Die unbesetzte Stadt: Postfundamentalistisches Denken und das urbanistische Feld 9783035610772, 9783035612158

Die Fundamente der Stadt Die Prämisse der `postfundamentalistischen Überlegung´ ist es, dass es kein eindeutiges Funda

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German Pages 336 [404] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Ein unbesetzter und unbesetzbarer Ort
1. Die Suche nach dem Grund
2. Das Ganze und der Rest
3. Postfundamentalistische Fundamente
4. Zur Genealogie des Urbanismus
5. Dinge und Gespenster
Dank
Bibliografie
Bauwelt Fundamente (Auswahl)
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Die unbesetzte Stadt: Postfundamentalistisches Denken und das urbanistische Feld
 9783035610772, 9783035612158

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Bauwelt Fundamente 158

Herausgegeben von Elisabeth Blum Jesko Fezer Günther Fischer Angelika Schnell

Nikolai Roskamm Die unbesetzte Stadt Postfundamentalistisches Denken und das urbanistische Feld

Bauverlag

Birkhäuser

Gütersloh · Berlin

Basel

Die Reihe Bauwelt Fundamente wurde von Ulrich

Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN 978-3-0356-

­Conrads 1963 gegründet und seit Anfang der 1980er-

1077-2) und E-PUB (ISBN 978-3-0356-1075-8)

Jahre gemeinsam mit Peter Neitzke herausgegeben.

­erschienen.

Verantwortlicher Herausgeber für diesen Band:

Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich

Jesko Fezer

über den Birkhäuser Verlag.

Gestaltung der Reihe seit 2017: Matthias Görlich

© 2017 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz, ein Unternehmen von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston;

Vordere Umschlagseite: Hichem Dahes für Balsamine

und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin

Theater, Brüssel 2012 Hintere Umschlagseite: Nikolai Roskamm, Berlin 2013

Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at

Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei

the Library of Congress.

gebleichtem Zellstoff. TCF ∞

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbib-

Printed in Germany

liothek

ISBN 978-3-0356-1215-8

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

9 8 7 6 5 4 3 2 1

bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.

www.birkhauser.com

dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Inhalt



Ein unbesetzter und unbesetzbarer Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1 Die Suche nach dem Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.1

Materialismus und Determinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

1.2 Wahrheitsproduktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

1.3

63

Stadt, Land, Gegensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2 Das Ganze und der Rest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.1

Notwendiger Determinismus und das Objekt x . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.2

Condition urbaine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

88

2.3

Das Recht auf Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

3 Postfundamentalistische Fundamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.1

Planung und Theorie: agon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

3.2

Raum und Außen: Antagonismus (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

3.3

Masse und Lumpen: Antagonismus (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

3.4

Die Notwendigkeit der Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

4 Zur Genealogie des Urbanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4.1

Ursprung, Herkunft und Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

4.2

Biopolitik und urbane Pathologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

4.3

Kritische Stadtforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

4.4

Planetarische Urbanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

5

Dinge und Gespenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

5.1

Heimsuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

5.2

Die Stadt der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

5.3 Verdichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394

Ein unbesetzter und unbesetzbarer Ort

7

In La Révolution urbaine, einem Gründungstext der kritischen Stadtforschung, bezeichnet Henri Lefebvre Stadt als einen „Pseudobegriff“, der „keinem ­gesellschaftlichen Objekt“ mehr entspricht (1990, 65). Mitte der 1980er-Jahre stellt Jürgen Habermas in seinem Aufsatz „Moderne und postmoderne Architektur“ die Frage, ob der Begriff der Stadt nicht überholt sei, da er nicht mehr Schritt halte mit dem steten Wandel der urbanen Lebensform (1985, 24). Etwa zur gleichen Zeit spricht der Stadtsoziologe Peter Saunders von der „soziologischen Irrelevanz“ von Stadt und deren traditionellen Bestimmungsfaktoren (1987, 17; ähnlich auch Häußermann/Siebel 1978). Der Planungstheoretiker John Friedmann formuliert Anfang des Jahrtausends kurz und bündig: „The city is dead“ (2002, XI ). Ganz aktuell schreiben Neil Brenner und Christian Schmid – zwei exponierte Vertreter der critical urban studies – in einem programmatischen Text über ihre Theorie der planetarischen Urbanisierung: „The category of the ‚city‘ has today become obsolete as an analytical social science tool“ (2014, 162). Gegenstand meines Textes ist genau diese nutzlose Abteilung, dieser unbrauchbare und überkommene Begriff der Stadt. Mein Ansatz basiert auf folgender Überlegung: Einerseits scheinen die Diagnosen von Lefebvre, Habermas, Saunders, Friedmann, Brenner und Schmid durchaus überzeugend zu sein: Stadt ist wirklich ein unscharfes, überholtes, irrelevantes und häufig erschreckend inhaltsleeres Konzept. Andererseits ist es aber keine brauchbare Option, nicht mehr von Stadt zu reden und den Begriff einfach aufzugeben. Und zwar schon deshalb nicht, weil Stadt in den vielen Debatten allgegenwärtig ist: als Lebensstil, als Utopie, als Schreckensvision, als Unternehmen, als materielle Wirklichkeit (was auch immer das sein mag). Mein Vorschlag ist es deshalb, Begriffsarbeit zu leisten. Was ich machen möchte, ist, das begriffliche Konzept von Stadt zu untersuchen und herauszufordern. Aus diesem Grunde fokussiere ich nicht auf die empirischen, direkt beobachtbaren Phänomene des Urbanen, sondern wende mich den in den Abhandlungen und Narrativen des Urbanismus aufgehobenen Ablagerungen zu. Mir geht es weniger um die sozialwissenschaftliche Vorderansicht der Stadt – ihre zähl- und messbaren Beschaffenheiten, ihre Statistiken, ihre Rang­ listen –, sondern vielmehr um die „unansehnliche gesellschaftstheoretische 8

Rückseite“ (Marchart 2013, 362) des Begriffs – wohl wissend, dass diese Vorder- und jene Rückseite unmittel- wie untrennbar miteinander verbunden sind. Meine These von der unbesetzten Stadt hat zum Ziel, den Stadtbegriff von der sozialwissenschaftlichen auf eine sozialtheoretische Ebene zu verschieben, von der Ebene des Sozialen, Empirischen und Partikularen auf die Ebene des Politischen, Theoretischen und Totalen. Mein Anliegen ist es, den mit der Stadt und dem Städtischen assoziierten Wissensbereich einer gesellschaftstheoretischen (sozialphilosophischen, sozialontologischen) Unter­ suchung zu unterziehen, die Gründungen und Begründungen des urbanis­ tischen Feldes aufzusuchen, die Bedingungen und Bedingtheiten einer kritischen Theorie der Stadt kenntlich zu machen und schließlich – durch das Kenntlichmachen – die Erneuerung einer solchen Theorie anzudenken. Was ist die Ausgangslage, was der Kontext, wie lässt sich der Diskurs beschreiben, in den ich mit meinem Text interveniere? Auf der einen Seite ist da das Narrativ von der guten und erfolgreichen Stadt, welches heute die Debatten der Stadtpolitik und der orthodoxen Stadtwissenschaften dominiert. Stadt, so verkündet etwa Edward Glaeser in seinem Bestseller Triumph of the City (2011), macht reicher, grüner, gesünder, smarter und glücklicher.1 Im Einleitungstext zur „Vision der ‚Frauenhofer Morgenstadt‘“, einem Forschungsverbund aus Industrie und Wissenschaft, wird postuliert, dass „unsere Städte als zentrale Räume in unserer Gesellschaft“ auf dem „Weg in die Zukunft“ die entscheidende Rolle spielen.2 Eine Vielzahl von Beiträgen aus dem Umfeld ­eines solchen neo-positivistischen Urbanismus erzählen einleitend die Geschichte, dass seit Kurzem mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung in Städten lebt und dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendeine weitere Prozentmarke überschritten sein wird. Aus diesen Zahlenwerten wird die Relevanz von Stadt abgeleitet, um dann eine meist technikzentrierte Problemlösungsperspektive anzubieten. Die „Stadt der Zukunft“, so formuliert es eine Projektausschreibung mit dem gleichen Namen, wird bestimmt durch „neue Technologien, technologische (Teil-)Systeme, urbane Services und Dienstleistungen“ und zeichnet sich aus durch „höchste Ressourceneffizienz“ gepaart mit „hoher Attraktivität für Bewohner und Wirtschaft“.3 Stadt ist/soll sein (eine Unterscheidung, die in diesem Umfeld kaum mehr gemacht wird): nachhaltig, 9

innovativ und resilient. Solch ein Ansatz blickt positiv gestimmt nach vorne, identifiziert immer Chancen und niemals Probleme, erzählt Stadt und das Urbane am liebsten mit Zahlen, ist geradezu vernarrt in das Erstellen von Rankings (die lebenswertesten Städte, die Städte mit dem günstigsten Investitionsklima etc.), setzt Wettbewerbsfähigkeit und Standortfaktoren als Grundpfeiler und vertraut auf das kreative Individuum, das im Streben nach dem eigenen Glück unvermittelt und unvermeidlich auch Stadt gestaltet.4 Auf der anderen Seite steht die kritische Stadtforschung mit ihren Analysen (vgl. Belina/Naumann/Strüver 2014, Brenner/Marcuse/Mayer 2012, Parker 2011, Peck 2010, Brenner 2009). Hier wird das gerade skizzierte triumphale Stadtkonzept mit der These der neoliberalen Stadt umschrieben und kritisiert. Die Stadtpolitik in der neoliberalen Stadt, so lautet die Diagnose in den critical urban studies, besteht vor allem darin, optimale Rahmenbedingungen für den Markt zu schaffen, anstatt – wie im Urbanismus vielleicht früher einmal – soziale Ungleichheiten mindern oder gar abschaffen zu wollen. Tatsächlich ist in den neoliberalen Stadtkonzepten der freie Wettbewerb zum ­u nhinterfragten und unhinterfragbaren Mythos, zu einer Notwendigkeit ­erhoben, zu der es keine Alternative gibt. Viele Diskurse in der städtischen Verwaltung, Politik und in den Stadtwissenschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten einem solchen Denken verschrieben (die These, dass es auch andere Zeiten gegeben hat, wird in meinem Text ebenfalls thematisiert). Produkte wie das new public management, in dem kommunale Stadtpolitik und urbane Infrastrukturen wirtschaftlich „optimiert“ werden (vgl. Lebuhn 2008, 80  f.), sind genauso Bestandteil der neoliberalen Stadt wie die Vergabe von städtischen Liegenschaften nach ausschließlich finanziellen Gesichtspunkten, die Privatisierung von öffentlichen Gütern und Strukturen (einem der Hauptbetätigungsfelder städtischer Politik seit den 1990er-Jahren) oder die Neubestimmung von Lehrinhalten in den urbanen Wissenschaften in Richtung Stadtmarketing und Stadtmanagement. Dabei ist ein ökonomisierter Ansatz so tief in die Denkweisen und in den Sprachgebrauch eingesickert – nicht selten über Diskurse wie dem der kreativen Stadt und der nachhaltigen Stadt –, dass aktuelle Beiträge auf dem urbanistischen Feld oftmals durchtränkt sind von einer Sprache, die den Geist des Marktes und des Wettbewerbs atmet und 10

reproduziert. Der neuste Studiengang der Erasmus Universität Rotterdam etwa wirbt mit dem Slogan (oder heißt er gar so?): „Manage your city, master your future.“5 Auch das ist die neoliberale Stadt. Neben der neoliberalen Stadt ist in der kritischen Stadtforschung seit einiger Zeit ein zweites Erklärungsangebot anzutreffen: die These von der post­ politischen Stadt. Damit wird auf das Feld der politischen Theorie und der ­politischen Philosophie sowie auf die dort vielfach zentral gesetzte Unterscheidung zwischen „dem Politischen“ und „der Politik“ verwiesen – einer Unterscheidung, die im weiteren Verlauf meines Textes immer wieder eine Rolle spielen wird. Das Politische wird hier als eine ontologische Kategorie verstanden, die mit Begriffen wie Dislokation, Störung und Widerstand assoziiert wird. Zur Seite gestellt wird diesem Politischen die Politik: der eigentliche ­Politikapparat und seine Realpolitik (etwa die Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, die politischen Parteien etc.). Das Postpolitische – ein Begriff, der von Slavoj Žižek in Anlehnung an Jacques Rancière in die Diskussion ein­ geführt worden ist – bezeichnet eine Politik, der das Politische abhandengekommen ist. Und zwar deshalb abhandengekommen, weil sie in einem befrie­ deten Raum unter dem Dach eines allgemein akzeptierten Kompromisses betrieben wird und grundsätzliche Alternativen nicht mehr in Betracht zieht (vgl. Michel/Roskamm 2013). In einigen aktuellen Beiträgen der kritischen Stadtforschung werden die Thesen der neoliberalen und der postpolitischen Stadt zusammengeführt. Ergebnis einer solchen Synthese ist die Diagnose, dass die neoliberale Stadt selbst die postpolitische Stadt ist. Der Glaube an Marktkräfte und Wettbewerb, so wird dieses Postulat begründet, ist in den Diskursen der neoliberalen Stadt so dominant geworden, dass stadtpolitische Entscheidungen nur noch innerhalb des mit einer solchen Absolut-Setzung geschaffenen Raums vorstellbar sind (aus dem das Politische ausgeschlossen ist). Dadurch wird der urbane post­ politische Modus ausgelöst. Ein solcher Zustand, so die Analyse, ist in der heutigen spätkapitalistischen postfordistischen Epoche zur immanenten ­Logik der Stadt geworden (vgl. Swyngedouw 2013). Im Kontext dieser Debatten der kritischen Stadtforschung verorte ich meinen Ansatz von der un­ besetzten Stadt. Die These vom Zusammenfallen der neoliberalen und der 11

postpolitischen Stadt bestimmt dabei den Punkt, von dem aus ich mit meinen Überlegungen starten möchte – mein eigenes Feld ist das des gegenwärtigen kritischen Urbanismus. Ausgehen ist allerdings auch eine Form von „Fortbewegen“, und das bedeutet in meinem Fall, dass ich auf dem urbanistischen Feld (und auch auf dem Feld der kritischen Stadtforschung) nicht stehen bleibe, sondern mich von ihm entferne. Und zwar zum einen deshalb, weil es jene Felder selbst sind, die ich beobachten möchte, und das Beobachten von außen, jenseits der eingefahrenen Forschungsgleise möglicherweise besser gelingen mag. Zum anderen ist ein Fortbewegen vom Ausgangspunkt jedoch notwendig, weil die neoliberale Stadt und ihre Kritik eine Gemeinsamkeit haben: Beide verwenden denselben Stadtbegriff. Urbanismus und kritische Stadtforschung, so lautet meine These, bewegen sich nicht nur auf dem gleichen Feld, sie verhandeln auch die gleichen Kategorien. In beiden Fällen wird – explizit oder implizit – auf einen Begriff der Stadt zurückgegriffen, mit dem das Urbane als empirisch bestimmte, quantitativ zugängliche und partikulare Entität definiert ist, als baulich-räumliches Substrat des Sozialen, Materiellen und Ökonomischen. Ein solcher Stadtbegriff ist in der neoliberalen Stadtpolitik und Stadtplanung ebenso wie in der kritischen Stadtforschung zu Hause. Aus diesem Grunde ist der empirische sozialwissenschaftliche Stadtbegriff, wenn er im Kontext der kritischen Stadtforschung verwendet wird, aus meiner Sicht auch nur begrenzt fähig, dem neoliberalen Denken etwas Eigenes entgegenzusetzen. Was ich daher mit meinem Text vorschlagen möchte, ist, den Stadtbegriff und seinen Kontext (das urbanistische Feld) zum Objekt einer sozialtheoretischen Untersuchung zu bestimmen, um beides (Objekt und Feld) widerstandsfähiger gegen die neoliberalen Vereinnahmungsversuche zu machen. In den empirischen Stadtwissenschaften (sowohl in den orthodoxen als auch in den explizit kritischen) ist ein solcher Ansatz nicht unbedingt beliebt. Dort werden gesellschaftstheoretische Interventionen meist als überflüssig, häufig auch als lästig und störend angesehen – eine Analyse, die vermutlich zumindest in Teilen nicht ganz falsch ist: Wirklich besteht das Ziel einer sozialtheoretischen Kritik darin, den sozialwissenschaftlichen Regelbetrieb zu hinterfragen und herauszufordern (ihn also zu stören und ihm lästig zu 12

werden), und zwar nicht zuletzt mit Bezug auf dessen empirische Schwerpunktsetzung. In den Diskussionen zwischen der kritischen Stadtforschung und der Urban-Assemblage-Forschung lässt sich diese Konfrontation aktuell gut studieren.6 Als Verteidigung gegen solche und andere philosophierenden Störmanöver wird gerne vorgebracht, dass die Sozialwissenschaften sich doch schon seit Langem und vollkommen bewusst von jeglicher Art eines ­metaphysischen Denkens verabschiedet hätten und daher wenig Sinn und Nutzen in sozialtheoretischen Spekulationen sähen. Dieses Argument verschweigt allerdings, dass jeder Ansatz (sei er theoretisch oder empirisch) auf einer Weltanschauung (Philosophie, Ideologie, Ontologie) beruht, auch dann, wenn sie (was meistens der Fall ist) nicht zum Thema gemacht wird. Noch ein Stückchen weitergedreht lautet die Überlegung, dass gerade die empirisch fundierten Wissenschaften die Verdrängung der eigenen Grundierung (der zugrunde liegenden Ontologie/Ideologie) zu ihrer Gründungsvoraussetzung haben. Dieses Argument führt zum postfundamentalistischen Denken und damit zur Kernüberlegung meines Textes. Allgemein gesprochen steht der Postfundamentalismus für die Auffassung, dass letzte Gründe in letzter Instanz nicht möglich sind. Die Prämisse eines solchen Ansatzes ist, dass es kein Fun­ dament gibt, auf dem alles andere aufbaut: keinen Gott, kein biologisches ­Gesetz oder genetischen Code, keinen Markt und auch keine Produktionsverhältnisse, die den Lauf der Dinge notwendig bestimmen. Postfundamentalismus behauptet nicht, dass sich alle Gründe in Luft auflösen, sondern dass sie zu Abgründen mutieren, die permanent bedrängt werden von einer „Dimension der Abwesenheit und Kontingenz“ (Laclau 2012, 119). Aus diesem Grunde gibt es auch im postfundamentalistischen Denken ein Narrativ vom Lauf der Geschichte. Der Lauf der Geschichte wird, so lautet die These, von kontingenten und konflikthaften Kräften bestimmt. Kontingent bedeutet, dass alle ­sozialen Dinge und Abläufe grundsätzlich auch anders sein könnten, dass nichts aus sich heraus und von vornherein (vor)bestimmt ist. Eine solche Kontingenzbehauptung reproduziert wiederum die These von dem Nicht-Vorhandensein von Letztbegründungen. Deshalb, weil sie grundsätzlich kontingent sind, sind alle sozialen Abläufe auch konflikthaft. Da alles und jedes 13

auch anders sein könnte, gibt es Alternativen. Um die Geltungsmacht dieser Alternativen wird gestritten. Wäre etwas aus sich selbst heraus geltend, müsste ja nicht mehr um seine Geltung gerungen werden. Damit öffnet die Kontingenzthese gleichzeitig das Feld des Konflikts. Postfundamentalismus ist eine Herangehensweise, die – zumindest in Bruchstücken und Ansätzen – in vielen (auch klassischen) Sozialtheorien aufgespürt und nachgewiesen werden kann. Systematische Ausführungen von postfundamentalistischen Ansätzen finden sich in der politischen Philosophie etwa bei Claude Lefort, Ernesto Laclau, Michel Foucault oder Jacques Derrida. Zu einer kompletten Theorie ausgearbeitet worden ist der Postfundamentalismus von Oliver Marchart in Die politische Differenz (2010a) und Das unmögliche Objekt der Gesellschaft (2013). Auf dieser Ausarbeitung baut meine Idee auf, einen postfundamentalistischen Begriff der Stadt zu entfalten. Dabei ist Stadt für mich nicht nur begrifflicher Zielpunkt, sondern auch ein Distinktionsmerkmal zu den vorliegenden postfundamentalistischen Studien über den Begriff der Gesellschaft.7 Dennoch ist mein Versuch, dem parti­ kularen Stadtbegriff seine universelle Bedeutung zurückzugeben – Laclau ­bezeichnet so ein Vorhaben als „radical investement“ (2005, 110) – auch eine „­parasitäre Intervention“ (Stäheli 2000a, 72, und Marchart 2013, 48), da die von mir beabsichtigte sozialtheoretische Aufladung der Stadt unmittelbar an der postfundamentalistischen Gesellschaftstheorie andockt. Parasitär zu sein, ist jedoch ohnehin ein Merkmal von Ansätzen „poststrukturalistischer Sozialwissenschaften“ (Moebius/Reckwitz 2008), einem Feld, auf dem mein Text ebenfalls verortet werden kann.8 Zudem ist die von mir vorgenommene Erweiterung – nämlich von der Gesellschaft zur Stadt – nicht nur ein nebensächliches Anliegen, sondern die zentrale Aufgabe, bei der es – bezogen auf Stadt – um die immer unerlässliche „kritische Arbeit“ geht, ein „Wort von einem Begriff zu unterscheiden“ (Althusser 2011, 43). Die Argumente für meinen Ansatz – also eine postfundamentalistische Theorie nicht des Sozialen, sondern der Stadt zu versuchen – lauten im Detail, dass das Konzept der Stadt erstens älter ist als das Konzept der Gesellschaft (und dass dieses Ältersein in der Lage ist, der postfundamentalistischen Überlegung weitere Facetten abzugewinnen); dass zweitens beide – „Stadt“ 14

ebenso wie Gesellschaft – zwar gemeinsam vom sozialwissenschaftlichen Objektivismus zu stabilen und steuerbaren Dingen gemacht wurden, diese dinghaften Wesen im Konzept der Stadt jedoch deutlicher greifbar sind; und dass schließlich drittens auch die Verbindung zum Denken des Politischen für den Begriff der Stadt (polis) nicht nur anders (als beim Sozialen), sondern unmittelbarer und direkter herstellbar ist. Mit diesen Unterscheidungen soll es möglich werden, eine postfundamentalistische Theorie der Stadt als eigenständigen Beitrag zu entwickeln, der die bestehenden Ansätze des Postfundamentalismus ergänzen, schärfen und bereichern kann. Voraussetzung für meinen Theorieentwurf ist es dabei erstens, sich die Mechanismen von Fundamenten und Gründen bewusst zu machen. Die vorgeschlagene Verabschiedung von Letztbegründungen bedeutet nämlich nicht, dass es im postfundamentalistischen Denken gar keine Gründe gibt. „Ohne jeglichen Grund“ wäre nicht anders als „beliebig“. Es ist daher nicht nur so, dass das postfundamentalistische Denken die Suche nach dem Grund nicht aufgibt, genau diese Suche wird sogar der eigentliche Kern der gesamten Unternehmung. Zweitens ist das postfundamentalistische Fundament manipuliert. Es ist ein vorsätzlich paradox gestaltetes Fundament, ein Fundament, das mit voller Absicht instabil konstruiert ist (Marchart wählt die Metapher eines Mobiles). Ein solch schwankendes Fundament ist etwas ganz anderes als die stabilen und festen Fundamente, die die positiven Wissenschaften für ihre Theorien anstreben. Möglicherweise ist es aber gerade die schwankende Konstruktion, die dem postfundamentalistischen Fundament einen Halt auf dem ebenfalls schwankenden Grund zu geben verspricht (jedes Fundament steht auf einem Grund). Auch jener Grund des Fundaments (vgl. Marchart 2002) – darin besteht die dritte Eigenschaft – ist eine merkwürdige Instanz. Laclau nennt ihn das „konstitutive Außen“, Marchart schlicht „Antagonismus“. Diese schwer greifbare Kategorie lässt sich am besten beschreiben mit den Kräften, die am Grunde des Sozialen wie des Städtischen wirken, nämlich

Kontingenz und Konflikt, den beiden „gleichursprünglichen“ Elementar­ teilchen des Antagonismus. Schließlich werden viertens sowohl das Fun­ dament als auch der sonderbare Boden, auf dem es steht, heimgesucht: von ­Geistern und Gespenstern, von anwesenden Abwesenheiten und wirksamen 15

Unwirksamkeiten. Meine postfundament/strukturalistisch gegründete Theo­ rie der Stadt macht es sich zur Aufgabe, diese Gestalten auf dem urbanistischen Feld aufzusuchen und kenntlich zu machen.

