu Zimmern als Vertreter des Adels: Siehe Andreas Bihrer: Habitus und Praktiken eines gelehrten Adeligen – Leben und Werk Graf Wilhelm Werners von Zimmern, in: Casimir Bumiller/Bernhard Rüth/Edwin Ernst Weber (Hrsg.), Mäzene, Sammler, Chronisten. Die Grafen von Zimmern und die Kultur des schwäbischen Adels. Stuttgart 2012, S. 107– 118. Dort auch weiterführende Literatur. Eine Biographie von Wilhelm Werner Freiherr von Zimmern wäre sehr wünschenswert. Siehe hierzu das DFG-Forschungsprojekt von der Autorin: „Entscheidungsfindung am Reichskammergericht. Richternotizen im langen 16. Jahrhundert.“
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einer ausgefeilten Methodik, die erst noch entwickelt werden muss. Der Band kann und will deshalb hierzu nur ein erster Aufschlag sein. Es soll aber in diesem Band versucht werden, das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wissensbestände, Diskussionsmodelle und Anwendungsbereiche der Juristen zu sammeln und zu beschreiben. Dabei sollen die oben angeführten Denkmodelle zu Experten als Folie dienen, um den spezifischen Austausch zwischen Theorie und Praxis, den die Juristen entwickelten, besser verstehen zu lernen. Schließlich waren Juristen die Ersten, die Codes von Unparteilichkeit entwickelten.³⁶ Dies geschieht in einem europäischen Kontext in Anbetracht der Tatsache, dass der Austausch der Juristen im 16. und 17. Jahrhundert international ausgerichtet war. Wie fruchtbar diese Überlegungen sein können, zeigt sich bereits im ersten Aufsatz, der sich methodisch mit dem Entscheidungsfindungsprozess am Reichshofrat beschäftigt und die bisherigen Forschungen zu diesem komplexen Verfahren einer kritischen Überprüfung unterzieht. Tobias Schenk befasst sich mit der Beziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, öffentlichen und privaten Orten und den Binnenbeziehungen kollegialer Spruchkörper und den daraus folgenden Konsequenzen für die Rechtsprechung. Entscheidend ist, dass im Laufe des 16. Jahrhunderts, die gleichmäßige Aktenkenntnis an Kollegialgerichten allmählich aufgegeben wurde. Die Akte bildete nun nur noch ein Teil des Verfahrens, denn in der Schreibstube des Berichterstatters fanden informelle Verhandlungsprozesse statt, die nicht verschriftlicht wurden. Entscheidend war jetzt nicht mehr nur der Vortrag im Rat und die dortige Diskussion, sondern vielmehr auch die Person des Referenten, seine persönlichen und beruflichen Verflechtungen, die auch Studienfreunde und Familie miteinschlossen. Es entstand ein Arkanbereich, der durch Mündlichkeit bestimmt war und außerhalb des Gerichtsgebäudes blieb. Gleichzeitig war diese Ebene mit größtmöglicher Scham besetzt, so dass man versuchte in Form der Einführung der Sollizitatur³⁷, das Verhalten zu legitimieren. Besonders anschaulich ist dies bei Verfahren am Reichshofrat, bei dem juristische Entscheidungen immer eng mit politischen Erwägungen verknüpft waren. Überlegungen in diese Richtung müssten auch für das Reichskammergericht angestellt werden. Schenk stellt deshalb die These auf, dass der gemeine Reichsprozess nur für diejenigen schriftlich war, die sich die mündliche Gesprächsebene nicht leisten konnten. Er plädiert eindringlich und mit überzeugenden Argumenten dafür, diese Vorgänge bei der Interpretation der Quellen stärker als bisher zu berücksichtigen und for Michael Stolleis: The legitimation of Law through God, Tradition, Will, Nature and Constitution, in: Lorraine Daston/Ders. (Hrsg.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe, Jurisprudence, Theology, Moral and Natural Philosophy. Burlington 2008, S. 45–56, S. 51. Siehe für das Reichskammergericht Bengt Christian Fuchs: Die Sollicitatur am Reichskammergericht. Köln/Weimar/Wien 2002 (QFHG 40).
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dert, dass das methodische Potential der genetischen Aktenkunde für die Rechtsgeschichte erkannt und das Zusammenspiel zwischen Prozessakten und Protokollen und/oder Richternotizen gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt. Letztlich gilt es zu untersuchen, wie das Spannungsverhältnis zwischen Macht und Konsens aussah und mit welchem rechtlichen Verfahren es verbunden werden musste. Der Beitrag von Sabine Holtz erweitert diese Sicht. Sie verlässt die Sphäre des Gerichts und seiner Prozessparteien und richtet den Blick beispielhaft für viele andere auf die Tübinger Juristenfakultät. Sie sieht die Fakultät und ihre praktische Arbeit als Garant der Württembergischen Territorialordnung, die eng in den gerichtlichen Instanzenzug des württembergischen Herzogtums eingebunden war, und zeigt damit die enge Verflechtung von juristischen Wissensbeständen und ihrer praktischen Anwendung in der württembergischen Verwaltung. Die Handhabung juristischen Wissens in der Verwaltung des Burgundischen Reichskreises untersucht der Rechtshistoriker Alain Wijffels. Er stellt fest, dass das Studium des römisch-kanonischen Rechts die Absolventen der Universitäten im Spätmittelalter als Kenner des guten Regiments dazu befähigte, auch bei ihrer Einsetzung in der Verwaltung eine wirksame und gerechte Politik zu konzipieren. Juristen waren deshalb besonders begehrt, weil sie Denkmuster und -methoden beherrschten, die es ihnen ermöglichte, Entscheidungsprozesse zu legitimieren. Es entstand eine spezielle Beratungstechnik bei gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren, die Konsilienpraxis genannt wird. Wijffels kann anhand mehrerer Beispiele aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zeigen, dass im politischen Entscheidungsprozess der Herrschenden Juristen bereits in einer sehr frühen Phase beteiligt waren. Seine Beispiele zeigen auch, dass rechtspolitische Erwägungen in der Praxis eine wichtige Rolle spielten. Allmählich schwand jedoch in Burgund der Einfluss der Juristen, weil ihre speziellen Diskussionsformen in der Verwaltung aufgegeben wurden. Gründe hierfür waren wohl eine neue protopositivistische Systematisierung der juristischen Methode, die nicht mehr in den Rats- und Regierungsgremien übernommen wurde, sowie die Emanzipation des Partikularrechts. Einen weiteren Aspekt kann Horst Carl aufzeigen. Er fragt in seinem Aufsatz, was Juristen dazu befähigte, sich mit ihren speziellen Wissensbeständen auch außerhalb der klassischen juristischen Handlungsfelder zu etablieren, um sich dann auf diesen Gebieten erfolgreich als Experten durchzusetzen. Als Beispiel dient ihm dazu die außergerichtliche Konfliktregelung der Landfriedensbünde und ihre Praktiken in der Schwellenzeit um 1500. Mit Blick auf den 1488 gegründeten Schwäbischen Bund wird deutlich, dass dieser bis zum Ende seiner Tätigkeit 1534 Streitschlichtungsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Ständen des Landfriedenbundes schuf und damit ständeübergreifend agierte. Dabei gelang dem Bund eine erfolgreiche Anpassung an die politischen und gesellschaftlichen Anforderungen der Zeit. Entscheidend war dabei Erfahrungswissen, juristische Expertise
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war eher die Ausnahme. Aber ab 1500, mit der Integration der Fürsten in den Bund, entstand ein institutionalisiertes Schiedsgericht mit Richtern, die nun rechtsgelehrt sein mussten. Die Folge davon war, dass sich das Bundesgericht immer mehr an die Praktiken des Reichskammergerichts anlehnte. Schließlich führte dies dazu, dass das Reichskammergericht und andere territoriale Gerichte die Aufgaben des Bundesgerichts übernahmen und dieses überflüssig wurde. Die weiteren Aufsätze schildern wie juristisches Wissen aus ganz unterschiedlichen Medien und Diskurszusammenhängen durch Exklusion und Inklusion geschickt in die Praxis umgesetzt wurde. Sie zeigen aber auch den umgekehrten Fall und demonstrieren so anschaulich die Fluidität juristischer Wissensbestände. So fragt Wim Decock in seinem Beitrag, wie Verträge zwischen unterschiedlichen Konfessionen ausgestaltet wurden. Hierzu analysiert er die Haltung der Jesuiten des frühen 17. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zu juristischem Fachwissen. Jesuiten legten besonders viel Wert auf juristische Argumentationen aus dem römisch-kanonischen Recht und der Moralphilosophie, wie sie von Aristoteles (384 v. Chr.–322 v. Chr.) und Thomas von Aquin (1225–1274) vertreten wurde. Zudem verstanden Jesuiten Recht als rationale Ordnung aus verschiedenen Ebenen, die ineinandergriffen. Juristen und Jesuiten wurden so Experten im Zusammenspiel. Jesuiten war es zudem in ihrer Rolle als Beichtväter möglich, das Gewissen von Geschäftsmännern oder Bankiers zu erleichtern, die Verträge zwischen unterschiedlichen Konfessionen abschließen wollten. Wichtig waren hier vor allem die Kenntnisse über das Vertragsrecht, die den Beichtvätern anempfohlen wurden. Besonders der Geldverkehr und die Handhabung des Wechsels in der Praxis interessierte Jesuiten und ihre Beichtkinder. So sollten Verbindlichkeiten zwischen Vertragspartnern, die nicht dem gleichen christlichen Glauben angehörten, immer eingehalten werden. Dies war vor allem in den Niederlanden mit seinen unterschiedlichen Konfessionen essentiell. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der sogenannte Dreifachvertrag (contractus trinus), der die Praxis der Finanzierung kommerzieller Geschäfte regelte. Einen ähnlichen Ansatz wie Wim Decock verfolgt David von Mayenburg mit seinem Aufsatz. Er beschreibt besonders anschaulich Juristen als Praktiker, die in Konkurrenz zu Medizinern und Theologen ein eigenes Konzept zur Seuchenbekämpfung entwickelten.Von Mayenburg weist zudem ausdrücklich darauf hin, dass „Juristen“ im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht unbedingt studierte gelehrte Personen waren, sondern auch rechtsausübende Laien als Juristen bezeichnet wurden. Auch verbot das damalige Bildungsideal einer umfassenden Gelehrsamkeit, die zahlreiche Doppelqualifikationen zuließ, Juristen als eine einheitlich zu definierende Gruppe zu sehen. Damit wird die Ambiguität und Einzigartigkeit der Juristen sowie ihre Fluidität noch einmal besonders unterstrichen. Juristenwissen besaß letztlich zwei Funktionen: es konnte der nichtjuristischen Welt zur
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Verfügung gestellt werden, wie z. B. einem Stadtrat oder ähnlichem, und es konnte der eigenen Gemeinschaft als Selbstvergewisserung dienen und so die juristische Positionierung gegen andere Wissenschaften wie z. B. die Medizin und die Theologie vorantreiben. Von Mayenburg kann dies am Beispiel der Pest besonders deutlich machen: Die Pest wurde im Mittelalter und Neuzeit von Medizinern, Theologen und Juristen auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet. Die Mediziner entwickelten im Mittelalter verschiedene Theorien und Überlegungen, in denen die Pest als Ergebnis astronomischer Konstellationen und ihrer Folgen gesehen wurde. Erst im 15. Jahrhundert wurden vor allem nördlich der Alpen konkrete Maßnahmen zur Pestbekämpfung seitens der Kommunen getroffen. Prävention wurde nun entscheidend. Die Theologen wandten sich erst im Zeitalter der Reformation dem Thema „Pest“ zu. Pest sahen sie als die Strafe Gottes, das bestimmte Handlungsoptionen ermöglichte. Diese gestalteten sich je nach Konfession unterschiedlich. Während sündenfreies Leben, Spenden und Gebet beide Konfessionen nannten, verblieben den Katholiken zusätzlich Wallfahrten, Bittgottesdienste, Prozessionen und Heiligenverehrung. Juristen beschäftigten sich ebenso wie die Theologen erst später mit der Pest. Zuerst standen vor allem Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Pest im Vordergrund. Für Juristen stand aber bereits früh fest, dass die Übertragbarkeit der Krankheit das entscheidende Kriterium sei. Ihren Vorstellungen folgten dann auch die zeitgenössischen Obrigkeiten, die sich der Empirie und politischen Nützlichkeiten verpflichtet fühlten. Entsprechende Maßnahmen wie Quarantäne waren die Folge. Deutlich wird dies an deutschen Territorien und Städten, die Ärzte mit der Doppelqualifikation Medizin und Rechtswissenschaften besaßen. Auffällig ist, dass gerade diese Personen in Padua studiert hatten, das in der Frühen Neuzeit als besonders innovativ galt. Auch Cornel Zwierlein befasst sich besonders mit dem Verhältnis der gelehrten Juristen zur alltäglichen Praxis. Er fächert in einem breiten Panorama das Leben und Wirken von Georg Obrecht (1547–1612) auf, indem er die pädagogischen Innovationen in seinen Schriften und seine Nähe zur Gerichtspraxis betont. Er zeigt in einer ausführlichen Biographie die äußeren Einflüsse auf den Straßburger Obrecht, der auf seiner Studienreise in Frankreich in Orléans die Bartholomäusnacht erlebte und nach der Beendigung seines Studiums in Basel in seine Heimatstadt Straßburg zurückkehrte. Von dort pflegte er intensive Kontakte zu Speyer, dem Sitz des Reichskammergerichts und der Kurpfalz. Der Gelehrte vermied es dabei, sich eindeutig für das lutherische oder reformierte Lager auszusprechen. Eine Berufung an das Reichskammergericht als Präsentatus der Kurpfälzer lehnte er ab. 1604 wurde Obrecht schließlich durch Rudolf II. geadelt. Zuvor war er bereits Rektor der Hohen Schule in Straßburg geworden und hatte ein Palatinat erhalten. Entscheidend ist bei Obrecht seine Methode, die sich eng an die Gerichtspraxis und die Bedürfnisse der rechtlichen Lebenswelt einer Reichsstadt orientiert.
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Streitgespräche in Form der heutigen mood-courts zur Einübung juristischer Sachverhalte wurden von ihm gerne genutzt. Eine Nähe zur Einführung der Praktikantentätigkeit³⁸ am Reichskammergericht kann hier nur vermutet werden. Daneben veröffentlichte Obrecht Disputationen: eine Literaturgattung, die eine hohe Werbewirksamkeit für die Hohe Straßburger Schule versprach. Römisch-kanonisches Recht wurde mit aktuellen juristischen Diskussionen und Fragestellungen verschränkt und damit aktualisiert. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist das Traktat „De Bello“, das 1590/92 in zwei Teilen gedruckt wurde. Es handelt von dem Ursprung der Kriegsrechtslehre, die eben auch auf die praktische Umsetzung in Bezug auf Musterung, Vereidigung der Söldnerheere und deren Praxis zielt. Obrecht rechnete den Krieg dem Völkerrecht zu und stellte eine Hierarchie der kriegsberechtigten Parteien im Reich auf. Neben seinen akademischen Aktivitäten war Obrecht auch in verschiedenen politischen Aus- und Verhandlungsprozessen im Auftrag des Straßburger Magistrats eingebunden. Trotzdem wurden seine politischen Ideen auch über den engeren Kreis Straßburgs hinaus diskutiert. In Obrecht zeigt sich besonders anschaulich, wie juristisches Wissen in Handlungsempfehlungen umgesetzt wurde. Die vorliegenden Aufsätze haben einerseits den engen Praxisbezug der Juristen augenscheinlich gemacht, aber andererseits auch die starke Verschränkung der Juristen mit anderen Wissensgebieten und ihre Handhabung aufgezeigt. Wegweisend war hierfür im 16. und 17. Jahrhundert das Konzept des allumfassenden Gelehrten. In diesem Band soll dieser Aspekt über literarische und politische Diskurse hinweg durch einen Blick auf einen besonderen Weg der Wissensgenerierung in Form der Wunderkammern und Literaturnutzung ergänzt werden. Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass die Betrachtung der Juristen als Gelehrte mit einer auf die Praxis ausgerichteten juristischen Zusatzbildung gerade für das 16. und 17. Jahrhundert neue Optionen der Erforschung eröffnet. So konnte jüngst das optische Wissen von Juristen des Reichskammergerichts erstmals erkannt und seine Umsetzung für die Rechtsprechung dargestellt werden.³⁹ In diesem Band kann Stephan Brakensiek an Wunderkammern das Ideal des allumfassenden Gelehrten aufzeigen. Sammeln war eine Tätigkeit von Gelehrten basierend auf Konzepte und Ideen, die in der Frühen Neuzeit eng mit den Natur-
Zu Praktikanten am Reichskammergericht Anette Baumann: The Imperial Chamber Court (1495– 1806) as an Educational and Training Institution, in: Mia Korpiola (Hrsg.), Legal Literarcy in premodern european societies. Cham 2019, S. 43–58 und Lena Frewer: Auf Reisen in Sachen Karriere – Rechtspraktikanten am Reichskammergericht neu betrachtet. Wetzlar 2021 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 49). Anette Baumann: Karten vor Gericht. Augenscheinkarten der Vormoderne als Beweismittel. Darmstadt 2022.
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wissenschaften und anderen Disziplinen verschränkt waren. Die entstandenen Sammlungen wurden als eine nach bestimmten Kategorien zusammengestellte Anzahl von Gegenständen definiert, die an einem eigens dafür eingerichteten Ort aufgestellt wurden und dort angesehen werden konnten. Die Objekte in der Sammlung enthielten einen Verweischarakter und wurden so zum mehrdeutigen Zeichenträger, der sich in verschiedenen Kategorien manifestierte. Sammeln diente damit als Grundlage zur Welterkenntnis, die auf memotechnischen Grundlagen beruhte. Im Laufe der Neuzeit, so die These von Brakensiek, sei eine deutliche Veränderung der Sammlungsintention zu erkennen, die sich an den neuen naturwissenschaftlichen Entwicklungen orientierten. Das bedeutete auch, dass Sammlungen nun für systematische Studien herangezogen wurden. Gegenstände waren nun nicht mehr ein Verweis auf etwas Anderes, sondern standen für sich und ihren Spezies selbst. Sammlungen selbst wurden damit nicht mehr als individuelle Erfahrungs- und Wissensorte des Sammlers begriffen, sondern sollten dem Verständnis einer Welt dienen, die sich an den empirischen Wissenschaften orientierte. Armin Schlechter untersucht das Nutzen von juristischen Wissensbeständen des Reichskammergerichts, indem er die Verbreitung der Bücher von Kameralschriftstellern in den Blick nimmt. Auch hier zeigt sich die enge Verflechtung zwischen Theorie und Praxis, da die Bücher vor allem von Juristen genutzt wurden, die mehr oder minder selbst mit den Reichskammergerichtsprozessen in Berührung kamen. So werden Ratskonsulenten und Syndici als besonders eifrige Sammler von Kameralliteratur genannt. Auch in fürstlichen bzw. adeligen Bibliotheken, überwiegend aus dem süddeutschen Raum, finden sich Werke. Die Vertrautheit mit den Gepflogenheiten des Reichskammergerichtsprozesses mit Hilfe von Lektüre konnte sich hier auf zweifache Weise als nützlich erweisen. Zum einem bei der Führung von eigenen Prozessen, zum anderen bei der Ernennung von Assessoren, oder Bewerbungen für das Amt des Reichskammergerichtspräsidenten oder des Kammerrichters. Ebenso scheint Kameralliteratur in Klöstern weit verbreitet gewesen zu sein. Dass Jesuiten diese Literatur besonders häufig sammelten, wundert nach den Ausführungen von Decock nicht weiter. Meist besaßen die Sammler aber nur Standardliteratur, die in hohen Auflagen verbreitet war. Auch das benachbarte Ausland, wie Frankreich und Dänemark waren an Kameralliteratur interessiert. Damit zeigt sich die weite Verbreitung und Standardisierung von Literatur durch juristische Produzenten, aber auch die Vorbildfunktion des Reichskammergerichts in der praktischen Umsetzung. Die Überschau zeigt deutlich: die bisherigen Definitionen für Experten sind auf den Berufsstand der Juristen nur zum Teil anwendbar. Sie helfen aber, die Verschränkung von Theorie und praktischer Anwendung nicht nur in der Rechtsprechung, sondern auch in der Verwaltung und Politik durch die Juristen besser zu verstehen, indem klar wird, dass Juristen eine besondere Methodik entwickelten:
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Sie konnten durch Rationalität Legitimität erzeugen und schafften Codes für Unparteilichkeit. Das geschieht durch die Hinzuziehung der Sachkenntnis von anderen und deren Umsetzung in die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der Zeit. Juristen sind zudem Meister der Inklusion fremden Expertenwissens. Gleichzeitig sind sie sich ihrer Wissensgrenzen wohl bewusst. Das bedeutet für künftige Forschungen: Die Handhabung von juristischem Wissen und der Entscheidungsfindungsprozess an Gerichten kann nicht nur anhand von richterlichen Gutachten nachvollzogen werden.⁴⁰ Die Quellenauswahl ist damit viel zu eng gefasst. Vielmehr müssen die Entscheider und ihr sozialer Hintergrund, die Verflechtung mit anderen Anwesenden und ihr spezielles Wissen im Entscheidungs- und Verfahrensprozess berücksichtigt werden. Es gilt den Prozess von Inklusion und Exklusion von Wissen anhand einer breitaufgestellten Quellenbasis zu beschreiben. Hierzu gehört es auch, mündliche Elemente zu berücksichtigen und zu benennen.
Siehe hierzu Anette Baumann (Bearb.): Gedruckte Relationen und Voten des Reichskammergerichts vom 16. bis 18. Jahrhundert. Ein Findbuch. Köln/Weimar/Wien 2004 (QFHG 48).
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Überlegungen zur Karriere eines umstrittenen juristischen Experten als Beitrag zu einer akteurszentrierten Fremdbeschreibung kollegialen Entscheidens
1 Juristische Expertenkulturen als Entscheidungskulturen Was nützt die Expertise in Gedanken? Schon in der Vormoderne war klar: „Vollkommene Juristen“ werden nicht im Studium, sondern erst im Fegefeuer der Praxis geschmiedet. In seinem 1792 publizierten Handbuch für junge Leute, die sich den Rechten widmen und auch für Eltern, die ihre Söhne zum Juristen bestimmen wollen, erläuterte der sächsische Advokat Friedrich August Fritzsche dem studentischen Nachwuchs, warum der Eintritt ins Berufsleben eine solche Zäsur darstelle. Der Rechtsgelehrte sei nämlich nicht blos Rechtsgelehrter; nein: Er ist auch Mensch. Als Mensch muß der Rechtsgelehrte, er mag nun wollen oder nicht, – handeln. Er handle nun gut oder schlecht, so handelt er in beiden Fällen nach Grundsätzen (Ursachen), welche sich auf äussere und innere Verhältnisse, worinnen er als Mensch steht, stützen. ¹ Ins gleiche Horn stieß 1812 der Göttinger Juraprofessor Gustav Hugo: Wer einmal so viel weiß, als man zur Praxis braucht, der fühlt wohl, Anfangs etwa, noch eine Lücke in seiner gelehrten Kenntniß, nach und nach verliert er aber auch dieses unangenehme Gefühl und die Bekanntschaft mit dem Praktischen dient ihm statt der Gelehrsamkeit. Das Gelehrte kann nie in einem weniger interessanten Lichte erscheinen als wenn es von dem Practischen aus betrachtet wird, so wie umgekehrt das Practische nie so sehr als Handwerk aussieht als neben gelehrten Untersuchungen. ² Die Einschätzungen Fritzsches und Hugos, denen sich mühelos ähnliche Stellungnahmen aus der Gegenwart zur Seite stellen ließen,³ führen geradewegs zu der
Friedrich August Fritzsche: Der vollkommene Jurist. Ein Handbuch für junge Leute, die sich den Rechten widmen und auch für Eltern, die ihre Söhne zum Juristen bestimmen wollen. Leipzig 1792, S. 651. Gustav Hugo: Über Facultätsarbeiten, in: Civilistisches Magazin 3 (1812), S. 102–110, hier S. 105. Zwischen der „Praxis der juristischen Methodenlehre und der Methode der gerichtlichen Praxis“ differenziert beispielsweise Bundesverwaltungsrichter Hans-Joachim Strauch: Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. Prozesse richterlicher Kognition. Freiburg 2017, S. 59. https://doi.org/10.1515/9783111070346-003
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Einsicht, dass Expertise nicht etwa gedacht, sondern getan wird. Diesen Handlungsbezug, der nach rechtsphilosophischer Erkenntnis durch Vermachtung und Kommodifizierung geprägt ist,⁴ klammern wissenschaftsgeschichtliche Darstellungen jedoch häufig aus,⁵ um ein unterkomplexes, die Bahnen einer Selbstbeschreibung des Rechtssystems kaum überschreitendes Bild ihres Gegenstandes zu zeichnen. Demgegenüber führt der Weg zu einer geschichtswissenschaftlichen Fremdbeschreibung⁶ juristischer Expertise, ihres Geltungsanspruches und ihrer gesellschaftlichen Funktion nicht etwa über eine mit aufklärerischem Gestus betriebene Demaskierung von Dogmatik und Methodenlehre. Schließlich verlöre eine Fremdbeschreibung, die sich die logischen Strukturen der Selbstbeschreibung nicht einverleibte, das Recht und damit die Essenz juristischer Expertise aus dem Blick.⁷ Stattdessen sollte es, wie unlängst von Thomas Duve gefordert,⁸ im interdisziplinären Gespräch darum gehen, mithilfe praxeologischer, wissens- und organisationssoziologischer sowie diskursanalytischer Instrumentarien⁹ eine Komplexitätssteigerung herbeizuführen, die es erlaubt, über rechtliches Wissen auf eine differenziertere Weise nachzudenken, als dies bislang geschieht.
Alexander Somek: Rechtliches Wissen. Frankfurt a. M. 2006, S. 14–16. Dies gilt beispielsweise für: Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1990), 2 Bde. 3. Aufl., München 2021. Dass der Verwertungskontext juristischer Expertise bereits in der Frühen Neuzeit marktförmig ausgestaltet war, verdeutlicht indes die innovative Studie von Ulrich Falk: Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 22). Frankfurt a. M. 2006. Zum Verhältnis von Selbst- und Fremdbeschreibung Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung. 2. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 417–443; André Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zu einer Soziologie des soziologischen Wissens. Frankfurt a. M. 2004. Vgl. Niklas Luhmann: Rechtssoziologie. 4. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 5. Thomas Duve: Rechtsgeschichte als Geschichte von Normativitätswissen?, in: Rechtsgeschichte – Legal History 29 (2021), S. 41–68; vgl. mit Blick auf das Reichskammergericht Thorsten Keiser: Prozesse vor dem Reichskammergericht als Praktiken in der frühen Neuzeit. Wetzlar 2020 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 48). Zu den genannten Forschungskonzepten: Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1979; als neuerer Überblick: Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282–301; Achim Landwehr: Wissensgeschichte, in: Rainer Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz 2007, S. 801–813; Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172; Marian Füssel: Wissen. Konzepte – Praktiken – Prozesse. Frankfurt a. M./New York 2021 (Historische Einführungen, Bd. 19); Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2018 (Historische Einführungen, Bd. 4).
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Bevor dies gelingen kann, ist der Handlungsbezug juristischer Expertise zu definieren. Bei all ihren mitunter bis zur Sprachlosigkeit reichenden Kommunikationsproblemen sind sich Vertreter von Jurisprudenz, Philosophie und Soziologie darüber einig, dass dieser Bezug durch eine ausgeprägte Entscheidungsaffinität gekennzeichnet ist.¹⁰ Demnach besteht der gesellschaftliche Verwertungskontext rechtlichen Wissens darin, soziale Konflikte einer wie auch immer gearteten juristischen Bearbeitung (nicht: Lösung)¹¹ zugänglich zu machen. Als epochenübergreifende Minimaldefinition lassen sich juristische Expertenkulturen somit als Entscheidungskulturen¹² beschreiben, die gegenüber konkurrierenden Imperativen religiöser, politischer oder moralischer Provenienz über eine gewisse Autonomie verfügen. Juristischer Expertise wird man sich folglich durch Analysen juristischen Entscheidens anzunähern haben. Da sich Kognition der wissenschaftlichen Beobachtung und damit auch einer Historisierung entzieht, muss hierzu der Blick nicht auf individuelle Denkprozesse, sondern auf jene kommunikativen Strukturen, materialen Artefakte und Alltagstechniken gerichtet werden, durch die juristisches Entscheiden produziert und reproduziert wird.¹³ Und wenn Diskurse auch ein halbes Jahrhundert nach Foucault noch immer als Praktiken zu behandeln sind, „die systematisch die Gegenstände formen, von denen sie sprechen“,¹⁴ müsste in einer Fremdbeschreibung juristischen Entscheidens auch die Diskursanalyse zu
Christian Baldus: Geschichte der Rechtsmethode – Methode der Rechtsgeschichte. Der Entscheidungsspielraum als Angelpunkt rechtsgeschichtlichen Methodendenkens, in: Juristenzeitung 74 (2019), S. 633–639; Somek: Rechtliches Wissen (wie Anm. 4), S. 11; Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2020, S. 364 f. Dass Gerichte soziale Konflikte „lösen“ bzw. „entscheiden“, stellt unter (Rechts‐)Historikern einen verbreiteten Irrtum dar. Dabei kann selbst aus Prozessakten kaum abgelesen werden, welche Sozialbeziehungen einem Rechtsstreit „tatsächlich“ zugrunde lagen und wie diese Beziehungen durch die juristische Behandlung beeinflusst wurden. Gerichte bilden lediglich eines von zahlreichen Foren gesellschaftlichen Konfliktaustrages. Hierzu Luhmann: Recht der Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 374 f.: Die „Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Kommunikationen, zu denen Rechtsfälle und ihre besonderen Probleme Anlaß geben, repräsentieren als solche nicht etwa die Umwelt des Systems. Rechtsfälle und darauf bezogene Kommunikationen gibt es nur im System für das System“. Begriff nach Philip Hoffmann-Rehnitz/André Krischer/Matthias Pohlig: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281, hier S. 250. Luhmann: Organisation und Entscheidung (wie Anm. 6), S. 141 f.; für ein Verständnis von Entscheiden als soziales Handeln plädiert auch Barbara Stollberg-Rilinger: Für eine Historisierung des Entscheidens, in: Erwägen Wissen Ethik 25/3 (2014), S. 487–489. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. 19. Aufl., Frankfurt a. M. 2020, S. 74; vgl. zur Anwendung diskursanalytischer Methoden auf den Bereich des Rechts Doris Schweitzer: Diskursanalyse, Wahrheit und Recht: Methodologische Probleme einer Diskursanalyse des Rechts, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 35 (2015), S. 201–221.
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ihrem Recht kommen. Bei aller notwendigen Positivismuskritik¹⁵ wären diese Konzepte nicht etwa gegen die normengeschichtlichen Expertise der Rechtsgeschichte auszuspielen, sondern konsequent mit dieser zu verknüpfen, sofern man dem Gegenstand methodisch gerecht werden will. Damit ein solches Vorhaben nicht von vorneherein ausufert, muss, wer von juristischen Entscheidungskulturen spricht, zunächst klären, von welchen Juristen überhaupt die Rede sein soll. Schließlich entpuppte sich das im 19. Jahrhundert ersonnene Konstrukt des „Einheitsjuristen“ im wahren Leben schon immer als eine Chimäre.¹⁶ Kaum anders als in unseren Tagen war die Praxis eines Richters bereits vor 300 Jahren eine andere als die eines Anwalts, eines Ministers oder eines Universitätsprofessors, so dass man es auch als Frühneuzeitforscher bereits mit einem stark ausdifferenzierten Berufsstand zu tun hat.
2 Kollegialität als persistente Entscheidungsprämisse neuzeitlicher Justiz Im Folgenden werden jene Juristen in den Blick genommen, die als Richter die „Hauptpforte“ bilden, durch die das Recht „aus dem Reiche der Idee in das Reich der Wirklichkeit eingeht“.¹⁷ Allerdings ist ein solcher Zuschnitt noch immer nicht hinreichend präzise, denn das Handwerk eines Justitiars an einem ostelbischen Patrimonialgericht unterschied sich viel zu sehr von demjenigen eines Assessors des Reichskammergerichts, als dass es sinnvoll erschiene, beide unbesehen ein- und derselben Expertenkultur zuzuordnen. Betrachtet man Patrimonialgericht und Reichskammergericht aus dem Blickwinkel historischer Organisationsforschung,¹⁸ steht man vor einer Differenz der Die im Übrigen nicht nur von Historikern geübt wird. Vgl. aus rechtswissenschaftlicher Perspektive lediglich Benjamin Lahusen: Rechtspositivismus und juristische Methode. Betrachtungen aus dem Alltag einer Vernunftehe. Weilerswist 2011. Von einer „Fiktion“ spricht mit Blick auf die Gegenwart Brun-Otto Bryde: Juristensoziologie, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts. Tübingen 2000, S. 137–155, hier S. 154. Schon Eugen Ehrlich betonte: „Eigentlich sollte es so viele Rechtslehren geben, als es juristische Berufe gibt.“ Siehe ders.: Grundlegung der Soziologie des Rechts. 5. Aufl., Berlin 2022, S. 27. Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie I. Heidelberg 1987 (Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 1), S. 143. Die Instrumentarien der Organisationssoziologie wurden für die funktional differenzierte Moderne entwickelt, weshalb der historische Horizont der Disziplin bislang kaum hinter das 19. Jahrhundert zurückreicht. In jüngerer Zeit setzt sich jedoch sowohl in der Soziologie als auch in der Geschichtswissenschaft die Erkenntnis durch, dass der organisationssoziologische Werkzeugkasten auch von der Frühneuzeitforschung mit Gewinn eingesetzt werden kann. Als soziologische
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Entscheidungsprämissen,¹⁹ die seit mehr als 500 Jahren die mehrstufige Gerichtsbarkeit aller politischen Systeme der deutschen Geschichte prägt: Während lokale Eingangsinstanzen in der Regel mit Einzelrichtern besetzt sind, hat man es auf höherer Ebene mit Kollegien zu tun, wobei epochenübergreifend das Gros der von der Gesellschaft angefragten gerichtlichen Entscheidungen nicht etwa von Spruchkörpern, sondern von Einzelrichtern getroffen wurde und wird.²⁰ Wenn es im Folgenden um juristische Experten geht, die sich nicht als Einzelkämpfer, sondern als Mitglieder von Kollegien durchs Berufsleben schlugen, so geschieht dies keineswegs in der Absicht, zu einer intellektuellen „Höhenkammwanderung“²¹ aufzubrechen, vor der in jüngster Zeit mit guten Gründen gewarnt wurde. Meinen Ausführungen liegt vielmehr die Überzeugung zugrunde, dass es gerade mit Blick auf die Gipfel juristischer Expertise an der Zeit ist, jene Komplexitätsreduktionen zu überwinden, die mit der überkommenen „Rationalisierung und Intellektualisierung des Sozialen und des Handelns“²² unweigerlich verbunden sind. Schließlich ist es nicht der frühneuzeitliche Einzelrichter, sondern die kollegialisch organisierte Reichsgerichtsbarkeit, bei deren Analyse in einem eigentümlichen Amalgam aus juristischer Traditionspflege und geschichtspolitisch moti-
Stellungnahmen seien genannt: Rena Schwarting: Organisationsbildung und gesellschaftliche Differenzierung. Empirische Einsichten und theoretische Perspektiven. Wiesbaden 2020; dies.: Zur Programmatik einer historisch-soziologischen Organisationsforschung, in: Marcus Bö ick/Marcel Schmeer (Hrsg.), Im Kreuzfeuer der Kritik: Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2020, S. 103–138; Philipp Jakobs: Max Weber und die Organisationssoziologie. Überlegungen zu einem Begriff der vormodernen Organisation. Wiesbaden 2021; aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive: Franziska Neumann: Vormoderne Organisationen. Mitgliedschaft und „formale Organisation“ in der sächsischen Bergverwaltung des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 47 (2020), S. 1–38; dies.: Die Ordnung des Berges. Formalisierung und Systemvertrauen in der sächsischen Bergverwaltung (1470–1600), Wien/Köln/Weimar 2021 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 52); Benjamin Bühring: Die Deutsche Kanzlei in London. Kommunikation und Verwaltung in der Personalunion. Großbritannien – Kurhannover 1714–1760. Göttingen 2021 (Göttinger Schriften zur Landesgeschichte, Bd. 1). Zum soziologischen Verständnis von Entscheidungsprämissen Luhmann: Organisation und Entscheidung (wie Anm. 6), S. 222–255. Beispielsweise erledigen die mit Einzelrichtern besetzten Amtsgerichte von den rund 1,5 Millionen Zivilprozessen, die in der Gegenwart alljährlich in Deutschland geführt werden, mehr als zwei Drittel. Siehe: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Statistisches Jahrbuch. Deutschland und Internationales 2018. Zwickau 2018, S. 316. Peter Oestmann: Zur Typologie frühneuzeitlicher Gerichte – einige norddeutsche Schlaglichter, in: Anja Amend-Traut/Josef Bongartz/Alexander Denzler/Ellen Franke/Stefan Andreas Stodolkowitz (Hrsg.), Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich. Wien/Köln/Weimar 2020 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 73), S. 57–76, hier S. 76. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken (wie Anm. 9), S. 296.
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vierter „Rehabilitation“²³ des Alten Reiches noch immer Vorstellungen von höchstgerichtlichen Zweck-Mittel-Rationalitäten mitlaufen, an die jenseits des eigenen Tellerrandes bereits seit Jahrzehnten kaum noch jemand glauben will.²⁴ Zwar zog die in den 1970er Jahren entwickelte, in der Reichsstaatsdebatte der Jahrtausendwende noch einmal revitalisierte Vereinnahmung des Heiligen Römischen Reiches für eine spezifisch deutsche Rechtsstaatstradition²⁵ in jüngerer Zeit bereits fundierte Kritik auf sich,²⁶ doch wurde sie mit all ihren modernisierungstheoretischen Implikationen noch keineswegs umfassend dekonstruiert. Infolgedessen operiert die Forschung häufig weiterhin mit anachronistischen Begriffen, die einen wesentlichen Teil vormoderner juristischer Praxis von vorneherein ausblenden.²⁷ Und da nicht nur Juristen, sondern auch Historiker noch immer dazu neigen, informale Strukturbildungen zu pathologisieren anstatt sie über den organisationssoziologischen Dreiklang aus Schaufassade, Formalstruktur und
Edgar Liebmann: Die Rezeptionsgeschichte des Alten Reichs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Lesebuch Altes Reich. München 2006 (bibliothek altes Reich, künftig: baR, Bd. 1), S. 8–12, hier S. 12. Bereits 1968 konstatierte Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen. 7. Aufl., Frankfurt a. M. 2016, S. 18: „Als einzig anerkannte Handlungsbeschreibung findet das Zweck/Mittel-Schema im alltäglichen, aber auch in wissenschaftlichen Vorstellungszusammenhängen immer noch ganz unbefangen Verwendung. Und doch ist der Geltungsanspruch und schon gar der Wahrheitsanspruch dieser Handlungsauslegung seit langem erschüttert.“ Vgl. aus jüngerer Zeit lediglich die prononcierte Würdigung des Alten Reiches als „Rechtsstaat“ bei Johannes Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763. Stuttgart 2006 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 11), S. 70. So etwa in der innovativen Studie von Thomas Dorfner: Mittler zwischen Haupt und Gliedern. Die Reichshofratsagenten und ihre Rolle im Verfahren (1658–1740). Münster 2015 (Verhandeln / Verfahren / Entscheiden – Historische Perspektiven, Bd. 2), S. 254: „Das Rechtsstaats-Narrativ und mit ihm die Konstruktion positiv besetzter Traditionslinien […] lassen sich nicht mit der Wahrnehmung und dem Wissen der zeitgenössischen Akteure in Einklang bringen.“ Vgl. von juristischer Seite Armand Maruhn: Prozesse niederadeliger Grundherren gegen Dorfgemeinden vor dem hessischen Hofgericht 1500–1620. Ein Beitrag zum Konzept der „Verrechtlichung sozialer Konflikte“ in der Frühen Neuzeit, in: Werner Conze/Alexander Jendorff/Heide Wunder (Hrsg.), Adel in Hessen, Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. Marburg 2010 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 70), S. 269–291, hier S. 272 f.: „Dass ein Rechtsstaat ohne Demokratie und Parlamentarismus denkbar wird, ist eine deutsche Fehlentwicklung. […] Man sollte vor diesem Hintergrund die so genannten rechtsstaatlichen Traditionen vor 1806 nicht allzu positiv hervorheben. Das gilt umso mehr, wenn man Sonderwegsthesen eigentlich ablehnt.“ Zu diesem Schluss gelangt aus rechtshistorischer Perspektive auch Thomas Simon: Art. „Gericht“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart 2006, Sp. 514–524, hier Sp. 514.
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Hinterbühne²⁸ konzeptionell in die gerichtliche Entscheidungspraxis zu integrieren, herrscht an idealisierenden Interpretationen vormoderner juristischer Expertise, die sich von zeitgenössischen Wahrnehmungen deutlich abheben, kein Mangel.²⁹ Nach alledem sollte der Handlungsbezug juristischen Expertenwissens innerhalb von Spruchkörpern also nicht etwa zum Gegenstand einer geschichtswissenschaftlichen Fremdbeschreibung gemacht werden, um überholten Top-Down-Konzepten historischen Wandels zu huldigen, sondern um die große Modernisierungserzählung mit Beobachtungen zu konfrontieren, die dazu geeignet sind, gängige Interpretationen einer kritischen Evaluation zu unterziehen. Hierzu werde ich mich an Karl Weick halten und meinen Gedanken freien Lauf lassen, um die „Vielfalt des Phänomens durch Vielfalt im Beobachter“³⁰ wettzumachen. Soll heißen: Wo immer mir dies sinnvoll erscheint, werde ich in den Werkzeugkasten von Systemtheorie, Handlungstheorie, Organisationsoziologie, Wissensgeschichte, Wissenssoziologie und Diskursanalyse greifen, ohne mich um die zwischen den genannten Disziplinen ausgetragenen Hahnenkämpfe auch nur im Geringsten zu bekümmern. Das Wagnis dieses Jonglierens im begrenzten Rahmen eines Aufsatzes gehe ich in der Absicht ein, Wege aufzuzeigen, über die sich Studien zu frühneuzeitlichen Justizkollegien in eine interdisziplinär und epochenübergreifend konzipierte Justizforschung einbringen ließen. Denn nach meiner Überzeugung bildet die Rechtsgeschichte der Frühen Neuzeit auch nach dem Abschied vom brüchig gewordenen Modernisierungsnarrativ einen Gegenstand, auf den im Rahmen kritischer Forschungen zur Justiz in ihren historischen Bedingtheiten keineswegs verzichtet werden kann. Umsichtige Analysen vormoderner juristischer Expertise mithilfe kulturwissenschaftlicher Methoden führen nämlich keineswegs dazu, die Bezüge zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart zu negieren. Ganz im Gegenteil: Wenn es die Semantik der Moderne ist, die einem tieferen Verständnis kollegialen
Zum organisationssoziologischen Verständnis von Formalität und Informalität weiterhin grundlegend Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994. 4. Aufl., Berlin 1995 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 20); sowie Stefan Kühl: Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. 2. Aufl., Wiesbaden 2020; vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive: Barbara Stollberg-Rilinger: Die Frühe Neuzeit – eine Epoche der Formalisierung?, in: Andreas Höfele/Jan-Dirk Müller/Wulf Österreicher (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche. Berlin/Boston 2013, S. 3–27. Kritische Anmerkungen zu dieser offensichtlichen Diskrepanz bei Stefan Brakensiek: Juristen in frühneuzeitlichen Territorialstaaten. Familiale Strategien sozialen Aufstiegs und Statuserhalts, in: Günther Schulz (Hrsg.), Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2000 und 2001. München 2002 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 25), S. 269–289, hier S. 269. Karl E. Weick: Der Prozeß des Organisierens. 7. Aufl., Frankfurt a. M. 2018, S. 94.
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Entscheidens in der Frühen Neuzeit im Wege steht, weil sie unweigerlich dazu führt, „die Geschichte der Vergangenheit in die Begriffe der Gegenwart zu fassen“,³¹ steht vor jeder Historisierung der Vormoderne eine Historisierung unserer Gegenwart – der einzigen Wirklichkeit, mit der man es als Historiker zu tun hat.³² Bevor von frühneuzeitlichen Justizkollegien wie dem Reichshofrat, dem Reichskammergericht oder den zahlreichen territorialen Obergerichten und Juristenfakultäten die Rede sein kann, muss man sich der historisch keineswegs voraussetzungslosen Assoziationen bewusstwerden, die moderne Kollegialgerichte in unseren Köpfen hervorrufen. Dieser Weg ist kein Umweg und nichts weniger als präsentistisch, sondern dient dem erkenntnisfördernden Blick über die Schulter auf jenes kulturelle Gepäck, das wir auf dem Rücken tragen, wenn wir„Kollegialprinzip“ sagen. Leserinnen und Leser erwartet auf den folgenden Seiten also zunächst eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum der Bundesgerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht eigentlich nicht mit Einzelrichtern besetzt, sondern kollegialisch organisiert sind. Einzelrichter sind schließlich auch juristische Experten, arbeiten schneller und kämen den Steuerzahler weitaus günstiger zu stehen als all die Spruchkörper. Warum also kann eine Mietsache am Amtsgericht durch einen Einzelrichter entschieden werden, eine Revision im Strafprozess oder eine Verfassungsbeschwerde aber nicht? Dass diese Strukturen nicht in der Natur der Sache begründet, sondern erklärungsbedürftig sind, verdeutlicht die Tatsache, dass der Einzelrichter an den prinzipiell kollegialisch organisierten Land- und Oberlandesgerichten bereits seit Jahrzehnten auf dem Vormarsch ist und dass für diese Entwicklung nicht etwa juristische, sondern außerrechtliche (sprich: finanzielle) Erwägungen des Gesetzgebers verantwortlich zeichnen.³³ Sind aber die Gründe für die Persistenz des Kollegialprinzips in der Rechtsprechung weniger im Rechtssystem selbst, sondern in der Umwelt zu suchen, muss danach gefragt werden, auf welche gesellschaftlichen Erwartungen kollegiales Entscheiden in der Gegenwart reagiert und wie sich dies in der Formalstruktur von Kollegialgerichten niederschlägt. Dabei ist von der soziologischen Erkenntnis auszugehen, dass der formale Aufbau von Organisationen nicht lediglich der technisch-
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. 16. Aufl., Frankfurt a. M. 2016, S. 43. Hierzu Gebhard Rusch: Konstruktivismus und Traditionen der Historik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8 (1997), S. 45–76, hier S. 47. Hierzu im Überblick Markus Tüxen: Kollegialprinzip oder Einzelrichter. Die Entwicklung des zivilrechtlichen Spruchkörpers bei den Landgerichten sowie den Oberlandesgerichten seit 1879 unter besonderer Berücksichtigung der Reformen von 1974 und 1976. Frankfurt a. M. u. a. 2009 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 395).
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rationalen Aufgabenerledigung dient, sondern zugleich als Schaufassade fungiert, die gegenüber der Umwelt ein von Rationalitätsmythen geprägtes Bild interner Arbeitsprozesse vermittelt.³⁴ Bei näherem Hinsehen wird sich nämlich zeigen, dass noch heute die bereits 1908 formulierte Einsicht des Prager Gerichtsadjunkten Gustav Fuchs Gültigkeit beanspruchen kann, wonach „das von der Theorie konstruierte Modell des Kollegiums kaum einen Schönheitsfehler aufweist. Bei einem für das wirkliche Leben bestimmten praktischen Institut treten jedoch Fragen der Ästhetik in den Hintergrund.“³⁵ Wie viele andere Juristen im langen 19. Jahrhundert rieb sich Fuchs an einem Bestandteil kollegialgerichtlicher Formalstruktur, der ebenso praktisch wie unästhetisch war, da er in der ursprünglichen Konzeption des Kollegialprinzips nicht nur nicht vorgesehen, sondern mit diesem in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis stand. Diese Diskrepanz zwischen hehrer Theorie und prosaischer Praxis verkörpert ein juristischer Experte, der an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühneuzeit die Bildfläche betrat und sich seitdem trotz diverser Versuche, ihn wieder loszuwerden, als Stehaufmännchen entpuppt hat. Die Rede ist vom dominus referens, ohne dessen Aktenkenntnis kaum ein vormodernes Justizkollegium auskam und der als Berichterstatter noch in der Gegenwart einen allgegenwärtigen Faktor kollegialen Entscheidens bildet. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, die Expertise dieser Berichterstatter mit geschichtswissenschaftlichen Mitteln zum Gegenstand einer soziologisch informierten Fremdbeschreibung zu machen, um die dem Kollegialitätsprinzip inhärente Anonymisierung des Entscheidungsprozesses zugunsten einer Rückkehr des richterlichen Subjekts³⁶ aufzubrechen und auf diese Weise sowohl die Mikrologik juristischen Entscheidens als auch deren gesellschaftliche Diskursivierung in den Blick zu nehmen. Ein solcher Versuch stellt ein umso größeres fachliches Wagnis dar, als er nur gelingen kann, sofern die in der historischen Forschung etablierten Epochengrenzen wie jene unnützen Scheuklappen behandelt werden, die sie tatsächlich sind. Beginnen wir also in der Moderne.
Hierzu klassisch John W. Meyer/Brian Rowan: Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83 (1977), S. 340–363. Gustav Fuchs: Zur Kritik kollegialer Rechtsfindung, in: Juristische Vierteljahresschrift 40 (1908), S. 89–128, hier S. 111. Reinhard Sieder: Die Rückkehr des Subjekts in den Kulturwissenschaften. Wien 2004.
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3 Gesellschaftliche Rationalitätserwartungen an moderne Kollegialgerichte Wie ein Blick auf die Evolution der zweiten Staatsgewalt zeigt, war es keineswegs von vorneherein ausgemacht, dass Kollegialität in der Rechtsprechung alle Reformen und Systembrüche der vergangenen 500 Jahre weitgehend unbeschadet überdauern sollte. Schließlich hat man im Bereich der sich im 19. Jahrhundert ausdifferenzierenden Exekutive kollegiales Entscheiden vielfach zugunsten des bürokratisch-monokratischen Prinzips aufgegeben.³⁷ Noch dazu erfolgte diese Verabschiedung einer Entscheidungsprämisse, die seit Menschengedenken das „Sakrament“³⁸ aller höheren Landesverwaltung gebildet hatte, nicht etwa bedauernd, sondern im Gestus einer Modernisierung, die sich neben einer gesteigerten Geschwindigkeit des Verwaltungshandelns auch eine höhere Rationalität administrativen Entscheidens auf die Fahnen geschrieben hatte. An prominenter Stelle wird diese Umwertung aller Werte in den Gedanken und Erinnerungen Bismarcks deutlich, der aus seiner in den 1830er Jahren bei den Regierungskollegien von Aachen und Potsdam erlittenen Referendarzeit die Erkenntnis mitgenommen hatte, „daß die amtlichen Entschließungen an Ehrlichkeit und Angemessenheit dadurch nicht gewinnen, daß sie collegialisch gefaßt werden; abgesehn davon, daß Arithmetik und Zufall bei dem Majoritätsvotum an die Stelle logischer Begründung treten, geht das Gefühl persönlicher Verantwortung, in welcher die wesentliche Bürgschaft für die Gewissenhaftigkeit der Entscheidung liegt, sofort verloren, wenn diese durch anonyme Majoritäten erfolgt“.³⁹ Für den Eisernen Kanzler war das altehrwürdige Kollegialprinzip in der Verwaltung also nicht nur langsam, sondern auch unlogisch, verantwortungslos und deshalb irrational, und Woodrow Wilson hat das ganz genauso gesehen.⁴⁰ Die Äußerungen der beiden Staatsmänner verweisen auf einen diskursiv induzierten Kulturwandel, der mit weitreichenden Eingriffen in die Formalstruktur der Verwaltung einherging und in der Rückschau geradewegs zu der soziologischen Erkenntnis führt, dass
Der im 19. Jahrhundert zu beobachtende Siegeszug des monokratischen Prinzips sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass zahlreiche Exekutivorgane mit der Bundesregierung an der Spitze weiterhin kollegialisch organisiert sind. Hierzu grundlegend Thomas Groß: Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation. Tübingen 1999 (Jus Publicum, Bd. 45). Hans Hattenhauer: Geschichte des Beamtentums. Köln 1980, S. 202. Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, Bd. 1. Berlin/Heidelberg 1931, S. 48. Woodrow Thomas Wilson: Das Studium der Verwaltung, in: Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Verwaltungswissenschaft. Darmstadt 1976, S. 57–85.
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Logik nicht etwa „in den Institutionen und ihrer äußeren Funktionalität [zu suchen ist], sondern in der Art, in der über sie reflektiert wird“.⁴¹ Eine gründliche Recherche im Schrifttum des 19. Jahrhunderts würde Positionen zu Tage fördern, die darauf abzielten, auch in der Rechtsprechung „mit den Kollegien zur Gänze aufzuräumen“.⁴² Wenngleich derartige Stimmen nie besonders laut erschallten, belegen sie zumindest, dass die Antwort auf die Frage, welche existenzsichernde Leistung Kollegien für die Gesellschaft erbringen, nicht etwa in der Gerichtsorganisation selbst zu suchen ist. Anzusetzen ist vielmehr bei den Erwartungen, mit denen Kollegialgerichte von Seiten der Umwelt konfrontiert werden. Wie diese Erwartungen in der Gegenwart aussehen, illustriert eine Äußerung des Bundesrates aus dem Jahr 2003: „Die Vorteile des Kollegialprinzips liegen bekanntlich darin, dass der richterliche Gedankenaustausch und das Ringen um die ‚richtige‘ Auffassung in einem Kollegialgericht die intensive Durchdringung des Verfahrensstoffs fördern und der juristischen Qualität der Entscheidung zu Gute kommen. […] Zudem trägt die Erörterung im Kollegium dazu bei, einen Fall aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten und verfahrenswesentliche Umstände und entscheidungserhebliche Gesichtspunkte eher zu erkennen und zutreffend zu würdigen.“⁴³ Aus der Stellungnahme der Länderkammer wird deutlich, dass die besondere Rationalität, die Kollegien gemeinhin zugeschrieben wird, auf der spezifischen Ausgestaltung ihrer internen Kommunikationsbeziehungen beruht. Ein Spruchkörper soll mehr sein als die Summe seiner Teile. Durch ungehinderten Gedankenaustausch zwischen seinen Mitgliedern soll im Kollegium eine „Erkenntnisgemeinschaft“⁴⁴ entstehen, die – um Savigny zu zitieren – dazu in der Lage ist, im Vergleich zu Individuen „eine Einsicht und Überzeugung höherer Art hervorzubringen“.⁴⁵ Um die hierzu notwendigen Deliberationen zu ermöglichen, ist der Entscheidungsprozess von Kollegialbehörden nicht etwa vertikal (wie in einer bürokratisch-monokratisch aufgebauten Verwaltungsorganisation), sondern horizontal organisiert. Zustande kommen soll die Entscheidung durch mündliche Beratung und Abstimmung formal gleich- und weisungsfrei gestellter Mitglieder, denen die
Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 27. Aufl., Frankfurt a. M. 2018, S. 68 f. Fuchs: Kritik kollegialer Rechtsfindung (wie Anm. 35), S. 128. Begründung Art. I Nr. 3 Justizbeschleunigungsgesetz, Bundestagsdrucksache 15/1491 v. 28.08. 2003, S. 17. Kurt Eichenberger: Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem. Bern 1960, S. 240 f. Friedrich Carl von Savigny: Die preußische Städteordnung, in: Historisch-politische Zeitschrift 1 (1832), S. 389–414, hier S. 396.
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Entscheidung sodann als unitarischer, individuelle Einflüsse anonymisierender Akt zugerechnet wird.⁴⁶ Allerdings ist es der Rechtswissenschaft bislang nicht gelungen, für eine überlegene Entscheidungsrationalität von Spruchkörpern gegenüber Einzelrichtern irgendwelche empirischen Beweise beizubringen.⁴⁷ Wie die auf individuelle Erkenntnisbildung zielende juristische Methode im psychologischen Kontext einer Kleingruppe zu einer Erkenntnis intellektuell höherer Art führen soll, ist nämlich weithin unbekannt.⁴⁸ Da die Deliberation noch dazu durch das richterliche Beratungsgeheimnis vor den Augen und Ohren Dritter abgeschirmt ist, lassen sich auch keine empirische Forschungen konzipieren, die diese Lücke schließen könnten.⁴⁹ Dass es deshalb nicht in erster Linie die fachliche Qualität ihrer Urteile ist, die Kollegialgerichte dazu befähigt, der Gesellschaft die Aporie erträglich zu machen, dass Menschen über Menschen zu Gericht sitzen,⁵⁰ erkannte bereits Gustav Radbruch. Was für das Kollegialgericht streite, so liest man in dessen 1910 publizierter Einführung in die Rechtswissenschaft, sei vielmehr die „Unpersönlichkeit“ der Entscheidung: „Einerseits die Unpersönlichkeit ihres Ursprungs: während die Entscheidung des Einzelrichters nur die Autorität genießt, die seine Persönlichkeit ihr zu geben vermag, verschwindet in der ‚anonymen Majorität‘ des Kollegialgerichts der Richter hinter dem Gericht, und die Entscheidung trägt unabhängig von den zufälligen Persönlichkeiten der mitwirkenden Beamten stets die Würde in sich, die deren Amt ihr verleiht. Andrerseits die Unpersönlichkeit ihres Inhalts: das Recht ist der ‚allgemeine Wille‘, aus einer gerichtlichen Entscheidung darf also niemals nur die individuelle Besonderheit der Wertungen des Richters sprechen, und was sonst der Majorität vorgeworfen zu werden pflegt, ist deshalb für die Rechtsprechung ihr Vorzug: daß in ihr nicht die Summe, sondern der Durchschnitt der Intelligenzien
Wolfgang Ernst: Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten. „group choice“ in europäischen Justiztraditionen. Tübingen 2016, S. 1; vgl. Winfried Aymans: Kollegium und kollegialer Akt im kanonischen Recht. München 1969 (Münchener theologische Studien. Kanonistische Abteilung, Bd. 28), S. 92–97. Sonderfälle wie das Minderheitsvotum am Bundesverfassungsgericht ändern an der grundsätzlich anonymisierenden Tendenz des Kollegialprinzips nichts und können deshalb an dieser Stelle außer Acht bleiben. Vgl. Rolf Lamprecht: Richter contra Richter. Abweichende Meinungen und ihre Bedeutung für die Rechtskultur. Baden-Baden 1992. Dies betont beispielsweise Tüxen: Kollegialprinzip oder Einzelrichter (wie Anm. 33), S. 264. Hierzu pointiert Ernst: Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten (wie Anm. 46), S. 4. Dies gilt jedenfalls für Nichtjuristen, denen die Chance auf eine teilnehmende Beobachtung versagt bleibt. In dieser Hinsicht noch immer lesenswert: Rüdiger Lautmann: Justiz – die stille Gewalt. Teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse. Frankfurt a. M. 1972 (Neudruck Wiesbaden 2011). Zu dieser „Ungeheuerlichkeit“ Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung. Frankfurt a. M. 2011, S. 59.
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zum Ausdruck kommt und die individuellen Eigentümlichkeiten der Einzelnen auf die mittlere Linie der konventionellen Werturteile zusammengebogen werden.“⁵¹
4 Perspektiven einer akteurszentrierten Fremdbeschreibung kollegialen Entscheidens Bei Radbruch klingt nicht nur die von soziologischer Seite erst Jahrzehnte später formulierte Erkenntnis an, dass der formale Aufbau von Behörden nicht lediglich der rationalen Aufgabenerledigung, sondern stets auch der Produktion von Mythen in der Umwelt dient.Vorweggenommen ist auch die anthropologische Einsicht, dass Entkörperlichung den einfachsten Weg darstellt, um sozialen Vorgängen höhere Würde zu verleihen.⁵² Indem Radbruch die dem Kollegialprinzip inhärente Anonymisierung der Rechtsprechung als funktionales Mittel zur Aufladung des Urteils mit einer besonderen Autorität kennzeichnet, spricht er allerdings auch das zentrale Problem an, mit dem sich Analysen kollegialen Entscheidens epochenübergreifend konfrontiert sehen. Bundesverfassungsrichter Konrad Zweigert bemerkte 1968, die deutsche Rechtsgeschichte kenne „nur große Gesetzgeber und Gelehrte, nicht aber große Richter“,⁵³ sodass die Justiz „entmenschlichte Züge“ aufweise und „fahl“ wirke. An dieser Entmenschlichung hat sich auch 50 Jahre später und ein Vierteljahrhundert nach dem cultural turn in der Geschichtswissenschaft nur wenig geändert, denn offenbar fällt es der Forschung schwer, dem Kollegialprinzip analytisch beizukommen. Kaum ein Historiker interessiert sich dafür, was ein Richter der obersten Bundesgerichte tagtäglich tut oder wie Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof eigentlich zu ihren Entscheidungen gelangen.⁵⁴ Wie der Zeitgeschichte unlängst von rechtswissenschaftlicher Seite ins Stammbuch geschrieben wurde, lassen sich juristische Expertenkulturen allerdings nicht vermessen, solange man sich darauf beschränkt, gerichtliche Selbstbilder und die vorherrschende Meinung der Staatsrechtslehre zu reproduzieren.⁵⁵
Zitiert nach Radbruch: Rechtsphilosophie I (wie Anm. 17), S. 151 f. Hierzu bereits Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 3. Zitiert nach Lamprecht: Richter contra Richter (wie Anm. 46), S. 88. Einen instruktiven Einstieg aus der Perspektive einer Rechtspraktikerin bietet Gertrude LübbeWolff: Wie funktioniert das Bundesverfassungsgericht. Osnabrück 2015 (Osnabrücker Universitätsreden, Bd. 9). Florian Meinel: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik. Aspekte einer Geschichte des Bundesverfassungsgerichts. Tübingen 2019 (Recht – Wissenschaft – Theorie, Bd. 16), S. 1–12, hier S. 5; vgl. aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Annette Weinke:
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Die Frühneuzeitforschung bietet in ihrer Auseinandersetzung mit Reichskammergericht und Reichshofrat trotz aller Fortschritte, die in den vergangenen Jahrzehnten erzielt wurden, kein grundsätzlich anderes Bild. Epochenübergreifend sind es nicht Organisationen, sondern Individuen, die handeln.⁵⁶ Doch selbst mit Blick auf das intensiv bearbeitete Reichskammergericht stehen Analysen der gerichtlichen Tätigkeit noch weitgehend unverbunden neben sozialgeschichtlich ausgerichteten Studien zum richterlichen Personal.⁵⁷ Als eine sich durch Entscheidungen konstituierende und reproduzierende Organisation ist das Reichskammergericht deshalb bis heute eine black box geblieben. Wie sah der Alltag eines Assessors aus? Wie hat man sich den Ablauf einer Senatsberatung vorzustellen? Es sind gerade die auf den ersten Blick naheliegendsten und konkretesten Fragen, auf die man in der umfangreichen Literatur kaum Antworten finden wird. Und solange dies so bleibt, wird die Forschung auch kaum dazu in der Lage sein, den Prozess kollegialen Entscheidens in den Griff zu bekommen. Wie wirkte sich beispielsweise der unter Zeitgenossen berüchtigte unschickliche und ordnungswidrige RepräsentationsGeist,⁵⁸ der die Assessoren an ihre Präsentationshöfe band, auf die Urteilstätigkeit konkret aus? Man weiß es nicht zu sagen und wird es mit den bisherigen Instrumenten auch durch Lektüre von 100, 1 000 oder 10 000 Prozessakten nicht in Erfahrung bringen. Ein unterkomplexer Praxisbegriff, in dem die Mikrologik von Kollegialität kaum Platz findet, bestimmt derweil auch die Auseinandersetzung mit dem Reichshofrat, dessen Mitglieder jenseits der von Oswald von Gschließer⁵⁹ bereits 1942 präsentierten prosopographischen Basisinformationen weitgehend unbekannte Wesen geblieben
„Verfassungsfolklore“ statt aufgeklärtes Geschichtsverständnis? Probleme der Zugänglichmachung bundesdeutscher Justiz- und Behördenakten, in: Dieter Deiseroth/Dies. (Hrsg.), Zwischen Aufarbeitung und Geheimhaltung. Justiz- und Behördenakten in der Zeitgeschichtsforschung. Berlin 2021, S. 15–27. Weick: Prozeß des Organisierens (wie Anm. 30), S. 53. Einen Überblick über den Forschungsstand vermitteln die Beiträge in: Friedrich Battenberg/ Bernd Schildt (Hrsg.): Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/Wien 2010 (QFHG, Bd. 57). Anton Faber: Vollständiges Haupt-Register über den XXV. bis XXX. Theil der neuen Europäischen Staatscanzley nach alphabetischer Ordnung entworfen. Ulm/Frankfurt/Leipzig 1776, S. 61. Zum Präsentationssystem Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil I: Darstellung. Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG, Bd. 26), S. 168–342. Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806. Wien 1942 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich, Bd. 33).
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sind.⁶⁰ Nicht nur Rechtshistorikern verstellt ein unerschütterlicher Glaube an den Siegeszug juristischer Funktionseliten noch immer kritische Zugänge zur Gretchenfrage, wie man sich die Tätigkeit einer vormodernen Rechtsorganisation im Rahmen höfischer Interaktion unter Anwesenden eigentlich vorzustellen hat.⁶¹ Nach alledem verwundert es nicht, dass unlängst in monographischem Umfang über die Entscheidungsfindung dreier territorialer Obergerichte im 18. Jahrhundert geschrieben und dabei das Kunststück zu Wege gebracht werden konnte, keinen einzigen der beteiligten Beisitzer namentlich zu erwähnen.⁶² Suchte man nach Belegen für den ungebrochenen Hang von (Rechts‐)Historikern zur Intellektualisierung alles Sozialen, würde man reichlich fündig werden in einer Forschung, die über Verrechtlichungs- und Professionalisierungsprozessen, Mandata sine et cum clausula, Rechtsmittelinstanzen, Zulässigkeitsvoraussetzungen, foridiklinatorischen Einreden, Voten, Relationen und tausend anderen Dingen eines weitgehend vergessen hat: Den Richter und die inneren und äußeren Verhältnisse, in denen er als Mensch stand. So bewahrheitet sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer die eingangs zitierte Diagnose Gustav Hugos aus dem Jahr 1812: Das Gelehrte kann nie in einem weniger interessanten Lichte erscheinen als wenn es von dem Practischen aus betrachtet wird, so wie umgekehrt das Practische nie so sehr als Handwerk aussieht als neben gelehrten Untersuchungen. ⁶³ Um diesen Graben zwischen Gelehrsamkeit und Praxis zu überwinden, bedürfen etablierte rechts- und wissenschaftsgeschichtliche Zugänge zu kollegialem Entscheiden nicht etwa der Abschaffung, sehr wohl aber der neugierigen Erweiterung durch praxeologische Instrumentarien. Denn sofern sich juristische Expertise über ihren Handlungsbezug definiert und sofern dieser Bezug wie jedes andere soziale Handeln über eine Mikrologik verfügt, deren Kenntnis die notwendige Voraussetzung für Analysen makrogeschichtlicher Prozesse in der Longue durée bildet, kann man sich nicht länger mit der Frage zufriedengeben, was „das Reichskammergericht“ im 16., „der Reichshofrat“ im 18. oder „das Bundesverfas-
Eine innovative Ausnahme bildet die Studie von Kathrin Rast: Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder der Herrenbank am Beispiel des Vizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wernberg (1604–1665), in: Anette Baumann/Alexander Jendorff (Hrsg.), Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa. München 2014 (baR, Bd. 15), S. 295–330. Entwicklungsgeschichtliche Überlegungen hierzu bei Tobias Schenk: Isomorphie und entgrenzte Informalität in der frühneuzeitlichen Reichsjustiz. Der Reichshofrat im Interaktionssystem des Kaiserhofes, in: Frühneuzeit-Info 33 (2022), S. 89–116. Patrick Berendonk: Diskursive Gerichtslandschaft. Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten im 18. Jahrhundert. Konstanz 2020 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, Bd. 36). Hugo: Facultätsarbeiten (wie Anm. 2), S. 105.
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sungsgericht“ im 20. Jahrhundert getan hat. Anzusetzen wäre vielmehr bei der Frage, was ein Reichskammergerichtsassessor, ein Reichshofrat oder ein Bundesverfassungsrichter tat. Nur auf diese Weise werden sich überkommene Fortschrittsnarrative dekonstruieren und zugleich Bezüge zu jenen soziologisch und ethnologisch inspirierten Strömungen herstellen lassen, die das Fach Frühneuzeitforschung seit einem Vierteljahrhundert prägen und als deren kleinster gemeinsamer Nenner eine analytische Akteurszentrierung namhaft zu machen ist. Allerdings droht ein solches Forschungsdesign vorderhand daran zu scheitern, dass die juristische Expertise von Reichskammergerichtsassessoren, Reichshofräten und Bundesverfassungsrichtern an die Mitgliedschaft in Kollegien gebunden war, die sich aufgrund ihrer Formalstruktur einem personalisierenden Zugriff zu entziehen scheinen.⁶⁴ Wenn Gustav Hugo juristische Praxis als Handwerk karikiert, gibt er uns jedoch die Erkenntnis auf den Weg, dass akteurszentrierte Perspektiven auf den Prozess kollegialen juristischen Entscheidens über eine Problematisierung der allgegenwärtigen „,Entmaterialisierung‘ des Sozialen“⁶⁵ zu entwickeln wären. Es ist also Ausschau zu halten nach Dingen, mit denen juristische Expertise im Alltag etwas tut. Und sofern sich eine Praxistheorie nicht in mikrohistorischem Allerlei erschöpfen, sondern anschlussfähige Beiträge zu einer epochenübergreifend angelegten Justizforschung liefern soll, wird man nach materialen Artefakten zu fahnden haben, die sich vor Gericht seit 500 Jahren gehalten haben. Nach solchen Objekten muss man nicht lange suchen, zumal es sich um Dinge handelt, mit denen auch die Expertise von Historikern etwas tut – jedenfalls, sofern es sich um Vertreter von Disziplinen handelt, die sich dem noch immer währenden Aktenzeitalter verschrieben haben, das just in jenem 15. Jahrhundert einsetzte,⁶⁶ in dem sich auch das Kollegialprinzip ausformte. Seitdem ist die Akte ein Ding, ohne das juristische Expertise nicht mehr auskommt, weil es den Handlungsbezug rechtlichen Wissens materialisiert. Doch obwohl Gerichtsakten seit Jahrzehnten erschlossen und intensiv genutzt werden, wissen wir nach wie vor kaum etwas darüber, wie kollegiale Aktenarbeit als frühneuzeitliche soziale Praxis ablief, ob und wie sich diese Praxis im Zeitverlauf wandelte und was dies aus makrohistorischer Perspektive über den Ausdifferenzierungsprozess des neuzeitlichen Rechtssystems aussagt. Mit Blick auf den Pariser Conseil d’État plädierte Bruno Latour unlängst für einen praxeologischen Zugang zu Gerichtsakten: „Die Juristen sprechen immer von Texten, doch nur selten von ihrer Materialität. Bei ihr müssen wir ansetzen […] So Luhmann: Organisation und Entscheidung (wie Anm. 6), S. 197. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken (wie Anm. 9), S. 291. Friedrich Beck/Eckart Henning: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. 5. Aufl., Köln/Weimar/Wien 2012, S. 13–21, hier S. 14.
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wie wir nichts von der Wissenschaft begreifen, wenn die Wörter gegenüber den Dingen auf Abstand bleiben, so verstehen wir nichts vom Recht, wenn wir direkt und ohne diese bescheidene Ansammlung von Papieren unterschiedlichster Herkunft von der Norm zu den Tatsachen des Falls zu gelangen versuchen.“⁶⁷ Begeben wir uns also auf die Spur der Akten, um den Abstand zwischen Wörtern und Dingen zu verringern.
5 Als kollegiale Sachverhaltskonstruktion zur Vertrauensfrage wurde: der lange Abschied von gleichmäßiger Aktenkenntnis Dass juristische Expertise mit gewaltigem Zellstoffverbrauch einhergeht, wusste bereits François Rabelais. 1532 schrieb er, ein Gerichtsverfahren bestehe aus – Akten: Denn ein Prozeß, wann er zur Welt kommt, scheint mir […] unförmlich, roh und misgestalt. Wie ein junger neugeborener Bär weder Händ noch Füß, Haut, Haar, noch Haupt hat, nichts als ein roh unförmlich Stück Fleisch ist, dem die Bärinn durch Lecken erst die Glieder formiret […], also seh ich […] auch die Prozeß in ihrem Ursprung unförmlich ohn Glieder geboren werden; sind höchstens ein bis zwey Stuck daran, sind noch zur Zeit nur wüste G’schöpf. Erst wann sie brav in Massen sich fassen und Sack- und Stoßweis verpanzen lassen, kann man sie wahrhaft articulirt und formiret heissen. […] Der Aktus zeugt ein neues Glied, dieß wieder eins, wie Masch für Masch das Panzerhemd gefertigt wird. ⁶⁸ Auch außerhalb Frankreichs trat die Aktenbildung überall dort, wo studierte Juristen auf der Bildfläche erschienen, in eine Phase exponentiellen Wachstums ein. Rechtsgelehrte galten bald weithin als „Actenmänner“,⁶⁹ die im Laufe ihrer Karriere ein paar hundert Ballen Acten ⁷⁰ durchzuackern hatten. Schriftsteller ließen sich inspirieren vom Klingeln am großen Hofthor, wenn der Aktenwagen vom Obertribunal kam und für die greise, in der Stadt befindliche Excellenz die Akten repositorienhoch hereinfuhr und diese Ballen abgeladen wurden in der großen Aktensammlung rechter Hand beim Eintritt in das zweistöckige Wohnhaus! ⁷¹ In der Gegenwart klingelt der Aktenwagen lauter als jemals zuvor, denn nicht einmal der im 19. Jahrhundert vollzogene Übergang vom schriftlichen zum münd
Bruno Latour: Die Rechtsfabrik. Eine Ethnographie des Conseil d’État. Konstanz 2016, S. 90, 110. François Rabelais: Gargantua und Pantagruel, Bd. 1. Leipzig 1832, S. 508–510. So Johann Ludwig Klüber in: Kleine Juristische Bibliothek 5 (1790), S. 338. Johann Michael von Loën: Gesammelte kleine Schriften, Bd. 1. Frankfurt a. M./Leipzig 1750, S. 32. Karl Gutzkow: Der Ritter vom Geiste, Bd. 9. Leipzig 1851, S. 24.
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lichen Verfahren hat der furchtbare[n], nur teutschem eisernen Fleiße erträgliche[n] Schreibseligkeit ⁷² den Garaus machen können. Die mündlich prozedierende Justiz unserer Tage produziert innerhalb weniger Wochen mehr Akten als die Gerichtsbarkeit des Alten Reiches mit ihrer Schriftlichkeitsmaxime im Laufe von drei Jahrhunderten. 30 Regalkilometer waren es 2009 allein in Nordrhein-Westfalen,⁷³ und auch bei den Kolleginnen und Kollegen aus Österreich wird Masche für Masche am Panzerhemd gearbeitet. Am Oberlandesgericht Graz und den Landes- und Bezirksgerichten seines Sprengels fielen beispielsweise allein im Jahr 1998 869 919 Akten an.⁷⁴ Obwohl sich die prozessrechtliche Funktion schriftlichen Vorbringens im Epochenvergleich geändert hat, konnte die Akte ihre mit der Rezeption des römischkanonischen Rechts errungene Position als „Herzstück eines jeden Gerichtsverfahrens“⁷⁵ also bis in die Gegenwart behaupten. Angesichts dieser bemerkenswerten Persistenz des materialen Artefakts „Prozessakte“ steht ein Frühneuzeitforscher, der sich für kollegiales Entscheiden am Reichshofrat interessiert, vor derselben Frage wie ein Zeithistoriker, der es mit dem 16. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf zu tun hat. Worum es in praxeologischer Hinsicht geht, hat der fränkische Advokat Heinrich von Künßberg bereits 1837 auf den Punkt gebracht: Betrachtet die ansehnlichen Aktenbände, wovon die Registraturen der deutschen Gerichte strotzen. […] Sehet, wie stattlich sich die deutschen Gerichtskollegien ausnehmen mit ihrem zahlreichen rechtsgelehrten Personale von Präsidenten, Direktoren, Räthen und Beisitzern, der noch zahlreicheren subalternen Gerichtsbediensteten gar nicht zu gedenken. […] Aber jene kostspieligen Aktenkomplexe und diese nicht minder kostspieligen Richterkomplexe, wie hängen die einen mit dem anderen zusammen? Wie erlangen die Richter von dem Kunde, was in den Akten geschrieben steht? ⁷⁶ Als Laie würde man vermuten, dass der von Künßberg problematisierte Zusammenhang zwischen Richter- und Aktenkomplexen durch Lektüre hergestellt
Johann Baptist Sartorius: Teutschlands Rechtspflege durch Kollegial-Gerichte, ihre Natur und ihre Verhältnisse. Würzburg 1832, S. 52–53. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Abschlussbericht der Projektgruppe „Archivierungsmodell Justiz“. Düsseldorf 2009, S. 135. Elisabeth Schöggl-Ernst: Justizaktenbewertung – Der Archivar im Spannungsfeld zwischen Justizverwaltung und Forschung, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 49 (1999), S. 153– 167, hier S. 160. Peter Stegmaier: Wissen, was Recht ist. Richterliche Rechtspraxis aus wissenssoziologisch-ethnografischer Sicht. Wiesbaden 2009, S. 196; vgl. zur einzelrichterlichen Aktenarbeit im Zivil- und im Strafprozess: Sebastian Starystach: Die soziale Praxis des Gerichtsverfahrens. Über die juristische Fallbearbeitung in Straf- und Zivilverfahren. Wiesbaden 2018, S. 119–122, 235–238. Heinrich von Künßberg: Beiträge zur Diagnose der deutschen Prozessnoth. Erlangen 1837, S. 84.
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wird. Dass es so einfach aber nicht ist verdeutlichen zwei Normtexte aus dem Bereich der Gerichtsverwaltung, die viereinhalb Jahrhunderte auseinanderliegen. Anno 1578 publizierte Markgraf Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach in seiner Eigenschaft als Administrator des Herzogtums Preußen eine Ordnung für das mit 13 Beisitzern besetzte Königsberger Hofgericht. Darin heißt es, der vorsitzende Hofrichter habe dafür Sorge zu tragen, dass die einkommenden Akten unter den Referendariis ordentlich ausgetheilet, auch dieselbige hernacher bey gesetztem Gerichte volkömlich verlesen ⁷⁷ würden. Anno 1999 beschloss der Deutsche Bundestag in seiner 14. Wahlperiode das Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte. Seitdem heißt es in § 21 g Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz: Innerhalb des mit mehreren Richtern besetzten Spruchkörpers werden die Geschäfte durch Beschluss aller dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter auf die Mitglieder verteilt. Historikern dürfte mehrheitlich kaum bewusst sein, was die beiden Zitate für die Praxis juristischer Expertise eigentlich bedeuten. Schließlich herrscht nicht nur an ambitionierten wissenssoziologischen Analysen von Prozessschriftgut, sondern selbst an einer mit herkömmlichen hilfswissenschaftlichen Instrumenten arbeitenden Aktenkunde⁷⁸ ein eklatanter Mangel, sodass die Forschung über gerichtliche Ablauforganisation und Schriftgutverwaltung nur vage Vorstellungen besitzt. Nicht anders als zu Rabelais‘ Zeiten materialisieren sich Prozesse in unseren Tagen in Akten. Wenn das Gerichtsverfassungsgesetz von unter den Beisitzern zu verteilenden Geschäften spricht, meint es also letzten Endes Akten. Aktenverteilung gab es bereits zu Markgraf Georg Friedrichs Zeiten. Anders als noch 1578 ist heute jedoch keine Rede mehr davon, es sei trotzdem alles schriftliche Vorbringen in gemeinsamer Sitzung noch einmal zu verlesen. Irgendwann zwischen dem 16. Jahrhundert und der Gegenwart hat die Justiz den Anspruch gleichmäßiger Aktenkenntnis innerhalb der Spruchkörper also aufgegeben und ein informationelles Ungleichgewicht zugunsten von Referenten bzw. Berichterstattern akzeptiert. Dieser Wandel war noch nie Gegenstand einer historischen Analyse, obwohl er an den innersten Kern jedes kollegialen Entscheidungsprozesses rührt. Mithilfe spruchkörperinterner Geschäftsverteilung als einer „institutionalisierten strategischen Informationsbeschaffung“⁷⁹ bearbeiten Gerichte ein Wissensproblem, mit
Hoffgerichts-Ordnung des Herzogthumbs Preussen, Königsberg 1578, S. 2. Vgl. Tobias Schenk: Unbeobachtet vorübergegangen? Gerichtliches Entscheiden im Spiegel der genetischen Aktenkunde, in: Josef Bongartz/Alexander Denzler/Carolin Katzer/Stefan Andreas Stodolkowitz (Hrsg.), Feder und Recht. Schriftlichkeit und Gerichtswesen in der Vormoderne. Köln/ Weimar/Wien 2023, S. 313–343. Peter Mankowski: Rechtskultur. Tübingen 2016 (Beiträge zum ausländischen und internationalen Privatrecht, Bd. 115), S. 326.
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dem sich jede Organisation gegenüber ihrer Umwelt konfrontiert sieht.⁸⁰ Denn ob es sich nun um ein Einwohnermeldeamt, den FC Schalke 04 oder den Bundesgerichtshof handelt: Organisationen entscheiden nicht über gesellschaftliche Inputs als solche, sondern müssen dieselben einer wie auch immer gearteten Kontingenzreduktion unterziehen, denn ein „System hat Struktur nur dadurch, daß es geringere Komplexität hat als die Umwelt“.⁸¹ Mit Blick auf den Entscheidungsprozess als solchen hat man es also mit einer primären Phase der „Kontingenzverdichtung“⁸² zu tun, in der es zu mehr oder weniger weitreichenden „Decisions before Decision-Making“⁸³ kommt. Denn wie „immer man auch einen bestimmten Fall beschreiben mag, stets ist Beschreibung Vereinfachung, mit apodiktischen und anschaulichen Elementen durchtränkt: durch jede Mitteilung, ja durch jede Benennung wird ein Wissen exoterischer, populärer.“⁸⁴ Die wissenssoziologische Tatsache, dass es einen objektiven Bericht weder gibt noch geben kann, wird durch die juristische Methodenlehre ignoriert, wenn es heißt, der Aktenvortrag des Berichterstatters solle „den Zuhörer, der die Akten nicht kennt, knapp, aber doch so vollständig informieren, dass er juristisch mitdenken, den Entscheidungsvorschlag in Frage stellen und sich ein eigenes Urteil bilden kann“.⁸⁵ Die in diesem Postulat zum Ausdruck kommende erkenntnistheoretische Naivität hat man der Methodenlehre freilich nicht vorzuwerfen. Schließlich würde eine unzutreffende Sachverhaltsfeststellung jede richterliche Entscheidung desavouieren, so dass das Rechtssystem jenseits der weithin marginalisierten und deshalb Narrenfreiheit genießenden Rechtsphilosophie seine eigenen Wahrheitsprobleme
Zu Rechtsprechung als Wissensproblem Rupprecht Podszun: Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte. Evolution und Legitimation der Rechtsprechung in deregulierten Branchen. Tübingen 2014 (Jus Privatum, Bd. 181), S. 139–143. Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung – Ebenendifferenzierung (unveröffentlichtes Manuskript 1975), in: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft 2014, S. 6–39, hier S. 10; vgl. ders.: Zweckbegriff und Systemrationalität (wie Anm. 24), S. 182 f. Niklas Luhmann: Die Paradoxie des Entscheidens, in: Verwaltungsarchiv 84 (1993), S. 287–310, hier S. 291. Vgl. Hannah Murphy: Decisions before Decision-Making. Concepts, Categories and Technologies in Sixteenth-Century German Medical Texts, in: Philipp Hoffmann-Rehnitz/Matthias Pohlig/Tim Rojek/Susanne Spreckelmeier (Hrsg.), Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Göttingen 2021 (Kulturen des Entscheidens, Bd. 4), S. 193–209. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektive. 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2019, S. 151 f. (Hervorhebung im Original). Kurt Schellhammer: Die Arbeitsmethode des Zivilrichters für Rechtsreferendare und junge Praktiker mit Fällen und einer Musterakte. 17. Aufl., Heidelberg 2014, S. 297.
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nicht ständig vor den Augen der Öffentlichkeit ausbreiten kann.⁸⁶ Juristen wissen natürlich, dass es sich bei dem der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt nicht etwa um eine objektiv festzustellende Tatsache, sondern um eine richterliche Konstruktionsleistung handelt.⁸⁷ Die Methodenlehre nimmt das „Risiko, bei der juristischen Selbstreflexion könne herauskommen, dass es mit der Rationalität der juristischen Entscheidungsfindung im Grunde genommen nichts sei“,⁸⁸ jedoch nicht auf sich und muss dies auch nicht tun. Welcher Bürger wollte es schon mit einer Justiz zu tun bekommen, deren modus operandi der konstruktivistischen Einsicht folgt, dass es gar „keine Praxis jenseits unserer Interpretationen dieser Praxis“⁸⁹ gibt? Folglich hat sich eine geschichtswissenschaftliche Fremdbeschreibung juristischer Expertise nicht etwa an den blinden Flecken der Methodenlehre abzuarbeiten, um zu einer hinter der Schaufassade verborgenen Wahrheit vorzudringen, die sie in den ihr zur Verfügung stehenden Quellen nicht finden wird. Denn es scheint zwar durchaus plausibel, wenn neuere rechtsvergleichende Studien zur Kollegialgerichtsbarkeit je nachdem, ob der Schwerpunkt des Entscheidungsprozesses eher auf der die kollegiale Beratung vorstrukturierenden Arbeit eines Berichterstatters, der Beratung selbst oder aber auf Kommunikationsprozessen im Anschluss an die Beratung liegt, zwischen Ex-ante-, In-medio- und Ex-Post-Gerichten differenzieren.⁹⁰ Danach wäre das Bundesverfassungsgericht mit seiner ausgeprägten Deliberationskultur als Paradebeispiel für ein In-medio-Gericht,⁹¹ die unter wesentlich höherem Erledigungsdruck stehende ordentliche Gerichtsbarkeit hingegen als eine mehr oder weniger deutlich akzentuierte Form von Ex-ante-Kollegialität anzusehen.
Hierzu aus rechtswissenschaftlicher Perspektive instruktiv Otto Depenheuer: Wahrheitsprobleme des Rechts – eine Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Recht und Lüge. Münster 2005 (Recht. Forschung und Wissenschaft, Bd. 6), S. 7–26, hier S. 7 f.; ders.: Recht als kommunikativer Umweg. Erscheinungsformen und Funktionen normativer Unwahrheiten, in: Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege. Wien/Köln/Weimar 2007, S. 293–314, hier S. 293. Siehe die Beiträge in: Jeannette Schmid/Thomas Drosdeck/Detlef Koch (Hrsg.), Der Rechtsfall – ein richterliches Konstrukt. Baden-Baden 1997. Somek: Rechtliches Wissen (wie Anm. 4), S. 55. Martin Hartmann: Die Praxis des Vertrauens. Berlin 2011, S. 29. Maria Abad Andrade: Verfassungsgerichtliche Entscheidungsfindung und ihre Folgen. Das Türkische Verfassungsgericht zwischen Mehrheitslogik und Konsensverfahren. Baden-Baden 2020, S. 66–74; vgl. Mathilde Cohen: Ex Ante Versus Ex Post Deliberations: Two Models of Judicial Deliberations in Courts of Last Resort, in: American Journal of Comparative Law 62 (2014), S. 401–458. Vgl. Uwe Kranenpohl: Herr des Verfahrens oder nur Einer unter Acht? Der Einfluss des Berichterstatters in der Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 30 (2009), S. 135–163.
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Doch wenngleich eine solche Klassifikation auf der Makroebene durchaus hilfreich sein mag, trägt sie im Rahmen akteurszentrierter Forschungsansätze nicht allzu weit. Denn auch dort, wo kollegiale Deliberation dem empirischen Zugriff durch ein Beratungsgeheimnis nicht von Vorneherein entzogen ist,⁹² vollzieht sich kollegiales Entscheiden in einem auf Anwesenheitskommunikation beruhenden Interaktionssystem. Träte die Justizforschung mit dem hemdsärmeligen Anspruch auf, diese Kommunikation ex post lückenlos rekonstruieren zu können,⁹³ bewegte sie sich auf einem erkenntnistheoretischen Niveau, das sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts einigermaßen lächerlich ausnähme. Es kann folglich keineswegs um spekulative Antworten auf die Frage gehen, wie stark der Einfluss des Berichterstatters denn nun im Einzelfall „wirklich“ war. Analytisch erheblich interessanter ist die Frage, wie die Tatsache, dass es überhaupt Berichterstatter gibt, die Praxis juristischer Expertise und deren gesellschaftliche Diskursivierung beeinflussen. Schließlich beruht der Rationalitätsanspruch von Kollegien gegenüber Einzelrichtern doch gerade auf kollegialer Deliberation und diese wiederum auf der Vorstellung, dass die Sprechakte der einzelnen Mitglieder nicht in einem Kontext aufeinandertreffen, der von großen informationellen Ungleichgewichten geprägt ist.⁹⁴ Ein solches Ungleichgewicht hält im Beratungszimmer jedoch zwangsläufig Einzug, sobald ein Spruchkörper die mit der Sachverhaltskonstruktion notwendig verbundene Komplexitätsreduktion ganz oder teilweise einzelnen Mitgliedern überträgt, der kollegialen Beratung somit vorlagert und auf gemeinsames Aktenstudium verzichtet.
In historischer Hinsicht bildet das Beratungsgeheimnis ein junges Phänomen, das in seiner heutigen Form erst 1961 durch § 43 des Deutschen Richtergesetzes geschaffen wurde, wonach der Richter „über den Hergang bei der Beratung und Abstimmung auch nach Beendigung seines Dienstverhältnisses zu schweigen“ hat. In der Vormoderne unterlagen richterliche Beratungen stattdessen einem Amtsgeheimnis, das den Fürsten als Träger der Justizhoheit nicht mit einschloss. An manchen Kollegien wie dem Reichskammergericht wurden deshalb Votenprotokolle geführt, was heute undenkbar wäre. Hierzu Schenk: Unbeobachtet vorübergegangen (wie Anm. 78), S. 333–335. Allen Aktengläubigen dieser Welt bietet einen aufschlussreichen Einblick in die Entscheidungspraxis an einem Zivilsenat des Bundesgerichtshofes in den 1980er Jahren: Roland Stimpel: Walter Stimpel (1917–2008). Kampfpilot und Bundesrichter. Karlsruhe 2020 (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe, Bd. 37), S. 250: „In Stimpels [des Vorsitzenden] Praxis ist der Senat oft eher sein verlängerter Arm. […] Die Sitzungen sind montags, Ergebnisse der Berichterstatter erwartet er regelmäßig vor dem Wochenende. Ist er nicht zufrieden, hat Samstag oder Sonntag der Beisitzer am Telefon zu sein oder ihn zu treffen, und dann wird das vorbereitete Ergebnis so lange durchgeknetet, bis es Stimpels Vorstellung entspricht.“ Ich danke Dr. Stefan Andreas Stodolkowitz herzlich für die freundliche Übereignung dieser Studie. Zu den Kriterien einer idealen Sprechsituation Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien, in: Helmut Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen 1973, S. 211–265, hier S. 255 f.
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Bevor man als Historiker den ethnologischen Blick auf längst vergangene Epochen richtet, sollte man fragen, warum sich über folgende Informationen eigentlich niemand aufregt: Die Zivilsenate am Wiener Obersten Gerichtshof behandeln durchschnittlich 20 bis 30, nach der Urlaubszeit aber auch 40 bis 50 Fälle pro Sitzung, wobei auf einen Berichterstatter etwa fünf bis zwölf Verfahren entfallen. Ein reguläres Umlaufverfahren, durch das sich die nicht zu Berichterstattern ernannten Beisitzer im Vorfeld der Sitzung in Akte und Relation einarbeiten könnten, gibt es nicht. Anonym befragte Richter gaben an, in einigen Senaten könne sich der Berichterstatter höchstens ein- oder zweimal pro Jahr nicht mit seinem Votum durchsetzen.⁹⁵ Und in Deutschland? Wie man sich in Karlsruhe die Praxis des Kollegialprinzips an „den einfachen Gerichten“ vorstellt, erläuterte unlängst ein Bundesverfassungsrichter im Interview folgendermaßen: „Da soll[en] ja bei Spruchkörpern der Vorsitzende und der Berichterstatter eigentlich die Geschichte unter sich ausmachen und der oder die Beisitzenden stimmen dann zu.“⁹⁶ In Art. 103 Absatz 1 Grundgesetz heißt es: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.“ Quizfrage: Entspricht diesem Anspruch ein Beschlussverfahren, in dem eine mündliche Verhandlung nicht stattfindet und drei von fünf Richtern des erkennenden Gerichts die Akte gar nicht gelesen haben?⁹⁷ Thomas Fischer, der lange einem jener Strafsenate des Bundesgerichtshofes vorsaß, bei denen alljährlich etwa 640 Revisionen anfallen,⁹⁸ sprach unlängst in aller Öffentlichkeit von einer
Nach den Angaben bei Veronika Haberler: Die höchstgerichtliche Entscheidung. Eine empirische Studie zur Entscheidungsfindung in Zivilrechtssachen am OGH. Wien 2014, S. 49, 68. Anonym zitiert bei Uwe Kranenpohl: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts. Wiesbaden 2010, S. 146. Bei den übrigen beiden handelt es sich neben dem Berichterstatter um den Vorsitzenden. Hierzu etwa Bernhard Wieczorek/Rolf A. Schütze (Hrsg.): Zivilprozeßordnung und Nebengesetze. Großkommentar, Bd. 5. 3. Aufl., Berlin 1995, S. 910: „Nicht erforderlich ist, daß alle mitwirkenden Richter die Akten durchgearbeitet haben. Es genügt, wenn der Vorsitzende und der Berichterstatter die Akten kennen und die übrigen Richter entweder durch Sachvortrag oder schriftlich informieren. Die Information kann auch durch das Geschehen in der Verhandlung oder in der Beratung erfolgen. Dies entspricht dem Grundsatz der Mündlichkeit […], wonach grundsätzlich nicht nach Lage der Akten entschieden wird. Mangelnde Aktenkenntnis stellt daher regelmäßig keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar. Eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG kommt nur in Betracht, wenn die fehlende Aktenkenntnis dazu führt, daß wesentliche Fragen unerörtert bleiben oder ein erheblicher Parteivortrag nicht berücksichtigt wird.“ Thomas Fischer: Denkanstoß: Theorie, Praxis und Fehlerquellen der strafrechtlichen Revision am Bundesgerichtshof. Normative, strukturelle und organisatorische Bedingungen hö chstrichterlicher Steuerung, in: Anja Amend-Traut/Ignacio Czeguhn/Peter Oestmann (Hrsg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper. Entscheidungsfindung und Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Rechtskultur. Köln/Weimar/Wien 2021 (QFHG, Bd. 75), S. 17–34, hier S. 20.
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„strukturellen Absurdität des Gesamtvorgangs: Fünf höchstqualifizierte Richter lauschen 16 Stunden pro Woche mit unbewegtem Gesicht, innerem Stöhnen und gelegentlich überwältigender Müdigkeit den ‚Vorträgen‘ von Kollegen, die sich redlich, aber vergebens bemühen, 200 Seiten lange hochkomplizierte ‚EinerseitsAndererseits‘-Abwägungen umfassend, lückenlos und neutral darzustellen. Anschließend entscheiden drei von fünf Richtern, ob sich in den Formulierungen des Urteilstexts ein Rechtsfehler befindet – und damit über das Schicksal eines verurteilten Menschen –, ohne auch nur eine einzige Zeile des angefochtenen Urteils gelesen zu haben. […] Es ist selbstverständlich unmöglich, sich beim mündlichen Vortrag auch nur halbwegs die Einzelheiten des Sachverhalts zu merken: Ob der Berichterstatter nun 14 oder 17 Fälle des Bandenbetrugs oder 43 Fälle des sexuellen Missbrauchs geschildert hat, wissen die Zuhörer schon nach drei Minuten nicht mehr, geschweige denn, wenn es eine halbe Stunde später um die rechtliche Bewertung geht. Viel wichtiger noch als die Tatsachen-Feststellungen sind die Urteilspassagen zu Beweiswürdigung und Strafzumessung: Stellen Sie sich vor, dass in einer komplizierten Beweislage vom Landgericht fünfzehn oder zwanzig Zeugen vernommen worden sind. Sämtliche Aussagen werden im Urteil zusammengefasst wiedergegeben und ‚abgewogen‘: Dafür spricht dieses, dagegen jenes …; Zeuge X hat einerseits gesagt …, es ist aber durch die Aussage des Zeugen Y widerlegt, dass … und so weiter. 50 oder 100 Seiten lang. Wer soll sich das alles auch nur oberflächlich merken können?“⁹⁹ Als Historiker steht man nicht vor der Frage, ob Fischer die Karlsruher Beratungskultur „objektiv richtig“ beschrieben hat, zumal seine Behauptung, es bestehe ein statistisch nachweisbarer Zusammenhang zwischen der Person des Berichterstatters und der Entscheidungsart,¹⁰⁰ zwar plausibel klingt, aufgrund des Beratungsgeheimnisses jedoch empirisch nicht überprüfbar ist. Sehr wohl anknüpfen lässt sich hingegen an folgende Feststellung des prominenten Strafrichters: „80 Millionen Menschen müssen glauben, dass auf diese Weise ‚Gerechtigkeit‘ und Wahrheit in hinreichendem Maß hergestellt werden können. Es geht also um Vertrauen in das Verfahren, denn die inhaltlichen Einzelergebnisse entziehen sich jeder Kontrolle einer breiteren Öffentlichkeit.“¹⁰¹ Ins Soziologische gewendet wirft Fischer hiermit die Frage nach der Legitimation durch ein Verfahren auf, das ge-
Thomas Fischer: Die Augen des Revisionsgerichts, URL: (Stand: 18.11. 2022). Thomas Fischer: Der Einfluss des Berichterstatters auf die Ergebnisse strafrechtlicher Revisionsverfahren. Eine empirische Untersuchung über Zusammenhänge zwischen gesetzlichem Richter, personeller Zuständigkeit und Erledigungsart in den Entscheidungen der Strafsenate des BGH, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht (2013), S. 425–432. Fischer: Denkanstoß (wie Anm. 98), S. 31.
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genüber der Umwelt die „Richtigkeit“ seiner Entscheidungen nicht garantieren kann.¹⁰² Schließlich wurde auch durch elaborierte Theorien rationaler Rechtsdiskurse, wie sie Jürgen Habermas oder Robert Alexy vorgelegt haben,¹⁰³ letztlich nicht mehr erreicht als „die Selbstbestätigung der Auffassung, daß es oberhalb aller Bedingtheiten noch etwas Unbedingtes, oberhalb alles Kontingenten noch etwas Notwendiges geben müsse“.¹⁰⁴ Die Justizforschung steht somit vor der Frage, warum in der Gegenwart ausgehend von frei zugänglichen Informationen über das innerhalb von Spruchkörpern zu vermutende informationelle Ungleichgewicht zugunsten einzelner Richter der Geltungsanspruch von Kollegialjustiz als einer zur Erzeugung rationaler Entscheidungen besonders befähigten Erkenntnisgemeinschaft nicht erodiert. Gewiss: Die im Justizjargon mitunter anzutreffende Einschätzung, Beisitzer seien eigentlich Beischläfer, erreicht über Romane und Fernsehproduktionen gelegentlich ein breiteres Publikum. Zu einer Skandalisierung, geschweige denn zu einer rechtspolitischen Intervention in die gerichtliche Praxis führt dies jedoch keineswegs. Kein Aufschrei war zu vernehmen, als das Bundesverfassungsgericht 1994 im Brustton der Überzeugung formulierte: „Sinn und Zweck eines mit mehreren Richtern besetzten Kollegialgerichts ist es ersichtlich nicht, daß alle Mitglieder die Akten oder einzelne Schriftsätze vollständig lesen; er liegt vielmehr vornehmlich darin, alle bedeutsamen Fragen im Spruchkörper zu erörtern.“¹⁰⁵ Bevor im Epochenvergleich praxeologische Zugänge zu kollegialer Aktenarbeit entwickelt werden können, hat man sich mit der diskursanalytischen Frage auseinanderzusetzen, wie es angesichts der Fülle potentiell möglicher Aussagen kommt, „daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle“.¹⁰⁶ Immerhin wäre es zumindest in der Theorie ebenso gut denkbar, dass der Gesetzgeber an der 1578 formulierten Überzeugung des Markgrafen von Brandenburg-Ansbach festgehalten hätte, wonach kollegiale Deliberation nur bei gleichmäßiger Aktenkenntnis aller Mitglieder zu einer rationalen Entscheidung führen könne. Und es wäre ebenso denkbar, dass sich in der modernen Gesellschaft die Überzeugung breit machte, ohne diese Voraussetzung sei der Kaiser nackt und das
Klassisch: Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren. 11. Aufl., Frankfurt a. M. 2019. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 7. Aufl., Frankfurt a. M. 2019; Robert Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. 9. Aufl., Frankfurt a. M. 2019. Luhmann: Recht der Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 527. Zitiert nach Thomas Fischer/Christoph Krehl: Strafrechtliche Revision, „Vieraugenprinzip“, gesetzlicher Richter und rechtliches Gehör, in: Strafverteidiger 9 (2012), S. 550–559, hier S. 553. Foucault: Archäologie des Wissens (wie Anm. 14), S. 42.
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Kollegialprinzip eine Farce. Schließlich könnte man es für möglich halten, dass der Ruf nach Abschaffung jeder spruchkörperinternen Geschäftsverteilung laut würde, da die Bestellung von Berichterstattern eine Gefahr für den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör bilde. Eine im Modernisierungsnarrativ gefangene Rechtsgeschichte vermittelt bislang kaum eine Vorstellung davon, wie voraussetzungsvoll es ist, dass all dies über die juristische Expertise der Berichterstatter nicht gesagt wird. Dabei wären diese und ähnliche Aussagen nicht nur denkbar, sondern sogar wahrscheinlich, wenn moderne Gesellschaften nicht zur Ausbildung von Systemvertrauen in der Lage wären, mit dessen Hilfe sich Unsicherheit absorbieren und das von der Jurisprudenz selbst nicht zu schließende Rationalitätsdefizit überbrücken ließe. Vertrauen bildet allerdings keineswegs eine anthropologische Grundkonstante, sondern eine dem Wandel unterworfene und folglich zu historisierende kommunikative Praxis.¹⁰⁷ Mit guten Gründen sind sich Soziologie und Philosophie weitgehend darüber einig, dass ein von Einzelpersonen abstrahierendes Systemvertrauen ein Kennzeichen funktional differenzierter Gesellschaften bildet und deshalb in der Vormoderne noch nicht in nennenswertem Umfang zur Verfügung stand.¹⁰⁸ Die sich im Epochenvergleich aufdrängende Frage, wie man sich die Bearbeitung des kollegialen Wissensproblems ohne stabilisierendes Systemvertrauen vorzustellen habe,vermag die Forschung zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch kaum zu beantworten. Das rechtshistorische Interesse an der Relationstechnik der Referenten ist auffallend gering, sodass Studien zur Praxis der richterlichen Entscheidungsfindung noch immer „nahezu völlig“¹⁰⁹ fehlen. Zudem werden die mit kollegialer Sachverhaltskonstruktion verbundenen Wissensprobleme zugunsten der Rechtsquellenlehre traditionell vernachlässigt,¹¹⁰ und wo in der Literatur von frühneuzeitlicher Relationstechnik die Rede ist,¹¹¹ liegt der Analyse ein unter-
Hierzu mit Blick auf die Frühe Neuzeit: Hannes Ziegler: Trauen und Glauben. Vertrauen in der politischen Kultur des Alten Reiches im Konfessionellen Zeitalter. Affalterbach 2017 (Kulturgeschichten. Studien zur Frühen Neuzeit, Bd. 3). Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 5. Aufl., Konstanz/München 2014; Hartmann: Praxis des Vertrauens (wie Anm. 89); Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2017, S. 102–140. Jürgen Weitzel: Werte und Selbstwertung juristisch-forensischen Begründens heute, in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Juristische Argumentation – Argumente der Juristen. Köln 2006 (QFHG, Bd. 49), S. 11–28, hier S. 19. Hierzu unlängst Falko Maxin: Juristische Wahrheit. Eine Studie zum richterlichen Tatsachenwissen im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2021 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 325), S. 5. Einschlägig vor allem die Arbeiten von Filippo Ranieri: Entscheidungsfindung und Technik der Urteilsredaktion in der Tradition des deutschen Usus modernus: das Beispiel der Aktenrelationen
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komplexer Praxisbegriff zugrunde, in dem Richter nicht als Menschen, sondern nur als Text vorkommen. Angesichts eines derart dekontextualisierten Zuganges verwundert es kaum, dass suchende Hände regelmäßig „Perlen konkreter Wissenschaft“¹¹² zu Tage fördern, die sich wie von selbst zu einem glitzernden Geschmeide rechtlicher Expertise aneinanderreihen. Ulrich Falk hat mit seiner innovativen Studie über den hochkommerzialisierten Verwertungskontext von Consilien frühneuzeitlicher Juristenfakultäten vorgeführt, dass es mit juristischen Mitteln auch anders geht und so zugleich bewiesen, dass sich rechtswissenschaftliche und praxeologische Zugänge keineswegs ausschließen, sondern vorzüglich ergänzen.¹¹³ Sofern die Justizforschung eine analytische Komplexitätssteigerung erreichen will, wäre dieser Weg in interdisziplinärer Zusammenarbeit konsequent fortzusetzen, denn natürlich ist es keineswegs falsch, Bezüge zwischen der Relationstechnik des usus modernus und dem Begründungsstil unserer Tage herzustellen. Eine solche Geschichte der Gegenwart sollte allerdings nicht im Stile einer weihrauchgeschwängerten Verdrängungsleistung betrieben werden, die gerade jene frühneuzeitlichen Formationen in dichten Nebel hüllt, die eine Fremdbeschreibung rechtlichen Wissens sichtbar zu machen hätte, weil sie sich simplifizierenden Fortschrittsnarrativen entziehen. Denn was über der standesbewussten Rede von den Relationen der Berichterstatter als „Garantien einer beträchtlichen Rechtssicherheit“¹¹⁴ weithin der Vergessenheit anheimfiel, ist dies: Der Diskurs um den Berichterstatter hat stattgefunden. Über Generationen hinweg wurde die maßgeblich auf ungleichmäßiger kollegialer Aktenkenntnis beruhende Expertise der Referenten als Einfallstor für eine interessengeleitete Rechtsprechung skandalisiert,
am Reichskammergericht, in: Alain Wijffels/David Ibbetson (Hrsg.), Case Law in the Making: The Techniques and Methods of Judicial Records and legal Reports, Bd. 1. Berlin 1997 (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History), S. 277–297; ders.: Stilus Curiae. Zum historischen Hintergrund der Relationstechnik, in: Rechtshistorisches Journal 4 (1985), S. 75–88; ders.: Entscheidungsfindung und Begründungstechnik im Kameralverfahren, in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß. Köln/ Weimar/Wien 2009 (QFHG, Bd. 56), S. 165–190. Wolfgang Schild: Relationen und Referierkunst: Zur Juristenausbildung und zum Strafverfahren um 1790, in: Jörg Schönert (Hrsg.), Erzählte Kriminalität. Tübingen 1991, S. 159–176, hier S. 170. Falk: Consilia (wie Anm. 5). Dass die Rechtsgeschichte alle Voraussetzungen mitbrächte, um sich in aktuelle kulturwissenschaftliche Diskussionen einzubringen, weist im Übrigen kenntnisreich nach: Martin P. Schennach: Recht – Kultur – Geschichte. Rechtsgeschichte und Kulturgeschichte. Wissenschaftshistorische und methodische Annäherungen, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 36 (2014), S. 2–31. Heinz Ludwig Berger: Die Entwicklung der zivilrechtlichen Relationen und ihrer denktechnisch-methodischen Argumentationsformen. Diss. jur., Frankfurt a. M. 1975, S. 64.
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und die Justiz der Gegenwart würde anders aussehen, wenn dies nicht genau so gesagt worden wäre. Auf dem intellektuellen Höhenkamm dieses Diskurses wird man beispielsweise auf Christoph Martin Wieland stoßen, der in seiner zwischen 1774 und 1780 publizierten Romansatire „Die Abderiten“ ein Gericht aufs Korn nimmt, das vom Votum des Berichterstatters niemals abweicht. Denn während der Referent aus den Akten vorträgt, hören die Beisitzer nicht etwa zu, sondern schwatzen, dösen, verdrücken ein Würstchen oder statten Prostituierten einen geschwinden Besuch ab. Bei diesem bunten Treiben waltete eine Art von stillschweigendem Compromiß auf den Referenten vor, und es geschah bloss um der Form willen, daß einige Minuten, eh er zur wirklichen Conclusion kam, sich jedermann wieder auf seinem Platz einfand, um mit gehöriger Feyerlichkeit das abgefaßte Urthel zu bekräftigen. ¹¹⁵ Ins gleiche Horn stieß im Epochenjahr 1789 ein österreichischer Anonymus: Die gefällten Urtheile, obwohl sie dem Buchstaben nach von ganzen Versammlungen abgefasset zu seyn scheinen, sind in der That doch nur Machtsprüche einzelner Personen, indem die Wahrheit der erstatteten Relationen von Niemand untersuchet wird. ¹¹⁶ Hier ging es nicht länger um Abdera, sondern um konkrete rechtspolitische Intervention. Fürsten und Minister wurden aufgefordert, den Referenten, deren Gekrüze ¹¹⁷ den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör gefährde, endlich das Handwerk zu legen. Mit seinem tiefen Misstrauen gegen die Berichterstatter stand der Anonymus keineswegs allein. Ebenfalls 1789 empörte sich der revolutionär angehauchte Publizist Wilhelm Ludwig Wekhrlin: hell leuchtet der Götterspruch auf der Rathsstube: Audiatur et altera pars. Wer ist dieser pars altera, wenn der Referent allein spricht, in dessen geschikter oder ungeschikter Macht es steht, der ungerechtesten Sache oft durch Ein Wort ein gerechtscheinendes verblendendes Gewand anzuziehen? ¹¹⁸ Man würde es sich zu einfach machen, täte man diese Äußerungen als topische Juristenschelte ab, wie es Rechtshistoriker gelegentlich tun. Das Ganze verfügt nämlich über einen evolutionären Clou, an dem eine Geschichte der Gegenwart unmöglich vorbeigehen kann. Denn nur 25 Jahre nach Wekhrlin meldete sich eine Phalanx aus liberalen Richtern und Rechtsprofessoren zu Wort, um zum selben Ergebnis zu kommen: Die überkommene Kombination aus Kollegialprinzip, schriftlichem Verfahren und ungleichmäßig verteilter Aktenkenntnis sei ein er-
Christoph Martin Wieland: Geschichte der Abderiten. Studienausgabe. Stuttgart 2012, S. 248. Philantrop: Gedanken über die Justizverwaltung. Fürsten und Ministern gewidmet. Wien 1789, S. 8. Ebd., S. 17. Wilhelm Ludwig Wekhrlin: Fromme Wünsche die häußliche Einrichtung von Strasburg betreffend, in: Hyperboreische Briefe 4 (1789), S. 219–230, hier S. 222.
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kenntnistheoretischer Witz, von dem eine unkontrollierbare Gefahr für den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör ausgehe. Von Vertrauen in die Expertise der Berichterstatter ist in diesem nach 1815 geführten Diskurs nicht das Geringste zu spüren. Stattdessen hieß es nun aus berufenem Munde, die in der Justiz herrschende Aktenwirtschaft sei keineswegs dazu geeignet, das Mißtrauen in die Menschlichkeiten geweihter Diener der Gerechtigkeit ¹¹⁹ zu zerstreuen. Ein Wort ergab das andere, und am Ende blieben nur noch mehrhundertjährige verkehrte Staatseinrichtungen,¹²⁰ reif für die Abrissbirne. Was gestern noch ein materiales Artefakt juristischer Expertise gewesen war, mutierte zu Aktenhaufen […], in denen die Parteienrechte, wie zur ewigen Ruhe, beigesetzt waren. ¹²¹ Und ganz oben auf diesem Haufen saßen die Berichterstatter, die mit ihren Relationen den Tempel der Themis zum Marktplatz einer verworfenen und verwerflichen Referenten-Wirthschaft ¹²² herabgewürdigt hatten. War man aber von der strukturellen Absurdität des Bestehenden erst einmal überzeugt, konnte man rechtspolitisch nicht länger untätig bleiben, denn die erkenntnistheoretische Diskrepanz zwischen Norm und Praxis erschien unerträglich. Um den Augiasstall, in dem Justitia gefangen schien, auszumisten, musste man die Kollegialgerichtsbarkeit entweder zugunsten von Einzelrichtern gänzlich abschaffen oder aber die Sachverhaltskonstruktion auf eine Weise neu konzipieren, die gänzlich ohne die schillernde Expertise von Referenten auskam. Die erste Variante war zu radikal, doch auch die zweite Option hatte es in sich. Über Jahrhunderte hinweg hatte der Rationalitätsanspruch der höchsten Gerichte Deutschlands auf der Maxime Quod non est in actis non est in mundo beruht, doch nun schälte sich heraus: „Nur das mündliche Verfahren ermöglicht eine wahrhaft kollegialische Behandlung der Rechtssachen.“¹²³ Am Ende stand § 119 der Reichszivilprozessordnung von 1877: „Die Verhandlung der Parteien über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gerichte ist eine mündliche.“¹²⁴ Vor lauter Standesbewusstsein hat die Forschung die Tatsache weithin verdrängt, dass die Einführung der Mündlichkeitsmaxime neben allem anderen auch Anselm von Feuerbach: Betrachtungen über die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege, Bd. 1. Gießen 1821, S. 99. Rudolph von Holzschuher: Der Rechtsweg. Ein Versuch vergleichender Gesetzes-Kritik des französischen mündlichen und gemeinen deutschen schriftlichen Civil-Processes. Nürnberg 1831, S. 47. Adolph Gad: Zur Verständigung über den Entwurf einer Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für den Norddeutschen Bund. Berlin 1870, S. 15. Ebd., S. 17. Arthur Engelmann: Der Civilprozeß. Geschichte und System, Bd. 1. Breslau 1889, S. 114. Hier zitiert nach: M. Delius: Die Prozeßordnungen und die Gerichtsverfassung für das Deutsche Reich. Mit Erläuterungen aus den Materialien der Gesetze. Leipzig 1877, S. 65.