• Die These von der unbesetzten Stadt beruht nicht zuletzt auf der Diagnose, dass der Stadtbegriff derzeit (heutzutage) weitgehend unbesetzt ist. Eines der Hauptanliegen meines gesamten Textes ist es, das stetige Chargieren zwischen Besetzungen und Unbesetztheiten in unterschiedlichen philosophischen, sozialwissenschaftlichen und urbanistischen Praxen zu beobachten und zu diskutieren. Lange, so meine These, wurde es versäumt, an einem Begriff der Stadt zu arbeiten (begrifflich daran zu arbeiten). Diese Behauptung möchte ich mit drei Beobachtungen unterlegen. Die erste Beobachtung besteht darin: In der politischen Philosophie – also der Disziplin, die für das Arbeiten an Begriffen zuständig ist – ist der Begriff der Stadt aktuell kaum mehr ein zentrales Thema. Das urbanistische Feld wird in den philosophischen/theoretischen Disziplinen heute eher gemieden, es liegt (philosophisch) weitgehend brach. In früheren Zeiten dagegen ist Stadt zweifellos ein Begriff der politischen Philosophie gewesen. Schon vom Wortstamm sind Stadt (polis), Staat (politeia) und Politik (politike) miteinander verbunden und daher auch stets zusammen gedacht worden. Als Politik wurden in der ­a ntiken Philosophie jene Gegenstände, Handlungen und Fragestellungen bezeichnet, die die polis betreffen. Plato und seine Kollegen haben „die Figuren des Städtebauers“ stets ganz „in den Mittelpunkt ihrer politischen Philosophie“ gestellt (Arendt 1967, 188). In Platos Politeia ist die polis das zentrale Thema des gesamten Dialogs – und zwar tatsächlich weniger in ihrer konkreten mate­ riellen oder geografischen Ausformung, sondern als konzeptioneller Gegenstand. So berichtet Glaukon – einer der Gesprächspartner von Sokrates –, dass die Stadt „nur in unseren Reden besteht“. Und Sokrates bestätigt, sie sei „im Himmel als Musterbild für den aufgestellt, der es sehen will und der sein Leben nach dem einrichten will, was er da sieht“ (2000, Neuntes Buch, 803). Die Stadt, dieser „unzugängliche und schattige Ort“ (2000, Viertes Buch, 329), ist in der griechischen Philosophie vor allem das theoretische Feld, auf dem das 16

Politische verborgen ist und gesucht werden muss. Auch bei Aristoteles wird die polis zusammen mit „den höchsten Zielen“ und gemeinsam mit dem Wesen der Politik gedacht (2012, 7.8.1328a35). Er macht die Stadt zum Projekt und definiert die polis als eine Gemeinschaft, die besteht, um das gute Leben und das Glück des Menschen zu suchen. Sie gründet sich nicht nur, um „reaktiv etwaigen Rechtsbrüchen zu begegnen oder die Möglichkeit des Tauschs und Austauschs zu sichern“, zur polis ist vielmehr ein „Vorhaben erforderlich, dessen Ende und Zweck in der Einrichtung einer Gemeinschaft des guten Lebens“ besteht (Derrida 2000, 268). Genau diese Eigenschaften der Stadt – Ort und Projekt für das gute Leben zu sein – sind die philosophischen Grundlegungen des Stadtbegriffs in der Antike. In der Neuzeit ist die zentrale Position der Stadt im philosophischen Denken aber offensichtlich verloren gegangen. Schlägt man ein neueres Lexikon mit Grundbegriffen der politischen Theorie/Philosophie auf, wird man den Begriff der Stadt darin kaum finden. Die weitgehende Verabschiedung der Stadt aus der Philosophie hat eine Vielzahl von Gründen. Einer der wichtigsten ist vermutlich, dass dort, wo die klassische positive Metaphysik grundlegend hinterfragt worden ist (etwa bei Nietzsche und Heidegger), die Stadt und das Städtische keine große Rolle spielen. Wahrheit, Sein, Raum und Zeit, Moral – das sind die großen Themen der Philosophie in der Moderne. Die Stadt kommt nur noch am Rande vor.9 Tatsache ist jedenfalls, dass in der zeitgenössischen politischen Philosophie Stadt weit davon entfernt ist, ein politischer Begriff zu sein. Sie ist – das macht einen politischen Begriff aus – nicht mehr Gegenstand eines permanenten Kampfes um die Hoheit, ihn zu bestimmen, eines Kampfes um die „Aneignung von Wörtern“ (Rancière 2012, 92). Ein Begriff, der in die zweite Reihe abgetaucht ist, bleibt unbesetzt: unbesetzt von einer aktuellen Debatte, die sich um seinen Gehalt streitet. Nicht nur in der Philosophie, so lautet meine zweite Beobachtung, auch in den Sozialwissenschaften wird ein aktuelles begriffliches Konzept von Stadt derzeit eher selten verhandelt. Sozialwissenschaftliche Stadtdisziplinen wie die Stadtsoziologie, die Stadtgeografie oder die Stadtethnologie konstituieren sich zwar über den Gegenstand Stadt, explizite Debatten über die begriff­ liche Ausgestaltung dieses Objekts sind jedoch in diesem Umfeld heute 17

ebenfalls wenig verbreitet. Wenn über Stadt als Begriff gesprochen wird, wird meist auf die Klassiker der Sozialtheorie verwiesen: auf Emile Durkheim und seine morphologischen Kausalkonstruktionen; auf Georg Simmel und dessen sozialpsychologische Annäherung; auf Max Weber, von dem vor allem seine Definition von Stadt als Marktplatz in Erinnerung geblieben ist.10 Die Synthese dieser klassischen Ansätze hat Louis Wirth in seinem berühmten Essay Urbanism as a way of life (1938) formuliert, in dem er die Stadt durch ihre Größe, Dichte und Heterogenität bestimmt. Das ist bis heute der Höhepunkt der so­ zialwissenschaftlichen Stadtdefinition. Ein solcher – trotz seiner Nicht-Thematisierung (oder in seiner Nicht-Thematisierung) – dennoch gegenwärtige sozialwissenschaftliche Stadtbegriff ist vor allem eine Variation der antiken philosophischen Konzeption von der guten Stadt. Selbst klassisch geworden ist zwar auch die eingangs referierte Kritik an eben diesem Konzept, also die Stadt als obsolet, tot oder veraltet zu bezeichnen. Selten wird d ­ abei aber eine Debatte darüber ausgelöst, wie der Stadtbegriff in einer aktuellen Weise zu fassen sein könnte. Aktuellere Bemühungen, Stadt begrifflich zu fassen, sind in den Sozialwissenschaften jedoch zumindest vereinzelt zu verzeichnen. Ein neueres Beispiel für den Versuch, eine Debatte über das begriffliche Inventar der Stadt zu reaktivieren, ist der als raumsoziologisch bezeichnete Ansatz der „Eigen­ logik der Städte“ (Löw 2008). Ein solches Anliegen kann zunächst als eine Erprobung interpretiert werden, die Leerstelle des unbesetzten Stadtbegriffes zu bearbeiten. Der Theorieentwurf beschäftigt sich allerdings gar nicht so sehr mit einer Ontologie der Stadt, sondern diskutiert „Städte“ (Städte wie New York oder Wanne-Eickel) – vorhandene, durch politische Grenzen definierte Städte – und schreibt ihnen eine eigene Logik zu. Die These ist, dass einzelne reale Städte eigene Gesetzmäßigkeiten besitzen. Solche Städte werden dabei als Einheiten konstruiert, die die sozialen Realitäten und Handlungsoptionen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner (mit)bestimmen. Dass ein solcher ­A nsatz in seinem theoretischen Aufbau nicht unproblematisch ist, wurde in den vergangenen Jahren vor allem in der Sozialgeografie herausgearbeitet. ­Begründet wird die Kritik damit, dass beim Ansatz der Eigenlogik – ähnlich wie in der frühen Geografie (deshalb fällt die Kritik auch so 18

heftig aus) – einzelne stadträumliche Gegebenheiten als das Soziale deter­ minierende Faktoren eingesetzt werden. Die Gegenrede zur These der Eigenlogik behauptet dann auch, dass der dort verwendeten Theorie – auf ihrem Grunde – ein naturdeterministischer Gedanke innewohnt (vgl. Werlen 2013 und Höhne 2011). In der sich explizit auf (gesellschafts)kritische Traditionen berufenden deutschsprachigen Stadtforschung11 wird derweil versucht, einen anderen Weg zu beschreiten. Dort wird mitunter ein „schwacher Stadtbegriff“ propagiert, der als ausreichend für die Instituierung des eigenen Handelns und Forschens betrachtet wird. Mit der Betonung einer solchen Schwäche wird sich gegen den Eigenlogikansatz abgegrenzt – der schwache Stadtbegriff soll (eben durch seine Schwäche) Garant dafür sein, immanente essentialistische Fallstricke zu meiden (vgl. Kemper/Vogelpohl 2013). Im Grunde beinhaltet diese Vorgehensweise eine postfundamentalistische Note. Kritische Stadtforschung darauf aufzubauen, das eigene Fundament (nämlich den Begriff der Stadt) klein und schwach zu halten – die Grundlage nicht fest, sondern eher weich und instabil zu gestalten –, ist eindeutig ein Versuch, sich gegen die Formierung/Formulierung von einem neuen Fundamentalismus abzugrenzen. Die Folge dieser theoretisch interessanten Konstruktion ist allerdings, dass damit tendenziell auf eine Aktualisierung des Stadtbegriffes verzichtet wird – eine Aktualisierung würde den Stadtbegriff ja stärken. Wegen eines solchen Verzichts (und weil der Verzicht nur selten so expliziert wird, wie in den erwähnten Texten) wird – das ist meine These – in der kritischen Stadtforschung dann meist doch wieder auf jene klassischen Stadtbegriffsangebote von Durkheim, Weber und Wirth zurückgegriffen, die auch in der unkritischen technologiezentrierten positivistischen Stadtforschung am Wirken sind. Aus ­genau diesem Grunde wird jedoch eine mögliche (und nötige) Kritik der neoliberalen postpolitischen Stadt erschwert (wenn nicht verunmöglicht). In Kauf genommen wird mit der Strategie des schwachen Stadtbegriffs zudem, dass die anfangs zitierten Diagnosen von Habermas, Saunders und Lefebvre kaum zum Gegenstand der Diskussion werden. Den Stadtbegriff schwach zu halten, bedeutet eben auch, nicht allzu viel Aufhebens zu machen von ­einer Auseinandersetzung über das Wesen und die Natur des Urbanen. Der 19

vielstimmige und inzwischen als klassisch einzustufende Abgesang auf die Stadt wird hier nicht reflektiert, sondern letztlich einfach befolgt: „Die Stadt ist tot, kümmern wir uns nicht mehr darum“ (was es war oder was es sein sollte). Dennoch – und das ist der Grund, weshalb diese Strategie meines ­Erachtens schließlich nicht wirklich überzeugen kann – wird nicht daran ­gerüttelt, das eigene Feld durch den Stadtbegriff zu konstituieren. Stadtforschung bleibt bei diesem Ansatz Stadtforschung, es wird aber nicht ganz klar, warum sie sich eigentlich so nennt.12 Schließlich – das ist meine dritte Beobachtung – ist auch auf dem traditionellen urbanistischen Feld des Städtebaus und der Stadtplanung kein kohärentes Stadtkonzept am Wirken. Auch dort, wo Stadt nach dem eigenen Selbst­ verständnis produziert wird (Stadtplaner planen Stadt, Städtebauer bauen Stadt), ist eine begriffliche Leerstelle zu bemerken. Im klassischen Urbanismus herrscht ein komplexes Konglomerat von ungeordneten Erbstücken, die das zeitgenössische Verständnis von Stadt bestimmen. Zwei Hauptrichtungen lassen sich unterscheiden: Einerseits spielt heute im Urbanismus der empirische Ansatz der klassischen Sozialwissenschaften (mitsamt seinem besetzten/unbesetzten Stadtbegriff), der die Stadt als positives und gemeinsames Vorhaben impliziert, eine entscheidende Rolle. Andererseits gibt es im Städtebau und in der Stadtplanung ein weiteres begriffliches disziplinäres Erbe, nämlich das Erbe des klassischen modernen Urbanismus. Hier findet sich, und das wird heute nur noch wenig erinnert, gewissermaßen die Umkehrung des Konzepts von der guten Stadt. Ursprünglich, bei der Gründung des Urbanismus als (mehr oder weniger) eigenständige Wissenschaft, dominierte dort ein ausgesprochen negativer Stadtbegriff. Der Urbanismus pflegte zu Beginn (und mindestens bis in die 1960er-Jahre) eine großstadtkritische, ja oftmals großstadtfeindliche Ausgangsposition, und zwar quer zu allen politischen und ideologischen Positionen, von denen aus die urbanistische Theorie und Praxis betrieben wurde. Auffälliges Produkt dieses negativen Stadtkonzepts sind die biologistischen Stadtzuschreibungen, die die Stadttheorie lange Zeit geprägt haben. Die wissenschaftsgeschichtlich aus der Gesundheitspflege hervorgegangene städtebauliche Planung hat sich historisch immer als Werkzeug für die Heilung eines „kranken“, „sterbenden“ Stadtkörpers begriffen, 20

und bis heute leben diese Gespenster fort in Begriffen wie Stadtsanierung, Stadtregenerierung oder der „resilienten Stadt“ (vgl. Roskamm 2011a). Während also einerseits auch in den urbanistischen Stadtwissenschaften von der begrifflich unbesetzten Stadt berichtet werden kann (weil dort aktuell tiefer gehende Auseinandersetzungen über den Begriff der Stadt ebenfalls kaum stattfinden), ist hier – gleichzeitig und parallel – andererseits eine (abwesende) Besetzung des urbanistischen Stadtbegriffs in gleich zwei Erscheinungsformen festzustellen: Erstens ist in vielen urbanistischen Ansätzen das antike positive Konzept von der „guten Stadt“ aufgehoben und weiter aktiv; die Stadt der Zukunft, die beglückende smart city, die heute überall beschworen wird, beinhaltet in ihrem Kern eine solche Konzeption. Zweitens aber sucht das klassische und frühmoderne negative Konzept der „verpes­teten Stadt“ (vgl. Foucault 1994a, 268) die heutigen urbanistischen Stadtdiskurse in un- und unterbewussten Ausformungen heim. Weiter hinten werde ich von diesen Heimsuchungen ausführlich berichten und auch die prob­lema­ tischen wie faszinierenden klassischen Wesenszuschreibungen (klassisch im Sinne der klassischen Moderne) der Stadtplaner und Städtebauer unter die Lupe nehmen.



Neben den drei Leerstellen in der Philosophie, den Sozialwissenschaften und im Urbanismus beinhaltet meine Rede von der unbesetzten Stadt in ihrem Kern ein weiteres, und zwar ein genuin theoretisches Argument. Dieses Argument lautet: Die Stadt ist nicht nur unbesetzt, sie ist auch unbesetzbar. Dass der Begriff der Stadt unbesetzt (inhaltsfrei, obsolet, tot) ist, wäre demnach nicht nur eine empirische Beobachtung. Die zentrale These, mit der ich mich mit meinem Text beschäftige, behauptet, dass die Stadt (begrifflich) auf ihrer Unbesetztheit und Unbesetzbarkeit gründet; dass es sich bei beidem nicht um einen zufälligen, sondern um einen notwendigen Zustand handelt. Die Unmöglichkeit einer (positiven) Bestimmung von dem, was Stadt ist, ist das, was sie zusammenhält. Die Abwesenheit, die sich in der unbesetzten Stadt manifestiert, ist ihr eigentliches Fundament. Meine Anfangsthese bestimmt Stadt also negativ, als einen Ort, der nie komplett besetzt werden kann und als 21

einen Begriff, der sich durch seine Unbesetzbarkeit definiert. Einer Unbesetzbarkeit, die von der notwendigen Kontingenz sozialer Faktoren produziert wird und die, aufgrund dieser Kontingenz, selbst einen unabstellbaren Konflikt um die nie endgültig erreichbare Besetzung hervorbringt. Meine Referenz für die These von der unbesetzten und unbesetzbaren Stadt ist das Postulat des französischen Theoretikers Claude Lefort vom in der Demokratie unbesetzten Ort der Macht. Ausgangspunkt für Leforts berühmtes Unbesetztheits-Edikt ist ein historisierendes Körperbild. Im Körper des Königs, das ist der Kontext von Leforts These, „verdichtet sich das Prinzip der Entstehung und Ordnung des Königreiches“ (1990, 292 f.). Genau genommen handelt es sich allerdings nicht nur um einen, sondern um zwei Körper. Bezugnehmend auf die Studie The kings’ two bodys von Ernst Kantorowicz ([1957] 1990) unterscheidet Lefort in einen natürlichen sterblichen Leib und einen übernatürlichen Körper, der (den Engeln vergleichbar) niemals stirbt.13 Der König ist sterblich, aber „im Hinblick auf seine Dignität und seinen ‚politischen Körper‘“ ist er unsterblich (1990, 488). Dieser Sprachgebrauch, so zeigt Kantorowicz, entstammt dem Spätmittelalter, wo es nach Auslegung der elisabethianischen Kronjuristen dem König erlaubt gewesen ist, zwischen seinen beiden Körpern und damit zwischen göttlicher und irdischer Verantwortlichkeit hin und her zu wechseln. In diesem Bild wird der König zum Verbindungsglied zwischen den Menschen und Gott, das sich in der Teilung in den diesseitigen und in den jenseitigen Körper repräsentiert. Wichtig ist dabei, dass die mit dem Bild eingeführte Unsterblichkeitsbehauptung zugleich eine „Objektivierung des […] politischen Körpers“ ist (1990, 492 f.). Der Körper verallgemeinert und verdinglicht sich, er wird zum Objekt. Jacques Derrida formuliert es so: „König ist ein Ding, Ding ist der König, selbst da, wo er sich von seinem Körper trennt, der ihn dennoch nicht verläßt“ (2004, 23). Die Objektivierung, die Mutation des einen Körpers des Königs zum unsterblichen, feststehenden Ding ist nicht nur deshalb bedeutsam, weil solches Objekt-Werden im postfundamentalistischen Denken eine entscheidende Rolle spielt (ich werde später ausführlich darauf zurückkommen), sondern auch, weil Lefort mit ihr ein allgemeines Gesellschaftsmodell entwirft. Der politische Körper des Königs, so lautet seine Darstellung, ist die Nation, die zur 22

­Totalität und Substanz wird. Die im König verkörperte Macht verleiht dem ­Sozialen „körperliche Gestalt“ und macht sie zur „organischen Gemeinschaft“ (Lefort 1982, 464 f. und 1990, 293 f.).14 Den unbesetzten Ort der Macht illustriert Lefort mit einem zweiten Bild: mit der Geschichte vom abgeschlagenen Kopf des Königs. Der unbesetzte Ort entsteht nämlich durch ein historisches Ereignis, und zwar durch die Hinrichtung von Louis XVI. , dem letzten Monarchen des ancient règime, der 1792 durch die Französische Revolution abgesetzt und 1793 auf Antrag Robes­pierres verurteilt und per Guillotine enthauptet worden ist. Die „Verknüpfung zwischen dem menschengemachten und dem transzendenten Legitimationsgrund von Gesellschaft“ wird im Moment der Enthauptung endgültig unterbrochen (Marchart 2010a, 133). Entscheidend ist dabei, dass nicht nur des Königs irdischer Körper, sondern eben auch sein mystischer und transzendenter Leib enthauptet wird (es gibt keinen neuen König). Für Lefort ist die Enthauptung von Louis XVI. daher der Vollzug der „demokratische Revolution“ respektive die Einschreibung der „demokratischen Erfindung“ (1986, 303). Die Kappung der Macht vom königlichen Körper führt zu dem leeren, unbesetzten und unbesetzbaren Ort, der in der Demokratie nur noch partiell und zeitweise ausgefüllt werden kann. Der zur Leerstelle gewordene Ort der Macht, so formuliert Lefort, ist der „revolutionäre und beispiellose Zug der Demokratie“ (1990, 293). Und er bewirkt ein Paradox: Der leere Ort ist „gerade in dem Sinne unbesetzbar, daß die Erprobung der Unmöglichkeit, sich dort einzurichten, sich als konstitutiv für die Vergesellschaftungsprozesse erweist“ (Lefort/Gauchet 1990, 101). Das Nicht-besetzen-Können wird bei Lefort zur eigentlichen Antriebskraft. Der unbesetzte und unbesetzbare Ort ist ein außen liegendes Ziel, ein Ort, der außerhalb von der Sphäre ist, auf die wir Einfluss nehmen können, „doch gerade aufgrund dieser Abwesenheit“ seine Wirkung entfaltet und das gesamte Feld organisiert (Lefort/Gauchet 1990, 101). Besonders betont Lefort die gründende Negativität der demokratischen Er­ findung. Nicht nur die Enthauptung selbst, auch und vor allem die Zerstörung der im Körperbild repräsentierten organischen gesellschaftlichen Totalität ist eine dezidiert negative Gründungsvoraussetzung der Demokratie. In ­Leforts These wird dabei zum einen die „Institutionalisierung des Konflikts“ 23

vollzogen und eine Spaltung zwischen dem „gesellschaftlichen Innen und Außen“ bewirkt, die „zugleich deren Beziehung begründet“ (1990, 293). Die Auseinandersetzung um die Besetzung des leeren Ortes der Macht – eine Besetzung, die in letzter Instanz nicht vollständig gelingen kann – ist das zentrale Funktionsprinzip von Demokratie. Zum anderen ist die Unmöglichkeit und Abwesenheit jeder vollständigen Kausalität die eigentliche Basis von Leforts Theorieentwurf. Die Zerschlagung der Monarchie und die Zersetzung der in der Person des Königs eingeschrieben gewesenen natürlichen Determinierung produzieren ein Vakuum an der Stelle, an der vormals die Substanz der Gesellschaft durch den Körper des Königs repräsentiert worden ist. Lefort erklärt, dass die Demokratie sich gerade dadurch „instituiert und erhält, daß sie die Grundlagen aller Gewißheit auflöst“ und damit ein „übernatürliches Prinzip“ unmöglich geworden ist (1990, 296).15 In der Anerkennung eines solchen Bruchs verortet Lefort schließlich die eigentliche Voraussetzung für das Politische. Das „Denken des Politischen“ bricht mit der objektivistischen Tradition der Wissenschaft. Zudem erfordert es ein Scharfstellen auf das, was und wie sich die Gesellschaft formt. Das gewinnt für Lefort deshalb entscheidende Bedeutung, weil es „keine Wesenheiten“ und „keine Dimension des gesellschaftlichen Raumes gibt, die ‚vor‘ ihrer Formgebung existierten“ (1990, 284). Es gibt keine „natürliche Determination“ (1988, 18), Bedeutung entsteht erst im Vorgang der Formierung selbst. Deshalb kann sie (die Bedeutung) nicht vorbestimmt sein und daher ist sie kontingent. Leforts Ausspruch vom leeren Ort der Macht konfiguriert dabei bereits die Grundannahmen des postfundamentalistischen Denkens und versammelt ein Großteil dessen, von dem ich im Folgenden berichten möchte: die postfundamentalistische Frage nach den Fundamenten und ihre paradoxale Beantwortung mithilfe einer abwesenden Anwesenheit (eines Denkmodells, das in der postfundamentalistischen Theorie immer wieder zu betrachten sein wird); das Primat von Kontingenz und Konflikt, die bei Laclau und Marchart die negativen Substanzen der dem Postfundamentalismus inhärenten Antagonismustheorie sind; eine erste Formulierung der Differenz zwischen dem Politischen und der Politik; verschiedene Geister mit und ohne Kopf (schon ein einzelner kopfloser Körper ist ein Prototyp eines Geistes; ein Geist mit zwei 24

Körpern aber keinem Kopf dürfte auf jeder spektralen Veranstaltung eine äußerst gute Figur machen). Leforts Konzept vom leeren Ort der Macht ist damit äußerst geeignet, einer postfundamentalistischen Theorie der Stadt den Weg zu bahnen. Es gibt jedoch noch einen weiteren Aspekt, der die Übertragung von Leforts These in die Rede von der unbesetzten Stadt befördert: Er macht den Punkt nämlich gewissermaßen selbst. In der Antike, so schreibt Lefort, war der Ort der Macht noch besetzt, von einer aristokratischen Gruppe, die eine Vor­ stellung davon hatte, wie ihr gesellschaftlicher Raum und dessen Grenzen ­beschaffen sein sollen (1988, 225). Die moderne Referenz zum leeren Ort der Macht organisiert den Bezug zu einer Gesellschaft ohne eine übergreifende positive Bestimmung: weder zu einem positiven Außen (zu Gott oder einem heiligen Prinzip) noch zu einem positiven Innen (einer Gemeinschaft, einer Stadt). Der Unterschied zwischen der alten (antiken) und der modernen Demokratie liegt vielleicht darin, dass Erstere ein positives Bild von sich selbst hatte, ein Projekt, ein Ziel, eine polis. Letztere – die Demokratie der Moderne (oder auch der Postmoderne) – gründet dagegen auf einem negativen Grund, auf einer Leerstelle.16 Das ist das Ergebnis von Leforts Analyse. Und es bedarf nur einer leichten Verschiebung, um nicht nur die antike und moderne Verfasstheit von Demokratie, sondern auch die antike und moderne Verfasstheit von Stadt daraus zu begründen. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Der ­Unterschied zwischen der antiken und der modernen Demokratie bestände dann auch darin, dass die Stadt ehemals (positiv) besetzt und heute (seit der Enthauptung Louis XVI.) negativ besetzt, also unbesetzt ist. Mit der „Geburt der Politik“ in der modernen Demokratie wird der „gesellschaftliche Raum“ – Lefort ergänzt: das „‚Gemeinwesen‘ (la cité ), wie es ehemals hieß“ (1990, 284) – konstituiert. Das demokratische Gründungsereignis lässt die moderne Stadt erst entstehen, und zwar durch die Unbesetzbarkeit des Ortes der Macht. Die Wiedergeburt der Politik wird damit auch zur Wiedergeburt der Stadt – nicht mehr als positive polis, sondern als leerer Ort. Die Stadt der Moderne entsteht im und durch das demokratische Vakuum, sie gründet in der Unbesetzbarkeit, die damit auch zu ihrer Unbesetzbarkeit wird.

25

Anmerkungen

11 Ein aktueller Sammelband zu Theorien der Stadtund Raumforschung in diesem Rahmen findet sich bei Oßenbrügge/Vogelpohl 2014. 12 Im angloamerikanischen Sprachraum wird derweil bereits diskutiert, was mit dem Feld der urban

1

Eine aufschlussreiche Kritik von Glaessers Aus­

2

http://www.morgenstadt.de/ (Zugriff 7.1.2017).

führungen findet sich bei Peck 2016. 3 http://www.oegut.at/de/projekte/bauen/sdz-pro4

­studies „after the age of the city“ geschehen mag (Rickards et al. 2016, 1523). 13 Vgl. auch Harvey 2003, 60. 14 Auch bei Lefebvre findet sich das Bild vom doppel-

grammmanagement.php (Zugriff 7.1.2017).

ten König. Vor der Französischen Revolution, so

Vgl. Erik Swyngedouws Reflexion über die „kom­

­Lefebvre (und Guterman), hätte die Einheit eines

binierte und ungleichzeitige urbane Katastrophe“

Landes nicht in einem Nationalismus, sondern in der

(2016).

Person des Königs selbst gelegen. Der König sei

5

http://www.ihs.nl/education/ (Zugriff 7.1.2017).

­sowohl die mystische als auch die reale Inkarnation

6

Siehe etwa die Debatte in sub\urban zu Färber 2014.

7

Stadt und Gesellschaft waren immer eng verwandte Begriffe (Lefebvre 1996a, 100), und sie sind heute

ihrer Abwesenheit sehr wohl weiterhin wirksam.

­unterscheiden, wie ein ernst zu nehmendes Argu-

Überall sind auch heute Heimsuchungen „von dem

ment aus einer der stadtsoziologischen Grabreden

Gespenst einer ‚wahren Theorie‘“ (Lefort 1990,

auf den Begriff Stadt lautet (vgl. Krämer-Badoni

282) anzutreffen und manifestieren sich im „Willen

2004). Für sämtliche Stadtwissenschaften ist eine der Stadt eine Eigenständigkeit bewahren möchten.

Ereignisse in der Geschichte der modernen Demokratien gibt. Lefort geht es um das Gründungs­

bezeichnet ein Denken, das von einigen Teilen der

moment, um den eigentlichen Grund. Und er findet

sozialwissenschaftlichen Debatten komplett abge-

diesen Grund in der Abwesenheit eines letzten

lehnt wird. Die Bezeichnung „poststrukturalistische

Grundes.

Sammelbegriff für eine Denkschule akzeptiert, die in der Tradition eines postmarxistischen Ansatzes entstanden ist. Im Laufe des Textes werde ich immer wieder auf die Frage zurückkommen, was poststruktura­listische Theorie ausmacht. Natürlich gibt es Gegenbeispiele. In der politischen Theorie von Hannah Arendt etwa sind die polis und ihr öffentlicher Raum von großer Bedeutung. Aber auch hier bleibt der Bezug zur Stadt eher implizit. Mehr noch, gerade die zeitweise ziemlich populären Bemühungen, Arendt als konservative Denkerin zu entlarven, haben vermutlich mit dazu beigetragen, die Stadt aus den zeitgenössischen Diskursen der politischen Theorie zu vertreiben. 10 Indirekt ist bei Weber aber noch ein anderer Zugang enthalten, nämlich Stadt als Idee zu denken. In einer solchen Auslegung kann meine Studie auch als ein weberianisches Projekt eingeordnet werden.

26

zur Objektivierung“ (Lefort 1990, 284). 16 Was natürlich nicht bestreitet, dass es auch positive

Poststrukturalismus ist ein umstrittener Begriff und

Theorie“ wird von mir hier vorläufig unhinterfragt als

9

talen Prinzipien, die unbedingten Determinanten) in

möglicherweise gar nicht mehr voneinander zu

solche Trennung aber essenziell, wenn sie sich mit 8

des Volkes (Lefebvre/Guterman 1999 [1936], 82). 15 Allerdings sind solche Grundlagen (die fundamen­

1 Die Suche nach dem Grund

27

1.1

Materialismus und Determinismus

Postfundamentalismus beschäftigt sich mit Fundamenten. Die Theorie des Postfundamentalismus zeichnet sich dadurch aus, dass es sie zu den Fundamenten drängt, dass sie von Fundamenten regelrecht angezogen wird. Fundamente sind Gründungen, Gründungen von Theorien, Praktiken. Auf den Fundamenten, so könnte man vielleicht sagen, steht der Rest. Fundamente sind das eigentliche Thema des postfundamentalistischen Denkens. Die Objekte des Postfundamentalismus sind das, was den Dingen (den Ideen, den Systemen, allem) zugrunde liegt. Letztlich ist der Postfundamentalismus nichts weniger (und auch nichts anderes) als eine Theorie von den Gründen. Der Postfundamentalismus sucht die Fundamente. Nicht so sehr, um sich selbst zu fundieren, nicht, um die eigene Fundierung zu begründen, sondern um vorgefundene Fundierungen zu erkennen, zu durchleuchten, ihre Funktion und Wirkung zu begreifen. Letztlich fundiert sich der Postfundamentalismus durch eine solche Suche aber dann doch auch selbst, und zwar mit einer Theorie, die zeigen und erklären möchte, was Gründe machen, warum sie notwendig sind und – das ist die eigentliche Pointe – warum sie in letzter Instanz als letzte Instanz nicht gelten können. Deshalb (aus diesem Grunde) beschäftigt sich postfundamentalistische Theorie mit Fundamentalismus. Dieser Begriff bezeichnet die Grundlegung des Sozialen, welche einen Grund absolut setzt, als – aus sich selbst heraus – einzig wahr, als Letztbegründung. Eine Eigenschaft des fundamentalistischen Denkens ist es, dass es aufgehört hat, seine selbst gesetzten Letztbegründungen zu diskutieren, zu hinterfragen und zu belegen. Für die postfundamenta­ listische Analyse stehen Fundamentalismen dagegen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Sie beobachtet, identifiziert, kritisiert und erstellt eine ganze Topologie der verschiedensten Fundamentalismen in der ­akademischen Wahrheitsproduktion: Empirizismus, Positivismus, Objektivismus, Ökonomis­ mus, Rationalismus, Subjektivismus, Szientismus oder ­Utilitarismus. Solche Formen von Gründungsgeschichten des Sozialen lassen sich unter dem Oberbegriff des Determinismus versammeln. Das Konzept des Determinismus in seiner allgemeinen Form ist eine Theorie, in der etwas Gege­benes 28

die Entwicklung von etwas anderem bestimmt (determiniert), ohne eine andere Möglichkeit zuzulassen. Zentrale Bestandteile einer solchen Konzeption sind Notwendigkeit und Vorhersagbarkeit: Determinismus behauptet beides. Mit dem Argument des Determinismus wird häufig eine theoretische Haltung kritisiert, der die Annahme von der Existenz eines letztlich bestimmenden Faktors zugrunde liegt: beim Naturdeterminismus die determinierende Rolle, die der Natur zugeschrieben wird, beim ökonomischen Determinismus die determinierende Rolle der Ökonomie. Es geht jedoch nicht um die These, dass etwas lediglich Auswirkungen hat. Niemand bestreitet, dass klimatische oder topografische Verhältnisse irgendwelche Auswirkungen auf gesellschaft­ liche Verhältnisse haben. Auch besteht kein Zweifel daran, dass Produktionsverhältnisse bedeutsame Faktoren der historischen Entwicklung sind. Nicht das „Auswirkungen haben“ steht zur Debatte, sondern das „letztlich Gründen“. Die klassische Geografie wird nicht deshalb als naturdeterministisch bezeichnet, weil dort klimatische und topografische Faktoren untersucht werden, sondern mit dem Argument, dass die These vertreten werde, dass die natürlichen Bedingungen das Gesellschaftliche gründen. Und ein dogmatischer Marxismus wird nicht deshalb als deterministisch kritisiert, weil dort die Produktionskräfte und -verhältnisse analysiert werden, sondern wegen der Diagnose, dort werde die Auffassung vertreten, dass die ökonomischen Faktoren die soziale und historische Entwicklung bestimmen. Dabei wird in der sozialwissenschaftlichen Debatte der Begriff Determinismus in der Regel nicht zur Beschreibung eines selbst vertretenen Theorieansatzes verwendet, sondern eine andere Theorie als „deterministisch“ kritisiert. Der Begriff Determinismus steht meist für eine bestimmte Form von Kritik. Die klassische Geografie im 19. Jahrhundert bezeichnet ihren Ansatz zum Beispiel nicht selbst als „Naturdeterminismus“. Mit dem Ausdruck wird vielmehr eine Analyse zum Ausdruck gebracht, in der kritisiert wird, dass dort eine Theorie zu finden sei, in der die Entwicklung des Gesellschaftlichen durch die natür­ lichen Verhältnisse (dem Klima, der Topografie) determiniert wird.1 Im Folgenden möchte ich die Problematik des Determinismus im Marx’schen Denken untersuchen. Und zwar deshalb, weil dieses Denken die Herkunft 29

sowohl der postfundamentalistischen Theorie als auch der kritischen Stadtforschung markiert und die Zuwendung zu dieser Herkunft somit zu den ­t heoretischen Ausgangspunkten meines eigenen Ansatzes führt (der ja erklärtermaßen beides – Stadtforschung und Postfundamentalismus – zusammendenken möchte). Zum einen rechnet sich das postfundamentalistische Denken der Marx’schen Tradition zu, auch wenn es dort nicht immer mit offenen Armen empfangen wird (davon wird noch zu berichten sein). Das postfundamentalistische Denken als Theorie von den Gründen ist jedoch auf alle Fälle dafür prädestiniert, auch die eigenen Gründungen aufzusuchen und dabei zu verhandeln, wie sich einer Antwort auf die Frage nach dem Determinismus bei Marx genähert werden kann. Zum anderen ist die Betrachtung des Determinismus für meinen Ansatz deshalb relevant, weil die von mir eingenommene Startposition, also die kritische Stadtforschung, zwar ohne Zweifel in weiten Teilen einem Marx’schen Denken verpflichtet ist, die Diskussion zur Frage des Determinismus in den critical urban studies bisher allerdings eher verhalten geführt wird. Das birgt aber, so lautet mein Argument, die Gefahr, dass aus dem Marxismus übernommene Determinismen im Rahmen der kritischen Stadtforschung einfach fortgesetzt und fortgedacht werden. Eine genauere Betrachtung des (potenziellen) Determinismus bei Marx und der entsprechenden Debatte zu diesem Thema kann hier deshalb im besten Fall Denkanstöße für eine theoretische Revision unterbreiten. Anders gesagt: Für das Feld der kritischen Stadtforschung scheint mir eine postfundamentalistisch informierte Intervention, die die Frage nach dem eigenen Determinismuskonzept stellt, besonders empfehlenswert zu sein.2 Nach dem Determinismus im Denken von Marx und Engels zu fragen, ist eine komplexe und heikle Angelegenheit. Die Frage scheidet die Geister und markiert Grenzen – etwa zwischen post- und neomarxistischen Denkansätzen. Den Vorwurf des Determinismus hört keine Theorie gerne, und dementsprechend leidenschaftlich wurde und wird darüber gerungen, ob er (der Vorwurf), was die Auffassungen von Marx und Engels betrifft, zutreffend ist oder nicht. Die These, die ich im Folgenden diskutieren möchte, lautet, dass im Denken von Marx und Engels eine zentrale Spannung vorhanden ist, die sich genau aus der Frage ergibt, ob die Welt (die Geschichte) als ökonomisch letzt30

determiniert (durch die materiellen Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse) gedacht oder ob zugrunde gelegt wird, dass die Welt (die Geschichte) von einer ganz anderen Kraft bestimmt wird, nämlich von ergebnis­offenen Prozessen und Ereignissen (etwa von der Geschichte der Klassenkämpfe). Ich möchte fragen, ob sich jene beiden Auffassungen miteinander in Einklang bringen lassen, ob zwischen ihnen ein unauflösbarer Widerspruch besteht oder ob sie sich im Gegenteil überhaupt nicht widersprechen. Meine These dabei ist, dass genau die Frage, ob es im Denken von Marx und Engels einen ökonomistischen Determinismus gibt oder nicht, das von Marx und Engels inspirierte Denken bis heute in Bewegung und – dadurch – aktuell hält.

• Die philosophische Grundlegung des Marx’schen Denkens ist das materia­ listische Geschichtsverständnis, das Marx in seinen frühen Schriften ent­ wickelt. Der Begriff Materialismus ist ganz wörtlich zu nehmen: Die mate­ riellen Ressourcen (Material, Materielles) werden mit dem Begriff in den Vordergrund des grundlegenden Nachdenkens gerückt. Marx erarbeitet seine Version des Materialismus, indem er sich mit den drei bestehenden großen weltanschaulichen Auffassungen auseinandersetzt. Erstens kritisiert er die Theologie und die Religion und deren Übergabe der Verantwortung an eine göttliche Instanz. Eine solche Kritik, so heißt es bei Marx, „ist die Voraussetzung aller Kritik“ (1844, 378). Der zweite Hauptangriffspunkt ist der (deutsche) Idealismus beziehungsweise die zeitgenössische „bürgerliche Philosophie“ und Metaphysik. Das Materielle (das Wirkliche, Greifbare, Vorhandene) wird von Marx als Kontrapunkt zum vergeistigten Philosophieren der deutschen Denker und Dichter gesetzt. Zusätzlich gibt es eine dritte Frontstellung, und zwar innerhalb des Materialismus selbst. Marx unterscheidet den Materialismus in zwei verschiedene Varianten: in den herkömmlichen „mechanischen Materialismus“ und in den neuen und ­a ktualisierten Materialismus, dessen Ausarbeitung sein Ziel ist. Der Erstgenannte, so führt Marx aus, erklärt „die Seele für einen Modus des Körpers und die Ideen für mechanische Bewegungen“ (Marx/Engels, 303). Die ­Erfolge dieses Denkens würden insbesondere „in der mechanischen Naturwissenschaft“ 31

(1845, 303) gefeiert werden. Marx arbeitet heraus, dass ein solcher Materialismus auf eine naturwissenschaftliche Theorie von der Entwicklung des Sozia­ len zielt. Gegenüber Religion, philosophistischer Metaphysik und vergeistigtem Idealismus ist das (für Marx) zwar durchaus ein Fortschritt. Der mechanische Materialismus geht für ihn jedoch nicht weit genug, weshalb es einer Fortschreibung des Konzepts bedarf, einen weiterentwickelten Materialismus. Der Materialismus, der von Marx vorgeschlagen und der dann (übrigens erst später) als „historischer Materialismus“ bezeichnet wird, gehört also zur Familie des mechanischen Materialismus, zu einem gewissen Punkt aber wendet er (der neue Materialismus) sich gegen ihn (den alten) und spaltet sich von ihm ab. Im Vergleich zum mechanischen Materialismus basiert der neue Materialismus auf drei entscheidenden Verschiebungen: einer Auswechslung der gründenden Sphäre (statt der Naturwissenschaften die Ökonomie), der Negation des Grundes (Ökonomie nicht als Ziel etwa der Maximierung des nationalen Wohlstandes, sondern als krisenhafter Kern) und schließlich der Identifizierung des Trägers des Grundes (des Proletariats). Der historische Materialismus von Marx und Engels entsteht als Weiterführung des mechanischen Materialismus und dessen naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen. Das ist für meine Untersuchung nicht nur deshalb von Bedeutung, weil der mechanische Materialismus bis heute den Rahmen für viele auf dem orthodoxen urbanistischen Feld wirksamen Erzählungen abgibt (etwa über „allgemein-gültige“ Regeln des Städtebaus oder der Raumplanung), sondern auch, weil in dieser Genese die Verwandtschaft des (neo-)marxistischen und des klassischen Determinismus greifbar wird – der Erstere ist aus dem Letzteren hervorgegangen. Grob gezeichnet lassen sich damit – jenseits der Theologie – drei große konkurrierende ideengeschichtliche Linien festmachen, mit denen Marx sich ­beschäftigt: der Idealismus (unaufgeklärt, theologisch, spekulativ, metaphysisch), der mechanische Materialismus (die bürgerliche Version einer aufgeklärten Wissenschaft, in der Gott/Geist durch die Naturwissenschaft ersetzt worden ist) und der historische Materialismus (zum Ausdruck kommend im Sozialismus und Kommunismus). Während der Idealismus für Marx der Gegner Nummer eins ist, weist der mechanische Materialismus aus seiner Per­ 32

spektive zwar in die richtige Richtung, begreift jedoch nicht den entschei­ denden Punkt, nämlich die Bedeutung der Produktionsverhältnisse für die soziale/historische Entwicklung. Das leistet erst der historische Materialismus, der wiederum selbst nicht so sehr Produkt theoretischen Denkens, sondern Ausdruck historischer Abläufe ist, die sich im Sozialismus und Kommunismus manifestieren. Im Grunde liefert Marx die Theorie zu einer bereits empirisch beobachtbaren Entwicklung, und diese Abfolge ist aus seiner Sicht auch die einzig mögliche (sie ist sozusagen selbst Bestandteil des historischen Materialismus).3 Stellen wir die Frage nach dem Determinismus: Was determiniert wen in dieser Erzählung? Darüber besteht auf den ersten Blick kaum ein Zweifel: Die determinierende Instanz sind die materiellen Verhältnisse, die Produktionsverhältnisse. Allerdings werden sie von einer zweiten Determinante heim­ gesucht, und zwar vom Proletariat. Die weltgeschichtliche Rolle des Prole­ tariats, so formuliert Marx seine These, würde darauf beruhen, dass „die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist“ (1845, 206). Die Philosophie wird also durch das Proletariat im Proletariat überwunden („auf­ gehoben“, um es dialektisch auszudrücken). Im Proletariat sind  – nach Marx – „alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt“, weil (hier erklingt die Entfremdungsthese) „der Mensch in ihm sich selbst verloren“ ist (1845, 206). Diese Umstände bewirken den Klassenkampf. Das Proletariat muss genau deshalb aufbegehren und „sich selbst befreien“, weil es dazu „unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit“ gezwungen ist (1845, 206). Das Proletariat hat die notwendige historische Aufgabe der Revolution. Es kann und wird sich befreien, indem es seine und damit alle materiellen „Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft“ aufhebt (1845, 206). Letztlich, so argumentiert Marx, ist das Proletariat durch sein Sein notwendig: „Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ (1845, 207) Ziel und Aufgabe des Proletariats stehen dabei bereits unveränderlich fest, sie sind in der dem Proletariat eigenen 33

Lebenssituation und in der ganzen Organisation der bürgerlichen Gesellschaft unwiderruflich vorgezeichnet. An dieser Stelle lässt sich das Marx’sche Ringen um den Begriff der historischen Notwendigkeit bereits gut erkennen. Die Verschärfung der materiellen Zustände zum Unaushaltbaren zwingt dem Proletariat seine historische Rolle auf. Das ist sicherlich eine deterministische Argumentation, aber es ist ein anderer Determinismus, ein Determinismus, der nicht in einem Gott oder einem Geist und auch nicht im Klima oder einer genetischen Erbanlage gründet, sondern in der Entwicklung der sozialen Verhältnisse. Der historische Materialismus ist ein bewusster und bewusst umgestalteter Determinismus, der auf einer empirisch beobachtbaren, materiellen und geschichtlichen Entwicklung fußt. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass ein solcher Materialismus – wenn er in seinen zeitgenössischen Zusammenhang gestellt wird – eine postfundamentalistische Note hat: Er überwindet nämlich (und solch eine Überwindung ist eine zentrale Aufgabe eines jeden „post-“) den Fundamentalismus des Theologischen/Metaphysischen und Mechanischen mit einer neuen Geschichte, in der zwei Faktoren in den Vordergrund gerückt werden: das Historische und das Materielle. Allerdings wird das Letztbegründende nicht als Letztbegründendes angegangen, und deshalb ist der historische Materialismus dann doch kaum als postfundamentalistisch zu verbuchen. Vielleicht aber ist der historische Materialismus ein Postdeterminismus (oder ein Postmaterialismus), zumindest dann, wenn unter „post-“ eine radikal andere Version jenseits der zeitgenössischen Determinismus- und Materialismusvarianten verstanden wird, der sich aus einem theoretischen Durchgang durch die Theorie der vorangegangenen Auffassung entwickelt. Denn genau das ist es, was Marx und Engels unternehmen: Sie setzen den mechanischen Materialismus als zweite Frontlinie, widerlegen ihn und heben ihn dadurch auf, und zwar in all den unterschiedlichen Bedeutungen, die dieses Aufheben hat. Sie heben ihn auf (nehmen ihn in die Hand), indem sie ihn zum Untersuchungs­ gegenstand machen; sie heben ihn auf (beenden seine Gültigkeit), indem sie ihn theoretisch widerlegen und zurückweisen; sie heben ihn auf (sie bewahren ihn), indem sie sein Innerstes – den Determinismus im Kern – in die durch ihre Analyse geschaffene neue Erkenntnisstufe integrieren.4 34

In seinen Thesen zu Feuerbach schärft Marx sein materialistisches Geschichtsverständnis, und er wiederholt die Kritik am mechanischen Materialismus. Er richtet sich entschieden gegen einen „mechanischen Kausalismus“ (Laugstien 1995, 630) und gegen den Versuch, Gesellschaft objektivistisch mit naturwissenschaftlichen Gesetzen zu erklären. Dem entgegen setzt er ganz auf die Praxis. Praxis füllt die Leerstelle des mechanischen Materialismus, behebt dessen Mangel, nur mechanisch (objektivistisch) zu sein. In der 8. These verkündet Marx, dass „alles gesellschaftliche Leben […] wesentlich praktisch“ ist und dass „alle Mysterien, welche die Theorie zum Mysticism veranlassen, […] ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis u. in dem Begreifen dieser Praxis“ finden (1845, 21). Eine solche Parteinahme scheint in der Lage zu sein, sämtliche theoretischen Probleme auf einen Schlag zu lösen: Praxis ersetzt Theorie (hebt die Philosophie auf). Der berühmte Höhepunkt dieses Gedankens ist natürlich die 11. Feuerbachthese, in der Marx postuliert: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ (1845, 21) Gerade die Feuerbachthesen können nun jedoch als Ausdruck der inneren Spannung des Marx’schen Werks gedeutet werden. Einer Spannung, die der Problematik des Determinismus entspringt. Marx wendet sich gegen Feuerbach, um sich von einem mechanischen Materialismus abzugrenzen. Marx versucht, aus dem Zwang der (selbst aufgestellten) Entwicklungsgesetze und aus seiner ebenfalls eigens formulierten These von der ökonomischen Notwendigkeit auszubrechen. Und zwar durch das Bekenntnis zur Praxis und zur revolutionären Tat, die dabei zum Allheilmittel werden: Sie bewahren gleichermaßen vor Idealismus, Naturalismus, Objektivismus und nicht zuletzt vor dem eigenen (potenziellen, ökonomischen) Determinismus.5 Genau genommen ist die 11. Feuerbach­ these aber in hohem Maße reduktionistisch, und zwar deshalb, weil sie, wie Althusser es treffend formuliert, durch „eine theoretisch zweideutige Sprache die Veränderung der Welt ihrer Erklärung entgegensetzt“ (2011, 28). Risse im Gebälk des Marx’schen Materialismus zeigen sich in der Deutschen Ideologie, in der die Komplikation zwischen ökonomischen Determinismus und dessen gesellschaftlicher Bedingtheit besonders hervortritt. Zunächst betonen Marx und Engels zwar weiterhin den Produktionsprozess und die 35

Produktionsweise als Grundlage der Geschichte und stellen heraus, dass die große Industrie „erst die Weltgeschichte“ erzeuge (1846, 49). Auch berichten sie von einer „naturwüchsigen Entwicklung“ der Gesellschaft (1846, 62). Dar­ über hinaus wird jedoch auch etwas ganz anderes hervorgehoben, nämlich die nicht feststehenden und veränderbaren Elemente, die das Soziale (das Materielle) und seinen Lauf beeinflussen. Marx und Engels reden nun viel von historisch geschaffenen Verhältnissen, von einer nicht endenden Geschichte oder von möglichen Modifizierungen durch neue Generationen. Solche Ausführungen münden in der Feststellung, „daß also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen“ (1846, 27). Hier ist es plötzlich viel unklarer, wer eigentlich den Lauf der Geschichte wirklich bestimmt. Die materiellen Umstände sind natürlich weiterhin am Werk, und sie bleiben wichtige, ja bestimmende Faktoren. Aber es gibt nun eben auch verstärkt eine anderslautende Erzählung. In der „deutlich abgesteckten Einbahnstraße“ des Marx’schen Geschichtsverständnis wird eine „umgekehrte Bewegung zugelassen“ (Kägi 1965, 313), die die Einflussnahme auch in die andere Richtung denkt, die die Möglichkeit einführt, dass Geschichte gestaltet und verändert wird, und zwar jenseits von feststehenden Gesetzmäßigkeiten. Die Determinismusfrage wird damit verunklart, es wird komplizierter und komplexer, die Gewissheiten stehen nicht mehr mit der bisherigen Stabilität, sie beginnen zu schwanken. Mehr noch, auch bei der historischen Stufung kommt es nun zu Unregelmäßigkeiten. Nicht nur die Kausalitäten erhalten die Möglichkeit, aus verschiedenen Richtungen zu kommen und in verschiedene Richtungen zu zeigen, sondern auch die ganze geschichtliche Stringenz, die normale Abfolge des Geschehens, fängt an sich zu verändern. Ereignisse wirken nach, Ereignisse wirken vor, der Horizont wird undeutlicher, aber auch das Vergangene wird widerspenstig. Marx und Engels berichten von Ablagerungen und Verfestigungen, von Ereignissen, die Effekte haben, lange nachdem sie geschehen sind. Nicht nur die Vergangenheit lebt fort, auch aus der Zukunft nehmen Dinge Einfluss, es kommt vor, „daß die Gedanken einzelner Menschen […] vor­ auseilen, so daß man sich in den Kämpfen einer späteren Epoche auf die Gedanken der theoretischen Vorläufer berufen kann“ (Kägi 1965, 311). Was sich 36

in der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx und Engels hier andeutet, ist die Auflösung eines festen Grundes, auf dem die Welt steht und mit dem sie erklärt werden kann. Das Fundament wird brüchig, und es werden neue Denkfiguren gebraucht, um mit der angedeuteten Brüchigkeit umgehen zu können. Die Dinge geraten ins Wanken, und darauf ist auch theoretisch zu reagieren. Das scheint der Grund dafür zu sein, dass Marx sich ausführlich einer Figur zuwendet, die das Gegenteil des Klaren, Benennbaren und Ge­ wissenhaften symbolisiert, nämlich der Figur des Gespensts (vgl. ausführlich Kapitel 5.1). Die Bezugnahme auf dieses Wesen ist zwar negativ, das Gespenst wird thematisiert, um es zu verjagen, um es lächerlich zu machen, um es ­auszutreiben. Aber es wird eben doch zum Thema, es wird aufgenommen in die Gefilde der wissenschaftlichen Analyse, es wird gerufen, und das zeigt Wirkung. Auch das Manifest der kommunistischen Partei eröffnet bekanntlich mit einem Gespenst – mit dem Gespenst des Kommunismus, das in Europa umgeht. Die Figur des Gespensts an den Anfang der eigenen Programmatik zu stellen, ist ein Statement für sich, mit dem Marx an die Bruchlinien und Wechsel­ wirkungen anknüpft, die sich in der Deutschen Ideologie angekündigt haben. Gefolgt wird der Auftritt (die Erscheinung) des kommunistischen Gespensterwesens von einer maximal komprimierten Version des Geschichtsverständnisses von Marx und Engels: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ (1848, 525) Die Betonung des Kampfes ist ein weiterer Ansatz, der vielleicht helfen kann, Komplexität und Uneindeutigkeit von historischen Abläufen in einem theoretischen Modell zu erfassen. Statt der Produktionsverhältnisse wird der Klassenkampf als Determinante vorgeschlagen, das „gesellschaftliche Sein“ wird in seiner Gesamtheit „durch den Klassenkampf bestimmt“ (Marchart 2013, 264). Im Grunde ist hier alles Klassenkampf – eine Überlegung, die, darauf macht Marchart aufmerksam, keineswegs besonders abwegig ist: „Gesellschaft reproduziert sich im Klassenkampf“, so lautet die „Wette des Marxismus“ (2013, 265). Die Idee des Kampfes beeinflusst die Suche nach dem letzten Grund. Der fortwährende Kampf ­verhindert nämlich die Schließung des linearen Geschichtsdenkens, er ersetzt eine starre Fortschrittskonzeption durch eine umkämpfte und daher 37

tendenziell ergebnisoffenere Variante. Es fügt dem vorgegebenen, alternativ­ losen Determinismus eine Essenz hinzu – den andauernden Konflikt –, die ihn auflockert und vielleicht auch mürbemacht. Marcharts Analyse ist es nun allerdings, dass der Marxismus – beziehungsweise hier: Marx selbst – oftmals (grundsätzlich?) dazu neige, den Klassenkampf zu vergessen. Und zwar geschehe dieses Vergessen im Ökonomismus, also in der „marxistische[n] Version einer fundamentalistischen Ontologie“ (2013, 267). Wie ist das möglich? Im Marx’schen Manuskript Zur Kritik der ­politischen Ökonomie, in der Vorstudie zum Kapital, ist dieses Vergessen ­v ielleicht am besten zu greifen. Dort findet sich tatsächlich – so macht es ­zumindest zunächst den Eindruck – ein deterministischer Ökonomismus in Reinform: „Das allgemeine Resultat, das […] einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.“ (1859, 100) Damit entsteht ein festes und unumstößliches Fundament mit sämtlichen ­E igenschaften einer fundamentalistischen und deterministischen Kon­­­­ struk­t ion: eine reale Basis für einen Überbau – schon die „konventionelle ­Me­t apher vom Gebäude ist fundamentalismustypisch“ (Marchart 2013, 268) –, eine Notwendigkeit jenseits des menschlichen Zugriffs. In den berühmten Zeilen von Marx manifestiert sich dabei nicht nur ein Ökonomismus, sondern auch ein Strukturalismus. Das Ökonomische ist vor allem Struktur, determi­n ierende Struktur, die den Lauf der Geschichte in ihren festen ­Bah­nen hält. Vermutlich aus diesem Grunde ist die ontologische Beschaffenheit der ökonomischen Strukturen der Gesellschaft zu einem entscheidenden An­­­g riffs­­punkt des poststrukturalistischen (und postmarxistischen) 38