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ein absolutes Misstrauensvotum gegen die juristische Expertise der Berichterstatter bildete, auf die man künftig ganz verzichten zu können glaubte. Schließlich sollten die Akten fortan nicht länger die Erkenntnisgrundlage bilden, sondern nur noch jene mündliche Verhandlung vorbereiten, in der sich der Sachverhalt allen Mitgliedern des Spruchkörpers unmittelbar und unverfälscht mitteilen würde. An keinem Gericht des Deutschen Reiches, weder im Zivil- noch im Strafprozess, sollte künftig noch referiert werden.¹²⁵ Hinfort mit dem Berichterstatter – das war die große rationale Verheißung des Jahres 1877. Wie immer kam es erstens anders und zweitens als man denkt. Während die erkennenden Gerichte landauf, landab mündlich verhandelten, erscholl das Geklingel des Aktenwagens bald lauter als jemals zuvor. Und welcher juristische Experte saß oben auf dem Bock? Natürlich der Berichterstatter. Schon bald war aufs Neue von einem dubiosen Referentensystem die Rede, das sich zwischen das Gericht und die Parteien schiebe und deren Anspruch auf rechtliches Gehör gefährde.¹²⁶ Doch weil das Rechtssystem seine Entscheidungsprämissen nicht ständig neu erfinden kann, es also irgendwann auch einmal gut sein muss, hat Justitia diese Kritik ausgesessen. Deshalb ist es in unseren Tagen möglich, dass Strafsenate des Bundesgerichtshofes, in denen drei von fünf Richtern die Akte nicht gelesen haben, über mehr als 90 % der Revisionen in einem Beschlussverfahren entscheiden, in dem eine mündliche Verhandlung nicht zuletzt aus prozessökonomischen Gründen gar nicht stattfindet.¹²⁷ Uns Heutige lässt das weitgehend kalt, doch die um Rationalität kollegialen Entscheidens bemühten Väter der Mündlichkeitsmaxime hätten sich bei alledem im Grabe herumgedreht. Denn was Fischer in unseren Tagen problematisiert, ist nichts anderes als jene allerungründlichste und leichtfertigste von allen Prozeduren,¹²⁸ gegen die Deutschlands liberale Jurisprudenz im Vorfeld des prozessrechtlichen Paradigmenwechsels von 1877 jahrzehntelang angerannt ist. Und so sind im Strom der Zeiten vom 18. bis ins 21. Jahrhundert bereits einige Perlen konkreter Wissenschaft an uns vorbeigerauscht, nach denen es sich zu bücken lohnt, sofern akteurszentrierte Perspektiven auf Praktiken und Diskurse kollegialer juristischer Expertise entwickelt werden sollen. Dass in der im 19. Jahrhundert ausgetragenen rechtspolitischen Auseinandersetzung um die Berichterstatter Begriffe des Misstrauens Karriere machten, die bereits in der Aufklärung geformt worden waren, verdeutlicht, dass man hierbei mit den unter Historikern so beliebten
Siehe Rudolf von Gneist: Die Studien- und Prüfungsordnung der Deutschen Juristen. Berlin 1878, S. 14. So etwa bei Leo Vossen: Das Referentensystem im Zivilprozess, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 2 (1908/1909), S. 121–127, hier, S. 127. Fischer: Denkanstoß (wie Anm. 98), S. 31–34. Künßberg: Beiträge zur Diagnose der deutschen Prozessnoth (wie Anm. 76), S. 83.
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Scheuklappen nicht weit kommen wird. Die Antwort auf die Gretchenfrage, warum wir heute unter Rückgriff auf Systemvertrauen eine mangelnde kollegiale Aktenkenntnis tolerieren, die vor 200 Jahren noch als irrational skandalisiert worden wäre, wird eine zölibatär vereinsamte Frühneuzeitforschung kaum zu finden wissen. Wer das mikrohistorische Potential praxeologischer Zugänge nutzen will, um zu makrohistorischen Erkenntnissen über die Ausdifferenzierung des Rechtssystems zu gelangen, kann 1789 oder 1806 nicht stehen bleiben, sondern muss epochenübergreifend argumentieren. Worin dabei der genuine Beitrag der Frühneuzeitforschung bestehen müsste, dürfte bereits deutlich geworden sein: Durch eine Fremdbeschreibung kollegialer Aktenarbeit, Sachverhaltskonstruktion und Relationstechnik wäre zu eruieren, warum vormoderne Justizkollegien der Gesellschaft trotz ihres bereits hoch komplexen Entscheidungsprogramms offenbar keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Ausbildung von Systemvertrauen bieten konnten, so dass es schließlich zur Diskursivierung des in den Spruchkörpern herrschenden informationellen Ungleichgewichts zugunsten der Berichterstatter als einer „Referentenwirtschaft“ kommen konnte. Das Ganze ist, wie man bereits ahnt, ausgesprochen kompliziert, sodass im Folgenden lediglich einige Gedanken zur Diskussion gestellt werden können, deren Tragfähigkeit gegebenenfalls in monographischem Rahmen zu untersuchen wäre.
6 Warum der Abschied von gleichmäßiger Aktenkenntnis aller Beisitzer in der Frühen Neuzeit eigentlich unwahrscheinlich und irrational war Ansetzen ließe sich bei der bereits zitierten Königsberger Hofgerichtsordnung von 1578, die das Verlesen alles schriftlichen Vorbringens im Spruchkörper nach vorgängiger Bearbeitung durch einen Referenten anordnete. Diese Regelung, die man in ähnlicher Form auch in anderen Normtexten des 16. Jahrhunderts finden wird,¹²⁹ verdeutlicht, dass die Einführung einer internen Geschäftsverteilung und der förmliche Verzicht auf allseitige Aktenkenntnis chronologisch keineswegs in eins fielen. Während die Tätigkeit von Berichterstattern an einigen Kollegien bereits im
Siehe den einschlägigen Passus der Reichshofratsordnung von 1559 bei Wolfgang Sellert (Bearb.): Die Ordnungen des Reichshofrates 1550–1766, 2 Bde. Köln/Wien 1980/1990, hier Bd. 1, S. 31 f.
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Hoch- und Spätmittelalter nachweisbar ist,¹³⁰ scheint man sich vom Anspruch, alles Vorbringen im Beratungszimmer noch einmal zu verlesen, auf breiter Front erst seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert verabschiedet zu haben.¹³¹ An die Stelle regulärer Vorlesung traten sukzessive diverse Substitute, die darauf abzielten, das informationelle Ungleichgewicht zugunsten der Referenten zumindest ad hoc zu verringern. So räumten Gerichtsordnungen den Beisitzern etwa das Recht ein, die Akte im Vorfeld der Abstimmung zum Selbststudium mit nach Hause zu nehmen¹³² oder beim Sitzungsleiter eine Verlesung im Plenum zu beantragen.¹³³ Darüber hinaus konnten die Vorsitzenden, die im Zeitalter vor dem Geschäftsverteilungsplan in der Regel äußerst weitreichende Kompetenzen besaßen, dem Berichterstatter einen Korreferenten zur Seite stellen oder ein die Sitzung vorbereitendes Umlaufverfahren anordnen. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, hinsichtlich der zu treffenden Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Wichtigkeitsgraden zu differenzieren und die hergebrachte Vorlesung der gesamten Akte auf bedeutende Beschlüsse einzuschränken. Beispielsweise unterschied man am Reichshofrat im 17. und 18. Jahrhundert zwischen currentia (prozessleitenden Verfügungen) und definitiva (Endurteilen) und insistierte nur bei Letzteren darauf, den Beisitzern alle Schriftsätze unmittelbar zur Kenntnis zu bringen.¹³⁴ Allerdings bildeten diese Instrumente keineswegs ein funktionales Äquivalent jener regulären Vorlesung, die man – sofern je praktiziert – seit dem späten 16. Jahrhundert nahezu allerorts normativ aufgab. Schließlich wären die im Vergleich zur Gegenwart mitunter erheblich größeren frühneuzeitlichen Spruchkörper mit einem Schlag arbeitsunfähig geworden, wenn Beisitzer regelmäßig von ihrem So beispielsweise an der als Berufungsinstanz des Paris Parlement fungierenden Chambre des enquête Berichterstatter seit dem 13. Jahrhundert. Siehe Cohen: Ex Ante Versus Ex Post Deliberations (wie Anm. 90), S. 416. Die Juristenfakultät Jena vollzog diesen Schritt beispielsweise zwischen 1558 und 1569. Siehe Angela Kriebisch: Die Spruchkörper Juristenfakultät und Schöppenstuhl zu Jena. Strukturen, Tätigkeit, Bedeutung und eine Analyse ausgewählter Spruchakten. Frankfurt a. M. 2008 (Rechtshistorische Reihe, Bd. 381), S. 110, 125. Hierzu mit Blick auf den Reichshofrat Vincenz Hanzely: Grundlinien der heutigen Reichshofrathspraxis im Allgemeinen, mit erläuternden Anmerkungen und Beyspielen. Frankfurt a. M./ Leipzig 1785, S. 90. Beispielsweise enthält ein erstmals 1622 publizierter Entwurf einer idealen Hofgerichtsordnung einen Passus, der dem einzelnen Rat das Recht einräumte, zu beantragen, im Plenum „alle Acta von Wort zu Wort“ zu verlesen. Hier zitiert nach dem späteren Druck: Georg Engelhard von Löhneysen: Hof-, Staats- und Regierkunst. Frankfurt a. M. 1679, S. 439. Hierzu Tobias Schenk: Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y. Epochenübergreifende Überlegungen zu gerichtlichen Urteils- und Vergleichsquoten aus institutionengeschichtlicher Perspektive, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 137 (2020), S. 91–233, hier S. 159–168.
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Recht Gebrauch gemacht hätten, die Akte zum Selbststudium mit nach Hause zu nehmen.¹³⁵Aus Geheimhaltungsgründen stand man am Kaiserhof und in der Territorialjustiz auch regulären Umlaufverfahren skeptisch gegenüber, so dass dieses Prozedere jenseits der Juristenfakultäten erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert an Bedeutung gewann.¹³⁶ Ferner dürfte eine empirische Analyse der Praxis spruchkörperinterner Geschäftsverteilung nicht nur beim Reichshofrat zu dem Ergebnis führen, dass in den meisten Prozessen Korreferenten nicht ernannt wurden.¹³⁷ Nimmt man schließlich hinzu, dass am Reichshofrat relativ konstant etwa 75 % der gefällten Entscheidungen in die Kategorie jener currentia fielen, bei denen man auf eine Verlesung der gesamten Akte im Regelfall verzichtete,¹³⁸ gewinnt man einen ungefähren Eindruck davon, was im Bereich kollegialer Rechtsprechung während des 16. und 17. Jahrhunderts in wissenssoziologischer Hinsicht geschehen ist: Kollegien, die noch zu Beginn der Neuzeit durch die normative Forderung nach gleichmäßiger Aktenkenntnis aller Beisitzer den Anspruch zum Ausdruck gebracht hatten, ein In-medio-Verfahren anzuwenden, unterwarfen ihren Entscheidungsprozess einer Ex-ante-Logik. Über den „tatsächlichen“ Einfluss der Berichterstatter auf einzelne Entscheidungen ist damit noch nichts gesagt. Fest steht allerdings dies: Wenn es so etwas wie einen typischen frühneuzeitlichen Kollegialakt gibt, kam dieser landauf, landab in Spruchkörpern zu Stande, in denen mit Ausnahme des Vorsitzenden¹³⁹ und des
In einem Gutachten, das Reichshofrat Johann Christoph Burkhard von der Klee 1740 anonym an den Mainzer Kurfürsten richtete, um diesen auf die aus seiner Sicht am Reichshofrat herrschenden Missstände aufmerksam zu machen, ist davon die Rede, dass ein Gesuch um Bedenkzeit im Kollegenkreis übel aufgenommen würde. Siehe ÖStA HHStA, MEA, RHR, K. 10a, Nr. 1 (Tit. 5 § 6). Zu diesem Wandel zeitgenössisch: Art. „Staatsverwaltung“, in: Johann Georg Krünitz (Hrsg.), Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, Bd. 166. Berlin 1837, Sp. 1–397, hier Sp. 343; zu Umlaufverfahren an Juristenfakultäten Erich Döhring: Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500. Berlin 1953, S. 237. Daran lassen Stichproben in den insgesamt 13 um 1690 einsetzenden Referentenprotokollen des Reichshofrats keinen Zweifel. Beispielsweise entfielen 1757 in der deutschen Expedition bei 1.771 Referaten 1.616 auf currentia und 12 auf Endurteile, 1767 bei 1.460 Referaten 1.161 auf currentia und 6 auf Endurteile und 1775 bei 1.946 Referaten 1.522 auf Currentia und 12 auf Endurteile. Siehe ÖStA HHStA, RK, Verfassungsakten, RHR, K. 9/10, Bl. 39, 47, 69. Nebenbei sei bemerkt, dass vermeintlich „niedrige“ Urteilsquoten nicht etwa ein Alleinstellungsmerkmal vormoderner Konsenskulturen bilden, wie gelegentlich zu lesen ist. Hierzu im Epochenvergleich Schenk: Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y (wie Anm. 134). Im Epochenvergleich rührte die Aktenkenntnis frühneuzeitlicher Vorsitzender übrigens nicht in erster Linie daher, dass von diesen die Gewährleistung einer juristisch kohärenten Spruchtätigkeit erwartet worden wäre, wie dies in der Gegenwart der Fall ist. Sie folgte vielmehr aus dem vielfach monokratisch ausgeübten Präsentationsrecht, also der Befugnis zur Öffnung und Verteilung eingehender Post. Hierzu Schenk: Unbeobachtet vorübergegangen (wie Anm. 78).
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Referenten kein Beisitzer die Akte gelesen hatte.¹⁴⁰ Abgestimmt wurde im Regelfall nicht länger auf Grundlage des schriftlichen Parteivorbringens, sondern auf Basis des Referentenvotums – und zwar in weitgehender Ermangelung regulärer Umlaufverfahren aus dem Stegreif, ¹⁴¹ wie der Reichshofrat 1767 gegenüber Joseph II. erklärte. Die Strafsenate des Bundesgerichtshofes halten es mit der kollegialen Aktenkenntnis in unseren Tagen nicht grundsätzlich anders, ohne dass darüber der Rechtsstaat zu Schanden ginge. Sinn und Zweck eines Kollegialgerichts bestehen schließlich nicht darin, dass alle Beisitzer die Akte lesen, sondern dass am Ende die richtige Entscheidung dabei herauskommt – sagt das Bundesverfassungsgericht, also muss es stimmen. Doch wo die Gegenwart achtlos mit den Schultern zuckt, lief es so manchem Zeitgenossen der Vormoderne eiskalt den Rücken herunter. Es war bereits davon die Rede, dass zahlreiche Kollegien, obwohl sie bereits eine interne Geschäftsverteilung eingeführt hatten, noch über Generationen hinweg am Anspruch gleichmäßiger Aktenkenntnis festhielten. Diese sich zierende Inkonsequenz, die uns heutigen in all unserer aufgeklärten Arroganz gegenüber der Vergangenheit so eigenartig anmutet, rührte nicht etwa daher, dass man das Problem in grauer Vorzeit nicht richtig erfasst und rational zu Ende gedacht hätte. Der Eiertanz um die Aktenkenntnis wurde aufgeführt, weil es aus Sicht einer sozial stratifizierten Gesellschaft, die nicht etwa durch anonyme Behörden, sondern durch den Kit von Verwandtschaft und Freundschaft zusammengehalten wurde, tatsächlich hochgradig irrational war, einem einzelnen Beisitzer, und sei dieser noch so gelehrt, womöglich bestimmenden, jedenfalls intransparenten Einfluss auf den Kollegialakt einzuräumen. Wer von den sozialen Regeln der frühneuzeitlichen Gesellschaft auch nur das Geringste begriffen hat, wird ohne weiteres erkennen, was für eine ungeheure Zumutung ein institutionalisiertes informationelles Ungleichgewicht innerhalb der Kollegien darstellen musste. Es stünde der Justizforschung schlecht zu Gesicht, wollte sie diese Zumutung im Fahrwasser älterer rechtshistorischer Darstellungen ex post mit Hilfe von Rationalitätsmythen zudecken und die durch sie hervorgerufenen Friktionen als topische, keiner näheren Analyse bedürftige Juristenschelte abqualifizieren. Die Wissenschaft hat diese Zumutung vielmehr ernst zu nehmen und sich damit
An diesem Befund ändert übrigens auch die Audienz am Reichskammergericht nichts, da hier zwar die Schriftsätze verlesen wurden, die Mehrzahl der Assessoren jedoch gar nicht anwesend war. Zur Audienz zuletzt Anette Baumann: Visitationen am Reichskammergericht. Speyer als politischer und juristischer Aktionsraum des Reiches (1529–1588). Berlin/Boston 2018 (baR, Bd. 24), S. 73–80; Maria von Loewenich: Amt und Prestige. Die Kammerrichter in der ständischen Gesellschaft (1711– 1806). Wien/Köln/Weimar 2019 (QFHG, Bd. 72), S. 80–90. ÖStA HHStA, RK, Verfassungsakten, RHR, K. 8, Konv. 3, Nr. 2.
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auseinanderzusetzen, warum man sich überhaupt auf sie einließ und wie Gerichtsorganisation und Umwelt im Zeitverlauf mit ihr umgegangen sind. Denn noch einmal: Die Preisgabe des Anspruchs auf gleichmäßige Aktenkenntnis widersprach nicht nur der Idealkonzeption von Kollegialität, sondern verstieß auch diametral gegen die soziale Logik vormoderner, nicht zur Ausbildung von Systemvertrauen befähigter Gesellschaften. Es war deshalb unwahrscheinlich, dass man sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts vielerorts dazu bereitfand, auf die Verlesung alles Vorbringens in pleno zu verzichten und die kollegiale Kontrolle der Berichterstatter somit vorderhand zu lockern. Dabei griffe es zu kurz, wollte man es allein auf den emporwachsenden Papierberg zurückführen, dass die Kollegien den Anspruch auf gleichmäßige Aktenkenntnis dennoch aufgaben.¹⁴² Noch zur Mitte des 17. Jahrhunderts landeten auf dem Schreibtisch des Reichshofratspräsidenten per anno nicht mehr als etwa 2 000 Schriftstücke unterschiedlichsten Umfangs.¹⁴³ Bei aller gebotenen Vorsicht wird man feststellen dürfen, dass es sich hierbei um einen Bruchteil dessen handelt, womit sich in der Gegenwart jeder Senat der ordentlichen Gerichtsbarkeit konfrontiert sieht. Man könnte es sich deshalb ohne weiteres vorstellen, dass ein beliebiges Oberlandesgericht oder der Bundesgerichtshof einen derartigen Geschäftsanfall ohne größere Mühe erledigen und zugleich – nämlich durch ein reguläres Umlaufverfahren – am Anspruch gleichmäßiger Aktenkenntnis aller Beisitzer festhalten könnte. Der Epochenvergleich mag hinken, verdeutlicht jedoch, wie fragwürdig es ist, wenn – sei es nun gestützt auf richterliche Selbstbilder oder rechtspolitisch motivierte publizistische Stellungnahmen – in historischen Darstellungen regelmäßig davon die Rede ist, frühneuzeitliche Gerichte seien „überlastet“ gewesen.¹⁴⁴ Zeit bildet nicht etwa eine anthropologische Grundkonstante, sondern eine soziale
Diese Feststellung fällt übrigens auch auf mich zurück, da ich an anderer Stelle davon gesprochen habe, die Bestellung von Referenten sei „einzig und allein [mit] dem Diktat des Geschä ftsanfalls“ zu erklären. Siehe Schenk: Vom Reichshofrat über Cocceji zu PEBB§Y (wie Anm. 134), S. 161. Dies auf Grundlage einer statistischen Auswertung der Exhibitenprotokolle. Detailliert bei Tobias Schenk: Actum et judicium als analytisches Problem der Justizforschung. Interdisziplinäre Perspektiven auf kollegiale Entscheidungskulturen am Beispiel des kaiserlichen Reichshofrats. Wetzlar 2022 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 51), S. 85–89. Herzlicher Dank für die Auszählung gebührt meinen Kolleginnen Sandra Weiss, Sonja Donabaum und Stefanie Preisl. So etwa mit Blick auf das Reichskammergericht Jürgen Weitzel: Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland. Köln/ Wien 1976 (QFHG, Bd. 4), S. 254.
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Konstruktion,¹⁴⁵ und auch der Maßstab des Arbeitspensums, das Organisationen ihren Mitgliedern zumuten können, hat sich seit der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert anzusetzenden Geburt einer sich kontinuierlich beschleunigenden Disziplinargesellschaft grundsätzlich gewandelt.¹⁴⁶ Wir, die wir auf doppelte Weise in ganz anderen Zeiten leben als ein Reichskammergerichtsassessor oder ein Reichshofrat, verfügen somit über keinerlei empirische Anhaltspunkte, um gerichtliche Überlastung objektiv festzustellen. Sehr wohl analysieren lässt sich hingegen eine Entscheidungsprämisse, von der die große Erzählung über die Genese einer „wissenschaftlich fundierten Rechtspflege in Deutschland“¹⁴⁷ nur unterkomplexe Vorstellungen vermittelt, obwohl sie Aktenarbeit und Relationstechnik in der Frühen Neuzeit massiv beeinflusst hat: das richterliche Personal.
7 Repräsentierendes Personal als unterschätzte Entscheidungsprämisse gelehrter Relationstechnik: zur Funktion von adeligen Behördenvorständen und Räten der Herrenbänke an den Grenzstellen frühneuzeitlicher Justizkollegien Es ist gewiss kein Zufall, dass sich die rechtshistorische Auseinandersetzung mit vormoderner kollegialer Spruchtätigkeit zunächst auf die Juristenfakultäten und sodann auf das Reichskammergericht konzentrierte, während der Reichshofrat und die territorialen Obergerichte erst deutlich zeitversetzt ins Blickfeld breiterer Forschungstätigkeit gerieten. Über Jahrzehnte hinweg befassten sich juristisch geschulte Autoren vornehmlich mit jenen frühneuzeitlichen Rechtsorganisationen, deren personelle Zusammensetzung einem auf die eigene Person zulaufenden Fortschrittsnarrativ den geringsten Widerstand entgegenzusetzen schien. Denn wie der Name bereits sagt, hat man es bei Juristenfakultäten von vorneherein nur mit studierten Juristen bürgerlicher Herkunft zu tun. Und auch das Reichskammerge Anregend hierzu Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2014. Hierzu klassisch am Beispiel der französischen Strafjustiz: Foucault: Überwachen und Strafen (wie Anm. 31); vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2020. Adolf Laufs (Hrsg.): Die Reichskammergerichtsordnung von 1555. Köln/Wien 1976 (QFHG, Bd. 3), S. 4.
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richt, an dem ein mindestens fünfjähriges Universitätsstudium als Einstiegsvoraussetzung bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den bürgerlichen auf die ritterbürtigen Assessoren ausgedehnt wurde,¹⁴⁸ bildete unzweifelhaft einen Schrittmacher der Professionalisierung. Wo Juristen auf Juristen blickten, lag die Conclusio nicht fern, es sei höchstrichterliche Rechtsprechung bereits vor 300 Jahren von einer juristischen „Funktionselite“¹⁴⁹ – und nur von dieser – getragen gewesen. Zur Beschreibung der gesellschaftlichen Stellung frühneuzeitlicher Juristen ist dieser auf die Moderne gemünzte soziologische Begriff allerdings gänzlich ungeeignet. Schließlich meint er Personal, das zur Teilnahme an der Führung „nicht kraft einer gleichsam natürlichen, exklusiven gesellschaftlichen Qualität als Träger vorgegebener kultureller Werte berechtigt [ist], sondern durch seine beruflich-fachlichen Fähigkeiten und seine Leistungen bei der Wahrnehmung einer im Ordnungsgefüge der Gesellschaft gegebenen Funktion“.¹⁵⁰ Aus soziologischer Perspektive verkörpert jemand wie Thomas Fischer also nicht deshalb eine Funktionselite, weil er als ein Fischer geboren wurde, sondern weil es ihm kraft fachlicher Fähigkeiten gelang, vom Paketzusteller nicht in irgendeine, sondern in eine Leitungsposition am Bundesgerichtshof aufzurücken. Und nun drehen wir das Rad einmal zurück. Jutta Limbach (1934–2016) oder Bettina Limperg (*1960) hätten am Reichskammergericht höchstens als Reinigungskräfte an der Rechtsprechung mitwirken können, und selbst für die Herren der Schöpfung geht mit der Rede von frühneuzeitlichen Funktionseliten eine Komplexitätsreduktion kapitalen Ausmaßes einher. Denn von Dr. hc. Hermann Weinkauff (1894–1981) bis zu Prof. Dr. Klaus Tolksdorf (*1948) und von Hermann Höpker-Aschoff (1883–1954) bis hin zu Stephan Harbarth (*1971) hätte es kein einziger Präsident von Bundesgerichtshof oder Bundesverfassungsgericht an den vormodernen Reichsgerichten in eine Leitungsposition geschafft. Als Reichshofratspräsident oder Kammerrichter hieß man nämlich nicht Dr. hc. Meier oder Prof. Dr. Müller, sondern Fürst von Oettingen oder zumindest Graf von Reigersberg. Selbst die angesehensten Universitäten des Reiches vergaben keinen akademischen Titel, der das magische Adelsprädikat auch nur im Entferntesten aufgewogen hätte.
Jahns: Reichskammergericht (wie Anm. 58), S. 464–473. So etwa Bernd Schildt: Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank, in: Battenberg/Ders. (Hrsg.), Reichskammergericht (wie Anm. 57), S. 35–60, hier S. 60. Otto Stammer: Zum Elitenbegriff in der Demokratieforschung, in: Olaf Triebenstein (Hrsg.), Sozialökonomie in politischer Verantwortung. Festschrift für Joachim Tiburtius. Berlin 1964, S. 67– 80, hier S. 75.
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Dass die ständische Dignität der Behördenchefs und Senatsvorsitzenden im Zeitverlauf tendenziell sank¹⁵¹ und sich auch der Adel mit einem zunehmenden Druck zum Erwerb juristischer Kenntnisse konfrontiert sah, ändert nichts an der Tatsache, dass jenseits der Juristenfakultäten die Führungspositionen in der Kollegialgerichtsbarkeit auf Reichs- und auf territorialer Ebene bis ins 19. Jahrhundert hinein weithin einer adligen Standeselite vorbehalten blieben. Bevor man sich nicht darüber klar geworden ist, warum dies so war, kann man sich der sozialen Praxis frühneuzeitlicher Relationstechnik nicht adäquat annähern. Zumindest im 16. und 17. Jahrhundert wäre ein bürgerlicher Chef allein deshalb undenkbar gewesen, weil vom Vorsitzenden explizit erwartet wurde, den abwesenden Fürsten als Träger der Justizhoheit im Wortsinn zu verkörpern. ¹⁵² Da die Rechtsgeschichte Kollegialität gemeinhin als „Verkehr zwischen körperlosen Geistern“¹⁵³ imaginiert (was im Rahmen einer Selbstbeschreibung des Rechtssystems auch völlig konsequent ist¹⁵⁴), kann sie mit dem sperrigen Konzept der Realpräsenz nichts anfangen. Dabei stellten etwa die Reichshofratsordnungen von 1610 und 1654 äußerst sinnreiche Bezüge zwischen dem Präsidenten und dem Apostel Petrus als weltlichem Statthalter Jesu Christi her.¹⁵⁵ Joseph II. ging vermutlich nicht mehr davon aus, in irgendeinem höheren Sinne durch seinen Präsidenten persönlich im Reichshofrat anwesend zu sein. Im 16. und 17. Jahrhundert hatte man sich bei der Sakralisierung des Präsidentenamtes jedoch offensichtlich etwas gedacht, zumal die Reichshofratsordnung in dieser Hinsicht keineswegs einzigartig dasteht.¹⁵⁶ Und selbst nachdem aufgeklärter Antiritualismus die Vorstellung einer Realpräsenz des Fürsten im Vorsitzenden hinweggefegt hatte, kam ein bürgerlicher Chef immer noch nicht in Betracht, weil dies auf Reichs- wie Siehe für die Kammerrichter Loewenich: Amt und Prestige (wie Anm. 140), S. 116–151; vgl. mit Blick auf die Präsidenten Jahns: Reichskammergericht (wie Anm. 58), S. 135–141. Hierzu hinsichtlich des Kammerrichters Loewenich: Amt und Prestige (wie Anm. 140), S. 83. Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik (wie Anm. 52), S. 110. Vgl. Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung (wie Anm. 6), S. 56 f.: „Das Modell der Kommunikation unter Anwesenden ist keine Erzeugungsregel für Reflexionstheorien der modernen Gesellschaft. Stattdessen wird der Orientierungswert von interaktionsunabhängigen Größen betont. […] Die Rechtstheorie denkt bei Verfahren kaum noch an die tatsächlich ablaufende Interaktion vor Gericht und reagiert mit spürbarer Irritation, wenn ihr soziologische Analysen dieser Interaktion vorgelegt werden.“ Hierzu Tobias Schenk: Die Vota ad Imperatorem des kaiserlichen Reichshofrats. Zur Verfahrensautonomie an einem herrschernahen Höchstgericht der Frühen Neuzeit, in: Amend-Traut/ Czeguhn/Oestmann (Hrsg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper (wie Anm. 98), S. 239–348, hier 275 f. Zu ähnlichen Entwicklungen im Königreich Neapel: Dolores Freda: The Sacro Regio Consiglio of Naples, 15th–17th century, in: A.M. Godfrey/C.H. van Rhee (Hrsg.), Central Courts in Early Modern Europe and the Americas. Berlin 2020 (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History, Bd. 34) S. 419–437, hier S. 422.
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auf territorialer Ebene einen Affront gegenüber dem Adel dargestellt hätte, der sein aus dem Mittelalter überkommenes Recht verteidigte, von niemandem außer sich selbst gerichtet zu werden.¹⁵⁷ Es war deshalb ein Paukenschlag, als Friedrich der Große 1750 erstmals einen bürgerlichen Regierungspräsidenten ernannte, diesen noch nicht einmal nobilitierte und bei alledem auch noch die Frechheit besaß zu erklären, dass die Noblesse [es] sich gefallen lassen muß, was vor Personen ich Ihnen zur Administration der Justiz vorsetze, auch allemal zufrieden sein kann, wenn Ich darunter mehr auf redliche, fleißige und geschickte Subjekte als auf leere Namen sehe. ¹⁵⁸ So konnte man reden, wenn man zwei Kriege gewonnen und 100 000 Mann auf den Beinen hatte. Nie und nimmer hätte Joseph II. in einem solchen Ton mit den Reichsfürsten sprechen und ihnen par ordre du mufti einen ebenso redlichen wie geschickten Dr. Müller als Reichshofratspräsidenten vorsetzen können, weil es auf leere Namen im Zeitalter der Aufklärung nicht länger ankomme. Zudem übersieht die Forschung bislang weitgehend, dass die Behördenvorstände nicht etwa nur repräsentierten, sondern infolge ihrer Funktionen im Rahmen der Sitzungsleitung, der Disziplinaraufsicht über die Beisitzer und der Gerichtsverwaltung über zahlreiche sehr konkrete Eingriffsmöglichkeiten in das Verfahren verfügten. Folglich muss man keinen cultural turn hinter sich haben, um das rechtshistorische Desinteresse an der Amtsführung der Chefs bemerkenswert zu finden. Schließlich dürfte jeder Jurist um die Bedeutung wissen, die der Gerichtsverwaltung selbst im geltenden Recht zukommt, obwohl dieser besonders sensible Bereich der Exekutive längst justizförmig eingehegt und an die Kette von Geschäftsverteilungsplänen gelegt wurde.¹⁵⁹ Doch während für die moderne Gerichtsverwaltung eine ganze Reihe gewichtiger, zum Teil rechtsvergleichend angelegter Studien vorliegt,¹⁶⁰ klafft für die Frühe Neuzeit ein Loch, obwohl man es mit
Hierzu zeitgenössisch etwa August von Kotzebue: Vom Adel. Bruchstück eines grösseren historisch-philosophischen Werkes über Ehre und Schande, Ruhm und Nachruhm aller Völker, aller Jahrhunderte. Leipzig 1792, S. 46. Kabinettsordre an Justizminister Samuel von Cocceji vom 13.08.1750, zitiert nach Gustav Schmoller/Otto Hintze (Hrsg.): Behördenorganisation und allgemeine Staatsverwaltung (Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert), Bd. 9. Berlin 1907, S. 40 f. Verwiesen sei lediglich auf die Diskussion über die Wechselwirkungen zwischen der Gerichtspraxis und der Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente in der Gerichtsverwaltung. Hierzu die Beiträge in: Helmuth Schulze-Fielitz/Carsten Schütz (Hrsg.): Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit. Berlin 2002 (Die Verwaltung, Beiheft 5). Fabian Wittreck: Die Verwaltung der Dritten Gewalt. Tübingen 2006 (Jus Publicum, Bd. 143); Martin Minkner: Die Gerichtsverwaltung in Deutschland und Italien. Demokratische versus technische Legitimation. Tübingen 2015 (Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung, Bd. 33); Alexander von Bernstorff: Die Gerichtsverwaltung in Deutschland und England. Berlin 2018 (Studien
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einer Epoche zu tun hat, in der die (spruchkörperinterne) Geschäftsverteilung weitgehend der „diskretionären Gewalt“¹⁶¹ der Chefs unterlag und daran anknüpfende zeitgenössische Auseinandersetzungen um eine interessegeleitete Justiz seit langem bekannt sind.¹⁶² Nach alledem drängt sich beinahe der Eindruck auf, man ginge dem Thema aus dem Weg, weil man ahnt, was bei näherer Analyse der Problematik herauskäme.¹⁶³ Im Vergleich zur Gegenwart bleibt jedenfalls zweierlei festzuhalten: 1. Jenseits der Juristenfakultäten standen die Führungspositionen in der frühneuzeitlichen weltlichen Kollegialgerichtsbarkeit, von denen aus nicht nur repräsentative, sondern „tatsächliche“ Leitungsaufgaben wahrgenommen wurden, bürgerlichen Aufsteigern in der Regel nicht offen, weshalb es keineswegs statthafft erscheint, von einer die Spruchtätigkeit dominierenden juristischen Funktionselite zu sprechen. 2. All jene, die in der Frühen Neuzeit einen Prozess vor einem Kollegialgericht führten, taten dies in dem Wissen, dass die an der Spitze des Gerichts stehende Standesperson prinzipiell dazu in der Lage war, ad hoc und ad hominem Einfluss auf die Auswahl des Referenten und die personelle Zusammensetzung des Spruchkörpers zu nehmen.¹⁶⁴ Neben der Leitungsebene umfasst die Entscheidungsprämisse „Personal“ maßgeblich die mittlere Ebene der Beisitzer,¹⁶⁵ auf der sich die traditionelle Modernisierungs-
zum vergleichenden öffentlichen Recht, Bd. 2); Saskia Michel: Gerichtsverwaltung und Court Management in Deutschland und in den USA. Tübingen 2020 (Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung, Bd. 72). Rudolf Smend: Das Reichskammergericht. Erster Teil: Geschichte und Verfassung. Weimar 1911 (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Bd. 4), S. 256. Erinnert sei an die im 18. Jahrhundert das Reichskammergericht erschütternde Affaire Papius, die der Sache nach ein Konflikt um eine von systemischer Korruption geprägte Geschäftsverteilung war. Hierzu Anette Baumann/Anja Eichler (Hrsg.): Die Affäre Papius. Korruption am Reichskammergericht. Petersberg 2012. Den Vogel schießt in dieser Hinsicht ab Carola Hartmann-Polomski: Die Regelung der gerichtsinternen Organisation und des Geschäftsgangs der Akten als Maßnahmen der Prozeßbeschleunigung am Reichshofrat. Diss., Göttingen 2000, S. 79. Danach sei es „unerheblich“, ob die Sitzungsordnung und damit die Reihenfolge der Erledigung, einem abstrakt vorherbestimmten Turnus oder aber präsidialen Ad-hoc-Verfügungen gefolgt sei, „da alle Referenten gleichermaßen verpflichtet waren, sorgfältig und gründlich sowie in angemessener Zeit ihre Fälle zu bearbeiten“. Hierzu am Beispiel des Reichshofrats Dorfner: Mittler (wie Anm. 26), S. 177. Auf das Subalternpersonal, das eine organisationssoziologisch und praxeologisch argumentierende Forschung keineswegs außer Acht lassen darf, gehe ich an dieser Stelle aus Platzgründen nicht näher ein.
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erzählung ebenfalls mit massiven empirischen Bedenken konfrontiert sieht. Nicht nur wurde die überkommene Gliederung der meisten Justizkollegien in eine Gelehrten- und eine adelige Bank erst in der Sattelzeit schrittweise aufgehoben.¹⁶⁶ Auch die auf die Entwicklung des Reichskammergerichts gestützte Vermutung, es habe einen mehr oder weniger kontinuierlichen Professionalisierungsprozess gegeben, dürfte kaum haltbar sein. Schließlich machte die im 17. Jahrhundert allenthalben zu beobachtende „Rearistokratisierung“ der Territorialverwaltungen¹⁶⁷ auch vor der Reichsjustiz nicht halt. Zumindest rein quantitativ dominierten im Plenum des Reichshofrats, der das Reichskammergericht bereits seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert als führendes Reichsgericht ablöste, über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus nicht etwa ausgewiesene Juristen, sondern fachlich nur gering qualifizierte Vertreter erbländischer Adelsgeschlechter.¹⁶⁸ Sich über die Fachkenntnisse adeliger Kollegen zu mokieren, die die „cognitio juris“¹⁶⁹ gern „im flug fangen wollten“ und in Rechtssachen „wie ein Blinder von der farb“ urteilten, zählte zum Habitus bürgerlicher Juristen, zumal sich auf diese Weise auch gescheiterte Karriereambitionen verarbeiten ließen.¹⁷⁰ 1803 schrieb einer der
An der Obersten Justizstelle der österreichischen Erblande beispielsweise 1786. Siehe Friedrich Walter: Die österreichische Zentralverwaltung, Bd. II/1/2/1: Die Zeit Josephs II. und Leopolds II. (1780– 1792). Wien 1950, S. 51 f. Hierzu Ronald G. Asch: Rearistokratisierung statt Krise der Aristokratie? Neuere Forschungen zur Geschichte des Adels im 16. und 17. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 144– 154; sowie mit Blick auf den Kaiserhof Stefan Ehrenpreis: Österreichischer Adel, habsburgische Höfe und kaiserliche Zentralverwaltung (1580–1620), in: Ronald G. Asch (Hrsg.), Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (ca. 1600–1789). Köln/ Weimar/Wien 2001, S. 235–262, hier S. 236. Prosopographische Angaben zu den Räten bei Gschließer: Reichshofrat (wie Anm. 59); vgl. Tobias Schenk: Reichshofbeamte, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 2. Aufl., Berlin 2023 (im Druck). Dieses und das folgende Zitat stammen vom bayerischen Hofrat Dr. Johann Simon Wa(n)gnereckh aus dem frühen 17. Jahrhundert. Zitiert nach Wolfgang Behringer: Falken und Tauben – Zur Psychologie deutscher Politiker im 17. Jahrhundert, in: Ronnie Po-Chia Hsia/Bob Scribner (Hrsg.), Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 78), S. 219–261, hier S. 232. Die Blindenmetapher wählte nahezu 200 Jahre später auch Friedrich Karl von Moser: Zweyter Actenmäßiger Beytrag zur Geschichte des Kays. Reichs-HofRaths unter der Regierung Kayser Josephs des Zweyten. Aus glaubhaften Handschriften, in: Patriotisches Archiv für Deutschland 10 (1789), S. 347–418, hier S. 349 f., wo es mit Blick auf Mitglieder der Herrenbank heißt: „Kinder und Ignoranten […], die gleichwohl über Wohl und Weh so vieler tausenden, über die wichtigste Rechte und Besizungen der Reichs-Stände ein entscheidendes Votum führen, aber auch oft just wie der Blinde von der Farbe urtheilen“. Deutlich ist dieser Zusammenhang etwa bei Johann Jacob Moser: Lebensgeschichte, Bd. 4. Frankfurt a. M./Leipzig 1783, S. 21. Nachdem Mosers Wunsch, Reichshofrat zu werden, trotz eifrigen Klinkenputzens nicht in Erfüllung gegangen war, plauderte er aus dem Nähkästchen: „Der Reichs-
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wenigen nichtadeligen deutschen Gerichtspräsidenten: Man erschrickt, wenn man im Staatskalender das große Heer von geheimen Hof- und Regierungs-Räthen liest, aber noch größer ist das Erstaunen, wenn man die brauchbaren und arbeitenden Mitglieder zusammen zählet. ¹⁷¹ Vorbehaltlich noch ausstehender empirischer Studien ist davon auszugehen, dass die Mitglieder der Herrenbänke tatsächlich nur in einem wesentlich geringeren Maße zur Aktenarbeit herangezogen wurden,¹⁷² sofern sie nicht sogar gänzlich dispensiert waren, wie dies etwa am sächsischen Hofgericht zu Jena noch im späten 18. Jahrhundert der Fall war.¹⁷³ Wenngleich vor holzschnittartigen Vorstellungen nachdrücklich zu warnen ist,¹⁷⁴ kann man hierin einen Beleg dafür erblicken, dass kontinuierliche Aktenarbeit aus adeliger Perspektive lange als pedantisch und nicht standesgemäß wahrgenommen wurde. Selbst die Kaiser hatten bis ins 18. Jahrhundert hinein Mühe, Kandidaten für die Herrenbank des Reichshofrats zu rekrutieren, die zur Übernahme von Referaten bereit und in der Lage waren.¹⁷⁵ All dies war für die Praxis frühneuzeitlicher Relationstechnik, die ohne den großen Gleichmacher eines Geschäftsverteilungsplans auskam, von kaum zu überschätzender Bedeutung. Während die Hofgerichte kleinerer Territorien wie des Bistums Paderborn oder der Grafschaft Lippe mit einem Hofrichter und zwei bis
hofraths-Vicepräsident Graf von Wurmbrand sagte zu mir: ‚Meinen sie, daß ein großer Theil der Reichshofräthe die Wahlcapitulation nur von außen gesehen habe, geschweige daß sie wüßten, was darinnen stehet?‘ Und ein Graf, der doch schon einige Zeit Reichshofrath ware, gestunde mir, daß er nicht wisse, was der Religions- oder westphälische Friede seye.“ Georg Michael Weber: Ueber die Justizverfassung in den kurfürstl. fränkischen Fürstenthümern, in: Argus. Eine Zeitschrift für Franken 2/2 (1803), S. 1–126, hier S. 4. Der Autor war Direktor des Bambergischen Hofgerichts. So etwa am obersten schwedischen Appellationsgericht. Siehe Mia Korpiola: Decision-Making in the Svea Court of Appeal in 1636. Attendance, Voting and Reasoning, in: Amend-Traut/Czeguhn/ Oestmann (Hrsg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper (wie Anm. 98), S. 349–369, hier S. 361. Bernhard Gottlieb Huldreich Hellfeld: Versuch einer Geschichte der landesherrlichen höchsten Gerichtsbarkeit und derer Hofgerichte in Sachsen besonders des gesammten Hofgerichts zu Jena. Jena 1782, S. 176. Beispielsweise saß mit Nikolaus Christoph von Lyncker einer der profiliertesten Reichshofräte des 18. Jahrhunderts auf der Herrenbank, und am schwedischen Appellationsgericht des 17. Jahrhunderts verfügten die Mitglieder der adeligen Bank sogar über ausgedehntere Universitätsstudien als ihre Kollegen von der Gelehrtenbank. Hierzu Marianne Vasara-Aaltonen: From Well-travelled ‘Jacks-of-all-trades’ to Domestic Lawyers: The Educational and Career Backgrounds of Svea Court of Appeal Judges 1614–1809, in: Mia Korpiola (Hrsg.), The Svea Court of Appeal in the Early Modern Period: Historical Reinterpretations and New Perspectives. Stockholm 2014 (Rättshistorika studier, Bd. 26), S. 301–354, hier S. 307. Hierzu ein Bericht des Reichshofratspräsidenten aus dem Jahr 1700 in ÖStA HHStA, RK, Verfassungsakten, RHR, K. 26, Konv. 2, Bl. 227–228.
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drei Beisitzern auskamen,¹⁷⁶ waren andere Kollegien wie der Reichshofrat oder das württembergische Hofgericht wesentlich größer als die Senate der Gegenwart und umfassten mitunter mehr als ein Dutzend Mitglieder.¹⁷⁷ Doch auch an diesen Kollegien führte eine ständischer Distinktion geschuldete ungleichmäßige Aktenzuteilung zu einer Belastung einzelner Räte, die zumindest quantitativ an moderne Größenordnungen nicht nur heranreichen, sondern diese sogar übertreffen konnte. Beispielsweise hatte ein fachlich besonders profilierter Reichshofrat von der Gelehrtenbank wie Heinrich Christian von Senckenberg eigenen Angaben zufolge 1766 als Referent und Korreferent nicht weniger als 1 400 laufende Verfahren auf dem Rücken. ¹⁷⁸ Will Justizforschung aus dem Modernisierungsnarrativ ausbrechen, kann sie sich jedoch nicht die interessegeleitete zeitgenössische Interpretation bürgerlicher Juristen zu eigen machen, nach der ein Großteil der Räte auf den Herrenbänken über Generationen hinweg bloß schwatzend und dösend herumgelungert habe. Dies liefe schon deshalb auf eine simplifizierende Deutung kollegialer Praxis heraus, weil die Mitglieder der Herrenbänke genauso über Sitz und Stimme verfügten wie ihre (möglicherweise) gelehrteren Kollegen. Rechtshistoriker gehen gemeinhin davon aus, fachliche Expertise habe in den Kollegien Beratung und Abstimmung wie selbstverständlich dominiert.¹⁷⁹ Bei Hof beklagte sich der als Workaholic geltende
Thorsten Süß: Partikularer Zivilprozess und territoriale Gerichtsverfassung. Das weltliche Hofgericht in Paderborn und seine Ordnungen 1587–1720. Köln/Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 69), S. 82; Jürgen Miele: Das Lippische Hofgericht 1593–1743. Ein Beitrag zu Entstehungsgeschichte, Gerichtsverfassung und Prozessverfahren des zivilen Obergerichts der Grafschaft Lippe unter Berücksichtigung reichsgesetzlicher Bestimmungen. Göttingen 1984, S. 69, 150–151. Am württembergischen Hofgericht schwankte die Zahl der Assessoren zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert zwischen zwölf und 17. Im selben Zeitraum hat sich am Reichshofrat die durchschnittliche Größe des Spruchkörpers mehr als verdoppelt. Nahmen 1610 an einer Sitzung noch etwa sieben Räte teil, waren es 1730 nicht weniger als 16. Siehe Siegfried Frey: Das württembergische Hofgericht (1460–1680). Stuttgart 1989 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B, Bd. 113), S. 91, sowie: ÖStA HHStA, RHR, Resolutionsprotokolle, Bde. XVII/18; XVIII/74 u. 75. Für die mühevolle Auszählung danke ich Stefanie Preisl herzlich. ÖStA HHStA, RK, Reichsakten in specie, K. 31. So heißt es etwa bei Wolfgang Sellert: Prozessrechtliche Aspekte zur Appellation an den Reichshofrat, in: Leopold Auer/Eva Ortlieb (Hrsg.), Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien 2013 (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, Bd. 1), S. 103–119, hier S. 115, der Reichshofrat sei auch dort, wo er seine Entscheidungen nicht begründete, „mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nicht willkürlich ohne Beachtung der einschlägigen Prozessgrundsätze vorgegangen. Das ist schon deswegen nicht anzunehmen, weil in den Reichshofrat – sieht man von der Herrenbank ab – nur gelehrte Räte mit herausragender ju-
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Reichshofrat Christoph Nikolaus von Lyncker allerdings noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts bitterlich über jene seiner adeligen Kollegen, die keinen geraden Satz auf Latein zustande brächten, rechtswissenschaftliche Abhandlungen nicht läsen, geschweige denn publizierten, niemahlen Acten unter Handen ¹⁸⁰ bekämen – und trotz alledem selbst in wichtigsten Angelegenheiten mit ihrer Stimme den Ausschlag gäben. Angesichts solcher Befunde sollten sich akteurszentrierte Forschungen zu juristischer Aktenarbeit und Relationstechnik nicht auf die Fährnisse von Gelehrsamkeitsrankings einlassen, sondern die Anregung Marianne Vasara-Aaltonens aufgreifen und die unterschiedlichen Funktionen gelehrter und adeliger Beisitzer herausarbeiten.¹⁸¹ Doch bevor man sich hierzu ins praxeologische Getümmel stürzt und einzelne Räte unter die Lupe nimmt, tut man gut daran, in den Helikopter der Systemtheorie zu steigen und sich die Gesamtsituation einmal von oben anzusehen. Da erblickt man all die Universitäten mit Halle und Göttingen an der Spitze, die in fleißigem Wettbewerb untereinander kontinuierlich Absolventen produzieren und es spätestens im 18. Jahrhundert dahin bringen, dem Land eine „Juristenschwemme“¹⁸² zu bescheren. Und da sieht man andererseits eine Justiz, die diese junge, hungrige und belastbare Möchtegernfunktionselite nur begrenzt aufnehmen kann, weil Bürgerlichen Leitungsfunktionen in der Regel verschlossen bleiben und vielfach auch auf Beisitzerebene eine Rearistokratisierung stattfindet, die insbesondere auf Reichsebene deutliche Züge einer Deprofessionalisierung aufweist. Unter Zugrundelegung klassischer sozial- und bildungsgeschichtlicher Indikatoren war der durchschnittliche Reichshofrat des Jahres 1750 weniger professionalisiert als ein durchschnittlicher Reichskammergerichtsassessor des Jahres 1550. Mit einer solchen Personalpolitik konnten die Kaiser und Reichsfürsten der Frühen Neuzeit vor dem im 19. Jahrhundert errichteten Richterstuhl der ZweckMittel-Rationalität, auf dem es sich so bequem sitzt, dass man nur ungern wieder von ihm heruntersteigt, keine Gnade finden. Eine Fremdbeschreibung hat sich jedoch zu fragen, was es in systemtheoretischer Hinsicht bedeutet, dass die meisten Leitungspositionen bis um 1800 dem Adel vorbehalten blieben, die mittlere Ebene der Beisitzer im 17. und 18. Jahrhundert vielerorts eine Rearistokratisierung
ristischer Kompetenz aufgenommen wurden.Wären die Räte dieser Kompetenz nicht gefolgt, hätten sie sich, wie in vielen anderen Fällen, den Protest der Reichsstände eingehandelt.“ So in seinen 1712 für einen unbekannten Adressaten verfassten „Facies iudicii imperialis aulici“. Das Original befindet sich im Liechtensteinischen Hausarchiv Wien. Hier zitiert nach einer 1914 erstellten Abschrift in ÖStA HHStA, RK, Verfassungsakten, RHR, Ordnungen, K. 3, Konv. 2, Nr. 2. Siehe Vasara-Aaltonen: Domestic Lawyers (wie Anm. 174), S. 343. Sigrid Jahns: Juristenkarrieren in der Frühen Neuzeit, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte. Neue Folge 131 (1995), S. 113–134, hier S. 130.
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durchlief und der Reichshofrat, der „das überkommene mittelalterliche Modell der persönlichen, institutionell nur wenig aufgefächerten Herrschaft“¹⁸³ verkörperte, dem organisatorisch wesentlich avancierteren Reichskammergericht im gleichen Zeitraum den Rang ablief? Aus alledem lässt sich mit Luhmann nur der eine Schluss ziehen, dass die Ausdifferenzierung des neuzeitlichen Rechtssystems keineswegs geradlinig verlief, sondern durch die Rückentwicklung von Strukturen und Prozessen gekennzeichnet war, die sich aus gesellschaftlicher Perspektive als zu risikoreich entpuppt hatten.¹⁸⁴ Den damit zusammenhängenden Problemen wird man sich nur annähern können, wenn man sich aus dem Bann der großen Modernisierungserzählung löst und sich vor Augen führt, welch ungeheure Zumutung eine mit studierten Juristen besetzte Rechts-Organisation wie das Reichskammergericht für eine durch geringe Konflikttoleranz gekennzeichnete, sozial stratifizierte Gesellschaft darstellen musste. Diese Zumutung wog umso schwerer, als sie eine doppelte war, die vom Recht und der organisationsförmigen Ausgestaltung seiner Findung ausging. Zunächst zu Ersterem: „Rechtliche Kommunikation läuft, einmal begonnen, mit einer gewissen Eigengesetzlichkeit auf eine Entscheidung zu, die Recht und Unrecht mit aller Härte auseinanderlegt und den Beteiligten zuordnet.“¹⁸⁵ Diese dem Recht innewohnende Dichotomie bildete, wie unlängst mit Blick auf den spätmittelalterlichen Kaiserhof festgestellt wurde, „ein radikales, ja brutales Instrument in einem auf personellen Bindungen beruhenden Gemeinwesen“.¹⁸⁶ Wie brutal dieses Instrument tatsächlich war, verdeutlicht die zeitgenössische semantische Verknüpfung von rechtlichem und gewaltsamen Konfliktaustrag, die durch die Bezeichnung von Gerichtsverfahren als Krieg Rechtens hergestellt wurde. Recht und Gewalt lagen zu Beginn der Neuzeit als zwei „Extremwege der decisio“¹⁸⁷ noch ganz nah beieinander. Neuere Studien belegen, dass deshalb selbst nichtadelige soziale Gruppen darum bemüht waren, das destruktive Potential rechtlicher Auseinandersetzungen durch Semantiken der Freundschaft einzuhegen.¹⁸⁸
Peter Oestmann: Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren. Wien 2015, S. 168. Niklas Luhmann: Evolution des Rechts, in: Ders.: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2015, S. 11–34, hier S. 27. Niklas Luhmann: Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen, in: Ders.: Ausdifferenzierung des Rechts (wie Anm. 184), S. 53–72, hier S. 71. Maximiliane Berger: Der opake Herrscher. Politisches Entscheiden am Hof Friedrichs III. (1440– 1486). Ostfildern 2020 (Mittelalter-Forschungen, Bd. 66), S. 43–44. Ebd., S. 352. Hierzu jüngst Philipp Höhn: Kaufleute im Konflikt. Rechtspluralismus, Kredit und Gewalt im spätmittelalterlichen Lübeck. Frankfurt a. M./New York 2021 (Schwächediskurse und Ressourcenregime, Bd. 11), S. 351 f.
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Dessen ungeachtet, und damit kommen wir zur zweiten Zumutung frühneuzeitlicher Kollegialjustiz, erreichte die Gesellschaft im Laufe des 15. Jahrhunderts einen Differenzierungsgrad, der es erforderlich machte, Konstanz, Reichweite und Komplexität der bislang auf höfischer Interaktion beruhenden königlichen Gerichtsbarkeit durch Organisationsbildung in Gestalt des Reichskammergerichts zu erhöhen.¹⁸⁹ Unter der fortbestehenden Strukturbedingung sozialer Stratifizierung war diese Entwicklung, die in der Folgezeit sukzessive auf die Territorialjustiz ausstrahlte und zur Ausbildung eines mehrstufigen Instanzenzuges führte, eigentlich unwahrscheinlich und deshalb fragil. Schließlich beruht die Leistungsfähigkeit von Organisationen gerade auf der Möglichkeit, durch gesetzte Mitgliedschaftsbedingungen und Entscheidungsprogramme Komplexität auf Kosten jener „arrangierfähigen Situationsmoral“¹⁹⁰ zu erhöhen, mit der sich Normen in Interaktionssystemen konsensual unterlaufen lassen.¹⁹¹ Als Organisationen, die soziale Distanz herstellten, wo zuvor Familiarität geherrscht hatte,¹⁹² bekamen es die frühneuzeitlichen Kollegien jedoch mit einer auf Anwesenheitskommunikation beruhenden Gesellschaft zu tun, die Distanz nur schwer ertrug.¹⁹³ Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie sehr die klassische Modernisierungserzählung mit ihrer Fixierung auf Professionalisierungsgrade die existenzsichernde Leistung verkennt, die von den adeligen Leitungsebenen und den Mitgliedern der Herrenbänke für die Kollegialorganisationen erbracht wurde. Denn nur durch eine schichtenspezifische, von fachlicher Qualifikation partiell abstrahierende Personalrekrutierung ließen sich die Risiken organisierter Rechtsprechung auf jenes Mindestmaß einschränken, das für die adeligen Führungsschichten gerade noch tolerabel schien. Ein klares Indiz hierfür bildet die Tatsache, dass die Herrenbänke infolge rechtsförmlicher ständischer Besetzungsansprüche vielerorts
Hierzu aus soziologischer Perspektive Schwarting: Organisationsbildung (wie Anm. 18), S. 103– 132; vgl. die luzide rechtshistorische Analyse bei Bernhard Diestelkamp: Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter. Köln/Weimar/Wien 2014 (QFHG, Bd. 64). Luhmann: Ebenen der Systembildung (wie Anm. 81), S. 13. Grundlegend weiterhin Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation (wie Anm. 28). Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik (wie Anm. 52), S. 107. Hierzu grundlegend Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz 2014; ders.: Der Raum der Interaktion. Räumlichkeit und Koordination mit Abwesenden in der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung unter Anwesenden, in: Bettina Heintz/Hartmann Tyrell (Hrsg.), Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen. Stuttgart 2015, S. 178–200.
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Bestandsschutz genossen,¹⁹⁴ während das Vordringen der Juristen vor allem im 16. Jahrhundert vielerorts noch heftigen Widerstand der Stände hervorrief, die in den Doktoren Agenten der Zentralmacht erblickten.¹⁹⁵ Selbst an jenen Kollegien, bei deren Besetzung es an formeller ständischer Mitsprache fehlte, fanden über die Herrenbänke vielfach personelle Arrangements zwischen Fürst und Ständen statt. Während etwa die Reichshofratsordnung den Eindruck vermittelt, es habe der Kaiser das Kollegium ohne Rücksicht auf die Reichsstände besetzt, bildete es für Zeitgenossen ein offenes Geheimnis, dass zahlreiche Berufungen auf der Herrenbank infolge informeller Deals mit Reichsständen zustande gekommen waren.¹⁹⁶ Es wäre in hohem Maße anachronistisch, wollte man eine solche Rekrutierungspolitik an einer modernen Elle messen und dem Reichshofrat und zahlreichen Obergerichten Professionalisierungsdefizite attestieren, denn den Akteuren ging es um etwas viel Grundlegenderes als um juristische Exzellenz, nämlich um Repräsentation. In einer Zeit, in der Hierarchie nur noch funktional gerechtfertigt werden kann¹⁹⁷ und in der die Ausübung kollegialer Rechtsprechung einer sozial und fachlich weitgehend homogenen Mittelschichtenjurisprudenz obliegt, übersieht man leicht, dass das Personal frühneuzeitlicher Justizkollegien nicht allein der zweckrationalen Herstellung von Entscheidungen, sondern auch der Repräsentation diente. Schließlich ist Repräsentation „kein normativer Vorgang, kein Verfahren und keine Prozedur, sondern etwas Existenzielles. Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen. Die Dialektik des Begriffes liegt darin, daß das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird.“¹⁹⁸ Bis weit Selbst in Brandenburg-Preußen konnte der Landesherr deshalb personalpolitisch gegenüber den vom Adel dominierten Regierungen in den Landesteilen nicht nach Belieben schalten und walten, zumal diese nicht nur Gerichte, sondern auch obere Verwaltungsbehörden waren. Hierzu etwa Peter-Michael Hahn: Die Gerichtspraxis der altständischen Gesellschaft im Zeitalter des „Absolutismus“. Die Gutachtertätigkeit der Helmstedter Juristenfakultät für die brandenburgischpreußischen Territorien 1675–1710. Berlin 1989 (Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 44), S. 50 f. Siehe für Württemberg und Brandenburg Frey: Das württembergische Hofgericht (wie Anm. 177), S. 29, 33, 38; Friedrich Holtze: Geschichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen, 4 Bde. Berlin 1890–1904, hier Bd. 1, S. 201–202. Beispielsweise erfolgte die Berufung Christoph Heinrichs von Galen 1697, um dessen Onkel, dem Münsteraner Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen, einen Gefallen zu tun. Die Ernennung Friedrich Karls von Danckelmann (1703) bildete ein Zugeständnis an Preußenkönig Friedrich I., der (noch als Kurfürst) die Rückgabe des Kreises Schwiebus an Österreich von der Aufnahme eines Reformierten in den Reichshofrat abhängig gemacht hatte. Gschließer: Reichshofrat (wie Anm. 59), S. 334, 350. Vgl. zum „Ende der guten Gesellschaft“ Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung (wie Anm. 6), S. 192–211. Carl Schmitt: Verfassungslehre. 11. Aufl., Berlin 2017, S. 209 f.
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ins 18. Jahrhundert hinein wurde an den meisten Kollegien von einem Rat auf der Herrenbank in erster Linie nicht etwa disziplinierte Aktenarbeit erwartet. In einer Epoche, in der Gesellschaft, Organisation und Interaktion noch nicht klar gegeneinander differenziert waren, fungierten die Herrenbänke vor allem als Bühne, auf der das abwesende Ganze zu seiner physischen Erscheinung gebracht werden konnte.¹⁹⁹ Hierzu war es mit physischer Präsenz im Beratungszimmer freilich nicht getan. Neben den Behördenvorständen waren es vor allem Mitglieder der Herrenbänke, über die die Justizkollegien in jene höfischen Interaktionssysteme integriert wurden, die den fürstlichen Gerichtsherrn in konzentrischen Kreisen umgaben. Bürgerliche Juristen wären hierzu kaum in der Lage gewesen, da sie die Leitressource höfischer Interaktion, nämlich den unmittelbaren Zugang zum Herrscher, im Laufe des 17. Jahrhunderts vielerorts auch dort verloren, wo sie ihn im 16. Jahrhundert noch besessen hatten. Das Paradebeispiel für diese Entwicklung bildet der Kaiserhof, wo die Reichshofräte von der Gelehrtenbank ihren Zugang zum Geheimen Rat im Laufe des 17. Jahrhunderts nahezu vollständig einbüßten.²⁰⁰ Seitdem erfolgte die personelle Verklammerung zwischen Reichshofrat und Geheimem Rat ausschließlich über den Präsidenten und einzelne Räte der Herrenbank, was sich auf die gremieninterne Hierarchie auch insofern auswirkte, als Geheime Räte ab 1617 formell Weisungsbefugnis gegenüber einfachen Reichshofräten besaßen.²⁰¹ All dies bildet nicht etwa ein Alleinstellungsmerkmal des Kaiserhofes. Auch anderenorts – auf territorialer Ebene ebenso wie an europäischen Höchstgerichten – kam den Behördenvorständen und den Mitgliedern der adeligen Bänke bei der Einbindung kollegialer Rechtsorganisationen in die sie tragenden höfischen Kontaktsysteme eine Schlüsselposition zu.²⁰²
Luhmann: Ebenen der Systembildung (wie Anm. 81), S. 21; vgl. Kieserling: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung (wie Anm. 6), S. 215–219. Zum Auftreten gelehrter Reichshofräte im Geheimen Rat im 16. Jahrhundert Lothar Groß: Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806. Wien 1933 (Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1), S. 171. 1742 konstatierte Johann Jacob Moser zutreffend, es hätten einfache Reichshofräte „die Entrée nicht in die Kayserliche Geheime Raths-Stube“. Zitiert nach Wolfgang Sellert: Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Neue Folge, Bd. 18), S. 420. Reichshofratsordnung von 1617, Tit. I. Siehe Sellert: Ordnungen des Reichshofrates (wie Anm. 129), Bd. 1, S. 162. So waren etwa die Präsidenten des Berliner Kammergerichts und des badischen Hofgerichts zugleich qua Amt Geheime Räte. Siehe Adolf Thiesing: Die Geschichte des Preußischen Justizministeriums, in: Franz Gürtner (Hrsg.), 200 Jahre Dienst am Recht. Zum 200jährigen Gründungstage des Preußischen Justizministeriums. Berlin 1938, S. 11–172, hier S. 26; Paul Lenel: Badens Rechts-
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Zudem reichte die Integrationsfunktion adeliger Räte über Hof und Herrscher weit hinaus in das Land hinein, wie Armand Maruhn am Beispiel des hessischen Hofgerichts zu Marburg gezeigt hat.²⁰³ Denn zur Erhöhung ihrer räumlichen Reichweite benötigten frühneuzeitliche Rechtsorganisationen mehr als Akten. In weitgehender Ermangelung einer organisierten „Exekutive“ konnten Kollegien jenseits des Hofes nur dann Wirksamkeit erlangen, wenn sie sich einer durch adelige Netzwerke vermittelten Oberschichtenkommunikation bedienten.²⁰⁴ Nirgends wird dies deutlicher als in den wütenden Kommentaren von Reichshofrat Nikolaus Christoph von Lyncker, der den Großteil seiner adeligen Kollegen für deren Ignoranz gegenüber juristischen Fragen verabscheute, jedoch zugeben musste, dass diese vermeintlichen Nieten mit ihren Kontakten auf diplomatischem Parkett schon helffen können. ²⁰⁵ Aus der Tatsache, dass die Mitglieder der Herrenbänke vielerorts seltener referierten als ihre Kollegen von der Gelehrtenbank oder sogar gänzlich vom Referieren befreit waren, darf folglich keineswegs der Schluss gezogen werden, man habe es mit einer Überbesetzung der Kollegen infolge dysfunktionaler Personalrekrutierung zu tun. Adelige Räte bedurften die längste Zeit hindurch keiner Aktenlektüre, um die ihnen zugedachte Primäraufgabe der Repräsentation zu erfüllen. Sei es nun bei Hof oder im Land: Überall dort, wo bürgerliche Juristen keinen oder nur eingeschränkten Zugang besaßen, öffneten adelige Herren Türen und vermittelten durch Interaktion zwischen der Rechtsorganisation und dem besseren Teil der Gesellschaft. Sie waren also keineswegs untätig, sondern nahmen, um einen Schlüsselbegriff der luhmannschen Organisationssoziologie einzuführen, eine jener Grenzstellen²⁰⁶ ein, über die frühneuzeitliche Justizkollegien die Kommunikation mit ihrer Umwelt abwickelten.
verwaltung und Rechtsverfassung unter Markgraf Karl Friedrich 1738–1803. Karlsruhe 1913 (Freiburger Abhandlungen aus dem Gebiete des öffentlichen Rechts, Heft 23), S. 10–13; aufschlussreich für die Territorialjustiz des 16. Jahrhunderts auch Josef Bongartz: Gericht und Verfahren in der Stadt und im Hochstift Würzburg. Die fürstliche Kanzlei als Zentrum der (Appellations‐) Gerichtsbarkeit bis 1618. Wien/Köln/Weimar 2020 (QFHG, Bd. 74), S. 274–276. Am schwedischen Appellationsgericht waren der Präsident und die Räte der ersten adeligen Bank zugleich Mitglieder des Reichsrates. Siehe Vasara-Aaltonen: Domestic Lawyers (wie Anm. 174), S. 319. Maruhn: Prozesse (wie Anm. 26), S. 290. Vgl. Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1993, S. 72–161, hier S. 74 f.; André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt a. M. 1999, S. 213–215. So 1712, gemünzt auf Reichshofrat Christoph Heinrich von Galen. Siehe ÖStA, HHStA, RK, Verfassungsakten, RHR, K. 3, Konv. 2, Nr. 2. Luhmann: Funktionen und Folgen (wie Anm. 28), S. 220–239; vgl. Kühl: Organisationen (wie Anm. 28), S. 63–65.
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Dieses schichtspezifische Funktionsprofil der Herrenbänke prägte kollegiale Aktenarbeit nicht nur insofern, als es selbst in größeren Spruchkörpern zu einer Geschäftsverteilung zwang, die das Gros der Referate einigen wenigen Räten von der Gelehrtenbank aufbürdete. Darüber hinaus beeinflusste die Berufungspolitik die Atmosphäre, in der über die Relationen der Berichterstatter beraten und abgestimmt wurde, massiv. Mit Hegel kommt es auf eine Untersuchung der Organisation [an], die das Gericht noch ohne Beziehung auf die Ausführung in seinem urtheilssprechenden Geschäffte hat, ob ihm nicht das Urtheilsprechen schon erschwert, und da das Urtheil, wenn es nicht ausgeführt wird, an sich ein blosser Gedanke ist, ob die Einrichtung nicht so ist, daß es auch zu diesem Gedanken nicht kommt, sondern daß auch schon dieser Gedanken ein blosses Gedankending bleibt. ²⁰⁷ In raumsoziologischer²⁰⁸ Hinsicht bildete die schiere körperliche Präsenz der Herren eine „institutionalisierte Kompromisserwartung“,²⁰⁹ durch die soziale Ungleichheiten reproduziert und die risikobehafteten Rechtsentscheidungen, die das Gericht eigentlich ermöglichen sollte, informell wiederum „entmutigt“ wurden.²¹⁰ Über die Herrenbänke inkorporierten frühneuzeitliche Kollegien Umweltbedingungen in die Entscheidungsprämisse des Personals, die es der Organisation erschwerten, bei Beratung und Abstimmung von ihnen zu abstrahieren. Deutlich wird dies etwa am Beispiel des Reichshofrats, wo es den Adeligen informell bis ins 18. Jahrhundert hinein gemeinsam mit dem Präsidenten und dem Reichsvizekanzler oblag, Entscheidungen, die bei Hof hätten Anstoß erregen können, bereits im Ansatz zu unterbinden, um den Kaiser nicht in die Verlegenheit zu bringen, quasiöffentlich in einzelne Verfahren intervenieren zu müssen.²¹¹ Selbst wenn Adelige kaum referierten, übten sie also eine Art höfischer Oberaufsicht über die juristische Expertise der Gelehrtenbank aus. Damit soll keineswegs behauptet werden, es sei den Mitgliedern der Herrenbänke platterdings um Justizverweigerung gegangen. Allerdings verkörperten sie im
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über die Reichsverfassung. Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek, Bd. 557), S. 41. Zur Wechselwirkung von Raumkonstitution und sozialer Ungleichheit Martina Löw: Raumsoziologie. 10. Aufl., Frankfurt a. M. 2019, S. 210–218. Dieses und das folgende Zitat: Niklas Luhmann: Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: Ders.: Ausdifferenzierung des Rechts (wie Anm. 184), S. 35–52, hier S. 36. Dies galt auch dann, wenn sich die Herren an der kollegialen Beratung weniger beteiligten als ihre Kollegen von der Gelehrtenbank. Betont sei mit Irving Goffman: Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion. Gütersloh 1971 (Bauwelt Fundamente, Bd. 30), S. 43: „Ein Mensch kann aufhören zu sprechen, er kann aber nicht aufhören, mit seinem Körper zu kommunizieren; er muß damit entweder das Richtige oder das Falsche sagen; aber er kann nicht gar nichts sagen.“ Hierzu ausführlich Schenk: Vota ad Imperatorem (wie Anm. 155).
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Beratungszimmer einen Stand, der durch einen ausgeprägten Hang zu konsensorientierter Konfliktregulierung geprägt war²¹² und darüber hinaus auch aus Gründen des Machterhalts gegenüber dem fürstlichen Gerichtsherrn kaum intrinsische Motivation zu einer Urteilstätigkeit nach dem Prinzip fiat justitia pereat mundus haben konnte. Dass Ideologiekritik an dieser Stelle fehl am Platze wäre, verdeutlicht der Befund, dass es am bayerischen Hofrat des frühen 17. Jahrhunderts die adeligen Räte waren, die den von ihren studierten bürgerlichen Kollegen betriebenen Hexenverfolgungen schließlich Einhalt geboten.²¹³ Nicht minder anachronistisch wäre es allerdings, vormoderne Konsenskulturen romantisch zu verklären und zu partizipativen Vorbildern der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu adeln.²¹⁴ Epochenübergreifend sind bei der Erforschung informeller Strukturbildungen Distanz und analytische Sorgfalt geboten. Schließlich gilt es zu berücksichtigen, dass der Praxis frühneuzeitlicher Amtsträger bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine Rechtsauffassung zugrunde lag, die allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen mit den Rechten von Gruppen und Individuen verband, also gerade nicht von jenem Gedanken allgemeiner Rechtsgleichheit ausging, der das Signum der Moderne bildet.²¹⁵ In den Räumen der Interaktion, in denen die Mitglieder der Herrenbänke zwischen Organisation und Gesellschaft vermittelten, musste es deshalb nicht diskursiviert oder auch nur aktenkundig werden, dass die Organisation nicht ohne Ansehen der Person entschied. Dieser objektivierte Sachverhalt bildete ein von den Akteuren geteiltes inkorporiertes Wissen, mit dem diese sich in den Routinen des gesellschaftlichen Alltags quasi automatisch zurechtfanden.²¹⁶ Zur Konsensorientierung des Adels etwa Siegrid Westphal: Der Reichshofrat – kaiserliches Machtinstrument oder Mediator?, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa, Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen. Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG, Bd. 53), S. 115–137, hier insb. S. 126–137. Hierzu Behringer: Falken und Tauben (wie Anm. 169). Juristische Kritik an dieser vor allem bei Historikern verbreiteten Tendenz etwa bei Oestmann: Wege (wie Anm. 183), S. 165. Dass solche Erinnerungen immer noch angebracht sind, verdeutlichen neuere Einschätzungen, wonach die konsensgestützte Herrschaft der Vormoderne „dem modernen Demokratieverständnis deutlich näher [stehe] als die Kaiserherrlichkeit des 19. Jahrhunderts“. So Linda Dohmen/Paul Fahr/Tilmann Trausch (Hrsg.): Regieren im Konsens? Vormoderne politische Entscheidungsprozesse in transkultureller Perspektive, in: Linda Dohmen/Tilmann Trausch (Hrsg.), Entscheiden und Regieren. Konsens als Element vormoderner Entscheidungsfindung in transkultureller Perspektive. Bonn 2019 (Macht und Herrschaft, Bd. 9), S. 11–56, hier S. 15. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Aufl., München 2000, S. 13. Zum Begriff des inkorporierten praktischen Wissens Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. 3. Aufl., Frankfurt a. M./New York 1997 (Theorie und Gesellschaft, Bd. 1), S. 54 f.
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Die in der Forschung noch immer vorherrschende Intellektualisierung und Entkörperlichung kollegialer Praktiken verkennt somit die Bedeutung der adeligen Behördenvorstände und Räte der Herrenbänke und muss im Epochenvergleich zu unzutreffenden Einschätzungen richterlicher Unabhängigkeitsgrade führen. In den Beratungszimmern frühneuzeitlicher Kollegien konstituierten sich keine autonomen Räume juristischer Deliberation, in die zum Unmut der Räte lediglich durch fürstliche Machtsprüche und „Kabinettsjustiz“ gelegentlich ein Blitz hineinfuhr.²¹⁷ Die Umwelt machte sich nicht nur von außen geltend, sondern saß permanent mit am Tisch, weil sie innerhalb der Rechtsorganisation personell über das Prinzip der Repräsentation und über die informellen Kontaktsysteme, in die die Adeligen qua Geburt eingebunden waren, als inkorporiertes praktisches Wissen stets aufs neue reproduziert wurde. Wenngleich die kollegiale Aktenarbeit nicht in erster Linie von den Behördenvorständen und den Räten der Herrenbänke getragen wurde, zwingt deren Funktionsprofil also dazu, bei der Erforschung vormoderner gerichtlicher Praxis textimmanente Analysen von Prozessakten, Relationen und Sitzungsprotokollen hinter sich zu lassen, um jene informellen Räume konzeptionell zu integrieren, die über das Scharnier einer epochenspezifischen Grenzstellenorganisation in den Entscheidungsprozess implementiert wurden.
8 Der dominus referens – kein Jurist als solcher, sondern ein Rechtspraktiker an den Grenzstellen frühneuzeitlicher Rechtsorganisationen Ihr offenkundiges Theoriedefizit im Umgang mit Prozessschriftgut wird die Justizforschung vor allem deshalb beheben müssen, weil jene gelehrten Räte, die als Referenten und Korreferenten in der Regel die Hauptlast der Relationen trugen, ebenfalls in schicht- und funktionsspezifische Interaktionssysteme eingebunden waren, die unmittelbare juristische Entscheidungsrelevanz auch und gerade dann besaßen, wenn sie nicht aktenkundig wurden. Dabei müsste man auf Grundlage
Dass die Aufmerksamkeit, die die rechtshistorische Forschung dem Institut des Machtspruches widmet, in einem umgekehrten Verhältnis zu dessen Bedeutung für die frühneuzeitliche Gerichtspraxis steht, betont zu Recht Dietmar Willoweit: Selbständigkeit und Abhängigkeit der Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Volker Friedrich Drecktrah/Ders. (Hrsg.), Rechtsprechung und Justizhoheit. Festschrift für Götz Landwehr zum 80. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 2016, S. 177–196, hier S. 177 f.
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frühneuzeitlicher Gerichtsordnungen eigentlich annehmen, es habe sich die soziale Praxis der Relationstechnik nicht etwa an einer der Grenzstellen des Gerichts, sondern in einem internen Arkanbereich abgespielt. Schließlich enthielten praktisch alle einschlägigen Normtexte einen Passus, der das Gericht dazu verpflichtete, die Person des Referenten vor den Parteien geheim zu halten.²¹⁸ Zumal unter Berücksichtigung der vermeintlich für generelle Distanz zwischen Gericht und Parteien sorgenden gemeinrechtlichen Schriftlichkeitsmaxime läge somit der Schluss nahe, es seien die Berichterstatter durch eine doppelte Brandmauer von informellen Kontaktsystemen separiert gewesen, um die Autonomie des Entscheidungsprozesses gegenüber direkten Umwelteinflüssen abzusichern. Wer sich mit Praktiken frühneuzeitlicher Prozessführung beschäftigt, wird allerdings rasch erkennen, dass das Referentengeheimnis ein Paradebeispiel „organisierter Heuchelei“ darstellt.²¹⁹ Dabei gilt es zu betonen, dass der organisationssoziologische, von pejorativen Konnotationen gänzlich abstrahierende Heucheleibegriff keineswegs darauf abzielt, eine Norm durch den Nachweis ihrer Nichtbefolgung als irrelevant zu demaskieren. Vielmehr geht es um ein besseres Verständnis von Handlungsroutinen, mit denen Organisationen im Alltag des Entscheidens auf unvereinbare Ansprüche von Seiten ihrer Umwelt reagieren (müssen), um ihre Formalstruktur durch eine Diskrepanz zwischen Reden und Handeln selbst im Falle offenkundiger Verstöße aufrecht erhalten zu können.²²⁰ Die soziale Praxis des Referentengeheimnisses ist schnell erzählt: Wer an Reichskammergericht, Reichshofrat oder einem der territorialen Obergerichte einen Prozess zu führen hatte, stattete dem Behördenvorstand einen Besuch ab und spazierte mit dem Namen des Berichterstatters wieder zur Tür hinaus. Wer als einfacher Untertan zu dem hohen Herrn womöglich keinen Zugang besaß, nahm behelfsweise ein Mitglied des Kanzleipersonals zur Seite, drückte diesem einen Obolus in die Hand und wusste gleichfalls Bescheid. Dass es in Wien,Wetzlar und an den Territorialkollegien praktisch für jedermann kinderleicht war, einen zentralen Passus der Gerichtsordnung nicht nur ohne die geringste Sanktion, sondern dank tätiger Mithilfe des Gerichtspersonals zu verletzen, ist durch eine Quellenflut un-
Stellvertretend sei hier lediglich auf die Reichshofratsordnung von 1654 (Tit. IV § 2) verwiesen. Siehe Sellert (Hrsg.): Ordnungen des Reichshofrates (wie Anm. 129), Bd. 2, S. 159. Der Begriff wurde geprägt von Nils Brunsson: The Organization of Hypocrisy. Talk, Decision and Actions in Organizations. 2. Aufl., Abingdon 2011. Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Organisierte Heuchelei. Vom Machtverfall des Römisch-deutschen Reiches im 18. Jahrhundert, in: Peter Hoeres/Armin Owzar/Christina Schöer (Hrsg.), Herrschaftsverlust und Machtverfall. München 2013, S. 97–110, hier S. 99.
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terschiedlichster Provenienz eindeutig belegt.²²¹ Da von Einzelfällen nicht im Entferntesten die Rede sein kann, wird man nach strukturellen Ursachen fahnden müssen. Diese Suche muss nicht lange dauern, denn im Grunde ist es ganz einfach: In einer sozial stratifizierten Gesellschaft, in der jedermann von der Wiege bis zur Bahre in Patronagebeziehungen eingebunden war, wäre ein Gericht, in dem die Berichterstatter dem besseren Teil der Gesellschaft Face-to-Face-Interaktion verweigerten, um ohne Ansehen der Person nach Aktenlage Relationen über Fragen von Mein und Dein oder gar Kopf und Kragen zu verfassen, ein politisches Unding gewesen. Diese Erkenntnis führt uns direkt vor jenen Graben, der Selbst- und Fremdbeschreibung des neuzeitlichen Rechtssystems voneinander trennt. Thomas Fischer hilft uns hinüber: In der Gegenwart kommt in Karlsruhe mehrmals wöchentlich eine Auswahl der besten Juristen des Landes zusammen, um in mehrstündigen Sitzungen den Vorträgen von Berichterstattern zu lauschen und in Ermangelung eigener Aktenkenntnis an der ihnen vom System zugedachten Aufgabe zu scheitern, sich „auch nur halbwegs die Einzelheiten des Sachverhalts zu merken“.²²² Wohlgemerkt: Bei diesem Sachverhalt handelt es sich um jene Tatsachen, auf die sich ein Urteil stützt, das womöglich darüber entscheidet, ob ein Mensch lebenslänglich hinter Gitter wandert oder nicht. Lässt man dies als Bürger auf sich wirken, könnte man zu dem Schluss gelangen, es führten all die Türen und Korridore im imposanten Gebäude der Jurisprudenz zu einer allerletzten Tür, hinter der gar nichts ist. Dennoch funktioniert die Justiz, ohne dass alle Welt davon ausgeht, es dominiere der Berichterstatter den Spruchkörper nach Belieben, sodass es im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung unbedingt erforderlich sei, zu diesem Amtsträger privaten Kontakt herzustellen, weil der Prozess anderenfalls schon so gut wie verloren sei. Zudem dürfte selbst in den erbittertsten Auseinandersetzungen die eine Partei der anderen nicht ohne weiteres die Fähigkeit zuschreiben, durch Bestechung des Berichterstatters Einfluss auf das Urteil zu nehmen. Fremd sind uns solche Erwägungen nicht etwa aufgrund der Rationalität der juristischen
Eine kleine Auswahl mag hier genügen: Zur allgemein üblichen Preisgabe der Referenten am Reichskammergericht Christian Jacob von Zwierlein: Vermischte Briefe und Abhandlungen über die Verbesserung des Justizwesens am Kammergerichte, mit patriotischer Freimütigkeit entworfen, Bd. 1. Berlin 1767, S. 62. Mit Blick auf den Kaiserhof betonte Reichshofrat von Gärtner 1766 in einem Gutachten für Joseph II., es seien die Berichterstatter den Parteien in allen causis bekannt. Für die Territorialjustiz beispielsweise Weber: Justizverfassung (wie Anm. 171), S. 27: Es ist ein bekannter Gewerbszweig der Registratoren, den Referenten den Parteyen gegen ein gewisser Massen taxmäsiges Douceur oder das Höhere pro lubitu bekannt zu machen. Fischer: Die Augen des Revisionsgerichts (wie Anm. 99).
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Methode oder irgendwelcher anderen objektiven Tatsachen, sondern weil moderne Gesellschaften durch Systemvertrauen zusammengehalten werden. Eliminierte man diesen Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität aus seinen Berechnungen, müsste man sich wohl oder übel an die wichtigste Prozessmaxime der Frühen Neuzeit halten, die allerdings in keiner Gerichtsordnung zu finden war, weil sie den Darstellungszwängen juristischer Verfahren schnurstracks zuwiderlief. Doch auch ohne schriftliche Fixierung kannte sie jedermann, da sie dem praktischen Wissen der Vormoderne inkorporiert war. Diese Maxime lautete in etwa so: Sag her Sünder! gesetzt: Du hättest einen wichtigen Proceß zu führen, woran all dein Haab und Gut, Ehr und guter Nahmen, ja das Leben selbst gelegen ist, was würdest du thun? […] Würdest du nit der Gemahlin des Richters und letztlich dem Richter selbst aufwarten und ihnen deinen Handel bestens anbefehlen? Ohne allen Zweiffel. ²²³ Warum Face-to-Face-Kommunikation mit dem Referenten für frühneuzeitliche Prozessführer jeden Standes absolut notwendig war, wird man nicht begreifen, so lange man sich in Elogen auf die Relationen als Garanten der Rechtssicherheit und Perlen der Wissenschaft ergeht. Anzuknüpfen wäre vielmehr an die kritische Analyse Wolfgang Ernsts, wonach die juristische Methode des Ius Commune nicht zu „überzeugenden, konsistenten und breit akzeptierten Lösungen“²²⁴ gelangt sei. An den Universitäten paukte man den Studenten ähnlich wie heutzutage ein, den Vortrag so zu gestalten, daß diejenigen, welche ihn lesen oder hören, aus demselben allein, ohne die Acten gelesen oder gehört zu haben, dennoch eben so gut im Stande sind, von der Sache zu urtheilen, als wenn sie die Acten selbst gelesen und die Sache überdacht hätten. ²²⁵ Allerdings weist die Beobachtung, dass die meisten Lehrbücher des Referierens ihren Gegenstand explizit als Kunst adressierten,²²⁶ bereits darauf hin, dass die akademischen Lehrer selbst nicht so recht wussten, wie dieses erkenntnistheoretische Bravourstück mit wissenschaftlichen Mitteln bewerkstelligt werden sollte.
Franz Xaver Dorn: Frag: Von was für einem Holtz ist der Beicht-Stuhl? […]. Augsburg 1751, S. 3. Ernst: Rechtserkenntnis durch Richtermehrheiten (wie Anm. 46), S. 113. Johann Albrecht Bauriedel: Theoretisch-praktischer Commentar über die Pandekten nach Anleitung des Hellfeldischen Lehrbuchs, Bd. 2. Bayreuth 1789, S. 566 f. Und zwar bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein. Siehe etwa Christian Wilhelm Wehrn: Theoretisch-praktisches Handbuch der Referirkunst, 3 Bde. Leipzig 1800–1802; Georg Heinrich Oesterley: Anleitung zur Referirkunst zum Gebrauch academischer Vorlesungen. Göttingen 1807; Theodor Hagemann: Grundzüge der Referirkunst in Rechtssachen. Celle 1827.
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Anders als man angesichts der weithin ungeordneten frühneuzeitlichen Rechtsquellenvielfalt²²⁷ begründet vermuten könnte, bildete bei alledem nicht etwa die rechtliche Würdigung, sondern die Sachverhaltskonstruktion in Gestalt des Aktenextrakts den eigentlichen Knackpunkt. Auf welchen Höhen künstlerischer Freiheit sich der dominus referens hier in Ermangelung festen wissenschaftlichen Grundes zu bewegen hatte, mag ein beliebig herangezogenes Lehrbuch der Referierkunst verdeutlichen: Auf Geist und Werth der Gedanken kommt hier, wie überall, mehr an, als auf das Fachwerk. Der gebildete Rechtsgelehrte handelt frei in Auffindung, Stellung und Vortrag seines zweckmaesig vorbereiteten Stoffes. Darum hier keine Topik, keine schulgerechte Form, kein logisch-rhetorisches Baugerüst. Die naehern Bestimmungen findet der von selbst, dem practische Urteilskraft verliehen ist. Für Andere waere hier auch die genaueste Bestimmung des Einzelnen ohne bedeutenden Nutzen. ²²⁸ Solches Glasperlenspiel war kaum dazu geeignet, Zeitgenossen die Furcht vor tendenziöser Sachverhaltskonstruktion zu nehmen, zumal angesichts der fachlich und sozial ausgesprochen heterogenen Zusammensetzung vieler Spruchkörper und der mikropolitischen Verflechtungen jedes einzelnen Rats kaum Anlass zu der Vermutung bestand, es unterliege der Referent tatsächlich einer wirksamen fachlichen Kontrolle von Seiten des Kollegiums. Selbst mit Blick auf die mit Universitätsprofessoren besetzten Juristenfakultäten betonte der eingangs bereits zitierte Gustav Hugo noch 1812, je einseitiger der Berichterstatter die Tatsachen vortrage, desto weniger könne er von seinen Kollegen abvotirt werden. ²²⁹ Frühneuzeitliche Rechtsorganisationen lieferten ihrer Umwelt, von der sie erst ansatzweise differenziert waren, also keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Ausbildung von Systemvertrauen,²³⁰ und deshalb war Misstrauen das Gebot der Zeit. All den Sündern, die vor Gericht um Hab und Gut, Ehre und guten Namen, ja um ihr Leben
Grundlegend Peter Oestmann: Rechtsvielfalt vor Gericht, Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich. Frankfurt a. M. 2002 (Rechtsprechung. Materialien und Studien, Bd. 18). Johann Ludwig Klüber: Lehrbegriff der Referirkunst. Tübingen 1808, S. 19. Hugo: Facultätsarbeiten (wie Anm. 2), S. 106. Nebenbei bemerkt gilt dasselbe auch für die heutige Forschung, in der Historiker zur Gewährung von Vertrauensvorschüssen an vormoderne gerichtliche Instanzen neigen und auch bei Juristen epochenübergreifende Standessolidarität nicht selten an die Stelle kritischer Analyse tritt. Das Paradebeispiel hierfür bildet der Müller-Arnold-Prozess, in dem sich noch nicht einmal die Prozessakten erhalten haben. Dennoch weiß die Mehrheit der Rechtshistoriker zweieinhalb Jahrhunderte später ganz genau, dass das Berliner Kammergericht zu einem „richtigen“ Urteil gelangt sei, während sich der König im Irrtum befunden habe. Kritik hieran äußert aus rechtswissenschaftlicher Perspektive Uwe Wesel: Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht. 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2020, S. 81.
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selbst stritten, bot Interaktion die einzige Möglichkeit, jene Unsicherheit zu absorbieren, die die juristische Methode nicht zu beseitigen vermochte. Gegen diese soziale Misstrauenslogik, die aus zeitgenössischer Perspektive alles andere als irrational war, hätte sich das Referentengeheimnis nur unter Rückgriff auf eine politische Macht erzwingen lassen, über die die Kaiser im Reich ebenso wenig verfügten wie die Fürsten in ihren Territorien. Reichskammergericht und Reichshofrat mussten sich deshalb ebenso wie die territorialen Obergerichte auf die Einbindung ihrer Mitglieder in informelle Kontaktsysteme verlassen, um einer sozial stratifizierten Gesellschaft mit schwacher Zentralgewalt die Zumutung organisierter Rechtsprechung erträglich zu machen. Diese Funktion hätten die Kontaktsysteme allerdings kaum erfüllen können, wenn sie ausgerechnet jene Organisationsmitglieder ausgeklammert hätten, die im schriftlichen Verfahren aufgrund ihrer Aktenkenntnis eine Schlüsselposition einnahmen.²³¹ Die Referenten durften keineswegs abseitsstehen, und eben deshalb war deren Geheimhaltung vor den Parteien verfassungswidrig,²³² wie der hannoversche Reichstagsgesandte 1787 mit gehöriger Chuzpe erklärte. Andererseits reichte die normative Kraft des Faktischen aber auch nicht dazu aus, eine Anpassung der Gerichtsordnungen herbeizuführen. Die einschlägigen Paragraphen blieben landauf, landab bis zum Schluss auf dem Papier stehen, obwohl über Generationen hinweg jedermann sehen konnte, dass es kaum ein Verfahren gab, in dem nicht gegen sie verstoßen wurde. In der Rückschau führt dieser Befund geradewegs zu der bereits eingeführten Erkenntnis, dass die Formalstruktur von Organisationen nicht allein der pragmatischen Regelung technischer Arbeitsabläufe, sondern zugleich der Erzeugung von Rationalitätsmythen gegenüber der Umwelt dient.²³³ Ein Reichskammergerichtsprokurator gelangte zu diesem Schluss auch ohne Studium der Soziologie, als er 1767 davon sprach, das Referentengeheimnis sei ein politischer Roman,²³⁴ den man der Gesellschaft erzähle.
Informelle höfische Strukturbildungen hoben Formalität also mitnichten aus den Angeln, sondern blieben stets auf sie bezogen. Die entgegengesetzte Einschätzung, nach der durch Informalität „alles umgeworfen“ worden sei, zeugt von mangelnder Vertrautheit mit soziologischen Positionen. Zitat bei Werner Paravicini: Informelle Strukturen bei Hofe. Eine Einleitung, in: Reinhardt Butz/Jan Hirschbiegel (Hrsg.), Informelle Strukturen bei Hof. Dresdner Gespräche III zur Theorie des Hofes. Ergebnisse des gleichnamigen Kolloquiums auf der Moritzburg bei Dresden, 27. bis 29. September 2007, veranstaltet. Berlin 2009, S. 1–8, hier S. 2. Zitiert nach Bengt Christian Fuchs: Die Sollicitatur am Reichskammergericht. Köln 2002 (QFHG, Bd. 40), S. 145. Meyer/Rowan: Institutionalized Organizations (wie Anm. 34). Zwierlein: Vermischte Briefe (wie Anm. 221), Bd. 1, S. 40.
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Dies leitet indes zu einer viel weitreichenderen Frage über, die da lautet: Wenn das Referentengeheimnis bloß ein Roman war, was war dann die gemeinrechtliche Schriftlichkeitsmaxime? Schließlich konnte es in Räumen der Interaktion vom Habitus über Namen, Mimik, Gestik, Kleidung und reich gedeckte Gabentische auf alles mögliche,²³⁵ jedoch kaum auf den mausgrauen Grundsatz quod non est in actis non est in mundo ankommen. Denn wäre es den Akteuren, die nach prozessrechtlich ausdrücklich verbotener Face-to-Face-Kommunikation mit dem Berichterstatter strebten, lediglich um den Austausch irgendwelcher Schriftsätze gegangen, hätten sie auch an ihren Schreibtischen sitzen bleiben und Distanzkommunikation betreiben können.
9 Die gemeinrechtliche Schriftlichkeitsmaxime als organisierte Heuchelei Die sich aufdrängende Frage, worüber Parteien in einem angeblich schriftlichen Verfahren mit dem Referenten so dringend sprechen wollten, stößt direkt in den blinden Fleck einer Rechtsgeschichte, die infolge der Intellektualisierung und Entkörperlichung ihres Gegenstandes kaum eine Vorstellung davon vermittelt, in welchem sozialen Raum jene Relationen eigentlich entstanden, die die Grundlage kollegialen Entscheidens in der Frühen Neuzeit bildeten. Sofern Justizforschung im 21. Jahrhundert anschlussfähig bleiben will, wird sie nicht umhinkommen, diesen Raum unter akteurszentrierten Gesichtspunkten zu vermessen, was nur dann gelingen wird, wenn soziologisch informierte Zugänge gleichrangig neben jene normengeschichtlichen Analysen treten, auf die auch im Rahmen einer Fremdbeschreibung juristischer Expertise natürlich keineswegs verzichtet werden kann.²³⁶ Als Historiker muss ich mich darauf beschränken, einige der epochenspezifischen Praktiken zu skizzieren, die jenen sozialen Raum konstituierten, in dem sich Relationstechnik an frühneuzeitlichen Kollegien vollzog und der spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine die Expertise der Referenten unmittelbar tangierende Diskursivierung erfuhr, die ihrerseits auf die gerichtliche Praxis zurückwirkte und zu den historischen Wurzeln der Mündlichkeitsmaxime in Deutschland zählt. Dabei richten sich meine praxeologischen Beobachtungen vornehmlich auf den Reichshofrat. An Tocqueville geschulte Leserinnen und Leser wissen jedoch, dass es auf
Klassisch Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2019; Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2019. Wertvolle Anregungen bietet in dieser Hinsicht Falk: Consilia (wie Anm. 5).
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den Namen der Organisation nicht ankommt: „Entdeckte ich in der alten deutschen Gesetzgebung eine politische Einrichtung, eine gesetzliche Bestimmung, eine Behörde, so wußte ich im voraus, daß ich bei aufmerksamer Nachforschung etwas im wesentlichen ganz Ähnliches in Frankreich und in England finden würde, und ich verfehlte denn auch nicht, es dort wirklich zu finden.“²³⁷ Vornehmlich am Beispiel des Reichshofrats sollen im Folgenden Problemfelder benannt werden, auf denen eine epochenspezifische Gemengelage von Organisation, Interaktion und Gesellschaft sichtbar wird, mit deren Bewältigung sich jedes frühneuzeitliche Justizkollegium in der einen oder anderen Form konfrontiert sah. Beginnen wir mit der Schriftlichkeitsmaxime. Juristen lieben Papier, und deshalb kann man in zahlreichen rechtswissenschaftlichen Publikationen lesen, der gemeinrechtliche Schriftlichkeitsgrundsatz habe sich in der Frühen Neuzeit vor allem aus Gründen der Prozessökonomie und rationaler Sachverhaltskonstruktion weithin durchgesetzt.²³⁸ Dieser Würdigung, die zum Teil mit einer ausgesprochenen Geringschätzung mündlicher Verfahrenselemente einhergeht²³⁹ und deshalb anderthalb Jahrhunderte nach Einführung der Mündlichkeitsmaxime gerade aus juristischer Feder einer feinen Ironie nicht entbehrt, wird sich eine Fremdbeschreibung frühneuzeitlichen Prozessrechts keineswegs anschließen können. Denn wirft man die Intellektualisierung alles Sozialen erst einmal über Bord, wird man direkt vor dem Bug praxeologische Formationen ausmachen, die viel zu konkret sind, als dass sie bislang wissenschaftliche Geltung hätten beanspruchen können. Wie wäre es zum Beispiel mit der Frage, wie es frühneuzeitliche Kollegien bei zum Teil jahrzehntelanger Verfahrensdauer und mehrfachem Wechsel des Berichterstatters angestellt haben sollen, Entscheidungen allein nach Aktenlage zu treffen? Hätte man an den Stätten der Themis tatsächlich über ein derart langfristiges institutionelles Gedächtnis verfügt, müsste es sich bei den damaligen Registraturen um wahre Kathedralen der Archivtechnik gehandelt haben. In einem solchen Fall wäre es allerdings unverständlich, warum in den vergangenen Jahrzehnten Erschließungsprojekte mit einem Finanzvolumen von mehreren Millionen Euro notwendig waren, um den von den Reichsgerichten hinterlassenen Aktenhaufen wissenschaftlich nutzbar zu machen. Sehen wir den prosaischen Tatsachen ins Auge: Landauf, landab im Heiligen Römischen Reich glichen die Registraturen jener wielandschen Kanzlei zu Abdera, deren wohldurchdachte Einrichtung nur
Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution. München 1989, S. 31 f. So etwa Madeleine Tolani: Parteiherrschaft und Richtermacht. Die Verhandlungs- und Dispositionsmaxime im Lichte divergierender Prozessmodelle. Tübingen 2019 (Jus Privatum, Bd. 231), S. 104. In der Regel muss das angeblich unnütze Anwaltsgeschwätz während der reichskammergerichtlichen Audienzen als abschreckendes Beispiel herhalten. So etwa bei Heinrich Wiggenhorn: Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches. Münster 1966, S. 117.
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den einen Mangel aufwies, daß man, alles Suchens ungeachtet, nichts darinn finden konnte. ²⁴⁰ Wer sich vormoderner juristischer Aktenarbeit aus praxeologischer Perspektive nähern will, kann an der Erkenntnis Markus Friedrichs unmöglich vorbeigehen, wonach sich die Geschichte von Registraturen und Archiven vor allem als eine Geschichte ihrer faktischen Unbenutzbarkeit präsentiert.²⁴¹ Schließlich befand sich etwa die Reichshofkanzlei im ausgehenden 16. Jahrhundert in einem Zustand, der nix weniger als einer kaiserlichen kanzlei ²⁴² ähnelte, und noch zur Mitte des 18. Jahrhunderts sahen sich Reichshofräte bei der Abfassung von Relationen vielfach mit dem Problem konfrontiert, dass Teile der Akte im Laufe der Jahre verloren gegangen waren.²⁴³ Noch prekärer gestalteten sich die Zustände am Reichskammergericht, dessen teils vermodernde Akten sich im 18. Jahrhundert auf mehrere Standorte in Wetzlar, Frankfurt am Main und Aschaffenburg verteilten.²⁴⁴ Wie mag es da erst um das Dokumentenmanagement all jener Territorialgerichte bestellt gewesen sein, die froh waren, wenn sie sich der Akten im Wege der Versendung an eine Juristenfakultät entledigen konnten? Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Juristenfakultät der Georgia Augusta zu Göttingen, die im 18. Jahrhundert einen Johann Stephan Pütter zu ihren Mitgliedern zählte. Pütter war nicht nur ein Staatsrechtler von Rang, sondern verfasste eine Autobiographie, in der er unumwunden beschrieb, wie er als Referent angesichts oftmals unvollständiger oder zumindest unklarer Aktenlage den Sachverhalt erfasste: Er lud vor Ort anwesende Vertreter der Parteien kurzerhand in seine Privatwohnung zum Vier-Augen-Gespräch.²⁴⁵ Wieland: Geschichte der Abderiten (wie Anm. 115), S. 265. Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte. München 2013, S. 76 f. So in einem Bericht des Reichshofsekretärs Erstenberger von 1587, zitiert nach Heinrich Kretschmayr: Das deutsche Reichsvicekanzleramt, in: Archiv für österreichische Geschichte 84 (1898), S. 383–502, hier S. 424. Hierzu etwa ein 1740 anonym verfasstes Gutachten von Johann Christoph Burkhardt von der Klee, der aufgrund langjähriger Erfahrungen auf der Gelehrtenbank äußerte, es sei zu wünschen, „daß ein Referent jedesmahl Acta completa zu Handen bekommet. Im Reichs-Hoff-Rath hingegen muß er sich mit Actis mancis [also unvollständigen Akten] guthen Theils behelffen, wann er sicher gehen will, viele Zeit mit perlustration deren Protocollorum rerum exhibitarum anwenden, drey, vier, auch mehrmahlen die Acte zur complirung ad Registaturam remittiren und in Conclusione gleichwohlen gewärtigen, daß er keine vollständige Acten zurück bekomme, wodurch dann vielmahl zu geschehen pfleget, daß die Referenten, wann ihnen die Relation einer Sache anbefohlen wird, sich mit dem Defectu Actorum entschuldigen.“ Siehe ÖStA HHStA, MEA, Reichshofrat, K. 10a, Nr. 1. Jost Hausmann: Die Stätten des RKG-Archivs, in: Ders. (Hrsg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts. Köln/Weimar/Wien 1995, S. 37–44, hier insb. S. 40–44. Johann Stephan Pütter: Selbstbiographie zur dankbaren Jubelfeier seiner 50jährigen Professorsstelle zu Göttingen, 2 Bde. Göttingen 1798, hier Bd. 2, S. 466, 468.
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Pütter beschreibt eindeutig einen direkt in die Relationen einfließenden mündlichen Tatsachenvortrag, der frontal gegen die Schriftlichkeitsmaxime verstieß und noch dazu in die alleinige Willkür des Berichterstatters gestellt war. Ein solches Procedere mag für Pütter durchaus praktisch gewesen sein, kann jedoch kaum als Beitrag zur Rationalität kollegialer Rechtserkenntnis interpretiert werden, weil abwesende Parteien, die sich allein auf die von ihnen eingebrachten Schriftsätze verlassen hatten, offensichtlich massiv benachteiligt wurden. In Pütters Autobiographie finden wir also ein erstes Indiz für eine informelle Mündlichkeit im schriftlichen Verfahren, von der eine erhebliche Gefahr für den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör ausging. In die gerichtliche Sachverhaltskonstruktion floss aber nicht nur informelle Mündlichkeit, sondern auch informelle Schriftlichkeit ein, wie vor allem jene tendenziösen Präokkupationslibelle belegen, die von den Parteien über Generationen hinweg in großer Zahl gedruckt wurden, um unter Umgehung des Geschäftsganges direkt unter den Referenten und den übrigen Beisitzern verteilt zu werden. Am Reichshofrat und manch anderen Kollegien war ein solches, den Rationalitätsanspruch des Aktenprozesses offensichtlich konterkarierendes Prozedere verboten,²⁴⁶ ohne dass sich die Praxis daran jemals gestört hätte. Nach Johann Jacob Moser wurde in Wien kaum eine wichtige Sache, sonderlich durch einen ordentlichen Process, abgethan, da nicht eine oder beede Parthien dergleichen ExtrajudicialSchrifften distribuirten. ²⁴⁷ Kaum anders präsentierte sich die Situation am Reichskammergericht, so dass Peter Oestmann unlängst konstatierte, es habe die Sachverhaltskonstruktion in eine „eine[r] riesige[n] Grauzone“²⁴⁸ stattgefunden. Es bildete also vielerorts ein reales Phänomen der Gerichtspraxis, dass hinter einer Rationalitätsfassade schriftlichen Verfahrens informeller mündlicher und schriftlicher Vortrag in den der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt einfloss. Juristisch-normgeschichtlich angelegte Analysen frühneuzeitlicher Relationen stehen damit vor der Herausforderung, positivistische Zugänge zur Quellengattung der Prozessakte zu überwinden, da diese selbst im schriftlichen Verfahren keineswegs die einzige und womöglich nicht einmal die wichtigste Grundlage der Entscheidung bildete. Wiche die Rechtsgeschichte dieser zugegebenermaßen diffizilen Aufgabe aus, wären simplifizierende Interpretationen vormoderner Relationstech-
Am Reichshofrat durch Gemeine Bescheide von 1723 und 1746. Abgedruckt und kommentiert bei Peter Oestmann: Gemeine Bescheide, Teil 2: Reichshofrat 1613–1798. Köln/Weimar/Wien 2017 (QFHG, Bd. 63/2), S. 347–349, 359–375. Johann Jacob Moser: Einleitung zu dem Reichs-Hof-Raths-Proceß, Bd. 2. Nürnberg 1733, S. 43. Peter Oestmann: Entscheidungsfindung und Entscheidungsdarstellung am Reichskammergericht, in: Amend-Traut/Czeguhn/Ders. (Hrsg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper (wie Anm. 98), S. 371– 386, hier S. 378.
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nik, die sich zum Teil drastisch von zeitgenössischen Sichtweisen abheben, weiterhin vorprogrammiert. Auch die Geschichtswissenschaft hat keinerlei Anlass, sich zufrieden zurückzulehnen, denn sofern sie es mit ihren Anleihen bei der Soziologie tatsächlich ernst meint, kommt sie nicht umhin, die sozialen Räume zu vermessen, durch die informelle Mündlichkeit und Schriftlichkeit Eingang in das ordentliche Verfahren fanden. Schließlich ist davon auszugehen, dass sich jene ausgeprägten Normenkonkurrenzen und Ambiguitäten, in denen neuere Forschungen ein Spezifikum der Frühen Neuzeit erblicken,²⁴⁹ vornehmlich in diesen Räumen und nicht etwa in einem Prozessschriftgut geltend machten, das bereits früh disambiguierenden Darstellungszwängen unterlagen.²⁵⁰ Will man der Analyse gerichtlichen Entscheidens ein soziologisch informiertes Praxisverständnis zugrunde legen, darf man die informelle Hinterbühne also nicht pathologisieren, sondern muss sie konsequent mit Schauseite und Formalstruktur verknüpfen, ohne dabei über das Ziel hinauszuschießen und Informalität als das „Eigentliche“ der gesamten Veranstaltung zu verabsolutieren. Informelle Hinterbühnen juristischen Entscheidens gab es in der Frühen Neuzeit viele. Den mit Abstand wichtigsten sozialen Raum, den eine kritische Justizforschung künftig in den Blick zu nehmen hätte, haben wir am Beispiel Pütters jedoch schon kennengelernt, nämlich jene Privatwohnung, in der der Referent im Vorfeld der gemeinsamen Beratung die ihm zugeteilten Akten bearbeitete. Die Rechtsgeschichte betrachtet diese räumliche Verortung der Relationstechnik offensichtlich als eine Selbstverständlichkeit, zu der nichts weiter zu sagen ist. Schließlich fungiert die Wohnung eines Richters noch heute als „Aktenumschlagplatz“,²⁵¹ auf dem ein Großteil dessen bearbeitet wird, was das Perpetuum mobile
Hillard von Thiessen: Das Zeitalter der Ambiguität.Vom Umgang mit Werten und Normen in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2021; ders.: Normenkonkurrenz. Handlungsspielräume, Rollen, normativer Wandel und normative Kontinuität vom späten Mittelalter bis zum Übergang zur Moderne, in: Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Normenkonkurrenz in historischer Perspektive. Berlin 2015 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 50), S. 241–286. Wenn es heißt, es hätten die in diesen Räumen angewandten „alternativen und ergänzenden Handlungsstrategien […] keine erheblichen Abweichungen zum einmal eingeschlagenen Prozessweg“ aufgewiesen, ist dies schon deshalb kaum überzeugend, weil dann offen bleibt, wozu es überhaupt einer Alternative bzw. Ergänzung des ordentlichen Verfahrens bedurfte. Schließlich dient Informalität dazu, Akteuren Optionen zu verschaffen, über die sie auf formaler Ebene nicht verfügen. Zitat mit Blick auf die Sollicitatur am Reichshofrat bei: André Griemert: Jüdische Klagen gegen Reichsadelige. Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz I. Stephan. München 2014 (baR, Bd. 16), S. 127. Lübbe-Wolff: Bundesverfassungsgericht (wie Anm. 54), S. 15.
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des Geschäftsverteilungsplans den einzelnen Beisitzerinnen und Beisitzern tagtäglich auf den Tisch schaufelt. Eine historische Raumsoziologie hätte allerdings nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass in einer Richterwohnung vor 300 Jahren ganz andere Personen und Güter zueinander fanden als in der Gegenwart. Anknüpfen ließe sich dabei an einen kleinen, aber ausgesprochen perspektivreichen Beitrag Ulrike Ludwigs über die „häusliche Praxis“ frühneuzeitlicher Amtsträger.²⁵² Am Beispiel eines in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts am pommerschen Hofgericht wirkenden Assessors weist Ludwig nach, dass vormoderne Justizkollegien dazu tendierten, Informalität aus dem Beratungszimmer heraus in die Privatwohnungen der Räte zu verlagern, die sich auf diese Weise zu Räumen der Netzwerkbildung und des Gabentausches entwickelten, ohne die vormoderne Herrschaft als soziale Praxis gar nicht denkbar war. Wie wichtig es wäre, diesen Ansatz konsequent weiter zu verfolgen, zeigt der Blick auf den Reichshofrat. Wie bereits erwähnt, interpretiert die Rechtsgeschichte dessen Schriftlichkeitsgrundsatz gemeinhin als Ausdruck von Rationalität und Prozessökonomie. Aus praxeologischer Perspektive muss man diese Lesart allerdings mit zeitgenössischen Berichten konfrontieren, wonach sich am Kaiserhof permanent zahlreiche Prozessführer bzw. von diesen bestellte Sollicitanten persönlich aufhielten. Bereits 1539 registrierte der Hofprediger Karls V. große Menschenmengen, welche dem Hof mehr auß noth und zwang als auß freyem willen folgen unnd nur ihren Rechtshändlen nachgehen müssen. ²⁵³ Und noch 250 Jahre später kalkulierten Kameralisten nüchtern die Einnahmen, die das Wiener Gastgewerbe damit erzielte: Ein großer Finanzgewinn und Zufluß fremden Geldes, den keine teutsche Residenz hat! ²⁵⁴ Es drängt sich die Frage auf, was diese Menschen an den Hof zwang, wenn das Reichshofratsverfahren doch ein schriftliches war? Wäre es dann nicht eigentlich logisch gewesen, zu Hause zu bleiben und in Wien lediglich einen Reichshofratsagenten zur Einreichung der Schriftsätze zu engagieren? Das Verhalten der Parteien scheint nicht recht zur Prozessmaxime zu passen, so dass man nicht umhinkommt, genauer hinzuschauen. Wer die zu Beginn des 17. Jahrhunderts innerhalb der Hofburg geführten Diskussionen um die Reichshofratsordnung nachverfolgt, ohne im Banne des Fortschrittsnarrativs zu stehen, wird zunächst feststellen, dass es sich bei der Geburt der
Ulrike Ludwig: Verwaltung als häusliche Praxis, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte. Köln/Weimar/Wien 2015 (Frühneuzeit-Impulse, Bd. 3), S. 188–198. Hier nach der deutschen Fassung: Antonio de Guevara: Institutiones Vitae Aulicae oder HofSchul. München 1602, S. 72. Karl Friedrich Häberlin: Österreich, in: Ders.: Repertorium des teutschen Staats- und Lehnrechts, Bd. 3. Leipzig 1793, S. 695–708, hier S. 706.