Denkens geworden, das sich an diesen Strukturen immer wieder reibt und abarbeitet. Die ökonomistische Perspektive setzt sich im weiteren Verlauf der Marx’schen Textpassage fort. „Die Produktionsweise des materiellen Lebens“, so heißt es hier, „bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.“ (1859, 100) Dieses Bedingtsein gipfelt im berühmten Ausspruch, dass das gesellschaftliche Sein das Sein des Menschen bestimme, nicht ihr Bewusstsein (1859, 100). Die Determinante des historischen Fortgangs ist also eindeutig das Materielle, die Produktionsweise.6 Und auch das Kriterium der Vorhersagbarkeit – die zweite Kategorie des Determinismus – wird im direkten Anschluss von Marx bedient. Auf einer „gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen […]. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten“ (1859, 101). Hier findet sich erneut eine rigorose Zweiteilung: das feste Substrat des Ökonomischen auf der einen Seite, das objektiv/naturwissenschaftlich und damit unverrückbar zu sein vorgibt. Auf der anderen Seite (entgegengesetzt!) ist das Nicht-Ökonomische, das Zweitrangige, das, was nur vermittelt zählt. Marchart bezeichnet die zitierte Textstelle als den Höhepunkt des Marx’schen Ökonomismus, in der eine „quasi natur-gesetzlichen Entwicklung“ den Ablauf der Geschichte bestimmt (2013, 267 f.). Zwar sei, so Marchart, das Ausmaß strittig, in dem Marx der „Versuchung des Determinismus“ nachgegeben habe, aber unzweifelhaft wäre eine Konzeption erkennbar, in der „soziale Kämpfe objektiven Gesetzen gehorchen“ (2013, 269). Allerdings werde die 39

Diskurslage dadurch kompliziert, „dass die ökonomische Basis ihrerseits gesellschaftlich erzeugt wurde“ (2013, 268). Tatsächlich erweist sich vermutlich gerade diese Komplikation als das Entscheidende. Sie ist so etwas wie der gordische Knoten des Marx’schen Denkens, sie ist ihr eigentliches Fundament. Das ineinander verwobene, gegenseitig bedingte und gegenseitig bedingende Chargieren von offenen flüchtigen prozesshaften und ideellen Entwicklungen auf der einen und hermetischen unverrückbaren ökonomischen Gesetzlichkeiten auf der anderen Seite ist jene Differenz, die sich als uneingestandener, jedoch überaus wirksamer Konflikt im Marx’schen Weltkonzept ­manifestiert. Die Marx’sche Komplikation zeigt sich auch bei der Kritik am Malthusianismus – dem vorherrschenden konservativen nationalökonomischen respektive bevölkerungswissenschaftlichen Denken im 19. Jahrhundert. Die Theorien von Malthus haben die Entstehungsdiskurse des urbanistischen Feldes maßgeblich beeinflusst (siehe weiter hinten und Roskamm 2011a) – auch aus ­d iesem Grunde ist es für meinen Untersuchungsrahmen ertragreich, sie zu betrachten. Robert Thomas Malthus, englischer Geistlicher und Nationalökonom, entwirft in seinem Essay on the Principle of Population ([1798] 1977) ebenfalls ein „historisches Naturgesetz“, und zwar das sogenannte Bevölkerungsgesetz, das – davon ist Malthus überzeugt – die Geschicke der Gesellschaft bestimmt. Kern des Malthusianismus ist die These, dass die menschliche Bevölkerung die beständige Tendenz habe, sich unangemessen zu vermehren. Malthus rechnet vor, dass sich die Weltbevölkerung alle 25 Jahre verdopple (1977 [1798], 22) und dass die Produktivitätssteigerung mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten könne; der Mensch sei daher notwendig im Raume begrenzt. Diese Behauptung ist Malthus’ zentrales Argument, und daraus leitet er das „Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag“ ab. Das Wachstum der Bevölkerung vollziehe sich in geometrischer Progression, die Produktion von Nahrungsmitteln könne dagegen nur in arithmetischer Reihe wachsen. Malthus formt daraus die permanente Gefahr einer „Überbevölkerung“ als Naturgesetz und wendet sich gegen die zu seiner Zeit entstehenden Ansätze von Sozial­ politik, die das Ziel hatte, etwas gegen den Pauperismus (die strukturelle ­A rmut) im frühindustriellen England zu tun. Die von Malthus propagierte 40

Intervention gegen solche Reformen tarnt sich als Nicht-Intervention, als reines Befolgen des selbst aufgestellten „Naturgesetztes“. Die Populationsgröße, so argumentiert er, müsse sich an den Stand respektive an die Dynamik der Entwicklung des Nahrungsspielraumes anpassen. Marx kritisiert die Thesen von Malthus nachdrücklich. Er bezeichnet das ­Essay zum Bevölkerungsgesetz als ein „schülerhaft oberflächliches und pfäffisch verdeklamirtes Plagiat“ (1890, 553). Malthus habe, so schreibt Marx, „das fact der Ueberpopulation unter allen Gesellschaften behauptet“ und nicht bewiesen. Falsch und kindisch sei Malthus’ Auffassung, „weil er die Ueberpopulation in den verschiedenen historischen Phasen der ökonomischen Entwicklung als gleichartig“ betrachte, ihren „spezifischen Unterschied“ jedoch nicht verstehe und diese „sehr complicirten und wechselnden Verhältnisse daher stupid auf Ein Verhältniß“ reduziere (1859, 494). Malthus verwandele „die historisch verschiedenen Verhältnisse in ein abstraktes Zahlenverhältniß, das rein aus der Luft gefischt ist und weder auf Naturgesetzen, noch auf historischen beruht“ (1859, 494). In der Marx’schen Polemik wird einerseits noch einmal die Unterscheidung zwischen dem mechanischen und dem historischen Materialismus deutlich. Das Bevölkerungsgesetz von Malthus ist offenkundig eine Spielart des Materialismus. Denn es ist nicht göttliche Vorhersehung, die Malthus als Erklärung für die Entwicklung der Geschicke der Gesellschaft heranzieht, sondern sein „Naturgesetz“, das sich als Wirtschaftswissenschaft ausgibt (nicht als Theologie). Marx kritisiert den mechanistischen und reduktionistischen ­Modus dieser Wirtschaftswissenschaft. Die Problematik lässt sich aus seiner Sicht jedoch nicht dadurch beheben, indem einfach eine andere Bevölkerungskurve oder eine unterschiedliche Substitutionsfähigkeit zur Grundlage genommen wird. Die Problematik des mechanischen Materialismus liegt tiefer, und sie gründet in der deterministischen Konzeption, bei der gesellschaftliche Verhältnisse auf einfache Zahlenverhältnisse reduziert werden. Andererseits bietet Marx eine eigene Theorie an, ein eigenes Gesetz, das er aus seiner Kritik ableitet. Dafür verwendet er Malthus’ Überbevölkerungsbegriff als zentralen Baustein. Mit der „durch sie selbst producierten Akkumulation des Kapitals“ produziere nämlich die Arbeiterbevölkerung ihre eigene 41

„relative Ueberzähligmachung“ (1890, 566). Diese Produktion ist nach Marx das „der kapitalistischen Produktionsweise eigenthümliche Populations­ gesetz“ (1890, 566). „Überbevölkerung“ ist bei Marx damit kein „natürliches“ Phänomen, sondern das Produkt einer speziellen gesellschaftlichen Praxis. Die „Überbevölkerung“ ist identisch mit dem Pauperismus und dem Lumpenproletariat (vgl. Kapitel 3.3). Der Unterschied zwischen dem mechanischen und dem historischen Materialismus besteht damit nicht zuletzt in den unterschiedlichen Konstruktionsweisen von „gesellschaftlichen Gesetzen“. Auf der einen Seite Malthus, nach dem die Entwicklung des Sozialen durch eine aus der Natur entspringenden Wahrheit ­bestimmt wird; auf der anderen Seite die Marx’sche Theorie, die ebenfalls „zwingende Erfordernisse“ konstruiert, aber diese Gesetze in Beziehung zur historischen Produktionsweise setzt, die selbst als historisch wandelbar angelegt ist (allerdings als ein wiederum vorbestimmter Wandel). Der mechanische Materialismus ist eine Form von ­reduktionistischen Objektivismus, während der historische Materialismus ein bedingter und relationaler Determinismus ist, auf dessen Grunde von ­A nfang an ein gewisser Widerspruch zur eigenen Gesetzgebungskompetenz angelegt ist. Eine ähnliche Konzeption kommt dort zum Vorschein, wo Marx und Engels die Schriften von Charles Darwin diskutieren. In einem Brief aus dem Jahre 1860 schreibt Marx an Engels über Darwins Natural selection: „Obgleich grob englisch entwickelt, ist dieß das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält.“ (1860, 271) Darwin wird von Marx also nicht (wie Malthus) kritisiert, sondern zum Ideengeber erkoren, der die naturwissenschaftliche Ergänzung zum eigenen historischen und sozialwissenschaft­l i­ chen Denken liefern soll. Tatsächlich verbindet Darwin ja seine (naturwissen­ schaftlichen) Studien mit der historischen Entwicklung, oder, präziser, er erklärt die Geschichte genau damit, dass er sie auf „natürliche“ Gesetze zurückführt. Genau in dieser Intention besteht letztlich der Naturdeterminismus (der mechanische Materialismus) des 19. Jahrhunderts. Marx’ Bekenntnis zu dieser Grundlage als Vorbild der eigenen Theorie ist aus dieser Perspektive so erhellend wie problematisch. Marx formuliert, dass Darwin den Blick „auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt“ habe, und 42

er stellt die Frage, ob die „Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besondren Gesellschaftsorganisation“ nicht gleiche Aufmerksamkeit verdiene (1883, 364). Gleich­zeitig verweist Marx auf die gängige Erklärung, dass die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheide, „daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben“ (1883, 364). Die Technologie enthülle nun das „aktive Verhalten des Menschen zur Natur“, den „unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens“ und damit auch seiner „gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen“ (1883, 364). Marx nimmt Darwins Gedanken zur Grundlage und verbindet ihn mit seiner Konzeption der Produktionsverhältnisse als Determinanten der historischen Entwicklung. Aber auch hier bleibt unklar, ob der Umweg über die Produktionsverhältnisse wirklich in der Lage ist, den Darwin’schen Natur­ determinismus so umzudeuten, dass er sich von den Spielarten des Sozial­ darwinismus, die im 20. Jahrhundert bekanntlich ihren Höhepunkt erreichten (und bis heute ein populäres Erklärungsmodell abgeben), ausreichend deutlich unterscheiden lässt. Ob sich also ein reduktionistischer Determinismus vermeiden lässt, indem die „einfachen Naturgesetze“ einfach durch „geschichtlich-gesellschaftliche Naturgesetze“ ersetzt werden. Und es stellt sich weiterhin die Frage, wie deterministisch das Ökonomische als die Basis der Gesellschaft bei Marx angelegt ist.



Auch in den späten Texten von Friedrich Engels spielt die Ökonomismusfrage noch einmal eine wichtige Rolle. Er expliziert dort die Auseinandersetzung und buchstabiert sie aus. Auch Engels grenzt sich mit Vehemenz gegen Idealismus, Philosophie und alles Spekulative ab. Er bekennt sich zu einem wissen­ schaftlichen Rationalismus, in dem nur das Objektive und eindeutig Erklärund Bestimmbare seinen Platz finden kann. Die Wissenschaft, so Engels, hört dort auf, „wo der nothwendige Zusammenhang versagt“ (1878, 368). Der Rest, das sei Zufall oder Gott und beide „nur ein andrer Ausdruck für: ich weiß es nicht“ und daher für die wahre Erkenntnissuche nicht von Interesse (1878, 368). Engels Bekenntnis zu einem solchen Wissenschaftsverständnis – 43

darum geht es hier letztlich – ist eng verknüpft mit seinem Konzept von Freiheit. Freiheit liegt, so formuliert es Engels, „nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen“, sondern „in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen“ (1878, 312). Freiheit führe, so Engels, direkt zur Notwendigkeit, das freie Urteilen ist gerade das Erkennen dieser Naturnotwendigkeit. Freiheit bestehe „in der auf Erkenntnis der Naturnotwendig­ keiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur“ und sie sei „damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung“ (1878, 312). Das ist natürlich zutiefst widersprüchlich. Predrag Vranicki – ein Vertreter der undogmatisch-marxistischen jugoslawischen Praxis-Gruppe – führt vollkommen zu Recht aus, dass „in einer deterministischen Konzeption wie der materialistischen […] selbstverständlich nicht von Freiheit“ geredet werden könne, wenn „an der Konzeption des notwendigen Geschehens“ und der „Herrschaft der allumfassenden Notwendigkeit“ festgehalten wird (1972, 228). Eine solche absolute Notwendigkeit lässt keinerlei Spielraum, keinen Platz für irgendeine Freiheit. Einerseits den Menschen als ein freies Wesen zu ent­ werfen und andererseits auf der Determination der natürlichen und natur­ geschichtlichen Entwicklung zu bestehen, das passt einfach nicht zusammen. Vranicki schreibt, dass Engels an diesem Punkt den Kern des philosophischen Denkens überhaupt berührt. „Dieser Widerspruch drückt jene Gegensätzlichkeiten aus, die, so scheint es, im Fluß der Dinge und im menschlichen Dasein selbst gegeben ist“ (1972, 229). Vranicki formuliert, dass „Jahrhunderte währende Diskussionen zwischen Deterministen und Indeterministen über das Problem der menschlichen Freiheit die permanente Bemühung um die ­Lösung dieser Frage“ bezeugen würden (1972, 229). Er kommt zu dem Schluss, dass die Lösungsangebote von Marx und Engels „über die Konzeption der Freiheit von Spinoza bis Hegel hinaus weiter zur Erhellung dieses Rätsels der Menschen“ beigetragen hätten, allerdings ohne es komplett lösen zu können (1972, 229). Engels entwickelt bei seinen Abgrenzungsbemühungen gegenüber dem mechanischen Materialismus eine weitere These, die für die hier behandelte 44

Fragestellung bedeutsam ist. Er führt aus, dass im Determinismus des französischen Materialismus die Zufälligkeit geleugnet werde und die „einfache, direkte Nothwendigkeit“ herrsche (1878, 368), mit der aber ebenfalls nicht aus der „theologischen Naturauffassung“ herausgefunden werden könne (1878, 369). Gegen das explizierte Dilemma, nämlich die Absolutsetzung von entweder dem Zufall oder der Notwendigkeit, bringt Engels nun die Philosophie von Hegel in Anschlag. Engels exzerpiert aus der Wissenschaft der Logik die „bisher ganz unerhörten Sätze“, dass „das Zufällige einen Grund hat, weil es zufällig ist, und ebensosehr auch keinen Grund hat, weil es zufällig ist; daß das Zufällige nothwendig ist; daß die Nothwendigkeit sich selbst als Zufälligkeit bestimmt, und daß andrerseits diese Zufälligkeit vielmehr die absolute Nothwendigkeit ist“ (1878, 369).7 Über den Rückgriff auf Hegel und dessen Aufhebung des Zufälligen im Notwendigen (und andersherum) blitzt in Engels’ Dialektik der Natur ein Ansatz auf, der einen Grundgedanken des Postfundamentalismus antizipiert. Dort wird nämlich das Althusser’sche Diktum zur Hauptsache erklärt, nach dem es gilt, nicht nur die „Kontingenz der Notwendigkeit“ zu denken, sondern auch die „Notwendigkeit der Kontingenz“ (Althusser 2010, 41; siehe dazu auch Marchart 2010a, 191 u. 2013, 290).8 Wenn heute das Verhältnis von Marx’scher Theorie zu einem ökonomischen Determinismus das Thema ist, wird regelmäßig ein weiterer Text von Engels herangezogen, und zwar sein Brief an Joseph Bloch aus dem Jahre 1890. Selbstkritisch schreibt Engels, dass er (und Marx) es eigens verschuldet hätten, „daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt“ (1890, 465). Der Grund dafür sei, dass sie „den Gegnern gegenüber das von diesen geleugnete Hauptprinzip“ betont ­hätten und dabei „nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit“ gewesen wäre, die „übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen“ (1890, 465). Dennoch: Zu behaupten, „das ökonomische Moment“ sei der einzig bestimmende Faktor, wäre eine Verdrehung und ge­ne­ riere zudem eine „nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase“ (1890, 463). 45

Engels erklärt, dass die ökonomische Lage zwar die Basis sei, die verschiedenen Momente des Überbaus aber „auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe“ ausüben würden und in „vielen Fällen vorwiegend deren Form“ bestimmten (1890, 463). Es sei „eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so ­u nnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt“ (1890, 463). In seinen späten Texten formuliert Engels auch das Argument von der „letzten Instanz“. Nach materialistischer Geschichtsauffassung sei die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens das „in letzter Instanz entscheidende Moment in der Geschichte“ (1890, 463). Mehr habe – und diese Rechtfertigung zeigt, dass der Determinismusvorwurf bereits ein zeitgenössischer gewesen ist – weder Marx noch er selbst je behauptet. Die Menschen würden, das wiederholt er in einem weiteren Brief (an Walther Borgius, 1894), ihre ­G eschichte selbst machen. Da sich aber ihre Bestrebungen dabei immer durchkreuzten, herrsche die Notwendigkeit, deren Ergänzung und Erscheinungsform die Zufälligkeit ist. Engels Materialisierung der Hegel’schen These besteht darin, dass diese „Notwendigkeit, die hier durch alle Zufälligkeit sich durchsetzt“, schließlich und endlich dann eben doch die ökonomische Notwendigkeit ist (1894, 205). Es wäre zwar nicht so, dass die ökonomische Lage alleinige Ursache und alles andere nur „passive Wirkung“ sei. Vielmehr gelte: Alles ist Wechselwirkung. Die Wechselwirkung selbst geschehe aber „auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit“ (1894, 206). Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung, auf diesem Standpunkt beharrt Engels, beruhe auf der ökonomischen. In einem solchen Konzept sind und bleiben die ökonomischen Bedingungen die eigentlichen Determinanten und das „in letzter Instanz die geschichtliche Entwicklung Bedingende“ (1894, 206). Engels löst diesen Punkt in seinen späten Texten also nicht auf. Er 46

schafft mit seinem Wort von der letzten Instanz aber einen Ansatzpunkt für ein Weiterdenken. Louis Althusser nimmt ein paar Jahrzehnte später das Argument der „letzten Instanz“ auf und interpretiert es neu. Althusser schreibt, „dass sich die ökonomische Dialektik niemals im reinen Zustand zur Geltung bringen kann“, dass die Überbauten in der Geschichte nicht einfach „respektvoll Platz machen, wenn sie ihr Werk vollbracht haben (oder sich einfach auflösen wie ein reines Phänomen), um ihre Majestät die ÖKONOMIE auf dem Königsweg der Dialektik allein voranschreiten zu lassen, weil

ihre Zeit gekommen ist“ (2011, 39). Aus diesem Grund schlage die „einsame Stunde“ der letzten Instanz niemals, „weder im ersten noch im letzten Augenblick“ (2011, 139). Marchart bezeichnet den Gedanken von Althusser als „verzweifelten und zugleich großartigen Versuch, den Ökonomismus zu überwinden“, ein Versuch, der den Begriff der Determination (durch die Ökonomie) bis zu dem Punkt radikalisiert, „an dem er auseinanderbricht“ (2013, 289). Das „kontingenztheoretische Potenzial“, so Marcharts weiter, ließe sich nur freisetzen, wenn der Begriff der Determination genutzt werde, „um die Stelle des Fundaments gerade offenzuhalten“ (2013, 291). Eigentlich müsste Althusser dafür „die Phrase von der nie schlagenden Stunde der letzten Instanz nur wörtlich nehmen“ (2013, 291). Marchart radikalisiert also den Gedanken von Althusser und setzt ihn als „unmögliche letzte Instanz“, die wirklich weiter determiniert, aber eben ausschließlich als rein negative Kategorie – die Unerreichbarkeit dieses Ortes (zeitlich wie räumlich) wird zum Gründungsprinzip des Postfundamentalismus. In den späten Schriften von Engels findet insgesamt betrachtet eine gewisse Aufweichung und Aufweitung der deterministischen Konzeption statt, die in den Produktionsverhältnissen nicht das die gesellschaftliche Entwicklung ­a lleine beeinflussende Moment mehr sehen, sondern eine komplexe Gemengelage von Gründen und Einflussfaktoren zulassen möchte. Besonders mit dem Begriff der Wechselwirkung will Engels die rigide Vorlage aus der Kritik der ökonomischen Vernunft relativieren und zurechtrücken. Damit grenzt er sich ziemlich deutlich von einem dogmatischen Marxismus ab, der Ende 47

des 19. Jahrhunderts in der realen sozialistischen Politik bereits begonnen hatte, hegemoniale Formen anzunehmen. Vor allem aber wird in all diesen Äußerungen noch einmal deutlich, dass es Engels – obwohl er das zu seinem Ziel erklärt – nicht gelingt, den eigentlichen Knoten des historischen Materia­ lismus zu lösen. Der wiederholte Hinweis, dass der Überbau auch wichtig sei, kollidiert jedes Mal wieder mit dem Insistieren darauf, dass das Ökonomische letztlich doch entscheidend ist. Dieses Lavieren legt den Schluss nahe, dass sich das Rätsel des Determinismus im (und mit dem) Denken von Marx und Engels nicht vollständig lösen lässt. Für Marx hat sich die Frage nach dem Ökonomismus offenbar gar nicht gestellt (zumindest geht er sie nicht wirklich explizit an). Engels stellt sich zwar die Frage, gerät dabei aber in eine ziemlich zirkuläre Argumentation, die postuliert, dass der Determinismus möglicherweise gar nicht so deterministisch ist, aber in letzter Instanz eben doch das Ökonomische das Soziale und auch den Lauf der Geschichte bedingt. Damit wird das Rätsel nicht gelöst, sondern aufgehoben – was den Vorteil hat, dass es in den nachfolgenden Generationen diskutiert werden kann und diese Diskurse mit seinem Ungelöst-Sein lebendig hält. Die Frage nach dem Determinismus löst sich nicht und löst sich deshalb auch nicht auf, sondern wird im Gegenteil zum hauptsächlichen Punkt des nachfolgenden postmarxistischen Denkens, wenigstens dort, wo dieses Denken sich theoretisch interessiert zeigt.