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Schriftlichkeitsmaxime aus dem Geist der Zweckrationalität um eine Legende handelt. Mit dem unnotwendigen geschwetz der procuratorum,²⁵⁵ dem auf diese Weise zu steuern sei, hielt sich der spiritus rector der kaiserlichen Schriftlichkeitsmaxime, Reichshofratsvizepräsident und Vizekanzleramtsverwalter Peter Heinrich von Stralendorff, 1624 nämlich nicht lange auf. Unmissverständlich führte er aus, man verbanne die Mündlichkeit aus dem ordentlichen Verfahren, um Reputation und auctoritet des Reichshoffraths gegenüber dem Reichskammergericht und anderen gemainen tribunali zu erhöhen und das Kollegium als ein Consistorium summi principis, item ein Sacrum Consilium im Bewusstsein der Umwelt zu verankern. Obwohl hier ein kaiserlicher Topjurist schreibt, kann die Rechtsgeschichte mit dieser Sakralisierung der Rechtsprechung nichts anfangen und blättert einfach darüber hinweg. Dabei steht in dem zitierten Gutachten schwarz auf weiß, dass man sich am Reichshofrat des Mediums der Schrift zu bedienen gedachte, um sich von den Parteien zu distanzieren und die gerichtlichen Entscheidungen mit einer religiös konnotierten Aura der Unnahbarkeit zu versehen. Nichts berechtigt zu der Vermutung, all dies sei von der Hofburg unter Ferdinand II. nicht auch genauso gemeint gewesen. Man mag zwar einwenden, es habe sich die Zielsetzung einer Sakralisierung höchstgerichtlichen Entscheidens nach 1648 sukzessive verflüchtigt, doch bleibt selbst dann die Tatsache, dass man ein direktes Aufeinandertreffen von Kollegium und Parteien in erster Linie deshalb unterband, um durch das Distanzmedium der Schrift die Richtermacht zu stärken. Handlungsleitend war also nicht etwa der Wunsch nach Transparenz, sondern nach Intransparenz des Verfahrens. Die Privatwohnungen der Referenten kommen bei alledem ins Spiel, weil es sich bei der reichshofrätlichen Schriftlichkeitsmaxime nicht nur um eine Frucht kaiserlichen Strebens nach Autokratie, sondern darüber hinaus um ein Paradebeispiel organisierter Heuchelei handelte. Denn natürlich wusste am Hof Ferdinands II. jedermann, dass sich ein wirklich schriftliches Verfahren niemals würde durchsetzen lassen. Man stelle sich einmal vor, der Kaiser hätte den Höfen von Berlin, Hannover, München oder Dresden im Stile eines aktuellen Kommentars zur Zivilprozessordnung erklärt, es könne „nach der ganz herrschenden Meinung ‚rechtliches Gehör entgegen dem Wortsinn auch dadurch gewährt werden …, dass der, der Anspruch hierauf hat, zwar nicht angehört wird, aber etwas zu lesen bekommt und die Gelegenheit, schriftlich hierzu Stellung zu nehmen‘.“²⁵⁶ Rechtliches ÖStA HHStA, RK, Verfassungsakten, RHR, K. 1, Paket 4, Bl. 178. Abgedruckt bei Renatus Karl von Senkenberg: Versuch einer Geschichte des Teutschen Reichs im siebenzehnten Jahrhundert, Bd. 5. Halle 1795, S. VII–XIV sowie bei Sellert: Prozeßgrundsätze (wie Anm. 200), S. 414–417. Bernhard Wieczorek/Rolf A. Schütze (Hrsg.): Zivilprozeßordnung und Nebengesetze. Großkommentar, Bd. II/1. 3. Aufl., Berlin 2007, S. 6.
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Gehör entgegen dem Wortsinn mag sich zwar einer modernen Gesellschaft erträglich machen lassen, die sich im Zweifelsfall an Kafka orientiert und nicht alles für wahr hält, sondern sich mit der Einsicht in höhere Notwendigkeit begnügt.²⁵⁷ Nach der ganz herrschenden Meinung der Frühen Neuzeit wäre ein mit den Fürsten ausschließlich schriftlich kommunizierendes Reichsoberhaupt jedoch die längste Zeit Kaiser gewesen. Zweifler bekommen es von der Hofburg wiederum schwarz auf weiß. Bereits unter Rudolf II. hatten die Reichshofräte aus dem Geheimen Rat den ausdrücklichen Befehl erhalten, den Parteien in ihren Privatwohnungen Gelegenheit zum persönlichen Gespräch zu gewähren und dies nicht etwa unter Hinweis auf die Schriftlichkeitsmaxime zu verweigern, denn es schickhe sich nit, das man den Leuthen den Zuetritt oder verhör waigern solle, seye bei Hof nit herkommen. ²⁵⁸ Wenn die Zeitgenossen „Verhör“ sagten, meinten sie keinen Smalltalk, sondern die Gewährung von rechtlichem Gehör im Wortsinne. Beispielsweise gab sich der Graf von Bentheim-Tecklenburg 1707 überzeugt, dass man zu Wien nicht allemahl die Acta, wies wohl sein sollte, genau durchsehen undt die jura erwegen ²⁵⁹ würde, weil man bei Hof wisse, dass sich die Circumstantien eines Rechtsfalles mündlich weitaus besser diskutieren ließen. Mit dem späteren preußischen Großkanzler Joseph Maximilian von Fürst war sich um 1750 auch ein ausgewiesener Jurist sicher, dass der Reichshofratsprozess nur auf der Schaufassade schriftlich sei. Tatsächlich laufe man Gefahr, von der Gegenpartei ausgebootet zu werden, wenn man sich allein auf schriftliches Vorbringen verlasse und nicht vor Ort präsent sei. Der Referent habe nämlich kein Bedenken sich mit den Parteien in eine Discussion einzulassen; je mehr man es versteht ihn zu überzeugen, wäre es auch durch Thatsachen, die in den Acten nicht vorkommen, desto sicherer ist man, durchzudringen. ²⁶⁰ Sich einer Auseinandersetzung mit dieser Quelle durch Hinweis auf deren preußische Provenienz zu entziehen, wäre zu billig. 1740 beklagte sich intern nämlich auch Reichshofrat Johann Christoph Burkhardt von der Klee bitter darüber, dass im Beratungszimmer von einer rationalen Sachverhaltserfassung häufig keine Rede sein könne. Was nämlich die mündliche Informationes betrifft, welche die Partheyen denen Räthen in Gesellschaften, bey Mahlzeithen und dergleichen Gelegenheiten meisterlich beyzubringen wissen, zeiget die Experientz, daß selbige zu
Franz Kafka: Der Process. Frankfurt a. M. 2011, S. 211. Votum ad Imperatorem von 1597 in ÖStA HHStA, RK, Verfassungsakten, RHR, K. 1, Paket 2, Bl. 43–44. Dies und das folgende Zitat nach Anette Baumann: Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1806). Köln/Weimar/Wien 2006 (QFHG, Bd. 51), S. 108. Zitiert nach Leopold von Ranke: Zur Geschichte von Oesterreich und Preußen zwischen den Friedensschlüssen zu Aachen und Hubertusburg. Leipzig 1875, S. 15.
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Zeiten der Sachen in judicando ein größeres Gewicht alß sonsten die merita Causae vermögt gegeben haben. ²⁶¹ Man habe bereits ettlichmahl mit Verwunderung bemercken müssen, daß die Votanten auff einen ihnen von der Parthey extrajudicialiter beygebrachten umbstandt ihr gantzes fundamentum decidendi gebauet, auch davon nicht abzubringen gewesen, obwohl davon in den Akten nichts vorkomme. Da die Urteile des Reichshofrats keinen Tatbestand umfassten und die Relationen, sofern diese überhaupt verschriftlicht worden waren, unter Verschluss gehalten wurden, war von außen völlig unklar, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang informeller Vortrag vor einzelnen Gerichtsmitgliedern in die kollegiale Sachverhaltskonstruktion eingeflossen und schriftliches Vorbringen womöglich überspielt hatte. Dieses fundamentale Wahrheitsproblem des gemeinen Reichsprozesses, in dem die Mehrzahl der Beisitzer die Akte nicht las, vermochte die frühneuzeitliche Gesellschaft nicht durch Systemvertrauen zu kompensieren, weshalb es jedem halbwegs bewanderten Prozessführer klar vor Augen stand.
10 Wie die Selbstbeschreibung des frühneuzeitlichen Rechtssystems durch Skandalisierung der Sollicitatur das Wahrheitsproblem des gemeinen Prozesses invisibilisierte Allerdings konnte das vormoderne Rechtssystem dieses Wahrheitsproblem im Rahmen seiner Selbstbeschreibung nicht bearbeiten. Stattdessen musste es sich auf eine Verteidigungslinie zurückziehen, die den alltäglichen und deshalb kaum zu leugnenden Kontakt zwischen Parteien und Referenten in deren Wohnungen auf eine Weise interpretierte, die den Schriftlichkeitsgrundsatz nicht vollständig desavouierte. Da sich das System auf dieser Linie zerknirscht gab und beim Blick in den Spiegel sogar den einen oder anderen „Schandfleck“²⁶² ausmachte, hat die Forschung nicht realisiert, dass es sich gleichwohl um eine Selbstbeschreibung handelt, die jenes Wahrheitsproblem, das so viele Rechtssuchende an die Tür des Referenten klopfen ließ, übertünchte. Diese Argumentation lief darauf hinaus, die Reichsgerichte seien unterbesetzt und deshalb nicht zur Bewältigung des Geschäftsanfalls in
ÖStA HHStA, MEA, Reichshofrat, K. 10a, Nr. 1 (Tit. 4 § 15). Wilhelm August Rudloff: Unpartheiischer Bericht von dem Turnus oder der persönlichen Reihe im Referiren an Kaiserlichen und Reichs-Cammergericht. O. O. 1771, S. 17.
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der Lage, sondern vielmehr wider Willen dazu gezwungen, die begrenzten Ressourcen auf jene Verfahren zu konzentrieren, an denen auf Seiten der Parteien das dringlichste Interesse bestehe. Prozessführer müssten deshalb im Wege einer außergerichtlichen, als Sollicitatur ²⁶³ bezeichneten Vorsprache um ein Urteil bitten. Und damit dieses Geschäft den Kammerrichter bzw. den Reichshofratspräsidenten nicht überwältige, habe man das Referentengeheimnis informell aufgeben müssen, um das Einbringen von Beschleunigungsgesuchen direkt beim zuständigen Rat zu ermöglichen.²⁶⁴ Indem prominente Juristen wie Johann Stephan Pütter die Sollicitatur im 18. Jahrhundert als korruptes Ungeheuer ²⁶⁵ skandalisierten, von dem Gefahr für den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör ausgehe, schlugen sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits reichte die Jurisprudenz den Schwarzen Peter an Kaiser und Reichsstände weiter, die unter Druck gesetzt wurden, das Problem durch mehr Geld und Richterstellen zu beheben. Andererseits bot sie sich selbst und ihrer Umwelt eine Interpretation der Face-to-Face-Kommunikation zwischen Referenten und Parteien, die mögliche Irrationalitäten der Relationstechnik und damit auch der gerichtlichen Sachverhaltskonstruktion ausklammerte und stattdessen die Illusion nährte, es werde in den Wohnungen der Räte lediglich über die Reihenfolge der Bearbeitung, nicht aber über die der Entscheidung zugrunde zu legenden Tatsachen gesprochen. Doch genau dies war die große Lebenslüge der frühneuzeitlichen Jurisprudenz: Dass der Referent im Vier-Augen-Gespräch mit Parteien und deren Sachwaltern jeden Versuch eines Tatsachenvortrages abwehren würde, um sodann in kontemplativer Aktenarbeit den Punct aufzufinden, aus welchem sie [die Sache] betrachtet werden muß. ²⁶⁶ Auf dem Weg zu einer Fremdbeschreibung vormoderner Relationstechnik kann man sich diese Sichtweise umso weniger zu Eigen machen, als sich ein kausaler Zusammenhang zwischen Geschäftsanfall und Sollicitatur entgegen landläufiger Meinung nicht nachweisen lässt. Als weithin informelle Struktur bildete die Sollicitatur vielmehr über die gesamte Frühe Neuzeit hinweg einen integralen Bestandteil von Prozessführung als sozialer Praxis – und zwar selbst zu Zeiten, in denen der Geschäftsanfall stark zurückging. Beispielsweise brach die Zahl der
Mit Blick auf das Reichskammergericht vor allem Fuchs: Sollicitatur (wie Anm. 232). Dorfner: Mittler zwischen Haupt und Gliedern (wie Anm. 26), S. 172–176. Johann Stephan Pütter: Von der Sollicitatur am kayserlichen und Reichs-Cammergerichte. Göttingen 1768, S. 25. Theodor Kretschmann: Versuch über die Frage: Ist die Bekanntmachung der Referenten am Kaiserlichen und Reichskammergerichte räthlich und justizförderlich, in: Ders.: Kleine Abhandlungen aus dem Staats- und Privatrechte. Bayreuth 1793, S. 289–335, hier S. 311.
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Eingänge am Reichshofrat zwischen 1786 und 1801 um annähernd 50 % ein,²⁶⁷ so dass sich zeitgenössische Spötter bereits fragten, womit die Räte nun wohl die Zeit totschlügen.²⁶⁸ Dennoch hieß es in der Ratgeberliteratur bis zum Schluss völlig zutreffend, ohne Sollicitatur komme eine gewöhnliche Sache nicht zum Vortrage. ²⁶⁹ Gefallen ist das Referentengeheimnis also nicht etwa aufgrund einer durch strukturelle Unterfinanzierung hervorgerufenen Überlastung, sondern aufgrund eines Wahrheitsproblems, das juristische Expertise im schriftlichen Verfahren nach zeitgenössischer Überzeugung nicht zu lösen vermochte und dem nur durch informelle Mündlichkeit zu begegnen war. Dennoch kann eine Fremdbeschreibung frühneuzeitlicher Referierkunst an der offenkundigen Diskrepanz zwischen Geschäftsanfall und tatsächlicher Erledigung keineswegs vorbeigehen. Sie bedarf jedoch kritischer, über etablierte Sichtweisen deutlich hinausgehender Analyse. Jene Teile der Rechtsgeschichte, die in affirmativer Weise dazu neigen, Juristen vergangener Jahrhunderte als Mitglieder einer allzeit bereiten Funktionselite zu vereinnahmen, schreiben ihren Protagonisten eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte intrinsische Motivation zum eifrigen Verfassen von Relationen zu.²⁷⁰ Da aber seit Anbeginn der Welt noch niemand zur Aktenarbeit geboren wurde, drängt sich einmal mehr der Eindruck auf, es habe die bürgerliche Jurisprudenz der Gegenwart „verschluckt den Stock, womit man einst sie geprügelt“.²⁷¹ Man stelle sich einmal vor, Leviathan hätte diesen Stock niemals ergriffen und würde sich noch heute allein auf die intrinsische Arbeitsmotivation seiner richterlichen Funktionselite verlassen. Wie wäre es wohl um die Erledigungsstärke der bundesdeutschen Justiz bestellt, wenn es kein periodisches Berichtswesen gäbe und die Gerichtsverwaltung folglich keinerlei statistischen Überblick darüber besäße, was auf dem Schreibtisch des einzelnen Richters überhaupt angekommen ist, so dass Erledigung oder Nichterledigung weitgehend in dessen persönliches Belieben gestellt wären? Bliebe die Erledigungsstärke der Justiz unter solchen Bedingungen dieselbe oder ginge sie zurück? Antwort: Weder das eine noch das andere! Sie ließe sich in Ermangelung des hierzu notwendigen „Macht-Wissen-Komplexes“ (Foucault) nämlich gar nicht mehr messen und existierte somit als Leitbild richterlichen
Ausweislich der Exhibitenprotokolle von 5 635 auf 2 950 Geschäftsstücke per anno. Ich danke meiner Kollegin Dr. Sandra Weiss herzlich für die Auszählung. Anonym: Die vierte Stunde im Reichshofrath, in: Johann Friedrich Eusebius Lotz (Hrsg.), Staatswissenschaftliche und juristische Nachrichten, Bd. 1. Hildburghausen 1799, Sp. 420–422. Wilhelm August Friedrich Danz: Grundsäze des Reichsgerichts-Prozesses. Stuttgart 1795, S. 266. Mit Blick auf den Reichshofrat etwa Hartmann-Polomski: Regelung der gerichtsinternen Organisation (wie Anm. 163), S. 79. Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Leipzig 1984, S. 13.
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Entscheidens nicht länger. Alles wäre in einer solchen Welt anders, auch wenn die fachliche Qualifikation der Richter dieselbe bliebe. Diese kontrafaktische Spekulation anzustellen lohnt sich, weil sie relativ präzise die organisatorischen Rahmenbedingungen beschreibt, innerhalb derer Referenten in der Frühen Neuzeit vielerorts tätig waren. 1803 brachte es Georg Michael Weber, Direktor des Bambergischen Hofgerichts, auf den Punkt: In weiten Teilen Deutschlands besaßen die Regierungen kaum einen statistischen Überblick über die Tätigkeit ihrer Justizkollegien, und nicht anders ging es den Präsidenten gegenüber den einzelnen Räten. Folglich werde der Rath, es seyen denn äusserst dringende Sachen, selten moniret, wenn er sich nicht selbst monirt. ²⁷² Leuchtende Ausnahme inmitten dieser Tristesse war für Weber allein die preußische Gerichtsordnung, deren Vorschriften als musterhaft überall eingeführet und befolget werden sollten. ²⁷³ Die Einschätzung Webers war eindeutig rechtspolitisch motiviert, zeichnete jedoch im Großen und Ganzen ein zutreffendes Bild seiner Zeit. Dabei hatten die Kommissionen zur Visitation des Reichskammergerichts bereits im 16. Jahrhundert statistische, von der ständischen Dignität der Assessoren abstrahierende Abfragen entwickelt, um die einzelnen Beisitzer unter Leistungsdruck zu setzen.²⁷⁴ Eine derart auf Effizienz ausgerichtete Organisationskultur hatte sich in der Kollegialgerichtsbarkeit des deutschsprachigen Raumes jedoch nicht allgemein durchsetzen können und war womöglich auch am Reichskammergericht nach dem Ende der regulären Visitationen im Jahr 1588 wiederum erodiert. Allerdings hatte der preußische Justizminister Samuel von Cocceji 1748 einen machtgesättigten Generalplan ²⁷⁵ vorgelegt, der auf eine drastische Beschleunigung der Verfahren abzielte, hierzu ein sanktionsbewehrtes periodisches Berichtswesen einführte und dieses konsequent mit dem Laufbahn- und Beförderungswesen verknüpfte. In den folgenden Jahren kam es in Preußen zu einem Wandel gerichtlicher Organisationskulturen, der nach zeitgenössischer Wahrnehmung einer Revolution ²⁷⁶ glich und dessen Bedeutung in modernisierungstheoretischer Hinsicht noch immer kaum zu überschätzen ist.
Weber: Justizverfassung (wie Anm. 171), S. 26. Ebd., S. 34. Hierzu ausführlich Baumann: Visitationen am Reichskammergericht (wie Anm. 140), S. 98–103, 209–234. Project des Codicis Fridericiani Marchici […]. Berlin 1748, Vorrede. So 1765 Großkanzler de Jariges, zitiert nach Günter Birtsch: Reformabsolutismus und Gesetzesstaat. Rechtsauffassung und Justizpolitik Friedrichs des Großen, in: Ders./Dietmar Willoweit (Hrsg.), Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft. Zweihundert Jahre Preußisches Allgemeines Landrecht. Berlin 1998 (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge, Bd. 3), S. 47–62, hier S. 47.
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Preußen präsentierte sich als der erste deutsche Staat, der auf der Mikroebene der Rechtsorganisationen dauerhaft Anreizmechanismen und „Disziplinarunterwerfungen“²⁷⁷ implementierte, die allesamt auf individuelle Erledigungsstärke zielten und Abweichung tatsächlich sanktionierten. Wo zuvor nach aufgeklärter Überzeugung nur Chaos gewesen war, baute Berlin eine Maschine. Dieses Tabellisiren ²⁷⁸ in der Justiz war „Überwachen und Strafen“ auf preußisch und so modern, dass es in Windeseile auf Österreich und einige andere weltliche Territorien übergriff.²⁷⁹ Technokraten wie Weber bewunderten Cocceji, weil die Realität an den meisten Kollegien ganz anders aussah. Die Rechtsgeschichte, betrieben von in der modernen Disziplinargesellschaft sozialisierten Juristen, vermittelt allerdings keinen Eindruck von der Tatsache, dass das Gros frühneuzeitlicher gerichtlicher Entscheidungen in einem Umfeld zustande kam, in dem kaum endogener Erledigungsdruck auf dem rechtsprechenden Personal lastete. Hierzu waren die Gerichte vielerorts schon deshalb nicht in der Lage, weil es kein Berichtswesen gab, auf das sich ein solcher Druck hätte stützen können. Um es in der gebotenen Deutlichkeit zu sagen: Der Reichshofratspräsident wusste bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht, wie viele Verfahren der einzelne Rat als Referent bearbeitete,²⁸⁰ und er fragte im Regelfall auch nicht nach. Nicht erst nach heutigen, sondern bereits nach kameralistischen Maßstäben des 18. Jahrhunderts waren der Reichshofrat und viele andere Justizkollegien undisziplinierte Organisationen. Es ist deshalb aus der Rückschau keineswegs statthaft, das außergerichtliche Ansuchen von Parteien um Erledigung eines Prozesses mit Unterfinanzierung oder Unterbesetzung des Gerichts zu erklären. Ursächlich war vielmehr die nahezu völlige Abwesenheit einer auf Erledigungsstärke zielenden Organisationskultur. Unabhängig von den Konjunkturen des Geschäftsanfalls war in einem solchen System Sollicitatur immer notwendig, um den Referenten durch physische Anwesenheit unter einen Druck zu setzen, den die Rechtsorganisation selbst nicht erzeugte, sofern es sich nicht zufällig um ein Verfahren handelte, für das sich der Hof bzw. die Leitungsebene des Gerichts selbst interessierte. Reichsstände griffen hierzu
Foucault: Überwachen und Strafen (wie Anm. 31), S. 296. Karl Wilhelm von Drais: Geschichte der Regierung und Bildung von Baden unter Carl Friederich vor der Revolution, Bd. 2. Karlsruhe 1818, S. 104 f. Hierzu Tobias Schenk: „Ökonomisierung der Zeit“. Justizstatistiken als Medium preußischösterreichischer Staatenkonkurrenz im 18. Jahrhundert, in: Franziska Neumann/Jorun Pöttering/ Hillard von Thiessen (Hrsg.), Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit. Aufeinandertreffen – Übereinstimmung – Rivalität. Köln 2023 (Frühneuzeit-Impulse, Bd. 5), S. 503–514. Nämlich deshalb nicht, weil das Referentenprotokoll alphabetisch nach Klägernamen und nicht etwa nach den Namen der Referenten aufgebaut war.
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in der Regel auf (Sonder‐)Gesandte zurück oder engagierten ebenso wie betuchte Privatpersonen berufsmäßige Sollicitanten. Untertanen, die nicht über die hierfür notwendigen Mittel verfügten, reisten noch im 18. Jahrhundert in großer Zahl persönlich nach Wien oder Wetzlar.²⁸¹ Sich ein Urteil buchstäblich „erwandern“²⁸² zu müssen, bildete für viele Rechtssuchende also nicht nur auf niedergerichtlicher Ebene, sondern auch an den Reichsgerichten einen festen Bestandteil von Prozessführung als sozialer Praxis.²⁸³
11 Die Referentenwohnung als Grenzstelle frühneuzeitlicher Rechtsorganisationen: Beobachtungen zur raumsoziologischen Kontamination der Relationstechnik Vom Untertan, der mit dem Hemd, das er am Leibe trug, die Reise nach Wien gewagt hatte und so zum ersten Mal aus dem engen Umkreis seines Heimatdorfes herausgekommen war, bis zu professionellen Agenten, Sollicitanten und reichsfürstlichen Gesandten begehrten tagtäglich die unterschiedlichsten Akteure beim dominus referens Einlass. Im Drehbuch des Modernisierungsnarrativs markiert dessen Tür exakt jenen Punkt, an dem Selbstbeschreibungen für gewöhnlich die legendenumwobene Persönlichkeit des Richters²⁸⁴ auf die Bühne führen, um informelle Strukturbildungen als bedauerliche Einzelfälle pathologisieren und somit externalisieren zu können. Will sich eine Fremdbeschreibung des sozialen Raumes hinter der Tür nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten, wird sie sich mit Pierre Bourdieu an die „brutale
Dies nicht nur als Einzelpersonen, sondern auch als Mitglieder von Deputationen bäuerlicher Gemeinden. Hierzu grundlegend Werner Troßbach: Bauernbewegungen im Wetterau-VogelsbergGebiet 1648–1806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich. Darmstadt/Marburg 1985 (QFHG, Bd. 52). So mit Blick auf die Niedergerichtsbarkeit Michael Ströhmer: Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn. Institutionen – Ressourcen – Transaktionen (1650–1800). Münster 2013 (Westfalen in der Vormoderne, Bd. 17; Paderborner Historische Forschungen, Bd. 17), S. 31. Was übrigens die bislang kaum gestellte Frage aufwirft, inwieweit die Reichsgerichte für einfache Untertanen aus der Distanz überhaupt effektiv nutzbar waren. Hierzu kritisch Dieter Simon: Die Unabhängigkeit des Richters. Darmstadt 1975 (Erträge der Forschung, Bd. 47), S. 26.
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Tatsache der universellen Reduzierbarkeit auf die Ökonomie“²⁸⁵ erinnern. Tatsächlich führt nichts schneller aus der intellektuellen Filterblase heraus als die Frage, wer die Praxis des Referenten eigentlich bezahlt hat. Denn noch heute beruht die Freiheit der Kunst auf einer systematischen Invisibilisierung ihrer ökonomischen Grundlagen, und kaum anders verhielt es sich vor 300 Jahren mit der juristischen Referierkunst. Die ökonomische Selbstbeschreibung des Rechtssystems ist schnell erzählt: Das Reichskammergericht wurde aus den Kammerzielern, der Reichshofrat allein vom Kaiser finanziert. Nicht immer wurden die Richtergehälter pünktlich und in voller Höhe ausbezahlt, und Korruption gab es auch. Diese war aber nicht etwa systemisch, sondern fand ihren Nährboden in den „menschlichen Schwächen Einzelner“.²⁸⁶ Unter all den Komplexitätsreduktionen, mit deren Hilfe sich die große Fortschrittserzählung durchs historische Unterholz schlängelt, ist diese Vernebelung der ökonomischen Grundlagen des frühneuzeitlichen Rechtssystems nicht nur die quellenfernste, sondern auch die ärgerlichste. Es ist durchaus richtig, dass es reguläre Richterbesoldungen gegeben hat.²⁸⁷ Die noch immer verbreitete Ansicht, diese Einnahmequelle sei wenn nicht die einzige, so doch die wichtigste finanzielle Basis richterlicher Existenz gewesen, fällt jedoch deutlich hinter den für andere Bereiche der frühneuzeitlichen Verwaltung erreichten Forschungsstand zurück. Auf den Spuren Max Webers stoßen neuere Studien allenthalben auf „Züge eines mit den Mitteln monopolisierter Gewaltausübung privilegierten Großunternehmens, an dem die Amtsträgerschaft Anteile hielt, zwar lediglich mit begrenztem Stimmrecht, aber mit Anrechten auf angemessene Rendite“.²⁸⁸ Sofern Rechtsgeschichte interdisziplinär anschlussfähig sein will, hat sie sich, wie unlängst auch von juristischer Seite gefordert, der Tatsache einer interessengeleiteten Rechtsprechung
Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 2015 (Schriften zu Politik & Kultur, Bd. 1), S. 49–79, hier S. 71. Fuchs: Sollicitatur (wie Anm. 232), S. 226. Hierzu etwa Wolfgang Sellert: Besoldungen und Einkünfte der Richter am Kaiserlichen Reichshofrat, in: Anja Amend-Traut/Albrecht Cordes/Ders. (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution. Berlin/New York 2013 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge, Bd. 23), S. 267–294. Stefan Brakensiek: Verwaltungsgeschichte als Alltagsgeschichte. Zum Finanzgebaren frühneuzeitlicher Amtsträger im Spannungsfeld zwischen Stabsdisziplinierung und Mitunternehmerschaft, in: Michael Hochedlinger/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2010 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 57), S. 271–290, hier S. 290.
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zu stellen²⁸⁹ und zu akzeptieren, dass die Relationstechnik an beiden frühneuzeitlichen Reichsgerichten neben allem anderen auch einem privatwirtschaftlichen Kalkül folgte und dabei auf breiter Front in Regionen vorstieß, die eindeutig als Korruption ausgewiesen waren. Bei alledem ist zu konzedieren, dass es sich bei Korruption nicht etwa um eine objektiv festzustellende Tatsache, sondern um einen diskursiv erzeugten Begriff handelt, so dass es sich verbietet, heutige Vorstellungen unbesehen auf die Vormoderne zurück zu projizieren.²⁹⁰ Nicht minder abwegig wäre es allerdings, den Zeitgenossen eine epochenspezifische Vorstellung von Korruption abzusprechen und davon auszugehen, es handele sich um ein Phänomen, das erst im 19. Jahrhundert aufgetaucht wäre. Gerade die Rechtsgeschichte würde sich auf diese Weise zahlreicher Analysemöglichkeiten berauben, da der moderne Korruptionsbegriff ausweislich neuerer Forschungen im Bereich der frühneuzeitlichen Rechtsprechung entstand und von dort aus seit der Aufklärung in weitere Bereiche der Staatsverwaltung ausstrahlte.²⁹¹ Bereits auf normativer Ebene lässt sich diese These mühelos verifizieren: Während in Gerichtsordnungen kategorische Verbote jeder Geschenkannahme bereits zu Beginn der Neuzeit verankert wurden,²⁹² gestatteten es Normtexte im Bereich der Verwaltung den Amtsträgern zum Teil bis ins 18. Jahrhundert hinein, Präsente anzunehmen, sofern diese nicht gegen die Interessen des Fürsten oder die Rechte Dritter gerichtet waren.²⁹³ Allerdings wäre die Vormoderne kein „Zeitalter der Ambiguität“²⁹⁴ gewesen, wenn sie nicht auch im Gerichtswesen ein Auge zugedrückt hätte. Wie Thomas Dorfner konzise ausgeführt hat, tolerierten die Zeitgenossen von öffentlich überreichten Sachgeschenken bis hin zu finanziellen Ulrich Falk: In dubio pro amico? Zur Gutachtenpraxis im gemeinen Recht (14. August 2000), in forum historiae iuris, . Grundlegend: Jens Ivo Engels: Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2014. Christoph Rosenmüller: Corruption and Justice in Colonial Mexico, 1650–1755. Cambridge 2019 (Cambridge Latin America Studies 113); Robert Bernsee: Moralische Erneuerung. Korruption und bürokratische Reformen in Bayern und Preußen, 1780–1820. Göttingen 2017 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 241); mit Blick auf den Reichshofrat Stefan Ehrenpreis: Korruption im Verfahren. Bestechung an den höchsten Reichsgerichten zwischen Gerichtsfinanzierung und Rechtsbeugung, in: Niels Grüne/Simona Slanicka (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation. Göttingen 2010, S. 283–305. Verwiesen sei lediglich auf § 3 der Reichskammergerichtsordnung von 1495, abgedruckt bei Heinrich Christian von Senckenberg/Johann Jacob Schmauß (Hrsg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede […], Bd. 2. Frankfurt a. M. 1747, S. 7. So etwa die Reichshofkanzleiordnung von 1559. Siehe Kretschmayr: Reichsvicekanzleramt (wie Anm. 242), S. 467; Groß: Reichshofkanzlei (wie Anm. 200), S. 132. Thiessen: Zeitalter der Ambiguität (wie Anm. 249).
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Remunerationen für die Richter nach Abschluss eines Prozesses vieles, was heute undenkbar wäre.²⁹⁵ Trotz allem gab es jedoch eine Praktik, die bereits vor 300 Jahren das Kainsmal der Korruption mitten auf der Stirn trug, und dies war die in laufenden Verfahren in Spekulation auf ein konkretes Ergebnis geheim geleistete Zahlung von Bargeld an den Richter. Dies ist die zeitgenössische Elle, die eine abgeklärte Justizforschung Jahrhunderte später nicht aus der Hand legen darf, sondern konsequent an ihren Gegenstand anzulegen hat. Und wenn sie dies tut, wird sie sich angesichts einer Überfülle einschlägiger Quellen der Erkenntnis kaum verschließen können, dass der Reichshofrat in noch stärkerem Maße als manch andere Justizkollegien seiner Zeit von systemischer Korruption geprägt war, so dass es zahlreichen Prozessführern zumindest bis in josephinische Zeit hinein nur schwer möglich gewesen sein dürfte, ohne den Einsatz von Schmieralien überhaupt ein Urteil zu erlangen. Wer von reichshofrätlicher Relationstechnik spricht, kann deshalb von Korruption nicht schweigen, denn es waren nicht etwa die Mitglieder der Herrenbänke, sondern deren gelehrte Kollegen, die sich bei der Kommerzialisierung der Referierkunst besonders hervortaten.²⁹⁶ Wenn ein Sondergesandter Friedrichs des Großen in den 1750er Jahren notierte, auf der Gelehrtenbank säßen größtenteils feile Seelen,²⁹⁷ sprach hieraus nicht nur Berliner Gehässigkeit (das natürlich auch), sondern ein in Generationen gewonnenes praktisches Wissen. Bereits 1717 hatte ein preußischer Gesandter aus dem Stand sieben Räte nennen können, die bekanntermaßen Bargeld akzeptierten. Vom dienstältesten primus votans an der Spitze bis zum zuletzt introduzierten Rat am Ende der Tafel listet der Bericht nahezu die gesamte Gelehrtenbank auf, und keiner der Genannten hat den Gesandten in der Folge Lügen gestraft.²⁹⁸ Abwegig ist die in der Literatur gelegentlich anklingende Vermutung, all das viele Geld habe nur diffuser Stimmungsmache gedient, sei durch kollegiale Kontrolle irgendwie ausgeglichen worden und habe deshalb den höchstgerichtlichen Entscheidungsprozess im Kern unberührt gelassen. Wenn ein Reichsstand am Kaiserhof ein wenig PR machen wollte, schenkte er einem Reichshofrat einen silbernen
Dorfner: Mittler zwischen Haupt und Gliedern (wie Anm. 26), S. 182–207. Dies betonte auf Grundlage einschlägiger Quellen bereits Michael Hughes: Law and Politics in Eighteenth Century Germany. The Imperial Aulic Council in the Reign of Charles VI.Woodbridge 1988 (Studies in History Series, Bd. 55), S. 126. Zitiert nach Leopold von Ranke: Zur Geschichte von Oesterreich und Preußen zwischen den Friedensschlüssen zu Aachen und Hubertusburg. Leipzig 1875, S. 14. Siehe Tobias Schenk: Reichsjustiz im Spannungsverhältnis von oberstrichterlichem Amt und österreichischen Hausmachtinteressen. Der Reichshofrat und der Konflikt um die Allodifikation der Lehen in Brandenburg-Preußen (1717–1728), in: Amend-Traut/Cordes/Sellert (Hrsg.), Geld, Handel, Wirtschaft (wie Anm. 287), S. 103–219, hier S. 136–138.
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Kerzenständer oder ein Fass Rheinwein. Wenn er den Beisitzern und insbesondere dem Referenten in einem laufenden Verfahren Barbeträge in erheblicher Höhe zukommen ließ, tat er dies in der Erwartung eines quid pro quo. Über die Reziprozität jenes Gabentausches, der in den Privatwohnungen vieler Referenten abgewickelt wurde, ließe sich ein Buch schreiben, dem es an Fußnoten nicht zu mangeln brauchte. Um zu belegen, zu welchem Zynismus die Akteure bereits vor 300 Jahren in der Lage waren, zitiere ich an dieser Stelle lediglich einen hannoverschen Gesandtenbericht, der sich 1704 mit der schwierigen Frage auseinandersetzte, wie viel Geld man auf ein Pferd setzen soll, das womöglich kurz vor der Ziellinie krepiert. Reichshofrat Michael Achatius Kirchner hatte nämlich, so heißt es in dem Bericht, damals nichts, hernach auch wenig und da [von Hannover] die größten Brocken ausgeteilet worden, wegen seiner Abwesenheit [aus Wien] nichts bekommen […], so ist wohl sehr apropos, daß er […] aufgemuntert werde, weil er zumal weiß, daß andere [Reichshofräte] vorhin viel bekommen haben. 2.000 Rtlr. wären wohl nicht zu wenig, auch nicht zu viel. Nur fürchte ich, daß, weil er kränklich ist, er bald sterben möchte, inmaßen er auch schon unlängst einen acces vom Schlage gehabt hat. Also sollte ich meinen, daß man ihm 1.000 Rtlr. zuerst geben und mit den andern ein wenig warten könnte, bis er einen Anfang gemacht hat, in den Sachen auf was rechtschaffenes zu arbeiten oder wenn ein favorables interlocut ausfällt, ob es gleich nicht decisiv ist, damit er nach und nach sehe, daß seine Mühe belohnet wird und man doch dabei auf seine Gesundheit und Leben Achtung haben kann, damit er nicht mit gar zu großen Brocken unter die Erde gehet als [seine Kollegen] S(chellerer?) und A(ndler), wiewohl der letzte wegen der Herren Stände wohl eher hätte zu Bette gehen können. ²⁹⁹ Dass Referenten die sollicitierenden Parteien sogar von sich aus zur Zahlung erheblicher Summen aufforderten, damit sie sich überhaupt der Mühe unterzogen, die Akten durchzuarbeiten, eine Relation zu verfassen und diese im Plenum vorzutragen, war zumindest bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein sehr realer Bestandteil der reichshofrätlichen Praxis. Selbst gegenüber bäuerlichen Klägern überschritten diese Forderungen „mühelos die Grenze von 1 000 Gulden“³⁰⁰ – nach
Zitiert nach Hans-Joachim Ballschmieter: Andreas Gottlieb von Bernstorff und der mecklenburgische Stä ndekampf (1680–1720). Kö ln/Graz 1962 (Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 26), S. 89. Werner Troßbach: Frühstück im „Blauen Mondschein“. Lern- und Kommunikationsprozesse im Spannungsfeld zwischen Dorfgemeinden und Reichsgerichten (1550–1790), in: Constanze Engel u. a. (Hrsg.), Development – Organization – Interculturalism. Essays in Honor of Prof. Dr. Michael Fremerey. Kassel 2009 (Journal of Argiculture and Rural Development in the Tropics and Subtropics. Supplement 91), S. 85–99, hier S. 93; vgl. auch Ballschmieter: Bernstorff (wie Anm. 299), S. 78.
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heutigem Maßstab ein kleines Vermögen. Darüber hinaus berichtete Friedrich Karl von Moser 1789 in kritischer Rückschau auf seine Zeit im Reichshofrat durchaus glaubhaft, es hätten manche seiner Kollegen die nahmhafteste Bestechungen oft nur vors liegen laßen ³⁰¹ empfangen. So hat allein der Landgraf von Hessen-Darmstadt 1710 in einem Untertanenprozess 12 450 Gulden unter den Reichshofräten verteilt, von denen 4 200 an den Korreferenten gingen.³⁰² Diese beliebig zu vermehrenden Befunde beschreiben keine individuellen Charakterschwächen, sondern eine systemische Korruption, gegen die weder benachteiligte Parteien noch dissentierende Reichshofräte viel ausrichten konnten, denn die Leitungsebene schaute bei alledem nicht etwa weg, sondern sicherte sich selbst die größten Filetstücke. Insbesondere in Untertanenprozessen wurden unbotmäßige Referenten, die der Klägerseite zuneigten und die Annahme von Bestechungsgeldern seitens der beklagten Obrigkeiten verweigerten, vom Präsidenten wiederholt durch Kollegen ersetzt, die das Verfahren entweder versanden ließen oder einer amicabilis compositio zuführten, die der Sache nach ein Zwangsvergleich zu Lasten der schwächeren Partei war.³⁰³ Sich derartiger Praktiken im Wege der Syndikatsklage zu erwehren, war benachteiligten Parteien entgegen reichsrechtlicher Garantien de facto kaum möglich, da es die betroffenen Referenten im Zusammenspiel mit dem Präsidenten verstanden, derartiges Vorbringen als Majestätsbeleidigung auszulegen.³⁰⁴ Der Reichshofrat hat sich hiergegen nicht nur mit Hilfe disziplinarischer Maßnahmen gegen Agenten und Advokaten zu erwehren gewusst, sondern Korruptionsvorwürfe enthaltende Schriftsätze nicht einmal zu den Akten genommen.³⁰⁵ Diese damnatio memoriae mahnt nicht nur zu kritischer Lektüre von Prozessschriftgut, sondern
Friedrich Karl von Moser (Hrsg.): Herzens-Erleichterung eines nun seeligen Reichs-Hof-Raths an K. Joseph II. vom Jahr 1768, in: Patriotisches Archiv für Deutschland 10 (1789), S. 365–377, hier S. 375. Troßbach: Bauernbewegungen (wie Anm. 281), S. 482–484. Hierzu minutiös Werner Troßbach: Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien 1648–1806. Weingarten 1987 (Sozialgeschichtliche Bibliothek), S. 30, 188 f., 246–248. Hierzu bereits Sellert: Prozeßgrundsätze (wie Anm. 200), S. 395–398. Aus der Innensicht eines dissentierenden Reichshofrats wurde diese Praxis 1712 eindringlich beschrieben von Nikolaus Christoph von Lyncker: Es haben auch die darüber bey der nechstvorigen Kayserlichen Majestät [Joseph I.] geführte Klagen umb deswegen nichts darwieder verfangen wollen, dieweil solche Beschwerden in den Rath gegeben, und weil man daselbst dieses Thun als dem ganzen Collegio verkleinerlich vorzustellen gewust und er [der bestochene Referent] darunter bey guten Freunden leicht Beyfall gefunden, hat mann denen Supplicanten wichtige Geldstrafen dictirt oder ihnen gar die Stadt zu räumen auferlegt und hat sich darauf niemand weiter regen dürfen. Zitat wie Anm. 179. Stattdessen wurden die Schriftsätze den Agenten zerrissen vor die Füße geworfen. Ein Beispiel aus dem Jahr 1719: ÖStA HHStA, RHR, Resolutionsprotokolle, Bd. XVIII/47, Bl. 151.
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zeigt, dass man es mit Praktiken zu tun hat, die von frühneuzeitlicher Ambiguitätstoleranz nicht mehr gedeckt waren und deshalb mit repressiven Mitteln durchgesetzt werden mussten. Es griffe erheblich zu kurz, führte man die allgegenwärtige Korruption am Reichshofrat allein oder auch nur vornehmlich auf die mit den Finanzproblemen der Hofburg zusammenhängenden Stockungen bei der Auszahlung der regulären Ratsgehälter zurück. In strukturgeschichtlicher Hinsicht hat man es vielmehr mit einer„balance of power produced by corruption“³⁰⁶ zu tun, die Bindungen zwischen den Reichsständen und gelehrten Reichshofräten schuf, die zu zerschlagen der Kaiser gar nicht die Macht besaß. Eben deshalb signalisierte die Hofburg angehenden Räten für die Gelehrtenbank bereits im Rahmen der Bestallungsverhandlungen, dass mit kontinuierlich eingehendem Gehalt nicht zu rechnen sei, man aber bei der kreativen Erschließung von Finanzierungsquellen ein Auge zudrücken werde – Wien sei doch freilich schön [und] die Commoditaet groß. ³⁰⁷ Die geschilderten ökonomischen Realitäten machten den Reichshofrat zu einer Rechtsorganisation, die aufgrund ihrer mikropolitischen Verflechtung mit dem besseren Teil der Gesellschaft an Effizienz nicht nur kein intrinsisches Interesse besaß, sondern hierzu gar nicht fähig war. Wie ein von Matthias Schnettger geschildertes Beispiel aus Italien verdeutlicht, wurden viele Urteile nicht etwa aus Rücksicht auf die Vollstreckungsproblematik vermieden, sondern schon im Ansatz durch einander blockierende Korruptionsstrategien betuchter Parteien unterbunden. So hatten in einem in den 1730er Jahren geführten Prozess zwischen der Republik Genua und dem ligurischen Reichslehen Finale beide Parteien mit Bestechungsgeldern nicht gespart, so dass das Kollegium einschließlich Referent und Korreferent schließlich in zwei Lager zerfiel, der Referent seine Definitivrelation zurückhielt und das Verfahren in der Schwebe blieb.³⁰⁸ Derartige, nicht etwa juristisch, sondern mikropolitisch bedingte Pattsituationen waren keineswegs ein Einzelfall³⁰⁹ und belegen, dass sich die frühneuzeitliche Praxis der Relationstechnik
Jean Claude Waquet: Corruption. Ethics and Power in Florence, 1600–1700. Cambridge 1991, S. 72. Friedrich Karl von Moser: Schreiben des ehemaligen Kays. Reichs-Hofraths Fhr. v. Lyncker an Herz. Sachsen-Weimar. Geh. Rath und Vice-Canzlar Heydenreich dd. Wien den 12. Oct. 1709, in: Patriotisches Archiv für Deutschland 11 (1790), S. 550–556, hier S. 553. Matthias Schnettger: „Principe sovrano“ oder „civitas imperialis“? Die Republik Genua und das Alte Reich in der Frühen Neuzeit (1556–1797). Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 209; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, Bd. 17), S. 332. Ganz ähnlich war es 1729 in einem Sukzessionskonflikt zwischen dem Kurfürsten von Hannover und dem Fürsten von Anhalt um das Herzogtum Sachsen-Lauenburg. Während Anhalt den Referenten Braillard auf seiner Seite wusste, war es dem Kurfürsten gelungen, den Korreferenten auf seine Seite zu ziehen, indem er dessen jüngsten Sohn zum Rat am Oberappellationsgericht Celle
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nicht nur im Verkehr mit der Umwelt, sondern auch gegenüber den „Kollegen“ im Beratungszimmer vielfach als eine Misstrauenspraxis darstellte, die von jenem deliberativen Miteinander unter Funktionseliten, das manche rechtshistorische Arbeiten vorauszusetzen scheinen, weit entfernt blieb.³¹⁰
12 Fazit und Ausblick: Von frühneuzeitlicher Praxis über deren Diskursivierung im 18./19. Jahrhundert zur Praxis der Gegenwart Nach alledem hätte Max Weber die Privatwohnung des Referenten vermutlich ohne größere Skrupel als jenen Ort ausgewiesen, an dem sich Tag für Tag die „Ausbeutung der Beherrschten durch Ämtermonopol, politisch bedingte Profite und Eitelkeitsprämien“³¹¹ vollzog. Der Begriff der Ausbeutung ist aus dem Vokabular einer historischen Forschung, die kommunikativen Aushandlungsprozessen innerhalb stratifizierter Gesellschaften mit einigem Wohlwollen begegnet, verschwunden, und auch im Rahmen einer um „Abklärung der Aufklärung“³¹² bemühten Fremdbeschreibung juristischer Expertise wird man ihn nicht revitalisieren müssen. Fassen wir stattdessen die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal zusammen, um sie sodann entwicklungsgeschichtlich einzuordnen: Indem zahlreiche Kollegien im 16. oder spätestens im 17. Jahrhundert den Anspruch gleichmäßiger Aktenkenntnis aller Beisitzer aufgaben, durchlief das Verfahren in wissenssoziologischer Hinsicht einen Wandel von unmittelbarer zu mittelbarer Schriftlichkeit.³¹³ Im Regelfall vollzog sich kollegiale Rechtserkenntnis nicht länger auf Grundlage der Akte, die die Mehrzahl der Beisitzer gar nicht ge-
ernannte. Siehe Anonym: Das agnatische Erbfolgerecht des Durchlauchtigsten Herzoglichen Gesamthauses Anhalt auf das Herzogthum Sachsen-Lauenburg und das Land Hadeln. O. O. o. J., S. 7. Wie schnell Reichshofräte auch untereinander zum Korruptionsvorwurf griffen, verdeutlicht eine von Johann Jacob Moser kolportierte Anekdote über Präsident Windischgrätz: Der Reichshofrath N. N. referirte. Als nun die Relation aus und die Seßion damit zu Ende ware, sagte der Präsident im Aufstehen laut über die ganze Tafel hin: Heute hat der Kerl um ein Stück Rheinwein referirt! Siehe Moser: Lebensgeschichte (wie Anm. 170), Bd. 4, S. 14. Max Weber: Politik als Beruf, in: Ders.: Wissenschaft als Beruf/Politik als Beruf. Jubiläumsausgabe. Tübingen 2020, S. 157–252, hier S. 163. Niklas Luhmann: Soziale Aufklärung, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. 8. Aufl., Wiesbaden 2009, S. 83–115, hier S. 84. Zum Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Schriftlichkeit etwa Anton Menger: System des oesterreichischen Civilprocessrechts in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. 1. Wien 1876, S. 399.
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lesen hatte, sondern auf Grundlage mündlich vorgetragener Referentenvoten, die man, sofern überhaupt verschriftlicht, gegenüber den Parteien unter Verschluss hielt. Diese Konstellation weist offenkundige Parallelen zu dem von Thomas Fischer beschriebenen Beschlussverfahren am Bundesgerichtshof auf, in dem eine mündliche Verhandlung ebenfalls nicht stattfindet und drei von fünf Richtern nicht über Aktenkenntnis verfügen.³¹⁴ Hinter diesen vermeintlichen Kontinuitäten verschwimmt die Brisanz, die mittelbare Schriftlichkeit in einer vormodernen Gesellschaft besitzen musste, die nicht zur Absorption von Unsicherheit durch Systemvertrauen in der Lage war, weil ihr die Praktiken des Rechtssystems hierfür keine hinreichenden Anhaltspunkte boten. Denn während modernes Systemvertrauen Distanz akzeptiert, zwang vormodernes Misstrauen zu physischer Präsenz an den informellen Grenzstellen von Rechtsorganisationen, deren Zumutungen der bessere Teil der Gesellschaft nur deshalb ertrug, weil er über Kontaktsysteme tagtäglich innerhalb eines zwar formalisierten, aber noch keineswegs autopoietischen Rechtssystems operierte. Diese Operationen führten auf epochenspezifische Weise zu losen Kopplungen zwischen Organisation, Interaktion und Gesellschaft und vollzogen sich als routineförmige Handlungen, ohne die das Gericht gar nicht existiert hätte, weil es sich als System in diesen Handlungen nicht weniger produzierte und reproduzierte als in seinen Akten und der kollegialen Beratung und Abstimmung. Man kann sich diese informellen Handlungsroutinen also nicht wegdenken, ohne sich zugleich das Gericht als funktionsfähige formale Organisation wegzudenken, denn die „Stabilität institutioneller Formen existiert nicht trotz oder außerhalb der Begegnungen des Alltagslebens, sondern sie ist gerade in diese Begegnungen einbegriffen“.³¹⁵ Bei alledem besteht die empirisch-analytische Herausforderung darin, dass jene Praktiken, mit denen die Umwelt im System operierte, dessen avancierter Selbstbeschreibung frontal zuwiderliefen, sodass sie in den Prozessakten beschwiegen werden mussten, obwohl sich die Akteure auch auf den informellen Hinterbühnen stets auf diese Akten zu beziehen hatten. In raumsoziologischer Hinsicht hat man diese ambigue Beziehung zwischen der Akte als materialem Artefakt des ordentlichen Verfahrens und der informellen Ebene von Prozessführung als sozialer Praxis sehr konkret aufzufassen. Denn die mit Abstand wichtigste informelle Grenzstelle der beiden Reichsgerichte bildeten ausgerechnet die Privatwohnungen der Referenten, in denen die Akten laufender Verfahren buchstäblich auf dem Tisch lagen. Während die Gerichtsordnungen diesen Raum mit Hilfe von Eine praxeologische Fundgrube bietet Thomas Fischer: Strafrechtsrevision Light: Zwei Augen plus X, in: Dirk Herrmann/Achim Krämer (Hrsg.), Festschrift für Christian Kirchberg zum 70. Geburtstag. Stuttgart 2017, S. 571–589. Giddens: Konstitution der Gesellschaft (wie Anm. 216), S. 121.
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Schriftlichkeitsmaxime und Referentengeheimnis als einen Arkanbereich imaginierten, kam es genau hier tagtäglich zu Vier-Augen-Gesprächen zwischen dem Referenten und den Parteien bzw. deren Agenten, Gesandten und Sollicitanten. Der zeitgenössischen Selbstbeschreibung des Rechtssystems waren diese Kontaktsysteme, deren Existenz viel zu offensichtlich war, um sie zu bestreiten, hochgradig peinlich. Um den Rationalitätsanspruch kollegialen Entscheidens dennoch zu wahren, etikettierte man die anstößigen Praktiken als Sollicitatur, die mit gerichtlicher Überlastung zu erklären sei. Die informelle Grenzstelle der Referentenwohnung wäre jedoch selbst dann nicht zu einem Arkanbereich geworden, wenn das Wunder geschehen und die Reichsgerichte alle Bestandsverfahren erledigt hätten. Denn in erster Linie klopften die Zeitgenossen an die Tür des dominus referens, weil sie das Wissen teilten, dass die juristische Referierkunst den Hiatus zwischen individueller und kollegialer Kognition mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu überbrücken vermochte, so dass der Anspruch auf rechtliches Gehör im schriftlichen Verfahren nach allgemeiner Auffassung im persönlichen Gespräch mit dem Referenten zur Geltung gebracht werden musste. Wirklich schriftlich war der gemeine Reichsprozess deshalb nur für jene, die sich informelle Mündlichkeit vor dem Berichterstatter nicht leisten konnten.³¹⁶ Wer Jahrhunderte später mit frühneuzeitlichen Relationen arbeitet, sollte also nicht übersehen, dass deren Text in einem praxeologischen Kontext informeller Mündlichkeit geschrieben wurde, die einen festen Bestandteil des Entscheidungsprozesses bildete. Diese Face-to-Face-Kommunikation ist umso genauer zu beschreiben, als sie sich hinsichtlich ihrer Funktion im Verfahren grundlegend von der heutigen mündlichen Verhandlung unterschied. Während letztere die gleichzeitige physische Anwesenheit aller Prozessbeteiligten garantieren soll,³¹⁷ kam vormoderner informeller Mündlichkeit, auf die es einen Rechtsanspruch nicht gab, die entgegengesetzte Funktion zu, weil sie die gleichzeitige Anwesenheit aller Beteiligten zwar nicht grundsätzlich verhinderte, aber völlig in das Belieben der Richtermacht stellte. Indem sich in der Referentenwohnung eine Grenzstelle der Rechtsorganisation ausbildete, konstituierte sich dort ein von extremen Machtasymmetrien geprägter
Wie Prozessführung aus der Perspektive jener aussah, die zum Berichterstatter aufgrund sozialer Hürden keinen Zugang fanden, lässt ein Augenzeugenbericht erahnen, den ein Praktikant am Reichskammergericht 1715 verfasste: ich sah also diese leute alle morgen sehr demütig und gebeugt mit einem zettelchen in der hand am eingange der cammer stehen und solche den hohen verwaltern der gerechtigkeit überreichen. Die wenigste von diesen herren würdigten diese arme sollicitanten einmal anzusehen, sondern rissen ihnen die zettel mehr mit ungedult aus den händen als sie ihnen solche abnahmen. Dieses erregte bei mir ein mitleiden und zugleich einen abscheu gegen eine wissenschaft, die so viele unglükselige machte. Zitiert nach Fuchs: Sollicitatur (wie Anm. 232), S. 65. Wieczorek/Schütze: Zivilprozeßordnung (wie Anm. 256), S. 6.
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sozialer Raum, der auf eine von außen völlig intransparente und in den Akten systematisch verschleierte Weise in das ordentliche Verfahren übergriff. Das Scharnier zwischen formaler und informeller Organisation bildete die Relation, über die informelle Absprachen in die „Verfahrensgeschichte“³¹⁸ eingeschrieben und somit formalisiert werden konnten. Bei alledem lagen jene Akten auf dem Tisch, auf die sich der Rationalitätsanspruch des Verfahrens im Allgemeinen und die juristische Expertise des Referenten im Besonderen stützte. In dessen Wohnung war all das Papier auch von jenen Prozessführern zu besichtigen, die durch die mikropolitischen Verflechtungen des Richters massiv diskriminiert wurden, und nichts zog den Rationalitätsanspruch des mittelbar schriftlichen Verfahrens mehr in Mitleidenschaft als jene Schattenökonomie, die weite Teile der Referierkunst finanziell trug. In praxeologischer Hinsicht führt nämlich kaum ein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass zahlreiche Reichshofräte und Reichskammergerichtsassessoren direkt an dem Schreibtisch, auf dem sie die Akten liegen hatten, mit den Parteien über den Preis des Rechts Verhandlungen führten. Kaum etwas steigerte dabei den Marktwert der Relation so sehr wie ein imposanter Aktenstapel. Reichshofrat Burkhardt von der Klee notierte 1740, es schienen einige seiner Kollegen gegenüber ihren Besuchern ein sonderliches Wohlgefallen zu setzen, wann sie mit einer wohlaußgefüllten Registratur von Judicial-Acten paradiren können, zu deren Elaboration auch das späteste Alter eines Menschen nicht zureichen dörffte. Mancher sollte dadurch auff die Gedancken verfallen, ein solcher Rath müsse sich nothwendig zu Todt arbeithen. Allein auß übermäßigen Fleiß seynd noch wenig gestorben. ³¹⁹ Stimmen wie diese verdeutlichen, dass es stets Beisitzer gegeben hat, die dem allgegenwärtigen Gabentausch den Kampf ansagten. Aus preußischer Feder ist mir kein Text bekannt, der von einem solchen Hass auf die am Reichshofrat herrschenden Zustände und Personen geprägt wäre, wie er in einem 1712 von Reichshofrat Nikolaus Christoph von Lyncker verfassten Gutachten zum Ausdruck kommt.³²⁰ Dessen Verachtung für seine Kollegen rührte allerdings aus der Erkenntnis, dass er mit seiner (nicht nur behaupteten, sondern offenbar den Tatsachen entsprechenden) Kompromisslosigkeit gegenüber Geldgeschenken und all seiner weithin bewunderten juristischen Expertise am Kaiserhof keinen Fuß auf den Boden bekam. Majestät hatten nämlich gar keine Verwendung für Hundertzehnprozentige, sondern zogen – wie einige Jahre nach Lyncker auch Burkhardt erfahren sollte – Reichshofräte vor, die die circumstantias temporum ³²¹ zu be-
Luhmann: Legitimation durch Verfahren (wie Anm. 102), S. 43–45. ÖStA HHStA, MEA, Reichshofrat, K. 10a, Nr. 1. Wie Anm. 180. ÖStA HHStA, MEA, Reichshofrat, K. 10a, Nr. 1.
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rücksichtigen und die Jurisprudenz mit der Politique zu combiniren wussten. Lyncker und Burkhardt setzten ihre Hoffnung auf den Kaiser, weil sie Luhmann nicht gelesen hatten: „Die Präsenz eines Dritten, der auf jeden Fall mächtiger ist als die streitenden Parteien, garantiert die Freiheit zu unabhängiger Entscheidung. Dadurch wird es möglich, die Entscheidung im Verfahren selbst zu finden, und zwar durch Orientierung an Normen (und nicht an Machtfragen und Konsensfragen)“.³²² Weil all das Geld dazu diente, reichsständische Macht- und Konsensforderungen in das Verfahren zu implementieren und dessen alleinige Orientierung an Normen zu verhindern, konnte die Hofburg der Spur des Geldes nicht folgen, denn diese Spur führte schließlich nicht nur zur Tür zahlreicher Reichshofräte, sondern von dort aus direkt weiter nach Berlin, Hannover, München, Dresden und in all die anderen Residenzstädte des Reiches. Die Vorstellung, man könne die Entscheidung tatsächlich im Verfahren selbst finden und nicht bloß so tun als ob, fand im Reich, das ein Staat war in Gedanken und kein Staat in der Wirklichkeit,³²³ je länger je weniger einen Nährboden.³²⁴ Stattdessen war es die preußische Militärmonarchie, in der um 1750 der Gedanke erstmals konkrete Gestalt annahm, der Fürst könne, ja müsse jenen Augiasstall, in dem Justitia gefangen schien, niederreißen und an dessen Stelle nach einem in der Vernunft gegründeten Generalplan³²⁵ ein auf Erledigungsstärke getrimmtes Maschinenhaus errichten. Dieses von Österreich schon bald kopierte Vorhaben zielte nicht zuletzt auf eine drastische Senkung der Transaktionskosten in der Justiz zugunsten des Militärs als des großen „Schwungrades an der Staatsmaschine“.³²⁶ Die 1748 einsetzende erste Phase der friderizianischen Justizreform unter Samuel von Cocceji war deshalb nicht zuletzt eine Ökonomisierung der Rechtsprechung, die sich modernster, vom Einzelfall abstrahierender statistischer Methoden bediente, innerhalb der Kollegien mit einer spektakulären Entlassungswelle begann und die Organisationskultur durch eine reformierte Besoldungsstruktur mit vielfältigen Sanktions- und Anreizmechanismen auf Mikroebene grundlegend und dauerhaft veränderte. Innerhalb der Kollegien führte das periodische Berichtswesen zu Konkurrenzen, die aufgrund ihrer Niklas Luhmann: Rechtssoziologie. 4. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 172. Hegel: Über die Reichsverfassung (wie Anm. 207). Gerade das 18. Jahrhundert war deshalb von einer verstärkten Informalisierung des Entscheidungsprozesses am Reichshofrat gekennzeichnet, da der kollegialen Deliberation geheim gehaltene Deputationen vorgeschaltet wurden, in denen handverlesene Räte wesentliche Kompetenzbereiche des Plenums an sich zogen. Hierzu Schenk: Isomorphie (wie Anm. 61). Studien zur Implementation des josephinischen Geschenkannahmeverbots stehen weiterhin aus. Wie Anm. 275. Otto Hintze: Staatsverfassung und Heeresverfassung, in: Gerd Oestreich (Hrsg.), Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur Allgemeinen Verfassungsgeschichte. Göttingen 1967, S. 52–83, hier 53.
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vergesellschaftenden Wirkung³²⁷ jener Professionalisierung und Verbürgerlichung der deutschen Justiz den Weg bereiteten, die in Preußen und nicht etwa auf Reichsebene einsetzte.³²⁸ Jetzt und erst jetzt griff Leviathan zu jenem Stock, unter dessen erbarmungslosen Schlägen eine juristische Funktionselite Gestalt anzunehmen und im Akkord zu arbeiten begann.³²⁹ Die coccejische Reform ist mit Blick auf die Entwicklung der juristischen Relationstechnik als einer sozialen Praxis aber nicht nur deshalb von großer Bedeutung, weil sie die Arbeit der Referenten erstmals einem systematischen und dauerhaften Erledigungsdruck aussetzte und dies darüber hinaus mit dem Laufbahnund Beförderungswesen verknüpfte. Sie markiert auch insofern etwas qualitativ Neues, weil sie mit forcierter Korruptionskritik an jenen Interaktionssystemen einherging, auf denen Rechtsprechung bislang allerorten beruht hatte.Wenn es nun aus Berlin hieß, mit dem allabendlichen Kartenspiel zwischen Räten und Prokuratoren habe ein- für allemal Schluss zu sein,³³⁰ so war dies eine Chiffre für die intendierte Zerschlagung mikropolitischer Verflechtungen. Das Reformvorhaben entfaltete weit über die Grenzen Preußens und des Alten Reiches hinaus große diskursive Wucht, weil sie Ökonomisierung mit naturrechtlichen Gleichheitspostulaten verknüpfte. Die Reichsgerichte konnte all dies nicht unberührt lassen, da das Vorhaben von Beginn an auch darauf angelegt war, mithilfe des neuartigen Zahlenwerks die Überlegenheit der preußischen Justiz gegenüber Reichskammergericht und Reichshofrat zu „beweisen“.³³¹ Die in Ermangelung vergleichbarer Machtmittel in Ansätzen steckengebliebene josephinische Reform von Reichskammergericht und Reichshofrat war auch ein Versuch, auf diese Herausforderung zu reagieren, zumal Joseph II. wie sein Vorbild
Zur vergesellschaftenden Wirkung von Konkurrenz klassisch Georg Simmel: Soziologie der Konkurrenz, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Frankfurt a. M. 1995, S. 221–246. Rolf Straubel: Adlige und bürgerliche Beamte in der friderizianischen Justiz- und Finanzverwaltung. Ausgewählte Aspekte eines sozialen Umschichtungsprozesses und seiner Hintergründe (1740–1806). Berlin 2010 (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Bd. 59). Zeitgenossen wie Friedrich Fischer, Dekan der Juristenfakultät zu Halle, haben diesen grundlegenden Wandel der Organisationskultur sehr genau registriert. Unter der Ägide Coccejis hätten Präsidenten und Räthe, Gerichtspersonen und Advokaten ganz unermüdet auf Hofnung großer Beförderungen, Versorgungen und Geldbelohnungen [zu arbeiten begonnen], die ihnen unter der Hand zugesichert waren. Siehe Friedrich Christoph Jonathan Fischer: Geschichte Friedrichs des Zweiten Königs von Preussen, Bd. 1. Halle 1787, S. 235. Vgl. Adolf Trendelenburg: Friederich der Große und sein Großkanzler Samuel von Cocceji. Beitrag zur Geschichte der ersten Justizreform und des Naturrechts, in: Philologische und historische Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahre 1863 (1864), S. 1–74, hier S. 22 f. Schenk: Ökonomisierung der Zeit (wie Anm. 279).
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Friedrich mit Korruptionsvorwürfen an die Adresse der eigenen Richterschaft keineswegs sparte.³³² Marie Theres Fögen hat in ihrer brillanten Analyse des Öffentlichkeitsgrundsatzes aufgezeigt, dass der rechtspolitische Diskurs des 19. Jahrhunderts über historische Wurzeln verfügte, die hinter das Jahr 1806 zurückreichten.³³³ Wer sich in die im ausgehenden 18. Jahrhundert im Windschatten der preußischen und österreichischen Justizreformen publizierten Schriften einliest, wird bald feststellen, dass auch der Rationalitätsanspruch von schriftlichem Verfahren und Referierkunst bereits angezählt war, als mit dem Code civil mündliches Prozessrecht in Teilen Deutschlands Einzug hielt. Während Josephiner wie der kaiserliche Rat Heinrich Gottfried von Bretschneider die Reichshofräte und -agenten als eine korrupte Beutegemeinschaft aufs Korn nahmen,³³⁴ forderte 1789 der bereits zitierte Wiener Anonymus, den Parteien Einsicht in die Relationen zu gewähren, da von diesen anderenfalls eine unabsehbare Gefahr für den Anspruch auf rechtliches Gehör ausgehe.³³⁵ Nur drei Jahre später sprach sich der den Illuminaten angehörende Reichskammergerichtsassessor Franz Dietrich von Ditfurth für eine Veröffentlichung der Votenprotokolle aus,³³⁶ und 1804 plädierte mit Johann Melchior Hoscher der Direktor der Reichskammergerichtskanzlei dafür, den Parteien Abschriften nicht nur des Protokolls, sondern auch der Relation mitzuteilen.³³⁷ Diese auf Transparenz kollegialen Entscheidens zielenden Initiativen verdeutlichen, dass sich die Expertise der Referenten 1806 bereits in einer Vertrauenskrise befand, die nicht bloß von außen an das Rechtssystem herangetragen, sondern von Teilen des Justizpersonals aufgenommen und verstärkt wurde. Der eigentlichen Tragweite dessen, was sich da anbahnte, wird man als Frühneuzeithistoriker allerdings nur gewahr, wenn man weiß, was nach dem großen Kladderadatsch kam: Nach 1815 war nämlich vielerorts davon die Rede, das Kollegi-
Vgl. Karl Otmar von Aretin: Reichshofrat und Reichskammergericht in den Reichsreformplänen Kaiser Josephs II., in: Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa. Bonn/Wetzlar 1997, S. 51–81. Marie Theres Fögen: Der Kampf um Gerichtsöffentlichkeit. Berlin 1974 (Schriften zum Prozessrecht, Bd. 33), S. 20 f. Heinrich Gottfried von Bretschneider: Georg Wallers Leben und Sitten, wahrhaft – oder doch wahrscheinlich – beschrieben von ihm selbst. Berlin 1793, S. 191–220. Philantrop: Gedanken (wie Anm. 116). Franz Dietrich von Ditfurth: Zwey Abstimmungen des Kayserlichen Kammergerichts Beysitzers Franz Dietrich von Ditfurth: deren Eine über die in verflossenem Jahre im Druck erschienene Vorträge an den vollen Rath des Kayserl. Herrn Kammergerichts-Assessoris Freyherrn von Riedesel zu Eisenbach, die Zweyte aber über einige wichtige Kammergerichtliche Einrichtungen, insbesondere die Referirart, abgegeben worden. Jena 1792, S. 23 f. Johann Melchior Hoscher: Ueber die Schädlichkeit der Gerichtsgeheimnisse. Augsburg 1804, S. IV.
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alprinzip bilde in seiner bestehenden Form nur einen Deckmantel für unverantwortliche monokratische Entscheidungen der Berichterstatter, und diese Diskursivierung legitimierte im Laufe des 19. Jahrhunderts wiederum weitreichende Eingriffe in die Formalstruktur (und damit in die Praxis) staatlicher Behörden.³³⁸ Während die diagnostizierte „Referentenwirtschaft“ in weiten Teilen der Verwaltung den Übergang vom kollegialen zum bürokratisch-monokratischen Prinzip begründete, forcierte sie im Bereich der Rechtsprechung den mit der Reichszivilprozessordnung von 1877 deutschlandweit abgeschlossenen Übergang vom schriftlichen zum mündlichen Verfahren. Das 19. Jahrhundert ertrug nämlich das Wahrheitsproblem mittelbarer Schriftlichkeit, in dessen Folge die Referentenwohnung zur wichtigsten Grenzstelle der Justizkollegien avanciert war, nicht länger und wollte es mitsamt der Referierkunst auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen. Tatsächlich ging man 1877 vielerorts davon aus, es würden die Gerichte fortan keine Berichterstatter mehr ernennen, da sich der Verfahrensstoff allen Mitgliedern des Spruchkörpers in mündlicher Verhandlung unmittelbar und unverfälscht mitteilen werde und Akten nicht mehr die Erkenntnisgrundlage bildeten, sondern die Verhandlung nur noch vorbereiteten. Nach dem Selbstverständnis vieler Reformer ging es darum, Ambiguitäten und Normenkonkurrenzen zu liquidieren, indem man eine informale, der Willkür einzelner Gerichtsmitglieder unterliegende Interaktion unter vier Augen durch formale Interaktion in Präsenz aller Beteiligten ersetzte und somit die tatsächliche Gewährung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Gerichtssaal auf eine Weise verkörperte, die jedermann sehen konnte. Heinrich von Kleist hatte diese Forderung schon zu Beginn des Jahrhunderts unmissverständlich formuliert: „Sprecht nicht mit den Parthei’n, Herr Richter Adam, vor der Session! […] Ich sagte deutlich euch, daß ihr nicht heimlich vor der Sitzung sollt mit den Parthein zweideut’ge Sprache führen. Hier ist der Platz, der eurem Amt gebührt, und öffentlich Verhör, was ich erwarte.“³³⁹ Während sich Justitia daran machte, die Referenten in die Wüste zu schicken, um eine der wichtigsten informellen Grenzstellen zu versiegeln, über die die Umwelt jahrhundertelang im Rechtssystem operiert hatte, näherte sie sich mit großen Schritten dem Zustand ihrer modernen Autopoiesis. Den Prozessrechtsreformen des 19. Jahrhunderts lag nämlich nicht etwa ein partizipatorischer Öffentlichkeitsbegriff, sondern der Wille zu operativer Schließung zu Grunde. An die mündliche Verhandlung schloss sich als Herzstück des Entscheidungsprozesses eine kollegiale Beratung und Abstimmung an, die vor den Augen und Ohren der Umwelt sorgsam abgeschirmt wurde. Hierzu transformierte man das frühneuzeitliche Amtsgeheimnis schrittweise
Hierzu und zum Folgenden ausführlich Schenk: Actum et judicium (wie Anm. 143), S. 40–49. Heinrich von Kleist: Der zerbrochene Krug. Studienausgabe. 3. Aufl., Stuttgart 2011, S. 30.
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in ein richterliches Beratungsgeheimnis und beerdigte damit auch jene Initiativen aus der Zeit um 1800, die auf eine Mitteilung von Beratungsprotokollen und Relationen an die Parteien gezielt hatten. An die Stelle einer transparenten Dokumentation der Entscheidungsherstellung trat mit der Urteilsbegründung eine wissenschaftlich zunehmend elaborierte Darstellung der Herstellung der Entscheidung.³⁴⁰ Der eigentliche Clou kommt aber erst noch: Jahrhundertelang hatte Justitia auf der Schaufassade behauptet, schriftlich zu verhandeln, obwohl an den Gerichtsorten jedermann die Karawanen sehen konnte, die tagtäglich bei den Referenten Halt machten. Nach 1877 saß Justitia hinter der Schaufassade der Mündlichkeitsmaxime – und versank im Aktenstudium. Die Druckerschwärze der Reichszivilprozessordnung war kaum getrocknet, als Juristen, die für den Mündlichkeitsgrundsatz gestritten hatten, weil das schriftliche Verfahren nicht „wirklich“ schriftlich gewesen war, registrierten, dass „bei manchen Gerichten eine mündliche Verhandlung in Wahrheit gar nicht stattfinde“.³⁴¹ Diese Bemerkung zielte auf eine Praxis, in der sich Anwälte in der mündlichen Verhandlung nur noch auf die eingereichten Schriftsätze bezogen, so dass diese die eigentliche Grundlage der richterlichen Entscheidung bildeten. Entgegen den Intentionen der Reformer gingen die meisten Gerichte auch schon bald nach 1877 wieder zur Ernennung von Berichterstattern über (sofern sie je darauf verzichtet hatten), denn der Aktenberg wurde von Jahr zu Jahr größer und konnte unmöglich von allen gelesen werden. Überblickt man die prozessrechtliche Entwicklung der vergangenen 150 Jahre, wird man sich der Erkenntnis kaum verschließen können, dass „das ursprüngliche Konzept der Mündlichkeit längst gescheitert […] und durch starke Elemente der Schriftlichkeit ersetzt worden“³⁴² ist. Justitia ist die Akten also ebenso wenig losgeworden wie den dominus referens, und wer die Publikationen Thomas Fischers zum strafrechtlichen Beschlussverfahren am Bundesgerichtshof liest, ahnt, dass sich auch das damit zusammenhängende Wahrheitsproblem bei der Sachverhaltskonstruktion ungeachtet aller Professionalisierung nicht in Luft aufgelöst hat. Denn wie all die Akten- und Richterkomplexe kognitiv „wirklich“ zusammenhängen, ist aus der Sicht der Umwelt heute kaum transparenter als vor 300 Jahren.³⁴³ Im Epochenvergleich verarbeitet
Hierzu zuletzt Clara Günzl: Eine andere Geschichte der Begründungspflicht. Sichtweisen des frühen 19. Jahrhunderts. Tübingen 2021 (Grundlagen der Rechtswissenschaft, Bd. 39). Otto Bähr: Der deutsche Civilproceß in praktischer Bethätigung. Jena 1885, S. 77 f. Reinhard Gaier: Strukturiertes Parteivorbringen im Zivilprozess, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2015, S. 101–105, hier S. 103. Vgl. hierzu lediglich Günther Schultz: Der aktenunkundige Zivilrichter, in: Monatsschrift für Deutsches Recht 37 (1983), S. 633–634, wo es ebd., 634 heißt, das Verfahrensrecht eröffne keinen Weg, „die Rüge des aktenunkundigen Richters erfolgreich anzubringen. In der Regel wird nicht objektiv feststehen, daß ein Richter die Akten nicht oder nicht vollständig gelesen hat. Der Beschwerdeführer
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die moderne Gesellschaft diese Unsicherheit allerdings nicht mehr vornehmlich mit Hilfe von Interaktion, sondern mit Systemvertrauen.
müßte dies also ‚aufs Blaue‘ behaupten. Selbst wenn das Gericht – im Revisions- oder Verfassungsbeschwerdeverfahren – dieser Behauptung nachgehen und sie nicht als ‚Ausforschung‘ ansehen wollte, müßte es eine dienstliche Äußerung des Richters einholen. Der Richter würde aber vermutlich unter Berufung auf seine Unabhängigkeit und das Beratungsgeheimnis ablehnen, sich über seine und des Kollegiums Arbeitsweise zu erklären. Stände jedoch selbst fest, daß der Richter die Akten nicht gelesen hat, so könnte die Rüge nur Erfolg haben, wenn […] das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt wäre. Sonst käme es darauf an, ob die Entscheidung auf der Aktenunkenntnis beruht, was auf den allein in Frage kommenden Angriffspunkt hinausliefe, daß das rechtliche Gehör nicht gewährt worden ist.“
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Juristen als Garanten gesellschaftlicher Ordnung. Zur Konsiliarpraxis der Tübinger Juristenfakultät im 17. Jahrhundert Im Prozess der frühmodernen Staatswerdung des 16. Jahrhunderts wurde immer offenkundiger, dass die Kompetenz studierter Juristen gefordert war.¹ Der Auf- und Ausbau frühmoderner Staatlichkeit einerseits, aber auch die zunehmende Komplexität der Rechtsentscheide andererseits machte dies unabdingbar. Ein wichtiger Impuls ging zudem vom 1495 eingerichteten Reichskammergericht aus. Die dortige Rezeption des römischen Rechts in Form des Ius Commune spielte eine entscheidende Rolle, sie hatte Vorbildcharakter.² Die Voraussetzung dafür, überhaupt auf gelehrte Juristen zurückgreifen zu können, war die zunehmende Zahl an Universitäten, die eine akademische Ausbildung in der Jurisprudenz überhaupt erst ermöglichten. Die 1477 in Tübingen gegründete Universität startete von Anfang an als sogenannte Volluniversität mit allen vier Fakultäten. Ihre Juraprofessoren waren von Beginn an auch gutachterlich tätig. Verfolgt man diese Konsiliartätigkeit, so zeigt sich eine rasch fortschreitende Indienstnahme juristischer Kompetenz. Wurden anfangs überwiegend Einzelgutachten³ erstellt, machte um die Mitte des 16. Jahrhunderts der Anteil der Fakultätsgutachten bereits ein Fünftel aller Gutachten aus.⁴ Die in Tübingen erstellten Konsilien hatten zu diesem Zeitpunkt allesamt nur einen konsultativen Charakter.⁵ Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Indienstnahme der juristischen Fakultät bildeten die 1601 erlassenen Nova Statuta Facultatis Iuridicae. In ihnen war zum ersten Mal die Gutachten- und Spruchtätigkeit der Juristenfakultät geregelt worden.⁶ Die Tübinger Juraprofessoren waren
Vgl. zum Folgenden Sabine Holtz: Bildung und Herrschaft. Zur Verwissenschaftlichung politischer Führungsschichten im 17. Jahrhundert. Leinfelden-Echterdingen 2002 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 32), S. 198–251 mit weiterführender Literatur. Wilhelm Ebel: Geschichte und Gesetzgebung in Deutschland. Göttingen 1958 (Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 24), S. 68. Martin Prenninger: Consiliorum sive responsorum […]. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1597. Für die Zeit von 1495 bis 1600 vgl. die Übersicht über die erstellten Konsilien bei Jochen Geipel: Die Konsiliarpraxis der Eberhard-Karls-Universität und die Behandlung der Ehrverletzung in den Tübinger Konsilien. Stuttgart 1965 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 4), S. 16. Vgl. zum folgenden Geipel: Die Konsiliarpraxis der Eberhard-Karls-Universität (wie Anm. 4), S. 26–31. Nova Statuta Facultatis Iuridicae (15.08.1601) = August Ludwig Reyscher (Hrsg.): Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 11,3. Tübingen 1853, S. 312 f., bes. die Ziffern 4 und 6. https://doi.org/10.1515/9783111070346-004
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nun qua Amts zur Anfertigung von Konsilien verpflichtet. In Tübingen waren Spruchkollegium und Lehrkörper (sechs ordentliche Professoren) der juristischen Fakultät personell identisch. Der jeweilige Dekan der juristischen Fakultät führte auch den Vorsitz im Spruchkollegium und nahm die Verteilung der Spruchakten auf die Referenten vor. Deren erarbeiteter Entwurf wurde dann im Plenum beraten sowie mögliche Korrekturen und Ergänzungen eingearbeitet. Ergänzt wurde diese Verpflichtung zur Konsiliarpraxis durch ein herzogliches Reskript vom 22. August 1663. Offensichtlich nahm in der landesherrlichen Wahrnehmung die Arbeitsbelastung durch die Anfertigung von Konsilien zu. Die Professoren wurden deshalb daran erinnert, angesichts der „mehr und mehr sich cumulirenden processe[n]“ ihren Teil dazu beizutragen, dass die Aktenflut zügig bewältigt werde könne.⁷ Die Konsiliartätigkeit galt als so wichtig, dass ihr unter den Dienstaufgaben höchste Priorität einzuräumen war, alle anderen Verpflichtungen hatten dahinter zurückzustehen. Diese Zunahme ist einerseits auf die hohe Expertise der Tübinger Juristen zurückzuführen, andererseits auf die fortschreitende Einbindung der Juristenfakultät in den gerichtlichen Instanzenzug des Herzogtums, der seinerseits auf der Professionalisierung des Rechtswesens und des Juristenstands beruhte. So sollte 1565 auf der Basis der unterschiedlichen Gewohnheitsrechte in den württembergischen Ämtern ein gemeinsames Landrecht des Herzogtums erarbeitet werden.⁸ Dazu wurde eine knappe Frist zur Aufzeichnung und Vorlage der lokal unterschiedlichen Gewohnheitsrechte gesetzt. Die eingereichten Rechtssammlungen machten rasch deutlich, dass sich auf diesem Fundament nur äußerst schwer und zeitintensiv ein gemeinsames Recht werde erarbeiten lassen. Was lag näher, als auf ein durchgeprägtes Recht, das römisch-kanonische Recht, zurückzugreifen, zumal das rund zwei Generationen zuvor auf Reichsebene eingerichtete Reichskammergericht ebenfalls auf das römische Recht zurückgriff. 1565 wurde mithin im Herzogtum Württemberg ein Landrecht eingeführt, dessen Basis das Ius Commune war. Es umfasste vier Teile: 1) Prozessrecht, 2) Vertragsrecht, 3) Pfandrecht und Sachenrecht sowie 4) Erbrecht (letztwillige Verfügungen, und Erbfolgeregelungen bei fehlendem Testament). Dies war ein wichtiger Schritt zur künftigen Nutzung juristischer
Universitätsarchiv Tübingen, künftig UAT, 78/2, Nr. 6. Vgl. Consuetudines variae ducatus Wurtembergiae. Württembergische Landesbibliothek Cod. Iur. 2° 24. Vgl. Württembergische ländliche Rechtsquellen, Bd. 2. Bearbeitet von Friedrich Wintterlin. Stuttgart 1922 (in Auszügen); vgl. Hans-Martin Maurer: Herzog Christoph, in: Robert Uhland (Hrsg.), 900 Jahre Haus Württemberg. Leben und Leistung für Land und Volk. Stuttgart 1984, S. 136–162.
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Kompetenz. Hinzu kam ein Zweites. Im Speyerer Reichsabschied von 1570⁹ war die reichsrechtliche Anerkennung des Instituts der Aktenversendung erfolgt.¹⁰ Der entsprechende Paragraph wurde annähernd wortgleich in die 1613 überarbeitete Reichskammergerichtsordnung übernommen: Es hieß dort „[…] Räthe auch Macht haben/ die beschlossene Sach und Acta mit Bewilligung beyder Partheyen/ auff ein unpartheyische Universität umb Verfassung des Urtheils zuschicken/ doch sollen sie das verfaßte Urtheil in ihrem selbst Nahmen eröffnen und außsprechen.“¹¹ Auf der Basis versandter Akten fertigte die juristische Fakultät in Tübingen Konsilien an. Ab den 1570er Jahren lässt sich beobachten, dass die Juristen ihren Urteilsvorschlag in deutscher Sprache formulierten, wohl um die Gerichtspraxis in den anfragenden Stadtgerichten zu erleichtern. Ab den 1580er Jahren gingen die Juristen dann dazu über, die Urteilsgründe, unterteilt nach Rationes decidendi und Rationes dubitandi, aufzulisten und abschließend eine Urteilsformel zu formulieren. Zwar liefen die von den Stadtgerichten angefragten Konsilien formal über den württembergischen Oberrat bzw. den Landesherrn selbst¹², der jederzeit ein Urteil abändern konnte, aber zum rechtsgültigen Urteil wurde die Urteilsformel erst, wenn sie vor Ort verlesen worden war. Hier bewährte sich das in deutscher Sprache formulierte Urteil. War die Einholung eines Gutachtens an der Juristenfakultät zunächst nur fakultativ, wurde die Fakultät 1601 verpflichtend in den Instanzenzug des Herzogtums integriert. An dieser Einbindung der Tübinger Juristenfakultät als Spruchkollegium zeigt sich die Indienstnahme der juristischen Fakultät für territorialstaatliche Zwecke.¹³ Die Fakultät war künftig in die Rechtsfindung im württembergischen Herzogtum fest eingebunden. In allen schweren Kriminalfällen musste nun ein Rechtsgutachten der Juristenfakultät eingeholt werden. Für zivilrechtliche Fälle blieb die Einholung eines Konsiliums fakultativ. Zuvor war den Stadtgerichten in zwei Landtagsabschieden (1554 und 1565) nahegelegt worden, in komplizierten
Reichsabschied von Speyer 1570, § 85, in: Aller deß Heiligen Römischen Reichs gehaltene Reichstäge, Abschiede vnd Satzunge (!), sambt andern Kayserlichen vnd Königlichen Constitutionen, […]. Mainz 1660, S. 770. Vgl. zum folgenden Geipel: Die Konsiliarpraxis der Eberhard-Karls-Universität (wie Anm. 4), S. 26–31. Vgl. Concept dern auß Befelch der Kayserlichen Mayestät durch Cammer-Richter, Praesidenten und Beysitzere des Kayserlichen Cammergerichts anno 1613 ernewerten und verbesserten Cammergerichts Ordnung. Speyer 1663, Teil II, Tit. 4 § 15. Vgl. Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg. Köln/ Weimar/Wien 1997 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 16), S. 59. Nova Statuta Facultatis Iuridicae (15.08.1601) = Reyscher (Hrsg.), Württembergische Gesetze, Bd. 11,3 (wie Anm. 6), S. 312–314.
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Fällen die Tübinger Universität zu Rate zu ziehen.¹⁴ Die Empfehlung 1567 an die Stadtgerichte,¹⁵ sich in schwierigen Rechtshändeln an die zuständigen Obergerichte in Stuttgart und Tübingen bzw. an das in Tübingen tagende Hofgericht zu wenden, wurde in der dritten Fassung des Landrechts von 1610 aufgehoben. Damit reagierte man auf die Möglichkeit, dass die Obergerichte als Appellationsinstanzen in das Verfahren involviert wurden.¹⁶ Dies schloss seit dem Landrecht von 1610 eine Aktenversendung an die beiden Obergerichte sowie das Hofgericht aus. Was blieb, war die Möglichkeit der Aktenversendung an gelehrte Juristen. Als 1629 in einem herzoglichen Generalreskript bei einer Aktenversendung an Privatpersonen mindestens zwei Gutachten Pflicht wurden, die zusammengenommen kostspieliger waren als ein Fakultätskonsilium, wurde de facto die Konsiliartätigkeit auf die nun explizit genannte Tübinger Juristenfakultät konzentriert.¹⁷ Die von den Tübinger Juristen angefertigten Konsilien werden heute im Tübinger Universitätsarchiv verwahrt. Sie umfassen einen Zeitraum vom Mai 1602 bis zum Oktober 1879 und füllen 269 Bände.¹⁸ Näherhin wurden in diesem Zeitraum rund zwanzig Tausend Fakultätskonsilien erstellt, die in einer Abschrift des jeweiligen Universitätsnotars¹⁹ vorliegen. Die Anforderungen für dieses Amt waren hoch. Für die Wahrnehmung dieses Amts musste der Notar seit der Universitätsordination²⁰ von 1601 nicht nur selbst ein Jurastudium absolviert haben, sondern er musste darüber hinaus Erfahrungen im Notariatsdienst sowie eine zeitweilige
Landtagsabschied vom 08.01.1554 = August Ludwig Reyscher (Hrsg.): Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 2, Stuttgart/Tübingen 1829, S. 112–121, hier S. 118 f. (speziell zum Kriminalrecht) und Landtagsabschied vom 19.06.1565 = Reyscher (Hrsg.): Württembergische Gesetze, Bd. 2 (wie Anm. 14), S. 121–136, hier S. 129 f. (speziell zum Erbrecht im württembergischen Landrecht). Zweites Landrecht (01.07.1567) = August Ludwig Reyscher (Hrsg.): Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 4, Stuttgart/Tübingen 1831, S. 171–420, hier S. 253. Drittes Württembergisches Landrecht vom 01.06.1610 = August Ludwig Reyscher (Hrsg.): Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 5, Stuttgart/Tübingen 1832, S. 128. Generalreskript, das Verfahren in Strafsachen betreffend (23.11.1629) = Reyscher (Hrsg.): Württembergische Gesetze, Bd. 5 (wie Anm. 16), S. 404–408, hier 407. Vgl. UAT 84/1–269. – Zur Verteilung der Konsilien in dem genannten Zeitraum von 277 Jahren vgl. die Graphik bei Geipel: Die Konsiliarpraxis der Eberhard-Karls-Universität (wie Anm. 4), S. 64. Vgl. die Aufgaben des Universitätsnotars in den Statuta Universitatis Scholasticae Studij Tubingensis, renovata Anno MDCI. Tübingen: Cellius, 1602, Nova Statuta Facultatis Juridicae Tubingensis, Caput XII: De Universitatis Notario, III: De officio Notarij. Herzog Friedrichs Ordination der Universität (18.02.1601) = Reyscher (Hrsg.): Württembergische Gesetze. Bd. 11,3 (wie Anm. 6), S. 216–271, hier S. 239.
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Immatrikulation am Reichskammergericht nachweisen.²¹ Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse beruhen auf der Auswertung von knapp 5 000 Konsilien der Jahre 1602 bis 1699. Die, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, zu fast drei Vierteln aus Württemberg stammten. Strafrechtliche und zivilrechtliche Konsilien unterlagen verschiedenen Bedingungen.Wie dargelegt, war es kraft württembergischer Gerichtsverfassung bei allen schweren Kriminalfällen obligatorisch, bei der Tübinger Juristenfakultät ein Konsilium einzuholen. Fakultativ dagegen war das Einholen bei zivilrechtlichen Streitigkeiten. Dies erklärt die Dominanz der Strafrechtsfälle in der folgenden Übersicht. Bemerkenswert ist, dass die Zivilrechtsfälle dennoch mindestens ein Drittel aller Konsilien ausmachten. Die Untersuchung der Konsiliarpraxis der Tübinger Juristenfakultät gibt Aufschluss darüber, mit welchen Problemen das Tübinger Spruchkollegium konfrontiert wurde. Die Tabelle im Folgenden gibt zunächst einen Überblick über jene Rechtsmaterien, bei denen die Tübinger Juraprofessoren gutachterlich tätig wurden. Es folgen zwei Übersichten zu den daraus abgeleiteten zivilrechtlichen und strafrechtlichen Ordnungsproblemen, mit denen sich die frühmodernen staatlichen Gemeinwesen konfrontiert sahen.
Vgl. Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 203.
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Tab. 1: Anteil der einzelnen Rechtsmaterien²² in den Tübinger Konsilien des 17. Jahrhunderts im Überblick²³ Phase (–)
Phase (–)
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Zivilrecht Öffentliches Recht Jurisdiktion Prozessrecht Strafrecht Feudalrecht Grundherrschaft Kirchenrecht
Tab. 2: Ordnungsprobleme des frühmodernen Staates und der Bereich des Zivilrechts nach den Tübinger Konsilien des 17. Jahrhunderts
ZIVILRECHT Gesamtanteil Anteil in % Allgemein Person Familie Erbrecht Sachenrecht Obligationenrecht Handel
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Aus: Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 239.
Zur Indizierung vgl. Juristische Dissertationen deutscher Universitäten. 17.–18. Jahrhundert. Dokumentation zusammengestellt von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung von Filippo Ranieri. Bd. 1,1, Frankfurt a.M. 1986 (Ius Commune, Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 27), S. 63–91. Für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde der Zeitraum 1602–1648 gewählt, da der Dreißigjährige Krieg spätestens seit der Schlacht bei Nördlingen 1634 das Spruchkollegium lähmte. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts wurde in zwei Zeitabschnitte zu je 25 Jahren unterteilt. Rein Quantitativ betrachtet liegt aus der ersten (2 460) und der zweiten Hälfte (2 413) des 17. Jahrhundert fast exakt die gleiche Anzahl an angefertigten Konsilien vor. Eine detaillierte Zusammenstellung der einzelnen Rechtsmaterien findet sich bei Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 429–435; nähere Informationen zur chronologischen Verteilung der Konsilien finden sich a.a.O., S. 237, Fußnote 357.
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Tab. 3: Ordnungsprobleme des frühmodernen Staates und der Bereich des Strafrechts nach den Tübinger Konsilien des 17. Jahrhunderts
STRAFRECHT, Gesamtanteil Anteil in % Sonstiges Majestätsverbrechen Tötung Sittlichkeit Vermögen Öffentliche Ordnung Landfriedensbruch²⁴ Religion Hexerei Zauberei Amtsvergehen Bruch der Urfehde Rückkehr trotz Verbannung Wilderei
Phase (–)
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Aus: Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 241.
Überblickt man das gesamte 17. Jahrhundert werden sowohl jene Rechtsbereiche sichtbar, die unterschiedlichen Schwankungen unterworfen waren als auch jene, die sich durch starke Gleichförmigkeit ausgezeichneten. Machten noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Zivilrechtsfälle fast 46 % aus, fielen sie in der zweiten Jahrhunderthälfte auf rund ein Drittel und blieben auf diesem Niveau. Beim Strafrecht erfolgte nach der Jahrhundertmitte ein deutlicher Anstieg, der auf ziemlich gleichbleibend hohem Level blieb. Erwähnenswert sind die Konsilien, die aus dem Bereich des Prozessrechts erstellt werden mussten. Sie lagen im ersten Zeitraum bei etwas über 13 % und pendelten sich dann um die 10,5 % ein. Konsilien zu den Materien des Öffentlichen Rechts verdoppelten sich, verglichen mit der ersten Jahrhunderthälfte gegen Jahrhundertende. Sie zählten aber, wie auch feudalrechtliche, grundherrschaftliche und kirchenrechtliche Probleme nicht zu den beherrschenden Themenfeldern. Blickt man nun noch etwas genauer auf die am stärksten nachgefragten strafrechtlichen Konfliktfelder, ergibt sich folgendes Bild: Vorsätzliche oder fahr-
Die Zuordnung von Landfriedensbruch unter die Materien des Strafrechts ist im Landrecht nicht eindeutig geregelt; beim Reichskammergericht fiel diese Rechtsmaterie unter das Zivilrecht.
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lässige Tötungsdelikte einschließlich Abtreibung machten im gesamten 17. Jahrhundert den Großteil der Strafrechtsfälle aus. Bewegten sie sich in der ersten Hälfte des 17. Jahr bei knapp einem Drittel, stiegen sie in der zweiten Jahrhunderthälfte auf rund die Hälfte aller Strafrechtsfälle. Genauer betrachtet gingen die allgemeinen Tötungsdelikte von 63,3 % auf 43,8 % spürbar zurück, erreichten aber gegen Ende des Jahrhunderts bereits wieder 46,4 %. Näherhin ist eine deutliche Zunahme im Bereich des Kindsmords festzustellen.²⁵ Im Gesamtüberblick über den Untersuchungszeitraum verdreifachte sich die Rate der Konsilien zum Kindsmord bei den Tötungsdelikten auf fast 36 %. Weitere 2 % der Klagen bezogen sich auf die Aussetzung von Kindern. Direkt nach dem Dreißigjährigen Krieg stiegen Sittlichkeitsvergehen von knapp 20 % auf über 30 % an, fielen dann aber wieder ungefähr auf das Ausgangsniveau. Stetig gestiegen sind die Delikte des Ehebruchs und des Inzests. Ehebruchsvergehen haben sich im Gesamtzeitraum mehr als verdoppelt. Ihr Anteil an den Sittlichkeitsvergehen lag im letzten Zeitabschnitt fast bei 40 %. Die Fälle von Inzest haben sich im Gesamtzeitraum mehr als vervierfacht. Bei den Sittlichkeitsvergehen stiegen Verstöße gegen das Verbot von Doppelehen nach dem Dreißigjährigen Krieg auf 16,7 % an, fielen dann allerdings leicht auf rund 14 %. Vergleicht man die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts mit dem späten 17. Jahrhundert fällt die deutliche Zunahme der Vermögensdelikte auf, der Anteil verdoppelte sich fast. Bemerkenswert ist der Rückgang bei Hexerei-Delikten im gleichen Zeitraum von immerhin 5,4 % auf 1,4 %. Bei den Vermögensdelikten resultiert der Gesamtanteil vornehmlich aus Diebstahls- und Raubdelikten. Beim Raub stieg der Anteil von einem Viertel aller Vermögensdelikte auf rund 30 % an. Beim Diebstahl lag der Anteil in der ersten und zweiten Phase knapp um 60 %, fiel dann aber im letzten Untersuchungsabschnitt auf 46,5 %. Rechnet man allerdings das erstmals in dieser Phase gesondert ausgewiesene Delikt des Viehdiebstahls hinzu, lag der Anteil gleichbleibend bei fast 60 %. Weitere Themen der Konsilien, wenn auch mit zum Teil deutlich unter 2,5 % der Fälle, waren Vergehen gegen die öffentliche Ordnung, Religionsvergehen, Amtsvergehen, der Bruch der Urfehde, die Rückkehr trotz Verbannung sowie die Wilderei. Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg betrachtet, bewegten sich mithin Tötungs- und Vermögensdelikte auf einem hohen Niveau. Bei den Sittlichkeitsvergehen dagegen verkehrte sich der Anstieg nach der zweiten Phase in sein Gegenteil. Relativ deutlich sind auch die Rückgänge beim Hexereidelikt, die sich allerdings bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts abzeichnen. Alle übrigen Vergehen fallen kaum ins Gewicht.
Die detaillierte Zusammenstellung findet sich Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 438 f.
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Um die Ergebnisse grob in die Gesamtentwicklung der Frühen Neuzeit einordnen zu können, bietet sich aufgrund der forschungstechnisch gegebenen Möglichkeiten lediglich ein etwas hinkender Vergleich an, der überdies nur für die Strafrechtsfälle anzuführen ist. Helga Schnabel-Schüle hat die in den Jahren 1532 bis 1800 am württembergischen Oberrat anhängigen Kriminalverfahren erfasst.²⁶ In ihrem Untersuchungszeitraum waren das rund 4 000 Kriminalprozesse. Für den kurzen Vergleich wurden die bei Schnabel-Schüle erhobenen Daten in das bei Filippo Ranieri²⁷ entlehnte und auch für die Kategorisierung der Tübinger Konsilien genutzte Schema übertragen. Diesen 4 000 württembergischen Kriminalfällen werden 1350²⁸ im 17. Jahrhundert in Tübingen erstellte Konsilien gegenübergestellt. Tab. 4: Württembergische Kriminalprozesse²⁹ (1532–1800) und Tübinger strafrechtliche Konsilien³⁰ (1602–1699) im Vergleich Kriminalprozesse –
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Sonstiges Majestätsverbrechen Tötung Sittlichkeit Vermögen Öffentliche Ordnung Religion Hexerei Zauberei Amtsvergehen Bruch der Urfehde Wilderei Injurien Aus: Holtz: Bildung und Herrschaft, S. 244.
Vgl. Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat (wie Anm. 12), S. 223–227. Vgl. Juristische Dissertationen deutscher Universitäten, Bd. 1,1 (wie Anm. 22), S. 63–91. Für den Vergleich wurden die 193 Injurienfälle, die in der vorliegenden Studie unter den zivilrechtlichen Delikttatbeständen rubriziert wurden, mit einbezogen. Die Basis bilden so 1 870 Strafrechtsdelikte. Bereinigt man 1 870 Konsilien rein statistisch um die nicht von Württemberg (württembergischer Anteil: 72,2 %) beauftragten Konsilien ergibt sich ein Durchschnittswert von 1 350 strafrechtlichen Fällen. Die vollständige Übersicht findet sich Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 440 f. Vgl. zu den Werten im einzelnen Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 429–435.
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Im Überblick über die Jahrhunderte fällt das 17. Jahrhundert nicht sonderlich aus dem Rahmen: Lediglich zwei Punkte sind besonders auffällig. Die große Zahl der Vermögensdelikte im Durchschnitt des Untersuchungsraums von 1532–1800 und die offensichtlich besonders im 17. Jahrhundert hohe Zahl an Injuriendelikten. Bei den Vermögensdelikten zeichnete sich im 17. Jahrhundert zwar eine Steigerung (von 13,2 % über 14,5 % auf 25,6 %)³¹ ab, die aber schwerlich mit dem hohen Durchschnittswert in Relation gesetzt werden kann. Der hohe Durchschnittswert auf diesem Sektor ist erst auf das enorme Anwachsen bei Raub- und Diebstahlsdelikten im späten 18. Jahrhundert zurückzuführen ist. Den Angaben bei Schnabel-Schüle zufolge stammen 75,5 % aller Raub- und Diebstahlsdelikte aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts.³² Die Tötungsdelikte lagen im 17. Jahrhundert 5,5 %, die Sittlichkeitsdelikte mit fast 4 % über dem langjährigen Durchschnitt. Die übrigen Delikte, die kleinere Schwankungen aufweisen, bewegen sich aber innerhalb eines knapp umrissenen Rahmens. Nimmt man die Zivilrechtsfälle näher in den Blick, fällt auf, dass sich die Konsilien zum Obligationenrecht, die den größten Anteil stellten, auf gleichbleibend hohem Niveau bewegten.³³ Hier ging es vorherrschend um Darlehens- und Pfandfragen sowie um Konflikte um Kauf, Miete, Pacht und sonstige Vertragsabschlüsse. Injurienklagen beschäftigten die Juristen fast gleichbleibend. Ein deutlicher Rückgang ließ sich im großen Bereich des Erbrechts beobachten. Sein Anteil halbierte sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts fast. Steigend hingegen war der Anteil sachenrechtlicher und familienrechtlicher Themen. Eigentumsfragen, aber auch Fragen zur Eheschließung und zu Verwandtschaftsfragen waren auffällig häufig nach der Mitte des 17. Jahrhunderts strittig. Bei allen diesen Rechtsmaterien lässt sich ein Bezug zu den Kriegswirren nicht von der Hand weisen. Die zentralen Ordnungsprobleme im frühneuzeitlichen Staat fielen in den Bereichen des Zivilrechts und des Strafrechts an. Im Bereich des Zivilrechts übte das Ius commune seinen intensivsten Einfluss aus, die Strafgerichtspraxis dagegen beruhte hauptsächlich auf der Constitutio Criminalis Carolina³⁴ bzw. auf den darauf aufruhenden territorialen Strafgesetzen.³⁵ Für das konkrete Strafmaß konnten die
Die Steigerung beruht ebenfalls vor allem auf einer Zunahme von Diebstahlsdelikten sowie von Raub und Straßenraub-Delikten. Diese machten zusammen im 17. Jahrhundert innerhalb der Vermögensdelikte einen Anteil von 82,4 % aus. Vgl. Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat (wie Anm. 12), S. 225. Die detaillierte Zusammenstellung findet sich Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 436 f. Vgl. die Vorrede zur Carolina, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina). 6. Aufl., Stuttgart 1996. Vgl. Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat (wie Anm. 12), S. 27–41.
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allgemein akzeptierten Reichspoliceyordnungen, aber auch die Policeyordnungen der Territorien und der Städte ergänzend hinzugezogen werden.³⁶ Großen Einfluss übten auch in den südwestdeutschen Territorien die kursächsischen Konstitutionen von 1572 aus, deren vierter Teil dem Strafrecht gewidmet war. Hier war die Rezeption zudem durch die gleichzeitige intensive Heranziehung des strafrechtlichen Werks von Benedikt Carpzov in den Tübinger Konsilien besonders nachhaltig.³⁷ Ein anderes Bild ergibt sich im Bereich des Zivilrechts. Hier wiederum galt das württembergische Landrecht von 1552 als beispielgebend und vorbildlich. Es enthielt allerdings keine strafrechtlichen Bestimmungen. Die materiellen Strafrechtsbestimmungen wurden 1567 in der Landesordnung erlassen und in der folgenden Landesordnung von 1621 fast unverändert wiederholt. In dieser wie auch in den verschiedenen Kanzleiordnungen finden sich Bestimmungen und Ausführungen zum Zivilprozess. Wie groß der geographische Wirkungskreis der Tübinger Konsilien war, lässt sich anhand einer Zusammenstellung der anfragenden Gerichte beurteilen. Insgesamt konnten für 4 250 Konsilien die um ein Konsilium in Tübingen anfragenden Herrschaften eindeutig ermittelt werden. Dass fast drei Viertel aller Konsilien für württembergische Städte erstellt wurden, überrascht angesichts der Einbindung der Juristenfakultät in den Strafrechtszug des Herzogtums wenig. Dass überdies für eine hohe Zahl zivilrechtlicher Fälle um die Anfertigung eines Konsiliums gebeten wurde, schon eher. Dies dürfte aber dem offensichtlich guten Ruf der Tübinger Juristenfakultät geschuldet sein. Die übrigen etwas über 25 % der Konsilien stammten aus Reichsstädten, reichsritterschaftlichen Territorien und aus den Territorien verschiedener Fürsten, Grafen und Herren. 35 Reichsstädte wandten sich an Tübingen, besonders häufig kamen dabei Anfragen aus Augsburg (19), Esslingen (44), Frankfurt (25), Heilbronn (39), Memmingen (20), Reutlingen (26) und Ulm (29). Zu dieser Spitzengruppe kam aus dem Norden die Hansestadt Hamburg (20) hinzu. Personelle Verflechtungen mit der Hansestadt bestanden an der Juristenfakultät nicht, vermutlich spielte die Konfession für die Entscheidung, sich in an Tübingen zu wenden, eine entscheidende Rolle. Die Frage, warum sich die Ratsuchenden nicht an die ebenfalls protestantischen und räumlich näher gelegenen sächsischen Schöppenstühle gewandt haben, muss offenbleiben. Die überwiegende Anzahl aller Anfragen stammte aus protestantisch beziehungsweise paritätisch verfassten Reichsstädten.Von den Herren, Rittern und Freiherren gehörten die meisten den verschiedenen Kantonen der schwäbischen und der fränkischen
Vgl. Karl Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert, in: Ius Commune 20 (1993), S. 61–141. Holtz: Bildung und Herrschaft (wie Anm. 1), S. 212, S. 220 und S. 227–235.
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Ritterschaft an, vereinzelt finden sich Anfragen aus dem Kanton Unterelsass. Anders sah es bei den Fürsten und Grafen aus. Hier war die geographische Streuung breit, dennoch kamen die meisten Anfragen auch hier aus dem südwestdeutschen Raum, u. a. aus der Markgrafschaft Baden-Durlach, den Schenken von Limpurg, den Hohenlohe, daneben aber auch aus Sachsen, Brandenburg sowie aus Mecklenburg. Die Kurpfalz richtete lediglich zwei Anfragen an das Tübinger Spruchkollegium. Ein äußerst geringer Anteil aller Konsilien wurde für geistliche Fürstentümer (1,6 %) sowie für habsburgische Territorien (0,9 %) angefertigt. Die Zusammenstellung der anfragenden Fürstenhäuser zeigt ein starkes konfessionelles Übergewicht auf Seiten der Protestanten. Dieser Eindruck wird durch die übrigen Anfragen gestärkt. Vielleicht ging es bei der Entscheidung, sich an Tübingen zu wenden, weniger um die Qualität der juristischen Gutachten als vielmehr die Bekanntheit der Universität, deren theologische Fakultät zumindest für den süddeutschen Raum eine wichtige Funktion bei der Ausbildung evangelischer Geistlichen hatte. Abschließend lässt sich, sieht man aus naheliegenden Gründen einmal von den weltlichen Fürstentümern ab, ein starkes territoriales Übergewicht im deutschen Südwesten konstatieren. Als Multiplikator der Tübinger Konsilien diente auch die gedruckte Konsilienliteratur, wie der von Heinrich Gehrke zusammengestellte Überblick zeigt: In der Frühen Neuzeit nehmen die Tübinger Juristen mit vierzehn Druckwerken einen Spitzenplatz ein,³⁸ eng gefolgt von den sächsischen Konsiliensammlungen aus Jena (13), Halle (12), Leipzig (11) und Wittenberg (10). Nimmt man weitere Sammlungen hinzu, bestätigt sich der territoriale Schwerpunkt in Sachsen, eine Beobachtung, die im Übrigen auch auf die gerichtliche Entscheidungsliteratur zutrifft.³⁹ Die Urteilsvorschläge bzw. -formeln, die die Tübinger Experten in ihren Konsilien erarbeiteten, nahmen Einfluss auf die Rechtsprechung und damit auf die gesellschaftliche Ordnung in protestantischen Territorien, vornehmlich des deutschen Südwestens. Für das Herzogtum Württemberg hatten sie durch die Einbindung in den Strafrechtszug normierende Wirkung. Dies kann für Württemberg gleichfalls, wenn auch nicht de iure, so doch de facto, für zivilrechtliche Entscheidungen Gültigkeit beanspruchen.
Heinrich Gehrke: Deutsches Reich, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 2,2: Neuere Zeit (1500–1800). Das Zeitalter des gemeinen Rechts, Gesetzgebung und Rechtsprechung. München 1976, S. 1343–1398 (hier S. 1375 und S. 1346). Weitere Konsiliensammlungen stammen aus Altdorf (9), Ingolstadt (8), Frankfurt a. d. Oder und Göttingen (je 7), Marburg (6), Helmstedt und Rostock (je 4) sowie aus Kiel, Freiburg i.Br., Straßburg und Greifswald (je 3). Vgl. Gehrke: Deutsches Reich (wie Anm. 38), S. 1375 und S. 1346.
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Formal blieb der Fakultätsspruch freilich ein Konsilium, es hatte keine rechtsverbindliche Wirkung. Die Professoren waren als weisungsgebundene Gutachter tätig. Die Funktion des entscheidenden Gerichts stand bei schweren Kriminalfällen dem Oberrat respektive dem Landesherrn zu. Das Institut der Aktenversendung förderte somit die Zentralisierung und Monopolisierung jener jurisdiktionellen Kompetenz, die in den Händen des frühmodernen Staates lag, denn auch die Juraprofessoren waren Fürstendiener, die durch fürstliche Konfirmation des universitären Berufungsvorschlags in ihr Amt gelangten. Das Urteil selbst erhielt erst durch den Akt der öffentlichen Verkündigung des vorformulierten Textes durch das Stadtgericht letztendlich seine formelle Bedeutung. Dies aber war letztendlich nicht mehr als symbolisches Rechtshandeln. Die Einbeziehung der Juristenfakultäten (und Schöffenstühle) war ein für die Zeit moderner Zug der Rechtsprechung. Die Verschriftlichung des Prozesses im Rahmen des Instituts der Aktenversendung brachte zeitliche, räumliche und persönliche Distanz in das in den Stadtgerichten möglicherweise gegebene Nahverhältnis von Richter und Angeklagtem. Dies nahm mögliche Befangenheit und Emotionalität aus dem Verfahren und professionalisierte den Prozess durch die Einbeziehung studierter Juristen. Faktisch wurden die Tübinger Juristen so zu Garanten der gesellschaftlichen Ordnung im Herzogtum Württemberg. Darüber hinaus wirkten mit ihren Entscheidungen auch auf andere, überwiegend protestantische Territorien vor allem des deutschen Südwestens.
Alain Wijffels
Die juristische Konsilienpraxis in den burgundisch-habsburgischen Niederlanden: Herbst der Rechtswissenschaft als Kunst des guten Regiments? Die Ausdrücke ‚gelehrtes Recht‘, ‚gemeines Recht‘, ‚geschriebenes Recht‘ u.s.w. entsprechen in wesentlichen Zügen der römischrechtlichen und kirchenrechtlichen juristischen Tradition und Kultur im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Trotzdem muss aber betont werden, dass die wichtigste Rolle des römisch-kanonischen Fachstudiums zu dieser Zeit als eine Wissenschaft des guten Regiments bezeichnet werden muss.¹ Dieses Studium war auch der Grund, warum an den Universitäten ausgebildete Juristen kurz nach der Gründung von Universitäten und juristischen Fakultäten, als kanonisch-rechtlich geschulte „Manager“ und Führungskräfte im multi-nationalen Konzern der Lateinischen Kirche Karriere machten oder als Kenner des „zivilen Rechts“ in den Räten der Städte oder weltlichen und geistlichen Territorialfürsten, aufgenommen und eingesetzt wurden. Die Kunst des guten Regiments kann als eine Fähigkeit definiert werden, eine zugleich wirksame und gerechte Politik zu konzipieren und herauszuarbeiten. Das gute Regiment war das Ideal des untrennbaren Doppelbegriffs ‚Polizey und Justiz‘, wobei Justiz sowohl auf die Gerechtigkeit der politischen Entscheidungen als auf die Rechtsprechung hinwies. In beiden Bereichen wurde den Universitätsjuristen eine besondere Expertise zugeschrieben, obwohl sie von Seiten der Theologen und in gewisser Weise auch von den Kollegen aus der Artes-Fakultät Konkurrenz erfuhren. Denn das JuraStudium war eine durch die Einübung von Denkmustern und Denkmethoden, die aufgrund einer kritischen Leseart der Texte der corpora iuris erworben wurden, eine gute Vorbereitung, die es ermöglichte, bereits bei der Konzipierung und bei der ersten Ausgestaltung von normativen Rechtstexten, einen legitimen politischen Entscheidungsprozess zu kanalisieren und zu sichern. Die Expertise der Juristen im Bereich der public governance ist nicht nur durch ihre Anwesenheit in zahlreichen politischen Gremien der weltlichen und kirchlichen Regierungs-und Verwaltungsinstitutionen bezeugt. Darüber hinaus war ihre sogenannte Konsilienpraxis regelmäßig im Rahmen der Regierungspraxis eine Beratungstechnik, die sowohl bei gerichtlichen als auch bei quasi-gerichtlichen Alain Wijffels: Une très brève histoire du droit dans la civilisation occidentale (1000–2000), in: Annales de Droit de Louvain 77/3 (2017 [= 2019]), S. 397–411. https://doi.org/10.1515/9783111070346-005
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Verfahren angewandt wurde. Denn Rechtsgutachten – meistens ausgehend von einzelnen, bzw. mehreren Professoren oder von einem ganzen Fakultätskollegium – wurden zudem außergerichtlich zu Fragen der Innen- und Außenpolitik verlangt und veranschaulichen damit die direkten Verknüpfungen zwischen der Regierungspraxis und der Rechtswissenschaft. Zugleich zeigen die Gutachten die – wohl nur relative – Verrechtlichung der public governance im Spätmittelalter. Sie bilden die Grundlage für die ‚Rechtsstaatlichkeit‘ in der europäischen Rechtskultur. Die Konsilienpraxis entwickelte sich zunächst in Italien, wurde dann allmählich in den anderen europäischen Territorien übernommen, freilich mit Änderungen und Anpassungen an die politische Lage und Machtverhältnisse. Die Gründung von Universitäten in diesen Territorien hat die Rezeption der Verbindung zwischen Rechtswissenschaftlern und gutem Regiment zusätzlich gestärkt. In den Niederlanden geschah die erste Universitätsgründung (Löwen, 1425) unter der Burgundischen Regierung relativ spät.² Im 16. Jahrhundert wurde in den Habsburgischen Niederlanden zusätzlich die Universität in Douai gegründet, die aber im folgenden Jahrhundert unter französische Herrschaft fiel. Schon vor der Gründung der Löwener Universität waren (ausländische) Rechtsgutachten in den Niederlanden bekannt.³ Die Löwener Universität mit ihren zwei Rechtsfakultäten scheint aber die Konsilienpraxis in den burgundischen Gebieten stark gefördert zu haben⁴. So ist im Laufe des 16. Jahrhundert eine Zunahme der Quellen zur Konsilienpraxis festzustellen, obwohl, anders als z. B. in Italien, Frankreich und im Heiligen Römischen Reich, nur relativ wenige Konsiliensammlungen gedruckt wurden⁵. Es gibt Hinweise, dass auch handschriftliche Sammlun The History of Leuven’s Faculty of Law. Brugge 2014, Kap. 1 (von Laurent Waelkens), S. 17–50. Hilde De Ridder-Symoens: Conseils juridiques et monde universitaire au XVe siècle. Une étude prosopographique, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis/Revue d’histoire du droit 60 (1992), S. 393–424. Dirk van den Auweele/Michel Oosterbosch: Consilia juridica lovaniensia. À propos de trois recueils d’avis juridiques du XVe siècle, in: Fred Stevens/Dirk van den Auweele (Hrsg.), ,Houd voet bij stukʻ. Xenia iuris historiae G. van Dievoet oblata. Leuven 1990, S. 105–148; Ph. Godding: Flumen liberum. Un avis de légistes liégeois (1424) à propos de la navigation sur la Gette, in: Jean-Marie Cauchies/Serge Dauchy (Hrsg.), Commerce et droit. Actes des Journées internationales de la Société d’Histoire du Droit et des Institutions des pays flamands, picards et wallons tenues à Ath du 25 au 28 mai 1995. Brüssel 1996, S. 101–116; Alain Wijffels: Toll-Free Navigation on the Honte ca. 1466–1468. A Legal Consultation by J. Boods, Pensionary of Antwerp, Bulletin [Commission Royale pour la publication des anciennes lois et ordonnances de Belgique] L (2009) [= 2012], S. 175–201; in Vorbereitung: Wouter Druwé: Learned Law in Late Medieval Netherlandish Practice: Consilia for the Congregation of Windesheim (ca. 1415–1500), Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis/Revue d’histoire du droit (2021). Helmut Coing (Hrsg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. II, Neuere Zeit (1500–1800), Das Zeitalter des gemeinen Rechts, 2, Gesetzgebung und Rechtsprechung. München 1976, S. 1417–1430 (Niederlande, Konsiliensammlungen, von Udo Wagner).
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gen entstanden sind, aber ihre Existenz ist oft unsicher und sie waren anscheinend – anders als einige uns bekannte Entscheidungssammlungen – kaum unter Rechtspraktikern verbreitet. Die Anzahl der gedruckten Gutachtensammlungen wuchs im 17. Jahrhundert allmählich – obwohl sie manchmal aus dem vorigen Jahrhundert stammten.⁶ Die Gutachtenpraxis der Löwener juristischen Fakultäten verringerte sich jedoch im gleichen Zeitraum. Im 18. Jahrhundert ist die Gattung anscheinend völlig aus dem Rechtsschrifttum der Habsburgischen Niederlande verschwunden. Freilich muss man damit rechnen, dass gedruckte und nicht-gedruckte Konsiliensammlungen wahrscheinlich nur einen kleinen Teil der gesamten Produktion von Rechtsgutachten darstellen. Die allgemeine Tendenz ist trotzdem deutlich. Hier könnte man eine Parallelentwicklung zu dem Rückgang der spätmittelalterlichen, ‚italienischen‘ Methode in der südniederländischen Gerichtspraxis im Laufe des 17. Jahrhundert erkennen, obwohl sich die Autorität von Konsilien als Typ der Rechtsliteratur vielleicht länger halten konnte als jene der spätmittelalterlichen Kommentare⁷. Der Quellenmangel für das spätere 17. Jahrhundert und das 18. Jahrhundert – nach dem heutigen Forschungsstand – könnte auch der Entwicklung neuer Kommunikationskanäle und -formen zwischen der Obrigkeit und der Universität geschuldet sein.
Die erste wichtige gedruckte Konsiliensammlung war von Nicolaus Everardus (1462–1532), der nur kurz am Anfang seiner Karriere an der Löwener Universität verbunden war, aber eine glanzvolle Richterlaufbahn machte: als Richter am Grossen Rat von Mechelen, weiter als Präsident des Hofes von Holland, und schliesslich als Präsident des Grossen Rates (er wird in den Quellen und im damaligen Rechtsschrifttum meistens einfach als „Praeses“ identifiziert). Eine Sammlung seiner Gutachten wurde nach seinem Tod erst in 1554 veröffentlicht. Elbert van Leeuw (Leoninus [1519– 1598]), der Professor in Löwen war, bevor er im Laufe der Religionskriege die Niederlande unter Habsburgischer Herrschaft verlassen musste, veröffentlichte eine centuria von Konsilien in Antwerpen in 1584. Die beiden Sammlungen wurden noch im 17. Jahrhundert nachgedruckt. Johannes Wamesius (1524–1590) unterrichtete während seiner ganzen Karriere in Löwen, war aber daneben stark beschäftigt als Begutachter: seine Konsilien (dabei auch Gutachten, die er mit-unterschrieben hatte, und auch wohl einzelne Konsilien von Kollegen) wurden erst im Laufe des 17. Jahrhundert veröffentlicht: zwar in fünf folio-Bänden für die „zivilrechtlichen“ Konsilien, und in zwei Bänden für die „kanonischrechtlichen“ Konsilien (René Dekkers: Bibliotheca Belgica Juridica, Een bio-bibliografisch overzicht van rechtsgeleerdheid in de Nederlanden van de vroegste tijden af tot 1800. Brüssel 1951, S. 186). Vgl. mit Rechtsprechungssammlungen, obwohl diese sich als Literaturgattung besonders während der Neuzeit entwickelt haben, und auch nur deswegen mehr geeignet waren, sich an den neuen juristischen Denkmustern anzupassen (Alain Wijffels: Law Reports as Legal Authorities in Early Modern Belgian Legal Practice, in: Guido Rossi (ed.), Authorities in Early Modern Law Courts. Edinburgh 2021 (Edinburgh Studies in Law 16), S. 222–244).
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Immerhin gibt es für das späte 15. Jahrhundert und das 16. Jahrhundert Hinweise, dass für politische Kontroversen, die Technik und Strategie der Rechtsgutachten zum Entscheidungsprozess gehörten. Einen seltenen Blick hinter die Kulissen der niederländischen Politik bietet ein kurzer Briefwechsel aus der Mitte des 16. Jahrhundert zwischen dem Stadtpensionär von Antwerpen, dem damals wichtigsten Handels- und Finanzzentrum in Nordwest Europa, und dem Löwener Rechtsprofessor G. van der Muyden (ca. 1500– 1560). Anlass der Korrespondenz war ein Rechtsverfahren, das die Stadt Antwerpen, das Herzogtum Brabant und ihre politisch-wirtschaftlichen Konkurrenten, die Stadt Middelburg und die Grafschaft Seeland, anstrengten. Die makro-ökonomischen Interessen im Streit waren erheblich, weil die Seeländer die Seeschifffahrt nach Antwerpen aufgrund des an Middelburg erteilten sog. ‚Kranrechts‘ kontrollieren und verhindern wollten. Im Rechtsverfahren spielte dabei die Interpretation einer fürstlichen Verordnung die zentrale Rolle. Es wurde jahrelang prozessiert, bis Antwerpen und die Brabanter im endgültigen Revisionsverfahren verloren. Gleich nach der Gerichtsentscheidung der höchsten Gerichtsbarkeit in den Niederlanden schrieb der Antwerpener Pensionär an van der Muyden, um zu überlegen, welche Strategie nun weiter zu verfolgen sei. Van der Muyden war mit der Sachlage gut bekannt, denn er war als Gutachter zugunsten Antwerpens bei den Prozessen beteiligt gewesen. Der Briefwechsel macht deutlich, dass Antwerpen nun durch Lobbymaßnahmen der Landstände von Brabant bei der zentralen fürstlichen Regierung in Brüssel versuchen wollte, eine Änderung der zu ihrem Nachteil interpretierten und angewandten Verordnung zu bewirken. Der Rechtsprofessor sollte diese geplante Aktion der Landesstände juristisch untermauern. Etwas anekdotisch – aber trotzdem bedeutend – war die Anmerkung des Pensionärs, van der Muyden solle dabei eine Vielfalt von Rechtsquellen zitieren, denn ein italienischer Rat der Statthalterin der Niederlande solle dafür bekannt sein, juristische Darstellungen mit zahlreichen gelehrt-rechtlichen Zitaten besonders zu würdigen⁸. Dieses Beispiel illustriert die direkte, obwohl hier teilweise informelle, Beteiligung eines Juristen an der niederländischen Hochpolitik. Seine Rolle beschränkte sich nicht nur auf die Begutachtung im Gerichtsverfahren, sondern der Jurist und weitere politische Akteure besprachen sich auch über politische Strategien und die Förderung politisch-wirtschaftlicher Interessen. Die juristische Argumentation sollte auf die politischen Ziele abgestimmt werden. Zwar wurden höchstwahrscheinlich die wirtschaftlichen Interessen, die gefördert werden sollten, zunächst Ausführlich über diesen Fall: Alain Wijffels: Ius commune and International Wine Trade, A Revision (Middelburg c. Antwerp, 1548–1559), in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis/Revue d’histoire du droit 71 (2003), S. 289–317; A Consultancy on Wine Imports, in: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis/ Revue d’histoire du droit 73 (2005), S. 321–355.
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durch die politischen Akteure benannt und definiert, aber bei der Rücksprache war der Jurist bereits in einer sehr frühen Phase zur Vorbereitung des Lobbying-Prozesses beteiligt. Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass er als Jurist auch die Fähigkeit haben musste, die wirtschaftliche Interessenlage zu verstehen und mit zu steuern. Seine besondere, eigene Expertise bestand jedoch darin, dass er durch die juristische Argumentation die Gerechtigkeit oder Richtigkeit der von ihm mitbefürworteten politischen Vorschläge darlegen musste. Der Fall war nicht einzigartig. Im Jahr 1553 wurde demselben Van der Muyden durch eine Hanseatische Gesandtschaft, die auf der Reise nach London einen Aufenthalt in Antwerpen machte, der Auftrag erteilt, Gutachten zu schreiben⁹. Die Gesandtschaft beschäftigte nämlich die Kernfrage, ob die Restitution und Interpretation der Hanseatischen Privilegien in England statthaft sei. Da einige gelehrte Juristen zu der Gesandtschaft gehörten, kann man in diesem Fall vermuten, dass die Fragen, die Van der Muyden vorgelegt wurden, schon vorher einer juristischen ‚Filterung‘ der handelspolitischen Kontroverse unterzogen worden waren. Die Argumente Van der Muydens wurden durch die Botschafter während der Unterhandlungen in London dem englischen Geheimen Rat vorgelegt. Dieser wies sie aber ab, denn nach Meinung des englischen Regierungschefs sollten sich die Besprechungen nicht auf die Juristerei fokussieren, sondern zu einem ‚billigen‘ Abschluss führen, „ex aequo et bono“ – ein dem gelehrten Recht entlehntes Prinzip, das gerade in Handelssachen öfter vorgebracht wurde. Hier wurde es aber in der Diskussion gerade gegen eine gelehrtrechtiche Formalisierung angeführt. Die englische Regierung versuchte in dieser Kontroverse die hanseatischen Privilegien vor allem als eine innerstaatliche Frage zu behandeln, obwohl sich die Hanseaten auf den Utrechter Frieden von 1474¹⁰ und andere internationale Abkommen beriefen. Die Engländer verfuhren so, damit die gelehrte kontinentale Rechtskultur zugunsten der eigenen englischen Regierungstradition ausgeklammert werden konnte¹¹.
Besonders pikantes Detail: einige Jahren zuvor hatte der englische Gesandt in Brüssel bei der Regierung in London besonders denselben Van der Muyden (und daneben einige andere Juristen) empfohlen, falls die englische Regierung eine (juristische) Begutachtung in den Niederlanden brauchen würde (Charles S. Knighton (Hrsg.): Calendar of State Papers, Domestic Series of the Reign of Edward VI 1547–1553. London 1992, S. 13–14, den 9. Dezember 1547). Alain Wijffels: De vrede van Utrecht (1474), in Pro Memorie 16/1 (2014), S. 3–23. Ausführlich über diese Erreignisse: Alain Wijffels: International Trade Disputes and ius commune: Legal Arguments on the ,Gdańsk Issueʻ during the Hanseatic Embassy to London in 1553, in: Albrecht Cordes/Serge Dauchy (Hrsg.), Eine Grenze in Bewegung: Öffentliche und private Justiz im Handels- und Seerecht. Une frontière mouvante: Justice privée et justice publique en matières commerciales et maritimes. München 2013 (Schriften des Historischen Kollegs 81), S. 65–89; Legal authorities as instruments of conflict management. The long endgame of Anglo-Hanseatic relations
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Diese Beispiele zeigen, dass gelehrte Juristen – besonders aber Rechtsprofessoren – zu wirtschaftspolitischen Fragen primär nach den Kriterien eines juristischen Diskurses Stellung nahmen. Die Gerichtspraxis des 16. Jahrhundert zeigt zudem, dass anlässlich gerichtlicher und außergerichtlicher Auseinandersetzungen, rechtspolitische Erwägungen zur juristischen Argumentation gehörten. Diese Denkart kommt aber nicht allzu häufig (wenigstens, ausdrücklich) in den grundlegenden Gattungen der Literatur des gemeinen Rechts, wie Vorlesungen (lecturae) und Kommentaren, vor. In der Konsilienliteratur und in den Entscheidungssammlungen (oder in ähnlichen Sammlungen), trifft man rechtspolitische Argumente im Laufe der juristisch geprägten Denkmuster häufiger an¹², auch wenn es freilich oft von den persönlichen Neigungen der einzelnen Autoren abhängt. Auch in den Habsburgischen Niederlanden wird die Konsilienliteratur im Laufe des 17. Jahrhundert weniger. Noch um 1600 konnte man den Eindruck haben, dass die Konsilienpraxis an der Löwener juristischen Fakultät einigermaßen der Praxis an den Universitäten im Heiligen Römischen Reich entsprach. Ein Beispiel hierfür ist die Sammlung von Kirchhoff aus dem Jahr 1605, die mehrere Gutachten der Löwener Fakultät und von Löwener Juristen enthält.¹³ Festzuhalten ist jedoch, dass sich in den Niederlanden nie ein System der Aktenversendung durchgesetzt hat. Man gewinnt aber den Eindruck, dass eine Rechtsprofessur nicht mehr dazu diente, um sich im späteren Ancien Régime den Zugang zu einer Ernennung in den zentralen Regierungsgremien zu sichern – man denke z. B. für das 16. Jahrhundert an die Karriere von Juristen wie Lodewijk van Schore (1492–1548) oder Viglius van Aytta (1507–1577). Bisher ungelöst sind die Fragen, ob die (externe) juristische Begutachtung im politischen Entscheidungsprozess tatsächlich aufgegeben wurde, oder ob sie durch andere Techniken und Maßnahmen ersetzt wurde. Eine Erklärung könnte sein, dass in manchen Ländern, das traditionelle Denkmuster der Gutachtenargumentation, wie z. B. contra/pro/Widerlegung der Argumente contra allmählich aufgegeben wurde. Das lässt sich deutlich am Beispiel der umfangreichen „Consultatien“-Sammlungen dokumentieren, die im 17. Jahrhundert in den nördlichen Niederlanden veröffentlicht wurden. In ihnen kann man
(1474–1603), in: Mark Godfrey (ed.), Law and Authority in British Legal History, 1200–1900. Cambridge 2016, S. 170–191. Alain Wijffels: Argumentationsmuster in belgisch-niederländischen Konsiliensammlungen des 16. Jahrhunderts. ‚Policy considerations‘ in der ius commune-tradition, in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Juristische Argumentation – Argumente der Juristen. Köln/Weimar/Wien 2006 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 49), S. 55–73. Laurentius Kirchovius: Consilia Sive Responsa, Praestantissimorum Germaniae, Italiae, Galliae, Hispaniaeque. Iureconsultorum … In Quibus Tam Summorum Principum, Ducum, Marchionum … quam privatorum causae … iudicio … discutiuntur …, 5 Bände. Frankfurt 1605.
Die juristische Konsilienpraxis in den burgundisch-habsburgischen Niederlanden
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nicht mehr allgemeine „ius commune“ Argumentationsmuster wie im Spät-Mittelalter nachweisen¹⁴. Zugleich ist festzustellen, dass die nach Rechtsmaterien geordnete Systematisierung des Rechts, die sich während der Neuzeit etablierte, der spätmittelalterlichen Methodik nicht mehr sachgemäß entsprechen konnte. Die proto-positivistische Systematisierung der juristischen Methode, die sich im Laufe des 17. Jahrhundert durchsetzte, bedeutete, dass die Fähigkeit, Grundsätze und Konzepte, die notwendigerweise in vielen Fällen Rechtsmaterien entnommen wurden und die an sich der materiellen Rechtsfrage der betreffenden Rechtssache fremd waren, erheblich eingeschränkt wurde. Andererseits kann man für die habsburgischen Niederlande keine neue Literaturgattung erkennen, die die Rolle der alten Konsiliensammlungen übernommen hätte¹⁵. Auch die wissenschaftliche Emanzipation des Partikularrechts in der Neuzeit sollte erwähnt werden. Trotz wichtiger Ausnahmen hatte sich im Spätmittelalter kaum eine eigene Wissenschaft des Partikularrechts entwickelt: die gelehrte Rechtswissenschaft hatte quasi ein Interpretationsmonopol. Damit verbunden waren auch die Bestimmungen des Anwendungsbereiches des Partikularrechts. In der Gutachtenpraxis des 15. und des 16. Jahrhunderts war diese Rolle des gelehrten Rechts besonders wichtig. Sie bestimmte die Anwendung der Gesetzgebung. In späteren Jahrhunderten wuchs dann ein Rechtsschrifttum, das sich speziell mit Kommentaren der Partikularrechte befasste. Diese Literatur wurde meistens von an den Universitäten ausgebildeten Juristen, die aber nicht an einer Rechtsfakultät unterrichteten, verfasst¹⁶. Die Expertise im Partikularrecht wurde damit zur Eigenschaft eines neuen Typs von Juristen: jene, die mit einem gelehrten Ausbildungshintergrund vor allem in der Gerichts- und Verwaltungspraxis beschäftigt waren. Es ist aber nicht auszuschließen, dass das Selbstbewusstsein der Herrscher und wohl auch ihrer Räte in der Anwendung der fürstlichen Gesetzgebung, unabhängig von einer rechtswissenschaftlichen Vermittlung und von den daraus entstehenden Beschränkungen, ständig wuchs.
Coing: Handbuch (wie Anm. 5), S. 1429–1430 (besonders: Consultatien, Advysen en Advertissementen … in 6 Bänden, ed. pr. Rotterdam 1683 ss., sowie: Vervolg op de Hollandsche Consultatien …, 2 Bände. Amsterdam 1780–1782; und Utrechtse Consultatien …. Utrecht 1671–1700). Obwohl auch in den Habsburgischen Niederlanden, Anwälte factums verfasst haben und gelegentlich auch im Druck verbreitet haben, hat diese Gattung nicht dieselbe Bedeutung gehabt wie in Frankreich am Ende des Ancien Régime (cf. Augustin Corda et al.: Bibliothèque nationale. Catalogue des factums et d’autres documents judiciaires antérieurs à 1790, 10 Bände. Paris 1890–1936). Auch die Rechtsprechungssammlungen (Decisiones-Literatur) wurden von Rechtspraktikern verfasst; Coing: Handbuch (wie Anm. 5), S. 1399–1417; Philippe Godding: L’origine et l’autorité des recueils de jurisprudence dans les Pays-Bas méridionaux (13e–18e siècles), in: Rapports belges au VIIIe Congrès international de droit comparé – Pescara 1970. Brüssel 1970, S. 1–37.
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Diese letzte Bemerkung weist auf den Umstand hin, dass auch andere Faktoren berücksichtigt werden müssen. Für die spätmittelalterliche Rechtswissenschaft war, gerade weil sie sich als Wissenschaft der Policey und Justiz entwickelt hatte, die politische Ordnung im Wesentlichen eine Rechtsordnung. Im Laufe der Neuzeit hat die – von der Theologie, Rechtswissenschaft und anderen Wissenschaftsgebieten weitgehend emanzipierte – Politiktheorie die ständige Rechtsstaatlichkeit der politischen Ordnung, wie sie ursprünglich besonders im Umfeld der spätmittelalterlichen nord- und mittelitalienischen Stadtstaaten praktiziert wurde, stärker in den Hintergrund gedrängt. Das ius publicum und die Kultur des öffentlichen Rechts in Deutschland – sowohl auf Reichsebene wie in den Reichsterritorien – war in dieser Hinsicht eher die Ausnahme in West-Europa. Die Habsburgischen Niederlande waren während des 17. und 18. Jahrhunderts für Madrid oder Wien periphere Gebiete, deren Rechtsentwicklungen keine Priorität darstellten. Juristen wurden noch immer in den zentralen Institutionen der Regierung der niederländischen Personalunion beschäftigt¹⁷, insbesondere im Geheimen Rat. Geheimräte verfassten Memoranda, die ihre juristische Ausbildung widerspiegelten, und so als Garanten für die ‚Bürokratisierung‘ der öffentlichen Rechtstaatlichkeit dienen konnten. Zugleich wurde die juristische Expertise stärker bei der Ausgestaltung der Regierungspolitik innerhalb der Organisation und Verwaltungskultur der Staatsbehörde integriert¹⁸. Diese Rechtstaatlichkeit war freilich nicht dieselbe, wie jene, welche dem spät-mittelalterlichen ‚guten Regiment‘ zugrunde lag.
Claude Bruneel/Jean-Paul Hoyois: Les grands commis du gouvernement des Pays-Bas autrichiens. Dictionnaire biographique du personnel des institutions centrales. Bruxelles, Archives générales du Royaume, 2001. Im 18. Jahrhundert können diese Beobachtungen insbesondere in den Beziehungen zwischen dem („souveränen“) Rat von Brabant und dem Geheimen Rat (beide mit Sitz in Brüssel) nachgewiesen werden: z. B. meinte der Rat von Brabant aufgrund der „Brabanter Konstitution“ (d. h. die durch die Herzöge von Brabant seit 1356 verliehene Blijde Inkomst Akte) Beschwerde gegen fürstliche Verordnungen einstellen zu dürfen. Dabei kam es zu einer juristischen Auseinanderstellung mit dem Geheimen Rat, dessen Mitglieder an der Universität gebildete Juristen waren.
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Juristen als Landfriedensexperten 1 „Experten für das Allgemeine“? Im Folgenden soll das Thema „Juristen als Experten“¹ nicht aus einer Perspektive, die juristische Wissensbestände und deren Anwendung in einer Gerichtspraxis bereits voraussetzt, beleuchtet werden, sondern es soll vielmehr danach gefragt werden, was Juristen befähigt, sich mit ihren Wissensbeständen und Denkstilen in Kontexten, in denen auch Nichtjuristen agieren, zu etablieren und sich schließlich mit ihren spezifischen Geltungsansprüchen als Experten erfolgreich durchsetzen zu können.² Dass Juristen beispielsweise zu Garanten öffentlicher Sicherheit und Ordnung avancierten, gleichsam zu „Sicherheitsexperten“ wurden³, war keine zwangsläufige Entwicklung, wie etwa die Delegation dieser Problematik an moderne Polizeiapparate beweist.⁴ Die Definition von Experten und Expertise für die Vormoderne orientiert sich an den Theorieangeboten des Göttinger Graduiertenkollegs „Expertenkulturen“:⁵ Demnach verkörpern Experten einen sozialen Rollentypus, der für bestimmte Kommunikationssituationen ein passendes Wissen anbietet, das dann auch entsprechend in Anspruch genommen wird. Nur durch diese konkrete Nachfrage nach seiner Expertise kann ein Akteur die Rolle des Experten übernehmen. Allerdings bedarf es einer „institutionellen“ Nachfrage, die diese Wissensbestände über den Einzelfall hinaus beansprucht, damit es zur Verstetigung von Wissensbeständen
Der folgende Beitrag bietet eine erweiterte Fassung meines Impulsvortrags; der essayistische Stil wurde beibehalten. Vgl. dazu etwa den Beitrag von David von Mayenburg im vorliegenden Band. Marius S. Reusch/Reut Yael Paz/Stefan Tebruck: Juristen als Sicherheitsakteure. Eine Einführung, in: Carola Westermeier/Horst Carl (Hrsg.), Sicherheitsakteure. Epochenübergreifende Perspektiven zu Praxisformen und Versicherheitlichung. Baden-Baden 2018 (Politiken der Sicherheit, Bd. 2), S. 95–110. Wolfgang Knöbl: Polizei und Herrschaft im Modernisierungsprozess. Staatsbildung und innere Sicherheit in Preußen, England und Amerika 1700–1914. Frankfurt/New York 1998. Marian Füssel: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Hö fe und Experten. Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Frü her Neuzeit. Gö ttingen 2018, S. 10–15; weitere Veröffentlichung zu vormodernen „Experten“ aus dem gleichen Forschungskontext bieten Bjö rn Reich/Frank Rexroth/Mathias Roick (Hrsg.): Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. Mü nchen 2012 (Historische Zeitschrift, Beiheft 57); Marian Fü ssel/Philip Knä ble/Nina Elsemann (Hrsg.): Wissen und Wirtschaft. Expertenkulturen und Mä rkte vom 13. bis 18. Jahrhundert. Göttingen 2017; Marian Fü ssel (Hrsg.): Praktiken und Rä ume des Wissens. Expertenkulturen in Geschichte und Gegenwart. Gö ttingen 2019 (Historische Einführungen, Bd. 19). https://doi.org/10.1515/9783111070346-006
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und Wissenskulturen kommt; nur so kann die entsprechende Expertise dann auch über den Einzelfall oder den einzelnen Akteur hinaus auf Dauer gestellt werden.⁶ Als ein solch institutioneller Anker, durch den juristische Expertise verstetigt wird, lässt sich in erster Linie das Gerichtswesen in all seinen Ausformungen in Anspruch nehmen. Umso mehr stellt sich aber dann die Frage, weshalb Juristen jenseits dieser institutionellen Verankerung in der Lage waren, mit ihrer spezifischen Expertise weitere Wissens- und Handlungsfelder zu besetzen oder besser: zu infiltrieren? Um Licht auf solche Prozesse zu werfen, sei zunächst ein juristisches Phänomen zum Ausgangspunkt gemacht, bei dem sich juristische und andere Handlungsfelder – etwa „Politik“ – vermischen und das deshalb von vornherein einen eher exzentrischen Blick vom Rand her auf das Thema werfen lässt. Es wird zwar im Folgenden auch um „Gerichte“ gehen, aber um Ausformungen von Schiedsgerichtsbarkeit, für die formalisiertes Recht im Unterschied zu „ordentlichen Gerichten“ nicht Voraussetzung ist – in jedem Fall werden entsprechende Phänomene und Institutionen auch in der aktuellen Forschung zumeist unter „außergerichtliche Konfliktregelung“ subsumiert.⁷ In der Praxis und historischen Genese aber waren vielfältige Übergänge zwischen diesen Sphären möglich, nicht zuletzt, weil Juristen auch in diesen Bereichen immer alternativloser wurden.⁸ Der damit gewählte Zugang zu den Juristen ist damit kein vornehmlich rechtsgeschichtlicher, und die Diskurse und Explikationen solch spezifischen Expertenwissens werden allenfalls mittelbar in den Blick genommen. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass dies auch mangelnder einschlägiger Expertise des Autors geschuldet ist, hilft ein solch distanzierter Blick besser zu verstehen, weshalb denn Juristen zunehmend erfolgreich Ihren Anspruch auf Expertise in Fragen von Konfliktregelungen generalisieren konnten. Wenn dabei der Blick eher auf Praktiken gerichtet wird, dann lässt sich auch besser nachvollziehen, weshalb ihre spezifisch unspezifische Expertise Juristen nicht nur für juristische Tätigkeitsfelder – also Gerichte – zu nachgefragten Experten machte, sondern auch auf andere Tätigkeitsbereiche anwendbar war, bis hin zur Konsequenz des behaupteten oder beklagten Juris-
So die knappe Zusammenfassung bei Füssel: Einleitung (wie Anm. 5), S. 14 So programmatisch im Frankfurter Loewe-Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ (2012–2018). David von Mayenburg/Anna Seelentag/Wim Decock/Peter Collin/Nadine Grotkamp (Hrsg.): Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa, 4 Bde. Berlin/Heidelberg 2021; speziell zur Schiedsgerichtsbarkeit vgl. Florian Dirks: Konfliktlösung durch Schiedsgerichte im Mittelalter, in: David von Mayenburg (Hrsg.), Konfliktlösung im Mittelalter. Berlin 2021 (Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa, Bd. 3), S. 175–181; Horst Carl: Konfliktlösung durch Schiedsgerichte in der Frühen Neuzeit, in: Wim Decock (Hrsg.), Konfliktlösung in der Frühen Neuzeit: Ein Handbuch. Berlin 2021 (Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung in Europa, Bd. 3), S. 191–198.
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tenmonopols in staatlichen oder „staatsnahen“ Tätigkeitsfeldern. Weil Juristen deshalb in gegenwartsnaher Analyse geradezu zu „Experten für das Allgemeine“ mutierten⁹, verstehen sich die folgenden Ausführungen als Beitrag, diesem Paradox am Beispiel der zunehmenden Justizialisierung von Konfliktausträgen in der Landfriedenswahrung historisch nachspüren.
2 Juristen und Schiedsgerichtsbarkeit – eine zwangsläufige Verbindung? Die zeitliche Schwelle um 1500 zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit bietet sich für die Beobachtung der Rolle von Juristen in Landfriedensbünden zunächst deshalb an, weil man in dieser Phase beschleunigten Wandels empirisch nachvollziehen kann, wie Juristen einen immer größeren Anteil an der Regelung interner wie externer Konflikte beanspruchen konnten. Für eine Konzentration auf Landfrieden und Landfriedensbünde kann aber auch ein systematischer Grund angeführt werden: Unlängst hat Rena Schwarting in Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Überlegungen zu Verfahren und Organisation geltend gemacht, dass die Legitimation durch Verfahren eine Legitimation übergreifender Verfahrensstrukturen voraussetzt. Dies wiederum leisten Organisationen, indem sie die für die jeweiligen Verfahren fallübergreifende Strukturen zur Verfügung stellen.¹⁰ Die bekannte Formel der „Legitimation durch Verfahren“ präzisiert sie deshalb mit Blick auf die Bedeutung von Organisationen für diese Verfahren, stellten diese doch die für eine Akzeptanz von Verfahrensentscheidungen konstitutiven Verfahrensstrukturen bereit.¹¹ Exemplifiziert hat sie dies an einem rechtshistorischen Beispiel, der Genese des Reichskammergerichts: Wenn dessen Gründung einem „kollektiven Entscheidungsbedarf nach einer gewaltfreien Konfliktregelung in Form einer ständigen obersten Rechtsprechung“ Genüge tat¹², dann befinden wir uns mit dieser Fallstudie schon in unmittelbarer zeitlicher und thematischer Nachbarschaft zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen bündischen Landfriedenswahrung. Am Beispiel des Reichskammergerichts verweist die Autorin zudem darauf, dass So mit Blick auf die deutschen Juristen pointiert Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1965, S. 251 f.: In den juristischen Fakultäten in Deutschland würde vergleichbar den englischen Public Schools und den französischen Grandes Écoles eine Elite von „Experten für das Allgemeine“ ausgebildet, was sie für Spitzenpositionen befähigen solle. Rena Schwarting: Organisation und Verfahren. Zum Veranstaltungsproblem von Verfahren, in: Soziale Systeme 22 (2017), S. 381–423. Ebd., S. 415. Ebd., S. 415.
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starke Rechtsbindung und hochgradig formalisierte Organisation die Juristen des Reichskammergerichts nicht daran hinderten, die eigenen Verfahren zu modifizieren, zu korrigieren und informelle Routinen hervorzubringen, um die eigene Rechtsprechung mit den sozialen Erwartungen und gesellschaftlichen Ansprüchen einer ständisch differenzierten Gesellschaft kompatibel zu machen.¹³ Um die Rolle der Juristen bei der Landfriedenswahrung genauer in den Blick zu nehmen, bietet es sich deshalb an, von den involvierten Organisationen auszugehen. Bei der Frage nach dem Zusammenhang von Schiedsgerichtsbarkeit und Landfriedenswahrung sei deshalb der Blick zunächst auf die spätmittelalterlichen Landfriedensbünde gerichtet, denn in ihnen war Schiedsgerichtsbarkeit essentieller und integraler Bestandteil ihrer Organisation.¹⁴ Aufgrund der ausgeprägten herrschaftlichen Zersplitterung florierten diese im Spätmittelalter vor allem in Oberdeutschland und der angrenzenden Eidgenossenschaft; sie versprachen den zahlreichen lokalen Herrschaftsträgern ein Surrogat für fehlende königliche oder territoriale Autorität, um regional begrenzte Friedensräume zu schaffen.¹⁵ Dem diente neben der militärischen Befähigung zur Gegenwehr ein zwischen den Vertragspartnern eines Landfriedensbundes vereinbartes und somit „institutionalisiertes“ Schiedsgericht.¹⁶ Wenn Mitglieder in Streit gerieten, waren sie verpflichtet, Ebd., S. 415 f. Zum Folgenden Horst Carl: Über das Ausloten von Grenzen. Schiedsgerichtsbarkeit im Schwäbischen Bund (1488–1534), in: Albrecht Cordes (Hrsg.), Mit Freundschaft oder mit Recht? Inner- und außergerichtliche Alternativen zur kontroversen Streitentscheidung im 15.–19. Jahrhundert. Köln/ Wien 2015 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 65), S. 117–132; zur Stellung von Schiedsgerichten in der Verfahrens- und Rechtskultur des spätmittelalterlichen Reiches vgl. Ingeborg Most: Schiedsgericht, Rechtlicheres Rechtgebot, Ordentliches Gericht, Kammergericht. Zur Technik fürstlicher Politik im 15. Jahrhundert, in: Aus Reichstagen des 15. und 16. Jahrhunderts. Festgabe, dargebracht der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Göttingen 1958, S. 116–153. Herbert Obenaus: Recht und Verfassung der Gesellschaften mit St. Jörgenschild in Schwaben. Untersuchungen über Adel, Einung, Schiedsgericht und Fehde im fünfzehnten Jahrhundert. Göttingen 1961 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 7); Angela Kulenkampff: Einungen mindermächtiger Stände zur Handhabung Friedens und Rechtens 1422–1565. Frankfurt am Main 1967. Den Surrogatcharakter betont Peter Moraw: Die Funktion von Einungen und Bünden im spätmittelalterlichen Reich, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hrsg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit. München 1995 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, Bd. 23), S. 1–21. Für das 16. Jahrhundert vgl. Guido Komatsu: Landfriedensbünde im 16. Jahrhundert. Ein typologischer Vergleich. Dissertation, Universität Göttingen 2001; Maximilian Lanzinner: Ein Sicherheitssystem zwischen Mittelalter und Neuzeit: die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich, in: Christoph Kampmann/Ulrich Niggemann (Hrsg.), Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation. Köln 2013, S. 99–119. Karl Siegfried Bader: Die Entwicklung und Verbreitung der mittelalterlichen Schiedsidee in Südwestdeutschland und in der Schweiz, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Neue Folge 54
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den Konflikt vor das bündische Schiedsgericht zu bringen – ansonsten riskierten sie Sanktionen der übrigen Bundesgenossen. Auch gegenüber externen Widersachern wurde das Schiedsgericht aktiv, suchte der Landfriedensbund doch mittels eines Rechtsgebotes auch solche Streitigkeiten vor seine Schiedsinstanz zu ziehen. Die personale Zusammensetzung wurde flexibel gehandhabt, in der Regel agierte der meist dem Adel entstammende Hauptmann als Obmann eines ad hoc von den Streitparteien zusammengesetzten Schiedsgerichts. Juristische Ausbildung und Expertise spielte dabei allenfalls eine nachrangige Rolle.¹⁷ Die Zuständigkeit eines solchen bündischen Schiedsgerichts war weder personal noch in puncto Rechtsmaterien umfassend. Nicht erfasst wurden beispielsweise Streitigkeiten um Frevel, Erbfall, Eigen oder Lehen sowie Maleficia und „sachen, so die ere antreffen“.¹⁸ Konflikte zwischen Hintersassen der fürstlichen oder adeligen Einungsmitglieder oder im Schwäbischen Bund dann auch zwischen einzelnen Bürgern der Mitgliedsstädte verblieben vor den zuständigen Gerichten. Landfriedensrecht umfasst also nur einen begrenzten, wenn auch wichtigen Ausschnitt von Rechtsmaterien. Der 1488 unter der Autorität Kaiser Friedrichs III. (1415–1493) gegründete Schwäbische Bund fasste die regionalen Landfriedenstraditionen noch einmal in einem großen Landfriedensbund zusammen, der neben dem Adel auch die reichsunmittelbaren Städte und die bedeutendsten Fürsten zusammenbrachte. Dies bedeutete einen qualitativen Fortschritt, weil es erstmals gelang, nahezu alle Reichsstände in dieser königsnahen Region in einer ständeübergreifenden Landfriedenseinung zu organisieren.¹⁹ Dabei knüpfte der Bund nahtlos an die oberdeutschen Landfriedenseinungen des Adels an. Grundlegende Strukturen wie die Fixierungen der Vereinbarungen in einem von den Einungsmitgliedern beschworenen Einungsbrief als Verfahrensgrundlage griffen inhaltlich auf das etablierte Modell adeliger Einungen zurück. Folglich wurde auch an einem institutionalisierten Schiedsgericht als Kernbestandteil der Einung festgehalten. In den einzelnen Einungsperioden bis zum Ende des 1534 ermöglichte die bündische Schiedsge-
(1935), S. 100–125; ders.: Das Schiedsverfahren in Schwaben vom 12. bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert. Freiburg 1929, S. 36 ff. Grundlegend Obenaus: Recht und Verfassung (wie Anm. 15). Ebd., S. 104–106. Ernst Bock: Der Schwäbische Bund und seine Verfassungen 1488–1534. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichsreform. Neudruck der Ausgabe Breslau 1927 mit Vorrede des Verfassers. Aalen 1968 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. 137); Adolf Laufs: Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit. Aalen 1968 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte. Neue Folge, Bd. 16), S. 58–141; Horst Carl: Der Schwäbische Bund 1488–1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation. Leinfelden-Echterdingen 2000 (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 24).
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richtsbarkeit Austragsmodalitäten zwischen den verschiedenen Ständen des Landfriedensbundes und bot damit eine entscheidende Klammer für dessen ständeübergreifende Qualität. Die viermalige Verlängerung der jeweils nur befristeten Einungsperioden bot die Möglichkeit, die Bundesorganisation an gesellschaftliche und politische Entwicklungen anzupassen. Bei der Weiterentwicklung der bündischen Schiedsgerichtsbarkeit lief dies auf eine zunehmende Justizialisierung hinaus. Anhand der Bundbriefe, die als eine Art Verfassungsgrundlage des Bundes dienten,²⁰ lassen sich drei Phasen dieser Entwicklung sehr genau nachvollziehen.²¹ Der erste Bundbrief orientierte sich 1488 noch ganz an den Traditionen des Georgenschildes und dessen Austragsmodalitäten. Die Bestimmung, dass der Kläger seine Klage vor dem Hauptmann des Bundesstandes, dem der Beklagte angehörte, vorzubringen hatte, reflektierte die Zusammensetzung der Leitungsgremien des Bundes: Die beiden Stände, die zunächst den Bund bildeten – Adel und Städte – stellten im Bundesrat paritätisch je einen Hauptmann und je neun Räte. Wenn also ein Adeliger vor dem Hauptmann der Städte gegen eine Stadt oder einen Stadtbürger klagte, dann wählte der Hauptmann aus dem Kreis seiner neun Bundesräte einen Obmann für das Schiedsverfahren, dem die Parteien jeweils gleich viele „Zusätze“ zur Seite stellten. Obmann und Beisitzer wurden dabei von ihren jeweiligen Eiden entbunden und entschieden nach Mehrheit. Bei der Bundesverlängerung 1496 drängten vor allem die dem Bund assoziierten fürstlichen Mitglieder darauf, dieses Verfahren zu ändern und in die Strukturen einbezogen zu werden. Nunmehr wurde für den gesamten Bund ein einzelner „Bundesrichter“ bestallt, der an einem festen Gerichtsort residierte. Am Charakter eines Schiedsgerichts änderte sich jedoch nichts: Der „Bundesrichter“ agierte als Obmann des Schiedsverfahrens, bei dem die Streitparteien dann die Beisitzer bzw. Urteiler bestimmten. Rechtsgelehrtheit war weiterhin kein Auswahlkriterium: Weder waren die Bundeshauptleute und Räte der ersten Phase, aus dem sich die Mitglieder des Schiedsgerichtes rekrutierten, ausgebildete Juristen, noch traf dies auf den Bundesrichter in der zweiten Phase zu. Stattdessen dominierten reichsstädtische Patrizier oder Niederadelige das Bundesgericht. Ge-
Der deutsche Begriff „Verfassung“ lässt sich in seiner modern-abstrakten Bedeutung erstmals im Kontext von solchen Bundesbriefen nachweisen. Heinz Mohnhaupt: Verfassung, in: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6. Stuttgart 1990, S. 831–862, hier: S. 849. Zum Schiedsgericht des Bundes, seiner personellen Zusammensetzung und seiner Entwicklung Siegfried Frey: Das Gericht des Schwäbischen Bundes und seine Richter 1488–1534, in: Josef Engel (Hrsg.), Mittel und Wege früher Verfassungspolitik. Stuttgart 1979 (Spätmittelalter und frühe Neuzeit, Bd. 9), S. 224–281; Carl: Der Schwäbische Bund (wie Anm. 19), S. 370–402; ders.: Ausloten von Grenzen (wie Anm. 14), S. 120–125.
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rade letzteren wurde offenbar eine spezifische Expertise für die Abstellung der Fehde als des Hauptübels der Landfriedenswahrung und eine besondere Kompetenz zur Schlichtung von Fehdestreitigkeiten zugebilligt. Ihre Expertise gründet nicht in formalisiertem juristischem Wissen, sondern in „Erfahrungswissen“, das als dem jeweiligen Einzelfall besonders angemessen angesehen wurde – auch, weil viele der im Bund organisierten Adeligen noch keineswegs mit der Rechtmäßigkeit gewaltsamer Selbsthilfe gebrochen hatten und der Bund selbst gegen Bundesfeinde mit dem Instrumentarium der Fehde vorging.²² Nun kann beim Vergleich mit territorialen Gerichten oder dem Reichskammergericht darauf verwiesen werden, dass solche Expertise ja auch durch die festgelegte Anzahl adeliger Beisitzer in die „ordentlichen“ Gerichte, namentlich das Reichskammergericht eingeflossen ist. Dass aber für einen Landfriedensbund juristische Expertise als Voraussetzung solcher Schlichtungstätigkeit in Landfriedenssachen nicht zwingend nötig war, belegt ein vergleichender Blick auf andere Landfriedensbünde. Es war keineswegs die Regel, dass ein Landfriedensbund ein Schiedsgericht – und vor allem ein mit Juristen besetztes – vorweisen musste. Das beste Gegenbeispiel waren die Eidgenossen, die ihre internen Konflikte in der Regel gütlich unter Vermittlung anderer Mitglieder auf der Tagsatzung beilegten. Andreas Würgler hat aus diesem Umstand auf eine Kultur politischer Konfliktbeilegung in der Eidgenossenschaft geschlossen, die sich deutlich von der Tendenz zur „Verrechtlichung“ bzw. Justizialisierung der Konfliktregelung im Reich unterschieden habe.²³ Aber auch die späteren Landfriedenseinungen im Reich, die dem Schwäbischen Bund folgten wie etwa die Rheinische Einung von 1532, verzichteten auf ein institutionalisiertes Schiedsgericht.²⁴ Der 1531 gegründete Schmalkaldische Bund, der weniger der Landfriedenswahrung als vielmehr konfessioneller Selbstbehauptung verpflichtet war, benötigte es erst recht nicht.²⁵ Insofern ist die Entwicklung im Schwäbischen Bund ab 1500 im Kontext unseres Themas „Juristen als Experten“ dann doch bemerkenswert: Die Bundesverlängerung von 1500 schuf insofern neue Rahmenbedingungen, als nunmehr die Fürsten – Zum Schwäbischen Bund als „Fehdegenossenschaft“ vgl. Carl: Schwäbischer Bund (wie Anm. 19), S. 425 f. Andreas Würgler: Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470–1798). Epfendorf 2013 (FrühneuzeitForschungen, Bd. 19), S. 322. Friedrich Eymelt: Die Rheinische Einung des Jahres 1532 in der Reichs- und Landesgeschichte. Bonn 1967, S. 27–45; Komatsu: Landfriedensbünde (wie Anm. 15), S. 67–75. Horst Carl: Ein untaugliches Muster? Schwäbische Bundestage im Vergleich zu den Tagen des Schmalkaldischen Bundes, in: Jan Martin Lies/Stefan Michel (Hrsg.), Politik – Religion – Kommunikation. Schmalkaldische Bundestage. Göttingen 2022 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 137), S. 99–114, hier: S. 110–112.
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darunter König Maximilian (1459–1519) für Tirol, der Mainzer Kurfürst Berthold von Henneberg (1442–1504) sowie die Herzöge von Württemberg und der fränkische Markgraf – organisatorisch in den Bund integriert wurden. Sie erhielten eine eigene Bank mit sieben Räten und einen eigenen Hauptmann. Statt eines im Einzelfall aus den Bundesräten zu rekrutierenden Schiedsgerichts sollte deshalb nunmehr ein Kollegium aus drei Bundesrichtern als institutionalisiertes Schiedsgericht fungieren. Geklagt wurde vor dem Richter des Standes des Beklagten, und in der Regel amtierten die beiden Kollegen dann als Beisitzer des Verfahrens. Für die Person der jeweiligen Bundesrichter legten die Bundesbriefe nunmehr fest, dass sie rechtsgelehrt sein mussten. Ein solches Juristenmonopol war insofern organisationsbedingt, als durch die neue Einrichtung des Bundesgerichtes die traditionelle Unterscheidung zwischen Richtern und Urteilern an Bedeutung verlor.²⁶ Beließen es die ständeübergreifenden Austragsvereinbarungen 1488 noch dabei, lediglich Vorgaben für die Besetzung der von Fall zu Fall neu zu bildenden Spruchkollegien machten, so entwickelte sich das Bundesgericht aufgrund der Bestimmungen von 1500 zu einer weitgehend bürokratisierten Institution, die nicht mehr anlassbezogen agierte, sondern turnusmäßig an einem festen Ort zusammentrat. Die drei Bundesrichter tagten zunächst bis 1512 in Tübingen, sodann in Augsburg, das Verfahren verlagerte sich auf Aktenprozesse, wie sie auch beim Reichskammergericht üblich wurden. Die Bundesbriefe fixierten weitere Verfahrensgrundsätze, die sich an Vorgaben des Römischen Rechts und Praktiken ordentlicher Gerichtsbarkeit orientierten. Mit der obligatorischen Vertretung der Parteien durch Anwälte, der Schriftlichkeit des Verfahrens sowie Appellationsmöglichkeiten an das Reichskammergericht partizipierte das Bundesgericht am Modernisierungsschub der Reichsjustiz um 1500. Es trug nicht nur zur Standardisierung der Rechtsprechung, sondern auch zur Vereinheitlichung der Gerichtslandschaft im Reich bei, indem es Klagen vor „fremden Gerichten“ – etwa dem Rottweiler Hofgericht oder geistlichen Gerichten – einen Riegel vorschob. Auch das Reichsoberhaupt konnte mittels seines Evokationsrechts nicht mehr in laufende Prozesse eingreifen und das Verfahren an sich ziehen. Die Rechtsgelehrtheit der Bundesrichter sorgte für die Rezeption des Römischen Rechts, das somit auch in die Organisation und Rechtsprechung bündischer Schiedsgerichtsbarkeit Einzug hielt. Ein beträchtlicher Teil der Bundesrichter nach 1500 rekrutierte sich aus der juristischen Fakultät der Universität Tübingen, daneben spielte Kleriker-Juristen aus den Territorien, insbesondere den geistlichen Territorien sowie juristisch ausgebildete Räte der Fürsten eine Rolle. Viele standen den geistigen Strömungen der Zeit in
Carl: Ausloten von Grenzen (wie Anm. 14), S. 124.
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Gestalt des Humanismus nahe, darunter mit Johannes Reuchlin (1455–1522) auch der bekannteste Bundesrichter.²⁷
3 „Sicherheitsexperten“ Auf den ersten Blick steht dieses Fallbeispiel dafür, wie sich Juristen erfolgreich in Handlungsfeldern durchzusetzen, für die ihre Expertise applikabel war. Beim „Landfrieden“ war dies schon systematisch angelegt, beruht dessen Logik doch darauf, dass eine Alternative zum gewaltsamen Konfliktaustrag geboten werden musste. Seit dem Mittelalter war diese Alternative in Sprache und Logik des Rechts formuliert²⁸, und die Gründung des Reichskammergerichts 1495 als institutionelle Antwort auf das unbefristete Fehdeverbot des „Ewigen Landfriedens“ gehorchte dieser Logik. Die Justizialisierung der bündischen Schiedsorganisation steht zweifellos in enger Beziehung zur Etablierung eines institutionalisierten und ortsfesten höchsten Reichsgerichts, das zunächst vor allem als oberstes Landfriedensgericht fungierte. Diese Affinität wird auch durch die Wortführer der sogenannten „Reichsreform“ beglaubigt, denn die fürstlichen Protagonisten und Räte, die 1495 in Worms dem König gegenüberstanden, waren dieselben, die 1500 die Justizialisierung des bündischen Schiedsgerichts vorantrieben. Die enge Verbindung von Reichskammergericht und Bundesgericht wird auch daran deutlich, dass das Bundesgericht – für ein Schiedsgericht unüblich – das RKG als Appellationsinstanz akzeptierte. Einen bemerkenswerten Unterschied allerdings gab es: Während sich das Reichskammergericht wie auch die territorialen Hofgerichte nicht nur aus Juristen, sondern auch adeligen Beisitzern, die in der Regel nicht rechtsgelehrt waren, zusammensetzte, war das Bundesgericht nach 1500 ausschließlich mit Juristen bestückt. Mit diesem „Juristenmonopol“ stach das Bundesgericht also selbst im Vergleich mit dem Reichskammergericht heraus.²⁹
Markus Rafael Ackermann: Der Jurist Johannes Reuchlin (1455–1522). Berlin 1999 (Schriften zur Rechtsgeschichte, Bd. 77), S. 107–148. Reuchlin amtierte von 1502 bis 1512 als von den Fürsten nominierter Bundesrichter. Otto Gerhard Oexle: Friede durch Verschwörung, in: Johannes Fried (Hrsg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im Hohen und Späten Mittelalter. Sigmaringen 1996 (Vorträge und Forschungen, Bd. 43), S. 114–150; Horst Carl: Art. „Landfrieden“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl., Bd. 2 (19. Lieferung). Berlin 2014, Sp. 483–505; Duncan Hardy: Landfrieden, in: Irene Dingel et al. (Hrsg.), Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit / Handbook of Peace in Early Modern Europe. Berlin 2021, S. 151–169. Am Reichskammergericht behalf man sich schließlich damit, dass man geeignete nichtadelige Juristen nobilitierte. Siehe Anette Baumann: Reichskammergericht und Universitäten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: HZ 292 (2011), S. 365–395, S. 390.
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Es bleibt also zu klären, ob dafür Spezifika des Schwäbischen Bundes und seiner Schiedsgerichtsbarkeit verantwortlich waren, und inwieweit dies mit einer den Juristen zugeschriebenen besonderen Expertise in Fragen der Landfriedenswahrung zusammenhing. Eine erste Erklärung zu dieser ja nicht zwangsläufigen starken Stellung der Juristen in einem institutionalisierten Schiedsgericht zielt auf das Spezifikum des Schwäbischen Bundes, dass unter seinem Dach in ungewöhnlichem Ausmaß Vertreter unterschiedlicher Stände vereint waren. Angesichts der Tatsache, dass die spätmittelalterlichen Landfriedenseinungen weitgehend homogen auf Adel und Fürsten konzentriert waren und selbst der eidgenössische Landfriedensbund aus Städten und Landgemeinden ständisch weniger divergierte, gründete der Institutionalisierungsschub des Schwäbischen Bund im Jahr 1500 im Bestreben, die enormen ständischen Fliehkräfte, die durch die Mitgliedschaft von Städtern, Adel und Fürsten vorhanden waren, zu bändigen. Eine vermittelnde Funktion wuchs offenbar gerade den Juristen zu, denn sie standen häufig in fürstlichen Diensten oder waren an fürstlichen Universitäten ausgebildet. Ihr biographischer Hintergrund war meist ein städtisch-bürgerlicher, doch verfügten sie in den Spitzenpositionen über ein Sozialkapital, das den Abstand zum niederen Adel überbrücken konnte. Es war also in diesem Fall eine soziale Dimension, die juristischer Expertise das Potential verschaffte, die eigenen Wissensbestände ständeübergreifend zur Geltung zu bringen. In einer „transzendental“ gewendeten Sprache des Denkrahmens oder Denkstils³⁰ wäre dies eine Bedingung der Möglichkeit für eine ständeübergreifende Akzeptanz juristischer Expertise. Die Entwicklung im Landfriedensbund illustriert damit auch soziale Voraussetzungen einer Generalisierbarkeit juristischer Wissensbestände in der Frühen Neuzeit. Die entsprechenden Voraussetzungen kamen im Landfriedensbund um 1500 auch deshalb zum Tragen, weil es gerade die juristisch ausgebildeten Räte der Fürsten waren, die diesen Prozess anstießen und sich dann in den neugeschaffenen Strukturen einrichteten. Die fürstlichen Räte verkörperten zudem juristische Expertise gerade dort, wo auch heute der Expertenbegriff am ehesten Verwendung findet, in der Politikberatung.³¹ Dass sich in diesem Prozess früh Eigeninteressen
Vgl. die Einführung von Anette Baumann sowie grundsätzlich Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die historische Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 74), S. 22–24. Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hrsg.): Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive. Berlin 2004; Eric J. Engstrom/Volker Hess/Ulrike Thoms (Hrsg.): Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2005; Carola Westermeier: Einleitung: Sicherheitsexperten –
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der Experten geltend machten, belegen Divergenzen zwischen Bundesrichtern und ihren ursprünglichen fürstlichen Dienstherren, denen sie in ihrer neuen Rolle als Bundesfunktionäre nicht mehr verpflichtet waren. Ausgerechnet die Fürsten fremdelten am meisten mit solch überständischer Schiedsgerichtsbarkeit und protestierten wiederholt dagegen, vor ordinären Juristen als nicht standesgleichen bzw. standesgemäßen Schiedsrichtern ihr Recht verfechten zu müssen.³² Auch vor diesem Hintergrund ist der Institutionalisierungsprozess, der aus dem Schiedsgericht gleichsam eine Bundesbehörde machte, besser nachvollziehbar, denn dies offerierte eine Schutzfunktion für richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, von der die Effizienz und Akzeptanz des Bundesgerichts abhing. Als Bundesrichter hat sich beispielsweis Reuchlin bei Versuchen von Fürsten, ihn unter Druck zu setzen, immer wieder geradezu hinter den Bundesinstitutionen zu verschanzen gesucht. 1512 kündigte er konsequenterweise, weil die Bundesversammlung ihn nicht gegen Compulsorialbriefe von Seiten des Kammergerichts, das die Herausgabe von Akten erzwingen wollte, schützen wollte.³³ Wenn gerade die fürstlichen Räte dafür stehen, juristische Expertise auch für andere Handlungsfelder als Rechtsprechung fruchtbar zu machen, dann sei der Vollständigkeit halber ergänzt, dass im Bund auch die oratorischen Fähigkeiten der Juristen nachgefragt wurden. Es blieb der Bundesversammlung unbenommen, ebenfalls als Schlichtungsinstanz zu fungieren, und vor diesem öffentlichen Forum traten dann bevorzugt Juristen als Redner auf.³⁴ Ihre oratorischen Fähigkeiten fußten auf etablierten Traditionen der Gerichtsrede, was sie befähigte, nicht nur in schriftlicher, sondern auch in mündlicher Kommunikation spezifische rhetorische Expertise ausspielen zu können. Die konkrete Rechtsprechung der Bundesrichter lässt sich hingegen nur schwer erfassen. Auf die Frage, welche Wissensbestände die Richter denn konkret für ihre Spruchtätigkeit in Landfriedensangelegenheiten in Anspruch genommen haben, welche Rechtsnormen beispielsweise in ihrer Spruchpraxis konstitutiv für Landfriedensrecht waren, lässt sich allenfalls auf die im Einzelfall nur schwer fassbaren Urteile rekurrieren. Prozesse vor dem Bundesgericht haben sich fast ausschließlich in Vorakten des Reiskammergerichts erhalten, wenn dort auf Entscheidungen des Bundesgerichts Bezug genommen wurde, und in wenigen Ausnahmefällen auch in der archivalischen Überlieferung der Parteien. Im Unterschied etwa zum Reichs-
Experten und Versicherheitlichung, in: Westermeier/Carl: Sicherheitsakteure (wie Anm. 3), S. 239– 255, hier: S. 243–249. Carl: Schwäbischer Bund (wie Anm. 19), S. 374 f. Der Fall dargestellt bei Ackermann: Der Jurist Johannes Reuchlin (wie Anm. 27), S. 143–147; Carl: Schwäbischer Bund (wie Anm. 19), S. 388. Ebd., S. 384.
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kammergericht fehlen erst recht solche Quellen wie die Richterprotokolle, mit deren Hilfe man die juristischen Entscheidungsprozesse nachvollziehen kann.³⁵ Wegen der personellen Nähe zum Reichskammergericht und der Kompatibilität zu den dort anhängigen Prozessen lässt sich jedoch mit guten Gründen annehmen, dass man in den Prozessen vor dem Bundesgericht nach 1500 nichts finden wird, was nicht auch aus den Reichskammergerichtsprozessen bekannt ist. In einer Hinsicht aber spielten Bundesrichter und Bundesgericht Vorreiter, nämlich in der Frage, ob und wie Konfessionsstreitigkeiten zu Agenden des Landfriedensrechts werden konnten. Auf entsprechende Konflikte, die sich beispielsweise an reformatorischen Eingriffen in Kirchenrechte oder kirchliche Besitzrechte entzünden konnten, reagierte das angerufene Bundesgericht schon in den 1520er Jahren mit einem Restitutionsverfahren, das von Adolf Laufs als eine Art „vorläufiges Verfahren zum Landfriedensschutz“ charakterisiert worden ist.³⁶ Der Bund nahm, um einseitige Schaffung von Tatsachen zu verhindern, das strittige Gut bis zur endgültigen gerichtlichen Klärung des Streits in seine Obhut. Dieses Verfahren hatte einen entscheidenden, weil gewaltvermeidenden Vorzug: Der eigentliche Streitfall – z.B. über die Legitimität reformatorischer Eingriffe in Kirchengut – konnte zunächst außen vor bleiben, denn noch ging es nicht um ein juristisches Endurteil. Der Bund war damit nicht gezwungen, sich in heiklen Wahrheitsfragen festlegen zu müssen. Man kann darin eine Möglichkeit der Trennung von weltlichen Rechts- und religiösen Wahrheitsfragen sehen, also eine Möglichkeit, Recht als säkulares Recht anzuwenden. Dass dies allerdings zumindest zu Bundeszeiten kein gangbarer Weg wurde, lag wiederum an der Einseitigkeit dieses Verfahrens selbst, denn es ging durchweg zu Lasten der Protestanten, deren Eingriffe in den Status quo damit zunächst einmal unterbunden wurden. Im Vorgriff auf die Rekusationen des Reichskammergerichts lehnten die Protestanten deshalb auch das Bundesgericht in Religionsangelegenheiten schließlich ab. Bei der Justiznutzung bzw. der Justizverweigerung in Landfriedensangelegenheiten lassen sich Bundes- und Reichskammergericht mithin parallelisieren. Wenn es um die Bedingung von Möglichkeiten der spezifischen Kompetenz von Juristen bei der Landfriedenswahrung geht, sei schließlich auf eine basale Eigenschaft juristischer Praxis verwiesen: der Zeitfaktor in juristischen Entscheidungs-
Anette Baumann: Die Tatbestände Landfriedens- und Religionsfriedensbruch am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert, in: Hendrik Baumbach/Horst Carl (Hrsg.), Landfrieden – epochenübergreifend. Neue Perspektiven der Landfriedensforschung auf Verfassung, Recht, Konflikt. Berlin 2018 (Beihefte der ZhF, Bd. 54), S. 233–254, hier: S. 235–238.Vgl. auch die Einleitung zum vorliegenden Band. Lauf: Schwäbischer Reichskreis (wie Anm. 19), S. 119 f.; Carl: Ausloten von Grenzen (wie Anm. 14), S. 129.
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prozessen.³⁷ Die für einen Landfriedensbund konstitutive Nötigung der Mitglieder und Nichtmitglieder, zur Vermeidung eigenmächtiger Gewaltausübung Konflikte auf den Rechtsweg zu verweisen, bedeutete nahezu zwangsläufig, dass eine zeitnahe oder rasche Konfliktregelung unwahrscheinlich oder unmöglich wurde. Der Konflikt wurde bei solchem Prozedere im Wortsinn „auf die lange Bank geschoben“ – wiederum nicht anders als beim Reichskammergericht.³⁸ Die gewaltsame Lösung von Konflikten versprach demgegenüber zwar eine rasche Lösung, und bei den vergleichsweise kurzen Fehden oder Kampagnen spätmittelalterlicher Kriege war dies auch kein kontrafaktisches Versprechen. Aber dass mithilfe von Gewalt keine nachhaltige Sicherheit produziert wurde, war gerade im spätmittelalterlichen Reich eine manifeste gesellschaftliche Erfahrung. Demgegenüber wirkte schon die entschleunigende Inanspruchnahme des Rechtsweges pazifizierend, ganz gleich, wie dann weiter prozessiert wurde, also die konkreten juristischen Wissensbestände abgerufen und umgesetzt wurden. Aus der Perspektive eines damit einhergehenden Gewaltverzichts war es deshalb auch zweitrangig, ob es zu Urteilen oder Vergleichen kam – Hauptsache war, dass auf Gewalt solange verzichtet wurde. Winfried Schulze hat dies auf den bekannten Begriff einer „Verrechtlichung sozialer Konflikte“ als Charakteristikum des Reichs im 16. Jahrhundert gebracht.³⁹ Aus der Perspektive einer historischen Sicherheitsforschung kann man die pazifizierende Expertise der Juristen für den Landfrieden vielleicht daran festmachen, dass sie nicht auf Zuspitzung und Dramatisierung⁴⁰, sondern Entschleunigung und Entdramatisierung durch Verfahren und Routine zielte.
Zur Temporalität als Kategorie einer historischen Sicherheitsforschung vgl. grundsätzlich Christoph Kampmann/Angela Marciniak/Wencke Meteling (Hrsg.): „Security turns its eye exclusively to the future“. Zum Verhältnis von Sicherheit und Zukunft in der Geschichte. Baden-Baden 2018 (Politiken der Sicherheit/Politics of Security, Bd. 3). Konrad Krimm: Geschichte auf der langen Bank: Eine Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart über das Reichskammergericht, in: Archivnachrichten 6, 3. https://doi.org/10.53458/an.vi6. 4739 (Stand: 24.01.2023); das Stichwort ist auch für Arbeiten zum Reichshofrat in Anspruch genommen worden, vgl. Sabine Ullmann: Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576). Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte, Bd. 214). Winfried Schulze: Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.), Europäische Bauernrevolten der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1982, S. 276–308, hier: S. 279, 294 f. Darauf reflektiert der Begriff der „securitisation“ in den security studies: Ole Waever: Securitization and Desecuritization, in: Ronnie D. Lipschutz (Hrsg.), On Security. New York 1995, S. 46–86. Zur Relevanz dieses Modells für eine historische Sicherheitsforschung vgl. Christoph Kampmann/ Horst Carl: Historische Sicherheitsforschung und die Sicherheit des Friedens, in: Dingel (Hrsg.): Handbuch Frieden im Europa der Frühen Neuzeit (wie Anm. 28), S. 529–550.
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Allerdings hatte diese Justizialisierung der Landfriedenswahrung für das Schiedsgericht des Landfriedensbundes eine paradoxe Konsequenz: Wenn sich dieses in Zusammensetzung und Prozedere kaum noch von einem ordentlichen Gericht wie dem Reichskammergericht unterschied, dann machte es sich damit auch überflüssig. Spezifische Vorzüge eines Schiedsgerichtes wie die Möglichkeit schneller und für den Einzelfall passfähiger Reaktion sowie die soziale Akzeptanz des Gerichts durch direkte Beteiligung der Parteien kamen nicht mehr zur Geltung. Auch dies war einer der Gründe dafür, dass nachfolgende Einungen und Bünde auf ein eigenes Schiedsgericht verzichteten. Als Gerichtsforen der Landfriedenswahrung standen denjenigen Ständen, die eine rechtliche Regelung anstrebten, nunmehr unbestritten das Reichskammergericht sowie die zahlreichen Territorialgerichte zur Verfügung. Eine zweite paradoxe Konsequenz der Justizialisierung der Landfriedenswahrung lässt sich im 16. Jahrhundert beobachten: Erst mit dem 1580 erschienenen autoritativen Werk des langjährigen Reichskammergerichtsassessors und späteren Reichshofrates Andreas Gail (1526–1587) „De pace publica“ wurde eine Definition vorgelegt, was denn juristisch als Landfriedensmaterie und dementsprechend als Landfriedensbruch zu gelten habe.⁴¹ Im Zusammenhang der intensiven Rechtsprechung zum Landfriedensrecht im gesamten 16. Jahrhundert gemahnt dies an die Metapher von der Eule der Minerva, die ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt:⁴² Die systematische Erklärung und Einordnung von Phänomenen sei erst retrospektiv möglich, wenn deren Realität oder Relevanz diffus wurde und verblasste. Seine überragende verfassungsgeschichtliche Bedeutung für das Heilige Römische Reich, für die der Ewige Landfrieden von 1495 stand, ging gegen Ende des 16. Jahrhunderts allmählich verloren. Stattdessen verlagerte sich Landfrieden in der Rechtspraxis der Juristen immer mehr auf die Ebene territorialer Gerichte und Rechtsprechung, um schließlich in erster Linie zum Thema frühneuzeitlicher Polizeiordnungen zu werden.⁴³ Aus Sicht einer historischen Sicherheitsforschung ließe sich aber auch diese Form der „Entsicherheitlichung“ (Desecuritization)⁴⁴ als eine spezifische Leistung juristischer Expertise veranschlagen. Andreas Gail: De pace publica et eius violatoribus, atque proscriptis sive bannitis imperii. Köln 1580; Baumann: Tatbestände (wie Anm. 35), S. 233 f. So in der bekannten Diktion Hegels. Georg Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt a. M. 1972, S. 14. Karl Härter: Von der Friedenswahrung zur „öffentlichen Sicherheit“: Konzepte und Maßnahmen frühneuzeitlicher Sicherheitspolicey in rheinländischen Territorien, in: RhVjbll 67 (2003), S. 162–190; ders.: Security and „gute Policey“ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, in: Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf/Magnus Ressel (Hrsg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History. Historical Social Research (special issue) 35, no. 4, 2010, S. 41–65. Im Sinne eines Verlustes an gesellschaftlichem Gefährdungs- und Aufmerksamkeitspotenzial, vgl. Waever: Securitisazion and Desecuritization (wie Anm. 40).
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Theologen als Rechts- und Wirtschaftsexperten: Ein Beispiel aus der Jesuitenmoral des frühen 17. Jahrhunderts Moral versus Moralismus Der Grund, warum katholische Theologen, insbesondere Jesuiten, interessante Quellen für die Analyse der Entwicklung juristischer Expertise in der frühen Neuzeit sind, liegt darin, dass sie juristisches Fachwissen (scientia iuris) als Grundlage für moralische Urteile für unverzichtbar hielten.¹ Nach Ansicht der frühneuzeitlichen Jesuiten ist die Kombination der Anwendung eines ausgefeilten analytischen Denkrahmens und der sorgfältigen Beobachtung der empirischen Wirklichkeit vor Ort erforderlich, bevor moralische Urteile über diese Realität gefällt werden können. Sie waren der Meinung, dass gute Absichten und das individuelle Gewissen, obgleich notwendig, keine hinreichende Grundlage für ein vernünftiges moralisches Urteil sind. Sie müssen durch eine fundierte rechtliche und wirtschaftliche Analyse ergänzt werden, die von Experten durchgeführt wird, nicht nur von wohlmeinenden Einzelpersonen. Einer der Hauptgründe, warum die Jesuiten die Lehren Martin Luthers ablehnten, war übrigens, dass er versucht hatte, eine moralische Ordnung aufzubauen, die sich allein auf den Glauben, die Gnade und die Heilige Schrift stützte und dabei den Gebrauch der scholastischen Tradition ablehnte, die sich stark auf juristische Argumentation (römisches Recht und kanonisches Recht) und Moralphilosophie (Aristoteles und Thomas von Aquin) gestützt hatte. Die Reaktion der Jesuiten auf die Bedrohung durch Luther bestand, wie die Reaktion der dominikanischen Theologen in Salamanca, gerade darin, den rechtlichen Charakter ihrer moraltheologischen Lehren zu bekräftigen.² Sie beauftragten die Beichtväter mit der Aufgabe, das individuelle Gewissen auf der Grundlage ihres juristischen und ökonomischen Fachwissens zu leiten.
Der Aufsatz stellt die deutsche, leicht überarbeitete Fassung eines Aufsatzes dar, der zuerst auf Englisch erschienen ist: Wim Decock: Knowing before Judging: Law and Economic Analysis in Early Modern Jesuit Ethics, in: Journal of Markets and Morality 21 (2018), S. 309–330. Dieses Argument wurde weiter entwickelt in Wim Decock: From Law to Paradise: Confessional Catholicism and Legal Scholarship, in: Rechtsgeschichte – Legal History 18 (2011), S. 12–34, dessen aktualisierte Fassung über Brill’s Jesuit Historiography Online verfügbar ist: . https://doi.org/10.1515/9783111070346-007
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Lessius, Recht (Ius) und Verträge Anliegen dieses Artikels ist es also zu zeigen, dass die Verwendung der Rechtssprache die Jesuiten in der frühen Neuzeit in die Lage versetzte, die Herausforderung der Komplexität bei der Erteilung moralischer Ratschläge zu bewältigen und zu verhindern, dass die Moral in „Moralismus“ umschlägt. Juristisches und wirtschaftliches Fachwissen galten als unabdingbare Kenntnisse für einen Jesuitenbeichtvater, um in moralischen Fragen zu beraten. Dieser Punkt wird im Folgenden verdeutlicht werden, indem die moraltheologischen Schriften vor allem eines Jesuiten untersucht werden, nämlich von Leonardus Lessius (1554–1623), einem der berühmtesten Jesuiten aus den Niederlanden.³ Es gibt mehrere gute Gründe, sich auf Lessius zu konzentrieren. Erstens ist Lessius weithin als einer der Väter der Wirtschaftsanalyse anerkannt, zusammen mit anderen Jesuiten wie Luis de Molina (1535–1600) und Juan de Lugo (1583–1660). Richard Dempsey, Joseph Schumpeter, Barry Gordon, Murray Rothbard, Louis Baeck und Bertram Schefold sind nur einige der bekanntesten Historiker des ökonomischen Denkens, die seinen bahnbrechenden Beitrag zur Geburt der Wirtschaftsanalyse hervorgehoben haben.⁴ Zweitens fungierte Lessius als eine Art Vermittler zwischen der sogenannten „Schule von Salamanca“ und den protestantischen Naturrechtlern des 17. Jahrhunderts. Er war zum Beispiel eine wichtige Inspirationsquelle für Hugo Grotius (1583– 1645). Die Kontinuität zwischen Lessius und Grotius wurde insbesondere von Rechtshistorikern wie Robert Feenstra, James Gordley, Nils Jansen und Laurent Waelkens hervorgehoben.⁵ Drittens ist Lessius ein gutes Beispiel für den tiefgreifenden Einfluss, den das Collegio Romano, die von Papst Gregor XIII. gegründete Jesuiten-Universität in Rom, auf die Entwicklung der katholischen Moraltheologie in der frühen Neuzeit ausübte. Lessius studierte von Mai 1583 bis April 1584 an der Gregorianischen Universität. Während seiner Zeit in Rom lernte Lessius Francisco Suárez (1548–1617) und Roberto Bellarmino (1542–1621) kennen. Als Professor für Moraltheologie am Jesuitenkolleg in Löwen von 1585 bis 1600 sollte Lessius in den
Toon Van Houdt: Leonardus Lessius over lening, interest en woeker: De iustitia et iure, lib. 2, cap. 20: editie, vertaling en studie. Brüssel 1998. Für eine kürzere biografische Einführung in englischer Sprache, siehe Wim Decock/Nicholas De Sutter: Lessius on Sale, Securities, and Insurance. Grand Rapids 2016. Bertram Schefold (Hrsg.): Leonardus Lessius: Vademecum zu einem Klassiker der spätscholastischen Wirtschaftsanalyse. Düsseldorf 1999, mit Hinweisen auf weiterführende Literatur zur Bedeutung von Lessius als Urvater der modernen Wirtschaftsanalyse. Siehe die Einleitung in Nils Jansen (Hrsg.): Leonardus Lessius: De iustitia et iure caeterisque virtutibus cardinalibus. Über die Gerechtigkeit und das Recht und die übrigen Kardinaltugenden, übersetzt von Klaus Wille, unter Mitarbeit von Konstantin Liebrand. Stuttgart 2020, Bd. 1.
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südlichen Niederlanden zur Wiederbelebung der Scholastik, die er am Collegio Romano erlebt hatte, einen entscheidenden Impuls geben. Die Komplexität, mit der die Jesuiten seit der Gründung des Ordens im Jahr 1540 konfrontiert waren, war gewaltig. Die Jesuiten lebten in der ersten globalisierten Welt, infolge der Entdeckung Amerikas und der Ausdehnung des spanischen bzw. portugiesischen Reiches bis in die entlegensten Randgebiete Afrikas und Ostasiens.⁶ Jesuiten wurden als Astronomen an den kaiserlichen Hof in China berufen, andere fungierten als Makler für portugiesische Händler in Japan, einige leiteten sogar politische Experimente in Paraguay und Äthiopien. Sie förderten Bildung, Wissenschaft und Kunst von Paris bis Peking und Puebla.⁷ Am relevantesten für uns ist jedoch, dass der Jesuitenorden zu einem Zeitpunkt in der Geschichte gegründet wurde, als die internationalen Handelsbeziehungen und Finanzmärkte in einem noch nie dagewesenen Ausmaß wuchsen, insbesondere im spanischen Reich. Diese Entwicklungen verlangten ein neues Nachdenken darüber, wie man sowohl ein guter Christ als auch ein guter Geschäftsmann sein konnte oder anders, ein erfolgreicher Bankier und ein strenggläubiger Mensch. Es wurden Fragen zur Legitimität des Gewinnstrebens, zu neuen Finanzpraktiken und zur öffentlichen Politik aufgeworfen. Dadurch entstand eine große Nachfrage nach fachkundigen Beichtvätern, die bereit waren, die neuen Herausforderungen zu verstehen, mit denen sich Händler und Fürsten konfrontiert sahen, während sie gleichzeitig das Seelenheil der Menschen (salus animarum) garantierten.⁸ Die Jesuiten beobachteten diese steigende Nachfrage nach moralischem Rat und reagierten darauf, indem sie sich darin schulten, angemessene Antworten zu geben. Für die Jesuiten kam die Antwort auf die Herausforderungen der neuen Welt zum Teil aus der Stärkung der thomistischen Theologie – besonders wie sie von den dominikanischen Theologen an der Universität von Salamanca gefördert wurde⁹ – und zum Teil aus dem verstärkten Gebrauch der römisch-kanonischen Rechtstradition. Mehr noch als berühmte Dominikanermönche des sechzehnten Jahrhun-
Für eine kurze und sehr lesenswerte Einführung, siehe John W. O’Malley: The Jesuits: A History from Ignatius to the Present. Lanham 2014. John W. O’Malley et al. (Hrsg.): The Jesuits: Cultures, Sciences and the Arts: 1540–1773. Toronto 2006. Zur Rolle der Jesuiten als Beichtväter der Fürsten, siehe Harro Höpfl: Jesuit Political Thought: The Society of Jesus and the State, c. 1540–1640. Cambridge 2004; Nicole Reinhardt: Voices of Conscience. Royal Confessors and Political Counsel in Seventeenth-Century Spain and France. Oxford 2016. Zu den dominikanischen Theologen in Salamanca und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des ökonomischen Denkens, siehe Majorie Grice-Hutchinson: The School of Salamanca: Readings in Spanish Monetary Theory 1544–1605. Oxford 1952. Für einen nützlichen Überblick über die neuere Literatur, die zu diesem Thema veröffentlicht wurde, siehe Celia Alejandra Ramírez Santos/José Luis Egío García: Conceptos, autores, instituciones. Revisión crítica de la investigación reciente sobre la Escuela de Salamanca (2008–2019) y bibliografía multidisciplinar. Madrid 2020.
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derts wie Francisco de Vitoria (1483/1492–1546), Domingo de Soto (1494–1560), Tomas de Mercado (c. 1520–1575) und Domingo Bañez (1528–1604) wendeten sich die Jesuiten dem Recht (ius) als dem Instrument zu, das sie befähigen konnte, nuancierte Antworten auf anspruchsvolle moralische Fälle zu finden. Es lohnt sich, die Aufmerksamkeit auf das lateinische Wort für „Recht“ zu lenken, nämlich ius. ¹⁰ Dabei handelt es sich um einen Korpus von Rechtsnormen, dessen Bedeutung weit über den modernen Begriff des „Rechtes“ hinausgeht. Es umfasst zum Beispiel auch die Rechte und Normen, die sich aus dem Naturrecht (ius naturale) und dem göttlichen Recht (ius divinum) ergeben.¹¹ Heute wird „Recht“ in den westlichen Demokratien vor allem mit der Tätigkeit der „Gesetzgeber“, also der gewählten Politiker, in Verbindung gebracht. Der Inhalt von Normen wird durch den Willen der „Gesetzgeber“ bestimmt, und zwar vor dem Hintergrund einer Rechtsordnung, deren Merkmale im Wesentlichen voluntaristisch sind. Dieser voluntaristische Gedanke ist jedoch nicht der einzige Sinn, in dem die Jesuiten an Recht dachten. Im Gegenteil, man nahm an, dass ius auch eine Art von rationaler Ordnung beinhaltet, insbesondere die rationale Ordnung des ius naturale. Da das Recht viel weiter gedacht wurde als heute, wurde auch das Wissen über das Recht als die Wissenschaft von einer viel breiteren Rechtsordnung (iurisprudentia oder „Juris-prudenz“) gedacht, insbesondere von den verschiedenen Bestandteilen derselben (z. B. göttliches Recht, bürgerliches Recht, kirchliches Recht, Naturrecht) und der Art und Weise, wie diese verschiedenen Bestandteile untereinander zusammenwirken. Sowohl Juristen als auch Theologen waren Experten darin, das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Schichten der Rechtsordnung zu verstehen.¹² Aus dem Naturrecht leiteten die einzelnen Bürger natürliche Rechte ab, die sie vor ungerechten Gesetzen schützen konnten, insbesondere vor Normen, die nur das Produkt beliebiger, irrationaler staatlicher Regulierung waren.¹³ Ein hervorragendes Beispiel für das kritische Potenzial dieses erweiterten Rechtsbegriffs sehen wir im Werk von Juan de Mariana (1536–1624). Mariana kritisierte die laxen Geldveränderungsgesetze gerade mit der Begründung, dass diese staatlichen Eingriffe die grundlegende Rechtsordnung (ius) und die aus dieser Ordnung abgeleiteten Eigentumsrechte der Bürger
Vgl. die Überlegungen zu ius in Kenneth Pennington: Lex naturalis und ius naturale, in: The Jurist 68 (2008), S. 569–591. Wim Decock: Theologians and Contract Law: The Moral Transformation of the Ius commune (ca. 1500–1650). Leiden/Boston 2013, S 82–86. James Gordley: The Jurists: A Critical History. Oxford 2013, insbesondere Kap. 2 über das ius commune und Kap. 3 über die Spätscholastiker. Siehe z. B. Matthias Kaufmann: Subjektive Rechte als Grenzen der Rechtssetzung bei Luis de Molina, in: Kirstin Bunge et al. (Hrsg.), Kontroversen um das Recht. Beiträge zur Rechtsbegründung von Vitoria bis Suárez. Stuttgart/Bad Cannstatt 2013, S. 291–310.
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verletzten.¹⁴ Umgekehrt konnten politische Entscheidungen als gewissensverbindlich angesehen werden, wenn sie im Einklang mit rationalen Prinzipien und dem Naturrecht standen. So diskutierten frühneuzeitliche Theologen heftig die Frage, ob staatlich verordnete Getreidehöchstpreise auch naturrechtlich, also im Gewissen, verbindlich sein könnten.¹⁵ Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir, wenn wir über Recht im Kontext der frühneuzeitlichen jesuitischen Ethik sprechen, darauf achten sollten, es im weiteren Sinne von ius zu verstehen. Besonderes Augenmerk ist auf die pluralistische Natur des ius und sein Potenzial zur Verteidigung subjektiver Rechte gegen willkürliche Rechtssetzung zu richten. Ein Teil des römisch-kanonischen Rechts (auch utrumque ius genannt, aufgrund der engen Beziehung zwischen dem Studium des römischen Rechts und des kanonischen Rechts in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtskultur), den die Jesuiten als besonders nützlich für ihre Zwecke betrachteten, war das Vertragsrecht. Das Vertragsrecht bot ihnen ein Rahmenwerk von Konzepten, um sich mit der Realität auseinanderzusetzen. So gut wie jede einzelne kommerzielle Transaktion könnte in der Tat rechtlich als ein Bündel von Rechten und Pflichten analysiert werden, das durch die Willensübereinstimmung der an der Transaktion beteiligten Parteien entsteht. Darüber hinaus könnte das Vertragsrecht in thomistischen Begriffen formuliert werden, indem man annimmt, dass es der Tugend der kommutativen Gerechtigkeit (justitia commutativa) unterliegt.¹⁶ Auf diese Weise wurde von Jesuiten wie Molina, Lessius und Lugo eine Synthese von moralischem und juristischem Wissen über Verträge und Handelsgeschäfte geformt, die wiederum Rechtsgelehrte wie Hugo Grotius (1583–1645), Samuel Stryck (1640–1710), Giovanni Battista de Luca (1614–1683), Robert Joseph Pothier (1699–1772) und Andres Bello (1781–1865) beeinflusste und ihre Spuren in den Rechtssystemen Kontinentaleuropas und Lateinamerikas hinterließ.¹⁷ Ein besonders umfangreiches, vierbändiges Werk über Verträge (De contractibus) wurde 1646 von Pedro de Oñate (1568–1646) in Rom veröffentlicht. Oñate wurde in Valladolid in Spanien geboren, wurde aber schließlich Provinzial der Jesuitenprovinz in Paraguay und Professor am Colegio Máximo de San Pablo de Lima in
Wim Decock: Quantitative Easing Four Centuries Ago: Juan de Mariana’s De monetae mutatione (1609), in: John Witte Jr./Sara McDougall/Anna di Robilant (Hrsg.), Texts and Contexts in Legal History: Essays in Honor of Charles Donahue. Berkeley 2016, S. 367–379. Wim Decock: Collaborative Legal Pluralism: Confessors as Law Enforcers in Mercado’s Advice on Economic Governance (1571), in: Rechtsgeschichte – Legal History 25 (2017), S. 103–114. Zur übergreifenden Bedeutung dieser Kardinaltugend in der jesuitischen Analyse von Rechtsund Wirtschaftsfragen siehe Diego Alonso Lasheras: Luis de Molina‘s De iustitia et iure: Justice as Virtue in an Economic Context. Leiden/Boston 2011. James Gordley: The Philosophical Origins of Modern Contract Doctrine. Oxford 1991.
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Peru.¹⁸ In der Einleitung zu seiner Abhandlung über Verträge verwendete Oñate drei Adjektive, um die Bedeutung seines Werkes über Verträge zu unterstreichen: Es sei ein Thema, das „extrem umfangreich“, „extrem schwierig“ aber auch „extrem nützlich“ sei.¹⁹ Die Myriaden von Verträgen, die jeden Tag abgeschlossen werden, so warnte Oñate seine Leserschaft, bildeten einen Ozean, der tief, geheimnisvoll und launisch sei. Verträge seien das unvermeidliche Mittel, mit dem der Mensch seinen Weg entweder zur Rettung oder zur Zerstörung seiner materiellen Güter – und seiner Seele – steuern könne. Daher hielt er Fachkenntnisse auf dem komplexen Gebiet des Vertragsrechts für Beichtväter, die eine nuancierte Lösung praktischer Gewissensfälle benötigten, für unverzichtbar. Jeder Vertrag galt als Ausdruck einer moralischen Entscheidung für tugendhaftes Verhalten oder Laster, für Geiz oder Freigebigkeit, für Gerechtigkeit oder Betrug. Oñate pries die Vertragsfreiheit, d. h. das Prinzip, dass alle Vereinbarungen aufgrund der einfachen Willensübereinstimmung der Parteien verbindlich sind. Diese einvernehmliche Herangehensweise erlaubte es den Vertragspartnern, ihre Freiheit (libertas) voll in Anspruch zu nehmen, so Oñate.²⁰ Er sah den freien Willen der Parteien als Grundlage der gesamten Vertragslehre (cardo et basis totius materiae contractuum) und berief sich auf die Notwendigkeit, das Privateigentum zu schützen.²¹ In Oñates Augen waren Privateigentum und Vertragsfreiheit zwei Seiten derselben Medaille. Der Mensch wäre nicht der wahre und vollkommene Eigentümer seiner Güter, wenn er nicht durch vertragliche Vereinbarung über sie verfügen könnte, wann er wollte, mit wem er wollte, auf welche Weise auch immer er wollte. Starke Eigentumsrechte erforderten die Vertragsfreiheit. Gregorio de Valentia, ein in Ingolstadt lehrender Jesuitenkollege, sprach vom Recht des Einzelnen, seine eigenen Güter zu lieben (ius amandi proprias res).²² Juan de Mariana war sehr misstrauisch gegenüber Gesetzen und Maßnahmen, welche die Eigentumsrechte der Bürger verletzen könnten, und betrachtete die Geldentwertung ohne Zustimmung des Volkes als eine Form des verdeckten Raubes durch die Regierung.²³ Eigentum und Verträge standen auch im Mittelpunkt von Leonardus Lessius Über die Gerechtigkeit und das Recht und die übrigen Kardinaltugenden (De iustitia et iure ceterisque virtutibus cardinalibus), einer Abhandlung, die sich u. a. mit der Ethik
Oreste Popescu: Latin American Scholastics, in: S. Todd Lowry/Barry Lewis John Gordon (Hrsg.), Ancient and Medieval Economic Ideas and Concepts of Social Justice. Leiden/Boston 1998, S. 567. Decock: Theologians and Contract Law (wie Anm. 11), Prolog. Decock: Theologians and Contract Law (wie Anm. 11), S. 2. Decock: Theologians and Contract Law (wie Anm. 11), S. 169. Decock: Theologians and Contract Law (wie Anm. 11), S. 595. Decock: Quantitative Easing (wie Anm. 14), S. 365.
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des Marktes befasste und 1605 erstmals in Löwen veröffentlicht wurde.²⁴ Wesentliche Ergänzungen finden sich in den späteren Bänden, die von Plantin-Moretus in Antwerpen herausgegeben wurden (z. B. war der Anhang über die „Berge der Barmherzigkeit“ (montes pietatis), öffentliche Kreditinstitute, in der ersten Fassung nicht enthalten, ebenso wenig wie seine Diskussion über Monopole).²⁵ Er nutzte diese Abhandlung als theoretischen Rahmen, um die Erzherzöge Albert (1559–1621) und Isabelle (1566–1633) und die Geschäftsleute auf dem Antwerpener Markt zu beraten. Seine Zeitgenossen betrachteten Lessius als „das Orakel der Niederlande“. Juristen seiner Zeit hielten ihn für die beste Quelle, wie Geldverkehr und Wechsel in der Praxis funktionierten. Lessius wurde berühmt für seine Verteidigung des Prinzips der Vertragsfreiheit, indem er die Entstehung von vertraglichen Verpflichtungen in Begriffen von Angebot und Annahme erklärte. Er betrachtete die Verbindlichkeit von Verträgen als eine Angelegenheit des Naturrechts und bestand daher darauf, dass Vereinbarungen auch unter Geschäftsleuten, die nicht denselben christlichen Glauben teilten, eingehalten werden sollten²⁶ – ein Problem, das auf dem Antwerpener Marktplatz häufig dort auftrat, wo anglikanische Kaufleute aus England mit katholischen Kaufleuten aus Spanien, lutherischen Geschäftsleuten aus dem Heiligen Römischen Reich und calvinistischen Händlern aus den nördlichen Niederlanden handelten. Er schrieb über viele Themen, die wir heute als Teil der Moral des Marktes betrachten würden wie z. B. die Gerechtigkeit von Spekulation und Insider-Handel, marktbeherrschende Stellungen, Finanzmärkte, Ramschanleihen und Auktionen.
Die Moral des Handelskapitalismus Ein besonders interessanter Fall zur Veranschaulichung der Anwendung von juristischer und ökonomischer Expertise bei der Bildung des moralischen Urteils ist
Für einen allgemeinen Überblick über den Inhalt der für das Privatrecht relevanten Teile in Lessius Abhandlung siehe Wim Decock: Law of Property and Obligations: Neoscholastic Thinking and Beyond, in: Heikki Pihlajamäki/Markus Dubber/Mark Godfrey (Hrsg.), The Oxford Handbook of European Legal History. Oxford 2018, S. 611–631. Verschiedene Ausgaben der gleichen scholastischen Werke können sich in der Tat erheblich unterscheiden. Siehe Wim Decock/Christiane Birr: Recht und Moral in der Scholastik der Frühen Neuzeit 1500–1750. Berlin 2016, S. 57–58. Wim Decock: Trust Beyond Faith. Re-Thinking Contracts with Heretics and Excommunicates in Times of Religious War, in: Rivista internazionale di diritto comune 27 (2016), S. 310. Mit seinen Auffassungen hat Lessius auch die konfessionsübergreifende Vertragslehre von Martin Becanus geprägt, cf. Wim Decock/Isabelle Buhre/Tobias Dienst/Christoph Strohm: Martinus Becanus. On the Duty to Keep Faith with Heretics. Grand Rapids 2019.
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die sogenannte „5 %-Kontroverse“ oder Auseinandersetzung über den „dreifachen Vertrag“ (contractus trinus).²⁷ Dieser Rechtsbegriff wurde verwendet, um eine Praxis der Finanzierung kommerzieller Geschäfte zu erfassen, die im frühneuzeitlichen Europa weit verbreitet war. Händler liehen sich für ein Geschäftsvorhaben Geld von Investoren und versprachen diesen, dass sie das investierte Geld am Ende des Projekts zurückgeben und gleichzeitig jährlich Dividenden ausschütten würden. Offensichtlich war dies eine alternative Möglichkeit, Geschäftsleuten Geld gegen Zinsen zu leihen. In der Folge stieß diese Praxis bei traditionell gesinnten Juristen, Theologen und Kirchenrechtlern auf heftigen Widerstand. Lessius jedoch wurde einer der berühmtesten Verfechter dieser Praxis.²⁸ In einer sehr langen dubitatio über den Gesellschaftsvertrag in seiner Abhandlung Über die Gerechtigkeit und das Recht zeigte Lessius, dass diese Praxis nicht rechtswidrig war. Er tat dies auf der Grundlage einer bemerkenswerten Kosten-Nutzen-Analyse dessen, was bei einem solchen Geschäft zwischen einem Unternehmer und einem Kapitalinvestor tatsächlich passiert. Auf der Grundlage dessen, was wir heute als einen „Law and Economics“-Ansatz bezeichnen würden, billigte Lessius eine beliebte Technik zur sicheren Investition von Geld in kommerzielle Unternehmungen – eine Investitionstechnik, die besonders bei Witwen, Mündeln, Bankiers und religiösen Stiftungen beliebt war. Der traditionellen scholastischen Autorität folgend analysierte Lessius diese Praxis zunächst aus juristischer Sicht im Sinne einer Kombination von drei Verträgen. Infolgedessen wurde die Praxis mit dem Fachbegriff „Dreifachvertrag“ (contractus triplex oder contractus trinus) bezeichnet. Bei näherer Betrachtung der Praxis, so Lessius, könne man sie eigentlich als eine Kombination aus drei Verträgen betrachten, nämlich einem Gesellschaftsvertrag (weil beide Parteien etwas zum Zweck der Gründung eines gemeinsamen Unternehmens verleihen), einem Versicherungsvertrag (weil der Händler dem Investor versprochen hat, das gesamte Kapital am Ende des Unternehmens zurückzuzahlen) und einem Kaufvertrag (weil der Händler versprochen hat, dem Investor einen festen jährlichen Preis – die Dividende – zu zahlen, im Austausch für das Recht, den Rest der durch das gemeinsame Unternehmen erzielten Gewinne zu ernten). Wir haben also einen dreifachen Vertrag, bestehend aus einem Gesellschaftsvertrag, einem Versicherungsvertrag und einem Kaufvertrag. Offensichtlich kann dieser Dreifachvertrag als juristischer
Dieser Abschnitt stützt sich auf Untersuchungen, die zuvor ausführlicher veröffentlicht wurden in Wim Decock: The Catholic Spirit of Capitalism? Contrasting Views on Profit-Making Through Capital Investment in the Age of Reformations, in: Ders. et al. (Hrsg.), Law and Religion: The Legal Teachings of the Protestant and Catholic Reformations. Göttingen 2014, S. 22–44. Hans-Jürgen Becker: Das Zinsverbot im lateinischen Mittelalter, in: Matthias Casper/Norbert Oberauer/Fabian Wittreck (Hrsg.), Was vom Wucher übrigbleibt. Tübingen 2014, S. 40.
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Ausdruck der Grundform des „kommerziellen Kapitalismus“ angesehen werden: Ein Investor stellt Kapital zur Verfügung, das in ein kommerzielles Unternehmen investiert werden soll.²⁹ Es ist eine Technik, die für beide Parteien nützlich ist: Es ermöglicht den Kapitalisten (im wahrsten Sinne des Wortes), ihr Geld mit einer Kapitalgarantie und einer festen jährlichen Rendite anzulegen. Umgekehrt können Unternehmer mehr Liquidität aufbringen und erwarten, dass sie fast unbegrenzte Gewinne erzielen. Selbst wenn man diese Geschäftspraxis mit dem Konzept des „Dreifachvertrages“ analysierte, blieben die traditionell orientierten Moraltheologen und Juristen sehr misstrauisch, da die Praxis in Wirklichkeit einem einfachen Darlehen mit Zinsen ähnelte.³⁰ Ein wichtiger Schritt zur Beseitigung dieser Skepsis war der Durchbruch der Vertragsfreiheit. Traditionelle Argumente gegen die Analyse dieser Praxis als Dreifachvertrag und nicht als verzinsliches Darlehen behaupteten, dass es nicht möglich sei, dass diese drei Verträge zwischen dem Kapitalgeber und dem Unternehmer geschlossen werden. Sicherlich konnten der Gesellschaftsvertrag, die Versicherung und der Verkauf für sich genommen als gerechte Verträge angesehen werden. Aber nicht, wenn sie zusammengenommen wurden. Dieser Einwand überzeugte Lessius nicht mehr, da er der Meinung war, dass es unter dem Gesichtspunkt der kommutativen Gerechtigkeit keine Rolle spiele, mit wem der Vertrag geschlossen wurde.³¹ Außerdem war er der Meinung, dass man auf der Grundlage des beiderseitigen Willens der Parteien jeden Vertrag eingehen könne, mit wem man wolle. Wenn man den Willen der Parteien und die Freiheit als Ausgangspunkt des Vertragsrechts nimmt, macht es keinen Sinn mehr zu argumentieren, dass der Investor einen Versicherungsvertrag mit einem Dritten abschließen kann, aber nicht mit dem Unternehmer, mit dem er zufällig auch einen Gesellschaftsvertrag abschließt. Darüber hinaus vereitelte die Vertragsfreiheit die traditionelle Analyse von Gesellschaftsverträgen als Verträge, deren wesentliches Merkmal darin bestand, beide Partner sowohl dem Gewinn als auch dem Verlust auszusetzen. Dies ist ein traditionelles Argument, das wir noch immer in der islamischen Finanzwelt finden, wo es als „Gewinn- und Verlustteilungsprinzip“ bekannt ist.³² Für Jesuiten wie Lessius ergab diese statische Sichtweise von Gesellschaftsverträgen an der Wende zum siebzehnten Jahrhundert keinen Sinn mehr. Sie argumentierten, dass das wesentliche Merkmal einer Gesellschaft darin bestehe, dass zwei oder mehr Parteien sich bereit erklären, jeweils etwas zum Wohle eines ge Decock: The Catholic Spirit of Capitalism (wie Anm. 27), S. 22. Lawrin Armstrong: The Idea of a Moral Economy. Gerard of Siena on Usury, Restitution and Prescription. Toronto 2016, S. 5. Decock: The Catholic Spirit of Capitalism (wie Anm. 27), S. 32. Ibrahim Warde: Islamic Finance in the Global Economy. Edinburgh 2000, S. 135–137.
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meinsamen Unternehmens beizutragen. Die Risikoverteilung könne Gegenstand einer Vereinbarung sein, so Lessius. Dieses Argument war eigentlich nicht neu. Der erste Theologe, der diese Ansicht vertrat, war Johannes Eck (1486–1543), der Erzfeind von Martin Luther.³³ Bereits 1515 hatte er das Konzept des Dreifachvertrages entwickelt, um die Investitionstätigkeit der Bankiersfamilie Fugger zu rechtfertigen. Aber nur wenige Theologen waren ihm gefolgt. Ein Jahrhundert später würde Lessius die Verteidigung des Dreifachvertrages in einer noch nie dagewesenen Weise wiederholen. Wenn wir die Moral der auf dem Markt beobachteten Praxis beurteilen wollen, so Lessius, müssten wir prüfen, ob die Praxis gerecht und angemessen ist. Um dies etwas konkreter zu machen, erklärte er, dass es drei Quellen für Ungerechtigkeit oder Unbilligkeit geben kann: 1) eine fehlende Gleichheit zwischen den Beiträgen der Partner (was zu einer Verletzung des Gleichgewichts führt, das für den Begriff der kommutativen Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung ist); 2) eine Verletzung des Charakters des Gesellschaftsvertrags, da die Verpflichtungen, die der Händler eingeht, viel belastender sind als die des Kapitalinvestors und 3) der feste jährliche Gewinn ist als Zins zu betrachten, da der Abschluss des Versicherungsvertrags zusätzlich zum Gesellschaftsvertrag die Bereitstellung von Mitteln in ein einfaches Geldverleihgeschäft verwandelt. Lessius betrachtete jede dieser potenziellen Quellen von Unbilligkeit sehr detailliert. Seine Schlussfolgerung sollte sein, dass der Dreifachvertrag legitim ist und die dahinterstehende Praxis aus keinem dieser möglichen Unbilligkeitsgründe als unbillig angesehen werden kann.
Gerechtigkeit und vergleichende Kosten-Nutzen-Analyse Was die erste potenzielle Quelle der Unbilligkeit in Dreifachverträgen betrifft – den Mangel an Gleichheit (aequalitas) –, so entwickelte Lessius eine interessante vergleichende Kosten-Nutzen-Analyse.³⁴ Er wog die Kosten und den Nutzen jedes der Partner ab, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass es kein ungleiches Verhältnis gab. Mit anderen Worten: Der Dreifachvertrag verstieß nicht gegen die Tugend der kommutativen Gerechtigkeit. Zusammengefasst ist hier eine Liste von Kosten oder Belastungen (onera), die der Investor laut Lessius zu tragen hat. Zunächst einmal setzt er sein Kapital einem
Italo Birocchi: Tra elaborazioni nuove e dottrine tradizionali. Il contratto trino e la natura contractus, in: Quaderni fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 19 (1990), S. 243–322. Decock: The Catholic Spirit of Capitalism (wie Anm. 27), S. 26–27.
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Risiko aus. Dies mag für den Investor nicht als Kosten erscheinen, da die Kapitalgarantie eines der wesentlichen Merkmale eines contractus trinus ist. Lessius weist jedoch darauf hin, dass die vom Händler versprochene Versicherung sehr unzuverlässig ist (securitas valde infida) und häufig zum Konkurs des Investors führt. Investoren sind sehr gerne bereit, eine höhere Prämie für eine effektive Versicherung zu zahlen, die durch eine reale Sicherheit wie ein Pfand oder eine Hypothek noch verstärkt wird. Die zweite Belastung des Investors besteht darin, dass er sich der Vorteile und der Annehmlichkeiten (commoditas), die Bargeld bietet, beraubt. Dies war ein typisches Merkmal von Lessius‘ Analyse des Geldes und des Zinsnehmens.³⁵ Sie stützte sich auf traditionelle scholastische ökonomische Argumente, die bereits von mittelalterlichen franziskanischen Theologen wie Pierre de Jean Olivi (1248–1298) entwickelt wurden.³⁶ Bargeld bietet Vorteile, um auf Gelegenheiten zu reagieren, die sich plötzlich auf dem Markt bieten. Der Preis des „Geldmangels“ oder der „Liquiditätspräferenz“ ist als Kosten zu sehen, die der Investor trägt, wenn er sich von seinem Geld trennt. Drittens kann die Schätzung der zukünftigen Gewinne, die mit dem vorhandenen Geld erzielt werden können, als Teilkosten für den Investor betrachtet werden. Laut Lessius zeigten die tägliche Erfahrung auf dem Markt und die Erklärungen der Händler (quotidiana experientia et mercatorum confessio), dass die Gewinne, die ein geschäftstüchtiger Händler mit liquiden Mitteln erzielen kann, mit Leichtigkeit zehn bis zwölf % erreichen. Es handelt sich dabei buchstäblich um „Opportunitätskosten“, die dem Investor entstehen. Für Lessius war diese Art der Argumentation aus der Erfahrung heraus – aus der Beobachtung der ökonomischen Realität – eine Menge wert.³⁷ Aus Sicht des Händlers ist der Abschluss eines Dreifachvertrages nach Lessius ebenfalls mit drei Kosten bzw. Belastungen verbunden. In erster Linie stellt der Händler seine Arbeit und seinen Fleiß in den Dienst der Partnerschaft. Er wendet seine Arbeitskraft auf, um das Geld der Kapitalanleger gewinnbringend einzusetzen. Laut Lessius sollten diese Kosten nicht überschätzt werden, da der Händler ohnehin seine Arbeitskraft investieren würde, um sein privates Geld gewinnbrin-
Toon Van Houdt: Lack of Money: A Reappraisal of Lessius’ Contribution to the Scholastic Analysis of Money-Lending and Interest-Taking, in: The European Journal of the History of Economic Thought 5 (1998), S. 1–35. Sylvain Piron (Hrsg.): Pierre de Jean Olivi: Traité des contrats. Paris 2012. Wim Decock: Leonardus Lessius (1554–1623) y el valor normativo de usus et consuetudo mercatorum para la resoluciòn de algunos casos de conciencia en torno de la compra de papeles de comercio, in: Marta Madero/Emanuele Conte (Hrsg.), Entre hecho y derecho. Buenos Aires 2010, S. 75–94.
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gend einzusetzen. Vielmehr, so bemerkte Lessius scharfsinnig, profitiere der Händler davon, dass die Investoren ihr Kapital bei ihm eingezahlt haben. Dies ist eine kluge Beobachtung, die auch bei Molina zu finden ist. Für den Händler bedeutet die Verwaltung von mehr Geld und die Zurschaustellung von mehr Reichtum, dass er mehr Vertrauen genießt und seinen Ruf verbessert (auget illorum fidem et facit illustriores). Außerdem kann er zu günstigeren Preisen einkaufen, da er größere Mengen kaufen und bar bezahlen kann. Abschließend war Lessius fast geneigt zu behaupten, dass die Arbeitskosten eigentlich eher ein Nutzen als ein Kostenfaktor sind. Lessius minimierte auch die Auswirkung eines zweiten Kostenfaktors, die dem Händler zugerechnet werden kann, nämlich die Kosten für die Versicherung des Kapitals. Die Versicherung ist lediglich eine persönliche, keine dingliche Sicherheit, sodass es ganz auf die Vertrauenswürdigkeit des Händlers ankommt (nitens sola fide mercatoris). Außerdem ist die Versicherung für den Investor nutzlos, wenn der Händler in Konkurs geht. Umgekehrt wird der Händler, wenn er nicht in Konkurs geht, sein Versprechen, für den Kapitalbetrag zu bürgen, gerne erfüllen, aus Angst, seine Vertrauenswürdigkeit bei anderen Marktteilnehmern zu verlieren (ne amittat fidem). Mit anderen Worten, legte Lessius also nahe, dass die Erfüllung seiner Verpflichtungen im eigenen Interesse des Händlers liegt. Dies kann kaum als Kosten betrachtet werden. Auch die dritte und letzte Verpflichtung des Händlers, nämlich eine feste jährliche Dividende, z. B. 6,25 %, zu zahlen, wurde von Lessius kleingeredet. Er zog alternative Möglichkeiten in Betracht, wie der Händler seine Projekte finanzieren könnte, insbesondere census oder Zinsverträge, und kam zu dem Schluss, dass die Zinsen, die in diesen Verträgen im Austausch für Geld gezahlt werden müssen, die jährliche Dividende übersteigen, die in Dreifachverträgen zu zahlen ist. Daher sollte sich der Händler nicht beschweren, denn der Dreifachvertrag bietet eine günstigere Alternative. Zusammenfassend führte die vergleichende Kosten-Nutzen-Analyse von Lessius zu dem Ergebnis, dass keine Ungleichheit im Dreifachvertrag vorlag. Er minimierte die Schwere der Verpflichtungen des Händlers, während er die Belastungen für den kapitalistischen Investor maximierte. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, auf die Details von Lessius Widerlegung der beiden verbleibenden potenziellen Quellen der Unbilligkeit einzugehen.³⁸ Dennoch verdient es Erwähnung, dass seine Verteidigung der Vertragsfreiheit wesentlich zur Argumentation beigetragen hat. Zum Beispiel sagte Lessius, dass es jedem freisteht, sich gegen einen Gesellschaftsvertrag zu entscheiden, ohne auch einen Versicherungsvertrag abzu-
Für weitere Details, siehe Decock: The Catholic Spirit of Capitalism (wie Anm. 27), S. 28–31.
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schließen. Mit anderen Worten: Die Beteiligung an einem Gesellschaftsvertrag kann vom Abschluss einer zusätzlichen Vereinbarung wie z. B. eines Versicherungsvertrags abhängig gemacht werden. Bei der Kapitalgarantie handelt es sich um freie Personen, die im gegenseitigen Einverständnis einen zusätzlichen Versicherungsvertrag abschließen. Solange der Geldgeber dem Händler einen gerechten Preis für diese Versicherungsleistung zahlt, wird die kommutative Gerechtigkeit nicht verletzt. Einmal mehr sehen wir, wie Lessius die Verpflichtung des Händlers, das Kapital des Investors zu versichern, minimiert. Er sagte, dass die Händler in der Praxis lieber eine Kapitalgarantie versprachen, weil sie eigentlich davon überzeugt waren, dass sie am besten wissen, wie man Geld sicher im Geschäft ausgibt. Selbst im schlimmsten Fall ist die Versicherung für sie kein Problem. Wenn ein Händler in Konkurs geht, kann auch der Kapitalist sein Kapital nicht zurückerhalten, da er lediglich einen persönlichen Anspruch gegenüber dem Händler hat und der Versicherungsvertrag nicht durch eine reale Sicherheit wie ein Pfand oder eine Hypothek abgesichert ist. Lessius stellte fest, dass dies in der Praxis häufig vorkam. Ebenso beobachtete er, dass die Händler so sehr von der Hoffnung geblendet waren, viel mehr Gewinn zu machen als die jährliche Rendite, die dem Investor versprochen wurde, dass sie sich nicht darum kümmerten, zukünftige Gewinne zu einem festen jährlichen Preis zu kaufen. Zu guter Letzt nannte er noch einen weiteren Grund, warum die Händler gerne das Kapital des Investors garantierten: Es befreite sie von den üblichen Buchführungspflichten; es befreite sie von der Pflicht, ihre Konten offenzulegen.
Makroökonomische Analyse und Gemeinwohl Lessius‘ Wissen über die Finanzpraxis, sein Verständnis der ökonomischen Logik, seine Fähigkeit, als Jurist zu argumentieren – all diese Eigenschaften gehen deutlich aus seiner Beurteilung der Gerechtigkeit des Dreifachvertrages hervor. Es ist kein Wunder, dass John T. Noonan ihn einen „Meister der Wirtschaftsanalyse“ nannte und seine Positionen zur Moral des Kreditwesens und des Zinses als „noch nie dagewesen“ bezeichnete.³⁹ Lessius war nicht die Art von Person, die über die Moral des Marktes urteilt, ohne ausreichend zu wissen, wie die Dinge wirklich funktionierten. Lessius scheute sich auch nicht, sich gegen die Meinung einiger seiner Zeitgenossen zu stellen. Er war nuanciert, aber furchtlos. In seinen Ausführungen zeigt er, dass er sich des moralischen Widerstands, auf den der kommerzielle Kapitalismus stößt, durchaus bewusst ist. Dennoch warnte er seine Gegner, dass ihr
John Thomas Noonan: The Scholastic Analysis of Usury. Cambridge, MA 1957, S. 222 und 264.
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Werturteil nicht hilfreich sei, da es nicht nur realitätsfremd, sondern auch schädlich für das öffentliche Interesse sei (commodum reipublicae). Daher schlug Lessius in einer Art Zusammenfassung zu seiner Verteidigung der Praxis des contractus trinus vor, genauer zu erklären, warum er dachte, dass diese Praxis für die Menschen in seinem Land sinnvoll war. Dieser letzte Teil seiner Argumentation ist recht interessant, da er einen weiteren Beweis für den wichtigen methodologischen Wert von Rechts- und Wirtschaftsexpertise in der frühneuzeitlichen Moraltheologie liefert. Er zeigt auch, dass der Einsatz von juristischem Fachwissen und Wirtschaftsanalyse als durchaus vereinbar mit der Verwendung traditioneller Konzepte der moralischen Bewertung wie dem Gemeinwohl (bonum commune) und dem Seelenheil (salus animarum) angesehen wurde. Lessius unterschied zwischen drei Formen der Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit, die es den Investoren ermöglichen, Mittel zu einem festen jährlichen Gewinn und mit der Gewissheit, ihr Kapital zurückzuerhalten, bereitzustellen.⁴⁰ Erstens betrachtete Lessius diese Praxis als förderlich für das Seelenheil. Zweitens war er der Meinung, dass diese Praxis für das Gemeinwohl von Vorteil war, insbesondere für den Fürsten und die Republik – er entwickelte eine ausgeklügelte makroökonomische Analyse, um diesen Punkt zu belegen, wie weiter unten erläutert wird. Drittens betrachtete Lessius den Dreifachvertrag als vorteilhaft für die Interessen von Witwen und Mündeln, einer Kategorie von Personen, die traditionell vom kanonischen Recht und der Moraltheologie besonders geschützt wurden.⁴¹ Unnötig zu erwähnen, dass viduae et pupillae im kanonischen Recht eine rechtliche Kategorie ist, die in Analogie auch „fromme Stiftungen“ (piae causae) umfassen kann. Weit davon entfernt, eine Gefahr für die Seele zu sein, argumentierte Lessius, dass der Dreifachvertrag Christen tatsächlich davor bewahren könnte, ihre Seelen zu schädigen. Er forderte die Skeptiker auf, darüber nachzudenken, was mit den Menschen passierte, die von ihren Zinsen leben, wenn die Möglichkeit, privates Vermögen sicher in kommerzielle Kreditverträge zu investieren, verschwände. Die Alternative war der Kauf von Anleihen (census), aber was, wenn dieser Markt gesättigt ist, z. B. durch den Mangel an alternativen Investitionsinstrumenten? Menschen, die keine Anleihen besaßen oder nicht mehr kaufen konnten, verlören dann ihre Lebensgrundlage an finanzieller Sicherheit (ratio vivendi salva sorte). Und doch würde am Ende jeder eine Möglichkeit finden wollen, sein privates Vermögen sicher
Decock: The Catholic Spirit of Capitalism (wie Anm. 27), S. 34–36. Thomas Duve: Sonderrecht in der Frühen Neuzeit. Studien zum ius singulare und den privilegia miserabilium personarum, senum und indorum in Alter und Neuer Welt. Frankfurt a. M. 2008 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 231).