1.2 Wahrheitsproduktionen Walter Benjamin vergleicht in seinem fragmentarisch gebliebenen Text Über den Begriff der Geschichte den historischen Materialismus mit einem Schachautomaten: „Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde 48

die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt.“ (1974, 691) Der historische Materialismus, so lässt sich Benjamin interpretieren, weiß tatsächlich Antwort auf viele Fragen. Er bedient sich aber eines Apparates, der – aufgrund einer ausgefeilten Konstruktion – die Illusion der Durchsichtigkeit erweckt. In Wirklichkeit ist er also keineswegs durchsichtig, aber er bedient sich der Illusion, und zwar vermutlich deshalb, um seinen Antworten nicht nur mehr Gewicht, sondern einen ganz speziellen Status zu geben. Der Apparat gibt seine Antworten nicht direkt, sondern durch eine Puppe, er gaukelt dem Fragenden etwas vor. Die Antworten sind gut und richtig (sichern sie doch den Gewinn der Partie), sie werden aber von einem Apparat gegeben, der durch sein Apparat-Sein zwar nicht den Inhalt der Antwort verändert, aber ihren Status und Kontext. Er soll glauben machen, dass die Antworten nicht nur richtig, sondern unverrückbar wahr sind. Er hat den Zweck, von der kontingenten Natur der Antworten abzulenken. Er inszeniert sie als nicht hinterfragbar, weil automatisch gegeben. Das von Benjamin gezeichnete Bild leitet den Blick hin zu der „Frage nach der Wahrheit“ (Foucault 2006b, 35) beziehungsweise dem „Wahr-Sagen in der marxistischen Tradition“ (Demirovic 2008, 194) und damit auch zur Auseinandersetzung mit der Marx’schen Weltanschauung nach Marx. Dieses große Feld möchte ich hier zumindest schlaglichtartig beleuchten, indem ich exemplarisch zwei Positionen aufrufe und diskutiere: zum einen den Versuch von Karl Korsch, die philosophische Basis des historischen Materialismus zu expli­z ieren, zum anderen den ideengeschichtlichen Zugang von Paul Kägi, der ­vorschlägt, den Grund des Marx’schen Determinismus bei Auguste Comte aufzuspüren.9



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Karl Korsch, ein früher Vertreter des sogenannten westlichen Marxismus, hat sich Anfang des 20. Jahrhunderts eingehend mit dem philosophischen Status des historischen Materialismus beschäftigt. Korsch geht es darum, das Besondere und Einzigartige des Marx’schen Denkens zu explizieren und die Weltanschauung herauszuarbeiten, die diesem Denken zugrunde liegt. Er widerspricht der seinerzeit vorherrschenden Meinung, Marx und Philosophie hätten nichts miteinander zu tun. Und Korsch weiß, dass diese Überzeugung in ganz entgegengesetzten Lagern vertreten ist. Er formuliert, „die bürgerlichen Philosophieprofessoren“ hätten sich gegenseitig versichert, der Marxismus habe keinen „eigenen philosophischen Gehalt“ und dabei geglaubt, „etwas Großes gegen ihn gesagt zu haben“; die „orthodoxen Marxisten“ dagegen würden genau das Gleiche sagen, aber in der Überzeugung, damit „etwas Großes für ihn zu sagen“ (1930, 52). Korsch macht sich auf die Suche nach den Gründen für dieses Paradox und thematisiert explizit die Spannung zwischen einerseits einem Ökonomismus, der den Lauf der Geschichte als vorgegeben betrachtet (und das Soziale als reine und notwendige Ableitung der Produktionsverhältnisse und ihrer Entwicklungsstufen) sowie andererseits einem Geschichtsbild, in dem – hervorgehend aus dem Klassenkampf – Veränderungen der historischen Abläufe möglich sind. Auch für Korsch findet sich der Schlüssel für den Marx’schen Materialismus – diesem „im übrigen allzu vieldeutigen Namen“ (1930, 144) – in der Identifikation der beiden Gegenströmungen: dem Idealismus auf der einen und dem mechanischen Materialismus auf der anderen Seite. Bei der Abgrenzung zum Letzteren, das betont Korsch, sei der Marx’sche Ansatz als eine materialistische Auffassung des „geschichtlich-­ gesellschaftlichen Lebens zu unterscheiden von demjenigen Materialismus, den Marx und Engels als den ‚naturalistischen‘ bezeichnet haben“ (1930, 141). Die „Berücksichtigung der geographischen Einflüsse“ auf die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sei „außerhalb des Bereiches der ‚materialistischen Geschichtsauffassung im engeren Sinne‘“ zu verorten (1930, 138). Korsch zieht also zunächst noch einmal die Linie nach, die den Materialismus der zeitgenössischen Naturwissenschaften von der materialistischen Geschichtsauffassung Marx’scher Prägung trennt.

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Korsch fokussiert auf das Argument, dass der mechanische Materialismus gerade von Bestimmungsfaktoren ausgehe, die nicht historisch und nicht sozial sind (und deshalb „mechanisch“ ablaufen). Diese Bestimmung wird für ihn zum ersten Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden materialistischen Hauptformen. Bei der Abgrenzung zum Idealismus argumentiert Korsch ganz ähnlich. Er arbeitet nämlich heraus, dass der Marx’sche Materialismus sich gerade in seiner Ablehnung von Letztbegründungen von allem Metaphysischen und Religiösen abhebt, dass die Verlagerung des Grundes in das Dies­ seits bei Marx die Unterscheidung zum Idealismus und seinen jenseitigen Fundamenten definiert. Damit wird die Ablehnung jenseitiger Fundamente (Gott, Natur) zum zweiten Gründungsgedanken des historischen Materialismus. Korsch erklärt, dass nicht nur die Ideale der Religion und der „bürger­ lichen Moralphilosophie“ jenseitig seien, sondern jegliche „theoretischen Wahrheitserkenntnisse“ (1930, 140). Es gäbe einfach keine feststehenden ­objektiven Tatsachen, nichts ewig Währendes, das von Wissenschaft und Philosophie gesucht und gefunden werden könnte, um dann für immer zu ­gelten. Eine solche Vorstellung, so pointiert Korsch sein Argument, sei „ein Traum, und nicht einmal ein schöner, denn eine unwandelbare, unveränderliche Idee wäre natürlich zugleich eine nicht mehr entwicklungsfähige Idee“ (1930, 140). Korsch rekonstruiert den Marx’schen historischen Materialismus damit als Kontingenztheorie: „Mögen die ewigen Götter für die Erhaltung der ewigen göttlichen Wahrheiten sorgen. Alle Wahrheiten, mit denen wir irdisch diesseitigen Menschen es je zu tun haben werden, sind irdisch diesseitiger Natur und ­somit der ‚Vergänglichkeit‘ und allen anderen sogenannten ‚Unzulänglichkeiten‘ aller irdischen Erscheinungen ohne jeden Vorzug mit unterworfen.“ (1930, 136) Korsch zeigt, dass naturalistische, mechanische Erklärungen des Sozialen – das, was heute als „naturdeterministisch“ bezeichnet wird – im Kern die ­g leiche Problematik wie Religion und Metaphysik aufweisen: die Behauptung ­einer substanziellen Wahrheit, einer nicht beeinflussbaren und nicht 51

veränderlichen Abfolge des Weltgeschehens. Und er formuliert auch den politischen Gehalt dieser Aussage. Für dergleichen könne sich nämlich „nur eine saturierte Klasse begeistern, die sich in dem gegenwärtigen Zustande wohl und bestätigt fühlt“ (1930, 140). Korsch fängt damit auf überzeugende Weise die zentrale Bedeutung der Veränderung und des Umsturzes ein, die der historische Materialismus als Theorie der kommunistischen Revolution haben muss. Eine Weltauffassung, die auf Unveränderbarkeit beruht, so führt Korsch aus, kann nicht Grundlage einer Theorie sein, die (materielle, soziale) Veränderung zum Ziel und als eigentlichen Zweck hat. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass der historische Materialismus möglicherweise doch auch als postfundamentalistischer Ansatz interpretiert werden kann, dass er – folgt man dem Argument von Korsch – als ein solcher sogar interpretiert werden muss.10 In Schwierigkeiten kommt dieses Argument allerdings dann, wenn die Frage des Ökonomismus diskutiert wird. Korsch stellt sich diesem Thema und verwendet dabei interessanterweise exakt die gleiche Passage aus der Marx’­ schen Kritik der Politischen Ökonomie von 1859, die Marchart als Höhepunkt des Ökonomismus bezeichnet und die von mir im letzten Kapitel ausführlich zitiert worden ist. Korsch möchte damit allerdings etwas ganz anderes belegen. Marx habe, so postuliert Korsch, „in seiner Kritik der hergebrachten Ideo­logie“ herausgearbeitet, dass das Ökonomische der „für alle übrige bestimmende Faktor im geschichtlich gesellschaftlichen Leben der Menschen“ sei (1930, 127). Korsch wiederholt die Worte von Marx’ und daher bleibt ihm nichts anderes übrig, als von absoluten und absolut bestimmenden Faktoren zu sprechen. Damit produziert er einen Widerspruch zu seinem gerade noch aufgestellten Kontingenzedikt, der sich eigentlich nicht lösen lässt. Korsch versucht es dennoch. Der neue Materialismus, so argumentiert er, löse „alle Mysterien der Theorie mit einem Schlag“ auf, weil er „den Menschen als denkend-anschauendes und zugleich handelnd-tätiges Wesen“ konzipiere und damit eine Gegenständlichkeit erzeuge, die er „als ‚Produkt‘ der ‚Tätigkeit‘ der ‚vergesellschafteten Menschen begreift“ (1930, 136). Das Argument lautet genau genommen, dass schon allein mit dem Terminus Produktion der Prämisse von den veränderbaren Verhältnissen Genüge getan sei. Nichts, so 52

fährt Korsch fort, sei „ein bloßes totes Sein, ein blindes Spiel von unbewußt bewegenden Kräften und bewegten Stoffen“, noch nicht einmal die Wahrheit selbst. Alles wäre hingegen „menschliches, gesellschaftliches Produkt“ (1930, 136). Die Lösung des Marx’schen Determinismusproblems findet sich bei Korsch damit letztlich in einer Tautologie. Es gibt nicht mehr das Göttliche und auch nicht das Mechanische (Geografische, Natürliche), welches das ­Soziale bestimmt, sondern es ist das Soziale selbst (als Materielles, als Ökonomisches), was das Soziale determiniert. Allerdings, so lässt sich aus postfundamentalistischer Perspektive einwenden, tendiert dieses Soziale (als Materielles und Ökonomisches) zur Autonomie und gerät damit stark in ­Versuchung, doch selbst einen ziemlich mechanischen Determinismus ­hervorzubringen. Korsch unternimmt noch einen weiteren und überzeugenderen Anlauf, dem Ökonomismus zu entkommen. Hier lautet seine Erklärung zunächst, dass sich alle Phänomene der Welt in zwei Kategorien einteilen lassen. Zum einen gäbe es die unveränderliche, vom Menschen nicht beeinflussbare Welt der Natur, zum anderen die Menschen-gemachte Welt der (menschlichen) Produkte. Die „beiden Welten“ – die natürliche feststehende und die gesellschaftliche formbare –, so erklärt Korsch, sind aber letztlich gar nicht „zwei getrennte Welten, sondern vielmehr ein und dieselbe“. Das sei deshalb so, weil beide in den „passiv-aktiven Lebensprozeß der Menschen“ eingebettet liegen, „die in ihrem arbeitsteiligen Zusammenwirken und Denken ihre gesamte Wirklichkeit fortwährend reproduzieren und weiterentwickeln“ (1930, 137). Die Pointe ist nun, nicht die beiden Pole, sondern das Verbindende zum entscheidenden Faktor zu bestimmen. Das Bindeglied der beiden (Teil-)Welten, darauf läuft die Darstellung hinaus, ist die materielle Produktion oder kurz: die Ökonomie. Mit einer solchen Theorie wird die Frage nach dem Determinismus verschoben, das Determinierende ist in der Relation selbst enthalten. In diesem Konzept ist ein radikaler Relationismus angelegt (aber nicht ausbuchstabiert), der auf jegliche Determinante außerhalb der Relation verzichtet und die ­Relation zu etwas macht, was letztlich als Relation bestimmt. Für Korschs Idee spricht natürlich, dass es sich ja bei den deterministischen Faktoren von Marx explizit um Produktionsverhältnisse handelt (um Relationen und 53

Bindeglieder). Die Frage bleibt jedoch, warum eigentlich die Ökonomie das Bindeglied ist, was sie dazu ermächtigt, die Relation zu sein, von der alles andere abhängt, und wie sie das genau macht. Sowohl bei Marx als auch bei Korsch bleibt dieser Teil des Arguments im Unklaren, und deshalb findet sich (meines Erachtens) auch in beiden Fällen keine komplett überzeugende Lösung der Determinismusproblematik. Es gibt zwar eine Weichenstellung in Richtung Relativismus; Kontingenzpostulat und Notwendigkeitsterminologie geraten bei beiden aber doch immer wieder in Konflikt. zueinander. Letztlich löst Korsch das Determinismus-Dilemma dann auch auf einer anderen Ebene, nämlich indem er – ganz im Geiste der Feuerbachthesen – die Praxis und das Praktische privilegiert. Die Marx’sche Theorie steht, so lautet Korschs Punkt, für eine philosophische Weltanschauung, in der die für „die bürgerliche Epoche charakteristische strenge Scheidung zwischen Theorie und Praxis“ überwunden ist (1930, 134). Und eine ganz ähnliche Überwindung scheint dabei auch das Problem des Determinismus zu erfahren: Es wird nicht gelöst, aber es löst sich auf. Dieses Kunststück gelingt Korsch, indem er erklärt, dass der Marxismus einfach etwas ganz anderes ist als die herkömmlichen Weltanschauungen (also als Idealismus und mechanischer Materialismus). Tatsächlich kann dieses Argument meines Erachtens vor allem dort überzeugen, wo Korsch die Verbundenheit des Materialismus zum „unreinen Mate­ riellen“ herausarbeitet. Er erklärt, dass der marxistische Materialismus gar keine „‚reine‘ Wissenschaft oder Philosophie“ sein möchte,11 sondern vielmehr in seinem Kern die bürgerliche Wissenschaft und Philosophie durch eine „rücksichtslose Entlarvung ihrer verschiedenen ‚Voraussetzungen‘“ kritisiert (1930, 120). Jede Theorie findet in einer Praxis statt, und tatsächlich unterscheidet diese Erkenntnis das Marx’sche Denken von vielen seiner zeitgenössischen Alternativen (aber auch von vielen aktuellen Denkmodellen). Korsch führt aus, dass, während „die bürgerliche Philosophie und Wissenschaft dem trügerischen Phantom der ‚Voraussetzungslosigkeit‘“ nachjage, „der Marxismus in allen seinen Teilen von vornherein auf diese Illusion“ verzichtet habe (1930, 121). Auf solche unreinen materiellen Voraussetzungen hinzuweisen ist aus meiner Sicht bis heute ein fruchtbares Feld für post­ marxistische Ansätze. 54

Korsch findet seinen Ausweg also in der Erhebung des Marx’schen Denkens. Solch eine Erhöhung birgt jedoch ihre eigenen Gefahren. Auch Korsch weiß das, und dem eigentlichen Adressaten seiner Analyse – dem dogmatischen Marxismus, der „alten Marxorthodoxen Kirche“ (1930, 2) – wirft er genau das vor: eine Glorifizierung, die die eigene Kritikfähigkeit verschattet. Auch sein eigenes Argument ist vor einer derartigen Verschattung aber keineswegs gefeit. Korsch erklärt mit ziemlich religiösem Eifer, von der Textpassage aus der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie müsse „jedes Wort gewogen und unendlich oft gelesen und wieder gelesen werden“ (1930, 131). Dabei droht jedoch jegliche kritische Distanz verloren zu gehen (ein Phänomen, das bei manch neo-marxistischen Denkerinnen und Denkern bis heute beobachtet werden kann). Korsch argumentiert letztlich selbst mit einem Jenseits-­ Diesseits-Diskurs – diesseits die bürgerliche Philosophie, der naturalistische Materialismus und der „Vulgärmarxismus“, jenseits die wahre Marx’sche Lehre – und verliert dabei die explizierte Determinismusproblematik wieder aus den Augen. Die „neue philosophisch-materialistische Auffassung des ­Zusammenhangs aller geschichtlich gesellschaftlichen Erscheinungen“, die nach Korsch sowohl eine marxistische Ökonomie als auch eine marxistische Philosophie beinhaltet (1930, 129), erfährt damit eine Art von Eigentorpedierung. Denn Korsch stellt die Determinismusfrage nicht nur selbst, und zwar ohne sie beantworten zu können. Er setzt die Frage auch an den Anfang, oder vielleicht besser: auf den Grund der Marx’schen Weltauffassung. Hier, im Kern der „philosophische[n] Problematik des Marxismus“ (Vranicki 1972, 9), findet sich diese Frage bis heute und verhindert, dass aus der Problematik eine Philosophie wird, dass das System abgeschlossen und beendet werden kann.



Eine andere Herangehensweise zum gleichen Thema findet sich beim Schweizer Historiker Paul Kägi, der die Texte von Marx und Engels nach ihrer Ideen­ geschichte befragt. Zentraler Punkt ist dabei ebenfalls die Problematik des Ökonomismus. Kägi argumentiert allerdings nicht wie Korsch – nämlich: bei Marx gäbe es im Grunde gar keinen Determinismus –, sondern er schickt im 55

Gegenteil voraus, dass dem Marx’schen Denken ohne Zweifel ein solcher Ansatz zugrunde liege. Er unterstreicht, dass bei Marx letztlich alles abhängig von „wirtschaftlichen Ereignissen“ ist (1965, 291). Kägi bezeichnet die materialistische Geschichtsauffassung als „ökonomischen Determinismus“, der nach der Marx’schen Ausarbeitung in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 im weiteren Verlauf zu einer festen Überzeugung geronnen ist (1965, 303). Kägi versucht, die Determinismusfrage zu ergründen, indem er eine mögliche Herkunft dieser Konzeption aufsucht. Die Spur führt dabei zu Auguste Comte, dem französischen Gründungsvater der Soziologie, dessen Texte starke Wirkung auf das Denken von Marx und Engels ausgeübt haben. Im 19. Jahrhundert wurden Comtes Texte allgemein viel diskutiert, und es wird berichtet, dass aus den Zeugnissen von Marx über Comte ein „gewisser Neid“ ersichtlich werde, weil Letzterer zu Lebzeiten unter den Intellektuellen und insbesondere bei der englischen Gewerkschaft mehr Zuspruch gefunden habe (Brankel 2004, 14). Kägi vermutet jedenfalls, dass Comtes im Jahre 1822 in kleiner Auflage veröffentlichte Text Opuscules de philosophie ­sociale die weltanschauliche Entwicklung im Denken von Marx und Engels entscheidend beeinflusst hat. Die zentrale These, die Comte in dieser Schrift ausbreitet, ist die eines allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts, den er in drei verschiedene Stufen unterteilt. In der ersten Stufe befindet sich die Gesellschaft in einem theologischen, fiktiven und militärischen Zustand (1914, 143). Diese Epoche, in der sich, nach Comte, das Soziale viele Jahrhunderte lang befunden hat, ist so ­etwas wie die voraufklärerische Ära. Die zweite und zeitgenössische Periode, deren historischer Ablauf Comte als relativ kurz andauernd vorhersagt, ist die metaphysische und abstrakte Phase. Hier äußert sich der soziale Aggregatszustand in der Dominanz des kritischen und negativen Denkens. Der letzte Zustand, dessen Eintreten – so erklärt Comte – unmittelbar bevorstehe, ist der des Wissenschaftlichen, Technischen und Positiven. Dort erreicht die Gesellschaft den „endgültigen sozialen Zustande des Menschengeschlechts“ (1914, 1). Zusammengenommen finden sich in dieser Drei-Phasen-Theorie sämtliche Punkte, für die der Name Comte bis heute steht: Positivismus, das Denken von Notwendigkeit und Vorhersagbarkeit, Empirizismus und das 56

Primat des Sozialen. Der Positivismus hat zum Ziel, das dritte und letzte Stadium des konsekutiven Stufenmodells vorzubereiten und den Grundgedanken der „positiven Politik“ zu finden (1914, 83) – einer Politik, die nicht mehr mäkelt und kritisiert, sondern eindeutigen, naturwissenschaftlichen und rationalen Charakter erlangt hat. Der erste Erfolg der Arbeit zur Gestaltung der positiven Philosophie, so schreibt Comte, müsse unbedingt dahin führen, „unwiderruflich die kritische Philosophie des 18. Jahrhunderts zum Verschwinden zu bringen“ und alle Kräfte der Denker auf die „Reorganisation der Gesellschaft, d. h. auf den praktischen Zweck einer solchen Arbeit“ zu richten (1914, 147). Auch Comte spielt also die Praxiskarte, und auch er spielt sie gegen die Theorie. Die Verlagerung des Theorisierens hin zum praktischen Gestalten wird bei Comte zum „direkte[n] Zweck der politischen Wissenschaft“ (1914, 158).12 Eng verbunden mit einer solchen Konstituierung des Positivismus ist das ­P rimat des Sozialen, das dabei zum Ausdruck kommt. Mit der Einführung des „positiven Gedankens“ privilegiert Comte die Bedeutung des Sozialen und macht sie zum Fundament seiner Weltanschauung: Endlich betrachte die „wissenschaftliche Lehre der Politik die sozialen Zustände“ (1914, 70 f.). Für Comte erreicht die Politik, indem sie sich den „naturgemäßen“ Phasen des ­Sozialen zuwendet, den Status echter Wissenschaftlichkeit. Das Soziale ist diejenige Materie, mit der das Politische transformiert wird, und zwar trans­ formiert weg vom Theoretischen, Philosophierenden und Kritisierenden hin zur wahren Wissenschaft. Bei Comte ist – wie bei Marx – das Soziale das Ma­ terielle, und beide zusammen sollen die Sozialwissenschaft in einen natur­ wissenschaftlichen Zustand überführen. Und genau damit verändert es auch das Politische: Das Politische wird durch das Soziale/Materielle zum Wissenschaftlichen, es wird positiv, objektiv und exakt. Ein zentraler Punkt dieser Konzeption ist wiederum der Aspekt der Notwendigkeit, den Comte ganz besonders herausstellt. Comte gibt sich alle Mühe, seine drei historischen Phasen als vorgezeichneten und wissenschaftlich erwiesenen Ablauf der Geschichte zu inszenieren. Die „fundamentale Idee“, so formuliert er, bestehe darin, dass „der Fortschritt der Kultur sich nach einem notwendigen Gesetz vollzieht“ (1914, 90). Comte betont immer wieder die 57

Bedeutung, die im Nachweis dieser Notwendigkeit liege. Die Geschichte müsse für einen solchen Nachweis einen „bestimmten und unveränderlichen“ Gang erhalten (1914, 95), denn nur dann sei die Sozialwissenschaft auch in der Lage, ihren notwendigen Lauf zu bestimmen. Nicht-Notwendiges hat in dieser Anschauung keinen Platz: Sämtliche „verständigen Männer“ würden heute erkennen, dass der Zufall nur einen „unbegrenzt kleinen Anteil an den wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen“ habe (1914, 96). Zudem ist Comtes Modell darauf angewiesen, dem Menschen seine historische Handlungsfähigkeit zu entziehen – anders lässt sich der vorgezeichnete Weg nicht vorzeichnen. Und das macht Comte dann auch unmissverständlich: „Ganz allgemein kann man sagen: wenn der Mensch eine große Wirkung aus­zuüben scheint, so tut er das sicher nicht aus eigenen Kräften, die stets sehr gering sind“ (1914, 103). Das ist die unmissverständliche Überzeugung des frühen Soziologen. Der Mensch hat kaum eigene Handlungsmacht, nicht er bestimmt den Lauf der Dinge. Immer wirken „die äußeren Kräfte für ihn nach eigenen Gesetzen, auf die er keinen Einfluß hat“ (1914, 103). Notwendigkeit, Vorbestimmtheit und Vorhersagbarkeit bedingen sich in dieser Konzeption gegenseitig und sind die Grundfesten des Positivismus und seiner „ununterbrochene[n] Fortschritte“ (1914, 91). Forschungsstrategisch geht es dabei um die Etablierung des Sozialwissenschaftlichen als etwas, das gleichwertig zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften anzuerkennen ist. Aber dieses Denken ist bei Comte nicht nur strategisch, sondern es steht für eine tiefgreifende Überzeugung.13 In ähnlicher Weise begründet Comte schließlich sein Konzept von der „sozialen Physik“ (1914, 170). Das Soziale basiert in dieser Vorstellung ebenso wie alle anderen natürlichen Phänomene auf entschlüsselbaren Naturgesetzen, die nur richtig und vollständig erkannt werden müssen. Die „Gelehrten“, so formuliert es Comte, müssten nun „die Politik zum Rang einer Beobachtungs­ wissenschaft erheben“ (1914, 65). Da alles vorbestimmt und vorgezeichnet ist, kommt es ja nur noch darauf an, das Vorbestimmte und Vorgezeichnete zu beobachten und dabei zu erkennen. In der sozialen Physik werden also letztlich einfach die Naturphänomene des Sozialen so lange beobachtet, bis sich deren Sinn erschließt und es möglich ist, sie in das historische For­t schritts58

und Fortschreitungsprojekt einzuordnen. Es geht für Comte um das „genaue Begreifen der Reihenfolge des Fortschritts seit dem Anfang von einer Generation zur anderen“ und damit um ein klar abgrenzbares singuläres und lineares Wissen (1914, 196). Dieses Wissen umfasst zum einen die „Gesamtheit des sozialen Körpers“, die Belange der Bevölkerung und des Staats. Es umfasst aber noch mehr, nämlich „jede einzelne Wissenschaft, jede Kunst, jeden Teil der politischen Organisation“. Dieses Wissen herzustellen, bezeichnet Comte als „die Methode, wie sie unbedingt durch die Natur der sozialen Physik vorgeschrieben ist“ (1914, 196). Während die traditionelle Physik und ihre Bewegungsgesetze die Grundlagen dafür liefern, die natürlichen Kräfte und Energien nicht nur zu verstehen, sondern auch zu steuern, behauptet der Begriff der „sozialen Physik“ das Gleiche, aber dieses Mal bezogen auf die Gesellschaft. Das Soziale wird eine von Sozialingenieuren steuerbare und zu steuernde Maschine – in genau dieser Vorstellung kulminiert der Ansatz von Comte. Auf dem Grunde des soziologischen Denkens liegt damit das Denken eines social engineering, das auf dem urbanistischen Feld bald darauf eine entscheidende Rolle spielen wird (vgl. Kapitel 4). Comte vertritt einen offen deterministischen Ansatz: Der Determinismus-­ Nachweis ist Ausgangspunkt und Ziel seines Denkens. An seiner Sozialphilosophie lassen sich sämtliche Eigenschaften veranschaulichen, die ein solches Denken ausmachen: Notwendigkeit, Vorbestimmtheit, Vorhersagbarkeit und davon abgeleitet: Empirizismus, Objektivismus, Ablehnung von Kontingenz. Entscheidend ist dabei, dass Comte in seinem positivistischen Schnitt auch dem Politischen seine Essenz entzieht, nämlich die Kraft für Veränderung. Dieser Eingriff vollzieht sich keineswegs nebenbei, sondern dezidiert und entschieden. Die „wahre, die positive Politik“, so postuliert Comte, dürfe gerade nicht versuchen, die „Erscheinungen zu regieren“ und sich dadurch den anderen Wissenschaften gleich zu tun, die ja auch nur erkennen und nicht verändern wollten (1914, 105). Die „Überlegenheit der positiven Politik“ gegenüber dem bisherigen Verständnis beruhe im Gegenteil gerade darauf, dass sie „dort entdeckt, wo die anderen erfinden“ (1914, 105). Bezogen auf die Frage nach den Grundlagen des Marx’schen Determinismus zeigt der kurze Exkurs in Comtes Opuscules de philosophie sociale, dass Paul 59