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anzulegen. Laut Lessius wäre der Endeffekt, dass diese Leute sich dann zu wirklich ungerechten Praktiken verpflichteten, wie z. B. der trockene Wechsel (cambium siccum) oder mohatra-Verträge,⁴² heimlich Wucherzinsen verlangten, Betrug beim Kaufen und Verkaufen begingen, Monopole schafften, stehlen oder andere unmoralische Mittel anwendeten. Er wies auch auf die Gefahr hin, dass die Menschen ihr Vermögen einfach aufbrauchen würden, ohne es für die Erfüllung langfristiger Bedürfnisse zu sparen. Folglich wären sie nicht in der Lage, ihre Töchter in ehrenvolle Berufe zu entlassen, sie könnten ihre Söhne nicht zur Schule schicken und so weiter. Lessius bestand also darauf, dass eine Art sicheres Investitionsvehikel für Menschen mit überschüssigem Geld angeboten werden müsse, um sie davon abzuhalten, ihr privates Vermögen zu verschleudern oder auf wirklich ungerechte Mittel zur Gewinnerzielung zurückzugreifen. Dies ist auch der Grund, warum er dachte, dass Dreifachverträge das geeignete Mittel für „Witwen und Mündel“ seien, um ihre Gelder sicher und mit einer angemessenen Gewinnrate anzulegen. Er räumte ein, dass auch Dreifachverträge nicht risikofrei seien, meinte jedoch, dass die Witwen und Mündel, die ihre Existenzgrundlage verlören, weil der Händler, bei dem sie ihr Geld deponiert hatten, in Konkurs ging, eine relative Minderheit seien. Außerdem gingen die Händler meist erst nach einigen Jahren in Konkurs, sodass die Witwen und Mündel in der Zwischenzeit zumindest die jährlichen Gewinne eingefahren hätten. Nicht zuletzt argumentierte Lessius, dass sich das Fehlen des Dreifachvertrages negativ auf die Gesellschaft als Ganzes auswirken würde. Mit der Entwicklung dieses Arguments gibt er uns ein ultimatives Beispiel dafür, wie ausgefeilt sein ökonomisches Wissen war. Indem er das Wirtschaftssystem als Ganzes betrachtete, sah er die wirtschaftlichen Folgen der Nichtzulassung des Dreifachvertrages voll voraus. Lessius warnte davor, dass die Kreditkosten für Händler einen Einfluss auf die Kreditkosten der öffentlichen Hand haben. In einer Gesellschaft ohne voll entwickeltes Steuersystem waren die Händler in der Tat oft dazu aufgerufen, dem Fürsten Geld zu leihen, um öffentliche Projekte zu finanzieren.⁴³ Die Kosten, die den Händlern bei der Geldbeschaffung entstanden, bestimmten also indirekt die Zinssätze, zu denen sich die politische Obrigkeit Geld bei den Händlern leihen konnte. Wenn Händler die Möglichkeit verlören, durch Dreifachverträge Geld zu relativ günstigen Konditionen aufzunehmen, dann würde die Last der Beschaffung teurerer Kredite letztlich auf die Gemeinschaft verlagert werden. Mit anderen Worten: Lessius kombinierte sein Wissen über verschiedene Märkte und verschiedene Arten Zu mohatra-Verträgen, siehe Decock/De Sutter: Lessius On Sale (wie Anm. 3), S. 107–111. Wim Decock: Spanish Scholastics on Money and Credit: Economic, Legal and Political Aspects, in: Wolfgang Ernst/David Fox (Hrsg.), Money in the Western Legal Tradition: Middle Ages to Bretton Woods. Oxford 2016, S. 279.
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von Geldverleihsystemen. Aus einer Makroperspektive betrachtete er die Korrelation zwischen verschiedenen Arten von Märkten, auf denen Geld investiert oder geliehen werden kann. Lessius warnte, dass die Händler bei einem Verbot von sicheren Handelskrediten in Form von Dreifachverträgen gezwungen wären, sich auf alternativen Wegen zu finanzieren. Wechsel (cambium) sind ein Beispiel für eine solche Alternative. Die Kosten für die Aufnahme von Geld über Wechsel könnten jedoch auf Jahresbasis bis zu 18 % oder mehr steigen. Daher würden die Händler, die verpflichtet waren, Geld durch Wechsel zu leihen, letztlich höhere Zinsen für die dem Fürsten gewährten Kredite verlangen. Folglich würde sich ein Verbot von Konstruktionen wie dem Dreifachvertrag als schädlich für die gesamte Gesellschaft erweisen. Umgekehrt wäre die Zulassung von Dreifachverträgen für das Gemeinwohl von Vorteil. Der Grund dafür war, dass es dem Fürsten erlaubte, sich zu relativ niedrigen Zinsen zu verschulden, da die Händler, seine Hauptgläubiger, dank des contractus trinus Geld zu 6,25 % aufnehmen konnten. Abschließend argumentierte Lessius, dass das Verbot des Dreifachvertrags dem gesamten Kreditsystem der südniederländischen Gesellschaft schweren Schaden zufügen würde. Es würde das Seelenheil auch eher gefährden, als es zu fördern. Doch selbst wenn rationale Argumente für den Dreifachvertrag sprachen, blieb ein ernsthaftes rechtliches Hindernis für seine Anerkennung bestehen. Papst Sixtus V. (1521–1590) hatte 1586 die Praxis der garantierten Handelskredite in seiner Bulle Detestabilis avaritia verurteilt, in der er den contractus trinus als ein künstliches juristisches Mittel zur Umgehung des Wucherverbots im Geldverleih betrachtete. Dieses Argument der päpstlichen Autorität konnte Lessius jedoch mühelos entkräften. In seinen Augen stand die Bulle in eklatantem Widerspruch zur Handelspraxis in Italien und Belgien. Daraus schloss er, dass die Bulle in diesen Regionen nie wirklich angenommen wurde. Vor allem in den südlichen Niederlanden wurde die Bulle nie promulgiert oder in der Praxis anerkannt – und die Praxis setzte sich bei zweifelhafter Gesetzgebung durch. Ebenso seien die von Pius V. (1504–1572) veröffentlichten Bullen, die den Verkauf von Anleihen (census) stark einschränkten, in der Praxis nicht angekommen. Lessius‘ Argumentation mag antiautoritär, illoyal und sogar provokant erscheinen. Wahr ist aber, dass das Argument der Nichtakzeptanz der päpstlichen Gesetzgebung unter den Theologen und Kanonisten seiner Zeit weit verbreitet war, nicht zuletzt in Bezug auf die Bulle Detestabilis avaritia. ⁴⁴
Noonan: The Scholastic Analysis of Usury (wie Anm. 39), S. 220.
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Die freiheitsschützende Wirkung des Rechts Das Ziel dieses Aufsatzes war es zu zeigen, dass Jesuiten in der frühen Neuzeit zu echten Rechtsexperten wurden, weil sie das Recht und die juristische Argumentation als Grundlage für ein verfeinertes Modell der ethischen Beratung benötigten. Das Rückgrat dieser ausgefeilten jesuitischen Methode der ethischen Beratung war eine Kombination von Kenntnissen der thomistischen Theologie mit dem römischkanonischen Recht und der empirischen Beobachtung von Märkten. Durch die Kombination dieser verschiedenen Wissensgebiete waren die Jesuiten in der Lage, anspruchsvolle moralische Urteile abzugeben, die in den Augen der Händler, Bankiers und politischen Entscheidungsträger ihrer Zeit glaubwürdig waren. Manchmal waren die Jesuiten sogar ihrer Zeit voraus. Zum Beispiel widersetzten sich konservative Juristen in den Niederlanden Lessius‘ Befürwortung des Dreifachvertrags mit dem Argument, dass die Handelsfreiheit (libertas mercatoria) um des Gemeinwohls willen eingeschränkt werden sollte.⁴⁵ Doch dann versuchte Lessius zu zeigen, dass die Förderung der Handelsfreiheit für die Gesellschaft als Ganzes von Vorteil sei. Tatsächlich wurde die Freiheit (libertas) als Brennpunkt des gesamten moralischen und rechtlichen Universums betrachtet, das die frühneuzeitlichen Jesuiten um ihrer „Mission im Sakrament der Buße“ willen konstruierten.⁴⁶ Eifrig darum bemüht, die doppelte Gefahr von Ratlosigkeit und Verzweiflung zu vermeiden, die aus moralischer Skrupellosigkeit und überlastetem Gewissen resultiert, versuchten sie, den Christen, die um ihr Seelenheil besorgt waren, Trost zu spenden. Lessius warnte vor der Gefahr gegenteiliger Ansichten, wie sie besonders von protestantischen Theologen vertreten werden. Nach seiner Beobachtung hatten viele lutherische und calvinistische Konvertiten aus Verzweiflung (desperatio), die aus der Lehre über die Vorherbestimmung und der pessimistischen Darstellung des freien menschlichen Willens durch die Protestanten resultierte, Selbstmord begangen. Als Reaktion darauf versuchten Jesuiten wie Lessius, eine optimistische Sicht der natürlichen Fähigkeiten des Menschen, zu seiner Erlösung beizutragen, zu fördern und betonten die zentrale Rolle des freien Willens des Menschen.⁴⁷ Neben ihrem analytischen Potential, betrachten sie das Recht als ein wichtiges Mittel im Kampf
Decock: The Catholic Spirit of Capitalism (wie Anm. 27), S. 32. Der Begriff ist entlehnt von Ben Holland: The Moral Person of the State. Pufendorf, Sovereignty and Composite Polities. Cambridge 2017, S. 47. Wim Decock: Le marché du mérite. Penser le droit et l’économie avec Léonard Lessius. Brüssel 2019, S. 169–196; siehe auch Eleonora Rai: Ex meritis praevisis. Predestination, Grace, and Free Will in intra-Jesuit Controversies (1587–1613), in: Journal of Early Modern Christianity 7 (2020), S. 111–150.
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gegen eine Art Überspannung des Gewissens (scrupulositas). Dementsprechend wurden viele Jesuiten Anhänger des Probabilismus, eines auf Freiheit und Recht gestützten moralischen Entscheidungssystems.⁴⁸ Das Frontispiz einer Abhandlung über die Gesetze (De legibus) des spanischen Jesuiten Juan de Salas (1553–1612), der am Collegio Romano lehrte, ist eine gute Illustration für die zentrale Rolle, die die Freiheit in der jesuitischen Ethik spielte.⁴⁹ Es zeigt einen Mann, der einen Teller mit sich trägt, auf dem die Inschrift libertatem meam mecum porto – „Ich trage meine Freiheit mit mir“ steht.⁵⁰ Tatsächlich handelt es sich bei dem von Salas dargestellten Mann wahrscheinlich um Samson, der die beiden Pfosten des Stadttores von Gaza festhält, die er losgerissen hatte, um seinen Mördern zu entkommen. In der frühen Neuzeit wurde diese Begebenheit aus Richter 16:3 als Metapher für den freien Willen des Menschen (liberum arbitrium) genommen.⁵¹ Der Mensch konnte der Todsünde entkommen, indem er sich auf seine Einsicht, seinen Mut und seinen freien Willen verließ. Viele Jesuiten betonten also die menschliche Freiheit.⁵² Antonio Perez (1599–1649), ein weiterer spanischer Jesuit, der Moraltheologie am Collegio Romano lehrte, behauptete, dass Freiheit der Ausgangspunkt aller jesuitischen Moraltheologie sei. Er erklärte dies auf eine etwas technischere Weise, indem er sagte, dass das folgende Prinzip der Eckpfeiler der jesuitischen Moraltheologie sei: „Im Zweifelsfall ist die Position des Besitzenden die stärkere.“ Auch hier kann man den starken Einfluss der juristischen Argumentation auf die jesuitische Ethik erkennen. Der Rechtsgrundsatz, dass „im Zweifel die Position des Besitzenden die stärkere ist“, stammt aus dem römischen Recht. Es wurde auch von Kanonisten verwendet, um zum Beispiel zu argumentieren, dass jeder als unschuldig gelten sollte, bis seine Schuld bewiesen ist. In der frühneuzeitlichen Moraltheologie wurde sie zum Ausgangspunkt für die Argumentation, dass die na-
Für weitere Details zum Probabilismus siehe Stefania Tutino: Uncertainty in Post-Reformation Catholicism: A History of Probabilism. Oxford 2018, S. 52–88. Juan de Salas: Tractatus de legibus in primam secundae S. Thomae, Opus non solum theologis moralibus, sed etiam iuris utriusque consultis pernecessarium (Lyon, 1611), online verfügbar auf . Das Frontispiz dieses Werkes wurde für das Titelblatt von Decock/Birr: Recht und Moral in der Scholastik der Frühen Neuzeit, ausgewählt. Johannes Michael von der Ketten: Apelles symbolicus, vol. 1 (Amsterdam, 1699), S. 415. Holland: The Moral Person of the State (wie Anm. 46), S. 29; vgl. Annabel Brett: Human Freedom and Jesuit Moral Theology, in: Quentin Skinner/Martin van Gelderen (Hrsg.), Freedom and the Construction of Europe, Bd. 2: Free Persons and Free States. Cambridge 2013, S. 9–26.
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türliche Position eines jeden Menschen die der Handlungsfreiheit ist.⁵³ Gesetze können diese Handlungsfreiheit einschränken, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie legitim sind, klar formuliert und promulgiert werden, da ein zweifelhaftes Gesetz nicht den Besitz des Einzelnen an seiner Freiheit übertrumpfen kann (lex dubia non obligat). Wir haben ein Beispiel dafür gesehen, wie das in der Praxis funktioniert: Lessius war nicht bereit zu akzeptieren, dass Papst Sixtus V. die Freiheit der Händler in den südlichen Niederlanden einschränken würde, weil er dies für eine lex dubia hielt. Das Recht des Menschen, seine Handlungsfreiheit zu besitzen, ist für Jesuiten wie Lessius immer der Ausgangspunkt. Gesetze, welche die Freiheit einzuschränken drohen, müssen beweisen, dass sie ein Recht dazu haben. Sie müssen gute und überzeugende Argumente bringen. Das Verhältnis zwischen der grundsätzlichen Freiheit des Menschen auf der einen Seite und den Gesetzen, die versuchen, Zwang aufzuerlegen, auf der anderen Seite, wurde in antagonistischen Begriffen aufgefasst. Perez erklärte, dass die Position, welche die Auferlegung einer Verpflichtung befürwortete, die eines Kläger sei, während die andere Seite als Angeklagter agierte, der für seine Freiheit kämpfte. Es war die Aufgabe des Klägers, seinen Anspruch zu beweisen und den Angeklagten davon zu überzeugen, dass er ihm etwas schuldete. Perez vertrat die Ansicht, dass das Individuum, das an der Existenz eines bestimmten Gesetzes zweifelt, im Besitz seiner Freiheit bleibt (possessor suae libertatis). Interessanterweise argumentierte er, dass dieses Prinzip die Handlungsfreiheit fördere (favet libertati operandi) und den Menschen von zahllosen Verpflichtungen entlaste.⁵⁴ Für die Jesuiten waren jedoch Eigentum und Freiheit, ebenso wie Rechtskenntnisse, keine Endziele. Sie dienten dem Zweck, ein tugendhaftes Leben zu führen. Im Gegensatz zu den Juristen konzentrierten die Theologen ihre Bemühungen nicht nur auf die Herstellung des Friedens im Diesseits, sondern auch im Jenseits. Sie sind womöglich wahre Rechtsexperten geworden, um dieses ultimative Ziel zu erreichen. Ihr Bestreben war es nicht, Rechtsexperten zu werden, nur um Rechtsexperten zu sein. Lessius betonte deutlich, dass der Mensch die Ehre Gottes als ultimatives Ziel seines Handelns im Auge haben müsse. In der Tat sollte nicht vergessen werden, dass die Losung des Jesuitenordens „zur größeren Ehre Gottes“ (ad maiorem Dei gloriam) lautet. In seinen Werken über die göttliche Gnade und den freien Willen (z. B. De gratia efficaci, Antwerpen 1610) erklärte Lessius, dass der Mensch hart arbeiten müsse, um Gottes Ehre zu verstärken. In der Tat warnte er in Rudolf Schüßler: The Debate on Probable Opinions in the Scholastic Tradition. Leiden/Boston 2019, S. 94. Für eine ausführlichere Darstellung von Perez‘s Ansichten siehe Decock: Theologians and Contract Law (wie Anm. 11), S. 77–79.
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der Einleitung zu seinem Werk über das Problem der Prädestinationslehre, weil sie die ganze Logik der„Heilsökonomie“ zunichte mache. Sie nehme den Menschen den Anreiz, aktiv zur Rettung ihrer Seelen beizutragen. Wenn die Menschen nicht mehr zu ihrer eigenen Errettung beitragen könnten, indem sie gute Werke tun, indem sie fleißig und eifrig in ihrem Glauben sind, fingen sie an zu verzweifeln und ganz aufzuhören, für die größere Ehre Gottes zu arbeiten. Er beklagte sich darüber, dass dies bereits zu seiner Zeit in den Niederlanden geschah. Interessanterweise verwendet Lessius selbst in seinem dogmatisch-theologischen Werk die Sprache des Rechts und des Vertrags. Er ist nicht der einzige Jesuit, der dies tut, wie man an den noch deutlicheren juristischen Untertönen von Francisco Suárez‘s Überlegungen zur Ökonomie der Erlösung erkennen kann.⁵⁵ Sowohl der freie Wille als auch die Gnade seien für die Erlösung notwendig, erklärten sie, indem sie das Bild eines Vertrags verwendeten. Sowohl Angebot als auch Annahme seien notwendig, um eine vertragliche Verpflichtung herbeizuführen. Ebenso sei die Gnade Gottes nicht genug: Das göttliche Angebot sei der Anfang von allem. Damit dies jedoch funktioniert, müsse es der Mensch annehmen, und zwar aktiv. Die Begriffe Recht, Vertragsrecht und Freiheit waren also Kernbegriffe der frühneuzeitlichen Jesuitenspiritualität und -ethik. Sie erklären, warum es wichtig ist, ihre Arbeit zu berücksichtigen, wenn wir ein vollständiges Verständnis für das breite Spektrum der Rechtsexpertise in der frühen Neuzeit erhalten wollen.
Für ähnliche Beobachtungen in Bezug auf Suárez dogmatische Theologie, siehe Luisa Brunori/ Wim Decock: The Pragmatic Suárez. Private Law in the Work of the Doctor Eximius, in: Dominique Bauer/Randall Lesaffer (Hrsg.), History, Casuistry and Custom in the Legal Thought of Francisco Suárez (1548–1617). Leiden/Boston 2021, S. 54–75.
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Juristen als Pestexperten 1 Einführung und Fragestellung Im Jahr 1606 brach in dem kleinen Universitätsstädtchen Altdorf bei Nürnberg die Pest aus.¹ Nachdem sich die Kunde in Altdorf verbreitet hatte, verließ eine größere Zahl von Studenten aus Furcht vor Ansteckung die Stadt. Die Sorgen vergrößerten sich noch, als der berühmte Medizinprofessor Nikolaus Taurellus (1547–1606) am 28. September 1606 an der Pest starb.² Sein Fakultätskollege Ernst Soner (1573–1612)³ hatte noch alles getan, um dessen Leben zu retten, konnte aber gegen die tödliche Wirkung des Erregers nichts ausrichten. Inzwischen waren die Hörsäle verwaist und die verbliebenen Hochschullehrer ratlos. In dieser Situation griff der Altdorfer Vizekanzler, der Jurist Konrad Rittershausen (1560–1613) im Oktober 1606 zur Feder und griff die geflohenen Studenten scharf an. Gekleidet in vornehme lateinische Verse stellte Rittershausen deren Flucht als Folge eines bösen Gerüchts dar. Sein Gedicht, das er alsbald unter dem Titel Fama de Pestilentia Altorfina publizierte,⁴ stellte den Pestausbruch als einen Sturm im Wasserglas dar. Das Gerücht sei die viel infektiösere und schädlichere Krankheit als die Pest. Rittershausen rief daher seine Studenten auf, umgehend zum Präsenzunterricht zurückzukehren. Deutlich wird hier eine unterschiedliche Perspektive auf die Pest: Während die Studierenden mit ihrer Abreise genau das taten, was die medizinischen Autoritäten ihrer Zeit empfahlen – Fuge cito, longe, tarde (Fliehe bald, fliehe fern, komm spät zurück) war mit einem dem Hippokrates zugeschriebenen Sprichwort die Standardempfehlung beim Ausbruch von Seuchen⁵ – nahm der Jurist Rittershausen einen anderen Die folgende Darstellung der Ereignisse in Altdorf beruht auf der Schilderung bei Georg Andreas Will: Geschichte und Beschreibung der Nürnbergischen Universität Altdorf. Altdorf 1795, S. 239–241. Über Nikolaus Taurellus: Herbert Jausmann: Taurellus, Nikolaus, in: NDB 25 (2013), S. 808 f. Über Ernst Soner: Richard Falckenberg: Soner, Ernst, in: ADB 34 (1892), S. 622 f. Konrad Rittershausen: Fama de Pestilentia Altorfina, zuerst Wittenberg 1606, hier zit. nach der Ausgabe Rostock 1607. Das Gedicht war in der Erstauflage an den Dichter Friedrich Taubmann gerichtet, der Rostocker Ausgabe zufolge an den Rostocker Historiker Ignaz Hanniel († 1608). Daniel Schäfer: Der Tod und die Medizin. Kurze Geschichte einer Annäherung. Berlin/Heidelberg 2005, S. 178. Nach Martin Roebel: Humanistische Medizin und Kryptocalvinismus. Leben und medizinisches Werk des Wittenberger Medizinprofessors Caspar Peucer (1525–1602). Freiburg i.Br. 2012, S. 209, bezeichnete man Ratschläge der Ärzte dieser Art zeitgenössisch als „Adverbialpillen“; zum Topos der Flucht: Heinrich Dormeier: Die Flucht vor der Pest als religiöses Problem, in: Klaus Schreiner (Hrsg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. München 1992 (Schriften des historischen Kollegs, Kolloquien, Bd. 20), S. 331–397. https://doi.org/10.1515/9783111070346-008
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Standpunkt ein und empfahl Standhaftigkeit und Gottesergebenheit. Bereits drei Jahre vor dem Pestausbruch von Altdorf hatte er in einem Brief an den Nürnberger Ratsschreiber Christoph Girschner (1552–1629)⁶ ähnlich argumentiert: Als Rat sei Girschner seiner Klientel verpflichtet und müsse in Nürnberg trotz eines bevorstehenden Pestausbruchs die Stellung halten. Die Pest sei die Rache Gottes und die Antwort auf die Sündhaftigkeit des Menschen. Dieser Rache zu entfliehen sei ebenso sinnlos wie schädlich.⁷ Die unterschiedliche Bewertung der Altdorfer Pest durch Mediziner und Juristen wirft die Frage auf, welche Rolle die Rechtswissenschaft und ihre Vertreter, die Juristen, bei der Bewältigung der Pest spielten, also jener Seuche, die in Europa seit 1347 zunächst als „schwarzer Tod“⁸ in einer großen Welle bis 1351 einen größeren Teil der Bevölkerung in den Tod riss und auch in den folgenden vier Jahrhunderten immer wieder einzelne Regionen Europas befiel. Beschränkten sich die Juristen wie in Altdorf auf eine Rolle als spöttische Zaungäste, die auf Gottes Hilfe hofften, oder sahen sie die Pest als Chance, um sich öffentlichkeitswirksam als Pestexperten oder gar als effiziente Pestbekämpfer zu inszenieren? Welche Rolle spielten juristisches Wissen und juristische Prägungen bei der Entwicklung von präventiven⁹ und kurativen öffentlichen Interventionen beim Auftreten epidemischer Infektionskrankheiten¹⁰ und damit perspektivisch auch bei der Transformation der kommunalen und territorialen Gesundheitsverwaltungen im Kontext
Kurzbiographie in: Georg Andreas Will: Art. Girsner, oder Girschner (Christoph), in: Ders.: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon etc., Erster Theil. Nürnberg/Altdorf 1755, S. 542 f. Brief Konrad Rittershausen an Christoph Girschner, 27. August 1600, in: Georg Theodor Strobel (Hrsg.), Conradi, Georgii et Nicolai Rittershusiorum, patris et filiorum et variorum ad suos datas Epistolae etc. Nürnberg 1769, S. 121 f.: […]et hoc maxime tam periculoso tempore non sine solicitudine de te cogito. Aiunt enim, passim in vestra vrbe sparsa esse contagionis pestilentis semina: quae quidam, quibus fugere licet, praecauentes, alio se et suos transferant. Tu vero, cui per officii rationes ab vrbe abesse non diu licet, mane in statione, in qua te Deus vitae nostrae praepotens arbiter, collocauit et in ipsum reüce curas tuas. Ipse faciet, vt quamuis cadant ab vtroque tuo latere aliquot millia (quod tamen pro clementia sua auertat) tamen te non attingat malum. […] Der Begriff „Schwarzer Tod“ als Bezeichnung für tödliche Infektionskrankheiten reicht in die Antike zurück, in seiner spezifischen Bezugnahme auf die Pest wird er allerdings erst im 17. Jahrhundert gebräuchlich: Stephen d’Irsay: Notes to the origin of the expression „atra mors“, in: Isis 8 (1926), S. 328–332. Ein Forschungsdesiderat im Bereich der Geschichte öffentlicher Gesundheitsprävention diagnostizieren: Martin Lengwiler/Jeannette Madarász: Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik, in: Dies. (Hrsg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik. Bielefeld 2010, S. 11–28 (hier S. 11). Nicht immer kann heute retrospektiv eine vormoderne Epidemie mit Sicherheit einem Erreger zugeordnet werden. Erst recht betraf der zeitgenössische Diskurs über Fälle der pestilenzia immer auch andere Infektionskrankheiten.
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der Herausbildung des modernen Verwaltungsstaats? Eine vollständige Antwort auf diese sehr allgemeinen Fragen kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Vielmehr soll, im Anschluss an einige methodische Vorüberlegungen, ein erster Zugriff versucht werden. Dabei sind Personen, Quellen und Themenfelder zu erschließen, die weiterführende Forschungen vielversprechend erscheinen lassen.
2 Methodische Vorüberlegungen 2.1 Wer sind Juristen? Der Suche nach der Bedeutung „der Juristen“ bei der Pestbekämpfung ist eine kurze methodische Warnung vorauszuschicken. Wenn im Folgenden von „Juristen“ gesprochen werden soll, so ist die Bestimmung dieses Personenkreises schwieriger, als es zunächst den Anschein hat. Wenn man allgemein unter „Juristen“ solche Personen versteht, die ein (vollständiges) juristisches Studium absolviert haben und anschließend in einem rechtsbezogenen Beruf tätig sind, so scheint diese Definition auf den ersten Blick zweckmäßig zu sein, weil das Rechtstudium an einer Universität nicht nur einen abgrenzbaren Bildungsstandard definiert, sondern auch, weil die juristischen Absolventen sich selbst als distinkte Gruppe entwarfen, die sich durch ihre Ausbildung und spezifische Berufswege, sowie durch ein ausgeprägtes Selbstverständnis nicht nur von den Nicht-Akademikern, sondern auch von den Gelehrten anderer Disziplinen unterschieden.¹¹ Doch eine solch strikte Definition ist für die hier unternommene Untersuchung aus zwei Gründen problematisch: Zum einen schließt sie die zahlenmäßig bedeutende Gruppe von Personen aus, die auch ohne akademisches Studium Berufe ausübte, die dem juristischen Bereich zuzurechnen sind. Auch wenn viele Richter, Schreiber und andere juristischen Laien keine Universität besucht oder ihr Studium ohne Abschluss abgebrochen hatten, oft kein Latein beherrschten und ihr juristisches Wissen aus zweiter Hand, etwa den weit verbreiteten deutschsprachigen Praktikerhandbüchern (z. B. dem Laienspiegel oder dem Klagspiegel)¹² erwarben,
Thomas Wetzstein: Der Jurist. Bemerkungen zu den distinktiven Merkmalen eines mittelalterlichen Gelehrtenstandes, in: Franz Rexroth (Hrsg.), Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Ostfildern 2010 (Vorträge und Forschungen, Bd. 73), S. 243–296. Hierzu: Andreas Deutsch (Hrsg.): Ulrich Tenglers Laienspiegel. Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn. Heidelberg 2011 (Akademiekonferenzen, Bd. 11); Andreas Deutsch: Der Klagspiegel und sein Autor Conrad Heyden. Ein Rechtsbuch des 15. Jahrhunderts als Wegbereiter der Rezeption. Köln/Weimar/Wien 2004.
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konnten auch sie zu einer spezifisch juristischen Verarbeitung von Pestfolgen beitragen.¹³ Zum anderen muss berücksichtigt werden, dass bei aller Tendenz zur Ausdifferenzierung der Fächer die großen Disziplinen Theologie, Medizin und Recht, sowie auch die Philosophie methodisch und institutionell viel enger vernetzt waren als heute. Nicht nur die Organisation des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Studiums mit dem von allen Studenten durchlaufenen Studium der artes liberales trug dazu bei, dass die Fächergrenzen weniger bedeutsam waren als heute.¹⁴ Auch der Humanismus und seine Netzwerkstrukturen, vor allem aber sein auf umfassende Gelehrsamkeit zielendes Bildungsideal bewirkten, dass viele Studenten im Verlauf ihres Studiums nicht nur eines der genannten Fächer kennenlernten. Man muss nicht auf Universalgelehrte wie den sowohl für die Medizin als auch die Jurisprudenz bedeutenden Hermann Conring (1606–1681) blicken, um diesen Zusammenhang zu erkennen.¹⁵ Es wird noch zu zeigen sein, dass gerade Ärzte mit einer medizinisch-juristischen Doppelausbildung durch Schriften im Bereich der Pestbekämpfung hervorgetreten sind.
2.2 Wer sind juristische Experten? Zu klären ist im Kontext der hier verfolgten Fragestellung aber auch, was unter juristischen „Experten“ zu verstehen ist.¹⁶ Problematisch schiene es, wenn die Expertise von Juristen im Umgang mit der Pest notwendig auch deckungsgleich mit juristischer Expertise gesehen würde. Juristisches Wissen in den Pestdiskurs einzuspeisen, bedeutet zwar zunächst, juristische Probleme zu lösen, die im Zusammenhang mit der Pest entstehen. Wer beispielsweise wissen wollte, ob in Zeiten pestbedingten Massensterbens ein Testament auch ohne Beachtung der erforderlichen Formvorschriften errichtet werden konnte, wird dazu einen Juristen befragt haben. Darüber hinaus kann es aber auch bedeuten, allgemeinere Aspekte des ju Karl Härter hat in dem dem Band zugrundeliegenden Workshop darauf hingewiesen. Walter Rüegg: Themen, Probleme, Erkenntnisse, in: Ders. (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 2. Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800). München 1996, S. 21– 52 (hier: S. 46). Zur Biographie und Bedeutung Conrings ausführlich die Beiträge in: Michael Stolleis (Hrsg.), Hermann Conring (1606–1681). Beiträge zu Leben und Werk. Berlin 1983. Zu Conrings medizinischem Werk außerdem: Edwin Rosner: Die Bedeutung Hermann Conrings in der Geschichte der Medizin, in: Medizinhistorisches Journal 4 (1969), S. 287–304. Zu frühneuzeitlichen Expertenkulturen die Beiträge in: Björn Reich/Franz Rexroth/Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. München 2012.
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ristischen Denkens für den Kampf gegen die Pest nutzbar zu machen. Das kann beispielsweise das für Juristen typische Ordnungsdenken betreffen, aber auch eine spezifische Bezogenheit auf obrigkeitliches oder staatliches Handeln. So bedienten sich die Obrigkeiten bei der Organisation ihrer Policey schon zu einem Zeitpunkt juristischer Unterstützung, als es auf Rechtsfragen und Rechtskenntnisse noch gar nicht zentral ankam¹⁷. Juristisches Expertenwissen kann nach außen, aber auch nach innen wirken: Es kann der nichtjuristischen Außenwelt zur Verfügung gestellt werden, etwa einem Stadtrat, der Maßnahmen gegen die Pest plant, einem Gericht, aber auch der breiten Öffentlichkeit durch volkssprachliche Aufklärungsschriften. Damit soll es Teil der Problemlösung werden und kann im Erfolgsfall zu Prestigegewinnen des Fachs beitragen. Juristische Pestexpertise wirkt aber auch nach innen: Erwiesen sich die Handlungsanweisungen von Juristen als effizient oder gar als überlegen gegenüber theologischen und medizinischen Strategien, so konnte dies zur Selbstvergewisserung eines Fachs dienen, das im Bereich der Seuchenbekämpfung zunächst eher Abseits stand. Juristisches Expertenwissen stand damit auch in einem Wettbewerb zur Expertise anderer Disziplinen, vor allem der zunächst verstärkt nachgefragten medizinischen Wissenschaft, aber auch der Theologie. Diesen dynamischen Prozess des Wettbewerbs um die Deutungshoheit gilt es mit einzufangen.
3 Die Pest als medizinisches und theologisches Problem 3.1 Die Pest als medizinisches Problem Heute wissen wir, dass die 1347 nach Europa zurückgekehrte und als Pest bekannte Krankheit durch ein komplexes Zusammenspiel von vier Organismen ausgelöst wird:¹⁸ Der Pesterreger Yersinia pestis wird durch bestimmte Flöhe (Xenopsylla cheopis) zwischen seinen originären Wirten, zumeist den Ratten oder anderen
Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988, S. 336 f. In Übereinstimmung mit der durch DNA-Analysen belegten neueren Lehrmeinung wird hier davon ausgegangen, dass es sich beim Erreger der seit 1347 grassierenden Krankheit tatsächlich um Yersinia Pestis handelt. Dass einzelne regionale Ausbrüche jeweils auch auf andere Erreger zurückgeführt werden könnten, wird damit nicht bestritten. Zur Forschungsdiskussion knapp: Paul Slack: Die Pest. Stuttgart 2015, S. 13–20.
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Nagern, verbreitet.¹⁹ Sofern die befallenen Rattenpopulationen an der Krankheit sterben, müssen sich die Flöhe andere Wirtsorganismen suchen und springen dann in ihrer Not gewissermaßen „ersatzweise“ auf den Menschen über.²⁰ Durch die Flohstiche tritt der Erreger in den menschlichen Körper ein und befällt dort zunächst die nahegelegenen Lymphknoten, wo sich beulenartige Geschwulste (sog. Bubonen) bilden. Die Sterblichkeit der Beulenpest ist stark von den Lebensverhältnissen abhängig, heute führt sie unbehandelt in bis zu 50 % der Fälle zum Tode,²¹ für das Mittelalter werden Werte zwischen 30 und 80 % genannt.²² Deutlich gefährlicher wird die Krankheit, wenn sie die Barriere der Lymphknoten überwindet und zu einer Lungenpest oder Pestsepsis wird. Dann beträgt nicht nur die Letalität nahezu 100 %,²³ sondern vor allem kann dann der Pesterreger durch Tröpfcheninfektion leicht auf andere Menschen übertragen werden und bei diesen ebenfalls innerhalb weniger Tage zum Tode führen. Diese komplexen Übertragungswege waren den vormodernen Menschen allerdings unbekannt, erst 1894 wurde der Pesterreger durch Alexandre Yersin (1863–1943) isoliert und drei Jahre später Ratten und Flöhe als Überträger ermittelt.²⁴ Bis dahin war auch die Bedeutung dieser Parasiten für die Ausbreitung der Pest den Menschen nicht bewusst.²⁵ Empirisch erfahrbar waren lediglich die äußeren Krankheitssymptome, sowie die Tatsache, dass die Krankheit sich innerhalb menschlicher Gemeinschaften sehr schnell ausbreiten konnte und sich von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt weiterfraß. Da die Pest den Körper befiel, schienen zunächst die Mediziner die sachnächste Expertenkultur zu sein. Als die Seuche sich seit 1347 von Süd- nach Nordfrankreich vorarbeitete, forderten sowohl der in Avignon residierende Papst Clemens VI. Übersichtlich zur Übertragung: Hans-Peter Becht: Medizinische Implikationen der historischen Pestforschung am Beispiel des „Schwarzen Todes“ von 1347/51, in: Bernhard Kirchgässner/Jürgen Sydow (Hrsg.), Stadt und Gesundheitspflege. 19. Arbeitstagung in Bad Mergentheim 14.–16. November 1980. Sigmaringen 1982 (Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, Bd. 9), S. 78–94. Die Bedeutung der Ratte bei der Übertragung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pest kann bis heute nicht als geklärt gelten, denn weder ist das damit notwendig verbundene charakteristische Rattensterben für diese Epochen belegt, noch passt diese Form der Übertragung zur Dynamik der Pandemiewellen. Zusammenfassend: Valeska Becker: Katzen, Ratten, Flöhe. Tiere als Überträger der Pest, in: LWL-Museum für Archäologie u.a. (Hrsg.), Pest! Eine Spurensuche. 20. September 2019–10. Mai 2020. Darmstadt 2019, S. 48–55. Julia M. Riehm/Thomas Löscher: Pest und Lungenpest. Pathogenität, Epidemiologie, Klinik und Therapie, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 58 (2015), S. 721– 729 (hier: S. 724). Becht: Medizinische Implikationen (wie Anm. 19), S. 86. Riehm/Löscher: Pest und Lungenpest (wie Anm. 21), S. 726. Näher: Manfred Vasold: Die Pest. Ende eines Mythos. Stuttgart 2003, S. 56–59. Becht: Medizinische Implikationen (wie Anm. 19), S. 82.
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(ca. 1290–1352)²⁶ als auch der französische König Philipp VI. (1293–1350) ihre Ärzte auf, Ursachen und Therapien der Krankheit zu benennen. Wie der päpstliche Leibarzt Guy de Chauliac (ca. 1298–1368), der das Wüten der Seuche in Avignon beobachtete und über seine Ergebnisse in seinem vielgelesenen Hauptwerk, der Chirurgia magna, berichtete,²⁷ standen auch seine Kollegen von der medizinischen Fakultät der Universität Paris vor dem Problem, ein Phänomen zu erklären, das sie selbst kaum kannten. Die Ergebnisse ihrer Überlegungen fassten sie in einem Bericht zusammen, der als Compendium de epidemia per collegium facultatis medicorum Parisius ordinatum (sog. Pariser Pestgutachten) dem König überreicht und alsbald in vielen Kopien über ganz Europa verbreitet wurde.²⁸ Bereits hier findet sich die später immer wieder nachgeahmte Aufteilung des Stoffs in drei Teile, nämlich eine Darstellung der Ursachen der Pest (Teil I des Traktats), Maßnahmen zu deren Prävention und Empfehlungen zu deren Heilung (Teile II/1 und II/2 des Traktats). Die Pariser Ärzte interpretierten die Pest als Ergebnis eines Zusammenspiels astronomischer Konstellationen und durch sie erzeugter Ausdünstungsprozesse.²⁹ Damit folgten sie im Wesentlichen der humoralpathologischen Interpretation im Sinne der klassischen Medizin des Galenos von Pergamon (ca. 129– ca. 216 n.Chr.), der Krankheiten als Folge von Zersetzungsprozessen verrottender Materie erklärte. Die durch diese Prozesse freigesetzten Stoffe, sog. Miasmen, würden durch die Atemluft aufgenommen und führten zu Störungen im Gleichgewicht der Körpersäfte, woran der Mensch schließlich sterbe. Dagegen spielen Prozesse der Ansteckung in diesem Theoriegebäude allenfalls eine nachrangige Rolle.³⁰ Aus dieser Interpretation leitete man die entsprechenden Vorkehrungen ab: Während einerseits durch Entfernung von Abfällen und Reinhaltung der Luft, sowie durch das Ausräuchern von Häusern mit wohlriechenden Kräuterdämpfen die Entstehung und Verbreitung von Miasmen verhindert werden sollte, sollten die Körpersäfte durch entsprechend gesundes Verhalten (diaeta) im Bereich der allge-
Bernd Ingolf Zaddach: Die Folgen des Schwarzen Todes (1347–51) für den Klerus Mitteleuropas. Stuttgart 1971, S. 59. Ralf Lützelschwab: Papst und Pest. Avignon 1348, in: LWL-Museum für Archäologie u. a. (Hrsg.), Pest! (wie Anm. 20), S. 100–111 (hier: S. 106). Eine kritische Edition mit deutscher Übersetzung bietet Andrea Birgit Schwalb: Das Pariser Pestgutachten von 1348. Eine Textedition und Interpretation der ersten Summe. Diss. med. Tübingen 1990, S. 28–42 (Edition) und S. 43–50 (Übersetzung); die altfranzösische Fassung ist ediert bei Rudolf Sies: Das „Pariser Pestgutachten“ in altfranzösischer Fassung. Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur, IV. Pattensen 1977 (Würzburger medizinhistorische Forschungen, Bd. 7). Gundolf Keil: Seuchenzüge des Mittelalters, in: Bernd Herrmann (Hrsg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter. Stuttgart 1986, S. 108–128 (hier: S. 115 f.); Karl-Heinz Leven: Die Geschichte der Infektionskrankheiten. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Landsberg a.L. 1997, S. 33–35. Leven: Geschichte (wie Anm. 29), S. 34 f.
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meinen Lebensführung (Essen und Trinken, Bewegung und Baden, Lüften, Schlaf, Ausscheidungen und Gemütsbewegungen)³¹ gestärkt werden. Auch die vorgeschlagenen Heilmittel ergaben sich aus der antiken Säftelehre. Innerhalb der medizinischen Profession verbreiteten sich die Inhalte des Pestgutachtens durch eine umfangreiche Konsilien- und Ratgeberliteratur. Karl Sudhoff hat für die 150 Jahre nach dem „Schwarzen Tod“ etwa 300 dieser Schriften identifiziert, davon 141 aus Deutschland.³² Pestgutachten hatten eine ähnliche Funktion wie die Konsilien der Juristen, und es erscheint nicht fernliegend zu sein, dass die juristische Gutachtenliteratur den ersten Pestkonsilien als Vorbild diente.³³ Es zeigte sich aber sehr bald, dass die Nachfrage auch aus weiteren Bevölkerungsschichten kam. Während die ursprüngliche Fassung des Pariser Pestgutachtens sich an ihren Auftraggeber, den französischen König und allenfalls eine gebildete Elite richtete, sorgten diverse volkssprachige Übersetzungen, Adaptionen und Kurzfassungen für eine starke Erweiterung des Rezipientenkreises und die Verbreitung des Pariser Pestkanons in ganz Europa, wo er bis ins 18. Jahrhundert wirkungsmächtig blieb.³⁴ Unmittelbar mit dem Aufkommen des Buchdrucks im 15. Jahrhundert werden in großer Zahl Flugblätter gedruckt, die, häufig in Reimform und mit anschaulichen Bildern, über die Krankheit informierten.³⁵ Um viele Bevölkerungsschichten zu erreichen, wurden diese Ratgeber überwiegend volkssprachlich und in verständlicher Sprache abgefasst. Die präventiven und kurativen Empfehlungen der Ärzte richteten sich primär an den Einzelnen und weniger an die
Ebd., S. 34. Karl Sudhoff: Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des „schwarzen Todes“ 1348, XX, in: Sudhoffs Archiv 17 (1925), S. 264–291 mit einer Übersicht und einem Verfasserverzeichnis; Alfons Fischer: Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. Bd. 1: Vom Gesundheitswesen der alten Deutschen zur Zeit ihres Anschlusses an die Weltkultur bis zum Preußischen Medizinaledikt (Die ersten 17 Jahrhunderte unserer Zeitrechnung). Berlin 1933, S. 242. So Klaus Bergdolt: Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters. 4. Aufl., München 2017, S. 27. Zur Vorbildfunktion der juristischen für die medizinischen Consilia auch: Thomas Woelki/Tobias Daniels: Consilia, in: Jan-Hendryk de Boer u. a. (Hrsg.), Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch. Stuttgart 2018, S. 83–94 (hier S. 85); zur Gattung der medizinsichen Konsilien vgl. auch im Überblick: Chiara Crisciani: Consilia, responsi, consulti. I pareri del medico tra insegnamento e professione, in: Carla Casagrande/Chiara Crisciani/Agostino Paravicini Bagliani (Hrsg.), Consilium. Teorie e pratiche del consigliare nella cultura medievale. Florenz 2004, S. 259–279. Ebd., S. 35; ein Beispiel für eine deutsche Adaption des Pariser Pestgutachtens findet sich bei Karl Sudhoff: Ein deutsches Pest-Regiment aus dem 14. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte der Medizin (künftig: Sudhoffs Archiv) 2 (1909), S. 379–383. Karl Sudhoff: Ein Augsburger Pestblatt, ca. 1472–1474 bei Günther Zainer gedruckt, in: Sudhoffs Archiv 2 (1908), S. 113 f. Eine Edition zahlreicher Pestblätter bei: Paul Heitz (Hrsg.), Pestblätter des 15. Jahrhunderts. 2. Aufl., Straßburg 1918.
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Obrigkeiten oder ihre Beamten in der Gesundheitspflege.³⁶ Jeder Untertan sollte möglichst sündenfrei leben, seine Ernährung und Sexualität kontrollieren, Abfälle beseitigen und die Wohnung lüften. Notfalls sollte er sich der Seuche durch Flucht entziehen. Der Erfolg dieser Literaturgattung verfestigte zunächst die Rolle und das Ansehen der Ärzte als Pestexperten. Erst allmählich traten – jedenfalls nördlich der Alpen³⁷ – die Territorien, Städte und Gemeinden als Akteure der Pestbekämpfung auf den Plan und erzeugten ihrerseits eine Nachfrage nach medizinischem Expertenwissen. Eine wachsende Zahl von Städten leisteten sich einen Stadtphysikus und die gefälschte Reformatio Sigismundi aus dem 15. Jahrhundert hielt es bereits für eine gewonheit, dass jede gut Stadt einen solchen besoldeten meyster ertzt einstelle.³⁸ Diese Schritte zum Aufbau eines öffentlichen Gesundheitswesens waren dabei nicht nur eine Reaktion auf die sporadisch auftretenden Pestepidemien, sondern auch Teil einer säkularen Professionalisierung der öffentlichen Verwaltung im Zuge der vormodernen Territorialisierung. Bereits unabhängig von der Pest regelten Landes- und Policeyordnungen Fragen der Müll- und Abwasserentsorgung, der Nahrungsmittelsicherheit und anderer Fragen der öffentlichen Hygiene, die auch für die Seuchenbekämpfung relevant waren.³⁹ Die Pestepidemien und die durch sie ausgelöste Nachfrage nach medizinischem Wissen trugen dann dazu bei, dass die entsprechenden Regelungen
Ein Beispiel bietet das in mehreren Handschriften überlieferte Sendschreiben aus dem Kreis der Prager medizinischen Fakultät an Kaiser Karl IV. von 1371, ediert bei: Karl Sudhoff: Ein weiteres deutsches Pest-Regiment aus dem 14. Jahrhundert und seine lateinische Vorlage, das Prager Sendschreiben „Missum Imperatori“ vom Jahre 1371, in: Sudhoffs Archiv 3 (1909), S. 144–153; Katharina Wolff: Die Theorie der Seuche. Krankheitskonzepte und Pestbewältigung im Mittelalter. Stuttgart 2021, S. 222. Zur zeitlichen Verzögerung Deutschlands und Englands gegenüber der früher einsetzenden öffentlichen Pestbekämpfung in Italien: Martin Dinges: Nord-Süd-Gefälle in der Pestbekämpfung. Italien, Deutschland und England im Vergleich, in: Wolfgang U. Eckart/Robert Jütte (Hrsg.), Das europäische Gesundheitssystem. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in historischer Perspektive. Stuttgart 1994 (Medizin, Gesellschaft, Geschichte (künftig: MedGG), Beiheft 3), S. 19–51. Heinrich Koller (Hrsg.): Reformation Kaiser Siegmunds. Stuttgart 1964 (MGH Staatsschriften, Bd. 6), S. 290. Ein praxisrelevanter Impuls ging von diesem Text allerdings wohl nicht aus: Jochen Taupitz: Die Standesordnungen der freien Berufe. Geschichtliche Entwicklung, Funktionen, Stellung im Rechtssystem. Berlin/New York 1991, S. 235, Anm. 154. In Nürnberg wurde 1377 ein „neuer Arzt“ eingestellt: Wolff: Theorie (wie Anm. 36), S. 340. Nach Dinges: Nord-Süd-Gefälle (wie Anm. 37), S. 44, kam es in deutschen Städten erst um 1600 zur vorübergehenden Einrichtung von Pestbehörden, worunter (ebd., S. 39) auch besoldete Stadtärzte zu verstehen sind. Diese Datierung dürfte demnach zu spät angesetzt sein. Leider führt Dinges die für seine Auswertung verwendeten Quellen nicht auf. Die Vielfalt dieser Quellengattung wird durch ein inzwischen 12bändiges Großprojekt des MaxPlanck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie erschlossen: Michael Stolleis/Karl Härter (Hrsg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit. 12 Bde. Frankfurt a. M. 1996 ff.
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nicht nur für den Einzelfall angeordnet, sondern durch fest besoldete Spezialisten auf Dauer anhand des medizinischen Wissens der Zeit fixiert wurden. Dass die verschiedenen Pestwellen jeweils als „Katalysatoren“ für die Entwicklung vorausschauender und auf Dauer angelegter Strategien wirkten, konnte Katharina Wolff anhand einer systematischen Auswertung einer großen Quellenfülle für die süddeutschen Städte überzeugend belegen.⁴⁰ Mit zeitlicher Verzögerung gegenüber Italien erließen dann auch diverse Obrigkeiten des Deutschen Reichs in wachsender Zahl spezielle Pestordnungen,⁴¹ andere Territorien integrierten die entsprechenden Vorschriften in Landes- oder Policeyordnungen.⁴²
3.2 Die Pest als theologisches Problem Während die medizinische Kompetenz sich aus den körperlichen Folgen der Erkrankung ableiten ließ, bestand für die Christen der Vormoderne kaum ein Zweifel daran, dass die Pest als Strafe Gottes für ihr sündhaftes Verhalten zu interpretieren war. Kaum eine medizinische oder juristische Pestschrift, die nicht mit dieser Feststellung begann. Die eigentlichen Experten für diesen Erklärungsansatz, die Theologen, konnten sich allerdings nie in gleicher Weise als Experten inszenieren wie die Mediziner.⁴³ Wie die noch näher darzustellende Spezialliteratur der Juristen, so entstanden auch theologische Schriften zur Pest erst bedeutend später und in weit geringerer Zahl als die entsprechenden medizinischen Traktate. Erst mit der Reformation werden theologische Pestschriften häufiger, und diese sind zudem, wie Matthias Lang hervorhebt, fast ausschließlich protestantischer Provenienz.⁴⁴ Stellvertretend für diese Gattung steht Luthers Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen
Wolff: Theorie (wie Anm. 36), S. 112–224. Denselben Begriff verwendet in diesem Zusammenhang bereits Martin Dinges: Pest und Staat. Von der Institutionengeschichte zur sozialen Konstruktion?, in: Ders./Thomas Schlich (Hrsg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte. Stuttgart 1995 (MedGG, Beiheft 6), S. 71–103 (hier S. 74). Diese Literaturgattung ist bislang nur unzureichend erforscht. Für Österreich vgl. Heinz Flamm: Die ersten Infektions- oder Pest-Ordnungen in den österreichischen Erblanden, im Fürstlichen Erzstift Salzburg und im Innviertel im 16. Jahrhundert. Wien 2008 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Medizin, Bd. 58). Sonja Ribbentrop: Pest und Policey im norddeutschen Raum: Die Entwicklung der Pest im Kontext von Wirtschaft, Administration und Policey. Hamburg 2014. Matthias Lang: „Der Vrsprung aber der Pestilentz ist nicht natürlich, sondern übernatürlich …“. Medizinische und theologische Erklärung der Seuche im Spiegel protestantischer Pestschriften 1527– 1650, in: Otto Ulbricht (Hrsg.), Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/ Wien 2004, S. 133–180. Ebd., S. 137.
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möge“, in der ein differenzierter Umgang mit der Seuche angemahnt wird: Nur Seelsorger und Amtsträger müssten bei einem Ausbruch vor Ort bleiben. Allen übrigen sei zuzugestehen, dass sie ihrem Selbsterhaltungstrieb folgten und flohen. Wer sich aber gegen eine Flucht entscheide, solle dies aus Barmherzigkeit tun; wer dagegen aus Kühnheit oder Leichtsinn mit seinem Leben spiele, indem er auf Arznei verzichte und die Ratschläge der Ärzte und Behörden missachte, fordere Gott heraus.⁴⁵ Die akademischen Konflikte von Teilen der Theologie mit den Krankheitskonzepten der Medizin können an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Die von allen Konfessionen geteilte Grundannahme einer göttlichen Strafe hatte allerdings nicht geringe Auswirkungen auf die aus dieser Diagnose abzuleitenden Handlungsoptionen. Dass die Vorstellung, wonach ein Krieg Gottes gegen die Menschen durch Letztere ohnehin nicht zu gewinnen sei, bei den Theologen zu einer allgemein resignativen Haltung geführt haben soll, wird bereits durch die durchaus handlungsorientierte Schrift Luthers widerlegt und in der neueren Literatur in dieser Allgemeinheit sogar für die der Prädestinationslehre anhängenden Calvinisten bezweifelt.⁴⁶ Allerdings tragen gerade die protestantischen Schriften häufig konsolatorischen Charakter und adressieren damit wiederum eher den Einzelnen als die Gemeinschaft.⁴⁷ Nimmt man für die Frage nach der Wirkungsmacht theologischer Verhaltensanweisungen die Maßnahmen kirchlicher Obrigkeiten zum Maßstab, so galten auf der individuellen Ebene ein sündenfreies Leben und als öffentliche Maßnahmen bei den Katholiken Wallfahrten, Bittgottesdienste, Heiligenverehrung⁴⁸ und Prozessionen,⁴⁹ sowie bei Katholiken wie Protestanten das gemeinsame Gebet und finanzielle Zuwendungen an die Kirche als hilfreiche Mittel zur Pestbekämpfung.⁵⁰ Extreme Martin Luther: Ob man vor dem Sterben fliehen möge. 1527, in: [J.K.F. Knaacke u. a. (Hrsg.),] D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 23. Weimar 1901, S. 323–386. Lang: Der Vrsprung (wie Anm. 43), S. 141 f. Ebd., S. 139 f. mit Quellennachweisen. Zum Sebastians- und Rochuskult in der Schweiz vgl. Silvio Bucher: Die Pest in der Ostschweiz, in: Historischer Verein des Kantons St. Gallen, Neujahrsblatt 119 (1979), S. 7–58 (hier S. 22–28). Vgl. beispielsweise: Ralph von Shresbury, Bischof von Bath und Wells, an die Erzdiakone seiner Diözese, 17. August 1348, in: Thomas Scott Holmes (Hrsg.), The Register of Ralph of Shrewsbury, Bishop of Bath and Wells, 1329–1363. London 1896, S. 555 f.: Processiones ac staciones in singulis collegiatis, regularibus, et parochialibus ecclesiis saltero singulis sextis feriis fieri faciatis in quibus populum inducatis, quod ante oculos divine misericordie humiliter provoluti de peccatis suis contereantur et peniteant, ac ea devotis obsequiis non omittant cicius expiare, ut misericordie Dei nos cito antecipen et avertat a populo suo hujusmodi pestilenciam […]. Weitere Quellen in englischer Übersetzung bei: Rosemary Horox (Hrsg.): The Black Death. Manchester 1994, S. 111–157. Papst Clemens VI. (ca. 1290/91–1352) entwickelte eigens eine Messliturgie, die in Pestzeiten zu zelebrieren war: Jules Viard: La messe pour la peste, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 61 (1900), S. 334–338, mit Edition.
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Bestrebungen wie die Geißlerbewegung und die grassierenden Judenpogrome, suchte man nach Kräften einzudämmen – mit unterschiedlichem Erfolg.⁵¹ Auch in den protestantischen Gebieten wollte die Kirche die Deutungshoheit behalten und spezifisch religiöse Pestbekämpfungsstrategien zumindest vorübergehend institutionalisieren. Anders als bei der Beschäftigung medizinischer Pestexperten als Stadtärzte erwies sich jedoch die Einrichtung spezieller Pestprediger, wie sie 1656 in Bremen versucht wurde, nicht als Erfolgsmodell.⁵² Vor allem die in der katholischen Kirche geforderten Maßnahmen (Wallfahrten, Prozessionen, Gottesdienste) hatten von Anfang an mit dem Problem zu kämpfen, dass dadurch größere Menschenmengen auf engem Raum versammelt wurden, oder – wie etwa bei den Romwallfahrten des Heiligen Jahres 1350 – eine Übertragung der Krankheit entlang der Pilgerwege drohte.
4 Die Pest als juristisches Problem 4.1 Vorteile der Medizin? Angesichts der eindrucksvollen Expansion medizinischer Expertise bei der Pestbekämpfung stellt sich die Frage, ob dieser Erfolg überhaupt noch Platz ließ, damit sich Juristen als Experten der Pestbekämpfung etablieren konnten. Es scheint, als habe die schnelle und erfolgreiche Institutionalisierung eines Erklärungs- und Behandlungsmodells durch die Mediziner seit dem Pariser Pestgutachten deren Deutungshoheit bestätigt und ihre Zuständigkeit für das Gemeinwohl belegt, die bereits im Gutachten selbst reklamiert wird.⁵³ Im Fakultätenstreit (disputa delle arti) um Einfluss und Vorrang schien es den Medizinern jedenfalls zunächst gelungen zu sein, „den Juristen einen wesentlichen Trumpf zu entwenden“.⁵⁴ Hierzu grundlegend: Frantisek Graus: Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. 2. Aufl. Göttingen 1988 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 86); vgl. auch: Klaus Bergdolt: Die Pest und die Juden. Mythen, Fakten, Topoi, in: Aschkenas 29 (2019), S. 43–62. Klaus Schwarz: Die Pest in Bremen. Epidemien und freier Handel in einer deutschen Hafenstadt 1350–1713. Bremen 1996 (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 60), S. 225. Pariser Pestgutachten von 1348: […] incitati, utilitati etiam publice intendere cupientes […]: Schwalb: Pariser Pestgutachten (wie Anm. 28), S. 28; zum Fakultätenstreit: Gundolf Keil/Rudolf Peitz: „Decem quaestiones de medicorum statu“. Beobachtungen zum Fakultätenstreit und zum mittelalterlichen Unterrichtsplan Ingolstadts, in: Gundolf Keil/Bernd Moeller/Winfried Trusen (Hrsg.), Der Humanismus und die oberen Fakultäten. Mitteilung XIV der Kommission für Humanismusforschung. Weinheim 1987, S. 215–238. Keil: Seuchenzüge (wie Anm. 29), S. 116.
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Andererseits hatten die Juristen gewisse Startvorteile durch ihre frühe Einbindung in die öffentliche und kirchliche Verwaltung. Als gelehrte Räte, Richter oder auch Notare erhielten sie zunehmend Zugang zu den Schalthebeln der Macht. Doch waren sie damit auch qualifiziert für seuchenspezifische Fragen der öffentlichen Ordnung? Und: Kam es dann auch zu einer Konkurrenzsituation mit der medizinischen Expertise?
4.2 Juristische Probleme im Kontext der Pest Wenn man zunächst auf die juristischen Kernkompetenzen blickt, muss festgehalten werden, dass die Pestepidemien seit dem 14. Jahrhundert erhebliche Rechtsfragen aufwarfen. Diese reichten von der Ausgestaltung konkreter Akutmaßnahmen über die planende Pestprävention bis hin zum Umgang mit den längerfristigen persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Pestfolgen. Um Beispiele zu nennen: Wie waren erforderliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens (Quarantäne, Ausgangsbeschränkungen) zu definieren, zu organisieren und durchzusetzen? Welche Einrichtungen waren zu errichten und welche Regeln einzuhalten, wenn Kranke behandelt, Tote beerdigt und das Übergreifen der Seuche verhindert werden mussten? Wie war die Aufrechterhaltung des Rechtsverkehrs sicherzustellen, wenn beispielsweise einer großen Zahl testierwilliger Bürger eine aufgrund von Pest und Flucht abnehmende Zahl von Testierzeugen und Notaren gegenüberstand? Hier war ebenso über die Lockerung von Formvorschriften und Privilegien im Katastrophenfall zu entscheiden wie im allgemeinen Vertragsrecht. Was geschah mit anhängigen Verfahren, wenn die Rechtspflege wegen eines Pestausbruchs zum Erliegen kam?⁵⁵ Sonderregeln erzwang die Pest auch im Bereich des Kirchenrechts, etwa bei den Voraussetzungen der Taufe, der letzten Ölung, des christlichen Begräbnisses und der Sündenvergebung. Durften in der Not Frauen als Testierzeugen auftreten oder gar die Sakramente spenden, wenn in der Dynamik eines Pestausbruchs keine Männer mehr aufzufinden waren?⁵⁶ Wie war die Rechtsnachfolge in Grundeigentum und Pfründen zu organisieren, wenn ganze
Zu den praktischen Auswirkungen der Pest auf die Rechtspflege für den Schweizer Kanton Wallis: Josef Guntern: Die Pest im Wallis. Brig 1995, S. 167–174. Radulph, Bischof von Bath und Wells, gestattete in einem verzweifelten Dekret angesichts des schweren Pestausbruchs in seiner Diözese 1348 auch Laien, und ausdrücklich auch Frauen, den Sterbenden die Beichte abzunehmen: Mandatum Radulphi, episcopi Bath. et Wellen. de confessoribus tempore Pestilentiae, a. 1348, in: Concilia Magnae Britanniae et Hiberniae, ab Anno MCCLXVIII ad Annum MCCCXLIX. Bd. 2, London 1737, S. 745 f.
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Landstriche entvölkert waren? Wie war mit der pestbedingten Kriminalität umzugehen, mit Quarantäneverweigerern, Passfälschern und Wucherern?
4.3 Die Pest in der Literatur des Ius Commune Vorauszuschicken ist, dass eine gründliche Auswertung des gemeinrechtlichen Beitrags zur Rechtsgeschichte der Pest an dieser Stelle nicht erfolgen kann. Mehrere Schriften von Mario Ascheri zur juristischen Pestliteratur des Mittelalters bringen hier einiges Licht ins Dunkel.⁵⁷ Ascheri hebt hervor, dass die juristische Produktion zur Pest gegenüber der medizinischen deutlich später einsetzt.⁵⁸ Tatsächlich beschäftigten sich die gelehrten Juristen der Zeit mit Fragen im Zusammenhang mit der Pest allenfalls punktuell und beiläufig. Jedenfalls fanden sie zunächst kaum Niederschlag im Mainstream der juristischen Literatur, seien es nun Dekretalen, Glossen, Kommentare oder Konsilien. Nur wenige Themen wurden in der gelehrten Literatur kontrovers diskutiert, allen voran die Frage nach möglichen Modifikationen der strengen Formvorschriften des Testierrechts⁵⁹. Das Bild ändert sich nur wenig, wenn man die Frühe Neuzeit einbezieht. Eine erste, allerdings nicht systematische, Durchsicht der einschlägigen Publikationen des 16. und 17. Jahrhunderts bringt insgesamt nur dürftige Ergebnisse hervor. Ganz vereinzelt finden sich juristische Dissertationen, die von 1667 an erschienen. So diskutierten zwei in Wittenberg 1668 und 1680 unter dem Vorsitz von Wilhelm Leyser (1628–1689) und Gottfried Strauß (1641–1706) entstandene Arbeiten die Frage, ob man in Pestzeiten Fremden den Zugang zur Stadt verweigern dürfe.⁶⁰ Sehr viel schwieriger zu identifizieren sind Hinweise auf die Pest in den großen Folianten des Gemeinen Rechts, den Kommentaren und Konsiliensammlungen des
Ein Buchkapitel und ein Aufsatz sind nachgedruckt in: Mario Ascheri: Rimedi contro le epidemie. I consigli di diritto Europeo dei giuristi (secoli XIV–XVI). Rom 2020 (Storia del diritto e delle instituzioni, Materiali 12). Der Band ist ein Nachdruck von ders.: I Giuristi e le epidemie di peste (secoli XIV–XVI). Siena 1997; vgl. außerdem ders.: Il diritto europeo dei „dottori“ (secoli XIV–XVI). Al di là provvedimenti locali contro le epidemie, in: Agostino Paravicini Bagliani/Francesco Santi (Hrsg.), The Regulation of Evil. Social and Cultural Attitudes to Epidemics in the Late Middle Ages. Florenz 1998, S. 145–157; ders.: Le epidemie di peste e i giuristi. Introduzione alla trattatistica, 1522–23, in: Peter Linehan (Hrsg.), Proceedings of the seventh international Congress of Medieval Canon Law, Cambridge, 23.–27 July 1984. Vatikanstadt 1988, S. 283–301. Ascheri: Rimedi (wie Anm. 57), S. 11. Hierzu ausführlich: ebd., S.76–87. Wilhelm Leiser (Präs.)/Dietrich Schicke (Resp.): Dissertatio Juridica De Jure Arcendi Tempore Pestis. Wittenberg 1668; Gottfried Strauß (Präs.)/Karl Gottfried Vollmar (Resp.): Dissertatio Juridica Secunda, De Jure Arcendi Tempore Pestis. Wittenberg 1683.
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16. bis 18. Jahrhunderts. Auch hier konnten zunächst nur Stichproben ausgewertet werden. Beispielsweise argumentiert der Wittenberger Professor und kursächsische Rat Andreas von Rauchbar (1559–1602) in seiner Quaestionensammlung, dass ein Ehegatte zwar gehalten sei, im Falle der Lepra den Ehepartner nicht zu verlassen, anders sei dies allerdings, wenn sich ein Ehegatte mit der Pest infiziert habe. In diesem Falle dürfe der andere sein Heil in der Flucht suchen.⁶¹ Anders argumentierte der Anwalt Hieronymus Palma aus Lucca († ca. 1640) in einer ähnlich gelagerten Fallkonstellation: Da die Direktoren der Armenhäuser in ihrer Funktion einem Vormund gleichkämen, dürften sie bei einem Pestausbruch nicht einfach ihre pestkranken Insassen im Stich lassen.⁶² Der vielleicht nur vermeintliche Widerspruch zwischen diesen Rechtsauffassungen wurzelte letztlich in einer christlichen Pflichtenkollision: Während nämlich Palma seine Forderung nach Standhaftigkeit des Krankenhauspersonals aus der christlichen Verpflichtung zur Barmherzigkeit (misericordia) ableitete,⁶³ begründete von Rauchbar das Recht zur Flucht mit dem auf den Kanonisten Nicolaus de Tudeschis (genannt Panormitanus, 1386–1445) zurückgehenden Argument, dass es eine Versuchung Gottes sei, an einem Ort zu bleiben, wo die Pest herrsche.⁶⁴
4.4 Juristische Spezialliteratur zur Pest Die überkommenen Ordnungsprinzipien der gemeinrechtlichen Literatur sind dafür verantwortlich, dass sich Hinweise auf die juristische Bewältigung der Pest nicht gebündelt an bestimmten Orten finden, sondern sehr weit verstreut unter den jeweils relevanten Regelungsproblemen (z. B. dem Testierrecht) behandelt werden. Zwischen dem ersten Ausbruch der Pest 1347 und dem ausgehenden 17. Jahrhundert, als vereinzelt Dissertationen und Traktate das Pestrecht zusammenzufassen such-
Andreas von Rauchbar: Quinquaginta Quaestionum Insignium, Ad Iuris Communis, Saxonici, Et Electoris Sax. Constitutionum Provincialium Declarationem pertinentium etc., Pars Posterior. Frankfurt a. M. 1604, q. 20, S. 222–230. Hieronymus Palma: Consilia. Bologna 1641, consilium LX, S. 355–358. Ebd., n. 3 f., S. 356. In loco pestis stare, est Deum tentare: Rauchbar: Quaestiones (wie Anm. 61), q. 20, n. 4, S. 224; vgl. Nicolaus de Tudeschis (genannt Panormitanus): Commentaria in Prima Secundi Decretalium. Venedig 1582, zu Liber Extra 2.14.6, n. 16, fol. 237v. Das Argument findet sich auch im Pesttraktat des Gianfrancesco Riva di San Nazaro: De Peste Libri Tres, zuerst Bologna 1522, hier zit. nach der Ausgabe Leipzig 1598, Praeludium, n. 8, S. 3.
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ten,⁶⁵ finden sich nur drei Traktate aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, die das Thema vollständig erfassen wollen und davon sind auch nur zwei im Druck erschienen. Lässt man den handschriftlich überlieferten Tractatus de Peste des Silvestro Aldebrandini (1499–1558) von 1523 als für den juristischen Diskurs nebensächlich beiseite,⁶⁶ sind hier zum einen der seit 1522 zirkulierende Tractatus Illustris Iuridicus ac Politicus de Peste des aus Pavia stammenden Gianfrancesco Riva di San Nazaro (1480–ca. 1535) zu nennen,⁶⁷ zum anderen der 1523 fertigstellte und 1524 publizierte Traktat De peste et eius privilegiis des Bologneser Juristen Girolamo Previdelli (1496–ca. 1534).⁶⁸ Zu beiden Schriften und ihren Autoren hat Mario Ascheri in mehreren Beiträgen alles Wichtige zusammengetragen.⁶⁹ Daher sollen hier nur knapp einige Beobachtungen angesprochen werden, die die Bedeutung dieser Werke für eine juristische Expertenkultur der Seuchen betreffen. Dabei ergibt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wirken die beiden Pestschriften aus rechtshistorischer Sicht eher traditionell. In ihrer Stoffauswahl und Gliederung orientieren sie sich erstaunlich stark an den medizinischen Pestkonsilien: So handelt Riva zunächst von den Problemursachen (causae), dann von Prävention (de remediis praeservativis) und schließlich von Heilmitteln (de remediis ad curandam pestem). Auch zeigen die Texte nicht nur formal, sondern auch inhaltlich eine konservative Note. Mario Ascheri hat Riva nicht ohne Grund als „Maestro des Mos Italicus“ bezeichnet.⁷⁰ Die Erwartung, dass sich die gelehrten Juristen an die Spitze einer Bewegung gesetzt hätten, die aus der Dynamik der Krise zukunftsweisende Konzepte abgeleitet hätten, ist von Au-
Als Beispiele seien genannt: Adrian Beier (Präs.)/Abraham Valder (Resp.): Erotematum Juridicorum de Peste, Decades Quatuor. Jena 1674; Georg Engelbrecht: Discursum iuridicum de peste, et iuribus circa tempus pestis, Von dem was recht ist zu Pest-Zeiten. Helmstedt 1683; Johannes Schack (Präs.)/Theodor Benjamin Wothlen (Resp.): Disputatio Juridica, De Jure circa Pestem. Greifswald 1709; Johann Stein (Präs.)/Johannes Christopherus von Harlem (Resp.): Disputatio Juridica de Jure Pestis. Königsberg 1710. Silvestro Aldobrandini: De Peste [Ms, a. 1523]: Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat.lat. 5843, digital unter (Stand: 27.11. 2021). Näher zum Autor und dem Hintergrund dieses Manuskripts: Ascheri: Rimedi (wie Anm. 57), S. 15 f., S. 28–32. Riva di San Nazaro: De peste (wie Anm. 64). Das Buch wurde bis 1598 mehrmals neu aufgelegt. Zu Autor und Entstehungsgeschichte vgl. Ascheri: Rimedi (wie Anm. 57), S. 14 f., S. 21–25 und ausführlich ders.: Un maestro del „mos italicus“. Gianfrancesco Sannazari della Ripa (1480–c. 1535), Mailand 1970. Girolamo Previdelli: Tractatus legalis de Peste, zuerst Bologna 1524, Nachdrucke erschienen ebd. 1528 und unter dem Titel De Peste, & eius privilegijs im für das Folgende herangezogenen Tractatus Universi Iuris (künftig: TUI): Tractatus Illustrium in utraque tum Pontificii, tum Caesarei Iuris facultate Iurisconsultorum, De varijs verbis Iuris etc., Bd. 18.Venedig 1584, fol. 171v–187r. Näher zu Autor und Werk: Ascheri: Rimedi (wie Anm. 57), S. 16 f., S. 25–28. Ascheri: Rimedi (wie Anm. 57), bes. S. 9–32. Ascheri: Un maestro (wie Anm. 67).
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toren, die nicht als Speerspitzen der zeitgenössischen Jurisprudenz bekannt sind, sondern eher den Wissensstand für die Praxis zusammenfassen wollten, auch nicht anders zu erwarten. Martin Dinges hat die These vertreten, dass die Pesterfahrung im Zeitverlauf die Vorstellung einer Gleichheit aller unter dem Gesetz befördert habe.⁷¹ Jedenfalls die unmittelbar unter dem Eindruck der Pest entstandenen juristischen Schriften stützen diese Auffassung nicht: Geradezu ängstlich beharrten die Autoren auf den Regeln der tradierten Rechts- und Gesellschaftsordnung, verharmlosten lieber die Pest, als sie zum Anlass für eine Öffnung des Rechts in Richtung auf staatsbürgerliche Gleichordnung zu verwenden. Das zeigt bereits die erste quaestio in Previdellis Pesttraktat. Mit der Frage, ob Scholaren wie alle anderen Bürger verpflichtet werden durften, am Stadttor Wache zu schieben, um infizierte Personen am Zutritt zur Stadt zu hindern,⁷² spricht er ein Problem der Solidarität in Notzeiten an. Sehr gelehrt und unter fleißiger Nennung der entsprechenden Autoritäten trägt Previdelli die gegensätzlichen Rechtsansichten zu diesem Thema vor. Im Ergebnis schließt er sich der Auffassung an, dass die aus der Authentica Habita fließenden Scholarenprivilegien stärker seien als die Bedürfnisse der Not. Zwei Argumente bringt er dabei vor: Zum einen behauptet er pauschal, die zwei oder drei für den Schutz der Stadt erforderlichen Wachen werde man problemlos finden.⁷³ Berücksichtigt man die Schlüsselfunktion der Torwache für die ohnehin limitierten Eindämmungsstrategien in der Frühen Neuzeit,⁷⁴ so muss die Stellungnahme Previdellis eher weltfremd wirken. Der Hintergrund wird beim Blick in Rivas Traktat deutlich: Auch er begrenzt die Zahl der erforderlichen Wachen auf zwei und nennt als Quelle einen Beschluss des Konzils von Vienne 1311/ 1312, der sich allerdings nicht auf Erfahrungen mit Infektionskrankheiten bezieht, sondern die Bewachung der Kerker von inhaftierten Häretikern anordnet.⁷⁵ Zentrale Referenz waren für Previdelli und Riva also nicht die Bedürfnisse der Not, sondern die Überlieferung der juristischen Literatur.
Dinges: Pest und Staat (wie Anm. 40), S. 78. Previdelli: Tractatus (wie Anm. 68), fol. 171v: De his quae ad salubritatem civitatum pertinent. Zur Wachpflicht als einer der ersten Maßnahmen der mittelalterlichen Verwaltungen zur Eindämmung der Seuche: Dinges: Nord-Süd-Gefälle (wie Anm. 37), S. 33 f. Previdelli: Tractatus (wie Anm. 68), fol. 171v, n. 8: […] non est necesse omnes ad portas accurrere, sed duo vel tres sufficiunt […]. Neithard Bulst: Vier Jahrhunderte Pest in niedersächsischen Städten.Vom Schwarzen Tod (1349– 1351) bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Cord Meckseper (Hrsg.), Stadt im Wandel. Kunst und Kultur des Bürgertums in Norddeutschland 1150–1650. Stuttgart/Bad Cannstatt 1985, S. 251–270 (hier: S. 260); Bucher: Pest (wie Anm. 48), S. 51. Konzil von Vienne, a. 1311/12, c. 26, ediert bei: Josef Wohlmuth (Hrsg.), Die Dekrete der ökumenischen Konzilien. Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Paderborn u. a. 2000, S. 381 (= Clem. 5.3.1 § 2), zit. bei Riva di Nazaro: De peste (wie Anm. 64), c. 5, n. 194, S. 222.
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Zum anderen betonen beide Autoren nachdrücklich die Bedeutung der ständischen Unterschiede: An den Stadttoren Wache zu halten sei „Drecksarbeit“ (vile officium), die Menschen von Würde nicht zuzumuten, sondern niedrigstehenden Personen vorbehalten sei.⁷⁶ Bedenkt man, dass Städte wie Köln die Stadttore in Pestzeiten wegen der anspruchsvollen Aufgaben der Passkontrolle sogar mit leseund schreibkundigen Ratsdeputierten besetzten,⁷⁷ erscheint auch dieses Argument wie eine störrische Verleugnung der Pestrealitäten zugunsten althergebrachter Privilegien. Dabei fällt besonders ins Gewicht, dass die von Riva zum Beleg herangezogene Glosse zum Codex Iustinianus nur wenig tragfähig ist, da dort die Stadtwachen nicht erwähnt werden. Auch die gemeinrechtliche Kommentarliteratur rechnet nicht die Stadtwächter (custodes), sondern lediglich die Schweinehüter (custodes porcorum) zu den ehrlosen Berufen.⁷⁸ So konventionell die beiden Traktate damit aus dogmenhistorischer Perspektive sein mögen, so kann man ihnen aber dennoch ein innovatives Potential nicht absprechen, das sowohl auf der praktischen als auch auf der symbolischen Ebene zu verorten ist. Bereits die Tatsache, dass beide Werke mehrere Auflagen erfuhren und sich Bezugnahmen auf den Traktat Rivas bis ins 19. Jahrhundert finden,⁷⁹ belegt die Nachfrage nach dieser Form der Literatur. Auch in einer Zeit, in der rechtsstaatliche Verhältnisse noch in weiter Ferne lagen, stellte sich für Städte und Territorien die Frage, inwieweit deren teilweise drakonischen Maßnahmen im Einklang mit dem Gemeinen Recht standen. So bestätigte 1676 der dottore consultore Scipione Busetti, offensichtlich ein Jurist, in einem aus theologischen und juristischen Schriften gewonnenen Gutachten, dass die von der Genueser Gesundheitsverwaltung getroffenen Anordnungen mit dem Gemeinen Recht übereinstimmten.⁸⁰ Riva und Previdelli boten für derartige Fragen in übersichtlicher Form Antworten und
Previdelli: Tractatus (wie Anm. 68), fol. 171v, n. 9 u.d.T. De his quae ad salubritatem civitatum pertinent; ähnlich Riva di Nazaro: De peste (wie Anm. 64), c. 5, n. 211, S. 225: […] munus vilissimum […] sordido, & vili officio […]. Rudolf Creutz: Pest und Pestabwehr im alten Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 15 (1933), S. 79–119 (hier: S. 105). Bartolus de Sassoferrato: Lectura zu C. 12.1.6, in: Bartoli a Saxoferrato in tres posteriores libros, hier zit. nach der Ausgabe Venedig 1590, fol. 48v: […] Et no. Appellari vilissimas artes illorum, qui stant ad custodiam porcorum […]; ebenso Jakobus Rebuffus: Lectura super tribus ultimis libris Codicis, hier zit. nach der Ausgabe Turin 1591, fol. 159r. Stefano Vinci: Diritto ed epidemie nell’esperienza giuridica moderna e contemporanea, in: Mediterranea – ricerche storiche 17 (2020), S. 517–525 identifiziert 14 Neuauflagen von Rivas Traktat bis 1601 (S. 520). Giovanni Assereto: „Per la comune salvezza dal morbo contagioso“. I controlli di sanità nelle repubblica di Genova. Novi Ligure 2011, S. 59.
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Ratschläge und waren daher nicht nur für Anwälte und Richter, sondern gerade auch für die zunächst in Italien expandierenden Gesundheitsverwaltungen anschlussfähig. Dass die beiden Werke dort gelesen und verarbeitet wurden, zeigt das Beispiel des für die Pestbekämpfung in Palermo eingesetzten Gesundheitsexperten Giovanni Filippo Ingrassia (1510–1580), der sich in seiner 1576 erschienenen Schrift „Informatione del Pestifero, et Contagioso Morbo etc.“ explizit auf Previdelli und Riva berief.⁸¹ Dabei kam ihnen im Gegensatz zu den entsprechenden medizinischen Ratgebern zugute, dass sie ohne theoretische Skrupel die Übertragbarkeit der Krankheit zum Ausgangspunkt ihrer Ratschläge machen konnten: Pestillentes homines cum primum in aliqua urbe apparuerint possunt expelli ne alios inficiant – Pestkranke Menschen, die in irgendeiner Stadt das erste Mal erscheinen, dürften ausgewiesen werden, damit sie nicht andere ansteckten – dieser Satz aus Previdellis Traktat nimmt ohne weiteres die Übertragbarkeit der Krankheit als Ausgangspunkt zur Begründung entsprechender Maßnahmen und zitiert zur Begründung bezeichnenderweise Fundstellen juristischer Autoritäten zum Umgang mit der von den Medizinern ganz anders erklärten Lepra.⁸² Indem Previdelli hier, mehr oder weniger offen, medizinisches Wissen ignoriert, demonstriert er gleichzeitig auch auf einer symbolischen Ebene die Relevanz juristischen Expertenwissens. Dies gilt umso mehr, als er sich in der Gestaltung seines Texts eng an das Vorbild der medizinischen Ratgeberliteratur anlehnt. Juristisches Selbstbewusstsein wird auch erkennbar, wenn Riva seinen Lesern pestis juridica remedia verspricht,⁸³ also juristische Heilmittel gegen die Pest.
4.5 Juristische Pestexperten? Juristisches Expertenwissen zur Pest hat sich allerdings nicht nur in den beiden vereinzelt gebliebenen Pestschriften Rivas und Previdellis niedergeschlagen. Vielmehr ist weiter zu prüfen, ob und wie es auch indirekt in die Verwaltungskultur des modernen Gesundheitsstaats einfloss, der – nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der wellenartig durch Europa ziehenden Pestpandemie – im Laufe der Frühen Neuzeit entwickelt und perfektioniert wurde. In einer historischen Situation der
Giovanni Filippo Ingrassia: Informatione del Pestifero, et Contagioso Morbo etc. Forca 1576; zum Einfluss der Schriften Rivas und Previdellis auf Ingrassias Werk: Renato Malta/Alfredo Salerno: La peste a Palermo nel 1575 e il controllo sociale, in: Medicina nei Secoli. Arte e Scienza 27 (2015), S. 93– 130 (hier: S. 100 f., S. 119). Previdelli: Tractatus (wie Anm. 68), fol. 172r, li. Spalte, Summarium n. 1. Riva di Nazaro: De peste (wie Anm. 64), Praeludium, S. 1.
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Delegitimierung medizinischen Wissens, so die hier vertretene These, gelang es dabei Juristen tatsächlich, sich in ihrer Rolle als Verwaltungsexperten an die Spitze einer Bewegung zu setzen, die sich eine effiziente Pestbekämpfung durch Unterbrechung von Übertragungswegen zum Ziel gesetzt hatte.
4.5.1 Delegitimierung der medizinischen Experten Trotz des großen Erfolgs medizinischer Pestratgeber kam es in den Jahrzehnten nach 1348 zu einem schleichenden Glaubwürdigkeitsverlust der Mediziner bei der Pestbekämpfung. Dieser trat besonders augenfällig im Bereich der Heilung hervor, denn so breit wie die Vielfalt der gegen die Pest verschriebenen Rezepturen war auch deren Wirkungslosigkeit. Während einige Ärzte des 17. Jahrhunderts in dickleibigen Handbüchern alle denkbaren Heilmittel zusammentrugen,⁸⁴ wurden andere nachdenklich und regten einen Perspektivwechsel in Richtung auf eine stärker empirische Sichtweise an: Hermann Conring, selbst im Kindesalter an der Pest erkrankt,⁸⁵ empfahl beispielsweise, nicht einfach sämtliche Kranken mit derselben Therapie zu behandeln, sondern einen genaueren Blick auf die Krankengeschichten zu werfen und daraus Schlüsse für die Heilung abzuleiten.⁸⁶ Die Einbußen der Mediziner bei der Deutungshoheit über die Pest lag aber noch tiefer und hatte eine wichtige Wurzel in der Bindung der herrschenden Lehrmeinung an die Dogmen der klassischen Humoralpathologie. Während die ersten Ausbrüche kaum genügend empirisches Material hervorbrachten, um vertrauenswürdige Rückschlüsse über die Krankheitsentstehung zuzulassen,⁸⁷ so kristallisierte sich im weiteren Verlauf immer deutlicher heraus, dass die überkommene Miasma-Theorie zwar in sich schlüssig zu sein schien, aber nicht so recht zu den
Zu nennen ist hier etwa das mehr als 900 Seiten umfassende Kompendium des Frankfurter Stadtarzts Ludwig von Hörnigk: Würg-Engel. Von der Pestilentz Namen / Eygenschaft / Ursachen / Zeichen / Praeservation / Zufällen / Curation etc. Frankfurt a. M. 1644. Michael Stolleis: Die Einheit der Wissenschaften. Hermann Conring (1606–1681), in: Ders. (Hrsg.), Hermann Conring (wie Anm. 15), S. 11–31 (hier: S. 13). Hermann Conring: Vorrede zu Roland Capelluti, Chyrurgisches Tractätlein von den Pestilentialischen Beulen und Geschwären, in: Drey außerlesene Tractat von der Pest. Frankfurt 1640, S. 104– 107 (S. 105 f.): […] dann so in irgendeiner Kranckheit Historische Beschreibungen mangeln / so ist es in dieser Schwachheit [d. h. bei der Pest, DvM]. Dahero ist es dann kommen / daß in dem man gemeiniglich in allen dergleichen Schwachheiten / eine Kur und Heylung gebrauchet / als wann alle einer Natur und Complexionen wehren / sehr wenig recht curiret und geheylet werden; Auß vielen und mancherley Auffmerckungen und Historien / kan man endlich etwas gewisses schliessen […]. Ann G. Carmichael: Plague Legislation in the Italian Renaissance, in: Bulletin of the History of Medicine 57 (1983), S. 508–525 (hier: S. 509).
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empirisch erfahrbaren Folgen der Pest passen wollte. Stattdessen konnte ein Aspekt nicht länger geleugnet werden, den die Vertreter der herrschenden Lehrmeinung immer zu marginalisieren gesucht hatten: Die Übertragung von Mensch zu Mensch, das contagium. Bei der folgenden Auseinandersetzung über die Pestursachen handelte es sich keinesfalls um einen auf die Hörsäle der Universitäten beschränkten Gelehrtenstreit, sondern um eine Richtungsentscheidung von hoher Bedeutung für Prävention und Krisenmanagement im Umgang mit der Seuche: Während die Miasmatiker dazu rieten, die Städte zu reinigen, Bettler und Prostituierte ebenso wie Schweine und alles andere, was man als unrein betrachtete, aus den Kommunen zu verbannen und ansonsten die Luft durch Räuchern zu säubern, mussten die Maßnahmen auf der Grundlage einer kontagionistischen Auffassung vor allem darauf abzielen, Übertragungswege zu unterbinden, Kranke von Gesunden zu trennen und Pestverdächtige zu isolieren. Die Gegensätzlichkeit dieser Positionen war in der Realität allerdings wohl nie so scharf, wie es vor allem die ältere Medizingeschichte behauptet hatte, denn zum einen erkannte auch die klassische medizinische Pesttheorie eine Übertragbarkeit zumindest als untergeordneten Beitrag zum Seuchengeschehen an; zum anderen waren auch die praktischen Maßnahmen beider Richtungen wenigstens teilweise deckungsgleich. Nach beiden Theorien waren beispielsweise hygienische Maßnahmen zu ergreifen oder die Berührung von Leichen und deren Habseligkeiten zu vermeiden. Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass sich die zeitgenössischen Obrigkeiten eher an der Empirie und politischen oder ökonomischen Nützlichkeitserwägungen orientierten als an der medizinischen Theorie. Sinnbildlich für diesen Politikstil steht die wohl 1377 erstmals in Ragusa (dem heutigen Dubrovnik) eingeführte Quarantäne.⁸⁸ Mit einer zeitlich und räumlich klar definierten Unterbrechung der Handelswege gelang eine für modernes Verwaltungshandeln typische Kompromisslösung im Konflikt zwischen Gesundheitsschutz und wirtschaftlichen Interessen.⁸⁹
Ausführlich: Zlata Blažina Tomić/Vesna Blažina: Expelling the Plague. The Health Office and the Implementation of Quarantine in Dubrovnik, 1377–1533. Montreal u. a. 2015 (McGill-Queen’s / Associated Medical Services Studies in the History of Medicine, Health, and Society, Bd. 43). Jane Stevens Crawshaw: The Renaissance Invention of Quarantine, in: Linda Clarke/Carole Rawcliffe (Hrsg.), The Fifteenth Century XII. Society in an age of plague. Suffolk 2013, S. 161–174; instruktiv zur Quarantäne: Henning Füller: Quarantäne, in: Nadine Marquardt/Verena Schreiber (Hrsg.), Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart. Bielefeld 2012, S. 224–230.
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4.5.2 Juristen und die Pestbekämpfung in Oberitalien Eine nähere Untersuchung, welche Rolle spezifisch Juristen bei der Ausgestaltung der italienischen Gesundheitsverwaltung spielten, setzt eine intensive Auswertung der entsprechenden Quellen voraus, die an dieser Stelle noch nicht erfolgen kann. Zwar finden sich zahlreiche Darstellungen zur Geschichte der italienischen Gesundheitspolitik.⁹⁰ Diese wenden allerdings der Frage nach der beruflichen Qualifikation der in den Gesundheitsbehörden tätigen Beamten nur wenig Aufmerksamkeit zu. Es kann allerdings als gesichert gelten, dass es in den oberitalienischen Kommunen bereits vor Ausbruch der Pest ein Bewusstsein für die gesundheitspolitischen Aufgaben der Verwaltung gab. Entsprechend waren auch die häufig zitierten Anordnungen der Stadt Pistoia weniger konkrete Reaktionen auf die Pest als vielmehr die logische Fortsetzung älterer Strategien der Gesundheitsvorsorge.⁹¹ Und diese Verwaltung und Rechtsprechung der italienischen Städte war insgesamt stark am Gemeinen Recht orientiert und bediente sich gelehrter Juristen für Justiz, Gesetzgebung und Verwaltung.⁹² Der konkrete Einfluss der Juristen, etwa als Beamte oder externe Gutachter, wäre allerdings noch herauszuarbeiten. Wenn beispielsweise in Florenz ein Sondergericht für Fälle der Übertretung von Pestvorschriften eingerichtet wurde, lässt dies vermuten, dass studierte Juristen oder zumindest Gutachter bei den entsprechenden Verfahren mitwirkten.⁹³
Zu Florenz: John Henderson: Florence under Siege. Surviving Plague in an Early Modern City. New Haven/London 2019; zu Genua: Assereto: Per la commune salvezza (wie Anm. 80); Danilo Presotto: Genova 1656–1657. Cronache di una pestilenza, in: Atti della Società ligure di storia patria 79 (1965), S. 315–435; Paolo Calcagno: Pestilenze e controllo del territorio nella Repubblica di Genova, in: Mario Berruti (Hrsg.), La peste a Finale (1631–1632). Diffusione e incidenza di una epidemia nella Liguria di antico regime.Ventimiglia 2012, S. 96–161; zu Neapel: Giulia Calvi: L’oro, il fuoco, le forche: la peste napoletana del 1656, in: Archivio Storico Italiano 139 (1981), S. 405–458; zu Sizilien: Daniele Palermo: Il Tribunale del Real Patrimonio del Regno di Sicilia e la gestione di emergenze sanitarie nella seconda metà del XVII secolo, in: Polygraphia 2 (2020), S. 257–278; zu Siena: William M. Bowsky: The Impact of the Black Death upon Sienese Government and Society, in: Speculum 39 (1964), S. 1–34; zu Rom vgl. unten, Anm. 135. Guy Geltner: The Path to Pistoia: Urban Hygiene Before the Black Death, in: Past and Present 246 (2020), S. 3–33; die Verordnungen aus Pistoia sind z.T. abgedruckt bei: Alberto Chiappelli: Gli ordinamenti sanitari del commune de Pistoia contro la pestilenza del 1348, in: Archivio Storico Italiano 20 (1887), S. 3–24. Susanne Lepsius: Konfliktlösung im Gemeinen Prozess, in: David von Mayenburg (Hrsg.), Konfliktlösung im Mittelalter. Berlin 2021 (Handbuch zur Geschichte der Konfliktlösung, Bd. 2), S. 183– 199. Henderson: Florence under Siege (wie Anm. 90), S. 229. Eine Sondergerichtsbarkeit belegt auch Palmer für das in Venedig für die Pestbekämpfung zuständigen Provveditori al Sal bzw. die Pro-
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4.5.3 Juristen und Pestbekämpfung in Deutschland – Ein prosopographischer Zugriff Nördlich der Alpen kam es zunächst nicht zur Einrichtung derart hochspezialisierter Gesundheitsbehörden wie in Oberitalien. Während auch in Nordfrankreich erst Ende des 16. Jahrhunderts Gesundheitsbehörden geschaffen wurden,⁹⁴ waren es in den deutschen Territorien vor allem die Stadtärzte, die in obrigkeitlichem Auftrag für eine Eindämmung des Pestgeschehens eingesetzt wurden. Interessiert man sich in diesem Kontext für die Bedeutung der Juristen, so kann man zunächst fragen, ob es auch nördlich der Alpen Personen gab, die mit juristischer Expertise in die Gesundheitsverwaltung gingen. Eine Recherche in der Datenbank des Repertorium Academicum Germanicum (RAG)⁹⁵ förderte mindestens sieben deutsche Stadtärzte zutage, die neben einem medizinischen auch ein juristisches Studium vorzuweisen hatten:⁹⁶ Zu ihnen zählt der später noch näher zu behandelnde Bremer Stadtmedicus Johannes Ewich (1525–1588).⁹⁷ Dieser war nicht nur aufgrund seiner Leistungen im Gebiet der Medizin und als glühender Reformator berühmt, sondern hatte außerdem in Köln Jura studiert.⁹⁸ Als bedeutender Frühhumanist gilt Heinrich Steinhöwel (1410/11–1479), der in Padua kanonisches
vveditori alla Sanità: Richard John Palmer: The Control of Plague in Venice and Northern Italy 1348– 1600. Diss., Canterbury 1978, S. 63, S. 65. Neil Murphy: Plague ordinances and the management of infectious diseases in northern French towns, c. 1450–c. 1560, in: Clarke/Rawcliffe (Hrsg.), The Fifteenth Century XII (wie Anm. 89), S. 139–160. Repertorium Academicum Germanicum (künftig: RAG) (Stand: 30.11. 2021). Ich danke Herrn Dr. Kaspar Gubler (Bern) für die freundliche Unterstützung meiner Recherchen in der Datenbank. Für den im RAG als möglichen achten Stadtarzt mit juristischer Qualifikation aufgeführten Thomas von Thierstein († 1506) ist die von Mario Studer: Das amtliche Medizinalwesen im alten Luzern unter besonderer Berücksichtigung der Stadtärzte und ihrer Pflichten, in: Der Geschichtsfreund 111 (1958), S. 126–219 (S. 143 f.) aufgestellte Hypothese, dieser sei gelehrter Mediziner und bis 1506 Stadtarzt von Luzern gewesen, sehr fraglich. Zu ihm Klaus Schwarz: Der Bremer Stadtarzt Johann von Ewich als Verfasser von Pestschriften, in: Bremisches Jahrbuch 72 (1993), S. 98–116; ders.: Pest in Bremen (wie Anm. 52), S. 118–127; Carl Anton Eduard Lorent: Johann von Ewich, geb. 1525, † 1588, in: Ärztlicher Verein zu Bremen, Biographische Skizzen verstorbener bremischer Aerzte und Naturforscher. Eine Festgabe für die zwei und zwanzigste Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Bremen. Bremen 1844, S. 36–59. Schwarz: Bremer Stadtarzt (wie Anm. 97), S. 100. Lorent: Johann von Ewich (wie Anm. 97), S. 36. Dass Ewich in Padua Baccalaureus utr.iur. geworden sein soll, wie der entsprechende Eintrag im RAG behauptet, wird zumindest durch die dort zitierte Fundstelle nicht belegt: Nach Elisabetta della Francesca/Emilia Veronese (Hrsg.): Acta Graduum Academicorum Gymnasii Patavani ab Anno 1551 ad Annum 1565. Rom/Padua 2001, n. 610, S. 238 f. trat Ewich am 9. Dezember 1556 lediglich als Zeuge bei der Promotion eines anderen Deutschen, Wilhelm Linctus aus Köln, auf.
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Recht studierte, ehe er dieses Studium abbrach, um sich der Medizin zu widmen und als Stadtarzt in Esslingen und Ulm zu wirken.⁹⁹ Kanonistik in Padua studierte auch Johann Lochner d.Ä. († 1491), bevor er in ein Medizinstudium wechselte und Nürnberger Stadtarzt wurde.¹⁰⁰ Mit Steinhöwel befreundet war der spätere Ulmer Stadtarzt Johannes Wirker († 1471), der 1421 in den Matrikeln der juristischen Fakultät der Universität Wien nachweisbar ist.¹⁰¹ Johannes Roman Wonnecker († 1524) ist einer von sehr wenigen Doppelstudenten, die in beiden Fächern – und außerdem noch in der Artistenfakultät – mit einer Promotion abschlossen. Der langjährige Stadtarzt von Basel studierte erst spät Jura und arbeitete dann als Advokat an der bischöflichen Kurie.¹⁰² Als zwei weitere Stadtärzte mit juristischem Hintergrund nennt das RAG Georg Kämmerlin (Anf. 16. Jh.), angeblich Stadtarzt von Reutlingen,¹⁰³ sowie den in Straßburg und Nürnberg beschäftigten Stadtphysikus Heinrich Wolff (1520–1581), der auf dem Straßburger Gymnasium unter anderem das Fach Jurisprudenz belegt hatte.¹⁰⁴ Weitere Beispiele von Stadtärzten mit juristischem Hintergrund lassen sich leicht finden, so etwa den berühmten Humanisten und Universalgelehrten Hart-
Zu seiner Biographie Gerd Dicke: Neue und alte biographische Bezeugungen Heinrich Steinhöwels. Befunde und Kritik, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 120 (1991), S. 156–184 (zum Studienfachwechsel: S. 161). In seiner kurzen Biographie Lochners geht Hans J. Vermeer: Johann Lochners „Reisekonsilia“, in: Sudhoffs Archiv 56 (1972), S. 145–196 (S. 153 f.) nicht auf dessen Studium in Padua ein. Kurt Mühlberger (Hrsg.): Die Matrikel der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Bd. 1: 1402–1442. Wien/München 2011, S. 27. Hans Georg Wackernagel (Hrsg.): Die Matrikel der Universität Basel. Bd. 1: 1460–1529. Basel 1951, S. 226. Die Lebensdaten sind unsicher: Er wird nachgewiesen 1526 bis 1551: (Stand: 03.10. 2021). Dass Kämmerlin Stadtarzt in Reutlingen gewesen sein soll, ergibt sich aus Werner Kuhn: Die Studenten der Universität Tübingen zwischen 1477 und 1534. Ihr Studium und ihre spätere Lebensstellung. Göppingen 1971, S. 172 (Nr. 668). Die Information erscheint zweifelhaft, weil die einschlägige lokalhistorische Literatur im fraglichen Zeitraum um 1539 keinen Stadtarzt mit diesem oder auch nur einem ähnlich klingenden Namen aufweist: Martin Widmann: Neues zu den Reutlinger Ärzten und Apothekern der frühen Reichsstadtzeit, in: Reutlinger Geschichtsblätter NF 52 (2013), S. 9–56, bes. S. 26 f.;Theodor Schön: Geschichte des Medicinalwesens der Württembergischen Städte. 3. Das Medicinalwesen der Stadt Reutlingen, in: Medicinisches Correspondenz-Blatt des Württembergischen ärztlichen Landesvereins 69 (1899), S. 451–452 (S. 453) berichtet, dass 1537 bis 1540 die Stelle des Stadtphysikus unbesetzt geblieben sei, ehe 1540 Georg Kürrmann Stadtarzt wurde. Nach Otto Krimmel: Reutlinger Ärzte und Apotheker in den Zeiten der Reichsstadt, in: Reutlinger Geschichtsblätter 4 (1893), S. 57–61 (S. 58) wird Kürrmann bereits 1538 Stadtarzt. Die Details können hier nicht weiterverfolgt werden. Wolfram Brechtold: Dr. Heinrich Wolff (1520–1581). Diss. med. Würzburg 1959; Karl Heinz Burmeister: Magister Rheticus und seine Schulgesellen. Das Ringen um Kenntnis und Durchsetzung des heliozentrischen Weltsystems des Kopernikus um 1540/50. Konstanz/München 2015, S. 649 f.
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mann Schedel (1440–1514), den Verfasser einer berühmten Weltchronik. Er hatte zunächst Juravorlesungen besucht, ehe er Medizin studierte und dann Stadtarzt in Nürnberg, Amberg und Nördlingen wurde.¹⁰⁵ Auch ein anderer wichtiger Humanist, der zeitweise als Stadtarzt von St. Gallen tätige Reformator Joachim Vadian (1483/ 84–1551), hatte zunächst in Wien Rechtswissenschaft studiert, ehe er sich der Medizin zuwandte.¹⁰⁶ Ebenfalls eine medizinisch-juristische Doppelqualifikation besaß Ludwig von Hörnigk (1600–1667), angeblich illegitimer Sohn Ludwigs V. von Hessen-Darmstadt, der nach einem Medizinstudium 1635 Stadtarzt in Frankfurt am Main wurde, anschließend Jura studierte und sich als Verwaltungsjurist einen Namen machte.¹⁰⁷ Auch der niederländische Alchemist Joost van Balbian (1543–1616) hatte Jura und Medizin studiert, ehe er Stadtarzt in Gouda wurde.¹⁰⁸ Dessen Landsmann, der Naturphilosoph Henricus Regius (1598–1679) hatte zunächst ein Jurastudium begonnen, dann Medizin studiert und wurde später Stadtphysikus in Utrecht.¹⁰⁹ Auffällig oft ist die Kombination Medizin/Jura bei Absolventen der Universität Padua zu finden, einem der bedeutendsten Ziele deutscher Medizin-, aber auch Jurastudenten.¹¹⁰ Gerade diese oberitalienische Universität war als innovativ bekannt, nicht nur in ihrem Medizinunterricht, sondern auch in der Zuwendung vieler ihrer Lehrer zum Humanismus und den studia humanitatis. So rühmte Hartmann Schedel die umfassende Bildung seines Lehrers Girolamo dalle Valli (1420– vor 1500).¹¹¹ Es scheint, dass dort ein Ort der Begegnung entstanden war, gerade zwischen Studenten der Rechtswissenschaft und der Medizin. All diese Gelehrten wird man wohl nicht als „Juristen“ im klassischen Sinne bezeichnen können, da sie meist nur kurz Jura studierten und sich dann ganz überwiegend hauptberuflich der Medizin zuwandten. Die Bedeutung dieser dop-
Franz Fuchs: Schedel, Hartmann, in: NDB 22 (2005), S. 600–602. Guido Kisch: Amerbach und Vadian als Verteidiger des Bartolus, in: Ders.: Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz. Neue Studien und Texte. Berlin 1969, S. 101–184 (hier S. 147). Wilhelm Stricker: Ludwig von Hörnigk. Ein Charakterbild aus der Geschichte der Medicin, in: Frankfurts Archiv für Geschichte und Kunst 4 (1869), S. 237–246. Klaas Hoogendoorn: Bibliography of the Exact Sciences in the Low Countries from ca. 1470 to the Golden Age (1700). Leiden/Boston 2018, S. 54. August Hirsch: Regius, Henricus, in: ADB 27 (1888), S. 567. Der Frage, ob und wenn ja welchen Einfluss die Universitätskultur in Padua auf diese Fächerkombination hatte, kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Zu den deutschen Studenten in Padua vgl. Loris Premuda: Die Natio Germanica an der Universität Padua: Zur Forschungslage, in: Sudhoffs Archiv 47 (1963), S. 97–105. Hierzu mit Nachweis: Melanie Bauer: Nürnberger Medizinstudenten in Padua, in: Franz Fuchs (Hrsg.), Medizin, Jurisprudenz und Humanismus. Wiesbaden 2010 (Pirckheimer Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung, Bd. 24), S.71–90 (hier S. 80 f.).
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pelqualifizierten Stadtärzte darf man also nicht überbewerten, denn die große Mehrheit der kommunalen Mediziner hatte neben dem Medizinstudium lediglich die Grundausbildung der artes liberales durchlaufen. Dennoch fällt auf, dass ein nicht geringer Anteil der soeben genannten Gelehrten sich aktiv am Diskurs über die Pest und ihre Bekämpfung beteiligte. Von Johannes Ewich (1525–1588),¹¹² Heinrich Steinhöwel (um 1411–1479),¹¹³ Johann Lochner d.Ä. († 1491),¹¹⁴ Johannes Wirker († 1471),¹¹⁵ Johannes Vadian (1484–1551),¹¹⁶ Ludwig von Hörnigk (1600–1667)¹¹⁷ und wohl auch von Hartmann Schedel¹¹⁸ sind Pestschriften überliefert. Inwieweit in diese Werke und das Handeln ihrer Autoren als Stadtärzte jeweils juristische Expertise einfloss, muss jeweils im Einzelfall geprüft werden.
Johannes Ewich: De officio fidelis et prudentis magistratus tempore pestilentiae Rempub. à contagio praeservandi liberandique Libri duo. Neustadt a. d.W. 1582. Heinrich Steinhöwel: Büchlein der Ordnung der Pestilenz. Ulm 1473; hierzu näher: Karl Sudhoff: Der Ulmer Stadtarzt Dr. Heinrich Steinhöfel [1420–1482] als Pestautor, in: Arnold C. Klebs/Karl Sudhoff: Die ersten gedruckten Pestschriften. München 1926, S. 169–215. Überliefert ist ein an Lochners gleichnamigen Sohn gerichteter Reiseratgeber, der sich mit der Pestprävention beschäftigt: Hans J. Vermeer: Johann Lochners „Reisekonsilia“, in: Sudhoffs Archiv 56 (1972), S. 145–196 (S. 147, S. 153). Eine weitere Pestschrift wird erwähnt bei Marianne Wlodarczyk/ Volker Zimmermann: Lochner, Hans, in: Johannes Kochberger (Hrsg.), Verfasser-Datenbank. Bd. 5. Berlin/New York 2012 (Stand: 03.10. 2021). Von Wirker sind zwei Pestschriften überliefert, eines in deutscher und eines in lateinischer Sprache: Johannes Wirker: Regiment sich zu behuten vor der giftigen unreinen bosen Pestilenz, in: Karl Sudhoff: Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des „schwarzen Todes“ 1348.VII: Pesttraktate aus dem südlichen Deutschland bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Sudhoffs Archiv 8 (1914), S. 175–215 (hier: S. 185–202, Nr. 77); ders.: Regimen tempore pestileciali etc., ebd., S. 202–206, Nr. 78. Joachim Vadian: Ein kurtz und trüwlich Underricht, wider die sorgklich Kranckeyt der Pestilentz, nach aller Notturfft und Ordnung so in söllichem Fal, betracht und gehalten werden mag. Basel 1519. Näher: Bucher: Pest (wie Anm. 48), S. 19 f. Hörnigk: Würg-Engel (wie Anm. 84). Ein Teil der in der Handschrift BSB München Clm 411 überlieferten Pestratgeber werden von der Literatur Hartmann Schedel zugeordnet; vgl. Bernhard Schnell: Arzt und Literat. Zum Anteil der Ärzte am spätmittelalterlichen Literaturbetrieb, in: Sudhoffs Archiv 75 (1991), S. 44–57 (hier S. 51); die Handschrift enthält allerdings auch Schriften seines Vetters Hermann Schedel (1410–1485). Ediert ist die von Lochner kopierte Schrift in Karl Sudhoff: Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des „schwarzen Todes“ 1348. VIII: Pestregimina aus dem westlichen Deutschland bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Sudhoffs Archiv 8 (1915), S. 236–289 (hier S. 236–241).
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4.5.4 Juristische Pestexperten – zwei Beispiele 4.5.4.1 Johannes Ewich (1525–1588) Ein solcher Versuch soll hier am Beispiel des Bremer Stadtarztes Johannes Ewich unternommen werden.¹¹⁹ Während seines Studiums in Padua hatte Ewich den Umgang der Stadt mit der Pest beobachtet, und nachdem er 1562 Stadtarzt von Bremen geworden war, ging er daran, einen systematischen Plan für die Prävention und Bewältigung von Pestkrisen zu entwickeln.Während er zunächst 1565 eine eher konventionelle Pestschrift des in Frankfurt/O. lehrenden Mediziners Jodocus Willich leicht verändert neu auflegte,¹²⁰ steht sein 1582 erstmals erschienener und ein Jahr später ins Deutsche übertragene Ratgeber De officio fidelis et prudentis magistratus tempore pestilentiae Rempub. à contagio praeservandi liberandique Libri duo für einen Paradigmenwechsel in der Pestliteratur. Motiviert durch die Erfahrungen mit der Effizienz kommunaler Pestbekämpfung anlässlich seines Studiums in Padua, suchte er entsprechende Maßnahmen auch in Deutschland einzuführen.¹²¹ Dabei steht für ihn ganz klar die Frage der Übertragung durch contagium im Mittelpunkt, die für Ewich neben den göttlichen und natürlichen (miasmatischen) Ursachen als dritter Faktor die Krankheitsausbrüche erklärte. Die vor diesem Hintergrund aufgeführten Maßnahmen dienten weniger der herkömmlichen Belehrung des Einzelnen zu einem gesunden und sündenfreien Leben, als vielmehr der planvollen Organisation von Territorien und Gemeinden zur Eindämmung der Pest nach Vorbild der Venezianischen Verwaltung.¹²² Ewich schlug die Einrichtung einer Gesundheitsbehörde (conservatores sanitatis) vor, die von drei fähigen Honoratioren geleitet werden sollte und teils aus Ratspersonen und teils aus Bürgern
Nachweise zu seiner Biographie oben, Anm. 97. Johann Ewich: Von der Pestilentz, Ein gantz nützliche vnd notwendige vnterrichtung/ sonderlich wie man sich halten sol etc. Bremen 1565; Vorlage ist Jodocus Willich: Wie man sich in einer stadt fuer der Pestilentz behueten sol vnd moechte / ein kurtz vnd seer nuetzlich vnderrichtung, zuerst Frankfurt/O. 1550; ders.: De officio fidelis (wie Anm. 112); in deutscher Übersetzung als ders.: Pestilentzordenunge Nützer und notwendiger underricht, von dem Ampt der Obrigkeit, in Pestilentzzeiten, wie durch ihren fleis die Pestilentz verhütet, und da dieselbe eingerissen, gedempfft werden könne. Halberstadt 1583. Eine weitere Übersetzung ins Deutsche erschien in Magdeburg/Leipzig 1608 und eine englische Übertragung bereits 1583 in London. Ewich: Pestilentzordnunge (wie Anm. 120), fol. C IIIv: Ich habe selbst/ wie ich in Padua in der Artzney studirte / gesehen / als daselbst die Pestilentz allein vom contagio, und bloßen Geschmeis angefangen hatte / das die Obrigkeit ire Stad medicos zusammen berieff / und wie sie die ursach der Seuche von ihnen erforschet / keinen fleis noch Kosten unterlies / damit die Gemeine davon errettet und verhütet würde […]. Ebd., fol. C IIIv.
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zu bilden sei.¹²³ Bei der Auswahl sollten tadellose Persönlichkeiten berücksichtigt werden, wo mueglich auch zimlich gelart. ¹²⁴ Ewich war sich bewusst, dass seine Vorschläge innovativ waren, etwas newes bedeuteten und sich möglicherweise Protest dagegen aufbauen könnte. Er hielt dem entgegen, dass die Tatsache, dass ein ding new sei, nicht notwendig bedeute, dass es auch böse sein müsse. Denn alles Alte sei auch einmal neu gewesen und habe sich dann in der Praxis bewährt.¹²⁵ Auffällig ist, dass es nicht die Mediziner sind, denen Ewich die entscheidenden Kompetenzen bei der Pestbekämpfung zuwies, sondern eine Arbeitsteilung vorzunehmen sein sollte, die bei den verschiedenen Pestursachen ansetzte: denn wie den Medicis gebueret / einen jeden für der Pestilentz / so aus der vergiffteten Lufft entsteht / zuverhueten / also gebueret diesen conservatoribus die Pestilentz / so aus dem eusserlichen contagio und Geschmeis herkompt / zuverhueten und weg zu nemen. ¹²⁶ Die weiteren Ausführungen lassen erkennen, dass Ewich allerdings eine klare Überordnung der behördlichen über die medizinische Kompetenz forderte: Die conservatores hatten die Ärzte auszusuchen, zu besolden, zu vereidigen und zu überwachen. Sollten die Mediziner aus Irrthumb oder betrug etwas thun, wird es nicht ungestrafft bleiben. ¹²⁷ Außerdem sollte die Gesundheitsbehörde den Ärzten ins Gewissen reden, damit sie sich ihrer Verantwortung bewusst seien.¹²⁸ Gegen landfahrende Mediziner, Paracelsisten, Alchemisten und auch jüdische Ärzte, die er allesamt als „böse Buben und Bösewichter“ schmäht, sollten die conservatores ebenfalls scharf vorgehen.¹²⁹ Die von Ewich vorgeschlagenen Maßnahmen entsprachen den in Oberitalien üblichen Normen gegen die Verbreitung der Pest durch Infektion: Verbot oder Einschränkung öffentlicher Versammlungen, Handelsbeschränkungen, Stadtreinigung und Entfernung von Tieren von den Straßen, Einlasskontrollen an den Stadttoren, Bestattungsvorschriften, vor allem auch die Separierung von Kranken in ihren Häusern und deren anschließende Reinigung, sowie die Einrichtung spezieller Lazarette (Pestilenzhäuser). Den Abschluss des Traktats bildet ein Kapitel über die Strafen für Übertretungen der städtischen Pestvorschriften. Ewich betont, dass die conservatores nicht über dem Gesetz stünden, sondern selbst mit gutem Vorbild vorangehen sollten. Es folgt ein minutiös ausdifferenzierter Katalog mit einzeln aufgeführten Strafen für alle Arten von Vergehen, der die juristische Bildung des Autors erkennen lässt, so etwa wenn die
Ebd., fol. D IIr f. Ebd., fol. D IIv. Ebd., fol. D IIv f. Ebd., fol. D IIv. Ebd., fol. D IIIIv. Ebd., fol. D IIIIv – D Vv. Ebd., fol. [D VIIr (Foliierung fehlt)].
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Hehlerei mit Gegenständen, die aus Pesthäusern gestohlen wurden, wegen deren infektiösen Charakters wie Giftmischerei zu strafen sein sollte.¹³⁰ Obwohl Ewich in seiner Schrift juristische Kenntnisse zeigt und in der Sache eine Unterordnung der Medizin unter die ordnende Kraft des Staates forderte, ginge es zu weit, Ewichs Traktat als juristisches Buch oder als Werk eines Juristen zu bezeichnen. Ähnliche Forderungen einer Modernisierung des Gesundheitssystems nach italienischem Vorbild wurden zeitgleich auch von Medizinern ohne juristischen Hintergrund gestellt, etwa dem Berliner Arzt Matthaeus Fleck (1524–1592).¹³¹ Trotzdem scheint Ewich mit seiner Argumentation die im Pariser Pestgutachten in Anspruch genommene ärztliche Verantwortung nicht nur für den Körper, sondern auch für das Gemeinwohl deutlich zu relativieren. Ohne dass er damit die entsprechende Trumpfkarte explizit an die Juristen zurückgereicht hätte, plädierte er im Bereich der Pestbekämpfung jedenfalls für einen Primat der Politik und deren Akteure, dem sich die Ärzte unterzuordnen hatten. Während sich die Mediziner auf ihre Kompetenzen bei der Heilung von Individuen beschränken sollten und ansonsten als Befehlsempfänger der Gesundheitsverwaltung zu dienen hatten, hingen Erfolg und Misserfolg von der effizienten Organisation dieser Verwaltung durch die Obrigkeiten ab – und damit nicht zuletzt auch deren juristisch geschulten Beamten und Berater. 4.5.4.2 Girolamo Gastaldi (1616–1685) Während Ewich mit seiner Befürchtung Recht behielt und sein Konzept zunächst noch zu revolutionär war, um durch den Bremer Rat tatsächlich umgesetzt zu werden, lässt sich die Wirksamkeit dieses Modells in Italien bereits wenige Jahrzehnte später in der Praxis beobachten. Es schlägt sich nieder in einem mit mehr als 900 Seiten geradezu monumentalen Handbuch der Pestbekämpfung.¹³² Autor ist
Ebd., fol. R IIIIv. Matthaeus Fleck: Ein Erinnerung was die Oberkeit zur Pestilentz Zeit bestellen etc. Wittenberg 1566. Zu dieser Schrift neuerdings: Andreas Stegmann: Berliner Pläne zur Seuchenbekämpfung aus dem 16. Jahrhundert. Die kurfürstlichen Pestordnungen von 1552 und 1598 und der Pesttraktat des Berliner Stadtarztes von 1566, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 66 (2021), S. 1–40. Zum Selbstverständnis frühneuzeitlicher Stadtärzte Ruth Schilling/Sabine Schlegelmilch/Susan Splinter: Stadtarzt oder Arzt in der Stadt? Drei Ärzte der Frühen Neuzeit und ihr Verständnis des städtischen Amtes, in: Medizinhistorisches Journal 46 (2011), S. 99–133; Manuel Förg: Die bedrohte Stadt. Rodrigo de Castro und die Hamburger Pestepidemie von 1596/97, in: Mariacarla Gadebusch-Bondio/Christian Kaiser/Manuel Förg (Hrsg.), Menschennatur in Zeiten des Umbruchs. Das Ideal des politischen Arztes in der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2020, S. 47–82. Hieronymus Gastaldi: Tractatus de Avertenda et Profliganda Peste Politico-Legalis etc. Bologna 1684.
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der 1616 in Norditalien als adliger Sohn eines Juristen geborene Kardinal Girolamo Gastaldi.¹³³ Bereits seit frühester Jugend durch eine Pockeninfektion entstellt und halb erblindet, studierte Gastaldi Jura in Pisa, ehe ihn eine steile Karriere innerhalb der Kirche in das unmittelbare Umfeld von Papst Alexander VII. führte. 1643 zum Kardinal erwählt, übertrug ihm Alexander VII. 1655 die wichtige Funktion des commissario generale dei lazzaretti. Als ein Jahr später die Pest von Neapel aus auf die Heilige Stadt zurollte, ernannte der Papst Gastaldi zum commissario generale seiner Gesundheitsbehörde, der congregazione di sanità. ¹³⁴ Dieses bereits zuvor gegründete Kollegium war 1656 erneut einberufen worden. Gastaldi und seine Kollegen von der sanità ersannen ein ausgeklügeltes System zur Eindämmung der Infektionsgefahr.¹³⁵ Die äußeren Grenzen des Kirchenstaats zu Lande und zu Wasser wurden abgeriegelt. Waren und Personen wurden an den Grenzen abgewiesen, unterstützt durch ein System von Passierscheinen, das durch päpstliche Notare organisiert wurde. Gesundheitsbeamte durchkämmten die Straßen und gingen Gerüchten von Pestinfektionen nach. Ärzte untersuchten die Kranken und teilten sie in Kategorien ein. Pestinfizierte schaffte man in ein Lazarett auf einer Insel im Tiber, Pestverdächtige in ein anderes Siechenhaus außerhalb der Stadt.Wer auf dem Weg der Besserung war, wurde in ein weiteres Krankenhaus gebracht, wo er bis zu seiner Genesung interniert blieb. Die Häuser von Pestkranken wurden versiegelt und mit Rauch desinfiziert. Alle Märkte, Schulen und selbst Kirchen blieben geschlossen, auch alle anderen öffentlichen Versammlungen wurden verboten. Zur Abschreckung pflanzte man überall in der Stadt Galgen auf, an denen man Quarantänebrecher und andere Personen aufknüpfte, die sich den strengen Gesetzen widersetzten. Auch wenn bis heute diskutiert wird, ob diese Maßnahmen tatsächlich erfolgreich waren, so wurde dies jedenfalls von den Zeitgenossen so wahrgenommen. Immer wieder wurde herausgestrichen, dass die schwere Pestwelle der Jahre 1656
Zur Biographie: Marcella Marsili: Gastaldi, Girolamo, in: Dizionario Biografico degli Italiani 52 (1999) (Stand: 29.11. 2021); Gaetano Moroni: Gastaldi, Girolamo, in: Ders.: Dizionario di erudizione storico-ecclesiastica da S. Pietro sino ai nostri giorni. Bd. 28. Venedig 1844, S. 184 f. Marsili: Gastaldi (wie Anm. 133). Zur Pest in Rom ausführlich die Beiträge in: Irene Fosi (Hrsg.): La Peste a Roma (1656–1657), in: Roma Moderna e Contemporanea 14 (2016), S. 3–274; außerdem: Pietro Savio: Ricerche sulla peste di Roma degli anni 1656–1657, in: Archivio della Societa Romana di Storia Patria 95 (1972), S. 113–142; Guenter B. Risse: Before AIDS: Plague in Rome, 1656. Lecture delivered at the conference Selected Topics in infectious Diseases, Cedars Sinai Medical Center, University of California, Los Angeles, Long Beach, California, November 9, 1988, Ms (Stand: 29.11. 2021).
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und 1657 auf dem Gebiet des Patrimonium Petri deutlich weniger Todesopfer gefordert habe als in anderen Gegenden Italiens, wie Genua oder Neapel.¹³⁶ Es dauerte fast dreißig Jahre, ehe Gastaldi seine Erfahrungen aus der Pestepidemie zu Papier brachte. Als die Pest damals die Stadt Görz (italienisch: Gorizia) in Friaul bedrohte, wollte Gastaldi eine Handreichung zur systematischen Pestbekämpfung bieten.¹³⁷ Der Band, der in der Literatur bisher eher unbeachtet geblieben ist, war nicht nur zu seiner Zeit eines der wichtigsten Bücher der Pestliteratur, sondern ist auch heute noch von erheblichem Quellenwert, gerade auch für eine rechtshistorische Analyse des frühneuzeitlichen Polizei- und Gesundheitsrechts. Er demonstriert den Aufbruch einer juristisch inspirierten, in Abgrenzung zu Medizin und Theologie formulierten Strategie der Pestbekämpfung. Dass sich der Autor von medizinischen Deutungsversuchen radikal absetzte, wird bereits in der sehr aufschlussreichen Einleitung deutlich. Der Jurist Gastaldi, der nach eigener Auskunft nur wenig Ahnung von Medizin hatte,¹³⁸ verfolgte ganz eindeutig eine kontagionistische Linie. Zwar hatte inzwischen auch eine Reihe von Medizinern und anderen Beobachtern die Übertragbarkeit der Pest postuliert,¹³⁹ doch widersprach Gastaldis Ansatz sehr klar der weiterhin vertretenen Mehrheitsmeinung. Das ist für ihn aber auch unerheblich, denn er sprach den Medizinern ohnehin ganz offen jede Kompetenz in Sachen Pest ab. Die Erfahrung habe nämlich gelehrt, dass die Ärzte weder präventiv noch kurativ irgendeinen substantiellen Erfolg vorzuweisen hätten.¹⁴⁰ Vielmehr schöben sich Internisten, Chirurgen und Pharmazeuten wechselseitig die Verantwortung zu und hätten allesamt nicht den Mut, sich der Krankheit auch persönlich zu stellen.¹⁴¹ Die vorgeschlagenen Heilmittel seien bestenfalls nutzlos, schlimmstenfalls sogar schädlich.¹⁴² Es sei letztlich besser, die Genesung der Natur zu überlassen als der Heilkunst.¹⁴³ Gastaldi plädierte daher für einen Systemwechsel, der nicht vom Dogma, sondern von der
Becht: Medizinische Implikationen (wie Anm. 19), S. 79. Marsili: Gastaldi (wie Anm. 133). Gastaldi: Tractatus (wie Anm. 132), c. 1, n. 9, S. 4. Zu nennen sind etwa der angesehene Mediziner Girolamo Fracastoro (ca. 1477–1553) mit seinem Werk De Contagione et contagiosis morbis et eorum curatione libri III, Venedig 1546 oder der allerdings deutlich umstrittenere Jesuit Athanasius Kircher, der in einer Papst Alexander VII. dedizierten Schrift die Entdeckung von „Pestkörperchen“ unter dem Mikroskop behauptete: Athanasius Kircher: Scrutinum Physico-Medicum Contagiosae Luis, quae Pestis dicitur. Rom 1658; hierzu: Gerhard F. Strasser: Athanasius Kirchers Pestschrift von 1658 und seine Einstellung zur Lungenpest, in: Pneumologie 59 (2005), S. 213–217. Gastaldi: Tractatus (wie Anm. 132), c. 1, n. 10 f., S. 4; c. 1, n. 15, S. 5 f. Ebd., c. 1, n. 12, S. 5. Ebd., c. 1, n. 13, S. 5. Ebd., c. 1, n. 17, S. 6 f.
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Empirie ausging.Wenn erfahrungsgemäß die Flucht und Abschottung des Einzelnen als wirksamstes Mittel anzusehen sei, um eine Infektion des Körpers zu vermeiden, dann müsse eine effiziente Seuchenpolitik genau dort ansetzen.¹⁴⁴ Wie bei Ewich, so wird auch hier die Pest nicht länger als medizinisches, sondern als rechtspolitisch zu lösendes Problem gesehen. Die folgenden mehr als 800 Seiten demonstrieren eindrucksvoll, wie eine solche Lösung aussehen sollte: Bis ins Kleinste, bis hin zu Bauplänen für die Architektur der Pesthäuser und Lazarette, führt Gastaldi seinen in Rom bewährten Plan vor, durch radikale Maßnahmen der Separierung und Abschottung unter Androhung schwerster Strafen die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Die zahlreichen Erlasse und Edikte des Papstes aus der Pestzeit dienen dabei als Blaupausen, um die teilweise einschneidenden Maßnahmen juristisch auszubuchstabieren. Dieser Masterplan, der in Rom eindrucksvoll durchexerziert wurde, weist den Ärzten nur noch die Rolle von Befehlsempfängern zu.¹⁴⁵ Aber nicht nur die Ärzte und die medizinische Tradition werden bei Gastaldi ausgeblendet. Auch die theologische Dimension fehlt in der Darstellung des Kardinals vollständig, vor allem die in allen Pesttraktaten der Vergangenheit, auch bei Ewich, an den Anfang gestellte Interpretation der Pestzüge als Rache Gottes. Damit wich die Tendenz zum Fatalismus, wie sie auch in die eingangs zitierten Briefe Rittershausens eingeflossen war, einer optimistischeren Haltung, die die Beherrschbarkeit der Pest reklamierte. Dieser Optimismus war durchaus zeittypisch. So stellt beispielsweise die Pestverordnung Herzog Wilhelms von BraunschweigLüneburg-Harburg (1564–1642) von 1626 fest, dass die Seuche als eine heimsuchung und bestrafung vielfältiger sünde durch Gottes gerechten zorn gemeiniglich verhängt worden sei und wir allerseits dahero seiner allgewaltigen handt stille halten müssen und derselben nicht entgehen können. Doch gleichzeitig sei zu beachten, das solche infectionen auch aus natürlicher ursachen ihren ursprung nehmen und dahero durch dienliche natürliche dazu verordnete mittel, gutte aufsicht und gewahrsam verhüttet und gemieden werden können. ¹⁴⁶ Während der protestantische Fürst noch ein gewisses Unbehagen über das Spannungsverhältnis zwischen göttlicher und natürlicher Ursache erkennen lässt, fehlt dieses in der Schrift des Kardinals Gastaldi vollkommen: Gott taucht als Akteur
Ebd., c. 1, n. 19, S. 7. Eugenio Sonnino: Cronache della peste a Roma. Notizie dal Ghetto e lettere di Girolamo Gastaldi (1656–1657), in: Fosi (Hrsg.), La Peste (wie Anm. 135), S. 35–74 (37). Pestverordnung Wilhelm August von Braunschweig-Lüneburg-Harburg vom 30. Mai 1626, zit. nach: Heinrich Deichert: Geschichte des Medizinalwesens im Gebiet des ehemaligen Königreichs Hannover. Ein Beitrag zur vaterländischen Kulturgeschichte. Hannover/Leipzig 1908 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. 26), S. 231. Weitere Beispiele bei Ribbentrop: Pest und Policey (wie Anm. 42), S. 42 f.
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allenfalls peripher auf, steht jedenfalls nicht mehr am Anfang der Überlegungen. Und auch das Gemeine Recht mit seinen Fundstellen und zahllosen Allegationen sucht man in Gastaldis Traktat vergeblich. So ist dieses Werk eine zutiefst politische, auch wissenschaftspolitische Schrift, in der die strahlende Gestalt des Papstes nicht als Stellvertreter Gottes inszeniert wird, der die Menschheit zu Wallfahrten und Bußfertigkeit anhält, sondern als weiser Landesfürst, dessen politische Klugheit sich im Wettstreit mit anderen Territorien durch messbare Erfolge bei der Reduktion von Pesttoten erweist – vielleicht mit Gottes Hilfe, vor allem aber durch Einsatz der juristischen Vernunft einer wohlorganisierten Gesundheitsverwaltung.
5 Einige Erträge Wie ist also die Ausgangsfrage nach der Rolle der Juristen bei der Pestbekämpfung zu beantworten? In aller Kürze ließe sich die Antwort auf die Formel bringen, dass sich diese Rolle im Zeitverlauf änderte, was sich besonders deutlich im Verhältnis zur Rolle der Mediziner zeigt. Während Letztere zunächst im Vorteil waren, weil ihnen als sachnächste Disziplin ein Kompetenzvorsprung zugeschrieben wurde und es ihnen gelang, ihre Agenda in klarer Form und mit Bezug auf die Anwendbarkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen zu popularisieren, war die Ausgangssituation für die Juristen schwieriger. Gerade im Bereich ihrer Kernkompetenz konnten sie kaum etwas zur Pestbekämpfung beitragen. Das änderte sich allerdings im Zeitverlauf: Während die Mediziner damit zu kämpfen hatten, dass ihre Theorien nicht zur praktischen Erfahrung zu passen schienen, konnten sich die Juristen geschickt als aktive Vertreter einer auf Empirie und Vernunft basierenden Problemlösungsstrategie inszenieren. Dies gelang allerdings weniger auf dem Gebiet der Rechtsdogmatik, als in der Rechtspraxis, wo die Juristen als einflussreiche Beamte und Berater im Zuge des Staatswerdungsprozesses der Neuzeit die Pestepidemien nutzten, um den Aufbau der modernen Gesundheitsverwaltung wesentlich mitzugestalten.
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Georg Obrechts (1547–1612) juristisches Werk Georg Obrecht ist in der Historiographie vor allem als Frühkameralist bekannt. Es werden meist die 1617 von seinem Sohn herausgegebenen Fünff Secreta zitiert.¹ In der Tat besteht gerade auch zu diesem Bereich noch erheblicher Forschungsbedarf, und hier kann Obrecht tatsächlich beanspruchen, eine weit über die lokale Straßburger Gelehrtengeschichte hinausreichende Bedeutung zu haben: hinter den Fünff Secreta verbirgt sich ein Jahrzehnt vorheriger umtriebiger Projektaktivität und -Planung, welche nur archivalisch zu erschließen sind und die Möglichkeiten und Grenzen früher staatsökonomischer Theorie und Praxis in Zentraleuropa vor dem Dreißigjährigen Krieg im Sinne eines dann abgebrochenen, aber an sich schon spätere Formen der Political Arithmetic antizipierenden Entwicklungsstands aufzeigen können.² Der folgende Beitrag konzentriert sich aber auf sein juristisches Werk, das seine Bekanntheit bei den Zeitgenossen zunächst begründet hat. Die nach wie vor gültige, grundlegende Skizze zu dieser Schaffensperiode und seiner Tätigkeit an der Hohen Schule von Straßburg stammt von Anton Schindling, der schon Elemente der pädagogischen Innovation und die Nähe zur Gerichtspraxis hervorhob, als Hauptwerk De iurisdictione et foro competente nennend, welches in seinen Wilhelm Roscher: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. München 1874; Albion H. Small: The Cameralists. The Pioneers of German Social Polity. Chicago 1909, S. 40–49; Peter Weber: Die Bedeutung der alten deutschen Kameralisten Melchior von Osse, Georg Obrecht, Jakob Bornitz und Kaspar Klock für die Entstehung und Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft. Diss. Bonn 1942; Anton Tautscher: Staatswirtschaftslehre des Kameralismus. Bern 1947 („Vorläufer und Vorbereiter“); Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre [1966]. 2. Aufl., München 1986, S. 122–131; Kurt Zielenziger: Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem des Merkantilismus. Jena 1914; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band 1600–1800. München 1988; ders.: Pecunia nervus rerum. Zur Diskussion um Steuerlast und Staatsverschuldung im 17. Jahrhundert, in: Ders.: Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1983, S. 63–128; Georg Obrecht: Fünff Vnderschiedliche Secreta Politica von Anstellung / Erhaltung vnd Vermehrung guter Policey. Mit einer Einleitung hrsg. v. Betram Schefold. Hildesheim/ Zürich/New York 2003 (Historia scientiarum. Fachgebiet Wirtschaftswissenschaften);Thomas Simon: ,Gute Policeyʻ – Ordnungsbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2004. S. 290–297; Justus Nipperdey: Die Erfindung der Bevölkerungspolitik: Staat, politische Theorie in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012, S. 116–118, 223–226. Eine englischsprachige Monographie ist in Arbeit, einige Archivarbeiten sind noch vonnöten, anlässlich eines bedauerlichen Daten-Abhandenkommens im Winter 2020/21 danke ich Horst Carl für Zeugenschaft des Stands der Rohfassung des Buchmanuskripts zu diesem Zeitpunkt. https://doi.org/10.1515/9783111070346-009
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Grundzügen auf 1586 zurückzudatieren sei.³ Im Folgenden sollen nach kurzer Rekapitulation der Biographie (1) einige Differenzierungen an diesem Bild vorgenommen werden mit Blick auf die Besonderheiten der Lehr-Methode (2), der Charakterisierung der Disputationen vor allem hinsichtlich der RechtsgrundlagenLehre (3), einer kürzeren Wertung jenes Hauptwerks (4) und der Betonung eines eher wenig beachteten weiteren größeren Werks zum Kriegsrecht (5).
1 Biographie Obrecht stammte nach den 1612 gehaltenen Funeralreden⁴ aus der Schlettstadter Familie⁵ des Syndicus Thomas Obrecht, der mit Elisabeth Röth verheiratet war. Drei Anton Schindling: Humanistische Hochschule und Freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538–1621. Wiesbaden 1977, S. 303–311. Parentalia facta reverendo, nobili, amplissimo et consultissimo viro: Dn: Georgio Obrechto, Jurisconsulto […], ipsa S. S. Trinitatis Dominica, Anni M.DC.XII. defuncto, Straßburg: Johannes Carolus, 1612, hierin insbes. Marcus Florus: Oratio parentalis de vita et obitu nobilis, reverendi, amplissimi, et consultissimi viri: Dn. Georgii Obrechti […], f. DiiiR–HiR. Obwohl er als Straßburger zu gelten habe, wird auf diese Herkunft der Familie zweimal in den Parentalia facta 1612 (wie Anm. 4), f. B1v, E3r verwiesen mit Bezug auf Beatus Rhenanus: Rerum Germanicarum libri tres (1531), ed. Felix Mundt. Tübingen 2008, S. 360: „Porro familiae clarae et antiquae Selestadii fuerunt Vuaffelariorum, Monetariorum, Schurphesaccorum, Schnellonum, quorum aedificium uilla ad Ellense nemus, cui Schnellorum colli nomen est, praeterea Botzheimiorum, Rappencophiorum et Obrechtorum.“ Ungeklärt bleibt das Verhältnis dieses Vaters Thomas Obrecht, der Stadtsyndicus gewesen sei – in der Politischen Correspondenz Straßburgs (hrsg. von O. Winckelmann) oder in der Akademie-Werkausgabe Bucers taucht er nirgends auf – zu dem gleichzeitig lebenden Straßburger Großhändler Georg Obrecht, der 1544 nach Lyon zog, dort eine Französin heiratete, Großhändler und Bankier wurde, Gläubiger des Königs (im Jahr 1559 über mehr als 2 Mio. livres) und als solcher dann „conseiller et maistre d’hôtel ordinaire du roi“ war, aber auch sehr aktiv in die frühe Verbreitung des Protestantismus in Frankreich involviert war, in Genf ein Haus besaß, mit Calvin (1509–1564) und Beza (1519–1605) korrespondierte, für Hugenotten in Europa Geldtransfers übernahm. Von 1562 bis 1567 échevin in Lyon, protegierte er seit den 1550ern bis zu seinem Tod 1569 Protestanten. Als Financier diente er zwar der Krone, aber auch den Hugenotten, indem er etwa die Kosten der prohugenottischen Truppen unter Johann Casimir, die 1568 aus Frankreich zurückziehen sollten, und zu deren Bezahlung sich der König verpflichtet hatte, kreditweise über Mess-Wechseltransfer nach Frankfurt vorschoss. Man würde auf einen Onkel des jüngeren Georg Obrecht tippen, aber Belege sind den mir bekannten Quellen und der Literatur nicht zu entnehmen, vgl. zum älteren (Onkel?) Georg Obrecht Gaston Zeller: Deux capitalistes strasbourgeois du XVIe siècle, in: Etudes d’histoire moderne et contemporaine I (1947), S. 5–14 ; Henri Meylan: Un financier protestant à Lyon, ami de Calvin et de Bèze, Georges Obrecht (1500–1569), in: Bulletin philologique et historique (jusqu’à 1610). Année 1964. Paris 1967, S. 213–220; Roger Doucet: Le grand parti de Lyon au XVIe siècle, in: Revue historique 172, 1 (1933), S. 1–41, 473–513; Richard Gascon: Grand commerce et vie urbaine au XVIe siècle. Lyon et ses marchands (environs de 1520–environs
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Brüder, alle promoviert, der Ratsherr Heinrich, und die Ärzte Didymus und Daniel, lebten ebenfalls in Straßburg, wohin der 1547 geborene Georg 1555 in die Schule(n), d. h. zunächst in die Grundausbildung, dann die Hohe Schule, geschickt wurde. Im Juni 1565⁶ zog er weiter nach Tübingen, wo er schon Recht studierte. Im März 1570 brach er zu einer Studienreise nach Dôle auf, im Mai zog er 1571 nach Orléans. Weitere Stationen waren wohl Besançon und Bourges.⁷ In Orléans war er zusammen mit dem Straßburger Patriziersohn Johann Wilhelm von Botzheim (1550–1600), von dem eine der wichtigsten Detailbeschreibungen der Bartholomäusnacht ebendort (26.–27. August 1572) überliefert ist.⁸ Mit demselben war Obrecht auch
de 1580), 2 vol. Paris 1971, passim; Béatrice Nicollier-De Weck: Hubert Languet (1518–1581). Un réseau politique internationale de Melanchthon à Guillaume d’Orange. Genève 1995, S. 94; für die Verbindungen nach Augsburg Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger: Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1998, S. 147–152. So in der Funeralrede. In der Literatur liest man zuweilen 1560, in seinem Antrag auf SalärVerbesserung und Büchergeld von Februar 1577 schreibt er von den Studien „auff frembden Academijs“ „so ich dreyzehen iar“ unternommen habe, was auf 1562/4 verweisen würde (Archives de la Ville et de l’Eurométropole de Strasbourg, Archives du Chapitre de Saint-Thomas (künftig: AS [Nr.] AST), 1 AST 346, n. 105). Als seine akademischen Lehrer in der Jurisprudenz nennt Florus: Oratio parentalis (wie Anm. 4), f. F1R „Tubingae, Varebülerus [Nikolaus Varnbüler], Cappelbeckius [Johannes Jakob Cappelbeck], Hochmannus [Johann Hochmann], Deblerus [Anastasius Demler], Hornmoldus [Sebastian Hornmold], Voltzius [Valentin Voltz]: in Burgundia, Cynus Campanus Romanus [Uguccino Campana], Mogiotus Musaeus [Mougeot Mayret]: in Gallia Robertus [Jean Robert, Orléans], Fornerius [Guillaume Fournier], Contius [Antoine Leconte], Molinaeus [Jean Vander Meulen]“. Nach der Pariser Bartholomäusnacht fanden in etlichen größeren Provinzstädten nachahmend oder auf Befehl ähnliche Massaker statt, hierunter Orléans, Philip Benedict: The Saint Bartholomew’s Massacres in the Provinces, in: The Historical Journal 21 (1978), S. 205–225; Johann Wilhelm von Botzheim: Tumultus Aurelianensis Anno domini 1572 in Augusto. Cui J.W.B. ipse interfuit et maxima parte sensit, in: Friedrich Wilhelm Ebeling: Archivalische Beiträge zur Geschichte Frankreichs unter Carl IX. Leipzig 1872, S. 129–189; die französische Übersetzung versucht, einige Text- und Namensprobleme per Konjektur zu verbessern: Charles Read: La Saint-Barthélemy à Orléans racontée par Joh. Wilhelm de Botzheim, étudiant allemand, 1572, in: Bulletin de la société de l’histoire du protestantisme français 31 (1872), S. 346–392: Botzheim erwähnt u. a. Wilhelm Peplitz, Georg Obrecht, Philipp Chelius, Wolfgang Spelt, Jakob Milichius, Johann Metzler, Jechonias Rehlinger von Augsburg, seinen Bruder Bernhard von Botzheim, Daniel Kuchorst, Johann-Martin Schenk von Winterstetten, Friedrich von Hohenlohe als die Deutschen in Orléans zu diesem Zeitpunkt. Eine Stammbuchwidmung an Jacobus van Bronckhorst van Batenburg (1553–1582) von Botzheim von Januar 1572 in Orléans findet sich im Album amicorum desselben, Koninklijke Bibliotheek Den Haag, Ms. 135 K 26, f. 84v. Obrecht konnte zusammen mit dem Straßburger Kommilitonen Philipp Chelius den Hausherrn des letzteren, Dr. Prevost, vor der Ermordung im Studentenzimmer bewahren (Read: La Saint-Barthélemy, S. 369). In der eigenen Behausung bei „madame Coursière“ verlor Obrecht 120
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später noch in engem Kontakt, wie spätere Bezugnahmen in Drucken zeigen.⁹ Dessen Bruder Bernhard, auch in Orléans in Gefahr gewesen, war ein Vorgänger Obrechts im Amt des Straßburger Stadtadvokaten. In Orléans müsste er auch schon Daniel Toussain kennengelernt haben, der damals einer der hugenottischen ministres der etwa 700 Seelen zählenden Gemeinde war, und nach der Bartholomäusnacht nach Heidelberg floh, wo er über Jahrzehnte an der theologischen Fakultät lehrte und die französische Gemeinde mitleitete.¹⁰ Auf dem Rückfluchtweg – im Oktober 1572 aus Frankreich aufbrechend – beendete Obrecht in Basel seine Studien mit der Doktor-Disputation am 13. Mai 1574¹¹ ebenso wie auch ein weiterer Kommilitone von Orléans und Bartholomäusnachtzeuge Pierre Beutterich (1538–1587),¹² den aus der Württemberger Exklave Montbéliard stammenden zweisprachigen Rat des kriegerischen zweitgeborenen Sohns von Kurfürst Friedrich III., Johann Casimir Pfalzgraf bei Rhein. Zu Beutterichs Hochzeit mit Jeanne Jussey steuerte Obrecht 1574 ein epithalamion bei.¹³ Beutterich blieb er auch später verbunden: noch 1590 hob er hervor, dass man mit ihm ein „optimum […] exemplum in Doctore Beuttericho, viro fortißimo & prudentißimo“¹⁴ für die Verbindung von Rechtsgelehrtheit und Kriegskunst-Beherrschung habe, womit er auf Beutterichs zentrale Rats- und Poli-
Kronen und seine Bibliothek (ebd., S. 387), er musste sich, wie die anderen Deutschen, mit Lösegeld vor Gefangenschaft bzw. Ermordung freikaufen. Er widmet Johann Wilhelm von Botzheim Georg Obrecht: Themata ex L. Placuit 8 C. de Iudic. quibus utilissima aequitatis materia breviter et perspicue explicata continetur 1583. Toussain, der für Jérôme Groslot de l’Isle, den baillif von Orléans, predigte, beschrieb die Ereignisse in Orléans im Vorwort zur im Exulantenmilieu vielfach nachgedruckten und benutzten Devotionsschrift L’exercice de l’ame fidèle, assauoir prières et méditations pour se consoler en toutes sortes d′afflications. S.l. 1582, f. *ijR–****iijR. Er war zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes Prediger der Exulantengemeinde im ehemaligen Klosterort St. Lambrecht in der Kurpfalz (20. Juli 1578). Zu Toussain vgl. Friedrich-Wilhelm Cuno: Daniel Tossanus der Ältere, Professor der Theologie und Pastor (1541–1602). 2 Bde. Amsterdam 1898; Reinhard Bodenmann: Daniel Toussain (1541–1602). Auteur inconnu d’un traité contre les luthériens (1576) et éditeur inattendu d’un texte de Martin Bucer, in: ARG 88 (1997), S. 279–321; Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland. Göttingen 2006, S. 753–760. Florus: Oratio parentalis (wie Anm. 4), f. F2v erwähnt Heinrich Grote, Tilmann Erpius Prochusius und den weiteren Bartholomäusnacht-Flüchtling Dr. Philipp Chelius als unter anderem an der Disputation Beteiligte. Auch dieser ist durch von Botzheim erwähnt zur Zeit der Bartholomäusnacht: Read: La SaintBarthélemy (wie Anm. 8), S. 387. In nuptias clarissimi viri D. Petri Beutterichi Iurium Doctoris, & honestissimae uirginis Ioannae Iussey Gratulatio amicorum. Basel: Samuel Regius 1574, f. a2r–a4v. Georg Obrecht: Prima pars De principiis belli & eius constitutione: Ex integro tractatu de bello excerpta: & in inclyta Argentoratensium Academia ad disputandum proposita, resp. D. Stanislao Comite Ostrorogano. Straßburg: Antonius Bertram 1590, n. 646.
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tikertätigkeit anspielte. Dies geschah gerade in der Zeit, als Johann Casimir während der zeitweiligen Aufteilung der Kurpfalz in ein lutherisches (Zentrale Kurpfalz unter Ludwig VI.) und calvinistisches Erbteil (mit Neustadt/Haardt als Regierungs- und Universitätsstadt) unter dem condottiere-ähnlichen calvinistischen Fürsten diente. Johann Casimir hatte 1575/6, nach Vertragsabschluss mit Henri I. de Condé und Montmorency (1534–1614) in Straßburg,¹⁵ den erfolgreichsten Unterstützungszug für die Hugenotten aus Deutschland nach Frankreich geführt, das weitreichendste Pazifikationsedikt von Beaulieu 7./14. Mai 1576 sowie die Schuldenübernahme für die Truppen durch Karl IX. (1550–1574) erzwungen.¹⁶ Der König blieb in Zahlungsverzug – diese Schulden sind noch um 1600 in Kurpfälzer Rechnungen nachgewiesen¹⁷ – aber schon 1577 zog Beutterich an den Hof und hielt eine später ge-
Obligation, passée par devant notaire, à Strasbourg, à l’auberge du Mouton d’Or, du prince Henri Ier de Condé, Charles de Montmorency, sieur de Méru, Guillaume de Montmorency, sieur de Thorés, les sieurs de Laporte, de Montaigu, de Malroy, etc. envers l’électeur Palatin Jean-Casimir, 1574; Capitulation ou traité signé entre Condé, Charles de Montmorency et l’électeur Palatin Jean-Casimir, 1575; Instructions de Monseigneur le duc Jean-Casimir sur ce que le docteur Beuttrich remonstrera de sa part a Monseigneur le prince de Condé, 1576, BNF Vc Colbert 399, pp. 13, 133, 410 (Verhandlungsführer in Straßburg waren Ferrière für Condé, Dietrich Weyer und Pierre Beutterich für die Kurpfalz. Mit großer Wahrscheinlichkeit traf Obrecht also zu diesem Zeitpunkt Beutterich in Straßburg wieder). Vgl. immer noch am detailreichsten Bezolds Einleitung in Friedrich von Bezold: Briefe des Pfalzgrafen Johann Casimir mit verwandten Schriftstücken. Bd. 1: 1576–1582. München 1882, S. 140–182. Straßburg war 1575/76 ein wichtiger Kommunikations- und Durchzugsort. Liederdrucke, neue Zeitungen und Nachrichten über den Zugverlauf, etwa das von Johann Fischart mitredigierte Söldnertagebuch, wurden oft zuerst in Straßburg übersetzt und gedruckt, etwa bei Bernhard Jobin (vgl. Ein Schön new Lied […]. Straßburg: B. Jobin, 1576 (nicht im VD16, Ex. British Library London 11517.b.39); Aigenliche Beschreibung Des Jüngstergangenen Zugs in Frankreich/ von dem Durchleuchtigen Hochgebornen Fürsten vnd Herren Johan Casimirn Pfalzgrafen. Straßburg: B. Jobin, 1576 (VD16 F1137). Vgl. VD16 F2423–2427, N664–N666, ZV6072, 11547. Die Verhandlungen mit Johann Casimir in Frankreich, der eine Teilzahlung und konkrete Schuldverschreibung verlangte, wurden für den König von Pomponne de Bellièvre geführt; aus seinen Briefen ist das sehr selbstbewusste, auch den Reformierten in Metz durch Druckausübung helfende Auftreten überliefert („je suis arrivé en sa tent ou il mattendoit avec les chefs de ses gens de guerre je le tirai a part pour len prier et povvoir parler asseurement de l’offre que je feraj quil me dict quil avoit desia esté constrainct de prester a ses soldatz c[ents] m[illes] livres et dit surplus que cestoit argent quil falloit rendre a monsr lelecteur son pere pourtant quil ne sen povvoit defaire“ – Bibliothèque nationale de France (künftig: BNF) Manuscrits français 15980, ff. 418–440 [Juni–Juli 1576], hier f. 419v; Ms. fr. 15903, 15904, Ms. fr. 17195, f. 245 (Korrespondenz Bellièvre, Johann Casimir et al.); Verzeichniss der Forderungen der Kurpfalz an die Krone Frankreichs, 11. Mai 1599, Friedrich von Bezold: Briefe des Pfalzgrafen Johann Casimir mit verwandten Schriftstücken. Bd. 3: 1587–1592. München 1903, Nr. *117, S. 766–770. Abzahlung auf eine Summe von 1 026 421 livres, die der ursprünglichen Schuldverschreibung des Königs entsprachen, wurden von Johann Casimir in Kaiserslautern quittiert 17 März 15[8]3, BNF Ms. fr. 3235, f. 41; vgl. weiter BNF Ms. fr. 3570, f. 90. Zu den Verhandlungen Olivier Poncet: Pomponne de Bellièvre (1529–1607). Un homme d’état au temps des
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druckte Rede, in der er die 250 000 livres zur Zahlung auf der Frankfurter Messe einforderte. Sie machte ihn durch ihren protonational-deutschen sowie stark antiligistischen Charakter berühmt.¹⁸ Die Kurpfälzer Bezüge, die in Straßburg ohnehin stark waren, zeigen sich auch später, wenn Obrecht für einen weiteren berühmten Exulanten-Theologen der Kurpfalz, Girolamo Zanchi (1516–1590), der auch in Straßburg gelehrt hatte, die Pfälzer Kanonikats-Pfründeforderungen gegenüber dem Magistrat vertrat.¹⁹ Ob Obrecht insofern als reformiert einzustufen ist, darf bezweifelt werden, es gibt keine klaren Zeugnisse im Sinne eines Glaubensbekenntnisses.²⁰ Der Bezug zur
guerres de religion. Paris 1998, S. 123–126. Unsere Kenntnisse über die Finanzen der Hugenotten bzw. der protestantischen Partei insgesamt während der französischen Religionskriege sind wegen fehlender zentraler Archivbasis äußerst mangelhaft. Die Rückumlage gerade der Kosten der ausländischen Söldnerzüge über die Friedensverhandlungen auf die Krone war von Beginn an gängig, vgl. oben zum älteren Obrecht Anm. 5 und Mark Greengrass: Financing the Cause: Protestant Mobilization and Accountability in France (1562–1569), in: Philip Benedict et al. (Hrsg.), Reformation, Revolt and Civil War in France and the Netherlands 1555–1585. Amsterdam 1999, S. 233–254. Proposition faicte au roy Henri III, estant en son conseil a Bloys de la part du duc jehan Casimir a bloys ce vingt cinquiesme jour de febvrier 1577, BNF Ms. fr. 3392 f. 7–14; vgl. dazu auch Ms. Nouv. acq. fr. 3560, f. 215; Vc Colbert 398, p. 419; BNF Ms. fr. 3902, f. 180; Harangue faite au Roy en la ville de Bloys, par le sieur de Buterich, Ambassadeur de Tres-illustre Prince Iean Casimir, Comte Palatin du Rhin, Duc de Bauiere […]. S.l. 1577, S. 7: „Sire, nous sommes desplaisans de le dire. La verité est telle: il s’en faut deux cens cinquante mille liures, qui est pres de la moitié, que n’ayons receu ces deux parties là.“; Renonciation faicte au roy des terres et estatz que le duc Jehan Casimir tenoit de Sa Mayesté, par Pierre Beutterich, docteur es loix, conseiller de son Excellence. A Bloys, 7e mars 1577: der Königsbruder François duc d’Alençon hatte Johann Casimir als Pfand das kleine Herzogtum ChâteauThierry übergeben (BNF Ms. fr. 5379, f. 106 f., 13. Mai 1576; auch der König hatte ihm pfandweise Güter überlassen: BNF Ms. fr. 3902 f. 180, Blois 7. März 1577). Weiter hatte Johann Casimir Geiseln – unter anderem Pomponne de Bellièvre – mit nach Heidelberg genommen (BNF Ms. fr. 5796, f. 83–84 Articles accordez par le duc Jean-Casimir pour le fait des ostages. Heidelberg, 2. September 1576). Theophilus Gollius, Konrad Dasypodius und Georg Obrecht agieren als Vertreter der Kurpfalz gegenüber dem Thomasstift hinsichtlich ausstehender Zahlungen aus dem Kanonikat und Pfründen (100 Viertel Früchte und 100 fl. jährlich), die Girolamo Zanchi bis 1567 zustanden und hiernach der Kurpfalz als späterem Dienstherrn, da das Stift diese seit zwei Jahren nicht zahlte und in den eigenen „Kirchenseckel“ überführte (AS 1 AST 16, nr. 139, 1. Mai 1580). Zu dieser Zeit war Zanchi in Neustadt/Haardt für Johann Casimir tätig, weil Ludwig VI. die Kurpfalz relutherisierte. So hat zwar Christoph Strohm mehrfach die Erfahrung der Bartholomäusnacht Obrechts nach dem Artikel in der ADB und der NDB als handfestes Beispiel für die Prägung deutscher Juristen an den Beginn seiner Untersuchungen gestellt, ihn aber nicht explizit mit einem Kapitel als ,reformierterʻ Jurist behandelt: Christoph Strohm: Calvinismus und Recht.Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2008, S. 1 f.; ders.: Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen – Fragestellungen, methodische Probleme, Hypothesen, in: Ders./Heinrich de Wall (Hrsg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit. Berlin 2009, S. 1–32, 6. Die Heirat mit der Marbach-Tochter und die guten Beziehungen
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Bartholomäusnacht bleibt auch während der ersten dreizehn Jahre seines Wirkens lange verschüttet: Dies dürfte daran liegen, dass zu dieser Zeit der 1570er unter seinem Schwiegervater Johann Marbach (1521–1581) und dann unter dem gerade für die Hohe Schule unhintergehbar einflussreichen Johann Pappus (1549–1610) konflikthaft die Reorthodoxisierung von Stadt und Hoher Schule mit der umstrittenen Forderung, die Konkordienformel zu unterschreiben, betrieben wurde.²¹ 1590–1592 aber, wie unten (Abschnitt 5) zu zeigen sein wird, im Moment als sogar das mächtigste deutsche Territorium, Kursachsen, kurzzeitig unter Christian I. (1560–1591) calvinistisch wurde und einen Zug nach Frankreich plante, gab Obrecht seine Arbeiten über das Kriegsrecht heraus, in denen auf einmal eine sehr weitgehende Anerkennung des Widerstandsrechts bis hin zu Privatleuten im eng definierten Einzelfall unter expliziter Bezugnahme auf die Vindiciae contra tyrannos (1579), das berühmte systematischste Monarchomachenwerk zu finden sind: Einiges spricht dafür, dass Obrecht hier über Jahre sich eher auf die juristische Arbeit im engeren Sinne konzentrierte – er lehnte auch in den Jahren von Pappus’ Dominanz eine Wahl ins Rektorenamt der Hohen Schule bis 1595/96 ab – und dann erst in der Zeit der Zuspitzung des Straßburger Kapitelstreits sich stärker für die politische Partizipation und republikanistische Politik zu Verfügung stellte, die er an einigen Punkten des Werks sehr wohl befürwortete. Zunächst wurde er aber 1575, nach der ersten Blüte der juristischen Fakultät der Hohen Schule unter François Baudouin (1520–1573) und François Hotman (1520–1590), auf die Codex-Professur berufen (wohl Oktober 1575); nach bereits einem Semester wollte ihn Herzog Julius von Braunschweig für die Universität Helmstedt auf Empfehlung von Valentin Erythraeus (1521–1576) abwerben, aber er blieb der „patria“ treu. Gleiches gilt für einen ähnlichen Abwerbungsversuch durch Pfalzgraf Ludwig VI. (1539–1583) für die Universität Heidelberg. Eine engere Nähe und entsprechende Verehrungen („clementia“) wird für das Verhältnis zum Pfalzgrafen Philipp-Ludwig von Pfalz-Neuburg (1547–1614), dem Herzog Johann-Wilhelm von Sachsen-Weimar (1530–1573), den Württembergern, den Markgrafen von Baden und weitere vom Professor der Beredsamkeit der Hohen Schule und Nachrufredner Marcus Florus (1567–1626) erwähnt.²²
geradezu lutherischen Fürsten, wie sie zumindest bei Florus erwähnt sind, weisen auf ein jedenfalls offizielles Luthertum hin, das so auch in der öffentlichen Trauerzeremonie noch einmal betont wurde; sein Involviertsein in den Straßburger Streit, die Frankreich-Erfahrungen, der unten charakterisierte Stadtrepublikanismus und die engen Verbindungen zu den Bruderhöfischen weisen auf eine starke Öffnung zum Reformiertentum hin. Schindling: Hohe Schule (wie Anm. 3), S. 34–44, 125–161. Florus: Oratio parentalis (wie Anm. 4), f. G3r.
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Obrecht hatte 1575 einige Schulden angesammelt aufgrund der Studienzeit, wobei die Antragsbriefe auf Salärerhöhung und Büchergeld aufgrund der rhetorischen Kommunikationssituation natürlich nicht direkten Schluss auf die realen Vermögensverhältnisse zulassen. Ihm waren für die Professur zunächst nur Einkünfte aus einem Kanonikat des St. Thomas-Stifts zugewiesen, die Familie besaß aber außerstädtischen Landbesitz wie Gültenrechte an Äckern und einem Gut in der Ballei der elsässischen Komtur des Deutschen Ordens, um die seit 1579 bis an sein Lebensende ein Prozess mit der Ballei geführt wurde.²³ 1577 bat er dann auch darum ihn „mitt einem ehrlichen bestendigen salario [zu] versehen“.²⁴ Am 12. Mai 1577 wurde er in das Thomasstift als Kanoniker berufen und investiert. Das Thomasstift zahlte allerdings zunächst nicht und war 1578 mit 90 lb. ausständig und kündigte für weitere drei Jahre Zahlungsunfähigkeit an, woraufhin sich Obrecht wieder bei den Scholarchen beschwerte, als er schon mit der Vorlesung über das erste Buch des Codex fertig war und mit der über das zweite Buch begonnen hatte.²⁵ Er heiratete zunächst 1579 die Tochter Johannes Marbachs, Barbara Marbach (durch den Tod des Apothekers Bernhards Erbertz verwitwet), von den mit ihr drei gezeugten Kindern überlebten Elisabeth und Johannes Thomas. 1583 bot Kurfürst Ludwig VI. von der Pfalz ihm an, ans Reichskammergericht als pfälzischer Präsentatus zu gehen. Die Stelle war zuvor von Nikolaus Cisner (1529–1589) besetzt gewesen.²⁶ Er zog es aber wieder vor, in Straßburg zu bleiben. Statt seiner übernahm dann sein alter Studienfreund Johann Wilhelm von Botzheim die Nachfolge Cisners.²⁷ Nach dem Tod der ersten Frau verheiratete er sich am 19. Februar 1589 erneut mit Ursula Geiger, Tochter des Ulrich Geiger und Witwe Theobalds Winthers. Mit ihr zeugte er die Kinder Georg Ulrich, Ursula und Magdalena. Ebenfalls 1589
Es ging um eineinhalb Äcker im Bann Truchseßheim zwischen den Erben Georg Obrechts und dem Ordenskomtur Christoph Thurn von Neuburg, Positionsschrift des Sohns Johann Thomas Obrecht für den Prozess vor dem geistlichen Gericht in Molsheim, s.d. (nach 1614), AS IX 12–12. Obrecht an Scholarchen AS 1 AST 346, 7. Februar 1577, n. 105. Ebd. 17. September 1578, n. 106. Nikolaus Cisner aus Mosheim hatte schon in den 1540ern enge Beziehungen zu Straßburg (Bucer war sein Verwandter), war mit Calvin befreundet, humanistisch versiert und hugenottenaffin (Frankreich-Reise), hatte schon unter Ottheinrich gedient, war gemäßigt reformiert, und hatte insofern ein ähnliches Profil wie Obrecht aus Pfälzer Sicht, auch wenn Ludwig VI. die Relutherisierung des Stammterritoriums betrieb, hierbei aber für Heidelberger Ämter (Vizehofrichter) trotzdem auf Cisner zugriff, vgl. Volker Press: Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619. Stuttgart 1970, (Register), insbes. S. 193–194, 208 f., 259, 282, 289–293, 297. Die Widmung der Themata (oben Anm. 8) fällt also genau in dieses Jahr. Johann Wilhelm von Botzheim, Patrizier und Mitglied der elsässischen Reichsritterschaft, war von 1580–1587 Assessor der Kurpfalz in Speyer und diente dann in Heidelberg 1587–1593 als Hofrichter (Press: Calvinismus, passim).
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wurde er in der Nachfolge Johann Sturms (1507–1589) Vorsteher des St. ThomasStifts. 1579 und 1588 war er Visitator, 1595 Rektor der Hohen Schule, im April 1598 wurde er zum Stadtadvokaten berufen. Rudolph II. adelte ihn am 7. September 1604, vielleicht in Anerkennung seiner Verdienste um die Verhandlungen zum Hagenauer Vertrag. Von diesem erhielt er am 19. November 1609 auch das auf ihn und seinen Sohn ausgestellte, unten näher besprochene Privileg eines Hofpfalzgrafen. Von Obrecht ist, wie von vielen Gelehrten der Zeit, kein umfassender Nachlass erhalten, es finden sich einige partielle Konvolute und natürlich einige Korrespondenz und amtliche Schriftstücke in den Straßburger Beständen, auch aus dem Besitz seines Sohnes Johann Thomas, die allerdings meist wenig Einblick in sein Privatleben geben. Seine zweite Frau Ursula („socius mea charissima“) verstarb am 2. Februar 1604 wie er in einer kurzen Notiz Pappus übermittelte.²⁸ Obrecht trat in seiner Funktion als Stadtadvokat oft gemeinsam mit dem Stadtschreiber als Vertreter neben dem Bürgermeister und oder Mitgliedern des Rats der XIII auf. 1610 bat er aber den Rat der XIII, ihn für die Dienste an der Hohen Schule wieder zu entpflichten. Die Ratsmitglieder befürworteten dies, „weiln er stattlich berümbt vnd vil studenten jhme zugefallen herkohmen“, welche aber wieder von dannen zögen, wenn sie ihn nicht persönlich hören könnten.²⁹ In diesen letzten Jahren widmete er sich vor allem den frühkameralistischen Projekten, wegen derer er am meisten bekannt ist, die aber nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind. Als er 1612 starb, war auf der Trauerfeier jener Dr. Philipp Chelius als Zuhörer anwesend, mit dem er in Orléans studiert hatte und in dessen Zimmer er sich vor den heranstürmenden Mördern verbarrikadiert hatte.
2 Methode und Pädagogik Wie schon Schindling feststellte, sind etliche Werke Obrechts nicht überliefert: obwohl er die Codex-Professur innehatte, gibt es keinen gedruckten Codex-Kommentar von ihm, die behandelten Themen werden aus den Disputationen ersichtlich. Die Themen sind zunächst 1577 bis etwa 1590 stark auf das Zivilrecht bezogen, einerseits auf grundsätzliche Einführungsthemen zur Rechts- und Prinzipienlehre, andererseits auf Pfand-, Prokuratoren-, Mündelrecht, auf Tausch, Übergabe (traditio), Schenkung, Erwerbsrecht (Ersitzung, Präskription), Sachenrecht (Real-Servituten), dann auch Erbrecht und nach 1590 stärker auch mit dem öffentlich-rechtlichen Einschlag (Kriegsrecht, Gerichtsbarkeit, Richterrecht), sowie nun auch
AS 1 Ast. 44, n. 77. Protokoll des Rats der 13, Freitag 27. April 1610, AS 3R2, f. 218.
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Obligationenrecht und Feudal- und Emphyteuse-Recht. Fast 40 gedruckte Einzeldisputationen sind in den Bibliotheken heute ermittelbar, Nicolaus Backer gab 1595 darüber hinaus 53 allerdings kürzere bzw. wohl gekürzte und resümierte Disputationsthesen in einem Sammelwerk heraus, bei denen Georg Obrecht – den Backer aber sehr wohl als praeceptor – bezeichnet, als Respondent auftaucht.³⁰ Es war von Anfang an Obrechts zentrales methodisches Anliegen, Theorie und Praxis zu verbinden: Diese Formel, dass „theoria cum praxi“ notwendig zu vereinigen sei, die man sonst in der Philosophiegeschichte gerne mit Leibniz assoziiert,³¹ taucht immer wieder auf: Das notwendige Geld für die Anschaffung spezieller Gerichts- und prozessrechtlicher Bücher für die Bibliothek beantragte er in diesem Sinne: Zum dritten so erheischet auch dis officium, das ein professor mitt theoricis vnd practicis libris bey der vile versehen seye: domitt [ein professor] praxim cum theoria profitendo coniungieren, vnd alle quaestiones iuris et facti grundtlicher, mitt besserem verstand, vnd mehrerem nutz könne expliciren vnd ausfueren. Dann wo allein praxis sine Theoria, oder Theoria sine praxi in scholis ward geübt vnd getriben: so ist es unmuglich daß man zu einem wahren verstand, vnd bestendigen nutz in rechten kommen möge: sonder geschicht, das einer zweymal, nemlich in foro & schola, muß seine studia anfangen vnd volfueren. Nun aber so ich beger auch dissem stuck mitt erueben noch zu kommen: so ist von nöten, das ich mitt mercklichem grossen vnkosten, wie albereit geschehen, diser profession zu lieb, mich ein rist [sic, wohl: ′ einricht′], vnd nit allein mitt Practicis: sonder auch Theoricis auctoribus versehe: do ich sonst mitt den Practicis genug haben, vnd meinen nutz schaffenn mechte.³²
In den Disputationen kommt die Formel immer einmal wieder vor: Duo sunt in quibus Iurisprudentia studium singulariter occupatur: Theoria nimirum, & Praxis. 2. Theoria in contemplatione & cognitione iuris consistit, & id praecipue agit, ut leges, earumque rationes, atque adeo artem iuris inquirat atque percipiat. 3. Haec finem iuris, qui est Iustitia, vere non assequitur: quia iustia est αλλότριον αγαθόν, quod non ad se, sed ad alium refertur. 4. At Theoria iuris suum subiectum, seu hominem cognoscentem, non egreditur. 5. E
Nicolaus Backer: Disputationum, ex quatuor institutionum libris, secundum eorundem ordinem […]. Straßburg: typis Jodoci Martini 1595. Es sind dort auch Disputationen respondiert von anderen Rechtslehrern der Hohen Schule (etwa Wendelin Bittelbronn) enthalten, die Zurechnung an Obrecht ist also im engeren Sinne nur für die Disputationen, wo er als Respondent genannt ist, möglich, der Duktus und Inhalt sind aber durchgängig konsistent. Erwin Stein: Theorie cum praxi: Leibniz als technischer Erfinder, in: Thomas A.C. Reydon/Helmut Heit/Paul Hoyningen-Huene (Hrsg.), Der universale Leibniz. Denker, Forscher, Erfinder. Stuttgart 2009, S. 155–183. Georg Obrecht an Scholarchae, s.d., AS 1 AST 346 nr. 107.
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contra Praxis iuris in eius usu consistit, & et inprimis agit, ut leges ad huius, vel ad illius personae, vel rei, tam publicae, quam privatae utilitatem accomodet.³³
Die Kriegspraxis³⁴ wird als genauso wichtig hervorgehoben wie die Kenntnis der Praxis der Notarstätigkeit,³⁵ der Prozess- und Prokuratorentätigkeit. Nach Aussage von Stephan Berthold und Melchior Iunius d.J. (der Vater war eine Zeit lang Rektor der Hohen Schule) entwickelte Obrecht für die Übung seiner Studenten wohl früh schon, jedenfalls belegt ab 1585,³⁶ die Methode, mündliche Übungsprozesse mit verteilten Rollen durchzuführen. Man mag darüber spekulieren, ob dies eine Reaktion darauf war, dass am Reichskammergericht die ab 1555 in der Reichskammergerichtsordnung erwähnte Praktikantentätigkeit zum Ende des 16. Jahrhunderts schon zu einer Art wenn nicht obligaten, so doch sehr häufigen Ausbildungsstation für Juristen geworden war, die vor Ort referendarartig bei den Assessoren lernten, bevor andernorts echte praktische Tätigkeit aufgenommen wurde.³⁷ Die Formulierung im obigen Brief an die Scholarchen, dass es nicht gut wäre, dass die Studierenden „zweimal“, an der Universität und am Gericht lernen müssten, mag darauf hinweisen. Jedenfalls richtete er 1585, zwei Jahre nachdem er das Angebot der Kurpfalz, selbst Reichskammergerichts-Assessor zu werden, abge-
Georg Obrecht: Disputatio prima, ex Obrechtianis scholis libri primi de Iudicijs, tam ex veteri, quam nouo, moribus & Imperij ordinationibus recept & approbato Iure desumpta, resp. Melchior Iunius Jr. Straßburg 1594, f. A2r. Obrecht: Prima pars De principiis belli (wie Anm. 14), nr. 646. Georg Obrecht: Oikonomia Tituli. C. & D. de Procuratoribus & Defensoribus: quae praecipuas et perplexas huius Tractatus quaestiones […] explicat […], resp. Gerlacus ab Els. Straßburg: Nicolaus Wyriot 1580, nr. 158. Schon die frühe Disputation Georg Obrecht: Theses Pignoratitiae: quibus in utili pignorum et hypothecarum materia praecipuae & perplexae quaestiones ordine continentur, resp. Huldericus Dietrich. Straßburg, Nicolaus Wyriot 1577 enthält (f. Div–Eiijr) einen Dialogus de Pignore zwischen Celsus, Calliope und Astraea, der allerdings nicht als ein Prozess-Spiel, sondern als allgemeine Reflexionsübung, gegebenenfalls zu einer akademischen Rezitation fähig, zu den Rechtsgrundlagen des Pfandrechts verstanden werden muss. Jost Hausmann: Die Kameralfreiheiten des Reichskammergerichtspersonals. Köln/Wien 1989; vgl. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. – Der Reichstag zu Augsburg 1555, Teilband III, bearb. von Rosemarie Aulinger/Erwein H. Eltz/Ursula Machoczek. München 2009, S. 2553–2577, 2561: Art. [49] Von freyheiten, sicherheyt und gleith der personen des ksl. cammergerichts: „Es sollen auch die jungen doctores, licentiaten und andere personen, so sich zuo dem cammergericht, die practigk daselbst zuo lehrnen, begeben […] auch freygelassen und gehalten werden.“ – Für das Beispiel eines Sollizitators, der sein Studium abgebrochen hatte, und dann Speyer als Praxis- und Ausbildungsort wahrnahm vgl. Anette Baumann: The Imperial Chamber Court (1495–1806) as an Educational and Training Institution, in: Mia Korpiola (Hrsg.), Legal Literacy in Premodern European Societies. Cham 2019, S. 43–58.
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lehnt hatte, „exercitij gratia“ in der „Form eines heute üblichen und anerkannten feierlichen Gerichtsprozesses“ als eine solche Gerichtspraxisübung an der Hohen Schule ein, „damit in Nachahmung [sc. des realen Prozesses] alle legitimen actiones für zulässig erwählt werden, um sie dann vor das Gericht zu bringen“, was durch die Studenten dann spieleweise durchgeübt wurde.³⁸ Diese exercitationes oder σκιαμαχίαι sind nicht mit den üblichen akademischen Disputationen zu verwechseln, auch wenn in den Disputationen öfters thematisch einschlägige Beispiele auftauchen, die gegebenenfalls auch in solcher Form geübt wurden. Näher scheint die Verwandtschaft zum studentischen neolateinischem Theaterspiel zu liegen, das in dieser Zeit florierte, aber moot court-Praktiken sind im Bereich des Common Law schon für das 15. Jahrhundert belegt – wohl aber eher nicht für Zentraleuropa.³⁹ „Da es den Jurastudenten sehr nutzen würde, und sie auf die zukünftigen Wettkämpfe vor Gericht und bei den Urteilsfindungen vorbereite, [habe er] ein praktisches Rechts-Exercitium eingerichtet, in dem alles sehr klar, gelehrt, auf Latein, elegant, akkurat und ganz entsprechend dem ausgerichtet wird, was mit unseren heutigen Zeitgebräuchen am ehesten übereinzustimmen scheint.“⁴⁰ Die Rollen von Richter, Kläger, Beklagten, Assessoren, Rechtsgelehrten, Viator und Gerichtsprotokollant werden dann wie dramatis personae namentlich einzelnen realen Straßburger Studenten zugewiesen. Schindling hatte aufgrund eines späteren Drucks von 1600 behauptet, dass sich Obrechts Praxiskonzept nur auf die Emulation historischer antiker Prozesse bezog.⁴¹ Aber zum einen ist dieser Druck von 1600 explizit als Exercitium iuris antiqui ausgewiesen und auf die „veteres roman[i]“ bezogen, während der eben zitierte von 1585 die Praxisübung allgemein einführend ohne „antiquus“ ausweist und in den Texten von Iunius und Berchtold explizit die Anwendbarkeit auf die aktuellen Gerichts- und Rechtssituationen behauptet; zum anderen muss man ein wenig vorsichtig das damalige Geschichtsverständnis miteinbeziehen: gerade im Bereich des römischen Zivilrechts wurden Begriffe und Konzepte wie die der actio, der Rolle des ,Praetorsʻ oder andere als übertragbar
„Idque iam pridem expertus est Excellentissimus D. Georgius Obrechtus: ideoque paucos ante menses, exercitij gratia, actionem commodati, (a qua tanquam faciliori, multas ob causas initium fecit) in formam iudicij solennem, vsitatam, & hodie receptam coegit, & ante oculos omnium ita constituit: ut ad imitationem ipsius, omnes actiones legitimas resoluere, & tanquam pro tribunali proponere, ibidem experiri inuicem studiosi juris queant.“ (Stephanus Bertoldus, Straßburg, Calend. Sept. 1585, Georg Obrecht: Exercitium Iuris Practicum: ex quo ordo et formulae iudicii magna ex parte cognosci possunt. Straßburg: Bertram 1585, f. A2r). Samuel E. Thorne: Readings and Moots at the Inns of Court in the Fifteenth Century. London 1954; Kenneth Charlton: Liberal Education and the Inns of Court in the Sixteenth Century, in: British Journal of Educational Studies 9, 1 (1960), S. 25–38. Obrecht: Exercitium Iuris Practicum (wie Anm. 38), f. A4v. Schindling: Hohe Schule (wie Anm. 3), S. 306.
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gedacht. Es scheint eher so, dass der Druck von 1600 zeigt, dass nun in Abwandlung der schon fünfzehnjährigen Praxis solcher moot courts in Straßburg eine antiquarische Unterform der besonderen historisierenden Gerichtsspielpraxis eingeführt wurde, die aber immer noch nah an der Anwendbarkeit stand. Im 1585erExercitium, das dem Vorwort nach explizit als Übung auf, heute anwendbares Gerichtsrecht‘ ausgewiesen ist, werden als Rollennamen selbstverständlich antikisierende benutzt wie Caius, Sempronius, Maevius: damit wird die in den Digesten schon vorfindliche und seit der Glossatorenzeit auch im Kommentar zum corpus iuris wiederaufgegriffene übliche Form, Rechtssachverhalte durch Fallkonstruktionen mit fingierten lateinischen (‚dummy‘) Namen durchzudenken, mit der Fiktion von Rollen-personae auf dem Theater überblendet. Aber der Fall, der durchgespielt wird, betrifft einen Straßburger Kontext, Hagenau, den Rheinfluss, die Formulierung von actiones, eines Klaglibells, die Diskussion dann um die anwendbaren Rechtsdefinitionen aus dem römischen Recht. Bei manchen Disputationen sieht man, wie diese Mischung der römischrechtlichen Exegese und Kommentierung mit den Anwendungsfällen der eigenen, oft ganz lokalen elsässischen Gegenwart verbunden wird. In der Disputatio de forma actionis et libelli von 1592 werden in vielen detailreichen Angaben, wie man Klagschriften, Anspruchsformulierungen usw. einzureichen hat, immer wieder selbstverständlich eben solche klassischen ,dummy‘-Namen wie ,Titusʻ oder ,Semproniusʻ verwandt. Aber dann werden auch Fälle eingestreut, dass etwa bei der HypothekenAnspruchsrealisierung bzw. -Klage (actio) eine bestimmte Formulierung zu wahren sei: „Vor Euch dem Herrn Offizial des Straßburger bischöflichen Gerichts erscheint Johannes Pictor, Bürger von Hagenau als Kläger, gegen Theobald Piscator, Bürger von Molsheim als Beklagen und trägt die folgende Klage summarisch vor“.⁴² Pictor führt aus: Im Jahre 1589 habe er dem vorgenannten Theobald für 8 Goldgulden pro Jahr eines seiner Häuser in der Stadt Molsheim vermietet, dieser zahlte aber nicht, floh, zerstörte zuvor sogar einen Ofen und die Fenster des Hauses, ließ aber in dem Haus zwei Kästen und drei Tische zurück. Es sei aber rechtens, dass, wer in Gebäuden etwas einführt, diese stillschweigend für die Miete und für die seinerseits verschuldete Verschlechterung der Mietsache zum Pfand einbringt.⁴³ Solche Fälle finden sich in den Disputationen genauso eingestreut wie sehr exakt-philologische Überlegungen in der Schule des mos gallicus mit Rückgriff auf Hotman (1524–1590), Cujas (1520–1590), oder Haloander (1501–1531), mit steter Überprüfung des rö-
Georg Obrecht: Disputatio de forma actionis et libelli, quae a condita Roma usque ad nostrum saeculum in iudiciis observata fuit adhuc observetur, et observari utiliter possit, resp. Johannes Rembold Funckius. Straßburg: Antonius Bertram 1592, nr. 488 f. Ebd.
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mischrechtlichen Textes an der littera Florentina. ⁴⁴ Die Trennlinie zwischen ,Praxis‘ und ,Theorieʻ war stark eingeebnet, zumal – wie betont – diese Trennung anders begriffen, und die Überblendung zwischen antikisierenden Formen und Gegenwart ohnehin gängiger war. Methodisch findet sich – trotz des Rekurses sehr vereinzelt auch auf Ramus (1515–1572) – immer wieder zentral der Rückgriff auf die aristotelische Vier-Ursachen-Lehre: Obrecht muss so die einzelnen actiones gelehrt haben, indem er immer zwischen der causa efficiens (remota, propinqua), der materia, der causa formalis und finalis unterschied.⁴⁵ Dies war zunächst eine didaktische Herangehensweise, hatte aber doch auch real-systematische Effekte, weil gerade für die causae efficientes meist die Rechtssphäre, der eine actio zuzuordnen ist, benannt ist; die actio compensationis hat ihre causa efficiens also im ius gentium et ius civile,⁴⁶ ähnlich die actio substitutionis,⁴⁷ andere sind nur dem ius civile oder nur dem ius gentium zugeordnet. Bei der Vormundschaft ist die causa efficiens remota etwa das Zivilrecht (weil jenes dieses Rechtsinstitut vorsieht), die causa efficiens propinqua ist der Magistrat als derjenige, der die konkreten Ausführungsbestimmungen und Verwaltungen hierfür bereitstellt, Vormünder bestellt und kontrolliert usw.⁴⁸ Auf diese Weise ordnet Obrecht die verschiedenen actiones und Rechtsinstitute den verschiedenen Ebenen sowohl der Rechtsmaterien, als auch der institutionellen Realwelt zu. Hätte er eine systematische Übersicht des Rechts als Kompendium verfasst, wäre hier die Vorarbeit geleistet gewesen, diese Einordnungen in eines der
Zur humanistischen Jurisprudenz als Überblickswerke immer noch Myron P. Gilmore: Argument from Roman Law in Political Thought 1200–1600. New York 1941 (2. Aufl. 1967); Donald R. Kelley: Foundations of modern historical scholarship. Language, law, and history in the French renaissance. New York 1970; Hans-Erich Troje: Graeca leguntur. Die Aneignung des byzantinischen Rechts und die Entstehung eines humanistischen Corpus iuris civilis in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts. Köln/ Wien 1971; ders.: Crisis digestorum. Studien zur historia pandectarum. Frankfurt a. M. 2011 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 264) (mit einer Auswahlbibliographie). Dies ist eigentlich nicht im Sinne der sonst häufig anzutreffenden Topik zu verstehen, dass rein logisch vom topos der causae her argumentiert oder erklärt würde (hierzu Jan Schröder: Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1900). 3. überab. u. wes. erw. Aufl. Bd. 1: 1500–1930. München 2020, S. 40 f.), sondern die causae-Lehre dient gleichsam als grundlegendes Darstellungs- und Ordnungsprinzip mit Tendenzen zur Suggestion, dass die Weltund Rechtsordnung dergestalt ,kausalʻ geordnet sei. Georg Obrecht: Disputatio de Compensationibus, resp. Johann Sebastian Hornmold. Straßburg: Antonius Bertramus 1593. Georg Obrecht: Disputatio de substitutionibus, resp. Wilhelm Bökelius. Straßburg: Antonius Bertramus 1594. Georg Obrecht: Disputatio de patrocinio pupillorum: Qua diffusa, vtilis & quotidiana tutelarum materia, breui Methodo conscripta continetur […], resp. Johann Michael Beuther. Staßburg: Antonius Bertramus 1586.
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geläufigen frühneuzeitlichen enzyklopädischen oder gegebenenfalls auch dyadisch sich entfaltenden ramistischen Systeme zu gießen. Dies war nicht der Fall, und interessanter Weise tauchen auch wenige solche schon existierende Werke zitiert auf: meist wird in den Disputationen auf Einzelkommentare und Werke v. a. der humanistischen Juristen zu Digesten- und Codextiteln und -actiones Bezug genommen, ganz selten und spät einmal wird auch ein Werk wie Althusius′ (1563– 1638) Iurisprudentia romana zitiert.⁴⁹ Für das materielle Recht nimmt sich Obrechts Wirken eigentlich immer noch induktiv aus, er folgt keiner deduktiv vorausgesetzten oder schon entwickelten Gesamtschau oder -systematik, so wie die frühen humanistischen Juristen zunächst nur vom römischen Rechtstext ausgingen. Die hohe Aufmerksamkeit für die prozessrechtlichen Fragen und die Realisierung der actiones als Ansprüche und Klagen vor Gerichten in der Lebenswelt ist aber das Besondere seiner Lehr- und Publikationstätigkeit.
3 Die Disputationen Über mehr als eine Dekade war, wie gezeigt, das Wirken als Hochschullehrer öffentlich nach außen vor allem durch die ausführlichen und gedruckten akademischen Disputationen sichtbar; sie hatten natürlich Werbewirkung für den akademischen Standort Straßburg. Das römische Recht wird in einer komplexen Verschränkung von einerseits protohistoristischer mos-gallicus-Hermeneutik, andererseits einem Zug zur Applizierbarkeit in der Gegenwart rezipiert, aktualisiert und diskutiert. Neben den Größen der humanistischen Jurisprudenz – Andrea Alciato (1492–1550), Ulrich Zasius (1461–1536), Gregor Haloander, Jacques Cujas (1520– 1590), François Hotman, Denis Godefroy (1549–1622), François Douaren (1509–1559), António Gouveia (1505–1565), der Rhetor Marc-Antoine Muret (1526–1585), François Baudouin (1520–1573), Mario Salomonio degli Alberteschi (1450–1530), François Connan (1506–1551) werden nur Baldus (1319/1327–1400) und Bartolus (1313/4–1357) immer einmal wieder zitiert, die ganze übrige Tradition des mos italicus fehlt weitgehend. Die Disputationen sind insoweit von der Kommentar- und Exegesetradition der reichen spätmittelalterlichen italienischen Überlieferung ,entschlackt‘, nur beim Feudalrecht erlangt diese wieder größeren Raum. Früh hat Obrecht auch schon Bodins (1529/30–1596) Les six livres de la République rezipiert, und zwar auf Französisch, denn er zitiert das Werk schon mehrfach vor dem Er Disputatio de contractu mutui, resp. Caspar Christopherus Rhor, in: Backer: Disputationum (wie Anm. 30), Teil II, Nr. 2, nr. 10 – und hier ist Obrechts eigener Verwendungs-/Referenzanteil unklar, man kann nur sagen, dass das Werk sicher im Jurastudium der Hohen Schule insgesamt bekannt war.
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scheinen der lateinischen editio princeps von 1586.⁵⁰ Hinweise auf das Geschichtsbild Obrechts in dieser Hinsicht finden sich bruchstückhaft und verstreut über einige der Disputationen: Für das oströmische Reich geht er davon aus, dass das römische Zivilrecht im Wesentlichen bis zur osmanischen Eroberung 1453 so weitergepflegt worden sei, wie es unter Iustinian (482–565) eingesetzt worden war. Dies erklärt, warum er auch in den 1580ern und 1590ern ähnlich den Frühhumanisten immer wieder das Manual des byzantinischen Richters Konstantin Harmenopoulos aus dem 14. Jahrhundert gleichwertig neben den klassischen und postklassischen Quellen heranzieht.⁵¹ Im weströmischen Reich wird dann die übliche Erstrezeption durch Irnerius in Bologna nach dem Historiker Aventin ins 11. Jahrhundert datiert.⁵² Der nicht seltene Rekurs auf die Littera Florentina, wie es seit Polizian über Haloander bis zu Godefroy üblich geworden war, ist so zwar ein textkritisches Korrektiv – etwa wenn man über die Inscriptio eines Digestenfragments die eigentliche sedes materiae einer sehr allgemeinen Aussage relativieren und kontextuell eingrenzen kann⁵³ –, eine absolute historistische Exklusivität für
Georg Obrecht: Oikonomia Tituli. C. & D. de Procuratoribus & Defensoribus, resp. Gerlacus ab Els Iurium candidatus. Straßburg: Nicolaus Wyriot 1580, nr. 22–26: dass Sklaverei historisch mit dem Christentum aufgehört habe, belegt er mit Bodin, der historisch völkervergleichend den Gebrauch von Sklaverei analysiert, und diese Aussage trifft bei Jean Bodin: Les six livres de la République – De Republica libri sex, livre premier, ed. Mario Turchetti. Paris 2013, Bd. 1, ch. 5, 15, S. 296. Die frühe Bodin-Rezeption in Deutschland fand lokal gerade in diesem linksrheinisch-Pfälzer Trapez statt: Der hugenottische Exildrucker Jean Mare(s)chal druckte Jean Bodin: Methodvs ad facilem historiarum cognitionem: accvrate denuo recursus […]. [Heidelberg] Apud Ioann. Mareschallum Lugdunensem 1583 (Roland Crahay: Bibliographie critique des éditions anciennes de Jean Bodin. Bruxelles 1992, S. 31–33) und Bodin selbst nahm in der Apologie de René Harpin auf die Drucke in Heidelberg und Basel in Gegnerschaft mit den Wittenberger philippistischen Astrologie-Vertretern fast triumphierend Bezug: René Herpin [i. e. Jean Bodin]: Apologie de René Herpin povr la Repvblique de I. Bodin. Paris 1581 [statt 1583], in: Ders.: Les six Livres de la République avec l’Apologie de R. Herpin. Faksimiledruck der Ausgabe Paris 1583. Aalen 1961, S. 5 f. Die erste Bodin-Übersetzung entstand in Montbéliard, übersetzt dort vom Pfarrer Johann Oßwald (VD16 B6282). Hinweise zur frühen Benutzung von Harmenopoulos und Haloanders 1529/1530 in Nürnberg herausgebrachten Digestenausgabe mit Florentina-Benutzung in (proto‐)reformierten Kreisen (Johannes a Lasco und Martin Bucer) bei Cornel Zwierlein: Der reformierte Erasmianer a Lasco und die Herausbildung seiner Abendmahlslehre 1544–1552, in: Christoph Strohm (Hrsg.), Johannes a Lasco (1499–1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator. Tübingen 2000, S. 35–99; ders.: Reformation als Rechtsreform. Bucers Hermeneutik der lex Dei und sein humanistischer Zugriff auf das römische Recht, in: Christoph Strohm (Hrsg.), Martin Bucer und das Recht. Genf 2002, S. 29–81. Vgl. die Ausgabe Konstantinou Harmenopoulou Procheiron Nomon e hexabiblos, ed. Konstantinos G. Pitsakes. Athen 1971. Obrecht: Disputatio de forma actionis et libelli (wie Anm. 42), nr. 165, 166. Ein gutes Beispiel ist die Diskussion von Dig. 1, 1, 3, ein Fragment des Juristen Florentin aus dessen erstem Buch seiner Institutiones, bei dem Obrecht hervorhebt, dass diese einen anderen Charakter
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die Frühzeit des römischen Rechts gegenüber späteren Zeiten wird aber nicht streng durchgehalten. Jenseits dieser säkular-historischen Konzeption findet sich im Dialogus de pignore ein rudimentär späthumanistisches Weltbild angedeutet von einer idealisierten Ursprungssituation, die auf Tugenden wie Prudentia, Candor, Religio, Gravitas, Pax, Natura, Utile und Honestum aufgebaut sei; konkret würde es in einer solchen Ordnung eigentlich gar keines Pfandrechts, ja überhaupt keines staatlich geschützten Rechts bedürfen, wenn alles in harmonischer Eintracht stünde.⁵⁴ Aber einst sei die Waage dieser Urrechtssituation zerbrochen, die Affen der Gesetze (simia legum) seien befreit und die Sittentyrannen seien zur Herrschaft gelangt. Die unstete fortuna bedrohe ständig den Weltenlauf; unter diesen Bedingungen könne eben niemand mehr dem anderen ohne Pfand vertrauen. Sicherheit müsse durch Kunstgriffe wieder eingeführt werden und die Rechtsordnung würde dies quasi als Notordnung garantieren. Zwar gelte immer noch, dass gerade gegenüber Armen die Praxis, nicht ohne Pfandgabe zu leihen oder zu schenken, ein nicht menschliches, sondern wölfisches Verhalten sei – hier ist Obrecht im Einklang mit der allgemeinen lutherischen Moraltheologie –, doch letztlich sei die Weltordnung nun so beschaffen. Der Ursprung des heiligen Rechts liege eben in den längst depravierten Sitten („Corrupti mores sunt sancti juris origo“). In dieser Lage sei der Rechtsstudent aufgerufen, auch auf die alten Glossatoren zurückzugreifen (auf „Martinus, Ianus, Petrus, Rogerius, Azo, Bulgarus, Accursor, Cynus, Raynerius, Abbas, Bartolus & Baldus, Decius, Speculator, Iason“), die durchaus manches Lobenswertes geschrieben hätten. Oft aber seien sie vom Gerechten, dem aequum, abgewichen und hätten die historisch-volksbezogene Verwurzelung von positivem Recht vernachlässigt („quod jus ab origine gentis non scrutarentur“). So seien die Rechtssätze als pure gehabt hätten, als jene des Ulpian, des Paulus oder des Caius: letztere wären Einführungen nur in die Grundlagenkonzepte von Recht, während ausweislich der Inscriptio in der Littera Florentina zu Dig. 34, 2, 29 und dem Inhalt nach im 11. Buch seiner Institutiones er vom speziellen Testament- und Legatsrecht handelte. Florentins Institutionen hätten also eher den Charakter eines Überblicks über die gesamte Rechtsmaterie gehabt: Georg Obrecht: Disputatio ex L. III d. de iustitia & jure: Quae utilissimam & quotidianam defensionis materiam continet, resp. Abraham Statuarius. Straßburg: Antonius Bertramus 1584, f. AijR. – Solche und ähnliche Aussagen zeigen deutlich, wie Obrecht die humanistische philologisch-historische Schulung der Erkenntnis und Trennung der zugrundeliegenden (verlorenen) Traktate der antiken Rechtslehrer im Verhältnis zur tribonianischen FragmentKompilation weiterbetreibt und daraus teilweise auch Argumente ableitet, was in Deutschland zu diesem Zeitpunkt erst seit etwa 50–40 Jahren gängig geworden war. Zur Littera Florentina vgl. statt vieler Wolfgang Kaiser: Zur Herkunft des Codex Florentinus. Zugleich zur Florentiner Digestenhandschrift als Erkenntnisquelle für die Redaktion der Digesten, in: Adrian Schmidt-Recla (Hrsg.), Sachsen im Spiegel des Rechts: ius commune propriumque. Köln 2001, S. 39–57, online: (Stand: 07.01. 2023), zur Wiederbenutzung durch die humanistischen Juristen vgl. Literatur in den Anmerkungen 38 und 44. Das folgende gibt Teile des Dialogus de pignore wieder, wie Anm. 36.
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Schreibtischerfindungen entstanden ohne notwendige Verbindung zur Rechtswirklichkeit. Das zentrale Anliegen sei hingegen, sich an die Eingangsgrundsätze der De justitia & jure-Titel und den Grundsatz des stoischen Naturrechts zu halten „suum constanter redde cuique“ (Dig. 1, 1, 10 pr.). Dies wird dann zum Schluss hin mit Bezug auf die Regierung Christi sakralisiert und eine humanistische Aspiration, in den Olymp einzugehen, wird mit diesem christlichen Weltbild verknüpft. Sicher ist dies nur eine kleine, vielleicht für eine erbauliche Rezitation nach einer akademischen Disputation gedachte dialogische Fingerübung, aber es klingen doch Grundzüge an, die sich mit der Obrecht’schen Lehre über Dekaden deckt. Er hat eben die Abfassung eines größeren systematischen oder weltbildklärenden Werkes nicht für nötig gehalten. In den ersten Jahren seiner Professur sind Disputationen zu Digesten- und Codextiteln häufig, die Rechtsgrundlagen betreffen: die hier schon anklingende aequitas oder ἐπιείκεια wird etwa in seinen dem in der Bartholomäusnachterfahrung von Orléans mitgeprägten Freund Johann Wilhelm von Botzheim gewidmeten themata von 1580 recht ausführlich behandelt.⁵⁵ Im Verlauf zwar auf Oldendorp (1488–1567),⁵⁶ nicht aber explizit auf Melanchthon (1467–1560) und den theologischen Strang der Naturrechtskonzeption rekurrierend, stellt sich Obrechts Vorstellung vom Naturrecht doch eher säkular-humanistisch dar und nimmt hier Cicero als Hauptmaßstab:⁵⁷ die „aequitas naturalis“ sei von der Natur explizit allen Menschen in die mens eingeprägt, auch unerfahrene Menschen würden über sie spontan, ohne Übung und Lehre verfügen, und hierzu werden die fünf Grundelemente gezählt, die menschliche Gesellschaft zu ehren bzw. zu pflegen, niemanden zu schaden, jedem das Seinige zukommen zu lassen, dem anderen gewährtes Vertrauen bzw. Treue zu halten, und denen, die Gutes verdienen, es entsprechend dankend zu vergelten. Von der naturalis aequitas sei die engere civilis aequitas zu unterscheiden, über die letztere könnten nicht mehr alle, sondern nur die durch Klugheit, Übung und Gelehrsamkeit Geschulten verfügen. Obrecht stellt die Hierarchie der allgemeinen aequitas-Regeln fest, die miteinander in Konkurrenz treten können: die gemeinwohlbezogene erste Regel der Gesellschaftspflege und -ehre steht über den anderen, und die individualbezogenen vier anderen sind auf sie auszurichten. Auf die aristotelische Lehre bezugnehmend, wird der Ansatzpunkt
Das folgende nach Obrecht: Themata (wie Anm. 9). Vgl. zu dieser Diskussion Lorenzo Maniscalco: Equity in Early Modern Legal Scholarship. Leiden 2020. John Witte Jr.: The Good Lutheran Jurist Johann Oldendorp (ca. 1486–1567), in: Mathias Schmoeckel/John Witte Jr. (Hrsg.), Great Christian Jurists in German History. Tübingen 2020, S. 80–98. Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ‚ius naturaeʻ im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999.Vgl. weiter Robert von Friedeburg: Self-Defence and Religious Strife in Early Modern Europe: England and Germany, 1530–1680. Aldershot 2002.
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der aequitas bei der Gesetzesinterpretation erklärt: da der Gesetzgeber die Gesetze nur allgemein fassen könne, die Diversität und Unterschiedlichkeit der jeweiligen Fälle und Umstände im Konkreten aber so groß seien, dass sie vom Gesetz nicht erfasst werden könnten, müsse hier bei der Anwendung die aequitas als Richtschnur dienen. Ein Beispiel entnimmt er der Rhetorikanleitung Johann Sturms (1507–1589),⁵⁸ wonach das allgemeine Gesetz vorsieht, dass ein Wanderer oder Pilger eine Stadtmauer bei Todesstrafe nicht überklettern darf, dass aber die aequitas gebiete, ihn von dieser Todesstrafe auszunehmen, wenn er es doch tue, um Feinde der Stadt zurückzustoßen: Die aequitas als höhere Rechtsebene verdrängt hier im Lichte des Gesetzgebungszwecks das konkrete Gesetz. So dient die aequitas als hermeneutische Richtschnur auch der Emendation korrupter Gesetzescodices, sie sei eben kein schriftliches Recht, kein νόμιμον δίκαιον, sondern ein ἔλλμα … δικαίου im Sinne des Aristoteles.⁵⁹ Die aequitas sei vom jus naturale insoweit unterschieden, als sie immer mit einem anderen Anwendungs- oder Normierungszusammenhang gemeinsam auftrete und zur Geltung komme, das Naturrecht als solches schreibe aber von sich aus sofort vor, etwas zu tun oder zu lassen. So müsse der Richter auch zuerst stets dem positiven Gesetz folgen, und erst wenn es hier zu Unklarheit oder Widersprüchen komme, müsse die aequitas zum Tragen kommen.⁶⁰ Ähnlich erläutert er ein Jahr später in der Disputatio ex L. III D. de iustitia & jure (1584) das Verhältnis der Naturrechtsebenen zueinander: Hier ist nun die protestantische, auf Melanchthon zurückgehende Rezeption der postthomistischen Naturgesetzlehre in ihrer Gegenüberstellung mit der römischrechtlichen Naturrechtstradition ganz explizit reflektiert, mit Rückgriff auf den Philippisten, vielleicht Kryptocalvinisten Wesenbeck (1531–1586):⁶¹ Das fünfte Gesetz des Dekalogs ,Du sollst nicht töten‘, das als lex naturalis und als lex divina zu begreifen sei, kann im Einzelfall in Konkurrenz mit einer anderen lex-naturalis-Regel aufgehoben werden
Johannes Sturm: In partitiones oratorias Ciceronis, Dialogi oratorias Ciceronis, Dialogi quatuor, ab ipso Authore emendati, & aucti. Straßburg: Rihel 1575, IV, cap. 26, S. 148 f. (es muss sich um diese überarbeitete Auflage „capitibus distincti“ handeln, die Obrecht benutzte, nicht die älteren Ausgaben seit der editio princeps 1539). Obrecht: Themata (wie Anm. 9), nr. 93: Obrecht bezieht sich auf „Arist 5 ethic d.c. 15“, die Unterscheidung in zweierlei ungeschriebenes Recht mit dem Begriff ‚ἔλλειμμα‘ (Obrecht schreibt zweimal ἔλλημα, was klassisch nicht nachgewiesen ist) dürfte aber eher der Rhetorik 1374a20–30 entstammen, allerdings sind auch die restlichen Zitatstücke ebd. nicht exakt so für Aristoteles nachzuweisen. Obrecht: Themata (wie Anm. 9), nr. 1 bis 111. Zu Wesenbeck zuletzt Paolo Astorri: Lutheran Theology and Contract Law in Early Modern Germany (ca. 1520–1720). Paderborn 2019, S. 532–536 und Heiner Lück: Matthaeus Wesenbeck (1531– 1586). Professor of Jurisprudence in Wittenberg, in: Schmoeckel/Witte Jr. (Hrsg.), Great Christian Jurists (wie Anm. 56). S. 113–127.
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(„interdum accidit ut lex naturalis cum naturali lege concurrat“): Wenn ein Fall der naturrechtlichen Selbstverteidigung im Sinne des vim vi repellere licet vorliege, sei eine Tötung wiederum erlaubt. Hier findet sich ein erster Passus, in der Permissivität und Grenzen der naturrechtlichen Selbstverteidigung erörtert werden: eine Stadt dürfe sich nicht nur gegen Belagerer mit allen Mitteln verteidigen, sondern aus dem Verteidigungsfall heraus auch flüchtende Angreifer und Desertierende verfolgen. Die Berechtigung aus dem Selbstverteidigungsrecht höre aber dort auf, wo die Aggression ende („necessitas depellendi [cessat, wenn der] agressor cedit“). Dieses Recht des vim vi repellere licet gehöre allen drei Rechtssphären des jus naturale, gentium und civile an, Selbstverteidigung sei auch „naturali ratione“ zwischen Menschen erlaubt, freilich müsse sie von seditio und von einem Majestätsverbrechen abgegrenzt werden und zuerst sei die Schutzgewährung Aufgabe des Magistrats. In vielen Einzelfragen geht er dieses Verteidigungsrecht durch, das seit dem Beginn der Reformation eine Quelle auch des protestantischen Widerstandsrechts war. Allerdings verbleibt Obrecht eher im Bereich der juristischen, auf die ersten Fragmente der Digesten bezogenen Erörterung, also in der legistischen Kommentartradition, erörtert so zwar Fragen bis zur Nottötung zwischen zwei Privatmenschen. Er diskutiert aber noch nicht eine ,monarchomachische‘ Konzeption des Widerstands gegen Staatsdiener, einen Magistrat oder Herrscher, was im Moment des Konfliktausbruchs des Straßburger Kapitelstreits vielleicht schon hätte erwartet werden können. Aber die Konstellation der Rechtsproblematik war beim Kapitelstreit am Beginn eher kanonistisch geprägt (Kapitelzugehörigkeit Exkommunizierter), so dass von der Materie her für den Legisten kein Anlass bestand, trotz der stattfindenden Gewalt und Okkupation des Bruderhofs in der eigenen Stadt. Ein Jahr später, in den Theses de principiis iuris (1585) finden sich wieder eng an der legistischen Konzeption von Rechtsgrundlagen orientierte Ausführungen zur epikuräischen, platonischen und stoischen Konzeption von Recht, zur Definition des Publicum jus mit seinen zwei Teilen Religio und Politia, der Rückgriff auf die aristotelische Lehre vom Mensch als animal κοινωνικόν aus der Politik, und wieder mit Rückbezug auf Wesenbeck Differenzierungen von Rechtsarten und -sphären (ius gentium rationis vs. ius gentium ratiocinationis, sechs Typen von ius nomikon). Rudimentär ist eine im Vergleich zum römischen ius publicum geänderte Situation angedeutet: da ein Senat nicht mehr existiere, sei, der lex regia entsprechend, die Gesetzgebungsgewalt durch das Volk endgültig auf den princeps übertragen. Nicht das Volk erlasse die Edikte, die praetorisches Recht enthalten, sondern nur der Magistrat verleihe ihnen autoritas. Man muss hier wieder in der spezifischen Vermischung antikisierender Formen mit aktueller Anwendbarkeit die Gegenwartsbezüge eher in dem Sinne konjizieren, dass so etwa ein zivil- oder öffentlichrechtsbezogenes Straßburger Edikt (etwa eine Polizeiordnung), die für die
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Straßburger Gerichte Geltung hätte, als „praetorisches Recht“ anzusehen gewesen wäre.⁶² Ähnlich verfasste auch Matthias Bernegger (1582–1640) seine notizhaften handschriftlichen Fragmente zur Verfassung von Straßburg in solchen termini, die Begriffe „Praetor“ und „consules“ verwendend, aber sehr wohl konkret auf das Straßburg um 1620/30 bezogen.⁶³ Während die Centuria thematum: ex singulis primi pandectarum libri titulis desumpta (1587) eher eine aus ausgewählten Digestentiteln abgeleitete Rechtsregel-Sammlung ohne größere thematische Ordnung sind, wie sie bis heute als Genre weitergeführt wird,⁶⁴ enthält die Disputatio de iurisdictionis et imperii principiis materia, rerum utilitate uberrima eine recht ausführliche Erörterung vor allem der Abgrenzung der Konzepte des merum und mixtum imperium: ⁶⁵ Zwar war das zunächst antikisierend bezogen auf die römischrechtliche Situation, mit Rückgriff auf Dionysios Halicarnassos (54 v.Chr.–8 n.Chr.), Zonaras (fl. ca. 1120)⁶⁶ und Harmenopoulos (1320–1385) auch verschränkt mit der spätantiken christlichen und der byzantinischen Konzeption der Unterscheidung von ἐξουσία-Ebenen. Doch hatte diese Unterscheidung im Heiligen Römischen Reich eine sehr konkrete Bedeutung, die in Straßburg seit Bucers Zeiten gängig war, als jener Begriff zuerst aus dem Griechischen des Neuen Testaments (Rm 13, 1) genommen und mit dem merum-
Georg Obrecht: Theses de principiis iuris, resp. Joseph Hettler. Straßburg: Antonius Bertramus 1585. Abschnitte, ‚De consule et praetore – Mutationes – Quindecemviri ˗ Tredecemviri – Senatus maior, minor – Cives, Jus civitatis – de plebe et scabini – Tribuni […]‘ (Matthäus Bernegger, Notizen zu Straßburgs Verfassung, in AS III/3–7, zu Bernegger Axel E. Walter: Späthumanismus und Konfessionspolitik. Die europäische Gelehrtenrepublik um 1600 im Spiegel der Korrespondenzen Georg Michael Lingelsheims. Tübingen 2004. S. 333–336). Georg Obrecht: Centuria thematum: Ex singulis primi pandectarum libri titulis desumpta, resp. Stati Haltern. Straßburg: Carolus Kieffer 1587. Georg Obrecht: Disputatio de iurisdictionis et Imperii principiis […], resp. Johannes Remboldus Funckius. Straßburg: Antonius Bertramus 1589. Obrecht: Disputatio de iurisdictionis (wie Anm. 65), nr. 210: „merum imperium (quod Zonaras in Basilio Prophyrogeneto ἄκρατον ἐξουσίαν appellat.)“ – „pure, reine, unvermischte Herrschaftsgewalt“. Der Begriff ist bei Johannes Zonaras: Epitome historiarum libri xviii, vol. 3, ed. T. BüttnerWobst. Bonn 1897, 17. Buch, S. 1–768, 542 Zeile 6 (12. Jh.), zu finden, auch schon 741 (Ludwig Burgmann: Ecloga Basilicorum. Frankfurt a. M. 1988, Buch VII, tit. 3, Abschn. 3–4, Zeile 8 und Zeile 12), in: Georg Obrecht: Tractatus de iurisdictione, imperio, et foro competente […], hrsg.von Johann Georg Obrecht. Straßburg: Christophorus ab Heyden 1617, II, 1, nr. 32, S. 102 wieder aufgenommen. Die zum Teil nicht einfach bis auf die Edition genau zurückzuverfolgende Quellenbenutzung Obrechts für die frühen Editionen byzantinischer Texte zeigt, welch große Aufmerksamkeit der Autor beim Exzerpieren gerade diesen terminologischen Schlüsselbegriffen widmete, um so den mittelalterlich-lateinischen Begriffsapparat aufzubrechen, zu pluralisieren und (im historischen Verständnis des Byzantinischen der Zeit) zu antikisieren.
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imperium-Rechtsbegriff überblendet worden war:⁶⁷ Die Magistrate, denen die Ebene des merum imperium zugestanden wurde – im Wesentlichen immediate Reichsstände – waren teilsouverän insbesondere hinsichtlich des Reformationsrechts. Dies bleibt bei Obrecht allerdings im blinden Fleck der insoweit rein römischrechtlichen Erörterung, – nur ist der Aufmerksamkeitsfokus auf diese Unterscheidung an sich aus dem römischen Recht selbst kaum ableitbar, sie hätte für das Zivilrecht und die Lehre von Studenten als Codex-Professor an sich keine große Bedeutung. Hingegen ist die sehr genaue, an der respublica romana spiegelnd erörterte Differenzierung der imperium-Zuordnung mit Blick auf die eben genannte eher mittelalterliche und biblisch-rechtliche⁶⁸ Anwendung der merum-imperiumLehre auf die Reichsstände im Rahmen und unter dem Kaiser seit den 1530er Jahren dann sehr wohl ein anwendungsbezogenes Wissen. In den zivilrechtlichen Disputationen fällt auf, dass Obrecht weniger sehr allgemeine Themen wie Obligationen-, Kauf-, Leih- und Schuldrecht in ihrer römischrechtlichen Form in den Vordergrund rückte, sondern solche Themen, in denen sich Zivilrecht mit dem vermischte, was wir heute ,Verwaltungsrecht‘ nennen würden: So eben das mehrfach behandelte Pfandrecht, bei dem auch die Frage im Raum steht, wie die Pfandverwahrung beglaubigt und vom Magistrat beaufsichtigt wird; das Vormundschafts- und Mündelrecht, in dem die Bestellung und Kontrolle der Vormünder durch den Magistrat wichtig ist, das Recht der Mitgift sowie das Erbund Testamentsrecht, in dem es immer wieder um Elemente geht, die in der frühneuzeitlichen Verwaltungspraxis typischer Weise von öffentlich bestellten Notaren oder auf der Seite des Magistrats von Mitgliedern der Stadtverwaltung zu beachten waren. Nördlich der Alpen dürfte die sehr genaue Rechtserörterung zur Abfassung von Nachlassinventaren unter Rezeption der aktuellen italienischen praktischen Rechtslehre eine Besonderheit sein, die in der Disputatio de institutione heredum (1594) enthalten ist: es gehörte aber zur Verwaltungspraxis gerade von Notaren, solche Mitgift- und Nachlassinventare zu erstellen und zu beglaubigen, so
Die akademischen Lehrer um 1590 stellten sich durchaus in eine bewusste Kontinuitätslinie mit jener ersten Gründergeneration des Protestantismus in Straßburg wie Bucer, Hedio, Capito, Fagius, auch der Exulanten Sapido, Bedrotto, wie aus den Manes Sturmiani deutlich wird, zu denen Obrecht beitrug, in der der vita des lange prägenden Präzeptors der Hohen Schule Johann Sturm (1507–1589) gedacht wurde, der „de consilio summi D. Martini Buceri“ aus Paris nach Straßburg zurückgekehrt war (Manes Sturmiani, sive Epicedia scripta in obitum summi viri D. Ioan. Sturmii. Straßburg: s.n. 1590, S. 50). In der protestantischen Diskussion des merum imperium als Scheidungskriterium für den, der das ius reformationis hat, wurde hier nicht auf Halicarnass oder byzantinische Rechtslehrer zurückgegriffen, sondern der biblische Begriff der ἐξουσία aus Rm 13, 1 war der Schlüsselbegriff zur Verschränkung des öffentlich-rechtlichen Begriffs mit der Paulinischen Konzeption von Herrschaftsgewalt.
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dass hier ein direkter Praxisausbildungsbezug im Hintergrund steht.⁶⁹ Weiter erörtert er die Eigentumsbegründung, die Emphyteuse als para-feudalrechtliches Institut, das aber eben nicht dem Adligen- und Belehnungsrecht vorbehalten war, also gerade auch für Bürgerliche für Investition in Landbesitz offenstand, was der Praxis im deutschen Südwesten im Umfeld der vielen urbanen Zentren entsprach, wo arrivierte Bürger-Kaufleute sehr wohl recht großen Landbesitz erwerben konnten. Fideikommiss-, Schenk- und Legatrecht, das Recht der (Handels)-gesellschaften und die Behandlung der juristischen Berufe (wie z.B. des Prokurators, des Richters) sind weitere Hauptthemen der Disputationen. Am Ende des 16. Jahrhundert stehen etliche feudalrechtliche Disputationen, die wiederum auf das ebenso bedeutsame Problem verweisen, wenn Juristen den Rittern der ober- und niederelsässischen Ritterschaft sowie der weiteren anliegenden Reichsritterkantone oder anderen kirchlichen und säkularen Ständen im kleinstparzellierten Umfeld des deutschen Südwestens Rechtsbeistand zu leisten hatten. Ganz offensichtlich zielte Obrecht nicht nur auf den klassischen Beruf des Anwalts, Richters, oder eines consiliarius, auch nicht nur auf das gerade entstehende Öffentliche Recht im Sinne der obersten Ebene von Reichs- und Territorialregierungen, sondern auch auf jene juristischen Mittlerberufe im Magistrat, im Notariatswesen und in den Bereichen lokaler Verwaltung als Amtmann, Schaffner, Kloster- oder Gutsbesitzverwalter in den Dörfern und Kleinstädten, in denen diese juristische Begleitung und Verwaltung von familienrechts- und landbesitz- bzw. -eigentumsbezogenen Zivilrechtsproblemen eine der Haupttätigkeiten war. In der Tat hatte dies den ,Sitz im Leben‘ auch darin, dass Obrecht hier auf Situationen und Berufe (Notariat) vorbereitete, die gerade in Straßburg im Zusammenspiel zwischen Universität und außerakademischer Rechtsordnung bestellt wurden. Straßburg gehörte nicht zu den Universitäten, an denen – wie etwa Rostock schon 1582 – der juristischen Fakultät das institutionelle Hofpfalzgrafenrecht (Palatinat) verliehen war, sondern wer Notar werden wollte, musste von einem kaiserlich persönlich privilegierten Hofpfalzgrafen mit kleinem (auf Lebenszeit) oder
Abschnitt De iure et confectione Inuentarij in Georg Obrecht: Disputatio de institutione heredum, resp. Johannes Philipp a Selmnitz. Straßburg: Antonius Bertramus 1594, nr. 515–623; Aufmerksamkeit hierfür schon mit Definition von ,Inventarʻ in Obrecht: Disputatio de patrocinio pupillorum, nr. 397, und in [Georg Obrecht?]: De haeredum qualitatibus & differentijs: Ubi de iure deliberandi, Confectione inventarij; Et additione haereditatis, resp. Joh Theob Schmidt = Disp. 22 in Backer: Disputationum (wie Anm. 30). Neben Baldus und Bartolus wird hier vor allem Sebastiano Montecchio: Tractatus de inventario haeredis in quo pleraque sparsim ab alijs tradita, in unum breviter collecta. Venedig: Francesco Ziletto 1571 (CNCE 40000, Nachdrucke Venedig und Padua 1574, 1576, sowie Frankfurt a. M. 1573) rezipiert.
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großem (adlig-erblichem) Palatinat ernannt werden.⁷⁰ Erst 1609 erhielt Obrecht, seit 1604 vom Kaiser nobilitiert, ein solches kleines Palatinat ad personam zugleich mit seinem Sohn Johann Thomas.⁷¹ 4/5 der persönlich verliehenen kleinen Palatinatsrechte gingen an Juristen, unter Rudolf II. waren es schätzungsweise 200 Hofpfalzgrafenernennungen. Insofern gehörten die Obrechts hier zu der ausgewählten Schicht. Es war auch eine Form, wie der Kaiser einen gewissen Klientelismus durch Ausübung seiner Reservatrechte jenseits der territorialen Herrschaften betrieb. Obrechts Palatinat umfasste⁷² die Berechtigung 1) öffentlich-rechtliche Notare zu kreieren,⁷³ 2) uneheliche Kinder zu legitimieren, 3) Tutoren und Vormünder zu bestellen,⁷⁴ 4) Wappen zu verleihen,⁷⁵ 5) die Grade der Doctoren, Lizentiaten, und
Jürgen Arndt: Das Notarernennungsrecht der kaiserlichen Hofpfalzgrafen, in: Peter-Johannes Schuler (Hrsg.), Tradition und Gegenwart. Festschrift zum 175jährigen Bestehen eines badischen Notarstands. Karlsruhe 1982, S. 110–123, 112, 122 Anm. 15; ders.: Zur Entwicklung des kaiserlichen Hofpfalzgrafenamtes von 1355–1806, in: Herold.Verein für Heraldik (Hrsg.), Hofpfalzgrafen-Register, 3 Bde. Neustadt a. d.Aisch 1964–1988, Bd. 1, S. V–XXIV; ders.: Die Entwicklung der Wappenbriefe von 1350 bis 1806 unter besonderer Berücksichtigung der Palatinatswappenbriefe, ebd., Bd. 2, S. V– XXXVII: Das notwendiger Weise unvollständige Hofpfalzgrafenregister zeigt, wie die detaillierte Erforschung der Tätigkeit eines einzelnen Hofpfalzgrafen vom Überlieferungsglück entsprechender Nachlässe und Handakten abhängt (etwa von Sigmund von Birken oder Zacharias Geizkofler), während die überproportional stark vertretenen Institutionen (Universitäten, Fürstenarchive), die historisch wohl den viel kleineren Teil der pfalzgräflichen Rechteausübung darstellten angesichts von etwa 2500 zwischen 1346 und 1806 ausgestellten Palatinatsprivilegien, nur die größere Überlieferungswahrscheinlichkeit dieser Institutionen und Dynastiebestände widerspiegeln. Für Obrecht ist außer der Urkunde kein Nachlass mit Informationen über seine oder seines Sohns Tätigkeit überliefert. Weitere Hinweise bei Mathias Schmoeckel/Werner Schubert (Hrsg.): Handbuch zur Geschichte des deutschen Notariats seit der Reichsnotariatsordnung von 1512. Baden-Baden 2012. AS III 54–3 (undat.) Ein Archivar des 19. Jahrhunderts hat den Akt falsch „Nomination de George Obrecht aux fonctions de notaire“ betitelt, es handelt sich vielmehr um die Palatinatsberechtigung selbst Notare zu ernennen. Arndt: Zur Entwicklung (wie Anm. 70), S. XVIf. Die Urkunde ist insoweit mit wenigen Spezifika typisch für das Palatinat, vgl. das noch 1778 ganz ähnliche Beispiel bei Erwin Schmidt: Die Hofpfalzgrafenwürde an der hessen-darmstädischen Universität Marburg/Gießen. Giessen 1973, S. 8 f. (hier allerdings großes Palatinat). Wie Anm. 70. Diese Funktionen hatten die Hofpfalzgrafen klassischer Weise auch im Mittelalter, Ludwig Schmugge (Hrsg.): Illegitimität im Spätmittelalter. München 1994, S. 75, 242; Ludwig Schmugge/Hans Braun: Dispense und Legitimierungen durch Pönitentiarie für Illegitime alemannischer Städte (ca. 1450–1550). Fallstudien aus den Diözesen Basel und Konstanz, in: Knut Schulz (Hrsg.), Handwerk in Europa.Vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit. München 1999, S. 31–49, hier: S. 37–40; Christof Paulus: Das Pfalzgrafenamt in Bayern im Frühen und Hohen Mittelalter. München 2007. Das Wappenverleihungsrecht war grundsätzlich Teil der hofpfalzgräflichen Privilegien, gerade bei Studierten und Promovierten Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts bestand ein Interesse an Wappenvergabe, bevor es Ende des 17. und im 18. Jahrhundert einfacher wurde, überhaupt ge-
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Baccalaureate in beiden Rechten und der Medizin,⁷⁶ Magister und Baccalaureate in den artes liberales zu verleihen und poetae laureati zu kreieren.⁷⁷ Die Urkunde enthält eine Passage zur weitgehenden Immunität bei sich aus der Rechtsausübung des Privilegs ergebenden Rechtsstreitigkeiten vor dem Rottweiler Hofgericht wie dem Westfälischen Tribunal (gemeint sind wohl die Westfälischen Freigerichte des Hofgerichts Karls IV.) oder jedwedem anderen Gericht im Heiligen Römischen Reich sowie einen Passus zu weitgehendem freien Geleit, Ansiedlungsrecht und vollen Schutz auch der Mobilia und Immobilia für sich und seine Erben im Reich.⁷⁸ Das entsprechend in der kaiserlichen Kanzlei in Prag ausgestellte Berechtigungsprivileg vom 19. November 1609 ist abschriftlich überliefert, ist aber ad personas verliehen, also nicht an die Bestallung als Professor in der Hohen Schule geknüpft: Obrecht hatte nun als akademischer Lehrer selbst außeruniversitär eine gewisse ,Machtʻ,
adelt zu werden, vgl. für ein Beispiel aus exakt dem gleichen räumlichen Kontext des nur wenige Monate nach Obrecht in Basel promovierten Straßburger Johann Fischart: Ulrich Seelbach/Ariane Mensger: Das Wappen des Juristen und Dichters Johann Fischart. Zu einem Neufund in Karlsruhe, in: Daphnis 41 (2012), S. 111–130. Nicht zugänglich war mir Eberhard Dobler: Das Kaiserliche Hofpfalzgrafenamt und der Briefadel im alten Deutschen Reich vor 1806. Diss. Jur. [masch.], Freiburg i.Br. 1950. Hier handelt es sich sicher um einen Rückstand der Urkundenformel aus der älteren Zeit des 14. Jhs. Gemeint ist, dass das kaiserliche Reservat- und Regalrecht, die Doktorwürde in den profanen Disziplinen zu verleihen, weiterdelegiert wurde, Obrecht hat sicher nicht in Medizin promoviert; vor dem Hofpfalzgrafenamt hatte er natürlich längst viele Schüler promoviert über das seinerseits kaiserlich verliehene Promotionsrecht der Hohen Schule. Auch die Dichterkrönung gehörte wie das Promotionsrecht grundsätzlich zu den kaiserlichen Regalien, das per Privileg weiterverliehen werden konnte. Es war der Sache nach auch eine Graduierung, allerdings in einem ,Fachʻ (Dichtung), das als solche nicht an der Universität mit Studium und Prüfung institutionalisiert war. Neben Inszenierungen echt kaiserlicher Dichterkrönungen wurde dies also auf Hofpfalzgrafen für Nachfrage im weiteren Umfeld von Hof und Universität übertragen, vgl. John L. Flood: ,Viridibus lauri ramis et foliis decoratusʻ Zur Geschichte der kaiserlichen Dichterkrönungen, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich. Köln/Weimar/Wien 2003 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 46), S. 353–377, hier 366– 370 (für vier Hofpfalzgrafen ist eine häufige Betätigung des Dichterkrönungsprivilegs bekannt: Sigmund von Birken, Johann Rist, Heinrich Pantaleon und Paulus Schede Melissus); Dieter Mertens: Die Dichterkrönung des Konrad Celtis. Ritual und Programm, in: Franz Fuchs (Hrsg.), Konrad Celtis und Nürnberg. Wiesbaden 2004 (Pirckheimer Jahrbuch, Bd. 19), S. 31–50, hier S. 40 f.; John L. Flood: Poets laureate in the Holy Roman Empire: a bio-bibliographical Handbook. 5 Bde. Berlin 2006–2019. Trotz der Bedeutung, die das Rottweiler Gericht für die Region in Obrechts Zeit noch hatte, dürfte es sich auch hier um einen Rückstand der Urkundenformel der Prager Reichskanzlei aus der Zeit Karls IV. handeln, denn sonst würde man erwarten, dass zuerst Reichskammergericht und Reichshofrat als Gerichte genannt worden wären. In der Tat wurden in die Urkundenvorschrift die Namen der Obrechts an entsprechenden Stellen nur eingefügt.
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nicht nur zu graduieren, sondern auch Studierende in Berufe bzw. geldeinträgliche Funktionen zu bringen. Die Privilegierung der Obrechts ist in der einschlägigen juristischen Spezialliteratur des 17. Jahrhunderts zu den comites palatini aulici sogar neben wenigen anderen Privilegierten wie Nicolaus Reusner (1545–1602) erwähnt und erinnert.⁷⁹ Viele Bereiche der oben charakterisierten thematischen Spezialisierung der Disputationen und also der gerade bei der Graduierung im Vordergrund stehenden juristischen Themengebiete nehmen genau diese Tätigkeitsbereiche voraus, für die ein Hofpfalzgraf in der dezentralen Rechtsorganisation des Reiches privilegiert war, Prüfungen abzunehmen, die Berechtigungen zu verleihen und Ernennungen vorzunehmen. Das Hofpfalzgrafenprivileg wirkt so wie eine abschließende Bestätigung der schon lange von Obrecht in Straßburg betriebenen besonders engen Verzahnung der Rechts- und Verwaltungspraxis, und solange er noch an der Fakultät lehrte, ersetzte sein persönliches Palatinat quasi ein solches der Fakultät, das andere Universitäten nach Rostock erst ab den 1630ern verliehen erhielten.
„Talia exempla [sc. Für Vergabe des Hofpfalzgrafenrechts simpliciter intuitu virtutis & eruditionis] habemus nostro seculo in Nicolao Reusnero, Schröteris, Johanne Patre, Phil. Jacobo & Joh. Friderico filijs, Obrechtis, Elia Förstero, Paulo Melisso, Hantschmanno, Adamo Windorffero Theologo, & c. pauculis, causas istius conceßionis mox attingam.“ (Ortolph Fomann [präs.]/Thomas Sagittarius [prop./def.]: Disputatio inauguralis de jure et privilegiis comitum Palatinorum caesareorum […]. Jena: Johannes Weidner 1619, f. D3v); „Johanni Georgio Godelmanno, Georgio Obrechto, Davidi Döringio, aliis, quorum privilegia in omnium manibus, & desuper videnda.“ (Georg Mund von Rodach: De comitibus palatinis Caesareis eorumque origine, privilegiis, juribus, officio &c. tractatus. Nürnberg: Jeremias Dümler 1646, Nr. 51, p. 53).
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Abb. 1: Kopie des Kleinen Pfalzgrafendiploms für Georg und Sohn Johann Thomas Obrecht von 1609, Archives de la Ville et de l’Eurométropole de Strasbourg, III 54–3 (Abschrift ohne Originalausfertigung).
4 Der Traktat De iurisdictione, imperio, et foro competente Der große Traktat De iurisdictione, imperio, et foro competente, der, wie auch seine frühkameralistischen Schriften (die Secreta), 1617 aus dem Nachlass vom Sohn Johann Thomas Obrecht herausgegeben wurden, weist eine spezifische Charakteristik auf: er ist primär und ganz maßgeblich römischrechtlich geprägt und beschreibt die gestuften Rechte von merum und mixtum imperium, der Gerichtsbarkeiten und teilweise auch des Verwaltungsrechtsgangs in den termini und unter Rückgriff zuallererst auf Codex, Novellen und Digesten. Auch die prozessrechtlichen Ausführungen sind zuvorderst auf dieser Grundlage entwickelt. Die Gesamtkonzeption der behandelten Materie findet sich in einem kleinen dilemmatischen Schema etwas versteckt im achten Kapitel des ersten Buchs:⁸⁰ Die Ausübung von Herrschaftsgewalt (potestas) erfolgt in den Formen einerseits von Regierungsgewalt (imperium)
Obrecht: Tractatus de iurisdictione (wie Anm. 66), S. 78.
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andererseits in der Form der Rechtserkenntnis, die verwaltungsförmig durch den Magistrat oder gerichtsförmig (iurisdictio) ausgeformt ist.
Abb. 2: Struktureller Aufbau von Georg Obrechts De iurisdictione, imperio, et foro competente (aus dem Nachlass gedruckt, 1617).