Kägis These ziemlich plausibel ist. Marx und Engels haben zwar die von Comte gestaltete Lehre nicht einfach übernommen, aber sie hat sie wohl ­u nbedingt beeinflusst. Wichtige und grundlegende Spurenelemente der Comte’schen Lehre sind jedenfalls im Theorieauf bau des historischen Materia­l ismus aufzufinden. Das gilt etwa für das historische Phasenmodell. Der Übergang zur kommunistischen Gesellschaft, so notiert Kägi, markiert auch im Marx’schen Denken einen „notwendigen geschichtlichen Stufengang“ und ist dabei erst einmal „völlig unabhängig von menschlichem Planen“ (1965, 336). Marx und Engels vertrauten darauf, die gesellschaftliche Entwicklung als Naturgesetz explizieren zu können und eine „wissenschaftliche Weise“ gefunden zu haben, die mit „Naturnotwendigkeit“ zum „Sieg des Proletariats“ führt (1965, 366). Und auch bei Marx und Engels ist die letzte, noch nicht eingetretene, aber unmittelbar bevorstehende Phase der Zustand, in der sich das System schließt, an dem ein idealer Endpunkt erreicht ist, wo historische Entwicklung aufhört fortzuschreiten, das Ende der Geschichte. Vorgezeichneter Ablauf der Historie, positives Ende, das Hervorheben von Notwendigkeit sowie das Privilegieren des Empirischen (gegenüber dem Theoretisieren), all das sind starke Ähnlichkeiten im Theorie­ aufbau von Comte und Marx & Engels, die kaum von der Hand zu weisen sind. ­Aus­w irkungen hat dieser Einfluss nicht zuletzt auf den Begriff des Mate­r ialismus. In ihm schwingt bis heute das Naturwissenschaftliche, oder besser: das Ziel, das Soziale naturwissenschaftlich (und damit eindeutig und vorhersagbar) zu erklären. Und genau in diesem Nachklingen liegt ver­ mutlich auch ein Grund für die heutige Sperrigkeit des Begriffs: Dem Konzept des Materialismus ist die positivistische Problematik historisch ein­ geschrieben. Comtes Thesen haben allerdings nicht nur Ähnlichkeiten zu denen von Marx, es gibt auch Merkmale, die in ganz andere Richtungen verweisen. Der erste Unterschied besteht in der Antwort auf die Frage, wer den (vorgezeichneten) Weg der Erkenntnis beschreiten und wer die Menschheit zu ihrem Ziel führen soll. Bei Marx ist das natürlich die Arbeiterklasse, und der Weg dorthin ist der Klassenkampf. Comte geht seine Antwort zwar ebenfalls über den Begriff der Klasse an – bei einer „so wesentlichen Arbeit“ seien „die Klassen und 60

nicht die einzelnen Personen in Betracht [zu] ziehen“ (1914, 53). Allerdings ist er mitnichten ein Revolutionär und hat deshalb eine andere Klasse als „neuen Träger der geistigen Gewalt“ im Sinn, und zwar – ganz im Sinne der antiken Staatsphilosophie – die Weisen und Wissenden. Die „Natur der auszuführenden Arbeiten“, so formuliert es Comte, deute „von selbst auf das klarste an, welcher Klasse der Gesellschaft“ in das positive Zeitalter führt (1914, 53), nämlich die Gelehrten, welche allein die Fähigkeit und die „theoretische Autorität“ für die „geistige Leitung“ besitzen würden (1914, 58). Der zweite Unterschied besteht darin, dass Marx den Kampf und die Revolution als notwendige Stationen des sozialen Fortschritts setzt, während Comte diese Kategorien komplett ausblendet. Marx und Engels sind Theoretiker des Konflikts, und im Marxismus gilt, dass alles Klassenkampf ist. Die Revolution, so schreiben Marx und Engels, ist nötig, damit die „stürzende Klasse“, also die Proletarier, in die Lage versetzt werden, „sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen“ (1846, 60). Comtes prognostizierter Weg in den Positivismus ist dagegen ein friedvoller, der nicht über Umsturz und Veränderung beschritten wird, sondern den die Menschen qua Erkenntnis ganz von selbst und alle gemeinsam gehen. Aus diesem Grunde gibt es im Werk von Comte auch nicht die innere Spannung, die das marxistische Denken ausmacht. Nicht nur, weil es keine antagonistischen Klassen und Klasseninteressen gibt, sondern auch, weil der Determinismus im Positivismus – anders als im historischen Materialismus – nicht auf die theorieimmanenten Widersprüche stößt, an denen sich das Marx’sche Denken immer wieder reibt. Auch Kägi registriert diese Ambivalenz und stellt in seinem Resümee dem ökonomischen Determinismus bei Marx die gegenteilige These der Veränderung zur Seite, nämlich die „revolutionäre Tat“ als „dynamisches Motiv“ (1965, 393). Und er betont, dass es sich bei diesen im Grunde unvereinbaren Kraftquellen um einen wirklichen Widerspruch handelt (und nicht etwa um taktische Erwägungen), dass Marx und Engels diesen Widerspruch allerdings wohl einfach nicht als solchen empfunden hätten. Die Erklärung, die Kägi für die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Determinismus und ­K lassenkampf vorschlägt, lautet dann auch, dass es sich darin um einen „­chemischen Prozeß im Gemüte der beiden Männer“ handele, bei dem „unter 61

hoher Temperatur Elemente sich verbanden, die sonst nichts miteinander zu tun hatten“ (1965, 394).



Zusammengenommen betrachtet stehen sowohl die Position von Paul Kägi als auch die von Karl Korsch für die andauernde Spannung innerhalb der marxistischen Theorie, die hervorgerufen wird durch den teils unterschwelligen, teils offen ausgetragenen Streit um die Konzepte des Determinismus und der Kontingenz. Dieser Streit ist eine treibende Kraft im postmarxistischen Denken. Die Fragen, ob, wie sehr und auf welche Weise ein ökonomischer Determinismus dem Marxismus inhärent ist und wie eine heutige Position zu der mit dieser Frage aufgerufenen Problematik aussehen könnte, ist von Anfang an ein wichtiges und wiederkehrendes Element in der Marx’schen Tradition. Ein Element, das nicht nur wiederkehrend, sondern unverzichtbar ist. Schließlich ist es jene Debatte selbst, die die Marx’sche Theorie am Leben erhält und verhindert, dass eine Schließung im positivistischen Sinne stattfindet. Dadurch entfaltet sich im besten Fall ein „freies Denken par excellence“, dessen „innerstes Wesen“ die „kritische Haltung gegenüber den Andersdenkenden und gegenüber sich selbst“ ist (Vranicki 1972, 11) und das immer Impulse setzen kann für alle, „die nicht der Ansicht sind, daß die revolutionäre Theorie fertig ist und es jetzt nur noch um ihre praktische Anwendung geht“ (Vranicki 1974, 523). Aus diesem Grunde ist das Marx’sche Denken auch „nicht ‚die Wahrheit‘ der Gesellschaft“ oder sonst etwas Pseudo-Religiöses, das einem das Denken und Zweifeln abnehmen kann, es ist vielmehr „der Sitz einer Sinnproduktion, die es ermöglicht, andere Diskurse zu befragen, zu unterbrechen und neue Subjekte zu konstituieren“ (Laclau 1988, 57). In jeder kritischen Theorie ist es daher eine Pflichtaufgabe, den Ingredienzen des Determinismus – der Notwendigkeit, der Vorhersagbarkeit, der Konzeptualisierung von Geschichte in Stufenmodellen – ins Gesicht zu sehen (sie ins Visier zu nehmen), und auch, sich permanent mit der Frage nach den eigenen Gründungsinstanzen und -mechanismen auseinanderzusetzen. Dort, wo der Streit aufgehört hat, wo von einer endgültigen Klärung des Determinismusproblems ausgegangen wird, 62

wo keine Fragen nach der theoretischen Verankerung mehr gestellt und wo nur noch Dinge gezählt und in eine Reihenfolge gebracht werden, ist kritisches Denken und kritische Theorie dagegen kaum zu erwarten. Damit kann nun auch die eingangs gestellte Frage nach der Herkunft des postfundamentalistischen Denkens genauer beantwortet werden. Die Herkunft dieses Denkens ist nämlich exakt die im historischen Materialismus angelegte „Streitfrage“ (Laugstien 1995, 634), die um die Problematiken des Determinismus, Ökonomismus und Empirizismus kreist. Die dort gestellten Fragen sind als Grundierung gerade deshalb produktiv, weil sie nicht eindeutig und definitiv zu beantworten sind, sondern immer wieder neu aufgelegt werden müssen und das Denken dabei in Bewegung setzen (beziehungsweise es da in Bewegung halten, wo es bereits in Gang gesetzt ist). Die Spannung zwischen einem ökonomistischen Determinismus und einem kontingenzbewussten Offenlassen der Konzeption von geschichtlicher Entwicklung ist der unvermeidbare konflikthafte Kern des historischen Materialismus (der spitze Stein unter dem flachen Brett), der dafür verantwortlich ist, dass das theoretische Bewusstsein immer zwischen unterschiedlichen Auslegungen schwankt und dabei nicht in der Lage ist, sich dauerhaft zu stabilisieren.

1.3

Stadt, Land, Gegensatz

Für mein Ziel, eine postfundamentalistische Stadttheorie zu skizzieren, ist es zunächst wichtig gewesen, den weltanschaulichen Grund von kritischer Stadtforschung und postfundamentalistischem Denken aufzusuchen, also die Herausforderungen des Marx’schen Denkens in Erinnerung zu rufen und die dabei aufgewühlte Streitsache (darüber, was die Geschicke der Gesellschaft bestimmt) in Augenschein zu nehmen. Im Folgenden möchte ich auf die Rolle fokussieren, die die Stadt selbst im Marx’schen Denken spielt. Dass die Stadt in den Texten von Marx und Engels eine Rolle spielt, ist bekannt. Aber was für eine Rolle ist das eigentlich? Gibt es hier einen ausbuchstabierten Begriff der  Stadt? Findet sich gar eine eigene Stadttheorie? Und falls das nicht der Fall ist: Welche Rolle spielt ein bei Marx und Engels nicht-vorhandener 63

Stadtbegriff bei der Genese der sich selbst in eine marxistische Denktradition stellenden kritischen Stadtforschung (es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass im postfundamentalistischen Denken Abwesenheit nicht Unwirksamkeit bedeutet)? Schließlich: Wie materiell ist eigentlich die Stadt im Marx’­ schen Denken? Wird bei Marx und Engels auf die Materialität der Stadt fokussiert und wenn ja, auf welche Weise? Und was ist mit dem Klassenkampf? Dieses Fragenbündel möchte ich nun aufmachen und anhand einiger weiterer Ausflüge in die Originaltexte diskutieren. Wenn es um die Verbindung von Marxismus und Stadt geht, wird heute häufig Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Friedrich Engels als der zentrale Text genannt. Die „Lage der arbeitenden Klasse“, so eröffnet Engels seinen Text, ist „der tatsächliche Boden und Ausgangspunkt aller sozialen Bewegungen der Gegenwart.“ (1845a, 7) In seiner Schrift beschreibt Engels leidenschaftlich und anschaulich die sozialen Verhältnisse in den englischen Arbeiterstädten, schildert die ökonomischen und alltäglichen Bedingungen des Proletariats und analysiert die Lebenswirklichkeiten der Arbeiter anhand von Statistiken, Tabellen und sogar städtebaulichen Skizzen. Er studiert die soziale Lage in den Städten, und er empört sich über das, was er dort vorfindet. Engels geht es insgesamt in der Hauptsache um die Ausgangslage für die sozialen Kämpfe seiner Zeit. Die Stadt ist hier in erster Linie einfach der Ort, an dem sich diese sozialen Bewegungen bilden. Als theoretischer Text über die Stadt ist Engels Beitrag nicht explizit angelegt. Allerdings gibt es ein Kapitel zu den „großen Städten“, das Engels mit dem Satz eröffnet: „So eine Stadt […] ist doch ein eigen Ding.“ (1845a, 29) Ein solcher Beginn lässt aus postfundamentalistischer Perspektive bereits aufhorchen: Die Stadt als „eigen Ding“ zu präsentieren, das findet sich, so meine These, nicht zufällig auf dem Grunde der noch nicht gegründeten kritischen Stadtforschung. Materialismus, Materialität und Verdinglichung schauen dem jungen Engels bei seiner Zuwendung zur Stadt vom ersten Augenblick an über die Schulter. Wobei dieser Bezug zunächst implizit bleibt. Was Engels vordergründig mit seinem einleitenden Ausruf zum Ausdruck bringt, ist die Faszination, die der Anblick der großen Stadt – hier von London – in ihm auslöst: „Ich kenne nichts Imposanteres als den Anblick, den die Themse 64

darbietet, wenn man von der See nach London-Bridge hinauffährt.“ (1845a, 29) Damit beschreibt er ein Gefühl, das (nicht nur) Stadtforscherinnen und Stadtforscher bis heute bewegt: die Faszination der großen Stadt. Das ist natürlich eine ziemlich triviale Feststellung, aber sie hilft möglicherweise, dem Ding Stadt etwas näher zu kommen. Denn die Begeisterung für das eigene Objekt ist für sozialwissenschaftlich Forschende nicht unbedingt selbst­ verständlich. Im aktuellen Urbanismus – auch in der kritischen Stadtforschung – ist das Fasziniert-Sein von der Stadt dagegen durchaus die Regel, und kaum einer nimmt Anstoß an einer Bezeichnung wie „urbanophil“, wie einer der bekanntesten deutschsprachigen Internetblogs zur Stadt benannt ist.14 ­Stadtforscherinnen sind heute meist Freunde des Stadt und des Urbanen (während es unter Soziologen nicht unbedingt verbreitet ist, sich durch die Bezeichnung „Freund der Gesellschaft“ zu definieren). Aus Sicht einer psychoanalytisch interessierten Sozialtheorie wie dem Postfundamentalismus ist das bemerkenswert, genauso wie es festzuhalten lohnt, dass Engels den urbanistischen Teil seiner empirischen Sozialanalyse eröffnet, indem er die Stadt zum Ding macht und sie als Verheißungsobjekt einführt. Diese positive Zuneigung zur Stadt ist jedoch nur die eine Seite der Medaille, und die Begeisterung von Engels hält auch nicht besonders lange an. Im ­Gegenteil: Engels gibt sich im weiteren Verlauf seiner Ausführungen keinesfalls als Freund der Stadt. „Schon das Straßengewühl hat etwas widerliches“, berichtet Engels (1845a, 29). Die Bewohner der Großstädte sieht er als „einsame Masse“, das städtische Treiben repräsentiert für ihn die „Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat“. Die „Welt der Atome“, so philosophiert Engels, „ist hier auf ihre höchste Spitze getrieben“ (1845a, 30), in den großen Städten seien „die Sitten und Verhältnisse der guten alten Zeit am gründlichsten vernichtet“ (1845a, 28). Mit diesen Äußerungen bedient Engels eine zweite Attitüde, die bis heute symptomatisch für viele Stadtanalysen ist: Eine kulturkritische Rede, die auf die „gute alte Zeit“ rekurriert und die zeitgenössische Stadt als krankes, verzerrtes Abbild eines ehemals vorhanden gewesenen Ideals skizziert. Eine solche Inszenierung ist, wie wir noch sehen werden, ein weiteres Element, das orthodoxe und kritische Stadtforschung miteinander verbindet. 65

Neben dem kulturkritischen Ansatz finden sich im Text von Engels zahl­ reiche weitere Themen, die den klassisch modernen Urbanismus und seine konstitutive Großstadtablehnung später prägen. So verwendet Engels den zentralen malthussianisch-urbanistischen Diskurs zur „Überbevölkerung“ und formuliert, dass die „Bevölkerung der Stadt“ schlichtweg „zu dicht“ sei (1845a, 119).15 Konservative Großstadtfeindschaft in Reinform klingt spätestens an der Stelle durch, an der Engels von den „schlimmen Folgen der großen Städte für die sittliche Entwicklung der Arbeiter“ spricht (1845a, 119). Engels bewegt sich somit auf den Pfaden des institutionellen Urbanismus (oder besser: Er ist einer der Pioniere, die diese Pfade anlegen), in dem die bestehende Stadt wort­ reich verdammt und verantwortlich gemacht (zur Verantwortung gezogen) wird. Die große Stadt ist bei Engels nur kurz und einleitend ein Verheißungsobjekt. Im Anschluss ist sie vor allem Symbol des Kranken, Unsittlichen und Schlechten. Engels nimmt mit einer solchen Konzeption von Stadt ein zentrales Element der nachfolgenden Urbanismusdiskurse vorweg. Das ist jedoch nur die eine Seite der Geschichte, und es ist wichtig, auch die andere Seite zu betrachten. Henri Lefebvre – zu dem ich im nächsten Kapitel ausführlich kommen werde – schreibt in seiner Analyse des Marx’schen Gründungs-Stadttextes, dass Engels die „städtische Wirklichkeit in ihrer ganzen Abscheulichkeit“ aufdecke, dass jedoch – anders als in „vielen literarischen und wissenschaftlichen Texten bis in unsere Zeit“ – bei ihm diese Wirklichkeit nie gleichbedeutend sei mit „einfacher Unordnung, noch weniger mit dem Bösen, mit einer Krankheit der Gesellschaft“ (1975b, 12). Für Engels, so die Analyse von Lefebvre, sei „die industrielle Großstadt tatsächlich eine Quelle der Demoralisation und eine Schule des Verbrechens“, aber Engels würde eben auch erkennen, dass „die Moralisten, die den Bann aussprechen […] die Aufmerksamkeit von den wahren Gründen dieser Lage“ ablenken (1975b, 19). Die Re-Lektüre der Lage der arbeitenden Klasse hinterlässt zwar Zweifel, ob das Verhältnis zwischen Stadt und dem Bösen und Kranken bei Engels wirklich so eindeutig geklärt ist, wie von Lefebvre dargestellt – Engels hypostasiert die Stadt ein ums andere Mal und steht in vielen Formulierungen den Großstadtanfeindungen der urbanistischen Zunft kaum nach. Dennoch gibt es tatsächlich einen entscheidenden Unterschied: Engels klagt zwar 66

die Städte an, nicht aber die Städter (vgl. Kemper/Vogelpohl 2013). Engels verknüpft das Böse und Kranke in guter urbanistisch/essentialistischer Tradition mit den Städten, treibt aber diese Verknüpfung nicht so weit, dass er das identifizierte Übel ihren Bewohnern anlastet. Genau dieser Effekt – die Ausdehnung der Großstadtfeindschaft auf diejenigen, die dort leben – ist dagegen in zahllosen Beispielen der orthodoxen Großstadtkritik des modernen Urbanismus zu finden. Hier wird nicht nur die Stadt als krank und verrottet beschrieben, sondern dieses Urteil den Menschen – diffamiert als Asoziale, Unnütze und Schmarotzer – übergestülpt, die in ihnen wohnen (vgl. Kapitel 4.2). Der Zorn von Engels richtet sich nicht ­gegen die Stadtbewohner, sondern gegen die Verhältnisse, denen diese ausgesetzt sind. Und er wendet sich gegen die­jenigen, die für diese Verhältnisse verantwortlich sind. Leidenschaft­l icher, deutlicher und kraftvoller als die kon­ventionelle Großstadtkritik fällt bei ­Engels dann auch das Plädoyer aus, mit dem er die soziale Lage anklagt (und nicht diejenigen, die in dieser Lage sind) und mit dem er sich gegen die Verursacher jener Verhältnisse ausspricht.16 Engels ergreift stets ganz entschieden Partei für die sozial Schwachen, und das ist ein signifikanter Unterschied zu dem Ansatz, der bei vielen Städtebauern und Stadtplanern der Moderne vorherrschend ist. Zwar gehörte es auch hier zum Selbstverständnis, Verbesserungsvorschläge für die „unteren Schichten“ zu unterbreiten. Aber weder die Solidarität zu den städtischen Massen noch die Verbindung von Stadt- und Machtanalyse sind Themen, mit denen sich im traditionellen Urbanismus regelmäßig hervorgetan wurde. Und zwar deshalb, weil eben nicht das politische und gesellschaftliche System, sondern „die Stadt“ (definiert als Ansammlung von Gebäuden) im Fokus steht. Für die Sozialreformer und Stadtplaner waren die baulich-räumlichen Verhältnisse in den Städten selbst die Verursacher der diagnostizierten städtischen Missstände. Die übervölkerte, dreckige und Krankheit auslösende Stadt war das Übel, und das Mittel gegen dieses Übel bestand darin, die Stadt sauberer und weiträumiger zu gestalten, sie nach allgemeinen städtebaulichen Regeln neu zu ordnen. Für Engels war die Stadt zwar ebenso übervölkert, dreckig und krankmachend (und die konzeptionellen Ähnlichkeiten der Diagnose sind aus heutiger Sicht nicht unproblematisch). Die eigentliche Ursache für die 67

urbane Misere liegt für ihn jedoch woanders, nämlich im Kapitalismus und seinen Produktionsverhältnissen.17 Mit anderen Worten: Auch Engels essentialisiert die Stadt in seiner Kritik, und zwar als eine wesenhaft negative Instanz. Gleichzeitig und vor allem kritisiert er aber den Kapitalismus, also das, was er dafür verantwortlich macht, dass die Stadt dieses üble Wesen angenommen hat. Die Stadt ist bereits in der urbanistischen Frühschrift von Engels ein produziertes Wesen, was das Konzept des Wesenhaften aber durchkreuzt (entweder es ist produziert, oder es hat ein „natürliches“ Wesen). Der erste entscheidende Unterschied zum Stadtkonzept des traditionellen Urbanismus ist damit, dass Engels zwar die Biologismen der konservativen Stadtforscher übernimmt, aber gleichzeitig ein zweites Narrativ bedient und die städtische Wirklichkeit als Folge der sozialen Verhältnisse (Produktionsverhältnisse, Machtverhältnisse) definiert und nicht umgekehrt, wie das die Urbanisten machen, wenn sie an ihren Plänen feilen, das Soziale mit städtebaulichen Instrumenten zu steuern. Die doppelte Buchführung, mit der Engels die Stadt gleichzeitig als wesenshaft und als produziert in Szene setzt, ist natürlich die Folge der in den vorigen Kapiteln explizierten Grundspannung im historischen Materialismus, nämlich dem Resultat einer sowohl deterministisch als auch kontingenzbewusst angelegten Geschichtsschreibung. Der Stadtbegriff bei Engels entspringt der gleichen Baureihe. Ein zweiter Unterschied zu den herkömmlichen urbanistischen Stadtnarrativen liegt in der Rolle, die dem städtischen Proletariat zugeschrieben wird. Interessant ist dabei, dass Engels bereits in diesem frühen Text von der „unbeschäftigte[n] Reserve von Arbeitern“ spricht, die – wie weiter vorne berichtet – im Zentrum des von Marx später im Kapital ausgeführten „Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ stehen. Er expliziert in seinem Beitrag das revolutionäre Potenzial der urbanen industriellen Reservearmee. „Wer von den Überflüssigen Mut und Leidenschaft genug hat, sich der Gesellschaft offen zu widersetzen und auf den versteckten Krieg, den die Bourgeoisie gegen ihn führt, mit dem offnen Krieg gegen die Bourgeoisie zu antworten, der geht hin, stiehlt und raubt und mordet.“ (1845a, 88) 68

Engels wagt sich damit an das Thema der strukturellen Gewalt und Gegengewalt in den Städten. Nicht nur städtischen Aufständen und Revolten spricht er eine politische Qualität zu, auch die spontane und normalerweise als ziellos empfundene Gewalt ist für ihn ein widerständiger und systemkritischer Akt. Die städtische „Surplus Population“ – das Marx’sche Lumpenproletariat – wird von Engels in ihrem abweichenden Verhalten legitimiert, indem ihm eine politische Dimension zugesprochen wird. Lefebvre sieht in dieser „Heraufbeschwörung des kriminellen Arbeiters“ eine Parallele zu Nietzsche und einem Denken „ohne Moralismus“ – in späteren Analysen sei Engels dann „taktisch behutsamer“ vorgegangen (1975b, 21). Aus heutiger Sicht lässt sich die Analyse von Engels ganz ohne den Umweg über welche Moral auch immer verbinden mit poststrukturalistischen Erwägungen zu der politischen/ theoretischen Funktion des Außen (vgl. ausführlich Kapitel 3.3). An diesem wichtigen Punkt – der Analyse der städtischen Masse – bedient sich Engels wieder einem urbanistischen Argument, nämlich der „Zentralisation“ und ihrer Wirkung (dem positiven Zwilling des im Städtebau zu dieser Zeit rein negativ ausgerichteten Dichtediskurses). Er schreibt, dass „wenn die Zentralisation der Bevölkerung schon auf die besitzenden Klassen anregend und entwickelnd“ wirke, dass das auch für die unteren Schichten gelte und sie die „Entwicklung der Arbeiter noch weit rascher vorwärts“ treibe (1845a, 120). Aufgrund der durch die Zentralisation hergestellten Nähe würden die Arbeiter anfangen, sich in ihrer Gesamtheit als Klasse zu fühlen, sie würden gewahr werden, dass sie „obwohl einzeln schwach, doch zusammen eine Macht sind“. In der Stadt und durch die Stadt, so argumentiert Engels, würde die „Ausbildung den Arbeitern und ihrer Lebensstellung eigentümlicher Anschauungen und Ideen“ befördern, und schließlich stelle sich „das Bewußtsein [ein], unterdrückt zu werden“. Genau dadurch bekommen die Arbeiter, so das Argument, „soziale und politische Bedeutung“. Engels ist hier ganz deutlich: Die „großen Städte sind der Herd der Arbeiterbewegung“, so lautet seine Diagnose, und „in ihnen haben die Arbeiter zuerst angefangen, über ihre Lage nach­zu­den­ ken und gegen sie anzukämpfen, in ihnen kam der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie zuerst zur Erscheinung, von ihnen sind Ar­beiterverbindungen, Chartismus und Sozialismus ausgegangen“ (1845a, 120). 69

Und er fügt hinzu – wieder erhält die Stadt eine aktive Rolle, wieder hat sie mit Krankheit zu tun –, dass die großen Städte „die Krankheit des sozialen Körpers, die auf dem Lande in chronischer Form auftritt, in eine akute verwandelt“ hat und dadurch das „eigentliche Wesen derselben und zugleich die rechte Art, sie zu heilen, an den Tag gebracht“ haben. Engels resümiert: „Ohne die großen Städte und ihren treibenden Einfluß auf die Entwicklung der öffentlichen Intelligenz wären die Arbeiter lange nicht so weit, als sie jetzt sind“ (1845a, 120). Auch hier kommt es also zu einer eigentümlichen Mischung aus klassischem urbanistischen Narrativ und Revolutionstheorie. Auf der einen Seite gibt es deutliche Anleihen an die raumdeterministische Erzählung, in der die Stadt selbst als räumliche Entität Auswirkungen zeitigt, in der die klassische Stadt-Land-Unterscheidung nicht fehlen darf (das Land wird zwar nicht als Urquell idealisiert, aber doch als ein Zustand, der durch die große Stadt verschlechtert wird) und in der die biologistische Verbindung Stadtkörper/Krankheitsherd zum begrifflichen Grundinventar zählt. Auf der anderen Seite verhindert die radikale Gesellschaftskritik, dass Engels die konser­ vative Diskurslinie bis zum Ende abschreitet. Die Idee des Klassenkampfes und die Hoffnung auf das Proletariat erweitern das Stadtbild von Engels entscheidend, bewahren es vor einer deterministischen und reduktionistischen Schließung und öffnen neue Perspektiven: die Stadt als Ort der Revolution, als Stätte des Konflikts;18 urbane Revolten und abweichendes Verhalten als Teil des Klassenkampfs; die städtische Masse – auf einer Ebene mit dem Prole­ tariat – als historischer Akteur. Lefebvre resümiert in seiner Betrachtung der Stadt im marxistischen Denken, dass es „wesentlicher Beitrag und eine ­Errungenschaft des historischen Materialismus ist, diese konfliktgeladene Beziehung in das Zentrum der Überlegungen gestellt zu haben“ (1975b, 12). Ich werde in meiner Untersuchung weiter unten noch diskutieren, wie dieses Erbe von Engels – die Definition von Stadt als sozialen Konfliktraum, die ­Verortung der urbanen Unterschicht – für eine poststrukturalistische Stadttheorie fruchtbar zu machen ist (vgl. Kapitel 3).