Die Ausführungen zum merum und mixtum imperium greifen die oben schon erwähnten Unterscheidungen und Vorarbeiten aus den Disputationen der 1580er Jahre auf und systematisieren sie. Anders als dort werden im Traktat nun auch klare Zuordnungen und Aussagen der Anwendung der römischrechtlich-öffentlichrechtlichen Unterscheidungen und Definitionen auf die gegenwärtigen Verfassungsbedingungen vorgenommen: Die Übertragung der vollständigen Gerichtsherrschaft erfolge „hodie“ durch die Wahl der Kurfürsten auf den Kaiser (II, 2, 8, S. 112); Elemente der reichsstädtischen Unabhängigkeitsverteidigung finden sich, etwa die Betonung, dass eigenständiger Sitz und Stimme der Städte im Reichstag, also die eigene Städtekurie, seit der Goldenen Bulle von 1356 garantiert sei (II, 7, 46– 52, S. 153 f.). Dass alle Kurfürsten, Reichsfürsten und auch die Reichsstädte die höchste, d. h., die Strafgerichtsbarkeit haben, wird als „sine dubio“ festgestellt (III, 7, 67–71, S. 156). Beispiele, dass der Magistrat der Stadt Hagenau einem Straßburger Bürger außerhalb seines Territoriums keine Gebührenzahlung auferlegen könne, da er außerhalb desselben nur wie eine Privatperson anzusehen sei, bringen zwar einen aktualisierenden Zug in die Erläuterung des allgemeinen Satzes, dass die Jurisdiktionsgewalt eines Magistrats sich nur auf das eigene Territorium beziehe (III, 9, 58, S. 173), im Übrigen sind solche Beispiele aber fast spärlicher und prägen nicht das Gesamtbild des Traktats im Vergleich zu den zivilrechtlichen Disputationen mit ihrem Duktus zu Anwendungsbeispielen. Das Kapitel II, 7 enthält eine etwas systematischere Darstellung – deutlich eingeleitet mit „nostris autem moribus“ und abgehoben von dem sonst eher römischrechtlichen Hauptteil – der Grundzüge der Reichsverfassung mit Kaiser, Kurfürsten, Reichstag, Reichsstandschaft und Matrikel unter Rückgriff etwa auf Andreas Gayl (1526–1587). Ein eigenes Kapitel ist der Ju-
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risdiktionsgewalt gewidmet (III, 17).⁸¹ Reichskammergericht und Reichshofrat werden aber eher weniger genau behandelt: der Gang zum Reichskammergericht im Instanzenzug wird in III, 19 vor allem von der Frage der Ordnung des Reichs in drei (Kurien‐)stände, Kurfürsten, Fürsten und Städte her angegangen, in Übertragung der Behandlung, wie im römischen Staatsrecht eine Stratifizierung der Bürger vorgenommen und entsprechend der Gerichtszugang als solcher beschränkt war. Reichskammergerichtsordnung, Reichstagsabschiede und auch die Reichshandwerkerordnung werden hier und da zitiert, aber im Vergleich zu dem eher systematisch-römischstaatsrechtlichen oder vielleicht besser: abstrahiert staatsrechtlichen Duktus unter Verwendung der römischrechtlichen Diktion sind diese, meist mit „hodie/im heutigen Gebrauch“ durchaus abgrenzend eingeleiteten Abschnitte und Beispiele im Vergleich etwa zu Andreas Gayls Werk untergeordnet. Bei anderen Elementen sieht man auch, wie der Traktat nur Themen andeutet – etwa wenn die Aufgabe und Funktion der Censoren im römischen Staatsrecht einfach nur auf dieses bezogen erläutert wird (III, 5, 11–13, S. 253) –, die von Obrecht in anderen Zusammenhängen (in den frühkameralistischen Traktaten) in durchaus origineller und von Bodin unabhängiger Weise neuzeitlich-politiktheoretisch aktualisiert werden. Obrecht schrieb, trotz Praxisbezug, als Römischrechtler. Die Beispiele und kleinen Gegenwartsanwendungselemente sind fast gänzlich auf das Reich beschränkt: wenn man es neben die italienischen Traktate des 16. Jahrhundert zur Verfassungsbeschreibung gegenwärtiger Territorien oder neben Bodins komparatistische Aggregation solcher Aussagen aus vielen Beispielsbereichen und dann neben die späteren politica-Texte legt, die allermeist etliche europäische Staaten und Verfassungen verglichen, ist hier Obrechts Beitrag zu einem Ius publicum eigentlich noch sehr gering, sei es mit Bezug auf das Reich, sei es im Sinne einer neuzeitlich-abstrahierend konstruierenden Politik-Lehre wie bei Bodin oder Althusius, oder, ganz anders, bei den Tacitisten und Staatsräsonautoren.⁸²
Literatur zum Rottweiler kaiserlichen Hofgericht bei Govind P. Sreenivasan: Speaking Nothing to Power in Early Modern Germany: Making Sense of Peasant Silence in the Ius Commune, in: Cornel Zwierlein (Hrsg.), The Dark Side of Knowledge. Histories of Ignorance 1400–1800. Leiden/Boston 2016, S. 88–113. Es ist bezeichnend für den doch stark lokalen Horizont Obrechts, gemischt mit der ,Weiteʻ und Avanciertheit der französisch-geschulten römisch-rechtlichen Jurisprudenz, dass eine Priorität für Beispiele und solche Bezüge gerade aus dem direkten Umfeld von Straßburg, dem Elsaß und dem Oberrhein vorherrscht. Ausnahme etwa Obrecht: Tractatus de iurisdictione (wie Anm. 66), III, 50–51, S. 172, wo das Verhältnis des Königs von Frankreich und Spanien oder auch von Königen zu rangniedrigeren Fürsten erörtert wird, wenn diese, etwa für Verträge oder als Vasallen für einen Teilherrschaftsbereich diesem niedrigeren Fürsten partiell und gegenstandsbezogen untergeordnet sind, dass sie dann eben auch der Gerichtsbarkeit des niedrigeren Herrn unterfallen.
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Dies betrifft allerdings dieses postum herausgegebene Hauptwerk, bei dem nicht genau einzuschätzen ist, wieviel Kompilations- und Reorganisationsarbeit auf den Sohn zurückgeht. Das oben erwähnte Exercitium iuris antiqui, das als Separatdruck 1600 erschienen war, ist zum Beispiel recht unvermittelt in III, 23, S. 387– 399, die Paratexte Obrechts, in denen er sich an den damals noch amtierenden Johann Georg von Brandenburg (1577–1624) als Stiftsadministrator wandte, einbeziehend, in den Text eingelassen. Im Vergleich hierzu sind die zwar insgesamt knappen, aber doch sehr präzisen und praxisbezogenen Ausführungen zur Prozessführung, insbesondere zur Formulierung des Klaglibells, der Streitgegenstandvorbringung, Zeugen-, Urkundenund Rechtsvermutungs-Beweis, Fallbeschluss, Urteil und Appellation unter Rückgriff auf die Reichskammergerichtsordnung in der Fassung von 1570, auf Gayl und Mynsinger von Frundseck (1514–1588) in Berchtolds Traktat De iudiciis von 1586 sehr viel gegenwartsbezogener: Berchtold, der während seines Straßburger Studiums im Hause Obrechts wohnte und diesen Traktat als Promotionsschrift in Basel unter Rückgriff auf Obrechts Manuskript verfasste, muss wohl als Autor angesehen werden, auch wenn er die Nähe zur Obrechtschen Vorlage und seine Schülerschaft sehr stark betont, so dass er selbst eine Art Mitautorschaft insinuiert.⁸³ Diese Nähe ist wohl sicher richtig, da auch in einer Straßburger Disputation unter Obrechts Vorsitz zur Klaglibellerstellung und Prozessführung auf das Manuskript zurückgegriffen wird, hier stärker in Verschränkung mit den römischrechtlichen Prozessvorschriften, aber doch immer wieder dezidiert auf das Reichskammergericht bezogen.⁸⁴ 1594 verteidigte Melchior Junius junior (1572–1613) eine Disputation, die wieder schon im Titel angab „ex Obrechtianis scholiis libri primi de Iudicijs“ zu schöpfen, Text und Duktus sind aber keineswegs eins zu eins im später 1617 herausgegebenen Traktat De jurisdictione zu finden: So ist im 1594er-Text ein Abschnitt zu „De iudicio camerae“, mit kleinen historischen Hinweisen auf den Speyerer Sitz des Gerichts, dass dieses 1555 kurz nach Esslingen wegen der Pest ausweichen musste, enthalten, der so im späteren postumen Traktat nicht zu finden ist (stattdessen kontraintuitiv jenes eigene Kapitel zum Rottweiler Gericht).⁸⁵ Ohne urteilen zu wollen, dass er vollkommen von den häufig zitierten Gayl und Mynsinger abhängig sei, kann man wohl vom Umfang dieser Elemente her doch Obrecht im
Stephanus Berchtold: Tractatus de iudiciis et processu iudiciario: tam iuris antiqui, quam novi Iustinianei, & novißimi, seu usu hodie in Imperiali Camera recepti. Straßburg: Antonius Bertramus 1586. Obrecht: Disputatio de forma actionis et libelli (wie Anm. 42). [Georg Obrecht:] Disputatio prima, ex Obrechtianis scholiis libri primi de Iudicijs, tam ex veteri, quam nouo, moribus & Imperij ordinationibus recepto & approbato Iure desumpta, resp. Melchior Iunius. Straßburg: Antonius Bertramus 1594, nr. 52–76 und 173–219.
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Hinblick auf die oberste Gerichtsbarkeit und die Reichsinstitutionen nur zusprechen, dass er die aktuelle Spezialliteratur zum Reichskammergericht und die Reichsgesetze in die akademische Lehre einbrachte und römischrechtlich-systematisch durchwirkte, man kann ihn nicht selbst – wie Gayl und Mynsinger – als Pionier der empirischen Beschreibung des Reichskammergerichtsprozesses begreifen.
5 Der Traktat über das Kriegsrecht (De Bello) Anders als meist zu Obrecht hinsichtlich seiner juristisch-akademischen Lehre zu lesen, scheint mir daher sein auch schon zu Lebzeiten selbst in den Druck beförderter Kriegsrechtstraktat (in zwei Teilen 1590/92) fast bedeutsamer und eigenständiger als diese frühe Ius-publicum-Vorlesung mit der Jurisdiktions-Erörterung, bei welcher wir den genauen Charakter eher nur zweiter Hand und aus einigen Disputationen für die Frühzeit erschließen können. Die Prima Pars de Principiis belli & eius constitutione ex integro tractatu de bello excerpta ist zwar im Disputationsstil mit dem polnischen Respondenten Stanisław Ostrorog (fl. 1589/1590, Sohn des Wacław [1545–1574]) publiziert, sie geht aber auf einen handschriftlichen Traktat De bello zurück, den Obrecht seiner Aussage nach auf Anregung von Stanisław verfasst hatte. Vom Umfang her dürften die publizierten Teile doch nah an das Gesamtmanuskript herankommen. Die Widmungsperson ist typisch: gerade in den 1580ern bis zum Dreißigjährigen Krieg studierten besonders viele protestantische polnische, ungarische und böhmische Adlige an den südwestdeutschen Universitäten mit reformierten oder konfessionell offenem Hintergrund wie zuerst in Heidelberg, dann in Basel und in Straßburg, und sie interessierten sich besonders stark gerade für die adelsaffinen und regierungsbezogenen Themen der Rezeption sowohl kriegstheoretischer wie italienisch-humanistischer Politiktheorie in akademischer lateinischer Transformation.⁸⁶ Seit Johannes Łaski (a Lasco) (1499–1560) war die Verbindung des polnischen Protestantismus insbesondere mit den Reformierten von Emden über Straßburg und Basel bis in die Pfalz stark.Von der Familie der Ostrorog hatten mindestens fünf in Strasbourg 1580/81 und nun um 1590 stu-
Cornel Zwierlein/Vincenzo Lavenia: Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Fruits of Migration. Heterodox Italian Migrants and Central European Culture 1550–1620. Leiden/Boston 2018, S. 1–26, 12 n. 40 mit weiterer Literatur und Cornel Zwierlein: Machiavellismus und italienisch-deutscher Kulturtransfer im 16./17. Jahrhundert, in: Cornel Zwierlein/Annette Meyer (Hrsg.), Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit. München 2010, S. 23–59, 51–56.
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diert, Stanisław war dort mit seinen Brüdern Sezdziwoj und Johann-Jakob.⁸⁷ Das potenzielle Anwendungsziel, dass ein Adliger zu Felde ziehen mochte, ist von Obrecht in der Dedikationsepistel angeschrieben, und er betont – in der Tradition der militärtheoretischen Traktatistik –, dass ein „doctus et methodicus miles“ eben anders als ein unausgebildeter Krieger aus der komparatistischen Analyse und Erlernung von Kriegssituationen in seiner eigenen Gegenwart dann die richtigen Schlüsse und Strategien wählen könne.⁸⁸ Obgleich er hier auch auf die Lektüre von älteren Autoren verweist, ist die Verwendung von in der Frühneuzeitforschung inzwischen gut bibliographisch und inhaltlich erschlossener Traktatliteratur – meist italienisch oder französisch vernakularsprachlich – nicht ersichtlich:⁸⁹ Vegetius (Ende 4. Jh. n.Chr.) wird genannt,⁹⁰ aber schon Aelian Tacticus (fl. Anf. 2. Jh. n.Chr.), der in der Renaissance für die geometrisierende Truppenkörperformungslehre wichtiger war, nicht. Als einziger einschlägiger Einzeltraktat-Autor wird Giovanni de Legnano (1320–1383) mit seinem De bello, de presaliis et duello von 1360 zitiert.⁹¹ Eigentlich bietet Obrecht dann auch weniger einen Kriegstheorie-Traktat, oder ein lateinisches Pendant zu den Discours militaires, die kurz zuvor François de la Noue (1531–1591) nicht weit entfernt in Gefangenschaft verfasst hatte, oder wie die Kriegsbücher, an denen die Nassauer Grafen arbeiteten. Sondern es handelt sich um einen Traktat zur Kriegsursprungs- und Kriegsrechtslehre, in der die abschließenden Kapitel (IX bis XII) zur Werbung, Musterung, Ordnung, Vereidigung der Söldner eher der Praxis der Söldnerheere abgeschaut ist, wie man sie in diesen Jahren im
Stanisław Kot: Le rayonnement de Strasbourg: en Pologne à l′époque de l′humanisme, in: Revue des études slaves 27 (1951), S. 184–200, 197, 199. Obrecht: Prima Pars de Principiis belli (wie Anm. 14), f. 3r. John R. Hale: Artists and warfare in the Renaissance. New Haven 1990; Frédérique Verrier: Les armes de Minerve. L’humanisme militaire dans l’Italie du XVIe siècle. Paris 1997; Marcello Fantoni (Hrsg.): Il perfetto capitano. Ferrara 2001. Obrecht: Prima Pars de Principiis belli (wie Anm. 14), nr. 980. Giovanni de Legnano [John of Legnano]: Tractatus de bello, de represaliis et duello, ed. T. E. Holland. Oxford 1917. Auch Alberico Gentili: De iure belli libri III [1598]. Hanau: Guilelmus Antonius 1598, S. 3 betont, dass neben Bodin er außer Legnano kaum einen Traktat kenne, der über die Kriegsgrundlagen handeln würde („Nam quid dicam de his interpretibus iuris Iustinianici: quos huius iuris bellici imperitissimos ait merito Ioannes Bodinus? Equidem praeter Lignani paucula huius tractatus, & aliorum nonnulla alia sparsim, legi nihil“). Für eine Ausgabe mit kritischem Apparat vgl. die italienische Übersetzung Alberico Gentili: Il diritto di guerra (De iure belli libri III, 1598), introd. Diego Quaglioni, trad. Pietro Nencini, Apparato critico Giuliano Marchetto/Christian Zendri. Macerata 2008). Pierino Bellis heute meist als Zwischenstufe angesetzter Traktat war offenbar um 1590 in West- und Mitteleuropa eher schwach rezipiert. Pierino Belli: De re militari et bello tractatus, 2 Bde., ed. Arrigo Cavaglieri. Oxford 1936 (Nicht zugänglich war mir die aktuellere Ausgabe Pierino Belli: De re militari et bello tractatus 1563 – Trattato sulla miliza e sulla guerra, ed. Benedetto Conforti/Cosimo Cascione. Alba 2006).
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Elsässischen und an der Rheingrenze stets beobachten konnte. Straßburg war oft Quartier der Offiziere und Adligen (von den Rheingrafen in den 1550en und 1560ern über den oben erwähnten 1576er-Zug oder die Truppen-Sammlungen 1587 für Fabian von Dohna (1550–1621) und öfters), die seit 1562 in den französischen Religionskriegen und schon vorher für die verschiedenen Parteien deutsche und schweizerische Söldnertruppen warben und musterten.⁹² Einer der bekanntesten Manuskript-Kriegstheorietraktatschreiber Deutschlands, Lazarus von Schwendi (1522–1583),⁹³ war stets in Verbindung mit den elsässischen Ständen und Vorderösterreich für die Organisation der Landesrettung am Rhein mit ähnlichen Prinzipien, wenn gleich nicht auf Söldner-, sondern Untertanen-Aufma(h/n)nung beruhend, tätig, so dass diese eher praxisbezogenen, wenngleich auf Latein verfassten Abschnitte wohl wirklich auf Anschauung und Erfahrung beruhten. Dem vorgestellt ist eine Ursprungs- und Prinzipienlehre des Kriegsrechts, die grob dem augustinisch-thomistischen Muster der Lehre vom Gerechten Krieg folgt. Allerdings ist sie abgewandelt auf den ,Magistrat‘ als berechtigten Kriegsherr, und hier ist als Unterfall des gerechten Kriegsführungsgrundes eine eigenständige Verarbeitung der calvinistischen Monarchomachen-Lehre eingefügt. Die Grunddefinitionen zum Krieg sind durchaus originell und kontraintuitiv: Kriege seien in diesem „depravato saeculo‟ nun einmal etwas sehr Häufiges und Alltägliches, und vom Ende her betrachtet seien Kriege in der Tat etwas Gutes („nam si belli finem contemplamur, omnino bellum est res bella & bona: quia pacem & tranquillitatem persequitur“).⁹⁴ Neben alttestamentarischen Exempeln, Augustinus, Covarruvias, der platonischen Unterscheidung in innere und äußere Kriege, der Unterscheidung zwischen Rebellionen und Kriegen und zwischen Verteidigungs- und (Rück)eroberungskriegen kehrt er hier zu den Naturrechtsprinzipien zurück, die er auch in den Themata
Tabellarische Übersicht in Zwierlein: Discorso und Lex Dei (wie Anm. 10), S. 671–672 mit weitgehend noch wenig überholten Literaturverweisen. Vgl. die Forschungen von David Potter bis in die frühen 1560er, im Überblick David Potter: Renaissance France at War: Armies, Culture and Society c. 1480–1560.Woodbridge 2008, auch die ältere Studie Arthur Haidenhein: die Unionspolitik Landgraf Philipps von Hessen 1557–1562. Halle 1890 (für die Truppen die Hessen schon zum ersten Religionskrieg nach Frankreich führte). Zum Kriegszug 1591/92 Friedrich Beiderbeck: Zwischen Religionskrieg, Reichskrise und europäischem Hegemoniekampf. Heinrich IV. von Frankreich und die protestantischen Reichsstände. Berlin 2005, S. 136–147. Ich verzichte auf umfassende bibliographische Verweise auf Söldner-, Landsknechtswesen und Aufma(h)nung im Allgemeinen. Eugen von Frauenholz: Lazarus von Schwendi. Der erste deutsche Verkünder der allgemeinen Wehrpflicht. Hamburg 1939 (in Ermangelung kritischer Editionen, trotz des zeitgeistbedingten Titels immer noch die nicht überholte Transkriptionszusammenstellung der Haupttexte). Obrecht: Prima Pars de Principiis belli (wie Anm. 14), nr. 29 („Definiri bellum potest actio, ad iniuriam depellendam, vel vindicandam a magistratu, vi armisque aduersus hostes, pacis retinenda, vel consequenda causa, legitime suscepta & administrata“).
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behandelt hatte: Der Krieg gehöre dem Bereich des Rechts an, weil er im vim vi repellere licet zwischen Völkern impliziert sei und also dem Völkerrecht zuzuordnen sei. Es sei aber ein – naturali ratione dictante – völkerrechtlicher Gegenstand und eine Betätigung des Völkerrechts – Hermogenian (Dig. 1, 1, 5) folgend⁹⁵ – und keine rein naturrechtliche, weil sonst auch Gewalt zwischen Tieren als ,Krieg‘ zu bezeichnen wäre.⁹⁶ Hier argumentiert Obrecht, dass solche Gewalt zwischen Tieren – wie geschmeidig, trainiert und versiert dies auch aussehe – nur isomorph aber nicht homolog mit Krieg im eigentlichen Sinne sei, da Tiere nur aus dem Instinktehaushalt und den natürlichen Reflexanlagen heraus agieren würden („ab habitudinis temperatura, partim a sensuum perfectione, partim a spiritus subtilitate, seu impetu ac instinctu naturae“),⁹⁷ während der Krieg zwischen Menschen durch ratio, prudentia, cogitatio gekennzeichnet sei. Diese Herleitung erfolgt puristischlogisch aus den Grundlagen-Fragmenten des römischen Rechts in Kombination mit der aristotelischen Lehre von causae und den habitus ohne weiteren erkennbaren Quellenbezug. Legnano etwa leitete den Krieg und seine Erlaubtheit daraus ab, dass die irdischen Kriege die himmlischen (bella spiritualia zwischen Engeln und Teufeln) spiegeln.⁹⁸ Bei Alberico Gentili (1552–1608), dessen De iure belli libri tres als avanciertester humanistisch-protestantischer gelehrt-lateinischer Traktat zum Thema als Vorbild hätte naheliegen können, fehlt eine Ursprungs- und Wesensbegründung des Krieges als Phänomen.⁹⁹ Krieg als etwas Gutes, Krieg als Völkerrechtsinstitut, Krieg als rationale Menschenhandlung bilden also den Auftakt des Traktats und so ist auch in den hinteren spezielleren Teilen Obrechts Haltung ganz antierasmianisch und antilutherisch: dass Petrus sein Schwert in die Scheide stecken solle, habe Christus nur mit Blick auf den Privatmann befohlen, dem Magistrat sei Kriegsführung sehr wohl erlaubt. Auch das generelle Verbot, dass geistliche Magistrate das Geschäft der Kriegsführung grundsätzlich den weltlichen Herren überlassen sollten, ist mit den Ausnahmen wohlversehen, die von der biblischen und antiken Geschichte her bekannt sind: „Wenn es Makkabäer sind, lassen wir [gerne] zu, dass sie bewaffnet die Feinde Obrecht: Prima Pars de Principiis belli (wie Anm. 14), nr. 61. Das ist auf Dig. 1,1,1,3 bezogen („Ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit“). Obrecht: Prima Pars de Principiis belli (wie Anm. 14), nr. 66. Legnano: Tractatus de bello, ed. Holland (wie Anm. 91), S. 78–81: Der von Obrecht entwickelte Unterschied zwischen Menschen und Tieren ist in Legnanos Definition „Bellum est contentio exorta propter aliquid dissonum appetitui humano propositum, ad dissonantiam excludendam tenens“ kurz schon angedeutet. Zum astrologischen Hintergrund Legnanos vgl. u. a. Laura Ackerman Smoller: A newly identified copy of a prognostication by John of Legnano, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 80 (2017), S. 221–230 (mit Hinweis auf den Kriegstraktat und die astrologischen Elemente in Anm. 7). Vgl. Anm. 73.
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Gottes bekämpfen“¹⁰⁰. Die folgenden Kapitel des Traktats (III De Magistratu, IV De iusta causa belli, V Iusta belli causa praesente quid faciendum, VI De legitima belli susceptione & primo de oratione ad Deum, VII De matura deliberatione) entfalten die drei thomistischen Grundelemente Auctoritas principis, iusta causa, recta intentio bellantium ¹⁰¹ und übertragen sie auf eine weniger personalisierte Herrschaftslehre, die der Begrifflichkeit von Bezas (1519–1605) De jure magistratuum und den Vindiciae contra tyrannos entspricht.¹⁰² Wieder entwickelt er dies aristotelisch insoweit als der Magistrat die Wirkursache im weiteren Sinne (remota efficiens belli causa, κύριον αἴτιον τοῦ πολέμου) sei. Nach der Abhandlung des geistlichen Magistrats als eher nur im Ausnahmefall kriegsführend unterscheidet er dann zwischen dem politicus magistratus superior und inferior, was die Unterscheidung aufnimmt, die von Calvin, Bucer, Vermigli bis zu Beza (1519–1605) den Grundstein der monarchomachischen Lehre von den niederen Magistraten bildete:¹⁰³ Im Heiligen Römischen Reich sei einzig der Kaiser magistratus superior, der sich selbst im Machtumfang genügend ist (sibi debet esse sufficiens).¹⁰⁴ Die niederen Magistrate seien zunächst
Obrecht: Prima Pars de Principiis belli (wie Anm. 14), nr. 107. Thomas Aquinas: Summa theologiae, IIa IIae, qu. 40, Art. 1. Die reiche Literatur zu den calvinistischen Monarchomachen kann hier nur angedeutet werden: Rudolf Treumann: Die Monarchomachen. Eine Darstellung der revolutionären Staatslehren des XVI. Jahrhunderts (1573–1599). Leipzig 1895; Georges Weill: Les théories sur le pouvoir royal en France pendant les guerres de religion. Paris 1892; Luigi Gambino: I politiques e l’idea di sovranità (1573–1593). Milano 1991; Stephan Junius Brutus (pseud.): Vindiciae, Contra Tyrannos, ed. George Garnett. Cambridge 1994; Theodor Beza: De iure magistratuum, ed. Klaus Sturm. Neukirchen/Vluyn 1965; Théodore de Bèze: Du droit des Magistrats, introd./ed. Robert Kingdon. Geneva 1970; Pierre Mesnard: L’essor de la philosophie politique au XVIe siècle. 3. Aufl., Paris 1969; Paul-Alexis Mellet (Ed.): ,Et de sa bouche sortait un glaiveʻ. Les monarchomaques au XVIe siècle. Geneva 2006; ders.: Les traités monarchomaques: confusion des temps, résistance armée et monarchie parfaite, 1560–1600. Geneva 2007; Saffo Testoni Binetti: Il pensiero politico ugonotto. Dallo studio della storia all’idea di contratto (1572–1579). Firenze 2002; Etienne Junius Brutus: Vindiciae contra tyrannos, trad. Française de 1581, in: A. Jouanna/J. Perrin/M. Soulié/A. Tournon/H.Weber (Eds.). Geneva 1979; Kathleen Parrow: Defense to Resistance: Justification of Violence during the French Wars of Religion, in: Transactions of the American Philosophical Society 83, 6 (1993) S. 1–79; Anne McLaren: Rethinking Republicanism: Vindiciae, contra tyrannos in Context, in: The Historical Journal 49, 1 (2006), S. 23–52, response by Geodrge Garnett ebd., 49, 3 (2006), S. 877–891. Zwierlein: Reformation als Rechtsreform (wie Anm. 51); ders.: Resisting the Thomist Temptation. A Good Political Order According to Calvin, in: Arnold Huijgen/Karin Maag (Hrsg.), Calvinus frater in Domino. Papers of the twelfth International Congress on Calvin Research. Göttingen 2020, S. 125–148, 134–140. Eine Formulierung, die dem Vollständigkeits- oder Perfektionskriterium entspricht, wie es in der Salamanca-Schule etwa von Vitoria für die Selbstgenügsamkeit der beiden Sphären der geistlichen und weltlichen Gewalt exakt so gebraucht wurde. Das Kriterium ist also ein aus dem Schutzauftrag abgeleitetes quantitatives Genügsamkeitskriterium, wenn eine Gewalt (eine Sphäre)
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nur in zwei Fällen zur autonomen Kriegsführung berechtigt, entweder wenn es sich um einen plötzlichen und ungerechtfertigten gewaltsamen Kriegsangriff handelt – dann sei ein Verteidigungskrieg im Sinne des vim vi repellere licet erlaubt; oder wenn der obere Magistrat seine Schutzpflicht nicht zu leisten vermag (er also eigentlich aus dem Status der Superiorität und Souveränität ausscheidet): wenn die Türken angreifen und der byzantinische Kaiser nicht gegenwehrfähig sei, wer wollte es den niederen Obrigkeiten in der Region verwehren, ihre direkten Untertanen zu schützen. Es folgt dann die Rezeption der Widerstandslehre im engeren Sinne als quasi dritter, aber verwandter Fall, wenn entweder ein Invasor das Land tyrannisch überzieht oder aber der obere Magistrat zum Tyrannen mutiert. Der erste Fall ist einfach: hier gilt das republikanische Widerstandsrecht mit der Waffe bis zum Tyrannenmord, da keine vorhergehende Bindung (Herrschaftsvertrag, Huldigungseid) zwischen Privatmann und Invasor besteht; Pompeius, Cato, Cicero hätten gerechter Weise die Waffenergreifung gegen den usurpierenden Caesar angeraten. Für den zweiten Fall sind die niederen Magistrate nach hinreichender Ermahnung bzw. Abmahnung an den oberen Magistrat berufen, das Volk zu den Waffen zu rufen. Als niedere Magistrate werden die „Electores, Palatini, Patricij“ – also von Kurfürsten und Pfalzgrafen bis zu den Stadtmagistratsmitgliedern alle genannt, die „uniuersum populum repraesentant“. Ebenfalls wird hier die Ephorenlehre rezipiert, die bei Calvin, Institutio IV, 20 vorgebildet und dann von den Monarchomachen bis Althusius immer ausführlicher entfaltet worden war:¹⁰⁵ Die Ephorenlehre diente zur an Sparta orientierten metonymischen Abstraktion jener ,Herrschaftsgewalt bremsenden‘ Gegenmacht im Sinne der Lehre von der Mischverfassung, die ihre Konkretisierung in verschiedensten Ämtern in der Verfassungsgeschichte haben konnte, im Tribunenamt (Brutus), im Stadtpräfektenamt (Lucretius) oder im „concilium publicum“ der Franken, mit dem die Absetzung etlicher merowingischer Könige von Childerich (reg. 457–482) bis Childerich III. (geb. ca. 720–737, reg. 743–751) erzwungen wurde. Diesen niederen Magistraten als Ephoren ist eben der Schutz der Respublica als gesamter mitanvertraut (concredita). Diese Vollrezeption der verschiedenen Typen und Stufen der Widerstandslehre in
mit ihren eigenen Mitteln die eigenen Funktionen und Aufgaben nicht mehr bewältigen kann, ist sie nicht mehr per se sufficiens. Eine solche Obrigkeit könnte dann nicht mehr den Status des magistratus superior reklamieren, was also in etwa mit dem Unabhängigkeitskriterium des Souveränitätsbegriffs zusammenpasst. Saffo Testoni Binetti: Ephori, in: Corrado Malandrino (Hrsg.), Il lessico della Politica di Johannes Althusius. Firenze 2005, S. 339–360; Robert von Friedeburg: Von den Ephoren als Institut ständischer Mitbestimmung zur Fundamentalverfassung des gemeinwesens: die Entwicklung von Calvin bis hin zu Althusius, Besold und Boxhorn um die Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Heinrich de Wall (Hrsg.), Reformierte Staatslehre in der Frühen Neuzeit. Berlin 2014, S. 79–98.
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kurzen aber prägnanten Sentenzen ist gerahmt von einer selbstverständlich beschwichtigenden und limitierenden Erinnerung, dass grundsätzlich der einzelne Christ nicht zum Widerstand gegen seinen Herrn ermächtigt sei: so habe Paulus zum Gehorsam gegenüber dem wütenden Nero gemahnt; David habe sich so lange wie irgend möglich fliehend zurückgezogen, und das Erleiden einer eigenen ,Kreuzigung‘ mag das notwendige Schicksal sein. Nur gegenüber den fremden Usurpatoren ist der einzelne, gegenüber den de jure herrschenden, aber zum Tyrannen mutierten Obrigkeiten, ist hingegen nur die niedere Obrigkeit berechtigt, Widerstand zu führen. Im Kriegsgrund-Kapitel werden diese Ausführungen noch komplementär ergänzt mit einer durchaus deutlichen republikanistischen Grundhaltung: Untertanen sind eben keine Sklaven ihrer Obrigkeiten – hier klingt das Echo dessen an, was Obrecht schon 1580 von Bodin aus Les six livres de la République I, 5 rezipiert hatte:¹⁰⁶ dass bei den Christen die Sklaverei außer Brauch gekommen sei –, Untertanen seien dagegen „singuli fratrum loco censendi“ – alle Untertanen seien in gewisser Weise Brüder ihres Herrschers, und dieser könne dieselben nicht zu seinem privaten Gebrauch zwingen: denn die Grunddefinition des Tyrannen bleibe die Herrschaftsausnutzung zu seinem eigenen Privatzweck. Aus der erst seit den 1530ern wieder verstärkt über die Padovaner Schule rezipierten Rhetorik des Aristoteles, die im vierten Buch etliche politisch relevante Aussagen enthielt, die Gegenstand der Parainese und Deliberation sein mochten, fügt er die Gutheißung hinzu, Krieg gegen jene zu führen, die die eigene Rempublicam oder ihre Feinde angreifen oder belästigen. In diesem Sinne sei Tyrannei nicht eines von vielen Verbrechen, sondern die „origo“ aller Verbrechen. Neben den Vindiciae werden hier auch wieder die beiden Traktate des Bartolus über den Tyrannen und über das bürgerliche Regiment rezipiert, die schon innerhalb der Vindiciae die Grundstruktur für die Unterscheidung der Tyrannentypen bereitstellten.¹⁰⁷ Im Vergleich zu den bis dahin veröffentlichten juristischen Disputationen und Kleinschriften überrascht diese eigentlich sehr offene und direkte monarchomachische politiktheoretische Stellungnahme: Bis zu Althusius’ Kapitel 38 der Politica methodice digesta sollten noch 13 Jahre vergehen,¹⁰⁸ und die Rezeption der Monarchomachen war bis dahin eher durch Druck der Originale (teilweise ja in Heidelberg selbst wie die französische Fassung von Bezas (1519–1605) Du droit des
Siehe oben Anm. 43. Diego Quaglioni: Politica e diritto nel Trecento italiano. Il ,De tyrannoʻ di Bartolo da Sassoferrato (1314–1357). Con l’edizione critica dei trattati ,De Guelphis et Gebellinisʻ, ,De regimine civitatisʻ e ,De tyrannoʻ. Firenze 1983. Einige Hinweise in die reiche Literatur Cornel Zwierlein: Johannes Althusius (1563–1638), in: Schmoeckel/Witte Jr. (Hrsg.), Great Christian Jurists (wie Anm. 56), S. 128–143.
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magistrats 1574) oder durch Nachdruck und Rezeption verlaufen. Rezeptionsspuren sind so natürlich schon in den 1580ern zu finden,¹⁰⁹ Hotmans antipapalistischer, nicht im engeren Sinne monarchomachisches Fulmen brutum von 1585 wurde sofort in den Konflikten des Kölner Kriegs und des Straßburger Kapitelstreits rezipiert und zitiert. Der Salzburg-bayerische Rat Johann Baptist Fickler (1533–1610) hatte eine katholische Kontrafaktur von Bezas (1519–1605) Traktat verfasst.¹¹⁰ Aber auf protestantischer Seite dürfte Obrechts De bello damit die früheste von einem Deutschen verfasste originäre Anverwandlung der monarchomachischen Lehre im Detail und im Vollumfang sein:¹¹¹ es wirkt, als ob der Flüchtling der Bartholomäusnacht von Orléans nach langem eher dissimulierendem Stillschweigen nun Farbe bekennt: Dies erfolgte im Moment, als Henri III. in Frankreich gerade ermordet worden war (1./2. August 1589), Paris vom noch protestantischen Henri IV. (1553–1610) belagert worden war, als Christian I. von Sachsen (1560–1591) zusammen mit dem (im Januar 1592 versterbenden) Johann Casimir von der Kurpfalz (1543–1592) unter Christian von Anhalt (1568–1630) – einem der bis zum Dreißigjährigen Kriegsausbruch führenden Köpfe der calvinistischen Politik – einen vergleichsweise sehr großen Kriegszug (September 1591) zur Unterstützung von Henri IV. nach Frankreich führte. Gleichzeitig spitzte sich im Hochstift Straßburg der Kapitelstreit entscheidend zu: Nach der Besetzung des Bruderhofs 1584 und der Umgestaltung des Kapitels 1588, bei der netzwerkförmig eine Schar von Grafen und Fürstensöhnen der protestantischen Dynastien Nord- und Nordwestdeutschlands rasch und dezisiv integriert wurden, hatte die Stadt im gleichen Jahr ein Defensivbündnis mit Bern und Zürich für den Fall eines Kriegsausbruchs geschlossen. 1591, nach dem Tod des Straßburger Bischofs Johann von Manderscheid im Mai 1592 und der schismatischen Nachfolge von Karl von Lothringen (1567–1607) und Johann Georg von Brandenburg (1577–1624) protestantischerseits als Administrator, sollte dieser einjährige Krieg ausbrechen, einem der letzten, in dem die Stadt Straßburg selbst aktiv als kriegsführende Partei finanziell und truppenführend auf der Seite der protestantischen Kapitelmitglieder
Stefan Bildheim: Calvinistische Staatstheorien. Historische Fallstudien zur Präsenz monarchomachischer Denkstrukturen im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2001. Johann Baptist Fickler: De iure magistratuum in subditos. Ingolstadt: David Sartorius 1578 (VD16 F967 – vgl. die handschriftliche Fassung in den Fickler-Mss. Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 715, f. 270r–299r). Eine Nähe zu den Vindiciae vermutet Michael Becker: Kriegsrecht im frühneuzeitlichen Protestantismus. Eine Untersuchung zum Beitrag lutherischer und reformierter Theologen, Juristen und anderer Gelehrter zur Kriegsrechtsliteratur im 16. und 17. Jahrhundert. Tübingen 2017, S. 84 nur für Amandus von Polandsdorf (später: 1607), sonst ist in seiner Studie eine ähnliche Vollrezeption des aus der monarchomachischen Lehre abgeleiteten ius ad bellum nicht nachgewiesen, die erwähnte Ablehnung der katholischen Monarchomachen (Boucher [?!], Guillaume Rose, Mariana) bei Bernegger und von der Weyhe – beide von Obrecht (mit)geprägt – erfolgt ebenfalls später.
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gegen die lothringisch geführte katholische Partei ins Feld zog. Die Stadt übernahm quasi die zurückkehrenden, freigewordenen Truppen Christians von Anhalt (10 000 Mann) und empfing Hilfstruppen der Schweizer (etwa 1 000): zwei Krisenherde, die lokal, personell und diskursiv in vielerlei Form miteinander verknüpft waren, war doch das lothringische Herzoghaus familiär unmittelbar dynastisch verbunden, ja quasi identisch mit dem Haus der Guise, deren beide Hauptvertreter 1588 von Henri III. in Blois ermordet worden waren.¹¹² Direkt in Reaktion auf die Ermordung verfertigte die Liga, allen voran die theologische Fakultät der Sorbonne, namentlich Jean Boucher (1550–ca. 1644), aber auch der Bischof von Senlis Guillaume Rose (1542–1602), ihre katholischen monarchomachischen Traktate auf der Basis des radikalisierten Thomismus, von denen Bouchers in den Eingangspassagen mit austauschfähig-kompatiblen Versatzstücken der Vindiciae und von Bezas (1519– 1605) De jure magistratuum durchwirkt war:¹¹³ Obrecht spielt im Traktat und in der Dedikationsepistel an Ostrorog weder auf einen solchen direkt gegenwärtigen Kontext an, noch ist die direkte Rezeption von Boucher oder Rose ersichtlich, was beides vielleicht zu brisant erschienen wäre. Obrecht pflegte auch sonst in seinen Schriften vor den frühkameralistischen (bis 1606) außer antiken Autoren und Quellen nur sehr wenige Werke zu zitieren, die nicht direkt zur akademischen Disziplin der Jurisprudenz und noch enger zur mos-gallicus-Sparte derselben zu rechnen waren. Aber im Publikationszeitpunkt 1590 (secunda pars 1592) muss die Anwendbarkeit und der Bezug einer monarchomachischen Kriegslehre mit Anleitung zur kriegswissenschaftlich gelehrten Söldnerheer-Aufma(h/n)nung in Straßburg sehr unmittelbar eingeleuchtet haben. Gerade der Stadtmagistrat hatte sich nun eben doch zu einer kämpferisch-proprotestantischen Linie hin entwickelt und war die eigentliche treibende Kraft im Straßburger Kapitelstreit und in den später auch mit Henri IV. geführten Allianz- und Schutzverhandlungen.
Beiderbeck: Zwischen Religionskrieg (wie Anm. 92), passim; Aloys Meister: Der Strassburger Kapitelstreit, 1583–1592. Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation. Straßburg 1899; Oskar Ziegler: Die Politik Straßburgs während des bischöflichen Krieges (1592–93). Leipzig 1906. Thierry Amalou: Le lys et la Mitre: loyalisme monarchique et pouvoir épiscopal pendant les guerres de religion (1580–1610). Paris 2007 (eher zum praktischen Wirken, weniger zum Traktat von Rose); Eckehard Quin: Personenrechte und Widerstandsrecht in der katholischen Widerstandslehre Frankreichs und Spaniens um 1600. Berlin 1999; Cornel Zwierlein: The Political Thought of the French League and Rome 1585–1589. De justa populi gallici ab Henrico tertio defectione and De justa Henrici tertii abdicatione (Jean Boucher, 1589). Genève 2016; Sophie Nicholls: Political Thought of the French Wars of Religion, Cambridge 2021.
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6 Ausblick: Politische Tätigkeit (aktiver Republikanismus) und Frühkameralismus In der Tat war Obrecht auch direkt in die politischen Aushandlungen eingebunden: von den ersten Vergleichsverhandlungen im August 1592 mit Lothringen¹¹⁴ über die Waffenstillstandsverhandlungen und später die Verhandlungen der Stände des Hochstifts 1603 und die Aushandlungen mit Lothringen in Hagenau 1604 war Obrecht immer wieder, oft Seite an Seite mit dem Stadtschreiber Joseph Jundt († 1615), Mitglied der städtischen Verhandlungsführung.¹¹⁵ Seit 1598 hatte er offiziell das Amt des Stadtadvokaten und sogleich entstand eine Lücke in der sonst ungebrochenen Serie von gedruckten Disputationen. Er war immer wieder bei den Sitzungen des Dreizehnerrats anwesend, begann nun über seine protokameralistischen Projekte nachzudenken, von denen die 1606 publizierte Policey-Ordnung das erste Zeugnis war. Über diese Tätigkeit, die verschränkt war mit Aktivitäten der protestantischen Kapitelmitglieder und -bedienten, den ,Bruderhöfischen‘, besitzen wir noch mehr archivalische Zeugnisse, die andernorts analysiert werden müssen, weil sie einen neuen Blick auf die Genese des Frühkameralismus ermöglichen.¹¹⁶ Die Bruderhöfischen, die ,post res perditasʻ und mit zunächst fünfzehnjährig befristetem Bleiberecht bis 1619 in diesem Verwaltungshof des Domkapitels residiert und selbst zuerst frühkameralistische Projekte zur Geldakquisition in der Situation der verminderten Möglichkeiten nach dem Hagenauer Vertrag von 1604 ersonnen hatten, waren die vorgängige treibende Kraft. Aber Obrecht transformierte dies, auf der Basis seiner akademischen Lehrdoktrin und in Verschmelzung mit der römischrechtlichen Konzeption von Census & Censura, in einen allgemeineren Ansatz.¹¹⁷ Beide Projektvorschläge, der Bruderhöfischen und Obrechts, wurden deutschlandweit Städten und Fürsten zur Implementierung angeboten, eine frühe Form der Vermarktung einer Infrastruktur-,Idee‘. Das republikanische Engagement und die procalvinistische Politik-Theoriebildung bei Obrecht ist hier ein Rahmenelement, das nicht den Gegenstand, aber den Ermöglichungshorizont für diese Tätigkeiten
Ziegler: Die Politik (wie Anm. 112), S. 71. AS AA 815, f. 16–23 Protocoll Oder kurtzer bericht, waß inn der dritten Tagleistung wegen der Straßburgischen Stiffts sachen, vonn den Herrn Vnderhendlern, bey beiden streittenden Theilen verrichtet – den 7. Martij vormittag […] usw. den 8ten Martij […] den 9ten Martij mittwochs (Obrecht verhandlungsführend). Vgl. Anm. 2. Cornel Zwierlein: Prometheus tamed. Fire, Security and Modernities, 1400–1900. Leiden/Boston 2021, S. 279–283. Michel Senellart: Census et censura chez Bodin et Obrecht, in: Il pensiero politico 30, 2 (1997), S. 250–266.
Georg Obrechts (1547 – 1612) juristisches Werk
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bildete, was in der Forschung zu Obrecht als Frühkameralisten nahezu gänzlich übersehen worden ist. Auf diese konstitutive republikanische Haltung, die Obrecht eben lange eher verdeckt pflegte und die dann gegen Ende der 1580er deutlich zum Vorschein kam, spielte auch der Rektor der Straßburger Hohen Schule Justus Meier 1612 an, der den Trauerredner Marcus Florus (1567–1612) mit Publius Valerius Publicola (gest. 503 v.Chr.) verglich, der auf den ruhmreichen Konsul der römischen Republik Lucius Junius Brutus (gest. angebl. 509 v.Chr.) „vindex ille libertatis Romanae“ eine Lobrede gehalten hatte: genauso hatte der anonyme Autor der Vindiciae contra tyrannos sich hinter dem Pseudonym Stephanus Junius Brutus antikisierend verborgen,¹¹⁸ und so wurde Obrecht als städtischer Republikaner, fast exakt passend zu Hans Barons alter Idee vom rinascimentalen Bürgerhumanismus, begraben.
Florus: Oratio parentalis (wie Anm. 4), f. Diiiv. Vgl. für die übliche Rückführung des einen Teils des Pseudonyms auf den genannten Lucius Junius Brutus Brutus (pseud.): Vindiciae, ed. Garnett (wie Anm. 102), S. 3, n. 2.
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Eine Welt in der Stube. Sammlungen als Orte der Welterkenntnis vom 16.–18. Jahrhundert Wer als Gelehrter in der Frühen Neuzeit sowohl von seinem wissenschaftlichen Reflexionsniveau als auch von seiner gesellschaftlichen Reputation reüssieren wollte, benötigte neben einem gesicherten Zugang zu guten Buch- bzw. Bibliotheksbeständen auch eine ihm zur Verfügung stehende Sammlung von Dingen, die nach dem Konzept der Zeit in artificialia, naturalia und scientifica untergliedert wurden. Die Nähe zwischen Bibliothek und Kunst- bzw. Naturalienkammer, also der Zusammenklang des Sammelns von Büchern und dem von „Dingen“ (realia) war unter den Zeitgenossen unbestritten.¹ Auch die Forschung hat dies in den letzten Jahrzehnten eindrucksvoll herausgearbeitet. Bereits in den Frontispizen einiger der einflussreichsten und wichtigsten Sammlungshandbüchern der Zeit vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert steht diese sich ergänzende Gegenüberstellung von Buch und Objekt im Fokus. So zeigt das Titelkupfer von Caspar Friedrich Neickels (tätig um 1727) Museographia von 1727 einen an seinem Schreibtisch sitzenden Gelehrten, der konzentriert in den intensiven Vergleich von Objekten mit in Büchern kodifiziertem Wissen beschäftigt ist. Vor ihm erhebt sich eine Bücherwand, deren einzelne Regale oben mit „Logici“, „Astron:[omia]“, „Medic:[ina]“ und „Physi:[ca]“ betitelt sind; hinter ihm erkennt man eine Regalwand mit Fächern, in denen Skelette und andere Präparate tierischen Ursprungs stehen und einer intensiven Betrachtung harren. Alles situiert der Stich wie auf einer Bühne, die nach vorne, leicht erhöht, von einem Gitter zum Raum des Betrachters hin abgegrenzt wird. Dahinter öffnet sich die Szenerie durch einen Bogen in große Tiefe und versinnbildlicht die potentielle Größe des gebotenen Reflexionsraums. Nicht nur Fechner und Neesen gehen davon aus, dass es in dieser Zeitspanne so gut wie keine Bibliothek eines Wissenschaftlers gegeben habe, die nicht auch über einen entsprechenden – wenn auch oftmals nur kleinen – Bestand an Nicht-Buchobjekten verfügte.² Reiseberichte
Caspar Friedrich Neickel/Johann Kanold: Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum oder Raritäten-Kammern. Leipzig/Breslau 1727, S. 1–8. Claudia Neesen: Zur Einheit von Bibliothek und Kunstkammer im 17. Jahrhundert. Überlegungen am Beispiel der Kirchberger Bibliothek und Kunstkammer zur Zeit Joachim Albrechts, in: Armin Panter (Hrsg.), Hohenlohe. Das Kirchberger Kunstkabinett im 17. Jahrhundert. Sigmaringen 1995 (Kataloge des Hällisch-Fränkischen Museums Schwäbisch Hall, Bd. 9), S. 35–44 und Jörg-Ulrich Fechner: Die Einheit von Bibliothek und Kunstkammer im 17. und 18. Jahrhundert, in: Paul Raabe https://doi.org/10.1515/9783111070346-010
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aus dieser Zeit, wie die der Gebrüder Zacharias Conrad (1683–1734) und Johann Friedrich von Uffenbach (1687–1769) – beide im Übrigen studierte Juristen –, dokumentieren sehr eindrücklich, dass bei Bibliotheksbesuchen bzw. -besichtigungen immer auch die angeschlossenen „Raritäten“ mit begutachtet wurden – und diese kombinierten Sammlungsbestände waren eher die Regel als die Ausnahme.³ In diesem Aufsatz soll in gebotener Kürze auf ein Phänomen aufmerksam gemacht werden, das im gelehrten Europa der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle spielte: Es geht um das Sammeln und die diesem zugrundeliegenden Gedanken und Konzepte in der Zeit vom ausgehenden 16. bis etwa in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts. Und natürlich – sonst wäre dieser Text in einem rechtshistorischen Sammelband fehl am Platz: Juristen gehörten selbstverständlich auch zu den Sammlern dieser Zeit und sollen hier – lediglich dem zur Verfügung stehenden Platz geschuldet – weniger individuell, sondern als Gruppe eine besondere Berücksichtigung in der Betrachtung finden.⁴ Die leitende Frage dabei wird sein, ob – und wenn ja wie – Juristen in den von ihnen zusammengebrachten Sammlungen Expertenwissen generieren konnten, oder ob es sich bei den Juristen-Sammlungen eher um solche Kollektionen handelte, die weniger direktes „berufsrelevantes Wissen“ zu generieren halfen, sondern eher um solche, die vielmehr auf einer abstrakteren Ebene Zugang zu oder Bewusstsein für gesellschaftliche Prozesse und „allgemeine“ Zusammenhänge schaffen sollten. Im letzteren Fall wären diese Sammlungen keine Orte einer Generierung von Expertenwissen gewesen. In jedem Fall kann an dieser Stelle bereits festgestellt werden, dass Juristen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen in den frühneuzeitlichen Städten keine marginale Gruppe von Sammlern darstellten, sondern dass sie durchaus einen bedeutenden Teil der zeitgenössischen Sammlerschaft umfassten. Karsten Hommel hat mittels einer von ihm 2018 erstellten statistischen Auswertung von nachweisbaren Sammlungen für den genannten Zeitraum − in diesem Fall für die Bürger- und Handelsstadt Leipzig – eindrucksvoll dokumentieren können, dass sammelnde Juristen keine Seltenheit darstellten und demnach kein Randphänomen waren. Vielmehr konnte Hommel (Hrsg.), Öffentliche und Private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Raritätenkammern, Forschungsinstrumente oder Bildungsstätten? Bremen/Wolfenbüttel 1977 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 2), S. 11–31. Fechner spricht sogar von der „Einheit von Bibliothek und Kunstkammer“, vgl. ebd., S. 21. So finden sich in den unzähligen Reisebeschreibungen von Gelehrten, die im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert publiziert wurden, immer wieder Besuche dokumentiert, die Bibliotheken und mit diesen verbundene Kunstkammern beschreiben. Der Autor ist sich darüber bewusst, dass sich auf der Mikroebene der Analyse einzelner, quellenmäßig gut dokumentierter Sammlungen durchaus abweichende Ergebnisse erzielen lassen könnten. Doch geht es hier um eine erste Annäherung, der mögliche weitere Forschungen folgen sollten.
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Abb. 1: Titelkupfer aus: Caspar Friedrich Neickel: Museographia oder Anleitung zum rechten Gebrauch und nützlichen Anlegung der Museorum oder Raritäten-Kammern […]. Leipzig/Breslau 1727.
nachweisen, dass – zumindest für die sächsische Messestadt – Juristen eine der wichtigsten Berufsgruppen überhaupt waren, die sich sammlerisch betätigten. Nach Hommel lassen sich für die Frühe Neuzeit in Leipzig gegenüber den 1998 nachgewiesenen 37 Sammlungen mittels der zum Stadtjubiläum von 2015 durchgeführten
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Recherchen nunmehr 90 Sammlungen dokumentieren.⁵ 19 % dieser Sammlungen, so Hommel, hatten Juristen als Besitzer, während 15 % im gleichen Zeitraum auf Apotheker und Ärzte, 7 % auf Künstler und 40 % auf Kaufleute, Bankiers und Unternehmer zurückgingen.⁶ Hommel sieht bei den meisten Berufsgruppen einen direkten Zusammenhang zwischen den Dingen, mit denen sie sich beschäftigten, und der Profession der Sammler. So seien beispielhaft „Naturalienkabinette und anatomische Sammlungen von Apothekern und Ärzten, Mineralienkabinette von Bergbaubeamten, Juwelieren und Blaufarbenhändlern, Maschinen- und Modellsammlungen von Physikern und Mechanikern sowie Kunstsammlungen von Künstlern, Baumeistern, Bürgermeistern, Kaufleuten und Bankiers“⁷ – Juristen tauchen bei ihm in diesem recht einfachen Zuordnungssystem, über dessen Tragfähigkeit noch einmal auf breiterer Datenebene gesondert gehandelt werden müsste – nicht auf. Um die Themenfelder des Sammelns von Rechtsgelehrten exemplarisch zu umreißen – und schon Neickel zählt Juristen ausdrücklich zu den Adressaten der„Musei“⁸ –, seien hier drei Leipziger Juristensammlungen kurz mit ihren Schwerpunkten in chronologischer Reihenfolge genannt: Zuerst die von Johann Wolfgang Peilicke (1511– 1596) und dessen Sohn Johann Peilicke (1536–1618) – besonders letzterer formte eine Sammlung von Gemälden,⁹ graphischen Blättern, Münzen, Militaria und kombinierte sie ebenfalls mit einer umfangreichen, einige hunderte Bände umfassenden Bibliothek¹⁰ – , dann die von Huldreich Groß (1605–1677), der ein Raritätenkabinett und eine umfangreiche Bibliothek mit ungefähr 4 000 Bänden sein eigen nannte,¹¹ sowie zuletzt die von Gottlieb Friedrich Mylius (1675–1726), der als hochqualifizierter Laie eine äußerst qualitätsvolle Mineralien- und Fossiliensammlung zusammenbrachte, die auch
Karsten Hommel: Kunst- und Naturaliensammlungen, in: Detlef Döring (Hrsg.), Geschichte der Stadt Leipzig, Bd. 2: Von der Reformation bis zum Wiener Kongress. Leipzig 2016, S. 431–442. Karsten Hommel: „Ferner sind die allhiesigen sehenswürdigen Musaea nicht mit Stillschweigen zu übergehen“. Ein Beitrag zur Topografie des Leipziger Sammlungswesens der Frühen Neuzeit, in: Eva Dolezel/Rainer Godel/Andreas Pečar/Holger Zaunstöck (Hrsg.), Ordnen – Vernetzen – Vermitteln. Kunstund Naturalienkammern der Frühen Neuzeit als Lehr- und Lernorte. Stuttgart 2018 (Acta Historica Leopoldina, Bd. 70), S. 121–149. In absoluten Zahlen heißt dies, dass Juristen 17 Sammlungen besaßen, Kaufleute, Bankiers und Unternehmer 36, Ärzte und Apotheker 14 und Künstler sechs. Weitere 17 führt Hommel unter „andere“ auf. Hommel: Kunst- und Naturaliensammlungen (wie Anm. 5), S. 432. Neickel/Kanold: Museographia (wie Anm. 1), S. 454. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Bildnisse, die die eigene Familie betreffen. Hommel: Kunst- und Naturaliensammlungen (wie Anm. 5), S. 434. Hommel: Kunst- und Naturaliensammlungen (wie Anm. 5), S. 435.
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mit Fundstücken aus der Umgebung Leipzigs ausgestattet war, über die er auch publiziert hatte.¹² Auch für die Reichsstadt Frankfurt am Main lassen sich für den gleichen Zeitraum ähnliche Beobachtungen machen. So zeigen die Sammlungen der beiden weiter oben bereits erwähnten Brüder Zacharias Conrad und Johann Friedrich von Uffenbach, beide ebenfalls in Halle und Straßburg ausgebildete und promovierte Juristen, recht deutlich, dass auch dort in dieser Berufsgruppe je nach Vermögen und Möglichkeiten auf hohem Niveau gesammelt wurde. Und auch bei den Uffenbachs zeigt sich, dass ihre Sammlungen keinesfalls berufsorientiert ausgerichtet, sondern dass sie anfänglich eher polyhistorisch orientiert waren und beide Brüder sich dann zunehmend – einerseits im Fall Zacharias Conrads historisch bzw. mit deutlichem Bezug auf die Künste und Wissenschaften bei Johann Friedrich – als sammelnde Forscher oder mit den von ihnen zusammengebrachten Objekt- und Bücherbeständen forschende Sammler ausrichteten.¹³ Ob Sammlungen von Juristen also tatsächlich ein spezifisches „Expertentum“ unterstützten, wie es Hommel für die naturwissenschaftlich orientierten Berufsgruppen konstatiert, ob die Besitzer aus ihren Sammlungen konkretes gruppenspezifisches Expertenwissen generieren konnten, wird zu verifizieren oder zu falsifizieren sein. Unstrittig mag diese Sammlungsausrichtung sicherlich bei den Ärzten und Apothekern sein, bei denen vielfach Naturalia-Sammlungen inklusive anatomischen Präparaten und pharmazeutisch möglicherweise nutzbaren Dingen versammelt waren. Ebenfalls mögen die Künstlersammlungen mit ihren nachweisbaren Schwerpunkten in den Artificialia (Gemälden, Zeichnungen, druckgraphischen Blättern, technische Gerätschaften oder Automaten) oder den Anatomica und Naturalia als Vorbildspeicher für eigene, mimetisch der Natur in ihren realen Erscheinungsformen folgenden Bildfindungen gedient haben und hier unstrittig sein. Was ist aber mit den Sammlungen solcher Berufsgruppen, die keinen unmittelbaren Nutzen aus den zusammengestellten Dingen ableiten konnten, wie es die genannten Gruppen der Naturwissenschaftler und der Künstler konnten? Konnten sie ‚Expertenwissenʻ ausbilden
Gottlieb Friedrich Mylius: G. F. M. Memorabilium Saxoniae subterraneae pars […] Worinnen die auf denen Steinen an Kräutern, Bäumen, Bluhmen, Fischen, Thieren und andern dergleichen besondere Abbildungen […] gezeiget werden, mit vielen Kupffern gezieret. 2 Bde., Leipzig 1709–1720. Siehe hierzu Frank Fürbeth: Privater Buchbesitz in Frankfurt vom Spätmittelalter bis zu Zacharias Konrad von Uffenbach, in: Markus Friedrich/Monika E. Müller (Hrsg.), Zacharias Konrad von Uffenbach – Büchersammler und Polyhistor in der Gelehrtenkultur um 1700. Berlin/Boston 2020 (Wissenskulturen und ihre Praktiken / Cultures and Practices of Knowledge in History, Bd. 4), S. 93–124, sowie Julia A. Schmidt-Funke: Der Sammler und die Seinigen. Die Frankfurter Brüder von Uffenbach im Kontext städtischer Sammlungspraxis, in: Friedrich/Müller (Hrsg.), Zacharias Konrad von Uffenbach, ebd., S. 69– 92.
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helfen? Ein Blick auf das, was eine ‚Sammlungʻ eigentlich ist, mag hier einen Einstieg bieten, bevor eine Antwort versucht werden soll, warum auch nicht mit materiellen Dingen arbeitende Berufsgruppen Sammlungen anlegten und sich intensiv mit nicht ihre Berufsstände unmittelbar betreffenden ‚Dingenʻ beschäftigten. Doch sei zuerst ein Blick auf das geworfen, was eine Sammlung eigentlich ist.
1 Die Sammlung – Versuch einer Definition Bei der Definition von ‚Sammlungʻ, die der 1934 geborene französisch-polnische Philosoph und Historiker Krzysztof Pomian erstmals 1987 in einem zentralen Essay zum Thema gegeben hat, steht der Gebrauchswert im Zentrum. Eine Sammlung ist nach Pomian „jede Zusammenstellung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt werden und angesehen werden können.“¹⁴ Waffen erfüllen als Objekte einer Sammlung keinen Vorrat an zur Verteidigung oder zum Angriff nutzbaren Arsenalen mehr, Münzen dienen in gleichem Zusammenhang nicht mehr als Geld zur Bezahlung von Waren oder Dienstleistungen. Werden sie an einem speziell für sie vorgesehenen und eingerichteten Ort, etwa in Schränken, Schubladen, Schaukästen oder Vitrinen, Besuchern präsentiert, so werden sie zu Teilen einer Sammlung. Auf einem Haufen, unsystematisch in bloß zur Aufbewahrung benutzten Kisten verstaut, sind sie es nicht. Somit unterscheidet Pomian Sammlungen auch strukturell von „bloßen Anhäufung[en] von Gegenständen“,¹⁵ denen die oben beschriebenen Eigenschaften und Merkmale fehlen. Dinge in Sammlungen haben für ihn generell und durch die Geschichte immer eine eigene Funktion, die sie dem Alltag und ihrem ursprünglichen Gebrauch entrückt – sie werden zu Zeichenträgern im semiotischen Sinne. Für diese Funktion, die ein Gegenstand durch seine Integration in einer Sammlung erlangt, prägt Pomian einen eigenen Begriff. Er bezeichnet diese Objekte als „Semiophoren“ und meint damit, dass sich an sie – egal welcher Art sie auch sein mögen – durch diesen Akt die Möglichkeit heftet, „Unsichtbares“ mit „Sichtbarem“ zu verbinden, also Nichtrepräsentierbares für den Betrachter des Objekts zur Anschauung zu bringen.¹⁶ Die Dinge einer Sammlung erhalten auf diesem Wege Verweischarakter, einen „virtuellen Gebrauchswert“,¹⁷ werden Zeichenträger und eröffnen auf diesem Wege mittels ihrer Dinglichkeit und ihrer Präsentation Zu
Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. 2. Aufl., Berlin 1995, S. 16. Pomian: Der Ursprung des Museums (wie Anm. 14), S. 45. Pomian: Der Ursprung des Museums (wie Anm. 14), S. 49–50. Pomian: Der Ursprung des Museums (wie Anm. 14), S. 51.
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gänge zu zuvor Verborgenem. Das gesammelte Ding wird quasi zu einem Symbol für etwas Anderes. Der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff schreibt in diesem Zusammenhang, die Gedanken Pomians zusammenfassend: „Der, die, das Fremde ist Gegenstand des Museums [also der Sammlung, SB]. Selbst das, was uns gestern noch qua Handhabung vertraut war, ist als museales, als musealisiertes Objekt ferngerückt. Es ist zum ‚Semiophorʻ geworden. […] Es sind Dinge, die lebensweltlich nicht mehr gebraucht werden, dennoch aber eine wichtige Funktion erfüllen, nämlich die der Vermittlung des Unsichtbaren mit dem Sichtbaren.“¹⁸
2 Sammeln als Grundlage zur Welterkenntnis Innerhalb der Geschichte des Sammelns ist diese Vorstellung einer Verweisfunktion weit verbreitet. Dabei spielt es keine wesentliche Rolle, ob es sich bei den Gegenständen um − wie sie in der Frühen Neuzeit bezeichnet worden wären − Artificialia, Naturalia, Exotica oder um wissenschaftliche Instrumente (Scientifica) sowie wundersame Dinge (Mirabilia) handelt. Dinge dieser von den Zeitgenossen definierten Klassifizierungen dominieren die fürstlichen wie bürgerlichen Sammlungen und sind stets mit Bedeutung aufgeladen, die aber nicht unbedingt von den Dingen selbst hervorgebracht, sondern mehrheitlich nur von ihnen verweishaft vertreten wird. Der österreichische Kunsthistoriker Julius von Schlosser, der sich als einer der ersten kurz nach 1900 mit dem Phänomen des frühneuzeitlichen Sammelns beschäftigte, prägte für den sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in Europa etablierende Sammlungstypus den Begriff „Kunst- und Wunderkammer“.¹⁹ Er spielt damit auf die in diesen Sammlungen vorherrschenden Ordnungskriterien an, die dem Wissenschaftler der Aufklärung und der Zeit danach als chaotisch und nur am Aspekt des ‚Wunderbarenʻ orientiert erschienen. Das von Schlosser dabei aber auf einen Begriff zurückgreift, der der Zeit selbst für ihre Sammlungen geläufig war, ist weitgehend unbekannt und wird von Schlosser selbst auch nicht erwähnt. Eine erste Erwähnung findet der Begriff „Kunst- und Wunderkammer“ jedenfalls bereits 1565 in der Schrift Inscriptiones Vel Tituli Theatri amplissimi […] des aus Antwerpen stammenden und am Münchner Hof tätigen Arztes Samuel Quicchelberg (1529–1567). Dessen Traktat, der ursprünglich als eine Art Bewerbungsschrift für die Position des Kunstkämmerers am
Gottfried Korff: Fremde (der, die, das) und das Museum, in: Ders. (Hrsg.), Museumsdinge. Deponieren – Exponieren. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 146–154, hier: S. 146. Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. Leipzig 1908.
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Abb. 2: Darstellung von Sammlungsschränken, aus: Levinus Vincent: Het tweede deel of vervolg van het Wondertooneel der Natuur […]. Amsterdam 1727, Tafel VII.
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bayerischen Hof verfasst wurde,²⁰ stellt die erste theoretische Abhandlung über die systematische Strukturierung einer Sammlung überhaupt dar. Die Absicht Quicchelbergs war es, die Sammlung seines Dienstherrn, des bayerischen Herzogs Albrechts V. (1528–1579), in Anlehnung an die Idee des italienischen Gelehrten Giulio Camillo Delminio (1480–1544), in eine auf mnemotechnischen Konzepten beruhende ‚Maschineʻ zu verwandeln, die beim Durchschreiten und Betrachten ihrem Benutzer das gesammelte Wissen der Welt vor Augen stellen und zur rhetorischen, wie teleologischen Nutzung bereithalten soll. Camillo, der über sein Vorhaben ausführlich publizierte,²¹ hat das Modell eines „Theatrum sapientiae“ entworfen, in dem der Benutzer auf einer Bühne stehend sich die auf den Rängen des Theaters befindlichen und nach den Sieben Planeten angeordneten Sinnbilder in ihrer spezifischen Zusammenstellung ansehen kann, die es durch ihren Verweischarakter möglich machen, den gesamten Kosmos als Gottes Schöpfung zu erfassen und zu verstehen. Bei diesen Sinnbildern – Camillo selbst bezeichnet sie, orientiert am Vokabular der Mnemotechnik als „loci“²² – handelt es sich vom Grundverständnis her um nichts anderes, als um die oben bereits erwähnten Semiophoren, die virtuell durch die ihnen spezifischen Verweiseigenschaften „Unsichtbares“ – wie Pomian es formulieren würde – erkennbar und erfahrbar werden lassen, es also in der Sammlung repräsentieren. Alles hat in dieser ‚Maschineʻ wie in der von Quicchelberg vom Grundgedanken her analog konzipierten Struktur der neueinzurichtenden Münchner Sammlung seinen Platz und verweist je nach dem Charakter des jeweiligen Objekts entweder auf transzendente oder auf historische Begebenheiten und Ereignisse. Bilder, egal ob gestochen, gezeichnet, modelliert oder gemalt, vergegenwärtigen zudem nicht vor Ort selbst zu präsentierende Dinge, wie abstracta oder historische und geographische Entitäten sowie nicht in die Sammlung integrierbare Gegenstände. Quicchelbergs Traktat liest sich dementsprechend als ein elaborierter Versuch einer, heute würden wir sagen: virtuellen, auf Erkenntnis zielenden Weltrekonstruktion, als Entwurf eines Macrocosmos in micorcosmo, als „Welt in der Stube“.²³
Stephan Brakensiek: Samuel Quicchelberg: Gründungsvater oder Einzeltäter? Zur Intention der Inscriptiones vel Tituli Theatri amplissimi (1565) und ihrer Rezeption im Sammlungswesen Europas zwischen 1550 und 1820, in: methaphorik.de 14 (2008), S. 231–252. Camillo 1991 (Erstausgabe Florenz 1554). Zu Giulio Camillos Werk und den diesem zugrundeliegenden Gedanken und Einflüssen siehe Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, 3. Aufl., Berlin 1994 (Acta humaniora), S. 123–161, sowie Barbara KellerDall’Asta: Heilsplan und Gedächtnis. Zur Mnemologie des 16. Jahrhunderts in Italien. Heidelberg 2001. Die sogenannte Loci-Technik bezeichnet in der Mnemotechnik die Methode, Lerninhalte in eine fiktive Struktur einzuordnen sowie sie mittels dieser Struktur miteinander zu verknüpfen. So auch der Titel eines umfangreichen Sammelbandes zum Thema frühneuzeitliches Sammeln; vgl. Andreas Grote (Hrsg.): Macrocosmos in Microcosmo: Die Welt in der Stube Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Wiesbaden 1994 (Berliner Schriften zur Museumskunde, Bd. 10).
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Grundsätzlich gilt, dass man, um Wissen zu speichern, sammeln muss. Sammeln geht der Wissenschaft also immer voraus.²⁴ Es ist somit eine Vorform des Wissens. Ohne die Anlage von Sammlungen als Wissensspeicher kann keine Wissenschaft entstehen. Doch setzt der Zugriff auf wie auch immer gespeichertes Wissen selbst stets bereits Wissen voraus. Das System der frühneuzeitlichen Sammlungen krankte grundsätzlich an der nicht zu gewährleistenden, aber eigentlich notwendigen hohen Anzahl von gleichen Objekten, die es erst erlaubten, den betreffenden Gegenstand in alle in dieser Zeit denk- und gleichzeitig auch begründbaren Beziehungsgefüge einzustellen. Der Zahn eines Narwals etwa − um ein vielleicht gut verständliches Beispiel zu bemühen − konnte und musste – nahm man das den Sammlungen dieser Zeit zugrundeliegende Gedankensystem ernst – in verschiedenen Kategorien präsent gehalten werden (als Objekt oder als Bild): Einerseits als Stoßzahn eines Meerestieres aus den nördlichen Polarregionen der Erde, wie er in der 1670 neu aufgelegten Ausgabe von Conrad Gesners (1516–1565) Fisch-Buch abgebildet erscheint.
Abb. 3²⁵: Von dem Schopff- oder Hornwall, Holzschnittillustration aus Conrad Gessners Fischbuch. Nürnberg 1670, S. 90r.
In Adalbert Stifters Roman Der Nachsommer (Ausgabe München 1977, S. 110) heißt es: „Das Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus; das ist nicht merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der Wissenschaft sein; aber das ist merkwürdig, daß der Drang des Sammelns in die Geister kömmt, wenn eine Wissenschaft erscheinen soll, wenn sie auch noch nicht wissen, was diese Wissenschaft enthalten wird.“ Conrad Gesner: Gesnerus redivivus auctus & emedatus/ vohrmals durch Conradum Gesnerum in lat. beschrieben und nachmahls durch Conradum Forerum ins Teutsche übers. […], Bd. IV: Vollkommenes Fisch-Buch: darstellend eine Abbildung aller grosser und kleiner Fische und seltzamer Meerwunder sammt einer umbstaendlichen Beschreibung. Frankfurt a. M. 1670, S. 125.
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Abb. 4: Von dem wahren und gegrabenen Einhorn, Kupferstich aus: Michael Bernhard Valentini: Museum Museorum oder vollständige Schau-Bühne aller Materialien und Specereyen […]. Frankfurt am Main 1714, S. 481.
Anderseits konnte etwa zeitgleich − 1672 − der Magdeburger Otto von Guericke (1602–1686) aus einem Narwalzahn und einigen 1663 bei Quedlinburg gefundenen fossilen Knochen mehrerer eiszeitlicher Säugetiere den Versuch unternehmen, das Skelett eines Einhorns mit naturwissenschaftlichem Ernst zu rekonstruieren.²⁶ Der hier anklingenden möglichen ‚Doppelbedeutungʻ des Hornes bewusst war sich auch noch Michael Bernhard Valentini (1657–1729), als er auf einer Illustration in seiner 1714 publizierten Enzyklopädie Museum Museorum im Kapitel Von dem wahren und
Siehe: Die Welt im leeren Raum. Otto von Guericke 1602–1686, Ausstellungskatalog des Kulturhistorischen Museums Magdeburg, hrsg. von Matthias Puhle. München 2002 (Magdeburger Museumsschriften, Bd. 7), Kat. 287, sowie Achim Rost: Das fabelhafte Einhorn. Die Rekonstruktion eines fossilen Wirbeltieres durch Otto von Guericke, in: Matthias Puhle (Hrsg.), Die Welt im leeren Raum. Otto von Guericke 1602–1686, Ausstellungskatalog des Kulturhistorischen Museums Magdeburg. München 2002 (Magdeburger Museumsschriften, Bd. 7), S. 120–132.
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gegrabenen Einhorn neben die Darstellung des von ihm als Fabelwesens bezeichneten, pferdeartigen Einhorns (unicornu fictitium), das noch bei Gesner 1670 als realer Teil von Gottes Schöpfung geschildert wird, die Einhornrekonstruktion von Guerickes setzt (unicornu fossile), sowie diese beiden ergänzt durch die Darstellung eines Narwals (unicornu marinum) und die eines einzelnen Narwalzahns, wie ihn die Apotheker bei der Arzneimittelherstellung als ‚Einhorn‘ verwendeten (unicornu officinale).²⁷ Das, was Valentini in seiner in Buchform realisierten „vollständigen Natur- und Materialien-Kammer“ präsentiert, ist die Zusammenschau und kritische Abwägung verschiedener Bedeutungszusammenhänge und Sinnschichten, in denen ein Ding (res), das heißt ein Gegenstand oder eine übergeordnete, nicht materiell fassbare Entität, erscheinen kann. Egal ob als medizinisch zu nutzende Droge, als Fossil oder als Teil eines mittlerweile als fiktiv erkannten Lebewesens: Es ist immer dasselbe Artefakt oder Naturprodukt, das lediglich aus unterschiedlichen Bereichen assoziativ verbindend, materiell analysierend oder formal klassifizierend betrachtet wird. Denn den frühen Enzyklopädisten ging es nicht nur um eine reine Thesaurierung des Wissens, sondern auch und gerade um die Darstellung der Abhängigkeiten und Bezüge der einzelnen res unter- und miteinander. Noch das von Johann Heinrich Zedler (1706–1751) zwischen 1732 und 1754 in 68 Foliobänden herausgegebene Universallexikon stellt einen solchen, wenn auch den letzten großen Versuch dar, die vielfältigen Bedeutungsschichten von Gegenständen systematisch zu dokumentieren. Im sich entwickelnden naturwissenschaftlich geprägten System der neuzeitlich-modernen Gegenstands- bzw. Sammlungsorganisation steht das Objekt gemäß der Linné’schen Klassifikation und des mathematisch-physikalischen Anspruchs, die Welt als Materie erklären zu können, so dann nur noch an einer Stelle. Hier dominiert das Prinzip der Eindeutigkeit; Mehrfachnennungen sind nicht mehr möglich und in diesem Zusammenhang, nach diesem Verständnis, auch nicht mehr nötig. Dass kulturell bzw. zeitlich-kollektiv determinierte Sinnschichten durch diesen Anspruch verloren gehen, bzw. nicht mehr im räumlichen Kontext der Sammlung erfahrbar sind, wird dabei – ob wissentlich oder unwissentlich – in Kauf genommen. Auch die frühneuzeitlichen Sammler waren sich dieser Problematik überaus bewusst. Auch sie standen vor der Frage, wie ein Sammlungsbestand so zu organisieren sei, dass möglichst viele Sinnzusammenhänge zwischen den Objekten räumlich erfahrbar würden. Denn der Sammlungsraum war buchstäblich und räumlich real ein Wissensraum. Hier erhielt der Sammler Impulse, die danach im Michael Bernhard Valentini: Museum Museorum, Oder Vollständige Schau-Bühne Aller Materialien und Specereyen: Nebst deren Natürlichen Beschreibung, Election, Nutzen und Gebrauch, Aus andern Material- Kunst- und Naturalien-Kammern, Ost- und West-Indischen Reiß-Beschreibungen, Curiosen Zeit- und Tag-Registern, Natur- und Artzney-Kündigern, wie auch selbst-eigenen Erfahrung […]. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1714, S. 481–483.
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vergleichenden Studium zwischen den einzelnen Objekten oder im Vergleich mit schriftlich kodifizierten Aussagen verifiziert bzw. falsifiziert oder in einem ersten Schritt erst einmal thesenartig formuliert werden mussten. Ein Ausweg aus dem hier deutlich sichtbar werdenden Dilemma der Sammler war es, entweder über ein ausgeklügeltes System von grundlegenden materiellen Eigenschaften der Gegenstände einen allgemeinen und einfach zu begreifenden Zugriff auf die Sammlungsbestände zu garantieren, oder mit Substituten zu arbeiten, welche die für die wissenschaftliche Auseinandersetzung benötigten Gegenstände abbildeten, ohne sie tatsächlich auch materiell zu repräsentieren. Nur so konnte das Problem umgangen werden, dass in einem von vier Wänden begrenzten Raum nicht beliebig viele Objekte als ‚gute Nachbarnʻ aufgestellt werden konnten. In frühneuzeitlichen Sammlungen arbeitete man aus diesem Grund vielfach mit graphisch erstellten Substituten, die es einerseits ermöglichten, nicht in der Sammlung vorhandene Objekte dem vergleichenden Erkenntnisstreben zur Reflexion anheim zu stellen, und andererseits auch dafür Sorge trugen, dass einzelne Objekte mehrfach in der Sammlung platziert werden konnten, da ihre assoziativ gesehenen Eigenschaften sie in der Nähe bestimmter anderer Objekte notwendig erscheinen ließen. Die Forschung der letzten Jahre hat an verschiedenen Stellen immer wieder darauf hingewiesen, wie stark die frühneuzeitliche Sammlungstheorie an Grundsätzen der Mnemonik bzw. Mnemotechnik orientiert war und welche große Bedeutung mnemo-topographische Systeme für die reale Organisation von Sammlungsbeständen hatten. Der kurfürstliche sächsische Sekretär und Archivar Anton Weck (1623–1680) vermerkt etwa in diesem Zusammenhang 1680 in seiner Beschreibung der Dresdener Kunstkammer, dort sei „eine solche Disposition und gute Ordnung gemachet/ daß man darinnen Memoriam artificialiam & localem haben“ könne.²⁸ Dieses hier von Weck erwähnte „künstliche Gedächtnis“, das er als grundlegend für die Systematisierung der Kunstkammer erkennt, ist nichts anderes, als die seit der Rhetorica ad Herenium dem natürlichen Gedächtnis gegenübergestellte memoria artificialis, deren Ausbildung die gesamte frühneuzeitliche Ars memorativa bestimmt. Die Sammlung wird somit als ein ausgelagertes Gedächtnis verstanden, wo durch die Zusammenschau benachbart platzierter Gegenstände oder Bilder der Besucher oder Benutzer einer Sammlung jenseits individueller Begabungen zu einer tieferen Erkenntnis der Welt vordringen könne. Wolfgang Neuber hat deutlich machen können, dass in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen einem im Gedächtnis entstehenden Imaginationsbild zu mnemonischen Zwecken und seiner tatsächlichen Abbildung keinesfalls ein kategorialer, sondern lediglich ein gradu-
Anton Weck: Der Chur-Fürstlichen sächsischen weitberuffenen Residenz- und Haupt-Vestung Dresden Beschreib- und Vorstellung […]. Nürnberg 1680, S. 34.
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eller sei, der sich medial begründe.²⁹ Letztendlich kann eine Sammlung also tatsächlich Gedächtnisfunktionen übernehmen. Ein solcher Platz hat – wie der Universalgelehrte Johann Daniel Major (1634–1693), der neben Quicchelberg wichtigste Vertreter der frühen Sammlungstheorie, betont – den Charakter eines „StudierPlatz[es] oder Orth[es], da man scharff-sinnigen [!] Gedancken ihre ungehinderte Freyheit“ lassen könne.³⁰ Zudem favorisiert Major für diesen „Studier-Platz“ einen Namen, den er selbst in der ihm vorangegangenen oder zeitgenössischen Literatur zwar nur einmal gefunden habe, der für ihn aber alles das enthalte, was ein Sammlungsraum sein solle: eine „Vernunfft-Kammer“.³¹ Quasi mit − wir würden heute sagen − Hypertextstrukturen sollte dort ein Ziel erreicht werden, das bereits die frühen Theoretiker der sammlungstheoretisch relevanten Mnemotechnik wie der weiter oben schon erwähnte Giulio Camillo Delminio etwa so formuliert hatten: der Auslagerung des Gedächtnisses bzw. dessen Erweiterung hin bis zur kompletten Darstellung und Erkenntnis der Welt und der ihr zugrundeliegenden Strukturen und Abhängigkeiten innerhalb einer Sammlung. Bereits Samuel Quicchelberg favorisierte in seinem Traktat ein die gesamte Welt repräsentierendes, allumfassendes Sammlungssystem, das in seiner Folge als ‚Welt in der Stube‘ vermutlich für den größten Teil der so genannten „Kunst- und Wunderkammern“ vorbildlich gewesen sein dürfte.³² Innerhalb der von Quicchelberg entworfenen Ordnung dieses ‚künstlichen Gedächtnissesʻ werden zwei wesentliche Aufgaben von druckgraphischen Bildern übernommen: Zum einen fungieren sie als Sammlung in der Sammlung, in dem sie das Gesamte des Großen im Kleinen noch einmal wiederholen und so einer höheren Reflexion öffnen – ebenso können sie auch auf Papier eine Sammlung als Ganzes substituieren. Zum anderen aber repräsentieren sie – und dies ist in unserem Zusammenhang von größerer Bedeutung – im Kontext der unterschiedlichen Sammlungsbereiche fehlende Realien oder in ihrer Gesamtheit oder von ihrem Charakter her nicht fassbare Entitäten, wie Schlachten, Festumzüge oder Hochzeiten, aber auch Abstrakta wie Tugenden oder Planetenkindschaften.
Wolfgang Neuber: Locus, Lemma, Motto. Entwurf zu einer mnemonischen Emblematiktheorie, in: Jörg Jochen Berns/Wolfgang Neuber (Hrsg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750. Tübingen 1993, S. 351–372, hier: S. 364. Johann Daniel Major: Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern ins gemein […]. Kiel 1674, § 7. Major: Unvorgreiffliches Bedencken (wie Anm. 30), § 18. Quicchelbergs Schrift war auch im 18. Jahrhundert noch durch die Schrift Commentatio de technophysiotameis sive germanice von Kunst und Naturalien-Kammern (Altdorf 1704) des Altdorfer Professors für Geschichte und Metaphysik, Daniel Wilhelm Moller (1642–1712), bekannt, in der dieser Quicchelbergs Systematik zur Grundlage seiner eigenen sammlungstheoretischen Gedanken macht; vgl. Daniel Wilhelm Moller: Commentatio de techno-physiotameis sive germanice von Kunst und Naturalien-Kammern. Altdorf 1704, Cap. I, § VI.
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Zudem vermögen sie auch Realien zu ersetzen, die man nicht in seine Sammlung − warum auch immer − integrieren konnte. Diese objektsubstituierende Funktion wird den druckgraphischen Blättern – aber auch Gemälden und Handzeichnungen – sodann die gesamte Frühe Neuzeit hindurch im Konzept der Kunst- und Naturalienkammern zugesprochen. Selbst noch in den Sammlungen des späten 18. Jahrhunderts, etwa in jener der Francke‘schen Stiftungen in Halle, werden Lücken innerhalb der Argumentation der Sammlung durch graphische Blätter geschlossen. Und auch die weitere Sammlungstheorie reflektiert diese Verwendung. So schreibt etwa der ebenfalls bereits erwähnte Johann Daniel Major: „Ich meine aber/ daß die Liebe richtiger Philosophie und Ordnung/ nützlich zu seyn/ nicht allein deren Namen und Numer [!] [Major meint Dinge, in erster Linie Tiere, Anm. SB]; an gehörigen Ort des universal Catalogi zu zeichnen: sondern auch in den Repositoria [das heißt den Sammlungsschränken, Anm. SB] selbst/ ein nach verjüngtem Maßstab [!] gezeichnetes kleines Conterfait in die jenige Stelle zusetzen/ wohin das grössere Original/ der Physikalischen Ordnung nach/ gehöret“.³³ Aus diesem Grund verwundert es nicht, wenn frühneuzeitliche Sammlungsbesitzer zum Zwecke der Aufdeckung von Beziehungen zwischen den Dingen auf Dubletten, Tripletten oder eine noch höhere Anzahl von gleichen Bildern zurückgreifen. Diese ermöglichen es ihnen, argumentativ mehrfach benötigte Gegenstände oder ihre viel preiswerter zu beschaffenden und dauerhafter zu gewährleistenden graphischen Substitute in den nötigen Bereichen bereitzuhalten und sie so den sich in der Sammlungsstruktur abbildenden konzeptionellen Bedingt- und Abhängigkeiten der Welt für deren wissenschaftliche Erkenntnis an den notwendigen Stellen zur Verfügung zu stellen. Sammlungen des geschilderten Typs kommen nun sowohl im Kontext fürstlicher als auch zunehmend bürgerlicher Repräsentation eine besondere Bedeutung zu. Kein Schloss, keine Residenz und auch keine Wohnstatt eines gebildeten und wohlhabenden Patriziers, die im 16. und 17. Jahrhundert keine solche, mehr oder weniger große Sammlung besitzt. Denn Sammlungen gehören zur Selbstinszenierung der Fürsten wie der städtischen Repräsentanten von Herrschaft und Wissen. Sie sind – gemeinsam mit der Bibliothek, die immer in einem symbiotischen Verhältnis zur Sammlung gesehen werden muss – sichtbarer Ausdruck eines Teilaspekts des Ideals vom perfekten Herrscher oder Gelehrten. Während fürstliche Sammlungen allerdings oftmals gut dokumentiert sind und sich vielfach auch von den sie ausmachenden Objekten her zumindest rudimentär rekonstruieren lassen, sind bürgerliche (Gelehrten‐)Sammlungen dieser Zeit heute größtenteils verloren und nur noch sehr wenige über
Major: Unvorgreiffliches Bedencken (wie Anm. 30), § 5: Das VIII. Capitel. Dann und absonderlich/ wie Natural-Sachen und Raritäten recht zu disponiren.
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Schriftquellen, etwa gedruckte Sammlungs- bzw. Versteigerungskataloge oder Nachlassinventare – die meisten aber auch nur teilweise − zu rekonstruieren. Festzuhalten bleibt, dass sich Sammlungen in der Frühen Neuzeit besonders durch ihre spezifischen Strukturen auszeichnen, durch die ihre Bestände gliedernde und für die Betrachtung bereitstellende Anordnung ihrer Teile. Dass diese Ordnungen aber nicht unbedingt – wie Camillo und auch Quicchelberg es sich idealtypisch vorstellten – ihre Geheimnisse unmittelbar preisgaben und so tatsächlich ein umfassendes Verständnis der den Menschen umgebenden Welt offenbarten, liegt auf der Hand. Den Zeitgenossen war dies – wenn auch der hohe Anspruch zumindest theoretisch weiterbestand – durchaus bewusst. Weitere Vermittlung war also von Nöten und wurde, wie es der die 1599 erfolgte Publikation der Naturaliensammlung des neapolitanischen Apothekers Ferrante Imperato (1525?– 1615?) begleitende Kupferstich anschaulich demonstriert, von mit der Sammlung und ihrer Ordnung vertrauten Wissenschaftlern, den sogenannten „Kunstkämmerern“, zu gewährleisten. Auf dem Kupferstich, der Imperatos Buch begleitet, präsentiert sich eine „Kunst- und Wunderkammer“ in idealer Form mit all ihren mit Präparaten und andere Dingen gefüllten Schränken und verschiedenen getrockneten und ausgestopften seltenen Tieren an der Decke wie auf der Bühne eines Theaters – die Anlehnung an Camillo und Quicchelberg ist offensichtlich. Hier befindet sich auf der rechten Seite ein Mann mit einem Zeigestock. Er erläutert dem neben ihm stehenden Besucher die Zusammenhänge der zu sehenden Objektdisposition en detail. Er ist quasi der Hüter des Wissens, er ist derjenige, der den tatsächlichen Zugang zur „Welt in der Stube“ eröffnet. Leonhard Christoph Sturm (1669–1719) empfiehlt im Zusammenhang mit seiner Geöffnete[n] Raritäten- und Naturalienkammer, die 1704 als Teilband seines mehrbändigen, zwischen 1700 und 1705 veröffentlichten Geöffneten Ritter-Platzes publiziert wurde, den Schwerpunkt bei einer Sammlungsbesichtigung auf den Bereich der Naturgeschichte zu legen und den zuvor eher favorisierten Bereich des „so populärem Kunsthandwerks“, wie ihn Eva Dolezel nennt, zu vernachlässigen.³⁴ Sturm benennt damit eher beiläufig einen Aspekt, der rechtfertigend für den Gebrauchs- bzw. Erkenntnisgewinn von nicht enzyklopädischen Privatsammlungen wichtig ist, wenn er schreibt: „Man soll bloß auff Dinge sehen und mercken / welche der Führer zeiget / und von den übrigen Sachen das Gemühte so wohl [!] als die Augen abziehen / sonst hat man viel gesehen /
Eva Dolezel: Das „vollständige Raritätenhaus“ des Leonhard Christoph Sturm. Ein Modell für die Museologie des 18. Jahrhunderts, in: Dies./Rainer Godel/Andreas Pečar/Holger Zaunstöck (Hrsg.), Ordnen – Vernetzen – Vermitteln. Kunst- und Naturalienkammern der Frühen Neuzeit als Lehr- und Lernorte. Stuttgart 2018 (Acta Historica Leopoldina, Bd. 70), S. 21–47, hier: S. 23.
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und gewißlich nichts gemercket.“³⁵ Hier ist eine Rechtfertigung der Existenz auch kleinerer bürgerlicher Sammlungen und ihrer Ansprüche und Möglichkeiten impliziert. Denn wenn man es ernst nimmt, dass nicht in der Masse an Objekten, sondern in der Betrachtung ausgewählter, qualitätsvoller Dinge nachhaltiges Wissen und vor allem Erkenntnis gewonnen werden kann, so kann diese Erkenntnis nicht mehr enzyklopädisch orientiert oder auf das Ganze gerichtet sein, sich also nicht in der „überbordende[n] Fülle und bizarre[n] Objektzusammenstellungen“³⁶ verlieren. Sie muss vielmehr Konzentration bedeuten, sowohl bei der studierenden Betrachtung der Dinge als auch bereits bei der Zusammenstellung der Sammlung als Ganzes. Und genau an dieser Differenz zwischen dem Anspruch an die Ordnung, Wissen unmittelbar über die Semiophoren zu offenbaren und zur Verfügung zu stellen, und ihrer tatsächlich in den meisten Fällen begründet zu vermutenden Hermetik, liegt auch der wesentliche Grund, warum sich bereits wenige Generationen nach Quicchelberg die Ansprüche an Sammlungen grundsätzlich ändern. Einerseits hat dies sicherlich mit dem (natur‐)wissenschaftlichen Fortschritt zu tun, also damit, dass spätestens seit Isaac Newton (1643–1727) zunehmend mathematische Modelle dazu genutzt werden, um die Welt und die in ihr herrschenden Zusammenhänge zu erklären. Andererseits erscheinen die Strukturen dieser frühen Sammlungen aber auch tatsächlich als zu komplex und scheinbar zu individuell verschieden und daher vermeidlich willkürlich, um ein nach den nun neuen Kriterien ein ernsthaftes Nachvollziehen von Zusammenhängen in der Natur und der den Menschen umgebenden Umwelt zu ermöglichen. So schreibt etwa der Königsberger Philosoph und Naturwissenschaftler Christian Gabriel Fischer (1686–1751), als er 1731 Dresden, die kursächsische Hauptstadt an der Elbe, besuchte − also nur etwas mehr als 50 Jahre nachdem der kursächsische Rat Anton Weck (1623–1680) die Dresdener Kunstkammer in seiner Beschreibung Dresdens noch als ideales ‚künstliches Gedächtnis‘³⁷ gepriesen hatte: „Ich finde hier zu Dresden durchgehends mehr Spielwerck [!] als Realité. Hr. Hofrat von Heucher spielt mit Natural-Collectaneis. Der junge Kunst-Cämmerer Michaelis mit seinen Instrumentis. Der Bibliothecaire studiret [!] vor sich auf der Bibliotheque. […] Durchgehend ist Niemand der versteht, was studia importiren [!] und wie die mit großen Kosten gesamlete [!]
Leonhard Christoph Sturm: Die geöffnete Raritäten- und Naturalien-Kammer, worinnen Der [!] Galanten Jugend […] gewiesen wird, wie sie Galerien, Kunst- und Raritäten-Kammern mit Nutzen besehen und davon raisoniren sollen […] Samt angefügten Sehr nützlichen Observationibus. Hamburg 1704, S. 7. Dolezel: Das „vollständige Raritätenhaus“ (wie Anm. 34), S. 23. Weck: Chur-Fürstlichen sächsischen weitberuffenen Residenz (wie Anm. 28). Weck schreibt wörtlich, man habe darin „eine solche Disposition und gute Ordnung gemachet / daß man darinnen Memoriam artificialem & localem haben kan […]“, vgl.: ebd., S. 36.
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Collactanea zum Nutzen zu richten.“³⁸ Die schon damals hochangesehenen sächsischen Sammlungen, von denen es heißt, Quicchelbergs Ideen seien dort bei ihrer Einrichtung rezipiert worden, scheinen Fischer also von ihren komplexen Strukturen und ihrer Betreuung her nicht dazu geeignet, in ihnen systematische Studien betreiben zu können. Denn ein Forschen in seinem Sinne setzt das Vorhandensein einer rationalen, das heißt in diesem Sinne mathematisch fundierten und daher nachvollziehbaren Ordnung der versammelten Dinge voraus. Und diese Ordnung ist das genaue Gegenteil von „Spielwerck“: Sie ist keinesfalls eine Frage einer nur noch als eine Art von belanglosem Zeitvertreib gesehenen Form der Objektanordnung, sondern tatsächlich die Grundvoraussetzung für alle Bestrebungen, die Dinge in ihren nun an rationalen Kriterien ausgerichteten und in diesem Sinne neu-systematisch verstandenen Beziehungen untereinander verstehen zu können, eben „Realité“. Die Gegenstände sind also nicht mehr am Verweis auf etwas Anderes orientiert, sondern zeigen sich nun – zumindest erstmal theoretisch – vor der Hand nur noch als sie selbst. Muscheln sind nicht mehr Verweise auf ferne Meere oder auf die Geburt der Venus, sondern beginnen unterschiedliche biologische Spezies zu vergegenwärtigen. Druckgraphische Blätter haben nicht mehr primär am Ort nicht vorhandene Dinge oder in der Zeit zurückliegende oder dinglich nicht fassbare Entitäten zu repräsentieren, sondern sie zeigen primär künstlerische Äußerungen von ästhetischem Wert. Zwar sind diese Dimensionen zuvor auch gesehen worden, doch durch die von Newton ausgelöste mathematische Revolution der Welterfassung erhält das Sammeln mit den bis dahin bestimmenden Vorstellungen von ‚Ordnungʻ ein neues Gewand: Ordnung wird nun nicht mehr als individuell variierbar oder an ‚virtuellen Beziehungenʻ ausgerichtet verstanden, sondern neu als Grundlage einer jeden empirisch orientierten Wissenschaft im Verständnis der Aufklärung definiert, so wie es Adalbert Stifter in seinem Roman Der Nachsommer – wie weiter oben schon erwähnt – beschreibt. Alles Alte, in jenem spezifischen nun überkommenen Sinn semiophorenhafte, wird als reines Privatvergnügen, als bloßes „Spielwerck“ bezeichnet und damit als unwissenschaftlich und damit unnütz abgetan. Nur in einem Bereich bleibt es weiterhin relevant. Gemeint ist das Verständnis von Sammlungen, die sie auch weiterhin als leicht zugängliche Repräsentationen des ‚Buchs der Naturʻ als Ausdruck des göttlichen Schöpfungsaktes verstehen. So schreibt Neickel in seiner Museographia, dass „eines jeden vernünfftigen Besitzers […] dieses oder jenen Musei seine Absicht auf zweyerley Endzweck müsse vornemlich gerichtet seyn: Nemlich einmal zur Beförderung der
Zit. nach Albert Preedek: Bibliotheksbesuche eines gelehrten Reisenden im Anfange des 18. Jahrhunderts, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen, Bd. 45, 1928, S. 221–265, 342–354, 393–407, hier: S. 230.
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Abb. 5: Blick in die Kunst- und Naturalienkammer Ferrante Imperatos mit einem den Besuchern Erläuterungen gebenden Kunstkämmerer, Kupferstichillustration aus: Ferrrante Imperato: Historia Naturale […]. Neapel 1599.
Ehre Gottes [!], und seine Wunder und Allmacht täglich in anreißenden Beyspielen vor Augen zu stellen; und zum andern muß ihr Wille dahin gehen, daß denen, so nach nützlicher Künsten trachten, damit sie dermaleins ihrem Vaterlande oder andern Herrschafften ersprießliche Dienste leisten können, allein wegen eigenen Unvermögens, ohne höhere Beyhülffe, nichts auszurichten vermögen, durch zugelassene Beschauung solcher gesammeleten Wunder der Natur und Kunst, und zur Nachahmung der übergebliebenen Antiquitäten, unter die Arme gegriffen werden.“³⁹ Und weiter: „Zudem ists auch eines jeden Christen Pflicht, daß er Gottes [!] Wunder nicht verschweigen soll, sondern ein ieder ist verbunden, von demjenigen, so ihm Gott mitgetheilet, seinem Nächsten auch einigen Nutzen zuzukehren.“⁴⁰
Neickel/Kanold: Museographia (wie Anm. 1), S. 453–454. Neickel/Kanold: Museographia (wie Anm. 1), S. 454.
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Alle diesen sich im Laufe der Frühen Neuzeit wandelnden Ansprüchen an Sammlungen, großen wie kleinen, hatten demnach – trotz ihrer Unterschiedlichkeit – eine gemeinsame Absicht, die Anne Mariss folgendermaßen zusammenfasst: „Der Aufbau wissenschaftlicher Sammlungen trug dem zeitgenössischen Bildungsideal Rechnung, Wissen nicht mehr nur über Bücher zu vermitteln, sondern über das Hervorzeigen und Betrachten von Objekten anschaulich zu machen. Gleichzeitig diente das ‚Lesen im Buch der Naturʻ als einem zweiten Medium der Offenbarung neben der Bibel immer auch der religiösen Erbauung […]“.⁴¹ Eine Ordnung löst eine andere ab – eigentlich sind es sogar zwei. Dabei verschwindet aber keinesfalls der Anspruch an Sammlungen, die Welt in toto zu repräsentieren, ihre Zusammenhänge anschaulich aufzudecken und nachvollziehbar zu machen. Es sind lediglich die Kriterien, die sich ändern. Und neben die mathematisch begründeten Zusammenhänge treten während des 18. Jahrhunderts die historischen. Damit ist keinesfalls die Vorstellung von ‚Geschichteʻ gemeint, wie sie noch das 17. Jahrhundert und die Zeit davor bestimmte. Geschichte wird nicht mehr transzendental und am göttlichen Heilsplan ausgerichtet verstanden. Eine Geschichte bekommt nun auch die Natur, die bislang als statisch galt. Sie wird fortan auch als mit etwas Zeitlichem behaftet verstanden. Petrefakte, also versteinerte Fossilien, werden näher untersucht und anders interpretiert als zuvor. Johann Jakob Scheuzers (1672–1733) vierbändige Physica sacra von 1731–1735 stellt in diesem Zusammenhang einen der letzten Versuche dar, Heilsgeschichte und Naturgeschichte sinnstiftend und an den neuen Funden und Erkenntnissen orientiert ‚wissenschaftlichʻ miteinander zu verbinden.⁴² Naturgeschichte wird aber zudem als eine „umfassende[…] Wissenschaft mit erbaulicher Wirkung“⁴³ verstanden, die jedem zur Beschäftigung anempfohlen wird. So schreibt etwa der Philosoph, Historiker und Staatswissenschaftler Johann Christian Förster (1735–1798) noch 1794, die Entwicklungen des vorangegangenen Jahrhunderts zusammenfassend: „Die Naturhistorie hat vielen Reiz an sich, und eine sehr starke Beziehung auf andere Wißenschaften, gilt auch jetzt vorzüglich unter den gesitteten Ständen der Menschen.“⁴⁴
Anne Mariss: Kunst- und Naturalienkammern in Professorenhaushalten. Polyvalente Wissensräume an der Schnittstelle zwischen Gelehrsamkeit und Geselligkeit, in: Eva Dolezel/Rainer Godel/ Andreas Pečar/Holger Zaunstöck (Hrsg.), Ordnen – Vernetzen – Vermitteln. Kunst- und Naturalienkammern der Frühen Neuzeit als Lehr- und Lernorte. Stuttgart 2018 (Acta Historica Leopoldina, Bd. 70), S. 205–230, hier: S. 211. Zur Physica sacra siehe Robert Felfe: Naturgeschichte als kunstvolle Synthese. Physikotheologie und Bildpraxis bei Johann Jakob Scheuchzer. Berlin 2003. Mariss: Kunst- und Naturalienkammern in Professorenhaushalten (wie Anm. 41), S. 211, Anm. 25. Zit. nach Mariss: Kunst- und Naturalienkammern in Professorenhaushalten (wie Anm. 41), S. 211, Anm. 25.
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Und schließlich führt Carl von Linné (1707–1778) mit seiner erstmals 1735 publizierten neuen Systematik des Tier- und Pflanzenreichs⁴⁵ dazu, dass auch in den Künsten von historischen Entwicklungen ausgegangen wird, und das nicht mehr Giorgio Vasaris (1511–1574) Diktum von Verfall und Erneuerung, sondern die Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung die Oberhand gewinnt und zunehmend auch Kunstsammlungen nach historisch entwickelten Kriterien organisiert und präsentiert werden.
Carl von Linné: Caroli Linnaei Systema naturae sive regna tria naturae systematice proposita per classes, ordines, genera et species […]. Leiden 1735. Vgl. zum Aspekt der Bezogenheit von Naturgeschichte und der Geschichte der Künste im 18. Jahrhundert: Deborah J. Meijers: Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780. Mailand 1995 (Schriften des Kunsthistorischen Museums, Bd. 2).
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Werke von Speyerer Reichskammergerichts-Juristen im Landesbibliothekszentrum / Pfälzische Landesbibliothek und in der Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer Das 1495 auf dem Reichstag in Worms gegründete Reichskammergericht hatte von 1527 bis 1689 seinen Sitz kontinuierlich in Speyer. Im Zuge der gewaltsamen Durchsetzung der Reunionspolitik wurde die Stadt an Pfingsten 1689 von französischen Truppen völlig zerstört; das Reichskammergericht fand in der Folge seinen Sitz in Wetzlar.¹ Vor der Niederbrennung der Stadt konnten in erster Linie Archivalien geflüchtet werden; die verschiedenen hier befindlichen Bibliotheken dürften dagegen komplett untergegangen sein, darunter auch die auf das Reichskammergericht bezügliche, vor Ort aufbewahrte Literatur. Im Gefolge des Friedens von Rijswijk 1697 wurde Speyer wieder aufgebaut. Ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden die jüngere Gymnasialbibliothek, die jüngere Domkapitelsbibliothek sowie die jüngere Rats- oder Stadtbibliothek; letztere pflegte mit antiquarischen Erwerbungen die Erinnerung an Juristen und andere Personen, die vor 1689 hier gewirkt hatten. Nach dem Fall Napoleons und dem Übergang der linksrheinischen Pfalz an Bayern wurden diejenigen Teile dieser drei Bibliotheken, die die Revolutionszeit überstanden hatten, 1818 in der Gymnasialbibliothek zusammengezogen. Sie wurde bis in die jüngste Vergangenheit im Gymnasium am Kaiserdom aufbewahrt; inzwischen wird sie Zug um Zug in die Pfälzische Landesbibliothek transferiert.
1 Reichskammergerichtsliteratur als Sammelschwerpunkt in Speyer 1921 wurde die Pfälzische Landesbibliothek Speyer gegründet. Einer ihrer Sammelschwerpunkte war von Anfang an das Reichskammergericht insbesondere in seiner Speyerer Zeit. Das wichtigste Segment bildeten und bilden hier Publikationen Wolfgang Hartwich: Speyer von 1620–1814, in: Wolfgang Eger (Hrsg.), Geschichte der Stadt Speyer, 2. Aufl., Bd. 2. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983, S. 1–113 (hier S. 29 f., 58–61). https://doi.org/10.1515/9783111070346-011
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von Juristen am Reichskammergericht, die oft Handbuchcharakter hatten und teilweise in vielen Auflagen vor Ort und im benachbarten Heidelberg, aber beispielsweise auch in Hamburg oder aber in Amsterdam, Florenz und Turin vom 16. bis ins 18. Jahrhundert gedruckt worden sind. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Ausgabe der‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail (1526–1587), ab 1557 Assessor am Reichskammergericht, in niederländischer Sprache, erschienen 1656 in Leiden.² Bei diesen Büchern handelt es sich angesichts der Zerstörung 1689 selten um eine autochthone Überlieferung, sondern um Exemplare, die auf dem antiquarischen Markt erworben werden konnten und die aus ganz anderen Regionen und Ländern stammen. Im Mai 1930 fand eine bemerkenswerte Versteigerung des Heidelberger Antiquariats Ernst Carlebach statt, bei der 180 Drucke zum Reichskammergericht in seiner Speyerer Zeit sowie Produkte Speyerer Drucker und Autoren des 15. bis 17. Jahrhunderts angeboten wurden. Hier erwarb die Pfälzische Landesbibliothek etwa 100 Titel und damit in ihrer Geschichte die größte Zahl an Bänden zu diesem Themenbereich.³ Die so im Lauf der Zeit zusammengetragene historische Reichskammergerichtsliteratur dürfte die wohl umfangreichste in Deutschland sein.⁴ 1896 erschien eine Bibliographie der in Speyer im 17. Jahrhundert erschienenen Drucke. Von den hier verzeichneten Titeln mit Bezug zum Reichskammergericht konnte die Pfälzische Landesbibliothek bis heute etwa 15 erwerben, während etwa zehn noch fehlen.⁵ Über den Inhalt der Drucke hinaus haben in erster Linie die Provenienzen und andere exemplarspezifische Eigenschaften hohen wissenschaftlichen Wert. Sie geben unter anderem Hinweise auf die Schichten, die Reichskammergerichts-Literatur nutzten, und auf das Verbreitungsgebiet dieser Drucke; handschriftliche Eintragungen lassen die tatsächliche Nutzung erkennen. Die entsprechenden Schwerpunkte der Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom sowie der Sammlung der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer sollen hier dargestellt werden. Dieses Haus bewahrt etwa 110 Druck-Exemplare mit Werken zum Reichskammergericht, dar-
Andreas Gail: Observantien vande kayserlyke practyke […], übersetzt von A. van Nispen. Leiden: Johannes Elsevier, 1656 (Signatur: 122–188 Rara); NDB, Bd. 6, S. 38 f. Das Reichskammergericht in Speyer 1526–1689. Speyerer Drucke des 15., 16. und 17. Jahrhunderts. Alte Drucke Speyerer Autoren. Versteigerung Mittwoch, den 14. Mai 1930 durch Ernst Carlebach Buchhandlung und Antiquariat Heidelberg. Heidelberg 1930; Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Kauf-Akzession 1930, im Signaturensegment 30.239 bis 30.337. Hartmut Harthausen: Das Reichskammergericht und die Pfälzische Landesbibliothek, in: Speyerer Vierteljahreshefte 33 (1993), Heft 4, S. 4–9. Ferdinand Wilhelm Emil Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte der Buchdruckereien und des Buchhandels zu Speier im XVII. Jahrhundert bis zur Zerstörung der Stadt Speier 1689. Nebst Bibliographie der Druckwerke dieses Zeitraumes, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 20 (1896), S. 259–341.
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unter heute auch die Altbestände der Gymnasialbibliothek. Die einzelnen Drucke gehen weit überwiegend auf die am Reichskammergericht oder im Umfeld tätigen Juristen Jakob Blum (gest. 1619), Nikolaus Cisner (1529–1583), Johannes Deckherr (1650–1694), Petrus Denaisius (1560–1610), Andreas Gail (1526–1587), Johann Goeth, Simon Günther, Hartmann Hartmanni (1523–1586), Johann Friedrich Hofmann (1660–1735), Johann Meichsner (1530–1589), Noe Meurer (1525/28–1583), Joachim Mynsinger (Münsinger) von Frundeck (1514–1588), Wilhelm Roding (1549–1603), Rutger Ruland (1568–1630), Christophorus Schwanmann (1569–1653), Raphael Seiler (1553–1574), Paul Matthias Wehner (1583–1612) und Joachim Willer (nachweisbar am RKG 1580–1587) zurück, die im Folgenden näher vorgestellt werden. Etwa 75 dieser Drucke zeigen teils mehrere Provenienzvermerke oder -spuren wie gelöschte Vermerke oder ausgeschnittene Exlibris.
2 Werke zum Reichskammergericht aus Speyerer Druckereien des 16. und 17. Jahrhunderts Etliche Speyerer Drucker und Verleger sind in diesem Fonds mit Erzeugnissen ihrer Werkstätten vertreten. Am zeitlichen Anfang stehen der im Jahr 1600 verstorbene Bernhard Albin, ein aus der Auvergne zugewanderter Calvinist, und seine Erben. Im Jahr 1598 druckte Albin das ‚Pandectarum juris cameralis manuale primum‘ des Juristen und kammergerichtlichen Schriftstellers Wilhelm Roding, der eine Berufung nach Speyer als Assessor in hessischen Diensten abgelehnt hatte, aber mit der Praxis des Reichskammergerichts vertraut war.⁶ 1601 erschien in der Offizin der Erben Albins die auf Aggaeus van Albada d.J. (gest. 1610), ab 1597 bis zu seinem Tod Ratskonsulent der Stadt Speyer,⁷ zurückgehende ‚Apologia meri imperii‘, mit der er einer im gleichen Jahr erschienenen Schrift ‚Disputatio de iure meri imperii‘ von Petrus Denaisius entgegentrat, in der dieser die Vorrechte des Reichskammerge-
Wilhelm Roding: Pandectarum juris cameralis manuale primum: De jurisdictione camerae imperialis. Speyer: Bernhard Albin, 1598 (VD 16 (http:/www.vd16.de/), R 2716; Signatur: 30.263 Rara); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 270–273, Nr. 1; Klaus Niebler/Artur Quintana: Von Albinus bis zur französischen Revolution, in: Jürgen Vorderstemann (Hrsg.), Speyerer Buchdruck in fünfhundert Jahren. Speyer 1981, S. 47–60 (hier S. 49–51); Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden 2007 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 51), S. 848 f.; ADB, Bd. 29, S. 30–32. Johann Christoph Adelung: Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico, worinnen die Schriftsteller aller Stände […]. Bd. 1–7. Leipzig 1784–1897, hier Bd. 1, Sp. 393 f.; Albert Pfeiffer: Das Archiv der Stadt Speyer. Speyer 1912, S. 12.
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richts gegenüber der Stadt dargelegt hatte.⁸ Der Jurist und Dichter Denaisius amtierte ab 1590 als Assessor für Kurbrandenburg am Reichskammergericht.⁹ Lediglich zwei Jahre lang, 1604 und 1605, arbeitete der zuvor in Frankfurt am Main bezeugte Drucker Melchior Hartmann in Speyer. Als sein ambitioniertestes Werk erschienen 1605 in fünf Bänden die ‚Urtheil und Beschaydt am hochlöblichen Kayserlichen Cammergericht‘ von Raphael Seiler, der von 1563 bis 1572 als Reichskammergerichts-Assessor wirkte.¹⁰ 1609 veröffentlichte der in Speyer von 1606 bis 1612 wirkende Drucker Johann Taschner das erstmals im Jahr 1600 in Straßburg erschienene Werk ‚Ius camerale‘ von Denaisius.¹¹ Ab 1598 lässt sich der wohl 1621 verstorbene Elias Kembach als Verleger in Speyer nachweisen.Von 1607 bis 1615 arbeitete er mit dem Notar und Verleger Simon Günther zusammen. Bei Kembach, der ab 1613 auch als Drucker fungierte, erschien 1616 erneut Denaisius‘ ‚Ius camerale‘.¹² Günther veröffentlichte 1620 den von ihm selbst verfassten ‚Thesaurus practicantium‘ im eigenen Verlag, nachdem dieses
Petrus Denaisius: Disputatio de iure meri imperii in eos qui Spirae constituti, Iudicii Cameralis corpore, vel albo continentur. Heidelberg: Gotthard Vögelin, 1601 (VD 17, 1:012160P; Signatur: GymBibSP Re 21 Rara); Aggaeus van Albada: Apologia meri imperii, inclyto senatui civitatis Spirensis in camerales competentis […] contra praedictum senatum institutam. Speyer: Bernhard Albin Erben, 1601 (VD 17 (http://www.vd17.de/), 1:012174A; Signaturen: B 1457 Rara, GymBibSP Re 21 [2] u. Re 22); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 274, Nr. 3; Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 51; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 849. NDB 3, S. 592 f.; Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Bd. 1–13. 2. Aufl., Berlin/New York 2008–2012, hier Bd. 2, S. 592–594. Raphael Seiler: Urtheil und Beschaydt am hochlöblichen Kayserlichen Cammergericht […] Hievor/ zum theil/ durch Raphael Seylern […] per Christianum Barth D. eiusdemque Cam. Imp. Assessorem […], Bd. 1–5. Speyer: Melchior Hartmann sumptibus Rulandiorum, 1604 (VD 17, 1:019925Z; Signatur: 24.1826/1–5 Rara); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 276, Nr. 6; Niebler/ Quintana: Von Albinus bis zur französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 53; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 850; Wolfgang Prange: Vom Reichskammergericht in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Urteile in Christian Barths Edition; Kammerboten und Zustellung der Gerichtsbriefe. Köln/Weimar/Wien 2002 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, künftig: QFHG, Bd. 42), S. 12 u. Anm. 7. Petrus Denaisius: Ius camerale, sive novissimi iuris compendium […]. Speyer: Johann Taschner, 1609 (VD 17, 3:300486H; Signatur: 4.9202 Rara); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 279 f., Nr. 11; Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 54; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 850. Ausgabe 1600: VD 16, D 553. Petrus Denaisius: Ius camerale, sive novissimi iuris compendium […] Editio quinta […]. Speyer: Elias Kembach, 1616 (VD 17, 107:716042T; Signatur: 30.251 Rara [2]); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 279, Nr. 9; Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 52 f.; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 850 f.
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Abb. 1: Petrus Denaisius: Ius camerale, sive novissimi iuris compendium […]. Speyer: Johann Taschner, 1609. Titelblatt mit Reichsadler und Speyerer Stadtwappen. LBZ/ Pfälzische Landesbibliothek Speyer, 4.9202 Rara.