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Auch bei Marx findet sich eine Hinwendung zur Stadt, und zwar vor allem im Rahmen seiner Kritik des Materialismus von Feuerbach. Die Diskussion des Materialismus und der städtischen Wirklichkeit gehören für Marx zusammen, da die Stadt eine wirkliche Voraussetzung der Ideologie ist, Teil der materiellen Basis, die jeder Geschichte zugrunde liegt. Marx verwendet die Stadt vor allem als Kategorie und Resultat seiner historischen Analyse der Arbeitsteilung. Weniger anfällig als Engels für Essentialisierungen und die Übernahme der urbanistischen Erzähltraditionen, erinnern seine Ausführungen zur Stadt dabei nicht so sehr an die städtebaulichen und stadtplanerischen Begründungsdiskurse des 19. Jahrhunderts, sondern vielmehr an die Erzählungen, aus denen die klassische (nicht-marxistische) Stadtsoziologie hervorgegangen ist. Urbanismus und Stadtsoziologie sind beides Disziplinen, die sich erst gegen Ende des 19. Jahrhundert spezifiziert und institutionalisiert haben. Dennoch sind Marx und Engels – auch wenn die hier besprochenen Texte deutlich vor den entsprechenden disziplinären Neugründungen liegen – nicht als direkte Vor- oder Wegbereiter dieser Wissensbereiche zu betrachten. Treffender ist es wohl, darauf zu verweisen, dass Marx und Engels Stadtkonzeptionen auf den gleichen Wissensfundus (etwa der Nationalökonomie oder der Staatswissenschaften) aufbauen, aus denen heraus sich dann später die urbanistischen und stadtsoziologischen Teilgebiete emanzipiert haben. Was die Darstellungen von Marx und Engels verbindet, das ist vor allem die Konzeption von Stadt als Entstehungsort des städtischen Proletariats. Marx beschreibt auf historisierende Weise, dass der „Pöbel“ aus der „Notwendigkeit der Taglöhnerarbeit in den Städten“ entstanden ist (Engels/Marx 1846, 41). Die Städte seien im Mittelalter „wahre ‚Vereine‘“ gewesen, die die eingesessenen Städter aus „Sorge um den Schutz des Eigentums, und um die Produktions­ mittel und Verteidigungsmittel der einzelnen Mitglieder“ gegründet und damit versucht hatten, sich gegen Einflüsse von außen abzuschirmen. Der „Pöbel dieser Städte“ aus „einander fremden, vereinzelt hereingekommenen Indi­ viduen“ habe einer „organisierten, kriegsmäßig gerüsteten, sie eifersüchtig über­wachenden Macht“ gegenübergestanden (1846, 41). Marx zeichnet ein kom­plexes Bild des in der vor- und frühkapitalistischen Stadt sich bildenden Machtgefüges, das, angeleitet von unterschiedlichen Interessenslagen, 71

vielfältige Ein-und Ausschlüsse produziert. Die Pointe der Darstellung von Marx ist das Resümee, dass ernst zu nehmendes aufständisches Potenzial in dieser Konstellation nicht vorhanden gewesen sei, da einerseits der Pöbel zu machtlos war und andererseits die Gesellen und Lehrlinge der noch vorrangig als Handwerk organisierten Ökonomie zu eingebunden in ihr „gemütliches Knechtschaftsverhältnis“ gewesen sind. Erst durch die Industrialisierung und die damit einhergehende fortschreitende Entfremdung der Arbeit wären die Verhältnisse so ungemütlich geworden, die Anzahl des Pöbels so viel größer und das vermeintlich harmonische Gefüge so sehr gestört, dass sich in den Städten ein revolutionäres Proletariat bilden konnte. Besonders wichtig ist für Marx das Phänomen der Teilung von Stadt und Land, das ganz im Zentrum seiner Analyse steht. Marx erklärt, „die Teilung der Arbeit […] führe zunächst die Trennung der industriellen und kommerziellen von der ackerbauenden Arbeit, und damit die Trennung von Stadt und Land und den Gegensatz der Interessen Beider herbei“ (Engels/Marx 1846, 11). Der Stadt-Land-Gegensatz steht bei Marx vor allem auch für eine historische Periodisierung. Die Teilung von Stadt und Land ziehe sich „durch die ganze Geschichte der Zivilisation bis auf den heutigen Tag“ (1846, 39). Marx bezeichnet die Trennung als „die größte Teilung der materiellen und geistigen Arbeit“ und verortet ihren Ursprung im „Übergange aus der Barbarei in die Zivilisation, aus dem Stammwesen in den Staat, aus der Lokalität in die Nation“ (1846, 39). Hier klingt ein klassisch stadtsoziologisches Thema an, nämlich die Bestimmung der Stadt als Ort und Motor der Zivilisation und Modernisierung – das ist genau das, was einige Jahre später Emile Durkheim als zentralen Baustein seiner Stadtthesen verlautbart hat (1992 [1893]). Mit der Stadt, so fährt Marx fort, sei „zugleich die Notwendigkeit der Administration, der Polizei, der Steuern usw., kurz des Gemeindewesens und damit der Politik überhaupt gegeben“ (1846, 39), und auch dieses Argument findet sich bald darauf wieder, und zwar in staatswissenschaftlichen Diskursen eines Robert von Mohls und eines Freiherrn von Stein, die wiederum die Dichte der Stadt als den entscheidenden Parameter für die steigende Notwendigkeit von kommunalen Institu72

tionen bestimmen. Marx fährt fort und berichtet, dass sich in den Städten zudem „zuerst die Teilung der Bevölkerung in zwei große Klassen“ zeige, „die direkt auf der Teilung der Arbeit und den Produktionsinstrumenten beruht“ (1846, 39). Die Klassenunterschiede zeigen sich in der Stadt, und sie bestimmen auch die städtische Wirklichkeit. Die Stadt selbst, so Marx weiter, ist „bereits die Tatsache der Konzentration der Bevölkerung, der Produktionsinstrumente, des Kapitals, der Genüsse, der Bedürfnisse, während das Land gerade die entgegengesetzte Tatsache, die Isolierung und Verein­ zelung, zur Anschauung bringt“ (1846, 39). Eine solche etwas tautologisch aufgelegte Stadtdefinition (die Stadt ist die Verdichtung ist die Stadt) führt allerdings kaum zu einem theoretisch geschärften Stadtbegriff, zumindest nicht auf einem direkten Wege. Zudem wird in den entsprechenden Passagen aus der deutschen Ideologie bald klar, dass es sich um ein Manuskript und nicht um einen ausgearbeiteten Text handelt. Marx schneidet einige Themen an, ohne sie präzise weiterzuverfolgen. Insgesamt betrachtet findet sich wohl weder bei Marx noch bei Engels eine ausformulierte Stadttheorie, und die Ausführungen zum Stadt-Land-Gegensatz bleiben zunächst wenig konkret. Diese Abwesenheit hat Auswirkungen nicht zuletzt auf das Projekt von Lefebvre, der Ende der 1960er-Jahre beginnt, seine kritische, postmarxistische Stadttheorie zu entfalten. Ein Teil dieses Vorhaben besteht darin, die Rolle der Stadt bei Marx und Engels zu erkunden.19 Lefebvre ist durch die fehlende Ausarbeitung bei den sozialistischen Gründervätern gewissermaßen darauf angewiesen, die Stadt im marxistischen Denken selbst zu entwerfen. Lefebvre bewertet und diskutiert in und mit seiner expliziten Analyse einen Marx’­ schen Stadtbegriff und bringt ihn dadurch zum Vorschein (lässt ihn entstehen). Er entfaltet seinen Ansatz, indem er die Stadt zunächst in den Kontext der eigentlichen Marx’schen Perspektive stellt, sie also im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie denkt. Lefebvre schreibt, „die Bourgeoisie hat die politische Ökonomie erfunden, sie ist ihre Voraussetzung, ihr Handlungs­ mittel, ihr ideologischer und wissenschaftlicher Mittelpunkt“ (1975b, 80) und deshalb sei sie (die Bourgeoisie) genau auf diesem Gebiet anzugreifen. 73

Allerdings erfordere solch ein Vorgehen „einigen Mut“ und es berge – „wie jeder Kampf auf feindlichem Boden“ – auch spezifische Gefahren (1975b, 80). Lefebvre spielt damit (und das wird gleich in den Mittelpunkt meiner Analyse rücken) auf die beiden von ihm immer wieder herausgestellten Grundübel des marxistischen Dogmatismus an: auf den Empirizismus und den Ökonomismus. Die Stadt, das ist Lefebvres eigentliche These, könne dabei helfen, die Kritik der politischen Ökonomie nicht zum Ökonomismus und den Blick auf die „empirisch feststellbaren Existenzbedingungen“ (1975b, 29) nicht zum Empirizismus verkommen zu lassen. Der Fokus auf die Stadt, so formuliert Lefebvre, würde dazu beitragen, das „Erstarren des Ökonomischen in wissenschaftliche Wahrheiten“ zu verhindern (1975b, 54).20 Lefebvre fragt, ob „nicht die Gesamtheit der Behauptungen über die Stadt der erste wirklich handfeste Punkt“ (1975b, 29) ist, an dem die Marx’sche Analyse konkret und greifbar wird. Das Handfeste der Stadt, die wirklichen Lebensbedingungen, die Fakten, die Engels in seiner Lage der arbeitenden Klasse ausbreitet: All das soll (in Lefebvres Konzeption) die Kritik der politischen Ökonomie vor gedanklichem Stillstand bewahren, welcher droht, wenn auf dem feindlichen Gebiet der Ökonomie die Kritik des ökonomischen Denkens dieses Denken so sehr absorbiert und inhaliert, dass es selbst ökonomistisch zu werden droht. Allerdings, so warnt Lefebvre, dürfe eine marxistische Analyse der städtischen Wirklichkeit nicht dabei verweilen, jenes „Greifbare der Stadt“ nur zu erheben und festzustellen, da „man zwar nicht ohne Tatsachen auskommen“ könne, aber „die Feststellung […] nur als ein unzulänglicher Schritt des Denkens“ anzusehen sei (1975b, 81).21 Lefebvres These ist es, dass die Stadt nicht nur den empirischen oder reellen Kern im marxistischen ­Denken darstellt, sondern vor allem, dass die Stadt – als Thema, als Problematik – das Marx’sche Denken vor Stillstand bewahren und lebendig halten kann, ­i ndem sie die ihr eigene Komplexität und Heterogenität in den Kern der Marx’schen Theorie importiert. Der hier nur kurz skizzierte Vorschlag von Lefebvre wird uns gleich im Detail beschäftigen. Bevor ich aber Herkunft, Entwicklung und Ausarbeitung der Lefebvre’schen Konzeption einer postmarxistischen Stadttheorie ausführlicher beleuchten und diskutieren werde, möchte ich zunächst noch einmal 74

zurück zum Original gehen, also wieder zu Marx und Engels und insbesondere zu dem von ihnen so prominent gesetzten Gegensatz von Stadt und Land, dessen Beseitigung nicht nur eine der zentralen Forderungen der kommunistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts ist, sondern der die Stadtforschung bis heute immer wieder heimsucht. Der Gegensatz von Stadt und Land ist nicht zuletzt deshalb so berühmt geworden, weil im kommunistischen Manifest die Beseitigung dieses Gegensatzes eine der zehn allgemeinen „Maßregeln“ ist, aus denen sich der zentrale Forderungskatalog der kommunistischen Bewegung bildet. Punkt neun der berühmten Liste lautet: „Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Gegensatzes von Stadt und Land“ (1848, 545). Im Manifest führen Marx und Engels dann vertiefend aus, dass die Bourgeoisie „das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen“, dabei „enorme Städte geschaffen“, „die Zahl der städtischen Bevölkerung gegenüber der ländlichen in hohem Grade vermehrt“ und „das Land von der Stadt“ abhängig gemacht habe (1848, 530).22 Auch hier gehen also Versatzstücke von Großstadtkritik und Landidealisierung in die Analyse ein. Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, so formulieren Marx und Engels weiter, sei einer der „positiven Sätze“ der sozialistischen und kommunistischen Schriften und würden „bloß das Wegfallen des Klassengegensatzes aus[drücken], der eben erst sich zu entwickeln beginnt“ (1848, 555). Die These von Marx und Engels ist, dass der Stadt-Land-Gegensatz sich im verwirklichten Sozialismus von selbst auflöst, da er ja Ausdruck des Klassengegensatzes ist, der dann nicht mehr existiert. Von der theoretischen Konzeption her ist das Argument recht problematisch, denn bei genauerer Betrachtung ist es wenig sinnvoll, die Beseitigung des Stadt-Land-Gegensatzes zu fordern, wenn dieser nur die Erscheinungsform der Klassenspaltung ist. Im verwirklichten Sozialismus gibt es den Gegensatz ja nicht mehr, weil dort die Klassenspaltung überwunden ist. Damit kriegt der Zeitpunkt der Forderung ein inhärentes Problem. Im Kapitalismus ist die Forderung kontraproduktiv, da – wie sowohl Engels als auch Marx (wie wir gesehen haben) an anderer Stelle herausarbeiten – die Stadt ja eine entscheidende Voraussetzung für den Klassenkampf ist; ohne die Verdichtungen der Stadt wird die Revolution erschwert (oder verunmöglicht). Im Sozialismus ist 75

die Forderung dagegen unnötig, da der Gegensatz dort bereits per defini­ tionem beseitigt ist. Die – wiederum tautologisch grundierte – Schwierigkeit, die mit der Forderung nach der Beseitigung des Stadt-Land-Gegensatzes ein­ geführt wird, reproduziert im Grunde nur die deterministische Seite des Marx’schen Geschichtsverständnisses. Die „theoretischen Sätze der Kommunisten“, so Marx und Engels ebenfalls im Manifest, beruhen „keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind“, sondern sie sind konzipiert als „nur allgemeine Aus­ drücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung“ (1848, 538). Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land ist aus dieser Sicht weniger eine Forderung als – Auguste Comte lässt grüßen – ein histo­ rischer Ablauf, der eigentlich nur beobachtet (erkannt) und gar nicht beeinflusst werden kann. Darüber hinaus stellt sich eine weitere Frage, nämlich, wer den Gegensatz von Stadt und Land eigentlich beseitigen soll (beziehungsweise beseitigen kann). Betriebe lassen sich verstaatlichen, Privateigentum lässt sich abschaffen, Transport lässt sich kommunalisieren – der Gegensatz von Stadt und Land ist dagegen kaum per Dekret zu verabschieden (möglicherweise setzen Marx und Engels im kommunistischen Manifest deshalb das Attribut „allmählich“ vor ihre Forderung). Die Fragen, weshalb der Stadt-Land-Gegensatz überhaupt einen solchen ­Stellenwert bekommt und wie sich die Beseitigung des Gegensatzes eigentlich vorzustellen ist, führen zu den frühen Sozialisten in Frankreich und ­England. Dessen Repräsentanten – etwa Charles Fourier, Robert Owen und Étienne ­Cabet – sind für die Entwicklung der Theorien von Marx und Engels von großer Bedeutung. Die Schriften der Frühsozialisten und mehr noch ihre Ver­suche, die Ideen auch praktisch umzusetzen (sie zu leben), werden von Marx und Engels an vielen Stellen als Beweis für die These eingesetzt, der Kommunismus wäre viel weniger eine Idee als eine materielle, schon im historischen Werden begriffene Entwicklung.23 Für die Frage nach der Rolle der Stadt ist es wichtig zu wissen, dass die Ideen der Frühsozialisten dem Genre der Sozialutopien angehören (dieses haben entstehen lassen) und – in der na76

mensgebenden Tradition des Romans Utopia von Thomas Morus ([1516] 1974) – utopische Orte und Idealstädte entwerfen, in denen eine neue, freiere und glücklichere Gesellschaft zusammenkommt und in sozialistischer Gemeinschaft harmonisch zusammenlebt. Die Sozialutopien stehen zudem in einer direkten Traditionslinie mit der antiken griechischen Philosophie, da in beiden Fällen genaue Ausarbeitungen einer Idealstadt/eines Idealstaates zum Mittelpunkt der Vorstellungen gemacht sind. Das Marx’sche Denken erhält jedenfalls mit dem Rekurs auf die utopischen Sozialisten eine städtebauliche Seite, und die Frage nach der Stadt wird in das Herz der sozialistischen Bewegung (und ihrer Theorie) implantiert. Dieser Vorgang wird besser verständlich, wenn ein zweiter Text von Engels zurate gezogen wird, und zwar die Beschreibung der in der neuen Zeit entstandenen und noch bestehenden kommunistischen Ansiedlungen (1845b), die im gleichen Jahr wie die Lage der arbeitenden Klasse in England veröffentlicht worden ist. Hier gibt es ein Kontrastprogramm zu den Berichten aus London oder Manchester, nämlich eine Darstellung der von den Shakern (einer aus dem Quäkertum hervorgegangenen christlichen Freikirche) gegründeten Siedlungen Pleasant Hill und Neu-Libanon. Engels, der diese Kolonien nie ­besucht hat und sich stattdessen auf Reisebeschreibungen stützt, zitiert aus Schilderungen, in denen die Siedlungsexperimente als ein „vollkommnes Muster von Reinlichkeit, Ordnung und Schönheit“ gepriesen werden, als Ansammlung von „schönen, wohlgebauten Häusern und Gärten“, in denen „die Leute […] sehr glücklich und zufrieden, arbeitsam und ordentlich“ sind (1845b, 359). Von den religiösen Sekten in Amerika wechselt Engels dann ohne größere Umschweife zu den Neugründungen der Sozialisten, insbesondere zu einer Kolonie namens Harmony, in die der „menschenfreundliche Robert Owen“ sein ganzes großes Vermögen investiert hat, um dort eine Gemeinschaft für hundert Mitglieder zu errichten, die „in einem großen Gebäude zusammenwohnen und bis jetzt hauptsächlich im Feldbau beschäftigt worden sind“ (1845b, 361). Engels beendet seine Beschreibung zweiter Hand mit einem Fazit, das kaum Zweifel übriglässt: „Wir sehen also, daß die Gemeinschaft der Güter gar nichts Unmögliches ist, sondern daß im Gegenteil alle diese Versuche vollkommen geglückt sind“ (1845b, 365). Daraus schließt er, dass 77

„der Kommunismus, das soziale Leben und Wirken in Gemeinschaft der Güter […] nicht nur möglich, sondern in vielen Gemeinden Amerikas und in einem Orte in England bereits wirklich ausgeführt [ist], und das mit dem besten Erfolge“ (1845b, 351). Erst die Gegenüberstellung jener beiden frühen Texte von Engels, nämlich der Schilderung der Lebensbedingungen in den Arbeitervierteln auf der einen und der Zusammentragung von Reiseberichten aus den religiösen und sozialistischen Landkommunen auf der anderen Seite, lässt erahnen, wie der Stadt-Land-Gegensatz so wichtig für Marx und Engels und weshalb seine Beseitigung zu einem der zentralen Programmpunkte des kommunistischen Manifests werden konnte. Die Intention dieser Forderung wird dabei in einer ebenfalls von Engels verfassten Vorstudie zum kommunistischen Manifest mit dem Titel Grundsätze des Kommunismus noch deutlicher. Hier ist ebenfalls eine Liste von „Maßregeln“ aufgeführt, von denen zwei die Stadt betreffen. Der eine Punkt erhebt die frühsozialistischen Siedlungsexperimente zur allgemeinen ­Forderung: „Errichtung großer Paläste auf den Nationalgütern als gemeinschaftliche Wohnungen für Gemeinden von Staatsbürgern, welche sowohl Industrie wie Ackerbau treiben und die Vorteile sowohl des städtischen wie des Landlebens in sich vereinigen, ohne die Einseitigkeiten und Nachteile beider Lebensweisen zu teilen.“ (1847, 515) Die Beseitigung des Stadt-Land-Gegensatzes soll also in und mit der sozialistischen Landkommune stattfinden. Der zweite Punkt ist ganz kurz und fordert schlicht: „Zerstörung aller ungesunden und schlecht gebauten Wohnungen und Stadtviertel.“ (1847, 515) Diese Aufforderung zur Stadtzerstörung (große Teile der bestehenden Städte waren ungesund und schlecht gebaut) wird später auf dem orthodoxen urbanistischen Feld zur ganzen Entfaltung gebracht und der Kernbestand der Stadtgesundungsplanung samt ihrer Programme der Flächensanierung (vgl. Kapitel 4.2). In seinem Text Zur Wohnungsfrage (1873) beschäftigt sich Engels auch in einem seiner späteren Texte noch einmal ausführlich mit der Stadt. Zu diesem 78