Werk schon 1608 von Kembach verlegt worden war.¹³ Von 1608 bis 1612 ist als weiterer Speyerer Drucker Augustin Scheider belegt, der auch für Kembach und Simon Günther: Thesaurus practicantium […]. Speyer: Sumpti[b]us & Typis Authoris, 1620 (VD 17, 1:020251Q; Signatur: GymBibSP Ra 60 Rara); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 277 f., Nr. 8; Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 52 f.; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 850 f. Ausgabe 1608: VD 17, 547:693453Q u. 1:020489F.
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Günther arbeitete. Hier erschien 1610 Günthers ‚Manuale titulorum seu rubricarum utriusque iuris‘.¹⁴ Mit leicht verändertem Titel druckte 1624 Georg Baumeister, von 1622 bis 1636 in Speyer tätig und hier vor März 1640 gestorben, eine weitere Auflage von Denaisius‘ ‚Ius camerale‘.¹⁵ Bereits ein Jahr später folgte eine erneute, von der Witwe des Frankfurter Verlegers Jonas Rosa finanzierte, wahrscheinlich von Johann Taschner in Speyer produzierte Auflage dieses offensichtlich stark nachgefragten Standardwerks.¹⁶ In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts spielte der Verleger Jakob Siverts eine große Rolle, der in Speyer von 1659 bis 1675 nachweisbar ist. 1660 veröffentlichte er zusammen mit Christian Dürr, der von 1655 bis 1667 die Speyerer Ratsdruckerei leitete, die ‚Pandectae camerales‘ von Wilhelm Roding.¹⁷ Eine spätere Auflage aus dem Jahr 1668 produzierte Siverts zusammen mit dem Frankfurter Verleger Johann Peter Zubrodt; sie trägt den Druckvermerk Spirae Nemetum Typis Senatoriis. ¹⁸ 1663 druckte Siverts das ‚Concept Dern auß Befelch der Kayserlichen Mayestät […] Anno 1613 ernewerten und verbesserten Cammergerichts Ordnung‘ des aus der Gegend von Bremen stammenden Reichskammergerichts-Advokaten Jakob Blum, wieder in Zusammenarbeit mit Dürr.¹⁹ Ebenfalls in Zusammenarbeit beider Personen erschienen 1661 und 1665 die ‚Gemeinen Bescheyde‘.²⁰
Simon Günther: Manuale titulorum seu rubricarum utriusque iuris […]. Speyer: Augustin Scheider, 1610 (VD 17, 1:008141F; Signatur: 31.2547 Rara); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 280, Nr. 12; Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 54; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 850. Juris tam prioris, quam posterioris compendium: sive Petri Denaisii iurisc. jus camerale, a G. W. Wormbser iurisc. iuxta editiones anteriores […] Editio sexta […]. Speyer: Georg Baumeister, 1624 (VD 17, 1:020242R; Signatur: 30.252 Rara); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 280– 282, Nr. 13; Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 54 f.; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 851. Petrus Denaisius: Ius camerale sive novissimi iuris compendium […]. Speyer: Jonas Rosa Witwe, 1625 (VD 17, 107:752876G; Signatur: 5.508 Rara); Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 54. Wilhelm Roding: Pandectae camerales […]. Speyer: Jakob Siverts/Christian Dürr, 1660 (VD 17, 1:020398Z; Signatur: 4.2186 Rara); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 283–285, Nr. 16 f.; Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 56–58; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 852. Wilhelm Roding: Pandectae camerales […]. Speyer: Jakob Siverts/Typis Senatoriis u. [Frankfurt am Main]: Johann Peter Zubrodt, 1668 (VD 17, 107:718666C; Signatur: 30.264 Rara); Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 57. Jakob Blum: Concept Dern auß Befelch der Kayserlichen Mayestät […] Anno 1613 ernewerten und verbesserten Cammergerichts Ordnung […]. Speyer: Jacob Siverts/Christian Dürr, 1663 (VD 17, 1:019841B; Signatur: B 1699 Rara); Johann Heinrich Stepf: Gallerie aller juridischen Autoren von der
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Abb. 2: Wilhelm Roding: Pandectae camerales […]. Speyer: Jakob Siverts/Typis Senatoriis u. [Frankfurt am Main]: Johann Peter Zubrodt, 1668. Kupferstich einer Sitzung des Reichskammergerichts mit Ansicht der Stadt Speyer. LBZ/ Pfälzische Landesbibliothek Speyer, 30.264 Rara.
Der wichtigste Speyerer Verleger reichskammergerichtlicher Literatur im 17. Jahrhundert war Christoph Olff aus Lüneburg, der ab spätestens 1671 in Speyer wirkte. Er betätigte sich hier als Drucker, Buchbinder und Buchhändler. Nach der Zerstörung Speyers 1689 lässt er sich in Wetzlar fassen, wohin das Reichskammergericht verlegt worden war. Damit sorgte er für eine Kontinuität bei der Produktion
ältesten bis auf die jetzige Zeit mit ihren vorzüglichsten Schriften nach alphabetischer Ordnung aufgestellt, Bd. 1–4. Leipzig 1820–1825, hier Bd. 1, S. 209. Gemeine Bescheyde Welche bey dem Hochlöblichen Kayserlichen Cammer-Gericht/ von desselben Anfang biß Anno 1600 […]. Speyer: Jakob Siverts/Christian Dürr, 1661 (VD 17, 547:643577X; Signatur: 30.239 Rara); Gemeine Bescheyde Welche bey dem Hochlöblichen Kayserlichen CammerGericht/ von desselben Anfang biß uff den Monat Julii 1665 […]. Speyer: Jakob Siverts/Christian Dürr, 1665 (VD 17, 1:019972K; Signatur: 3a 6537 Rara).
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reichskammergerichtlicher Literatur.²¹ Bei der Herstellung der einzelnen Werke arbeitete er mit unterschiedlichen Druckern zusammen, die aber nicht immer genannt werden. 1676 verlegte Olff das ‚Commentationum de rebus cameralibus specimen‘ des Reichskammergerichts-Advokaten Johannes Deckherr;²² als Drucker fungierte hier Matthäus Metzger, der sich ab 1668 in dieser Funktion in Speyer nachweisen lässt und von 1669 bis 1676 die Ratsdruckerei der Stadt leitete.²³ Ohne Angabe des Druckers veröffentlichte Olff 1678, 1681 und 1686 den ‚Nucleus responsionum Cuiusdam in Imperiali Camera quondam Advocati‘²⁴ des Reichskammergerichts-Assessors und 1590 als kurpfälzischer Advokat belegten Joachim Willer,²⁵ den ‚Relationum, Votorum et Decisionum Augustiss. Imp. Camerae Judicii Liber Singularis‘ von Johannes Deckherr²⁶ und das ‚Concept Deren […] Anno 1613 erneuerten und verbesserten Cammergerichts-Ordnung‘ von Jakob Blum.²⁷ Bei zwei weiteren Titeln erscheint als zusätzlicher Verlagsort neben Speyer Frankfurt am Main. Mit dem Druckvermerk Franckfurt und Speyer/ In Verlag Christoph Olfens/ Buchhändlers wurden 1686 die ‚Abschiede der Visitationen, An dem Hochlöbl. Kayserl. Cammer-Gericht‘ gedruckt.²⁸ Zwei Jahre später erschienen die ‚Pandectae juris cameralis‘ von Wilhelm Roding, gedruckt von Johannes Bauer in Frankfurt, der hier erst ab 1688 arbeitete.²⁹ Bereits 1691 verlegte Olff zwei reichskammergerichtliche Drucke in Wetzlar. Es handelt sich um eine Ausgabe des ‚Concepts‘ von Jakob
Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 287 f., Nr. 20. ADB 5, S. 10 f. Johannes Deckherr: Commentationum de rebus cameralibus specimen […]. Speyer: Christoph Olff/Matthäus Metzger, 1676 (VD 17, 1:020768B; Signatur: 30.240 Rara [2]); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 286 f., Nr. 19; Niebler/Quintana: Von Albinus bis zur Französischen Revolution (wie Anm. 6), S. 58; Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 852. Joachim Willer: Nucleus responsionum Cuiusdam in Imperiali Camera quondam Advocati […]. Speyer: Christoph Olff, 1678 (VD 17, 12:151843X; Signaturen: 30.240 Rara [3] u. 30.294 Rara). Bernhard Ruthmann: Das richterliche Personal am Reichskammergericht und seine politischen Verbindungen um 1600, in: Wolfgang Sellert (Hrsg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis. Köln/Weimar/Wien 1999 (QFHG, Bd. 34), S. 15 f. u. Anm. 41. Johannes Deckherr: Relationum, Votorum et Decisionum Augustiss. Imp. Camerae Judicii Liber Singularis […]. Speyer: Christoph Olff, 1681 (VD 17, 1:020004U; Signatur: 30.249 Rara). Jakob Blum: Concept Deren […] Anno 1613 erneuerten und verbesserten Cammergerichts-Ordnung […]. Speyer: Christoph Olff, 1686 (VD 17, 1:019866C; Signaturen: 4a 1609 Rara u. GymBibSP Rc 5 Rara). Abschiede Der Visitationen, An dem Hochlöbl. Kayserl. Cammer-Gericht […]. Frankfurt am Main/ Speyer: Christoph Olff, 1686 (VD 17, 12:655298P; Signatur: 4a 1609 Rara [2]). Wilhelm Roding: Pandectae juris cameralis […]. Speyer: Christoph Olff u. Frankfurt am Main: Johannes Bauer, 1688 (VD 17, 1:020360U; Signaturen: 30.265 Rara u. GymBibSP Ra 164 Rara); Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 264.
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Blum³⁰ sowie um die ‚Relationes camerales novissimae‘ von Johann Friedrich Hofmann, Reichskammergerichts-Advokat und Prokurator in Speyer und Wetzlar.³¹ Am zeitlichen Ende der Speyerer Druckertätigkeit steht eine 1689 erschienene Ausgabe der ‚Vindiciae pro veritate et justitia rei jurisque cameralis‘ von Johannes Deckherr, ein Kommentar zum ‚Processus cameralis‘ von Jakob Blum. Als Verleger fungierte Gottfried Seyler, der sich in Speyer in dieser Funktion von 1686 bis 1689 nachweisen lässt. Der Schwerpunkt seiner Geschäftstätigkeit lag allerdings in Frankfurt am Main, und der fragliche Band zeigt einen Wetzlarer Kaufvermerk aus dem Jahr 1711.³² Erwähnenswert sind schließlich im Speyerer Bestand drei reichskammergerichtliche Drucke, die in Heidelberg hergestellt wurden. 1582 erschien bei Johann Spieß die ‚Liberey Keyserlicher/ Auch Teutscher Nation Landt und Statt Recht‘ von Noe Meurer, ab 1548 Advokat am Reichskammergericht.³³ Der von 1599 bis 1622 am Neckar wirkende Gotthard Vögelin produzierte 1601 neben der bereits erwähnten ‚Disputatio de iure meri imperii‘ von Petrus Denaisius eine Ausgabe der sich wiederum gegen den Rat der Stadt Speyer und gegen die Erwiderung von Aggaeus van Albada d.J. richtende ‚Adsertio iurisdictionis Camerae Imperialis et libertatis cameralium‘ desselben Autors. Beide Drucke sind mit guten Gründen außerhalb der Domstadt produziert worden.³⁴
Jakob Blum: Concept Deren […] Anno MDCXIII. erneuerten und verbesserten Cammer-Gerichts Ordnung […]. Wetzlar: Christoph Olff, 1691 (VD 17, 107:728061L; Signatur: 29.2161 Rara [2]). Johann Friedrich Hofmann: Relationes camerales novissimae ab Augustissimi Camerae Imperialis Judicii DD. Assessoribus et Assessoratûs Candidatis elaboratae […]. Wetzlar: Christoph Olff, 1691 (VD 17, 1:019987D; Signatur: 16.9280 Rara); Anette Baumann: Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1806), Köln/Weimar/Wien 2006 (QFHG, Bd. 51), S. 20–22 u. 189. Johannes Deckherr: Vindiciae pro veritate et justitia rei jurisque cameralis […] in notis et animadversionibus ad D. Jacobi Blumii […] processum cameralem […]. Frankfurt am Main/[Speyer]: Gottfried Seyler, 1689 (VD 17, 1:020945B; Signatur: 4.7402 Rara); Roth: Geschichte der Verlagsgeschäfte (wie Anm. 5), S. 289, Nr. 23. Noe Meurer: Liberey Keyserlicher/ Auch Teutscher Nation Landt und Statt Recht. Das ist: Ordentliche und gantz nützliche Beschreibung/ Erstlichen/ der gemeinen Kayserlich Recht./ Zum andern/ Wie an dem Hochlöblichen Keyserlichen Cammergericht gemeinlichen geurtheilt […]. Heidelberg: Johann Spies, 1582 (VD 16, M 5009; Signatur: 30.3229 Rara); Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 358; NDB 17, S. 269 f.; Raimund J. Weber: Wassernutzung im Streit. Prozesse vor dem Reichskammergericht um Mühlen, Fischerei, Transport und Bewässerung an Donau, Neckar und Rhein, in: Kurt Andermann/Gerrit Jasper Schenk (Hrsg.), Wasser. Ressource – Gefahr – Leben. Ostfildern 2020 (Kraichgauer Kolloquien, Bd. 12), S. 181–222 (hier S. 183, Anm. 9). Petrus Denaisius: Adsertio iurisdictionis Camerae Imperialis et libertatis cameralium. Adversus apologiam et anticrisin nomine senatus Spirensis oppositam disputationi. Heidelberg: Gotthard Vögelin, 1601 (VD 17, 1:012168Z; Signaturen: 5.1637 Rara u. GymBibSP Re 21 Rara [3]); Reske: Die Buchdrucker (wie Anm. 6), S. 360 f.
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3 Provenienzen, Nutzergruppen und Verbreitungsgebiete In Speyer selbst wurde im Zuge des Wiederaufbaus reichskammergerichtliche Literatur vor allem für die 1710 erstmals urkundlich fassbare jüngere Stadtbibliothek angeschafft, bei der juristische Werke eine große Rolle spielten. Sie erhielt weiter 1803 Dubletten aus der aufgelösten Kurfürstlichen Universitätsbibliothek in Mainz. 1818 wurde die Stadtbibliothek durch die bayerische Regierung mit der jüngeren Gymnasialbibliothek vereinigt; im gleichen Zusammenhang erstellte der Speyerer Antiquar Philipp Hauth (1760–1841) einen Katalog, der 1002 Nummern aufführt. Hier finden sich acht Bände reichskammergerichtlicher Literatur aus der Zeit vor 1689.³⁵ Unter den wenigen der heute in Speyer aufbewahrten Exemplare, die Bezüge zur Stadt oder zur Region zeigen, kommt der jüngeren Stadtbibliothek beziehungsweise der heutigen Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer eine besondere Bedeutung zu. Aus dieser Quelle stammt eine 1608 in Köln gedruckte Ausgabe der ‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail. Sie weist von einer Hand des 17./ 18. Jahrhunderts den Besitzeintrag Ex Libris Caroli Henrici de Jodoci Manu propria assessoris Camerae Imperialis auf, ein bisher wohl unbekannter Mitarbeiter des Reichskammergerichts.³⁶ Der Band geht auf die jüngere Bibliothek des Speyerer Domkapitels zurück und ist im 1791 von dem aus Tauberbischofsheim stammenden Domvikar und Bibliothekar Johann Valentin Baumann vorgelegten Katalog verzeichnet, der heute in der Pfälzischen Landesbibliothek unter der Signatur Hs. 157 aufbewahrt wird.³⁷ In drei Fällen stammt reichskammergerichtliche Literatur aus den Büchersammlungen Speyerer Ratskonsulenten sowie Stadt- und Ratsschreiber. Ein Besitzvermerk von Johann Peter Wolfram aus Alzey, Lizentiat der Rechtswissenschaft und Ratskonsulent von 1707 bis 1709, findet sich in einer 1652 in Straßburg gedruckten Ausgabe des ‚Ius camerale‘ von Petrus Denaisius.³⁸ Von 1700 bis 1733
Armin Schlechter: Die Bibliothek des Speyerer Gymnasiums von ihrer Gründung 1538/40 bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Brigitte Klosterberg (Hrsg.), Historische Schulbibliotheken. Eine Annäherung. Halle 2021 (Hallesche Forschungen, Bd. 56), S. 95–125 (hier S. 119–121); Stadtarchiv Speyer, Best. 3, Nr. 73 u. 84. Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium, praesertim imperialis camerae […]. Köln: Antonius Hierat, 1608 (VD 17, 1:674680V; Signatur: GymBibSP Ra 49 Rara). Hs. 157, Bl. 57a; Schlechter: Die Bibliothek (wie Anm. 35), S. 118 f. Petrus Denaisius: Ius camerale sive novissimi iuris compendium […]. Straßburg: Eberhard Zetzner, 1652 (VD 17, 1:020253E; Signatur: GymBibSP Rf 38 Rara); Stadtarchiv Speyer, Best. 3, Nr. 73, Bl. 39a u. Nr. 84, Bl. 35a, jeweils Nr. 62; Pfeiffer: Archiv (wie Anm. 7), S. 13; Hans-Helmut Görtz:
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amtierte Johann Heinrich Norendorff als Stadt- und Ratsschreiber. Er erwarb im Jahr 1690 eine zwei Jahre zuvor von Christoph Olff in Speyer verlegte Ausgabe der ‚Pandectae juris cameralis‘ von Wilhelm Roding.³⁹ Auf den bereits erwähnte Aggaeus van Albada d.J. geht die ‚Apologia meri imperii‘ in der Speyerer Ausgabe von 1601 zurück. 1729 schenkte Johannes Kimmich/Kümmich, von 1721 bis 1734 Rats- und Stadtschreiber von Speyer, der jüngeren Stadtbibliothek ein Exemplar.⁴⁰ Der 1620 in Speyer erschienene ‚Thesaurus practicantium‘ von Simon Günther (s. oben) ebenfalls aus dem Bestand der Gymnasialbibliothek weist einen bibliographischen Vermerk des von 1726 bis 1764 amtierenden Speyerer Ratskonsulenten Johann Erhard Baur auf, wie er sich in dieser Sammlung insbesondere bei Werken von Autoren mit Bezug zu dieser Stadt findet.⁴¹ Ein weiterer Band späterer Mainzer Provenienz stammt aus dem Heidelberger Jesuitenkolleg, das nach der Eroberung der Stadt im Dreißigjährigen Krieg durch bayerische Truppen zum Zweck der Rekatholisierung gegründet worden war. In seiner Bibliothek sind unter anderem nicht nach Rom abtransportierte Restbestände der Bibliotheca Palatina aufgegangen.⁴² Drei Exemplare anderer Herkunft zeigen Provenienzen aus dem Umkreis von Speyer. Dazu gehört eine 1595 in Köln gedruckte Ausgabe der ‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail. Sie wurde am 29. Oktober 1600 von Johannes Christoph Graeter Hallensis in Heidelberg erworben. Graeter immatrikulierte sich am 16. Dezember desselben Jahres an dieser Universität und ist von 1632 bis 1651 als Pfarrer in
Reichskammergerichtspersonal und andere Personen in den Taufbüchern von Predigerkirche und St. Georgen zu Speyer 1593–1689. Speyer 2015 (Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte, Heft 12), S. 277. Wie Anm. 29; Pfeiffer: Archiv (wie Anm. 7), S. 14. Wie Anm. 8, Exemplar GymBibSP Re 22 [2]; Stadtarchiv Speyer, Best. 3, Nr. 73, Bl. 22a u. Nr. 84, Bl. 19a, jeweils Nr. 7); Pfeiffer: Archiv (wie Anm. 7), S. 14. Wie Anm. 13, Exemplar GymBibSP Ra 60 Rara mit Vermerk: Laudatus à Deckero in notitia Rei cameralis cap. 9 p. 57; Stadtarchiv Speyer, Best. 3, Nr. 73, Bl. 40b u. Nr. 84, Bl. 36b, jeweils Nr. 107; Pfeiffer: Archiv (wie Anm. 7), S. 13; Schlechter: Bibliothek (wie Anm. 35), S. 113–115. Paul Matthias Wehner: Symphorematis supplicationum, pro processibus […] editio secunda denuo diligenter revisa […]. Frankfurt am Main: Johannes Saur/Johann Theobald Schönwetter, 1604 (VD 17, 1:020301N). Beiband: Paul Matthias Wehner: Symphorematis tom. II supplicationum, pro processibus […]. Frankfurt am Main: Matthaeus Becker/Johann Theobald Schönwetter, 1601 (VD 17, 1:020277Y; Signatur: GymBibSP Rc 22 Rara); Stadtarchiv Speyer, Best. 3, Nr. 73, Bl. 13a u. Nr. 84, Bl. 9b, jeweils Nr. 128; Armin Schlechter: Bücher aus der Bibliotheca Palatina und dem Jesuitenkolleg in Heidelberg in der Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom in Speyer, in: Peter Diehl/Andreas Imhoff/Lenelotte Möller (Hrsg.), Wissensgesellschaft Pfalz – 90 Jahre Pfälzische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Ubstadt-Weiher/Heidelberg/Neustadt an der Weinstraße/Basel 2015 (Veröffentlichung der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Bd. 116), S. 379– 389 (hier S. 386, Nr. 13).
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seiner Heimatstadt nachweisbar.⁴³ Eine 1586 in Köln gedruckte Ausgabe der ‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail aus dem Folgebesitz des Historischen Vereins der Pfalz weist einen Besitzvermerk von Philipp Heinrich Hellermann (1725–1806) auf, Landbaudirektor von Pfalz-Zweibrücken.⁴⁴ 1570 erschienen in Frankfurt am Main die ‚Visitation abschiede: aller und jeder des […] Chammergerichts […] Ordinarien‘ aus der Feder von Nikolaus Cisner, Jurist, Dichter und von 1567 bis 1580 Assessor am Reichskammergericht,⁴⁵ die als Teil eines juristischen Sammelbandes mit Drucken von Reichstagsabschieden überliefert sind, ebenso aus dem Folgebesitz des Historischen Vereins der Pfalz. Er weist mehrere Besitzvermerke des Juristen und pfalz-neuburgischen Kanzlers Dr. Walter Drechsel (um 1535–1595) aus den Jahren 1566 bis 1570 auf. Der Einband geht auf die Werkstatt von Jobst Kalhart in Lauingen zurück.⁴⁶
Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium, praesertim imperialis camerae, quam causarum decisiones pertinentium […]. Köln: Johannes Gymnich III., 1595 (VD 16, G 69; Signatur: HV 3695 Rara). Kaufvermerk: Ex libris Joannis Christophori Hallens. Emptus Heidelb. Anno 1600 die 29. Octobris pro 2 fl. 6 bz.; Gustav Toepke: Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662, Bd. 2: Von 1554 bis 1662. Heidelberg 1886, S. 206, Nr. 193; Max-Adolf Cramer: Baden-Württembergisches Pfarrerbuch, Bd. 1: Kraichgau-Odenwald, Teil 2: Die Pfarrer und Lehrer der höheren Schulen von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Karlsruhe 1988 (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evangelischen Landeskirche in Baden, Bd. 37), Nr. 1071. Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium […]. Köln: Johann Gymnich III., 1586 (VD 16, G 67; Signatur: HV 3343/2 Rara); Kurt Stuck: Verwaltungspersonal im Herzogtum Zweibrücken. Regierungszentrale Zweibrücken, Oberämter Bergzabern, Kusel, Meisenheim, Zweibrücken, Ikonographie der herzoglichen Familien. Ludwigshafen am Rhein 1993, S. 155, 188; Bernhard H. Bonkhoff: Philipp Heinrich Hellermann, Landbaudirektor Zweibrücken, in: Der Turmhahn 30 (1986), 1–2, S. 1–20. Kühlmann: Killy Literaturlexikon (wie Anm. 9), Bd. 2, S. 434. Nikolaus Cisner: Visitation abschiede: aller und jeder des hochlöblichen Keyserlichen Chammergerichts/ von Anfang desselben/ biß auff gegenwertige zeit/ Ordinarien […]. Frankfurt am Main: Sigmund Feyerabend, 1570 (VD 16, C 3964; Signatur: 1a 5430 Rara [6]); Ingeborg Krekler: Stammbücher bis 1625. Wiesbaden 1999 (Die Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, Sonderreihe, Bd. 3), S. 220; Ferdinand Geldner: Pfalzgraf Philipp Ludwig von Neuburg (1547–1614), ein bibliophiler Fürst, und die Lauinger Buchbinder, in: Festschrift Ernst Kyriss. Dem Bucheinbandforscher Dr. Ernst Kyriss in Stuttgart–Bad Cannstatt zu seinem 80. Geburtstag am 2. Juni 1961 gewidmet von seinen Freunden. Stuttgart 1961, S. 287–316 (hier S. 304–308 u. S. 311, Abb. 18); Einbanddatenbank (https://www.hist-einband.de/), w002452 u. p003017.
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4 Weitere Personenprovenienzen Auf der Grundlage der Provenienzen lassen sich viele Drucke unterschiedlichen Nutzergruppen zuordnen. Mengenmäßig dominieren, wie zu erwarten, Juristen, die teils als höhere Beamte im Verwaltungsdienst wirkten. Hinzu kommen adelige Besitzer, die reichskammergerichtliche Literatur teils als Privatbesitz markierten, teils ihren Familienbibliotheken zuwiesen. Aber auch Geistliche besaßen einzelne Titel, ebenso geistliche und weltliche Institutionenbibliotheken. Über 30 Bände im Besitz der Pfälzischen Landesbibliothek weisen Einträge oder Exlibris auf, die auf Juristen und Verwaltungsbeamte zurückgehen. Soweit sich diese Personen biographisch fassen lassen, wirkten sie im deutschen Sprachraum überwiegend südlich der Mainlinie. 1564 erwarb der aus Ensisheim stammende David Schmidlin (gest. 1585) ein Exemplar der im Vorjahr in Basel erstmals erschienenen Ausgabe der ‚Singularium observationum Iudicii Imperialis Camerae […] Centuriae quatuor‘. Sie geht auf den Juristen Joachim Münsinger von Frundeck zurück, der 1536 in Freiburg im Breisgau promovierte und hier 1543 einen Lehrstuhl erhielt. Von 1548 bis 1556 wirkte er als Beisitzer am Reichskammergericht in Speyer.⁴⁷ Schmidlin immatrikulierte sich am 2. September 1542 an der Universität Freiburg und schlug eine juristische Karriere ein. Im Dezember 1556 erhielt er die licentia utriusque iuris. 1557 wurde ihm die Professur für die Institutionen übertragen. Münsinger wird er persönlich gekannt haben. Den Vorderdeckel des erworbenen Bandes ziert Schmidlins Monogramm D.S.D., und den Vorderspiegel versah er mit Besitzeintrag sowie Motto: Est Davidis Schmidlin Ensishemiani I. V. Doctoris 1564. Dominatrix omnium patientia. ⁴⁸ 1570 erschien in Basel eine weitere Ausgabe der ‚Singularium observationum‘ von Münsinger. Ein 2021 mit Mitteln der Bezirksgruppe Speyer des Historischen Vereins der Pfalz als Teil eines Konvoluts antiquarisch erworbenes Exemplar der Pfälzischen Landesbibliothek zeigt einen mit hellem Leder mit blinden Stempeln überzogenen Einband mit einer Titelbeschriftung auf dem Vorderschnitt. Das Titelblatt enthält den Besitzvermerk Ex bibliothecâ Joan. Fichardi JC. Auf der Basis des paläographischen Befundes kann ausgeschlossen werden, dass es sich um den Juristen und Satiriker Johann Fischart (ca. 1547–1590) handelt, der ab 1578 als Prak-
Kühlmann: Killy Literaturlexikon (wie Anm. 9), Bd. 8, S. 480; NDB 18, S. 671–673. Joachim Münsinger von Frundeck: Singularium observationum Iudicii Imperialis Camerae (uti vocant) Centuriae quatuor […]. Basel: Nikolaus Episcopius d.J., 1563 (VD 16, M 7459; Signatur: 4.8660 Rara); Hermann Mayer: Die Matrikel der Universität Freiburg i. Br. von 1460–1656, Bd. 1: Einleitung und Text. Freiburg im Breisgau 1907, S. 332, Nr. 58 mit Anm.
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tikant am Reichskammergericht in Speyer belegt ist.⁴⁹ Der Vermerk geht vielmehr auf Johann Fichard (1512–1581) aus Frankfurt am Main zurück, der unter anderem an der Universität Heidelberg studierte. Am Reichskammergericht amtierte er 1533 als Prokurator, kehrte aber noch im gleichen Jahr als Syndikus in seine Heimatstadt zurück. Frankfurt vertrat er in der Folge auch bei Reichskammergerichts-Prozessen in Speyer.⁵⁰ Die Kölner Ausgabe der‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail aus dem Jahr 1586, die später dem bereits erwähnten Philipp Heinrich Hellermann gehörte, weist zwei ältere Besitzvermerke auf. Den Einband zieren das Monogramm P.C.W. sowie das Bindejahr 1588 jeweils in Gold, was sich auf der Grundlage eines handschriftlichen Besitzeintrags auf dem Titelblatt Porphyrius Crollius (ca. 1563–1611/14) zuweisen lässt, der, wie sein berühmterer Bruder, der Arzt und paracelsische Wissenschaftler Oswald Crollius (ca. 1560–1609), in Wetter bei Marburg als Sohn einer reformierten Familie geboren worden ist. Porphyrius immatrikulierte sich am 30. September 1586 an der Universität Heidelberg und lässt sich später als Schulmeister und Rechenschreiber in kurfürstlichen Diensten in Heidelberg nachweisen.⁵¹ Der zweite Besitzvermerk geht auf den 1606 an der Universität Heidelberg immatrikulierten Daniel Otto aus dem hohenlohischen Öhringen zurück, der am 13. Februar 1610 zum Magister artium promoviert wurde und im Juli desselben Jahres den fraglichen Band erwarb. Er dürfte identisch sein mit einem gleichnamigen Juristen, der um 1620 als hohenlohischer Rat in Waldenburg fassbar ist.⁵² Ein besonders bemerkenswertes Exemplar der ‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail erschien 1616 in Köln. Es wurde 2021 von der Pfälzischen Landesbibliothek antiquarisch erworben und weist vier Besitzvermerke Schweinfurter Persönlichkeiten auf. Der Vorderdeckel des Pergamentbandes zeigt in Stempeldruck den Vermerk I . HOEFEL . D sowie das Bindejahr 1628. Dies wird auf dem Titelblatt durch einen ausführlichen Besitzvermerk ergänzt: Lite cadunt magnae, res crescunt
Christian Hoffmann: Bücher und Autographen von Johann Fischart, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 25 (1996), S. 489–579; Kühlmann: Killy Literaturlexikon (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 449–453. Joachim Münsinger von Frundeck: Singularium observationum iudicii Imp. (ut vocant) Camerae, centuriae IIII […]. Basel: Eusebius u. Nikolaus Episcopus d.J., 1570 (VD 16, M 7462; Signatur: 122– 187 Rara); NDB 5, S. 120 f. Wie Anm. 44; Toepke: Die Matrikel (wie Anm. 43), Bd. 2, S. 129, Nr. 249; NDB 3, S. 421; Oswaldus Crollius: Alchemomedizinische Briefe 1585 bis 1597, hrsg., übersetzt u. erläutert von Wilhelm Kühlmann u. Joachim Telle. Stuttgart 1998 (Heidelberger Studien zur Naturkunde der frühen Neuzeit, Bd. 6), S. 169 f. Toepke: Die Matrikel (wie Anm. 43), Bd. 2, S. 232, Nr. 135 mit Anm. u. S. 474. Kaufvermerk: M. Daniel Otto, Oering. Hoënl. 1610 26. Julii; ADB 24, S. 746.
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Abb. 3: Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium […], Köln: Johann Gymnich III., 1586. Titelblatt mit Besitzvermerken von Porphyrius Crollius, Daniel Otto und Philipp Heinrich Hellermann. LBZ/ Pfälzische Landesbibliothek Speyer, HV 3343/2 Rara.
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Pace minutae,/ Et tamen Haec paucis, pluribus Illa placet/ Ut Plures fiant pauci, Paucique vicissim/ Plures, votivum constuplicemus Amen. Ita ex animo Joh. Höefel D. et Reip. Suinford Consil. 1629. Es handelt sich um den 1600 im mittelfränkischen Uffenheim geborenen Johann Höefel (gest. 1683), der seine juristische Ausbildung 1628 mit der Promotion an der Universität Jena abschloss; den Band, der ihn schon als Doktor kenntlich macht, muss er kurz darauf erworben haben und einbinden lassen. 1629 bezeichnete er sich gemäß diesem Besitzeintrag schon als Rat der Stadt Schweinfurt; 1632 wurde Höefel hier Ratskonsulent. Darüber hinaus machte er sich einen Namen als Dichter von Sprüch und Reimen sowie 1682 als Herausgeber eines ‚Historischen Gesangbuchs‘. Vor dem Ankauf durch die Pfälzische Landesbibliothek ist der Vorderspiegel entfernt worden, wo wahrscheinlich ursprünglich das Exlibris angebracht war, das Höefel geführt hat.⁵³ Folgebesitzer wurde 1716 Johann Elias Segnitz, 1723/24 in Schweinfurt als Unterscholarch belegt.⁵⁴ Er schenkte das Buch 1724 an den 1753/54 ebenfalls in Schweinfurt in diesem Amt bezeugten Johann Jacob Seyfert.⁵⁵ Der zeitlich jüngste Besitzer war Georg Friedrich Gustav Stolle, Sohn des Schweinfurter Kreis- und Stadtgerichtsrates Georg Christoph Caspar Stolle.⁵⁶ Ein weiteres bemerkenswertes Exemplar, eine 1609 in Genf erschienene Ausgabe der ‚Singularium observationum‘ von Joachim Münsinger von Frundeck (s. oben), kommt aus dem österreichischen Raum. Es trägt einen Schenkungsvermerk des oberösterreichischen Kammerrats Johann Andreas Schmid von Wellenstein. Er ist um die Mitte des 17. Jahrhunderts bezeugt und stammt aus einer Bregenzer Familie.⁵⁷
Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium […]. Köln: Antonius Hierat, 1616 (VD 17, 12:206700A; Signatur: 222–21 Rara); Gerd Wunder: Johann Höefel, in: Gerhard Pfeiffer/Alfred Wendehorst (Hrsg.), Fränkische Lebensbilder, Bd. 7. Neustadt an der Aisch 1977, S. 123– 141; Else-Marie Moritz: Die Bibliothek der freien Reichsstadt Schweinfurt. Schweinfurt 1959 (Veröffentlichungen des Historischen Vereins und Stadtarchivs Schweinfurt, Bd. 6), S. 77 u. 106. Besitzvermerk: J. E. Segnitz J. U. Dr. d. 6ten 9br. 1716 sorte me accepit; Moritz: Die Bibliothek (wie Anm. 53), S. 118. Schenkungsvermerk: Nunc jure donat. ab Excell. Dn. Doctore Segniz gaudet Joh. Jac. Seyffertus Suinf. Fr. Ao. […] Christ. MDCCXXIV d. 8. Junii; Moritz: Die Bibliothek (wie Anm. 53), S. 118. Besitzvermerk: G. Fr. G. Stolle; Uwe Müller: Schweinfurt 1 Stadtarchiv und Stadtbibliothek, in: Eberhard Dünninger (Hrsg.), Handbuch der Historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 13: Bayern S–Z. Hildesheim/Zürich/New York 1997, S. 27–40 (hier S. 30); Moritz: Bibliothek (wie Anm. 53), S. 35, 56 u. 108 f. Joachim Münsinger von Frundeck: Singularium observationum imper. Camerae Centuriae VI. […] Ex […] recognitione Arnoldi de Reyger […]. Genf: Mathieu Berjon, 1609 (Signatur: 3.9625 Rara); Benedikt Bilgeri: Geschichte Vorarlbergs, Bd. 3: Ständemacht, Gemeiner Mann – Emser und Habsburger. Wien/Köln/Graz 1977, S. 305.
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Abb. 4: Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium […]. Köln: Antonius Hierat, 1616. Titelblatt mit Besitzvermerk von Johann Höefel und weiteren Schweinfurter Persönlichkeiten. LBZ/ Pfälzische Landesbibliothek Speyer, 222–21 Rara.
Aus Frankfurt am Main und Mainz sowie der Region finden sich drei Provenienzen. Eine vierbändige Ausgabe der ‚Decisionum diversarum causarum in Camera Im-
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periali iudicatarum‘ erschien von 1603 bis 1606 in Frankfurt am Main. Sie geht auf Johann Meichsner aus Augsburg zurück, der ab 1585 als Assessor am Reichskammergericht arbeitete. Dieses Exemplar zeigt ein auf 1743 datiertes Exlibris des Frankfurter Juristen Johann Christoph Seiff aus dem Folgebesitz der jüngeren Stadtbibliothek Speyer.⁵⁸ Wahrscheinlich der Jurist und Kurfürstliche Hof- und Regierungsrat in Mainz Augustin Franz Cunibert besaß eine 1710 in Köln gedruckte Ausgabe der ‚Pandectae juris cameralis‘ von Wilhelm Roding.⁵⁹ Eine 1624 in Speyer erschienene, überarbeitete Ausgabe des ‚Ius camerale‘ von Petrus Denaisius trägt einen Besitzvermerk von Johannes Heinrich von Köt(t)eritz. Er war wild- und rheingräflicher Amtmann und Rat und ist 1648 gestorben.⁶⁰ Ein weiteres bemerkenswertes Zeugnis aus dem 19. Jahrhundert süddeutscher Herkunft stellt ein Exemplar des Werks ‚Der Römischen Kaiserlichen Mayestat Und gemeiner Ständen deß heiligen Reichs […] Cammergerichts-Ordnung‘ von Nikolaus Cisner dar, 1594 in Mainz gedruckt. Der Band zeigt einen im August 1846 in Heidelberg eingetragenen Besitzvermerk von David Honigmann (1821–1885), später Syndikus der Breslauer Judengemeinde, mit dem er an Immanuel Auerbacher erinnerte. Beide studierten 1844 in Berlin Jura und waren zu dieser Zeit wegen der restriktiven antisemitischen preußischen Politik die einzigen jüdischen Studenten. Zum Zeitpunkt des Eintrags hatte Honigmann bereits in Heidelberg promoviert.⁶¹ Außerhalb des süddeutschen Raumes sind ebenfalls etliche Buchbesitzer bemerkenswert. Eine 1664 in Frankfurt am Main gedruckte Ausgabe des ‚Processus
Johann Meichsner: Decisiones diversarum causarum in Camera Imperiali iudicatarum […], Bd. 1– 4. Frankfurt am Main: Matthäus Becker/Theobald Schönwetter bzw. Johann Sartorius/Wolfgang Richter, 1603–1606 (VD 17, 1:013052W; Signatur: GymBibSP Rc 52 Rara); Maximilian Lanzinner: Juristen unter den Gesandten der Reichstage 1486–1654, in: Friedrich Battenberg/Bernd Schildt (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Köln/ Weimar/Wien 2010 (QFHG, Bd. 57), S. 351–384 (hier S. 367, Anm. 40); R. Froning: Frankfurter Chroniken und annalistische Aufzeichnungen des Mittelalters. Frankfurt am Main 1884 (Quellen zur Frankfurter Geschichte, Bd. 1), S. 506; F. Warnecke: Die deutschen Bücherzeichen (Ex-Libris) von ihrem Ursprunge bis zur Gegenwart. Berlin 1890, Nr. 2015 f. Wilhelm Roding: Pandectae juris cameralis, ex ordinatione camerae […]. Köln: Johannes Schlebusch, 1710 (Signatur: 31.2521 Rara); Stepf: Gallerie (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 151. Wie Anm. 15; Eberhard J. Nikitsch: Die Inschriften des Landkreises Bad Kreuznach. Wiesbaden 1993 (Die Deutschen Inschriften, Bd. 34), Nr. 546. Nikolaus Cisner: Der Römischen Kaiserlichen Mayestat Und gemeiner Ständen deß heiligen Reichs angenommene/ und bewilligte Cammergerichts-Ordnung […]. Mainz: Heinrich Brehm, 1594 (VD 16, D 999; Signatur: 29.2150 Rara); Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Deutsche biographische Enzyklopädie, 2. Aufl., Bd. 5. München 2006, S. 126; Barbara Strenge: Juden im preußischen Justizdienst 1812–1918. Der Zugang zu den juristischen Berufen als Indikator der gesellschaftlichen Emanzipation. München/New Providence/London/Paris 1996 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 81), S. 48–50.
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cameralis‘ von Jakob Blum zeigt einen Besitzvermerk von J.W.J. Fuxius aus Koblenz, der sich am 19. November 1758 als Praktikant am Reichskammergericht in Wetzlar immatrikulierte.⁶² Das Exlibris von Carl Gerd von Ketelhodt (1738–1814) ziert eine 1601 in Oberursel gedruckte Ausgabe des ‚Illustrium et Solemnium observationum summi statuum imperii consistorii, sive Camerae Imperialis Apospasma Prodromon‘ des Reichskammergerichts-Advokaten Johann Goeth⁶³. Ketelhodt, in Rudolstadt geboren, trat nach seinem Jurastudium in den Staatsdienst des Fürstentums Schwarzburg-Rudolstadt und stieg 1785 zum Wirklichen Geheimrat und Kanzler auf.⁶⁴ Zwei Bände tragen Besitzvermerke von Johann Bernhard von Herberstein (1630–1685), Landeshauptmann von Breslau und Glogau. Er besaß die ‚Camerae Imperialis observationes‘ von Andreas Gail in einer 1603 in Hamburg erschienenen Ausgabe sowie die 1601 in Frankfurt am Main gedruckte ‚Symphorema supplicationum‘ von Paul Matthias Wehner, der nach seiner Promotion in Rechtswissenschaft im Jahr 1605 als Schüler von Petrus Denaisius am Reichskammergericht arbeitete.⁶⁵ Der schlesische Landeshauptmann Ignaz Dominik Graf von Chorinsky (1729–1792) besaß ausweislich seines Exlibris ein Exemplar des 1620 in Speyer gedruckten ‚Manuale titulorum seu rubricarum utriusque iuris‘ von Simon Günther.⁶⁶ Gemäß einem handschriftlichen Kaufvermerk erwarb der schwedisch-pommerische Diplomat und Kanzler Philipp Christoph von der Lancken (1617–1677) 1664 in Regensburg ein Exemplar des im Vorjahr in Speyer gedruckten ‚Concepts‘ von Jakob Blum. Lancken studierte an verschiedenen Universitäten Jura und vertrat von 1662 bis 1664 die Herzogtümer Schwedisch-Pommern, Bremen und Verden auf dem Reichstag von Regensburg, wo er offensichtlich auch aktuelle Literatur zum
Jakob Blum: Processus cameralis, ex ordinationibus cameralibus […]. Frankfurt am Main: Christian Hermsdorf, 1664 (VD 17, 1:020874H; Signatur: 4.4823 Rara); Bernhard Endrulat: Die Rheinischen und Westfälischen Praktikanten des Reichs-Kammergerichts zu Wetzlar, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 20 (1884), S. 101–114 (hier S. 105). Stepf: Gallerie (wie Anm. 19), Bd. 1, S. 164 f. (unter dem Pseudonym Johann Tillmann de Benignis). Johann Goeth: Illustrium et Solemnium observationum summi statuum imperii consistorii, sive Camerae Imperialis Apospasma Prodromon. Auctore Thilmanno de Benignis. Oberursel: Cornelius Sutorius, 1601 (VD 17, 12:194487H; Signatur: 1a 8144 Rara); ADB 15, S. 668 f. Andreas Gail: Camerae Imperialis observationes. Deß Keiserlichen Cammer Gerichts sonderliche Gerichtsbreuche/ unnd Rechts regeln […]. Hamburg: Hermann Moller, 1603 (VD 17, 107:725630C; Signatur: 29.2137 Rara); Paul Matthias Wehner: Symphorema supplicationum, pro processibus, super omnibus ac singulis imperii Romani constitutionibus, in supremo Camerae Imperialis auditorio impetrandis […], Bd. 1–2. Frankfurt am Main: Matthäus Becker/Johann Theobald Schönwetter, 1601 (VD 17, 1:020269G u. 1:020277Y; Signatur: 29.2126/1 Rara); ADB 41, S. 433–435; NDB 8, S. 577. Wie Anm. 14; NDB 22, S. 467.
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Reichskammergericht erwarb.⁶⁷ Rechnungsnotizen in französischer Sprache sowie vier überwiegend gestrichene Besitzvermerke, teils von Doctores utriusque iuris mit französischen Namen, lassen erkennen, dass eine 1563 in Basel gedruckte Ausgabe der ‚Singularium observationum‘ von Joachim Münsinger von Frundeck aus dem Bestand der Gymnasialbibliothek im dortigen Sprachraum intensiv genutzt worden ist.⁶⁸ In immerhin fünf Fällen waren Geistliche Besitzer von ReichskammergerichtsLiteratur. Georg Theodor Güth, von 1719 bis zu seinem Tod 1728 Kanoniker des Stifts St. Stephan in Mainz, besaß eine 1686 von Christoph Olff in Speyer verlegte Ausgabe des ‚Concepts‘ von Jakob Blum.⁶⁹ Bemerkenswert ist als Buchbesitzer der Iglauer Pfarrer und Kirchenlieddichter Kaspar Stolshagen (1550–1594). Er verschenkte 1592 ein 1583 in Köln gedrucktes Exemplar der‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail.⁷⁰ Eine 1574 in Mainz gedruckte Ausgabe der ‚Cammergerichts Ordnung‘ von Raphael Seiler gehörte Isidor Keppler (1715–1792). Er stammte aus Dingelstädt, trat 1734 in den Augustinerorden ein, bekleidete zweimal das Amt des Priors in Erfurt und übernahm mehrmals das Amt des Dekans der dortigen theologischen Fakultät; von 1782 bis 1784 amtierte er als Rektor der Universität Erfurt.⁷¹ Als Vorbesitzer ist weiter Ferdinand Wilhelm Emil Roth (1853–1924) erwähnenswert, auf den ein Sammelband mit zwei Titeln reichskammergerichtlicher Literatur aus den Jahren 1657 und 1652 zurückgeht, darunter ein Fragment des ‚Ius camerale‘ von Petrus Denaisius. Roth machte sich vor allem mit seinen Publikationen zur Geschichte des frühen Buchdrucks einen Namen und verfasste auch die
Jakob Blum: Concept Dern auß Befelch der Kayserlichen Mayestät […] Anno 1613. ernewerten und verbesserten Cammergerichts Ordnung […]. Speyer: Jacob Siverts/Christian Dürr, 1663 (VD 17, 1.019841B; Signatur: 29.2157 Rara [2]); Heiko Droste: Im Dienst der Krone. Schwedische Diplomaten im 17. Jahrhundert. Berlin 2006 (Nordische Geschichte, Bd. 2), S. 399. Joachim Münsinger von Frundeck: Singularium observationum Iudicii Imperialis Camerae (uti vocant) Centuriae quatuor […]. Basel: Nikolaus Episcopius d.J., 1563 (VD 16, M 7458; Signatur: GymBibSP Rg 154 Rara). Wie Anm. 27; Fritz Arens: Mainzer Inschriften von 1651 bis 1800, Bd. 2: Kirchen- und Profaninschriften. Mainz 1985 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz, Bd. 27), Nr. 2124 u. 2154. Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium […]. Köln: Johann Gymnich III., 1583 (VD 16, G 66; Signatur: 310–10 Rara); Sigrid Fillies-Reuter: Stolshagen, Kaspar, in: Friedrich Wilhelm Bautz/Traugott Bautz (Hrsg.), Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 10. Herzberg 1995, Sp. 1553 f. Raphael Seiler: Der Römischen Kaiserlichen Mayestat Und gemeiner des Heiligen Reichs Stenden angenommene und bewilligte Cammergerichts Ordnung […]. Mainz: Franciscus Behem, 1574 (VD 16, D 996; Signatur: 30.1672 Rara); Erich Kleineidam: Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt, Teil IV: Die Universität Erfurt und ihre Theologische Fakultät von 1633 bis zum Untergang 1816. Leipzig 1981 (Erfurter theologische Studien, Bd. 47), S. 310 f.
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erste bibliographische Abhandlung zum Speyerer Buchdruck im 17. Jahrhundert. Offensichtlich sammelte er als Grundlage für seine Arbeit selbst alte Drucke.⁷²
5 Institutionenprovenienzen Etwa 20 Exemplare im Besitz der Pfälzischen Landesbibliothek lassen sich institutionellen Bibliotheken weltlichen oder geistlichen Zuschnitts zuweisen. Hinzu kommen weitere Bände mit typischen Signaturen oder vergleichsweise unspezifischen Exlibris oder Supralibros, die ebenfalls auf eine Herkunft aus Institutionen deuten. Diese Bände gelangten im Zuge von Dublettenverkäufen oder bei der Auflösung von Adels- und Klosterbibliotheken auf den Markt. Zwei ehemalige Dubletten gehen, wie entsprechende Stempel erkennen lassen, auf die Universitätsbibliothek Freiburg sowie auf die heutige Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek Jena zurück. Es handelt sich um eine 1571 in Frankfurt am Main gedruckte Ausgabe des Werkes ‚Cammergerichts Ordnung und Proceß‘ von Noe Meurer⁷³ sowie um eine 1689 in Frankfurt am Main produzierte Ausgabe der ‚Vindiciae pro veritate et justitia rei jurisque cameralis‘ von Johannes Deckherr.⁷⁴ Reichskammergerichtliche Literatur stammt auch aus verschiedenen aufgelösten oder durch Verkäufe reduzierten adeligen Bibliotheken. Auf die ab 1993 sukzessive vermarktete Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek in Donaueschingen geht die 1691 in Wetzlar gedruckte Ausgabe der ‚Relationes camerales‘ von Johann Friedrich Hofmann zurück.⁷⁵ 1727 erschien in Wetzlar das ‚Relationum, decisionum et votorum, ab augustissimi ac supremi Camerae Imperialis iudicii dominis […] opus‘. Der Band stammt aus der Fürstlich Starhembergschen Bibliothek aus dem oberösterreichischen Schloss Eferding, die 1956 versteigert worden ist.⁷⁶
Tractat Von Commissarien und Commissionen/ Wie Dieselben an dem hochlöblichen Keyserlichen Kammergericht […] in üblichem Gebrauch […]. Mainz: Nikolaus Heil/Johann Gottfried Schönwetter Witwe und Erben, 1657 (VD 17, 107:725240N; Signatur: 30.289 Rara); Petrus Denaisius: Ius camerale sive novissimi iuris compendium […]. Straßburg: Eberhard Zetzner, 1652 (VD 17, 1:020253E; Signatur: 30.289 Rara [2]); Konrad Fuchs: Roth, Ferdinand Wilhelm Emil, in: Friedrich Wilhelm Bautz/Traugott Bautz (Hrsg.), Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 19. Herzberg 2001, Sp. 1151–1166; vgl. Anm. 5. Noe Meurer: Cammergerichts Ordnung und Proceß […]. Frankfurt am Main: Georg Rab d.Ä./ Weigand Han Erben/Sigmund Feyerabend, 1571 (VD 16, M 5002; Signatur: 29.2148 Rara). Wie Anm. 32. Wie Anm. 31; Volker Schupp: Versteigerung der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen, in: Librarium 45 (2000), S. 17–22. Relationum, decisionum et votorum, ab augustissimi ac supremi Camerae Imperialis iudicii dominis assessoribus et assessoratus candidatis elaboratorum opus […]. Wetzlar 1727 (Signatur:
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Der bereits erwähnte Druck des ‚Prodromon‘ von Johann Goeth aus dem Besitz von Carl Gerd von Ketelhodt wurde, wie dessen gesamte Bibliothek, 1804 von Fürst Ludwig Friedrich II. zu Schwarzenburg-Rudolstadt erworben und mit einem entsprechenden Exlibris versehen.⁷⁷ Eine vierbändige Ausgabe der ‚Decisionum diversarum causarum in Camera Imperiali iudicatarum‘ von Johann Meichsner (s. oben), 1663 in Mainz gedruckt, zeigt Besitzstempel der 1740 gegründeten Bibliothek der Mecklenburgischen Ritter- und Landschaft, die heute teilweise noch in der Universitätsbibliothek Rostock aufbewahrt wird.⁷⁸ Einen Besitzstempel der Bibliothek des auf der dänischen Insel Fünen gelegenen, im 16. Jahrhundert errichteten Schlosses Hvedholm weist eine Ausgabe des ‚Ius camerale‘ von Petrus Denaisius auf, 1652 in Straßburg gedruckt.⁷⁹ An weiteren Institutionenbibliotheken wäre die Sammlung des großherzoglich Mecklenburgischen Oberappellationsgerichts zu nennen, das 1818 mit Sitz in Parchim gegründet worden war. Aus dieser Provenienz stammt die bereits erwähnte, 1660 von Jakob Siverts und Christian Dürr in Speyer produzierte Ausgabe der ‚Pandectae camerales‘ von Wilhelm Roding.⁸⁰ Die 1570 in Basel gedruckte Ausgabe der ‚Singularium observationum‘ von Joachim Münsinger von Frundeck aus dem Vorbesitz von Johann Fichard zeigt einen handschriftlichen Vermerk, der den Übergang des Buches von der Wolfenbütteler Hauptkirche Beatae Mariae Virginis an das Herzogliche Gymnasium im Jahr 1713 bezeugt.⁸¹ Schließlich geht eine 1663 in
3.8106 Rara); Manfred Weber: Eine verbrannte Adelsbibliothek des 16. Jahrhunderts? Die Büchersammlung von Gundacker von Starhemberg, in: Jahrbuch für Buch- und Bibliotheksgeschichte 6 (2021), S. 29–64 (hier S. 52 f. u. Anm. 85). Wie Anm. 64; Michael Schütterle/Felicitas Marwinski: Rudolstadt 1 Historische Bibliothek der Stadt Rudolstadt, in: Friedhilde Krause (Hrsg.), Handbuch der Historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 20: Thüringen H–R. Hildesheim/Zürich/New York 1999, S. 302–315 (hier S. 304 f.). Johann Meichsner: Decisionum diversarum causarum in Camera Imperiali iudicatarum […], Bd. 1–4. Mainz: 1663 (VD 17, 1:019931A; Signatur: 1a 7906 Rara); verzeichnet in: Bibliothek der Mecklenburgischen Ritter- und Landschaft, Bd. 2,1: Rechts- und Staatswissenschaften. Rostock 1859, S. 46; Karl Heinz Jügelt: Bestandsgeschichte, in: Friedhilde Krause (Hrsg.), Handbuch der Historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 16: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg. Hildesheim/ Zürich/New York 1996, S. 117–133 (hier S. 131). Petrus Denaisius: Ius camerale sive novissimi iuris compendium […]. Straßburg: Eberhard Zetzner, 1652 (VD 17, 1:020253E; Signatur: 4.3204 Rara); (Stand: 26.01. 2022). Wie Anm. 17; Gerhard Heitz: Landstädtische Deputierte im mecklenburgischen Landtag (1794– 1819), in: Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich (Hrsg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag. Leipzig 2001, S. 374–392 (hier S. 380). Wie Anm. 49; Glaubenslehre, Bildung, Qualifikation. 450 Jahre Große Schule in Wolfenbüttel. Ein Beitrag zur Geschichte des evangelischen Gymnasiums in Norddeutschland. Berlin 1993.
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Amsterdam erschienene Ausgabe der ‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail auf eine Lesegesellschaft an einem unbekannten Ort zurück.⁸² Etwa zehn Exemplare stammen aus geistlichen Einrichtungen, wobei mengenmäßig Jesuitenkollegien dominieren. Bereits erwähnt wurde das Exemplar mit zwei Teilbänden des ‚Symphorematis supplicationum‘ von Paul Matthias Wehner in frühen Frankfurter Drucken aus dem Vorbesitz des Heidelberger Jesuitenkollegs. Nach dem Westfälischen Friedens verließen die Jesuiten die Neckarstadt in Richtung Mainz, wo das Buch einen Besitzvermerk des oberrheinischen Jesuitennoviziats erhielt. Mit der Auflösung des Jesuitenordens 1773 fiel der Band an die Kurfürstliche Universitätsbibliothek in Mainz, was durch einen entsprechenden Stempel gekennzeichnet wurde. In der napoleonischen Zeit kamen schließlich von dort Dubletten in die Rats- oder Stadtbibliothek Speyer, die heute in der Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom aufbewahrt werden.⁸³ Das Mainzer Jesuitenkolleg erwarb weiter 1728 aus dem Vorbesitz des bereits erwähnten Kanonikers Georg Theodor Güth eine 1686 von Christoph Olff in Speyer verlegte Ausgabe des ‚Concepts‘ von Jakob Blum, die auf demselben Weg nach Speyer gelangte.⁸⁴ Eine 1738 in Köln erschienene Ausgabe des ‚Processus cameralis‘ gelangte vor 1773 an das 1560 gegründete Trierer Jesuitenkolleg.⁸⁵ Das Freiburger Jesuitenkolleg markierte eine 1598 in Speyer von Bernhard Albin gedruckte Ausgabe der ‚Pandectae camerales‘ von Wilhelm Roding im Jahr 1664 als seinen Besitz.⁸⁶ Schließlich wäre das Jesuitenkolleg im thüringischen Heiligenstadt zu nennen, aus dem der sich zeitweise im Besitz von Isidor Keppler befindende Druck der ‚Cammergerichts Ordnung‘ von Raphael Seiler stammt⁸⁷. Daneben stehen vier Provenienzen von Klöstern anderer Orden. Die zuerst David Schmidlin gehörende Ausgabe der ‚Singularium observationum‘ von Joachim Münsinger von Frundeck zeigt zwei weitere
Andreas Gail: Practicarum observationum tam ad processum Judiciarium […] Editio postrema correctior Ex ultimâ Recognitione Gualteri Gymnici […]. Amsterdam: Johannes Stammius, 1663 (Signatur: 3.8901 Rara). Wie Anm. 42; Schlechter: Bücher aus der Bibliotheca Palatina (wie Anm. 42), S. 379 f. u. S. 386, Nr. 13. Wie Anm. 27. Jakob Blum: Processus cameralis, Ex Ordinationibus Cameralibus […]. Köln: Wilhelm Metternich Witwe u. Erben, 1738 (Signatur: 5.1636 Rara); Richard Laufner: Bestandsgeschichte, in: Berndt Dugall (Hrsg.), Handbuch der Historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 6: Hessen M–Z, RheinlandPfalz A–Z. Hildesheim/Zürich/New York 1993, S. 233–236 (hier S. 234). Wie Anm. 6; Vera Sack: Die Inkunabeln der Universitätsbibliothek und anderer öffentlicher Sammlungen in Freiburg im Breisgau und Umgebung. Wiesbaden 1985 (Kataloge der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau, Bd. 2,1), S. XXIII–XXVI. Wie Anm. 71; Hans-Georg Aschoff: Das Jesuitenkolleg in Heiligenstadt, in: Jahrbuch für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensgeschichte 11 (2015), S. 5–38.
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Besitzvermerke. Der erste weist auf das Benediktinerkloster Mehrerau bei Bregenz, der zweite auf das Prämonstratenserstift Wilten, heute in einem Stadtteil von Innsbruck gelegen. Es musste im 19. und 20. Jahrhundert in Zeiten wirtschaftlicher Notlagen Bibliotheksbestände verkaufen⁸⁸. Eine vierbändige, 1617 in Frankfurt am Main gedruckte Ausgabe des Werkes ‚De commissariis, et commissionibus Camerae Imperialis‘ von Rutger Ruland, Jurist und Syndikus von Hamburg, stammt aus dem 1803 aufgehobenen Augustinerchorherrenstift Schlehdorf (Schlechdorf ) am Kochelsee⁸⁹. Schließlich wäre die 1604 in Speyer gedruckte, fünfbändige Ausgabe des Werks ‚Urtheil und Beschaydt am hochlöblichen Kayserlichen Cammergericht‘ von Raphael Seiler zu nennen. Sie stammt aus dem 1666 gestifteten Piaristenkloster Schlackenwerth, dessen Bibliothek 1877 in den Besitz der Stadt überging und dann nach und nach zerstreut wurde.⁹⁰
6 Marginalien und Einbände Etliche Bände des Fonds der kammergerichtlichen Literatur zeigen die üblichen Bearbeitungsvermerke wie Unterstreichungen und Marginalien. Einem Sammelband unter anderem mit dem 1620 in Frankfurt am Main gedruckten Werk ‚De processibus augustissimi Camerae Imperialis‘ von Christophorus Schwanmann, Jurist und ab 1593 am Reichskammergericht in Speyer tätig, ist ein sechsseitiges handschriftliches Inhaltsverzeichnis vorgebunden.⁹¹ Vergleichbar aufwendig wurde das 1625 in Speyer gedruckte ‚Ius camerale‘ von Petrus Denaisius mit einem vierseitigen handschriftlichen Register versehen.⁹² Bereits erwähnt wurde der bibliographische Vermerk zu einem Druck eines Werks von Simon Günther von der
Wie Anm. 48; Alois Niederstätter: Mehrerau, in: Ulrich Faust/Waltraud Krassnig (Hrsg.), Die benediktinischen Mönchs- und Nonnenklöster in Österreich und Südtirol. St. Ottilien 2001 (Germania Benedictina, Bd. III,2), S. 491–525; Sebastian Huber/Hannelore Steixner: Innsbruck 4 Bibliothek des Prämonstratenser-Chorherrenstiftes Wilten, in: Handbuch der Historischen Buchbestände in Österreich, Bd. 4: Steiermark, Tirol, Vorarlberg. Hildesheim/Zürich/New York 1997, S. 148–151. Rutger Ruland: De commissariis, et commissionibus Camerae Imperialis, Bd. 1–4. Frankfurt am Main: Johann u. Nikolaus Ruland/Nikolaus Hoffmann d. Ä., 1617 (VD 17, 1:020101B; Signatur: 30.266/1–4 Rara); Norbert Backmund: Die Chorherrenorden und ihre Stifte in Bayern. Passau 1966, S. 137–139; ADB 29, S. 635 f. Wie Anm. 10; Josef Hubatschek: Schlackenwerths Geschichte in Jahreszahlen, in: Schlackenwerth. Die böhmische Heimat der badischen Markgräfin Franziska Sibylla Augusta. Ein Buch der Erinnerungen, bearb. von Josef Hubatschek. Rastatt 1972, S. 103–112 (hier S. 104 u. 107). Christophorus Schwanmann: De processibus augustissimi Camerae Imperialis iudicii Libri Duo […]. Frankfurt am Main: Johann Berner, 1620 (VD 17, 1:020038U; Signatur: 30.285 Rara); ADB 33, S. 187 f. Wie Anm. 16.
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Hand von Johann Erhard Baur. Ähnliche Eintragungen finden sich in der ‚Apologia meri imperii‘ von Aggaeus van Albada⁹³ sowie in einer 1572 erschienenen Ausgabe des ‚Camergerichts Bei unnd end urthail‘ von Raphael Seiler.⁹⁴ Neben den Versen Lite cadunt magnae […] von Johann Höefel ist ein handschriftlicher Vermerk in der 1664 in Frankfurt am Main gedruckten Ausgabe des ‚Processus cameralis‘ von Jakob Blum aus dem Besitz von J.W.J. Fuxius bemerkenswert, der ebenfalls vor den Folgen unnötiger Prozesse warnt: Litigantibus tribus opus est/ Sacco chartarum, Sacco pecuniarum et Sacco patientiae. Hinc. Vers[us]. Litiger aedificet, qui vult cito pauper haberi. Der erste Teil dieses Eintrags findet sich in den ‚Conciones Dominicales Academicae‘ des Jesuiten Caspar Knittel (1644–1702), die erstmals 1687/88 erschienen sind⁹⁵. Bei den Einbänden der Speyerer Sammlung kammergerichtlicher Literatur überwiegen schlichte Gebrauchseinbände. Für das 16. Jahrhundert sind helle Lederbände mit blinder Stempelverzierung typisch, während im 17. Jahrhundert schmucklose helle Pergamentbände, teils lediglich mit Streicheisenlinien, die Standardausführung darstellen. Bei den lederbezogenen Holzdeckelbänden des 16. und frühen 17. Jahrhunderts fallen bei immerhin drei Exemplaren auf dem Vorderdeckel inhaltlich passende Justitia-Platten auf, die wie üblich auf dem Hinterdeckel als Gegenplatte eine Lukrezia-Darstellung zeigen. Zwei dieser Einbände sind mit blinder Stempelverzierung vergleichsweise unaufwendig gestaltet.⁹⁶ Der dritte Band ist dagegen aus braunem Leder und deutlich repräsentativer gefertigt. Die Platten in Rautenform werden von mauresken Eckstücken gerahmt. Dieselbe Justitia-Darstellung findet sich ebenfalls auf einem Einband eines 1596 in Frankfurt an der Oder erschienenen Drucks, der heute in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden aufbewahrt wird. Außen bildet eine stark beriebene Rolle mit Personen in einer Prozession mit Musikanten den Abschluss. Die Stempel auf dem mit dem Monogramm G.I.L. und dem Bindejahr 1597 gezeichneten, heute Speyerer Einband waren ursprünglich vergoldet.⁹⁷
Wie Anm. 8. Raphael Seiler: Camergerichts Bei unnd end urthail […]. Frankfurt am Main: Martin Lechler/ Sigmund Feyerabend, 1572 (VD 16, S 5374; Signatur: 29.2158 Rara). Wie Anm. 62; Caspar Knittel: Conciones Dominicales Academicae In praecipua totius Anni Festa […]. Prag 1718, S. 196; NDB 12, S. 190. Dies trifft zu auf die 1583 in Köln gedruckte, Kaspar Stolshagen gehörende Ausgabe der ‚Practicarum observationum‘ von Andreas Gail (wie Anm. 70) und auf einen Sammelband mit zwei 1572 in Frankfurt am Main gedruckten Werken von Raphael Seiler (wie Anm. 94) sowie Compendiosum sacri Romani imperii Camerae Imperialis, totius ordinationes enchiridium […]. Frankfurt am Main: Sigmund Feyerabend, 1572 (VD 16, S 5373; Signatur: 29.2158 Rara [2]). Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium, praesertim Imperialis Camerae, quam causarum decisiones pertinentium […]. Köln: Johann Gymnich III., 1595 (VD 16,
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Abb. 5: Andreas Gail: Practicarum observationum, tam ad processum iudiciarium, praesertim Imperialis Camerae, quam causarum decisiones pertinentium […]. Köln: Johann Gymnich III., 1595. Vorderdeckel unter anderem mit Justitia-Platte. LBZ/ Pfälzische Landesbibliothek Speyer, 3.9281 Rara.
G 69; Signatur: 3.9281 Rara); Einbanddatenbank (wie Anm. 46), Platte p000935 aus der nicht näher bestimmbaren Werkstatt w007611.
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Lediglich zwei Buchbinderwerkstätten lassen sich identifizieren. Auf drei Buchbinderbände ist der sechsbändige Druck von ‚Symphorematis supplicationum‘ von Paul Matthias Wehner verteilt, der von 1603 bis 1614 in Frankfurt am Main erschienen ist. Die Einbände, die die Plattenpaare Kreuzigung und Auferstehung sowie eine auf 1589 datierte Tugendenrolle zieren, entstanden in der Augsburger Werkstatt von Hans Lietz.⁹⁸ Eine weitere Tugendenrolle mit Fides, Spes, Caritas und Prudentia findet sich auf dem ‚Formularium, ad tractatum de commissariis, et commissionibus Camerae Imperialis‘ von Rutger Ruland, 1599 in Basel und Frankfurt am Main erschienen. Der Einband entstand in einer Memminger Werkstatt.⁹⁹
7 Zusammenfassung Die erst 1921 gegründete Pfälzische Landesbibliothek hat im Lauf der Zeit eine große Sammlung von Drucken des 16. bis 18. Jahrhunderts zusammengetragen, die auf Verfasser zurückgehen, die am Reichskammergericht in Speyer oder in seinem Umfeld bis zu seiner Zerstörung 1689 gearbeitet haben. Sie sind teils in vielen Auflagen als Produkte Speyerer Verleger und Drucker erschienen und häufiger überliefert, teils handelt es sich um überaus seltene Drucke. Große Nachfrage bestand offensichtlich nach dem ‚Ius camerale‘ von Petrus Denaisius. Hinzu kommen viele im deutschen Sprachraum und darüber hinaus erschienene Ausgaben. Für die Tradierung reichskammergerichtlichen Wissens von Speyer nach Wetzlar ab 1689 spielte, wie auch die Speyerer Bestände zeigen, der Verleger Christoph Olff eine große Rolle. Exemplare mit Bezug zur Region finden sich überwiegend in dem Teilbestand, der auf die Bibliothek des Gymnasiums am Kaiserdom zurückgeht, das in der Tradition des im 16. Jahrhundert gegründeten städtischen Gymnasiums steht. Hier sind vor allen Dingen die wenigen Bände aus der ehemaligen Stadt- oder Ratsbibliothek Speyer bemerkenswert, die auf Ratskonsulenten sowie Stadt- oder Ratsschreiber des 18. Jahrhunderts zurückgehen. Es lässt sich konstatieren, dass es der Pfälzischen Landesbibliothek im Lauf der Jahrzehnte gelungen ist, einen nicht unerheblichen Teil der Buchproduktion antiquarisch zu erwerben, bei der den teils sehr seltenen Produkten Speyerer Drucker ein besonderer Wert zukommt. Nicht
Armin Schlechter: Augenweide und Schutz. Einbände des 15. bis 17. Jahrhunderts. Aus den Beständen der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer. Koblenz 2008 (Schriften des Landesbibliothekszentrums Rheinland-Pfalz, Bd. 4), S. 90 f., Nr. 40; Einbanddatenbank (wie Anm. 46), w004352, p002792 u. p002787. Rutger Ruland: Formularium, ad tractatum de commissariis, et commissionibus Camerae Imperialis […]. Basel: Jakob Foillet u. Frankfurt am Main: Johann Gymnich IV., 1599 (VD 16, R 3708; Signatur: 29.2180 Rara); Einbanddatenbank (wie Anm. 46), Rolle r003206 aus der Werkstatt w004277.
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wenige antiquarische Erwerbungen gehen auf heute nicht mehr existierende oder in ihrem Bestand erheblich geschmälerte geistliche und weltliche Institutionenbibliotheken zurück; die letztlich zufällig an ihren heutigen Standort gekommenen Exemplare sind immerhin noch Mosaiksteine ihrer früheren Geschichte. Im Sinne eines Fallbeispiels lassen die einzelnen Exemplare, die heute in der Pfälzischen Landesbibliothek Speyer aufbewahrt werden und zu einem großen Teil Provenienzvermerke aufweisen, Nutzergruppen erkennen, wobei erwartungsgemäß Juristen und entsprechende Institutionen dominieren. Aber auch Geistliche und Klöster haben Ausgaben reichskammergerichtlicher Literatur besessen. Schwerpunktmäßig gehen die heute Speyerer Bestände auf den deutschsprachigen Raum südlich der Mainlinie zurück. Aber auch der deutschsprachige Norden und Osten sind mit Exemplaren vertreten, was Rückschlüsse auf die Reichweite und Bedeutung des Speyerer Reichskammergerichts ermöglicht.¹⁰⁰ Die Untersuchung der Provenienzen der historischen reichskammergerichtlichen Drucke in anderen Bibliotheken würde ohne Zweifel zu neuen Erkenntnissen zur Rezeption dieser Literaturgattung führen. Beispielhaft lässt sich dies bei einem weiteren, heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz aufbewahrten Exemplar der 1601 in Frankfurt am Main gedruckten ‚Symphorema supplicationum‘ von Paul Matthias Wehner aufzeigen. Es zeigt den handschriftlichen Besitzvermerk Gabriel Clemens Norib. I.U.D. Ao. post natum Christum MDCII Mense April Spirae Nemetum. Der 1638 gestorbene Nürnberger Jurist Gabriel Clement lässt sich in Zusammenhang mit einem Prozess vor dem Stadtgericht seiner Heimatstadt 1610 sowie 1619 vor dem Reichskammergericht fassen; sein früherer Aufenthalt 1602 in Speyer sowie der dortige Kauf eines reichskammergerichtlichen Fachbuchs überliefert nur der heute in Berlin aufbewahrte Band. Offensichtlich wurden von Speyerer Buchhändlern bis 1689 nicht nur vor Ort hergestellte Titel zum Reichskammergericht verkauft, sondern auch Produkte auswärtiger Drucker.¹⁰¹
Vgl. beispielsweise Nils Jörn: As dat in Speyr ordinirt wier. Die positiven Auswirkungen des Reichskammergerichts zu Speyer auf Norddeutschland, in: Armin Schlechter/Joachim Kemper/Anja Rasche (Hrsg.), Von der mittelalterlichen „Kuhstadt Speyer“ bis zur Dom-Restaurierung 1957/61. Ubstadt-Weiher/Heidelberg/Neustadt an der Weinstraße/Basel 2018 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Speyer und ihrer Umgebung, Bd. 19), S. 121–141. Wie Anm. 65. Besitzvermerk nach VD 17, 1:020269G; Signatur: 2, Gx 4550–1; Manfred Hörner/ Margit Ksoll-Marcon: Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Reichskammergericht, Bd. 9. München 2002 (Bayerische Archivinventare, Bd. 50/9), S. 18 f., Nr. 3246 u. S. 647.
Autorenverzeichnis Anette Baumann, Prof. Dr., ist Professorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Leiterin der Forschungsstelle der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V. in Wetzlar. Stephan Brakensiek, Dr., ist Kustos der Graphischen Sammlung des Fachs Kunstgeschichte der Universität Trier. Seine Forschungen und kuratorischen Arbeiten konzentrieren sich vor allem auf den Bereich der Druckgraphik des 18. Jahrhunderts sowie auf sammlungshistorische und -theoretische Fragestellungen. Horst Carl, Prof. Dr., ist Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen und stellvertr. Sprecher des SFB/TRR 138 „Dynamiken der Sicherheit“. Wim Decock, Prof. Dr. (PhD KULeuven und Roma Tre, 2011), ist Professor für Römisches Recht, Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung an den Universitäten von Louvain-la-Neuve (UCLouvain) und Lüttich (ULiège) in Belgien. Sabine Holtz, Prof. Dr., leitet die Abteilung Landesgeschichte des Historischen Instituts der Universität Stuttgart; zugleich ist sie die Vorsitzende der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg. Ihre Forschungsgebiete liegen im Kontext der vergleichenden frühneuzeitlichen Landesgeschichte des deutschen Südwestens besonders in der Bildungs-, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte sowie in der Geschichte der Religiosität/Konfessionen. David von Mayenburg, Prof. Dr., ist seit 2014 Lehrstuhlinhaber für Neuere Rechtsgeschichte, Geschichte des Kirchenrechts und Zivilrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete liegen im Bereich des mittelalterlichen Kirchenrechts, der Konfliktlösung im ländlichen Raum an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit, sowie der Strafrechtsgeschichte. Tobias Schenk, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen im Projekt zur Erschließung der Akten des kaiserlichen Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen der Reichshofrat als vormoderne Organisation, Praktiken kollegialen Entscheidens und die Geschichte Brandenburg-Preußens. Armin Schlechter, Dr., leitet die Abteilung Sammlungen im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz. Seine Forschungsgebiete sind die Buch- und Bibliotheksgeschichte des deutschen Südwesten, die Geschichte der Pfalz von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert sowie die Heidelberger Romantik. Alain Wijffels, Prof. Dr., ist Emeritus der beiden Löwener Universitäten, wo er weiter noch rechtshistorische Fächer unterrichtet. Seine Forschungsgebiete betreffen zurzeit hauptsächlich die englisch-hanseatischen Beziehungen vom Ende des Mittelalters bis Anfang des 17. Jh., und die Werke von Alberico Gentili. Diese Untersuchungen sollen die Bedeutung des Rechts und der Rechtswissenschaft für die Wandlungen der „international governance“ während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit darstellen. Cornel Zwierlein , PD. Dr., ist Privatdozent, in Frühneuzeitgeschichte promoviert und habilitiert und lehrt Frühneuzeitliche Geschichte, derzeit an der FU Berlin. https://doi.org/10.1515/9783111070346-012
Index Aachen 24, 79, 88 Abbas, Glossator 209 Accursor, Glossator 209 Afrika 141 Albada d. J. Aggaeus von (gest. 1610) 259 f., 265, 267, 281 Albert, Erzherzog (1559–1621) 145, 252, 259 Albin, Bernhard (†1600) 259 f., 279 Alciato, Andrea (1492–1550) 207 Aldebrandini, Silvestro (1499–1558) 174 Alexander VII., Papst (1431–1503) 188 f. Alexy, Robert 39 Altdorf 114, 159 f., 248 Althusius, Johannes (1563–1638) 221, 228 f. Alzey 266 Amberg 183 Amerika 125, 141 Amsterdam 258 Anhalt, Christian von (1568–1630) 91 f., 230 f. Antwerpen 119–121, 145, 158, 241 Aquin, Thomas von (1225–1274) 10, 139 Aristoteles (384 v. Chr.–322 v. Chr.) 10, 139, 211, 229, 243 Aschaffenburg 74 Ascheri, Mario 172, 174 Äthiopien 141 Augsburg, Reichsstadt 113, 132, 195, 203, 274, 283 Augustinus (von Hippo) (354–430) 225 Aventin, Johannes (1477–1534) 208 Aytta, Viglius van (1507–1577) 122 Azo, Glossator 209 Backer, Nikolaus 202, 207, 215 Baden, N. N. Markgrafen von 26, 35, 57, 62, 84, 114, 125, 137, 166, 199, 216, 268 Baeck, Louis 140 Balbian, Joost van (1543–1616) 183 Baldus (de Ubaldis) (1319/1327–1400) 17, 207, 209, 215 Bamberg, Hofgericht 56 Bañez, Domingo (1528–1604) 142 Baron, Hans 208, 233 https://doi.org/10.1515/9783111070346-013
Bartolus (de Sassoferato) (1374–1357) 176, 183, 207, 209, 215, 229 Basel, Reichsstadt 6, 11, 182, 184, 196, 208, 216 f., 222 f., 267, 269 f., 276, 278, 283 f. Battista de Luca, Giovanni (1614–1683) 143 Baudouin, François (1520–1573) 199, 207 Bauer, Johannes (nachweisbar 2. H. d. 17. Jhs.) 158, 183, 264 Baumann, Johann Valentin (nachweisbar um 1790) 266 Baumeister, Georg (gest. 1640) 262 Baur, Johann Erhard (nachweisbar 1726–1764) 267, 281 Bayern, Albrecht V. Herzog (1528–1579) 4, 87, 216, 257, 272, 280 Beaulieu 197 Bellarmino, Roberto (1542–1621) 141 Bello, Andres (1781–1865) 12, 143, 223 Bentheim-Tecklenburg, N. N. Graf von 79 Berchtold, Stephan 204, 222 Berlin 70, 78, 84, 88, 96 f., 187, 274, 276, 284 Bernegger, Matthias (1582–1640) 213, 230 Berthold, Stephan 132, 203 Besançon 195 Beutterich, Pierre 196–198 Bezas, N. N. (1519–1605) 227, 229–231 Bismarck, Otto von 24 Blum, Jakob († 1619) 259, 262, 264 f., 275 f., 279, 281 Bodin, Jean (1529/30–1596) 207 f., 221, 224, 229, 232 Bologna 208 Botzheim, Bernhard von 196 Botzheim, Johann Wilhelm von (1550–1600) 194 f., 200, 210 Boucher, Jean (1550–ca. 1644) 230 f. Bourdieu, Pierre 16, 85 f. Bourges 195 Brabant 120, 124 Brandenburg, Johann Georg Markgraf von (1577– 1624) 61, 88, 114, 222, 230, 278 Brandenburg-Ansbach, Georg Friedrich Markgraf von (1539–1603) 33, 39
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Index
Braunschweig-Lüneburg-Harburg, Wilhelm Herzog von (1564–1642) 190 Braunschweig-Wolfenbüttel, Julius Herzog von (1528–1589) 199 Bregenz, Benediktinerkloster Mehrerau 272, 280 Bregenz 272, 280 Bremen, Herzogtum 275 Bremen, Stadt 275 Breslau 275 Bretschneider, Heinrich Gottfried von 98 Brüssel, fürstliche Regierung 118–121, 123 f., 140, 156 Brutus, Ludius Junius († angeb. 509 v. Chr.) 227 f., 233 Bucer, Martin (1491–1551) 194, 196, 200, 208, 213 f., 227 Bulgarus, Glossator 209 Burgund 9 Busetti, Scipione (1676) 176 Calvin, Johannes (1509–1564) 194, 200, 227 f. Carlebach, Ernst 258 Cato 228 Chauliac, Guy de (ca. 1298–1368) 165 Chelius, Philipp 195 f., 201 Childerich, merowingischer König (reg. 457– 482) 228 Childerich III., merowingischer König (geb. ca. 720–737, reg. 743–751) 228 China 141 Chorinsky, Ignaz Dominik Graf von (1729–1792) 275 Christus 226 Cicero, Marcus Tullius (106 v. Chr.–43 v. Chr.) 210, 228 Cisner, Nikolaus (1529–1583) 200, 259, 268, 274 Clemens VI., Papst (ca. 1290–1352) 164, 169 Cocceji, Samuel von (1679–1755) 46 f., 49, 53, 83 f., 96 f. Condé und Montmorency, Henri I. de (1534– 1614) 197 Connan, François (1506–1551) 207 Conrad, Zacharias (1683–1734) 161, 236, 239, 244 Conring, Hermann (1606–1681) 162, 178 Covarruvias 225 Crollius, Oswald (ca. 1560–1609) 270
Crollius, Porphyrius (ca. 1563–1611/14) 270 f. Cujas, Jacques (1520–1590) 205, 207 Cunibert, Augustin Franz (nachweisbar Anfang 18. Jh.) 274 Cynus, Glossator 195, 209 Decius, Glossator 209 Deckherr (von Wallhorn), Johannes (1650–1694) 259, 264 f., 277 Delminio, Giulio Camillo (1480–1544) 243, 248 Dempsey, Richard 140 Denaisius, Petrus (1560–1610) 259–262, 265 f., 274–278, 280, 283 Deutschland 2, 19, 37, 49 f., 53–54, 72, 82, 104, 124, 128, 130, 134, 164, 166 f., 181, 184 f., 193, 196 f., 208, 223, 258, 272, 279 Dingelstädt 276 Dinges, Martin 167 f., 175 Dithfurt, Franz Dietrich von (1738–1813) 98 Dohna, Fabian von (1550–1621) 225 Dôle 195 Dolezel, Eva 250 Donaueschingen, fürstlich fürstenbergische Hofbibliothek 277 Dorfner, Thomas 87 f. Douai, Universität 118 Douaren, François (1509–1559) 207 Drechsel, Walter (um 1535–1595) 268 Dresden, Kunstkammer 78, 251 Dresden, Stadt 78, 96, 247, 251, 281 Dürr, Christian (nachweisbar 1655–1667) 262 f., 276, 278 Düsseldorf, Oberlandesgericht 32, 140 Eck, Johannes (1486–1543) 148 Eferding, fürstlich starhembergische Bibliothek 277 Elsaß, Ballei des Deutschen Ordens 221 Emden 223 Ensisheim 269 Erbertz, Bernhard 200 Erbertz, Elisabeth 200 Erbertz, Johannes Thomas 200 Erfurt, Augustinerorden 276 Erfurt, Universität 276 Erythraeus, Valentin (1521–1576) 199
Index
Esslingen, Reichsstadt 113, 182, 222 Ewich, Johannes (1525–1588) 181, 184–187, 190 Falk, Ulrich 41 FC Schalke 04 34 Fechner, Jörg-Ulrich 235 f. Feenstra, Robert 140 Ferdinand II., Kaiser 78 Fichard, Johann (1512–1581) 270, 278 Fickler, Johann Baptist (1533–1610) 230 Finale, ligurisches Reichslehen 91, 180 Fischer, Christian Gabriel (1686–1751) 251 Fischer, Thomas 37–38, 44, 51, 68, 93 Fleck, Matthaeus (1524–1592) 2, 34 f., 72, 187, 214 Florenz 180, 258 Florus, Marcus (1567–1612/1626) 194–196, 199, 233 Fögen, Marie-Theres 98 Förster, Johann Christian (1735–1798) 254 Foucault, Michel 17, 22, 39, 50, 82, 84 Franken 56, 228 Frankfurt/Main, Messe 264 Frankfurt/Main, Reichsstadt 74, 113, 183, 239, 260, 264 f., 268, 270, 273–275, 277, 280, 280 f., 283 f. Frankfurt/Oder, Universität 185 Frankreich 11, 13, 31, 73, 118, 123, 194–197, 199 f., 221, 225, 230 f. Freiburg, Jesuitenkolleg 279 Freiburg im Breisgau, Universität 269 Freiburg im Breisgau, Universitätsbibliothek 277 Friaul 189 Friedrich der Große (1712–1786) 53 Friedrich III., Kaiser (1415–1493) 59, 129, 196 Friedrichs, Markus 74 Fritzsche, Friedrich August 15 Fuchs, Gustav 23 Fugger, Bankiersfamilie 148 Fünen, Schloss Hevedholm 278 Fürst und Kupferberg, Joseph Maximilian von (1717–1790) 79 Fuxius, J. W. J. (nachweisbar Mitte des 18. Jhs.) 275, 281
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Gail (Gayl), Andreas (1526–1587) 138, 258 f., 266–268, 270–272, 275 f., 279, 281 f. Galenos von Pergamon (ca. 129–ca. 216 n. Chr.) 165 Gastaldi, Girolamo (1616–1685) 187–191 Geiger, Ulrich 200 Geiger, Ursula 200 Gentili, Alberico (1552–1608) 224, 226 Genua, Republik 91, 180, 189 Gesner, Conrad (1516–1565) 244, 246 Girschner, Christoph (1552–1629) 160 Glogau 275 Godefroy, Denis (1549–1622) 207 f. Goeth, Johann 259, 275, 278 Gordley, James 140 Gordon, Barry 140, 144 Görz (ital. Gorizia) 189 Göttingen, Juristenfakultät 74 Göttingen, Universität 58 Gouveia, António (1505–1565) 207 Graeter, Johann Christoph (nachweisbar um 1800) 267 Graz, Oberlandesgericht 32, 89, 272 Gregor XIII., Papst (1502–1585) 140 Groß, Huldreich (1605–1677) 238 Grotius, Hugo (1583–1645) 140, 143 Gschließer, Oswald von 28, 55, 61 Guericke, Otto von (1602–1689) 245 f. Günther, Simon (nachweisbar von 1607–1615) 259–262, 267, 275, 280 Güth, Georg Theodor (gest. 1728) 276, 279 Habermas, Jürgen 36, 39 Hagenau 201, 205, 220, 232 Halicarnassos, Dionysios (54 v. Chr.–8 n. Chr.) 213 Halle, Franke’schen Stiftungen 249 Halle, Universität 58, 97, 114, 239 Haloander, Gregor (ca. 501–1531) 205, 207 f. Hamburg 113, 258, 275, 280 Hannover 78, 89, 96 Harbarth, Stephan (geb. 1971) 51 Harmenopoulos, Konstantin (1320–1385) 208, 213 Hartmann, Melchior (nachweisbar um 1600) 260
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Hartmanni d. Ä., Hartmann (1495–1547) 259 Hartmanni d. J., Hartmann (1523–1586) 259 Hauth, Philipp (1760–184) 266 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) 64, 96, 138 Heidelberg, Jesuitenkolleg 267 Heidelberg, Stadt 196, 198, 200, 208, 223, 229, 258, 265, 267, 274 Heidelberg, Universität 6, 199, 270 Heiligenstadt 279 Hellermann, Philipp Heinrich (1725–1806) 268, 270 f. Helmstedt, Universität 61, 114, 174, 199 Henneberg, Berthold von, Mainzer Kurfürst (1442–1505) 132 Henri III., französischer König (1551–1589) 230 f. Henri IV., französischer König (1553 -–1610) 230 f. Herberstein, Johann Bernhard von († 1685) 275 Hessen-Darmstadt, Ludwig V. von (1577–1626) 183 Hessen-Darmstadt, N. N. Landgraf von 90 Höefel, Johann (1600–1683) 272 f., 281 Hofmann, Johann Friedrich (1660–1735) 259, 265, 277 Hommel, Karsten 236–239 Honigmann, David 274 Höpker-Aschoff, Hermann (1883–1954) 51 Hörnigk, Ludwig von (1600–1667) 178, 183 f. Hoscher, Johann Melchior (1764–1809) 98 Hotman, François (1520–1590) 199 Hugo, Gustav 15, 29 f., 70 Ianus, Glossator 209 Iason, Glossator 209 Imperato, Ferrante (1525?–1615?) 250, 253 Ingolstadt, Universität 144 Ingrassia, Giovanni Filippo (1510–1580) 177 Irnerius (von Bologna) (um 1050–um 1130) 208 Isabelle, Erzherzogin (1566–1633) 145 Italien 53, 91, 118, 154, 168, 177, 187, 196, 243 Iunius, Melchior d. J. (1572–1613) 203 f., 222 Iustinian, Kaiser (482–565) 208 Jansen, Nils Japan 141
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Jena, Hofgericht 56 Jena, thüringische Universitäts–und Landesbibliothek 277 Jena, Universität 46, 114, 272 Joseph II., Kaiser (1741–1790) 48, 52 f., 55, 68, 90, 97 f. Jundt, Joseph (gest. 1615) 232 Jussey, Jeanne 196 Kämmerlin, Georg (Anf. 16. Jh.) 182 Karl IX., König in Frankreich (1550–1574) 197 Karl V., Kaiser (1500–1558) 77, 112 Karlsruhe 37 f., 68 Kembach, Elias (nachweisbar Anfang 17. Jh.) 260 f. Keppler, Isidor (1715–1792) 276, 279 Ketelhodt, Carl Gerd von (1738–1814) 275, 278 Kimmich (Kümmich), Johannes (nachweisbar von 1721–1734) 267 Kirchhoff, Laurentius (um 1605) 122 Kirchner, Michael Achatius von († 1734) 89 Klee, Johann Christoph Burkhardt von der (1655– 1705) 47, 74, 79, 95 Kleist, Heinrich von (1777–1811) 99 Knittel, Caspar (1644–1702) 281 Koblenz, Stadt 275, 283 Köln, Reichsstadt 176, 181, 230, 266, 266–268, 270, 274, 276, 279, 281 Königsberg, Hofgericht 33, 45, 174, 251 Korff, Gottfried 241 Kötteritz (Köteritz), Johannes Heinrich von 274 Künßberg, Heinrich von (1801–1862) 32, 44 Lancken, Philipp Christoph von der (1617–1677) 275 Lang, Matthias 168 f. Lasco (Łaski), Johannes a (1499–1560) 208, 223 Latour, Bruno 30 f. Lauingen 268 Legnano, Giovanni (1320–1383) 224, 226 Leiden 258 Leipzig, Stadt 236 f. Leipzig, Universität 114 Leser, Wilhelm (1628–1689) 22, 72, 177 Lessius, Leonardus (1554–1623) 140 f., 143, 145–158 Lima, Colegio Máximo de San Pablo 144
Index
Limbach, Jutta (1534–2016) 51 Limperg, Bettina 51 Linné, Carl von (1707–1778) 246, 255 Lippe, Grafschaft 56 f. Lochner, Johann d. Ä. (gest. 1491) 182, 184 London, Stadt 19, 121, 185 Lothringen, Karl von (1567–1607) 230, 232 Löwen, Jesuitenkolleg 141 Löwen, Universität 118–120, 122 Lucca 173 Ludwig, Ulrike 77 Lugo, Juan de (1583–1660) 140, 143 Luhmann, Niklas 96 Lukretzia 281 Lüneburg 263 Luther, Martin 139, 148, 168 f. Lyncker, Christoph Nikolaus von (1643–1726) 58, 63, 95 f. Madrid 124, 142 Mainz, Jesuitenkolleg 279 Mainz, kurfürstliche Universitätsbibliothek 266, 279 Mainz, St. Stephan Stift 276 Mainz, Stadt 273 f., 276–279 Major, Johann Daniel (1634–1693) 248 f. Makkabäer 226 Manderscheid-Blankenheim, Johann von (Bischof von Straßburg) (1538–1592) 230 Marbach, Barbara 200 Marbach, Johann (1521–1581) 199 f. Marburg, hessisches Hofgericht 63, 114 Marburg, Stadt 270 Mariana, Juan de (1536–1624) 143 f. Mariss, Anne 254 Martinus, Glossator 145, 209 Maruhn, Armand 20, 63 Maximilian I., Kaiser (1459–1519) 132 Mecklenburg, Oberappellationsgericht 114, 278 Meichsner, Johann (1530–1589) 259, 274, 278 Meier, Justus 51, 233 Melanchthon, Philipp (1467–1560) 195, 210 f. Mercado, Tomas de (ca. 1520–1575) 142 f. Metzger, Matthäus 264 Meurer, Noë (1525/28–1583) 259, 265, 277 Middelburg 120 Molina, Luis de (1535–1600) 140, 142 f., 150
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Molsheim 200, 205 Montbéliard 196, 208 Moser, Friedrich Karl von (1723–1798) 90 f. Moser, Johann Jacob (1701–1785) 75, 92 München 1 f., 6, 16, 20 f., 26, 29, 40, 65, 67, 73 f., 76–78, 96, 114, 118, 121, 127 f., 159, 162 f., 166, 182, 184, 193, 197, 203, 206, 216, 223, 230, 244 f., 274, 284. nachprüfen!!! Muret, Marc-Antoine (1526–1585) 207 Muyden, G. van der (um 1553) 120 f. Mylius, Gottlieb Friedrich (1675–1726) 238 f. Mynsinger (Münsinger) von Frundeck, Joachim (1514–1588) 259, 269, 272, 276, 278 f. Napoleon I., Kaiser der Franzosen (1769–1821) 258 Nassau, N. N. Grafen 224 Neapel 52, 188 f., 253 Neesen, Claudia 235 Neickels, Caspar Friedrich (tätig um 1727) 235 Nero, Claudius Caesar Augustus Germanicus (37– 68) 229 Neuber, Wolfgang 247 f. Newton, Isaac (1643–1727) 251 f. Niederlande, habsburgische 10, 117–120, 122 f., 140 f., 145, 154 f., 157 f. Niederlande, nördliche 145 Noonan, John T. 151 f., 155 Norendorff, Heinrich (nachweisbar 1700–1733) 267 Nordfrankreich 164, 181 Nördlingen, Reichsstadt 108, 183 Nordrhein-Westfalen 32 Noue, François de la (1531–1591) 224 Nürnberg, Reichsstadt 160, 182 Oberitalien 180 f., 186 Oberursel 275 Obrecht, Daniel 195 Obrecht, Didymus 195 Obrecht, Georg (1547–1612) 11, 12, 193–196, 198–212, 214–218, 221–224, 226, 229, 231– 233 Obrecht, Georg Ulrich 200 Obrecht, Heinrich 195 Obrecht, Johann Thomas 219 Obrecht, Magdalena 200
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Obrecht, Ursula 200 Oestmann, Peter 65, 75 Oettingen, N. N. Fürst von 51 Öhringen 270 Oldendorp, Johann (1488–1567) 210 Olff, Christoph (nachweisbar 2. H. d. 17. Jhs.) 263, 267, 276, 279, 283 Olivi, Pierre de Jean (1248–1298) 149, 197 Oñate, Pedro (1568–1646) 144 Orléans 11, 195 f., 201, 210, 230 Ostasien 141 Österreich 21, 28, 32, 57, 61, 77, 84, 96, 168, 280 Ostrorog, Johann Jakob 224 Ostrorog, Sezdziwój (1375–1441) 224 Ostrorog, Stanislaw (um 1500) 223 Ostrorog, Waclaw (1545–1574) 224 Otto, Daniel (nachweisbar um 1600) 270 Paderborn, Bistum 56 f., 85, 175, 211 Padua 11, 181–183, 185 Palma, Hieronymus (gest. ca. 1640) 173 Pappus, Johann 199, 201 Paraguay 141, 144 Parchim 278 Paris, Conseil d’État 30 Paris, Stadt 141, 165 f., 170, 187, 195, 214, 230 Paris, Universität 165 Patrimonium Petri 189 Paulus, Apostel 209, 216 f., 229 Peilicke, Johann (1536–1618) 238 Peilicke, Wolfgang (1511–1596) 238 Peking 141 Perez, Antonio (1599–1649) 156 f. Peru 144 Petrus, Glossator 52, 209, 226 Pfalz-Neuburg, Philipp Ludwig von (1547–1614) 199 Pfalzgraf bei Rhein, Friedrich III. Kurfürst (1515– 1576) 196 Pfalzgraf bei Rhein, Johann Casimir (1543– 1592) 196 Pfalzgraf bei Rhein, Ludwig VI. (1539–1583) 197–200 Philipp VI., französischer König (1293–1350) 165 Pictor, Johannes 205
Pisa 188 Piscator, Theobald 205 Pius V., Papst (1504–1572) 154 Plantin-Moretus, Herausgeber 145 Polizian 208 Pomian, Kryzsztof 240 f., 243 Pommern, Hofgericht 77 Pompeius 228 Pothier, Robert Joseph (1699–1772) 143 Potsdam 24 Prag 23, 167, 217, 281 Preußen 33, 83 f., 97 Previdelli, Girolamo (1496–ca. 1534) 174–177 Publicola, Publius Valerius (gest. 503 v. Chr.) 233 Puebla 141 Pütter, Johann Stephan (1725–1807) 74 f., 81 Quedlinburg 245 Quicchelberg, Samuel (1529–1567) 248, 250–252
241, 243,
Rabelais, François (ca. 1494–1553) 31 Radbruch, Gustav (1878–1949) 18, 26 f. Ragusa 179 Ramus (1515–1572) 206 Rauchbar, Andreas von (1559–1602) 173 Regensburg, Reichsstadt 275 Regius, Henricus (1598–1679) 183, 196 Reich, Heiliges Römisches 5, 12, 18, 71, 73, 96, 118, 22, 131 f., 137 f., 145, 213, 217, 221, 227 Reigersberg, Heinrich Graf von (1770–1865) 51 Reuchlin, Johannes (1455–1522) 133, 135 Reutlingen 113, 182 Rhein 225, 265, 268 Rijswijk 257 Rittershausen, Konrad (um 1606) 159 f., 190 Riva de San Nazaro, Gianfrancesco (1480–ca. 1535) 173 Roding, Wilhelm (1549–1603) 259, 262–264, 267, 274, 278 f. Rogerius, Glossator 209 Rom, Jesuitenuniversität 140 Rom, Stadt 141, 144, 188, 190, 267 Rosa, Jonas, dessen Witwe (nachweisbar Anfang 17. Jh.) 50, 262 Rostock, Juristische Fakultät 215, 218
Index
Rostock, Universitätsbibliothek 278 Röth, Elisabeth 194 Roth, Ferdinand Wilhelm Emil (1853–1924) 258–262, 264 f., 276 f. Rothbard, Murray 140 Rottweil, Gericht 132, 217, 221 f. Rudolf (Rudolph) II., Kaiser (1552–1612) 11, 44, 54, 60, 76, 79, 157, 165, 170, 176, 216, 227, 274, 291 f. Rudolstadt 275, 278 Ruland (Rulant), Rutger (1568–1630) 259, 280, 283 Sachsen, Christian I. Kurfürst (1560–1591) 56, 91 f., 114, 209, 230, 292 Sachsen-Weimar, Johann Wilhelm Herzog (1530– 1573) 91, 199 Salamanca, Universität 139–141 Salas, Juan de (1553–1612) 156 Salomonio degli Alberteschi, Mario (1450– 1530) 207 Sankt Gallen 183 Savigny, Friedrich Carl von (1779–1861) 25, 46 Schedel, Harmann (1440–1514) 183 f. Schefold, Bertram 140, 193 Scheider, Augustin 261 f. Scheuzer, Johann Jakob (1672–1733) 254 Schindling, Anton 193 f., 199, 201, 204 Schlackenwerth, Piaristenkloster 280 Schlehdorf, Augustinerchorherrenstift 280 Schlettstadt 194 Schlosser, Julius von (1866–1938) 241 Schmid von Wellenstein, Johann Andreas (Mitte 17. Jh.) 272 Schmidlin, David (gest. 1585) 269, 279 Schnettger, Matthias 91 Schore, Lodewijk van (1492–1548) 122 Schumpeter, Joseph 140 Schwanmann, Christopherus (1569–1653) 259, 280 Schwarting, Rena 19, 60, 127 Schwarzburg-Rudolstadt, Fürst Ludwig Friedrich II. (1767–1807) 275 Schwedisch-Pommer, Herzogtum 275 Schweinfurt, Reichsstadt 270, 272 f. Schwendi, Lazarus von (1522–1583) 225 Seeland 120
293
Segnitz, Johann Elias (nachweisbar Anfang 18. Jh.) 272 Seiff, Johann Christoph 274 Seiler (Sailer), Raphael (1553–1574) 259 f., 276, 279 Senckenberg, Heinrich Christian von (1704– 1768) 57, 87 Senlis, Bischof Guillaume Rose (1542–1602) 231 Seyfert, Johann Jacob (nachweisbar Anfang 18. Jh.) 272 Seyler, Gottfried 260, 265 Siverts, Jakob (nachweisbar von 1659–1675) 262 f., 276, 278 Sixtus V., Papst (1521–1590) 154, 157 Soner, Ernst (1573–1612) 159 Soto, Domingo de (1494–1560) 142 Sparta 228 Speculator, Glossator 209 Speyer, Gymnasium am Kaiserdom 227, 266 Speyer, Pfälzische Landesbibliothek 258 Speyer, Rats-oder Stadtbibliothek 267, 274, 279, 283 Speyer, Reichskammergericht 259, 265, 269, 270 Speyer, Reichsstadt 6 f., 11, 200, 203, 259 f., 262–267, 275, 278, 80, 283 Spieß, Johann (nachweisbar Ende 16. Jh.) 265 Steinhöwel, Heinrich (1410/11–1479) 181 f., 184 Stifter, Adalbert (1805–1868) 244, 252 Stolle, Georg Friedrich Gustav (nachweisbar Anfang 18. Jh.) 272 Stolshagen, Kaspar (1550–1594) 276, 281 Stralendorff, Peter Heinrich von 78 Straßburg, Hohe Schule 11 f., 193, 233 Straßburg, Reichsstadt 11 f., 182, 193, 195–201, 204 f., 207, 212–215, 217 f., 218, 220–223, 225, 230, 239, 260, 266, 278 Straßburg, St. Thomas Stift 200 Strauß, Gottfried (1641–1706) 172 Stryck, Samuel (1640–1710) 143 Sturm, Johann (1507–1589) 214 Sturm, Leonhard Christoph (1669–1719) 250 Suárez, Francisco (1548–1617) 141 f., 158 Sudhoff, Karl 166 f., 182–184 Tacitus, Aelian (nachweisbar Anfang 2 Jh. n. Chr.) 221
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Index
Taschner, Johann (nachweisbar Anfang 17. Jh.) 260–262 Taurellus, Nikolaus (1547–1606) 159 Tiber 188 Tocqueville, Alexis (1805–1859) 72 f. Tolksdorf, Klaus (geb. 1948) 51 Toussain, Daniel 196 Trier, Jesuitenkolleg 279 Tübingen, Stadt 104, 132 Tübingen, Universität 104–106, 111, 113 f., 132, 182, 195 Turin 176, 258 Uffenbach, Johann Friedrich von (1687–1769) 236, 239 Uffenbach, Zacharias Conrad von (1639–1691) 239 Uffenheim (heute Philippsburg) 272 Utrecht 121, 123, 183 Vadian, Joachim (1483/84–1551) 183 f. Valentia, Gregorio de (1549–1603) 144 Valentini, Michael Bernhard (1657–1729) 245 f. Valladolid 144 Valli, Girolamo dalle (1420–vor 1500) 183 Vasara-Aaltonens, Marianne 58 Vasari, Giorgio (1511–1574) 255 Vegetius (Ende 4. Jh. n. Chr.) 224 Verden, Herzogtum 275 Vermigli, N. N. 227 Vienne, Konzil von 1311/12 175 Vitoria, Francisco de (1483/1492–1546) 142, 227 Vögelin, Gotthard 265 Vorderösterreich 225 Waelkens, Laurent 118, 140 Waldenburg 270 Weber, Georg Michael 7, 19, 56, 68, 83 f., 86, 92, 193, 227, 265, 278 Weck, Anton (1623–1680) 195, 247, 251
Wekherlin, Ludwig (1584–1653) 42 Wehner, Paul Mathias (1583–1612) 259, 267, 275, 279, 283 f. Weick, Karl 21, 28 Weinkauff, Hermann (1894–1981) 51 Wesenbeck, Mattheaus (1531–1586) 211 f. Wetter bei Marburg 270 Wetzlar, Reichsstadt 3, 12, 16, 49, 67, 74, 85, 98, 257, 263–265, 275, 277, 283 Wieland, Christoph Martin (1733–1813) 42, 74 Wien, Hofburg 77–79, 91, 96 Wien, Oberster Gerichtshof 37 Wien, Stadt 124, 183 Wien, Universität 182 Willer, Joachim (nachweisbar 1580–1587) 259, 264 Wilson, Woodrow (1856–1924) 24 Wilten, Prämonstratenserstift 280 Winther, Theobald N. N. Witwe 200 Wirker, Johannes († 1471) 182, 184 Wolfenbüttel, Beatae Mariae Virginis 278 Wolfenbüttel, herzogliches Gymniasium 278 Wolff, Heinrich (1520–1581) 182 Wolff, Katharina 167 f. Wolfram, Johann Peter (nachweisbar um 1700) 182, 266 Wonnecker, Johannes Roman († 1524)0 182 Worms, Reichstag 133, 257 Württemberg, N. N. Herzöge 57, 61, 104 f., 107, 111, 114 f., 132, 196 Yersin, Alexandre (1863–1943)
164
Zanchi, Girolano (1516–1590) 198 Zasius, Ulrich (1461–1536) 207 Zedler, Johann Heinrich (1706–1751) 246 Zonaras (ca. 1120) 213 Zubrodt, Johann Peter († 1682) 262 f. Zürich 193, 230, 272, 278–280 Zweigert, Konrad 27
bibliothek altes Reich – baR herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal Als ein innovatives, langfristig angelegtes Forum für Veröffentlichungen zur Geschichte des Alten Reichs setzt sich die „bibliothek altes Reich – baR“ folgende Ziele: ‒ ‒ ‒ ‒
Anregung zur inhaltlichen und methodischen Neuausrichtung der Erforschung des Alten Reichs Bündelung der Forschungsdiskussion Popularisierung von Fachwissen Institutionelle Unabhängigkeit
Inhaltliche und methodische Neuausrichtung An erster Stelle ist die Gründung der Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als Impuls für die interdisziplinäre Behandlung der Reichsgeschichte und deren Verknüpfung mit neuen methodischen Ansätzen konzipiert. Innovative methodische Ansätze, etwa aus der Anthropologie, der Geschlechtergeschichte, den Kulturwissenschaften oder der Kommunikationsforschung, wurden in den letzten Jahren zwar mit Gewinn für die Untersuchung verschiedenster Teilaspekte der Geschichte des Alten Reichs genutzt, aber vergleichsweise selten auf das Alte Reich als einen einheitlichen Herrschafts-, Rechts-, Sozial- und Kulturraum bezogen. Die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ ist daher als Forum für Veröffentlichungen gedacht, deren Gegenstand bei unterschiedlichsten methodischen Zugängen und thematischen Schwerpunktsetzungen das Alte Reich als Gesamtzusammenhang ist bzw. auf dieses bezogen bleibt.
Bündelung der Forschung Durch die ausschließlich auf die Geschichte des Alten Reichs ausgerichtete Reihe soll das Gewicht des Alten Reichs in der historischen Forschung gestärkt werden. Ein zentrales Anliegen ist die Zusammenführung von Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen historischen Sub- und Nachbardisziplinen wie zum Beispiel der Kunstgeschichte, der Kirchengeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Juden, der Landes- und der Rechtsgeschichte sowie den Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaften.
Popularisierung von Fachwissen Die „bibliothek altes Reich – baR“ sieht es auch als ihre Aufgabe an, einen Beitrag zur Wissenspopularisierung zu leisten. Ziel ist es, kurze Wege zwischen wissenschaftlicher Innovation und deren Vermittlung herzustellen. Neben primär an das engere Fachpublikum adressierten Monographien, Sammelbänden und Quelleneditionen publiziert die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als zweites Standbein auch Bände, die in Anlehnung an das angelsächsische textbook der Systematisierung und Popularisierung vorhandener Wissensbestände dienen. Den Studierenden soll ein möglichst rascher und unmittelbarer Zugang zu Forschungsstand und Forschungskontroversen ermöglicht werden.
https://doi.org/10.1515/9783111070346-014
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bibliothek altes Reich – baR
Institutionelle Unabhängigkeit Zur wissenschaftsorganisatorischen Positionierung der Reihe: Die „bibliothek altes Reich – baR“ versteht sich als ein grundsätzlich institutionsunabhängiges Unternehmen. Unabhängigkeit strebt die „bibliothek altes Reich – baR“ auch in personeller Hinsicht an. Über die Annahme von Manuskripten entscheiden die Herausgeber nicht alleine, sondern auf der Grundlage eines transparenten, nachvollziehbaren peer-review Verfahrens, das in der deutschen Wissenschaft vielfach eingefordert wird. Band : Lesebuch Altes Reich Herausgegeben von Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal . VIII, S. Abb. mit einem ausführlichen Glossar. ISBN ----
Band : Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann Venus und Vulcanus Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit . S. ISBN ----
Band : Wolfgang Burgdorf Ein Weltbild verliert seine Welt Der Untergang des Alten Reiches und die Generation . Aufl. . VIII, S. ISBN ----
Band : Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst . S. ISBN ----
Band : Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich. Herausgegeben von Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich . S. ISBN ---- Band : Ralf-Peter Fuchs Ein ,Medium zum Frieden‘ Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges . X. S. ISBN ---- Band : Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation Herausgegeben von Stephan Wendehorst . S. ISBN ----
Band : Pax perpetua Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Inken Schmidt-Voges, Siegrid Westphal, Volker Arnke und Tobias Bartke . S. Abb., ISBN ---- Band : Alexander Jendorff Der Tod des Tyrannen Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode . VIII. S. ISBN ---- Band : Thomas Lau Unruhige Städte Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (–) . S. ISBN ----
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Band : Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis Herausgegeben von Anja Amend-Traut, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich . S. ISBN ---- Band : Hendrikje Carius Recht durch Eigentum Frauen vor dem Jenaer Hofgericht (–) . S. Abb., ISBN ---- Band : Stefanie Freyer Der Weimarer Hof um Eine Sozialgeschichte jenseits des Mythos . S., Abb., ISBN ---- Band : Dagmar Freist Glaube – Liebe – Zwietracht Konfessionell gemischte Ehen in Deutschland in der Frühen Neuzeit . ISBN ---- Band : Anette Baumann, Alexander Jendorff (Hrsg.) Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa . S. ISBN ---- Band : André Griemert Jüdische Klagen gegen Reichsadelige Prozesse am Reichshofrat in den Herrschaftsjahren Rudolfs II. und Franz I. Stephan . S. ISBN ---- Band : Alexander Denzler, Ellen Franke, Britta Schneider (Hrsg.) Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas
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vom . bis . Jahrhundert . ISBN ---- Band : Inken Schmidt-Voges Mikropolitiken des Friedens Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im . Jahrhundert . S. ISBN ---- Band : Frank Kleinehagenbrock Das Reich der Konfessionsparteien Konfession als Argument in politischen und gesellschaftlichen Konflikten nach dem Westfälischen Frieden . ISBN ---- Band : Anette Baumann, Joachim Kemper (Hrsg.) Speyer als Hauptstadt des Reiches Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im . und . Jahrhundert . S. ISBN ---- Band : Marina Stalljohann-Schemme Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs . S. ISBN ---- Band : Annette C. Cremer, Anette Baumann, Eva Bender (Hrsg.) Prinzessinnen unterwegs Reisen fürstlicher Frauen in der Frühen Neuzeit . S. ISBN ---- Band : Fabian Schulze Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg Kriegsfinanzierung und Bündnispolitik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation . S. ISBN ----
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Band : Anette Baumann Visitationen am Reichskammergericht. Speyer als politischer und juristischer Aktionsraum des Reiches (–) . S. ISBN ---- Band : Volker Arnke „Vom Frieden“ im Dreißigjährigen Krieg. Nicolaus Schaffshausens „De Pace“ und der positive Frieden in der Politiktheorie . S. ISBN ---- Band : Berndt Strobach Der Hofjude Berend Lehmann (–). Eine Biografie . S. ISBN ---- Band : Stefanie Freyer, Siegrid Westphal (Hrsg.) Wissen und Strategien frühneuzeitlicher Diplomatie. . S. ISBN ---- Band : Jürgen Brand Clemens Wilhelm Adolph Hardung (– ). Ein letzter Verteidiger des Reiches. Mit einem Faksimile seiner „Staatsrechtlichen Untersuchungen“ aus dem Jahre . S. ISBN ---- Band : Anette Baumann, Sabine Schmolinsky, Evelien Timpener (Hrsg.) Raum und Recht. Visualisierung von Rechtsansprüchen in der Vormoderne. . S. ISBN ----
Band : Stefan Seitschek, Sandra Hertel (Hrsg.) Herrschaft und Repräsentation in der Habsburgermonarchie (–). Die kaiserliche Familie, die habsburgischen Länder und das Reich. . S. ISBN ---- Band : Anna Lingnau Lektürekanon eines Fürstendieners. Die Privatbibliothek des Friedrich Rudolf von Canitz (–). . S. ISBN ---- Band : Astrid Ackermann, Markus Meumann, Julia Schmidt-Funke, Siegrid Westphal (Hrsg.) Mitten in Deutschland, mitten im Krieg. Bewältigungspraktiken und Handlungsoptionen im Dreißigjährigen Krieg. . Ca. S. ISBN ---- Band : Astrid Ackermann Herzog Bernhard von Weimar. Ein Militärunternehmer und politischer Stratege im Dreißigjährigen Krieg. . Ca. S. ISBN ---- Band : Volker Arnke, Siegrid Westphal (Hrsg.) Der schwierige Weg zum Westfälischen Frieden. Wendepunkte, Friedensversuche und die Rolle der „Dritten Partei“. . S. ISBN ---- Band : Avraham Siluk Die Juden im politischen System des Alten Reichs. Jüdische Politik und ihre Organisation im Zeitalter der Reichsreform. . S. ISBN ----
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Band Evelien Timpener In Augenschein genommen Hessische Lokal- und Regionalkartographie in Text und Bild (–) . S. ISBN ---- Band Joseph Bongartz, Alexander Denzler, Carolin Katzer, Stefan A. Stodolkowitz (Hrsg.) Feder und Recht. Schriftlichkeit und Gerichtswesen in der Vormoderne . S. ISBN ----
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