Zeitpunkt rücken die städtischen Verhältnisse mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein, die Städte wachsen enorm, und mit ihnen wächst auch die Not in den überfüllten Arbeiterquartieren. Die Frage, wie die städtischen Arbeiter mit Wohnungen versorgt werden können, wird angesichts der Zustände immer drängender. Er berichtet in seinem Text über die Bemühungen der Stadtplanung, die zu dieser Zeit als ein Projekt der kommunalen Selbstverwaltung der öffentlichen Gesundheitspflege sich zu etablieren beginnt. Die Erforschung der Stadt, die Weiterführung von dem, was Engels in seiner Studie zur Lage der arbeitenden Klasse in England angefangen hat, wird zu ­einem eigenständigen Metier. Engels berichtet davon, und er schreibt, dass die „moderne Naturwissenschaft“ zweifelsfrei bewiesen habe, dass in den „schlechten Vierteln“ der Stadt nicht nur die Not, sondern auch die Krankheiten grassieren, dass die hygienischen Zustände dort unaushaltbar und dass diese Orte zu den Brutstätten von Typhus und Cholera geworden sind (1873, 29). Er ­berichtet auch von den bestehenden Bemühungen des Urbanismus, in diese Verhältnisse zu intervenieren, Infrastrukturen zu schaffen und Gesetze zu verabschieden, und er begrüßt diese Maßnahmen, auch wenn er sie für keineswegs ausreichend hält. Als Grund für die urbanistischen Aktivitäten benennt Engels die Angst des Bürgertums, sich anzustecken, selbst betroffen zu werden von den Seuchen, die in den Gebieten der Armen entstehen: Der „Würgengel wüthet unter den Kapitalisten ebenso rücksichtslos wie unter den Arbeitern“ (1873, 29). Engels analysiert also das, was sich auf dem urbanis­t ischen Feld zu bewegen anfängt. Sein Resümee ist, dass die stadtplanerischen Bemühungen Stückwerk bleiben, da „die kapitalistische Gesellschaftsordnung die Mißstände, um deren Kur es sich handelt“ ja selbst erzeuge (1873, 30).24 In diesem Kontext stellt Engels die Wohnungsfrage, und hier begegnet uns auch der Stadt-Land-Gegensatz wieder. Engels führt aus, dass das Wohnungsproblem in den gegebenen Verhältnissen gar nicht gelöst werden kann, weil es von genau diesen Verhältnissen ja erst hervorgebracht wird. Ohne eine Systemveränderung bleiben alle urbanistischen Maßnahmen notwendig erfolglos, erst die „Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise“ mache auch „die Lösung der Wohnungsfrage möglich“ (1873, 39). Aus diesem Grunde ist für Engels die Wohnungsfrage eigentlich auch die falsche Frage. Anders verhält 79

es sich mit dem Stadt-Land-Gegensatz. Diese Problematik gehe viel weiter als die reformistische Wohnungsfrage, die eben erst dann zu lösen sei, wenn „die Gesellschaft weit genug umgewälzt ist, um die Aufhebung des von der jetzigen kapitalistischen Gesellschaft auf die Spitze getriebenen Gegensatzes von Stadt und Land in Angriff zu nehmen“ (1873, 38). Engels spitzt sein Argument zu, indem er die großen Städte, die ja auch nichts anderes als eine Manifestation des Kapitalismus sind, selbst zur Disposition stellt. Es sei „ein Widersinn“, die Städte erhalten und gleichzeitig die Wohnungsfrage beantworten zu wollen (1873, 39). Das städtische Wohnungsproblem ist für Engels identisch mit der großen Stadt, und das führt dazu, dass sie genauso verschwinden muss wie das System selbst: „Die modernen großen Städte werden aber beseitigt erst durch die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, und wenn diese erst in Gang gebracht, wird es sich um ganz andere Dinge handeln, als jedem Arbeiter ein ihm zu eigen gehörendes Häuschen zu verschaffen.“ (1873, 39) Der Gegensatz von Stadt und Land ist für Engels damit der Name für die eigentliche Problematik. Ihn zu benennen bedeutet, sich von der reformistischen Wohnungsfrage abzugrenzen und die Systemfrage zu stellen. Dieses Denken verortet auch die Stadt, die großen Städte, als Produkt und als Symbol der kapitalistischen Verhältnisse, als Produkt und Symbol, das es zu bekämpfen und letztlich abzuschaffen gilt. Die Stadt ist für Engels als die gegebene kapitalistische Stadt nichts, was in letzter Konsequenz verbessert oder verändert werden könnte. Als Alternative zur Stadt scheint es zu dieser Zeit nur die kommunistischen und utopischen Landkommunen zu geben, und deshalb rückt die Stadt in ihrer Gesamtheit ins revolutionäre Fadenkreuz. Schließlich richtet sich Engels in seinem Beitrag zur Wohnungsfrage auch an die Kritik, die bereits in zeitgenössischen Beiträgen dagegen vorgebracht wurde, die Beseitigung des Stadt-Land-Gegensatzes zur zentralen Forderung der kommunistischen Bewegung zu machen. Hier wird der Stadt-Land-Gegensatz ganz anders bewertet, nämlich als ein „natürlicher, richtiger gesagt, ein historisch gewordener“ Gegensatz; es gehöre deshalb, so zitiert Engels seine Kritiker, „unter die Utopieen, ihn aufheben zu wollen“, und er sei im 80

Gegenteil „fruchtbringend“ zu machen, um einen friedlichen Ausgleich und „ein allmähliches Gleichgewicht der Interessen“ zu schaffen (1873, 74). Engels weist dieses Argument natürlich zurück. Den Stadt-Land-Gegensatz ­beseitigen zu wollen, sei genauso wenig Utopie, wie das kommunistische Ziel, den Gegensatz zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern abzuschaffen. ­Beides entwickle sich mehr und mehr zur „praktische[n] Forderung“ (1873, 74). Wieder wird der Stadt-Land-Gegensatz in den Kern des kommunistischen Projekts gepflanzt und zur Gretchenfrage der sozialistischen Be­ wegung e ­ rhoben: Das eine geht nicht ohne das andere, die Kritik an der ­For­derung exkludiert den Kritiker selbst aus dem kommunistischen/sozialistischen Projekt. Der Stadt-Land-Gegensatz wird von Engels also ganz in den Mittelpunkt gerückt. Vielleicht ist das nicht zu Ende gedacht, weil das Land allgemein zu dieser Zeit ja nicht unbedingt als Hort des Sozialismus bekannt gewesen ist, sondern eigentlich etwas Rückständiges repräsentiert(e), auch was die Systemfrage betrifft, nämlich die überkommenen Feudalstrukturen. Das hindert ihn aber nicht daran, immer wieder darauf zu insistieren, den klar greifbaren Stadt-Land-Gegensatz als das eigentliche Kernthema zu setzen. Dieser Gegensatz – mitsamt seiner Verdammung der Stadt selbst – ist es, was Engels der kritischen Stadtforschung schließlich vererbt.

• Auf dem Grunde des marxistischen Denkens findet sich damit eine recht heterogene Konzeption von Stadt. Zum Teil wird die Geschichte der Stadt einfach das Symbol für die vorgegebene und stufenförmige Entwicklung der ­Geschichte – die Aufhebung des Stadt-Land-Gegensatzes ist in dieser Per­ spektive gleichbedeutend mit der Erreichung der letzten Stufe: der Verwirklichung des Sozialismus (und sie wird auch ebenso unvermeidbar). Darüber hinaus erhält der Kommunismus – im Zuge der Wechselwirkungen des Marx’­ schen Denkens mit den gedanklichen und materiellen Experimenten der utopischen Sozialisten – eine städtebauliche Konnotation, die dafür verantwortlich ist, dass die Stadt ihren Weg so weit hinein in das Marx’sche Denken findet. 81

Sobald sie dort angekommen ist, wird sie allerdings als Repräsentation des Kapitalismus entlarvt und mit Bausch und Bogen verdammt. Die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse ist im Marx’schen Denken gleichbedeu­ tend mit der Abschaffung des Stadt-Land-Gegensatzes und damit in letzter Konsequenz auch mit der Abschaffung von Stadt (zumindest in ihrer vorgefundenen ungesunden kapitalistischen Form). Wenn es bei Marx und Engels eine Stadttheorie gibt, dann ist das eine Theorie der Abschaffung. Das große Ziel der kommunistischen Bewegung besteht in der Beseitigung des Stadt-­ Land-Gegensatzes. „Sozialistische Gesellschaft“ und „Stadt“ werden als Gegensätze konzipiert, als Antagonisten in einem klassisch dualistischen Sinn. Die Abschaffung der Stadt wird bei Marx zum Ziel, weil die Stadt – außer Form des Kapitalismus zu sein – keine weiteren Eigenschaften hat. Interessanterweise entspricht dieses Ziel – wie wir sehen werden – dem Ziel, das der moderne Städtebau bald darauf auf seine Fahnen schreiben wird (wenn auch mit anderer Begründung). An diesem Punkt reichen sich Marx und Engels und der moderne Städtebau die Hand. Aus heutiger Sicht ist der gesamte Diskurs zum Stadt-Land-Gegensatz nur noch vermittelt nachvollziehbar. Schon zu Zeiten von Marx und Engels ist die Aussagekraft dieses subtil statischen Gegensatzes wenig überzeugend gewesen, und gerade in der Stadtsoziologie, die sich lange Zeit und teilweise bis heute, damit auseinandersetzt, war es nicht nur strittig, ob es diesen Unterschied eigentlich wirklich gibt und was ihn ausmacht, sondern auch, ob es weiterführend ist (und wenn ja, wohin), die Problematik überhaupt zu explizieren. Auch dass die Entwicklung der sozialistischen Landkommunen nicht gerade eine Erfolgsgeschichte geworden ist, trägt zur Stärkung des A ­ rguments bei. Henri Lefebvre, so viel sei vorweggenommen, ist vermutlich zu einer ähnlichen Einschätzung gekommen. Er hat sich nicht nur in der Diskussion zum Stadt-Land-Gegensatz eher zurückgehalten, sondern er hat auch in das Zentrum seiner postmarxistischen Stadttheorie eine zur These von Marx und ­Engels radikalisierte These gesetzt. Seine Hypothese von der vollständigen (100-prozentigen) Urbanisierung der Welt (vgl. Kapitel 4.4) löst nämlich die Stadt nicht auf, sondern setzt sie absolut. Wobei diese Absolutsetzung natürlich letztlich auch eine Auflösung ist. 82

Dadurch wird die Geschichte plötzlich wieder interessant. Etwa dann, wenn das Thema „Beseitigung des Stadt-Land-Gegensatzes“ in der von Lefebvre kon­ zipierten Form empirisch durchschlägt. Die Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes wird zur Heimsuchung. Sie ist nicht mehr Forderung einer kraftvollen kommunistischen Bewegung, aber sie kehrt zurück als Realität, als abgeschlos­ sene 100-prozentige Urbanisierung, die der Stadt ihren Gegenspieler (ihren konstituierenden Antagonisten) raubt und damit jede Empirie und Theorie von Stadt in die Krise stürzt. Die Identitätskrise der Stadttheorie (und ihre Verabschiedung von der Suche nach einem Stadtbegriff) hat vermutlich ziemlich viel damit zu tun, dass der klassische Stadt-Land-Gegensatz immer mehr an Substanz verloren hat, dass das Konzept von Land, das darin umgeht, Kontu­ ren und Sichtbarkeit einbüßt und immer blasser wird. Möglicherweise ist die Stadt ja vor allem deshalb in der Krise, weil das Land verschwunden ist. Aber auch jenseits des Stadt-Land-Gegensatzes bietet das Stadtkonzept, das sich auf dem Grunde des Marx’schen Denkens findet, ein reichhaltiges An­ gebot an Möglichkeiten für ein Weiterdenken, gerade für eine poststrukturalistisch oder postfundamentalistisch interessierte Stadttheorie. Zum einen – und konkret bezogen auf die Stadt als Ort oder Entität – ist das zunächst die Verbindung zum Klassenkampf. Lefebvre drückt es in seinem Resümee so aus: „Dieser unaufhörliche Kampf hat für Marx und Engels seinen Ursprung in der Produktion, seine Grundlage in der ökonomischen Wirklichkeit, seine Motive in den Forderungen, seinen aktiven Träger in der Arbeiterklasse. Und doch entsteht der Klassenkampf in der Stadt.“ (1975b, 112) Die Stadt ist der Ort des Kampfes und der Auseinandersetzung. Besonders die theoretisch ziemlich radikale Benennung von urbaner „Kriminalität“ als Form des Klassenkampfs bei Engels ist anschlussfähig an aktuelle Debatten etwa über „urbane Gewalträume“ oder „riots“.25 Die Stadt als Konfliktraum wird uns bei Lefebvre weiter beschäftigen, ebenso wie dem Konzept „Konflikt“ als postfundamentalistischem Grundelement eine ontologisch/hantologische Rolle zukommt. Für eine aktuelle Stadttheorie ist das Marx’sche Denken ­damit insbesondere auf der Metaebene bedeutsam. Hier, im Marx’schen 83

historischen Materialismus, sind allgemein die Fundamente für kritisches Denken und Theoretisieren gelegt. Auch die Grundlagen für eine kritische Stadttheorie sind daher dort zu suchen. Die sozialtheoretischen Gründungen bei Marx und Engels sind keine festen und stabilen Fundierungen, sondern prekäre Streitsachen. Das ist das Fundament, von dem aus das kritisch-reflexive Nachdenken über Stadt einsetzen kann: etwa über die Frage nach der Materialität von Stadt (nach ihrem Materiellen, nach ihrer Materie), nach ihrem ding- und geisterhaften Wesen, nach aktuellen Formen von Verräum­ lichung und Dislokation. Eine poststrukturalistische Stadttheorie wird daher weniger auf direktem Wege an einem ausgearbeiteten Marx’schen Stadtbegriff anknüpfen können, sondern vielmehr den Umweg einschlagen über die weitere Beschäftigung mit der im historischen Materialismus aufgehobenen Grundspannung.

84

Anmerkungen

9

Von weiteren Zugängen – etwa den postmarxistischen Marxinterpretationen von Henri Lefebvre oder David Harvey – berichte ich ausführlich im weiteren Verlauf meiner Studie.

10 Spätestens hier gerät Korsch in Konflikt mit dem 1

2

Diesen Teil meiner Anfangsüberlegung habe ich in

dogmatischen Marxismus sowjetischer Prägung,

etwas veränderter Form bereits in meinem Text „Das

was 1926 zum Ausschluss von Korsch aus der

Reden vom Raum“ (Roskamm 2012) ausgeführt.

­kommunistischen Partei führte (vgl. Adolphi 2015).

Darüber hinaus bereitet eine solche Intervention

Dieses Schicksal teilt er mit Henri Lefebvre, von

die nächsten Schritte meiner Analyse vor, bei denen zum einen die Determinismusfrage in den Ursprüngen der kritischen Stadtforschung (in den Texten

licher Sozialismus“, die „der ehrlichen Spießerseele

von Henri Lefebvre) expliziert wird (vgl. Kapitel 2)

zahlreicher deutscher Sozialdemokraten jahrzehnte-

und zum anderen der traditionelle Determinismus

lang ganz unbeschreiblich wohl“ getan habe (1930,

und Fundamentalismus des Urbanismus in den Mit-

120).

telpunkt rückt (vgl. Kapitel 4). 3

Wäre es anders herum, so spottet Marx über den ­Ansatz von Hegel, würde „der Sohn die Mutter“ ­gebären (1845, 345).

4

Auf die aussagekräftige Mehrdeutigkeit des Begriffs „aufheben“ wurde vielfach aufmerksam gemacht, etwa von Althusser (2011, 141) oder von Lefebvre (1966 [1940], 23).

5

6

steine des Positivismus: „Liebe als Prinzip, Ordnung als Grundlage und Fortschritt als Ziel.“ (2004, 333) 13 Auch in späteren Jahren ist Comte seinem Positi­ vismus (und der Notwendigkeit als dessen Voraus­ setzung) treu geblieben und formuliert etwa, dass die „finale Determination“ das wichtigste Ziel der Soziologie wäre (2012 [1855], 43). 14 Vgl. www.urbanophil.net.

entrinnen, entwickelt bis heute eine erhebliche

15 Zum Diskurs der Dichte vgl. Roskamm 2011a.

Überzeugungskraft. Die immer wieder neu aufgeleg-

16 Diese These lässt sich vielleicht am besten mit fol-

ten Dispute zwischen Akademie und Aktivismus

gendem Zitat belegen: „Wenn ein einzelner einem

­zeigen meines Erachtens vor allem, dass ein solche

andern körperlichen Schaden tut, und zwar solchen

Dichotomie nicht besonders hilfreich ist. Praxis ist

Schaden, der dem Beschädigten den Tod zuzieht, so

ohne Theorie genauso hilflos wie Theorie ohne Pra-

nennen wir das Totschlag; wenn der Täter im voraus

xis. Oder anders gesagt: Es gibt keine Praxis ohne

wußte, daß der Schaden tödlich sein würde, so

Theorie, wie es auch keine Theorie ohne Praxis gibt.

­nennen wir seine Tat einen Mord. Wenn aber die

Henri Lefebvre kommentiert später mit feiner Ironie:

­Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, daß sie notwendig einem vorzei­

nomie, jeder, der sein Denken kennt weiß es, regelt

tigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der

Marx das Los der Geschichte.“ (1972, 58)

ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert

Bei Hegel im Original liest sich die Passage wie folgt:

oder die Kugel; wenn sie Tausenden die nötigen

„Das Zufällige hat also darum keinen Grund, weil es zufällig ist; und ebensowohl hat es einen Grund,

8

12 In späteren Schriften setzt Comte als weitere Grund-

Die Idee, dem Determinismus durch die Praxis zu

„In der Einführung in die Kritik der politischen Öko-

7

dem gleich ausführlich die Rede sein wird. 11 Korsch verhöhnt die Bezeichnung „wissenschaft­

­Lebensbedingungen entzieht, sie in Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können; wenn sie

darum weil es zufällig ist […]. Diese absolute Unruhe

sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt, in

des Werdens dieser beiden Bestimmungen ist die

­diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt,

Zufälligkeit.“ (2003, 206) Entscheidend ist hier

der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sie

vielleicht, dass Hegel aus seiner Variante des Grun-

weiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen

des/des Grundlosen eine Essenz – die Unruhe –

Bedingungen zum Opfer fallen müssen, und doch

­destilliert, die Bewegung auslöst (die das Werden

diese Bedingungen bestehen läßt – so ist das eben-

bedingt).

sogut Mord wie die Tat des einzelnen, nur versteck-

Dieses von Engels mit Hegel antizipierte postfunda-

ter, heimtückischer Mord, ein Mord, gegen den sich

mentalistische Zentralthema wird weiter unten noch

niemand wehren kann, der kein Mord zu sein scheint,

ausführlich diskutiert (Kapitel 3.4).

weil man den Mörder nicht sieht, weil alle und doch

85

wieder niemand dieser Mörder ist, weil der Tod des

22 Zugutegehalten wird der Bourgeoisie allerdings

Schlachtopfers wie ein natürlicher aussieht und weil

(­interessant ist auch, dass „die Bourgeoisie“ als ein-

er weniger eine Begehungssünde als eine Unterlas-

deutig bestimmbarer Akteur konzipiert ist, der den

sungssünde ist. Aber er bleibt Mord.“ (1845a, 94 f.)

Prozess der Verstädterung offenbar nach Belieben

17 Diese Unterscheidung ist übrigens bis heute wirk-

steuern kann), dass sie mit ihrer Landunterwerfung

sam: Während im orthodoxen Städtebau weiterhin

„einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idio-

häufig die Auffassung anzutreffen ist, die Probleme (und die Lösungen) der Stadt seien vorrangig städte­baulicher Natur, glaubt die kritische Stadtfor-

organisierte Szenarien zugrunde lagen, in denen

schung, dass solche Probleme ein soziales Wesen

das sozialistische Glück von einer allgegenwärtigen

haben. Eine poststrukturalistische Stadttheorie

Überwachungsstruktur bewahrt werden musste,

würde die städtische Problematik dagegen wohl am

zeigt Gerd de Bruyn in seiner lesenswerten Studie

ehesten auf der Ebene des Politischen verorten. Auch Lefebvre macht einen ähnlichen Punkt: Es sei „viel einfacher, die Stadt […] zu beschuldigen, als den

Die Diktatur der Philanthropen (1996). 24 In Wirklichkeit, so ergänzt Engels, habe die Bourgeoisie nur eine Methode, die Wohnungsfrage in

­Angriff auf einer wirklichen Ebene auszutragen:

­ihrer Art zu lösen, und zwar die Methode „Hauss-

der politischen“ (1975b, 20).

mann“, also die „allgemein gewordene Praxis des

18 Engels führt in seinem Bericht aus, dass in der Stadt

Breschelegens in die Arbeiterbezirke, besonders die

der „soziale Krieg, der Krieg Aller gegen Alle, […]

zentral gelegenen unserer großen Städte, ob diese

­offen erklärt ist“ (1845a, 30). Dieser permanente

nun durch Rücksichten der öffentlichen Gesundheit

Konflikt ist verursacht durch das ökonomische

und der Verschönerung oder durch Nachfrage nach

(­kapitalistische) Prinzip der Konkurrenz, die „der

großen zentral gelegenen Geschäftslokalen oder

vollkommenste Ausdruck des in der modernen bür-

durch Verkehrsbedürfnisse, wie Eisenbahnanlagen,

gerlichen Gesellschaft herrschenden Kriegs“ ist

Straßen usw., veranlaßt worden. Das Resultat ist

(1845a, 77). 19 Lefebvre veröffentlicht im Jahre 1972 La pensée

überall dasselbe, mag der Anlaß noch so verschieden sein: die skandalösesten Gassen und Gäßchen

marxiste et la ville, drei Jahre später erscheint der

verschwinden unter großer Selbstverherrlichung

Text als Die Stadt im marxistischen Denken in deut-

der Bourgeoisie von wegen dieses ungeheuren Er-

scher Übersetzung; ins Englische wurde das Buch

folges, aber – sie erstehn anderswo sofort wieder

erst im Jahre 2016 übersetzt.

und oft in der unmittelbaren Nachbarschaft.“ (1873,

20 Lefebvre ist sich dabei bewusst, dass für Marx und Engels selbst die Stadt nur den Hintergrund für ihren historischen Materialismus abgibt. Manchmal aber, so erklärt Lefebvre, trete „der geschichtliche Hintergrund plötzlich in den Vordergrund“ (1975b, 81). 21 Lefebvre arbeitet seine Empirismuskritik mit einem Beispiel heraus: „Der Ökonom […] stellt fest. Er zählt. Er beschreibt. Er kann ebensogut Eier zählen wie Tonnen von Stahl. Vieh wie Arbeiter. Er bewahrt bei diesen Rechenaufgaben eine ruhige, unerschütter­ liche Gewißheit. Das ‚Wer‘, das ‚Warum‘ interessieren ihn nicht. Der ökonomische Empirizismus lehnt den Begriff, die Theorie, die Kritik ab. Besitzt er das Wissen? Nein, glaubt Marx, denn er erfasst keine einzige Beziehung.“ (1975b, 58)

86

tismus des Landlebens entrissen“ habe (1848, 530). 23 Dass diesen Utopien regelmäßig erstaunlich totalitär

54). 25 Vgl. das sub/urban Themenheft riots (2016).

2 Das Ganze und der Rest

87

2.1

Notwendiger Determinismus und das Objekt x

Im Mittelpunkt des zweiten Teils meiner Studie steht die Theorie von Henri Lefebvre. Lefebvre ist so etwas wie der Säulenheilige der kritischen Stadtforschung, er ist – unter anderem – Kritiker des Alltagslebens, Gründer einer kritischen Raumtheorie und Philosoph der urbanen Revolution. In erster Linie und vor alledem ist Lefebvre jedoch ein marxistischer Denker. Und zwar ein undogmatischer marxistischer Denker, einer, für den die Kritik der unterschiedlichen Formen des orthodoxen Marxismus ein, wenn nicht das zentrale Thema seines gesamten Forschens und Denkens gewesen ist. Lefebvre hat sich stets mit den Grundlagen der Marx’schen Theorie – mit der „Marx’­ schen Philosophie“ – beschäftigt und darauf bestanden, diese weiterzudenken und weiterzuentwickeln. Dabei hat er sich als einer der Vertreter des west­l ichen Marxismus einen Namen gemacht und wurde unter anderem aus den Kreisen der jugoslawischen Praxisgruppe als ein Denker gewürdigt, der „in seinen Überlegungen nicht nur Selbstständigkeit, sondern auch Elastizität und Originalität“ bewiesen hat (Vranicki 1974, 890).1 Lefebvre publizierte in den 1930er-Jahren zusammen mit Norbert Guterman die frühen Schriften von Marx erstmals in französischer Sprache, zudem war er von 1928 bis 1958 ­M itglied der kommunistischen Partei. Ende der 1960er-Jahre wendete sich ­Lefebvre der Stadt und dem Urbanen zu. Seine Texte aus dieser Phase, insbesondere Le droit à la ville und La revolution urbaine, machten ihn zum Ausgangspunkt für den sich seit den 1970er-Jahren formenden Bereich der critical urban studies. Lefebvres La production de l’espace wurde vor allem im US -amerikanischen Kontext in verschiedenen Rezeptionswellen zu einer der

einflussreichsten Schriften der Stadt- und Sozialgeografie.2 Heute wird der Name Lefebvre beinahe reflexhaft genannt, wenn sich „Stadt“ auf kritisch-­ theoretischer Weise genähert werden soll. Für jeden Versuch, eine aktuelle ­k ritische Stadttheorie aufzulegen, ist es daher unverzichtbar, sich mit Lefebvres Überlegungen zur Stadt auseinanderzusetzen – das gilt auch für meinen ­A nsatz. Bevor ich in die Stadttheorie von Lefebvre eintauche, möchte ich mich mit den früheren Schriften des französischen Denkers beschäftigen, und zwar insbe88

sondere mit den Ausarbeitungen zum Materialismus, der Bestimmung des Determinismus und mit der Konzeption einer weiterentwickelten philoso­ phischen Basis des Marxismus. Ein solcher Durchgang ist meines Erachtens nicht nur für ein tieferes Verständnis von Lefebvres Stadttheorie von Vorteil, sondern er beinhaltet auch ein ganz eigenes Potenzial, die beiden Bereiche zusammen zu denken, die ich in meiner Studie zur unbesetzten Stadt konfrontieren möchte, also poststrukturalistisch informierte Theorien des Politischen auf der einen und das urbanistische Feld auf der anderen Seite. Meine These ist, dass Lefebvres Ansatz ein postfundamentalistischer Denkstil innewohnt, ein Kern, der in den umfangreich vorliegenden Arbeiten zu Lefebvre noch nicht wirklich zum Vorschein gebracht worden ist (den jene Arbeiten nicht nur nicht zum Vorschein bringen, sondern den sie – aus Gründen, die noch zu erörtern sein werden – häufig systematisch verschleiern). Diesen postfundamentalistischen Kern herauszuarbeiten, ist die Absicht meiner nun folgenden Rekonstruktion.



In einem seiner frühen Texte, in Le matérialisme dialectique ([1940] 1966, 10), entwickelt Lefebvre einen Zugang zu genau den beiden Begriffen, die bisher im Mittelpunkt meiner Betrachtung gestanden haben: Materialismus und Determinismus. Der zentrale Gedanke in Lefebvres Analyse besteht darin, dass der „historische Materialismus die Philosophie [vollendet], indem er sie aufhebt“ (1966, 57). Lefebvres Erzählung geht ungefähr so: In den philosophischen Frühschriften hat Marx den historischen Materialismus in seinen Grundzügen entworfen, indem er die „trunkene Spekulation Hegels die nüchterne Philosophie Feuerbachs“ gegenübergestellt und dann miteinander vereint (1966, 51): Beide werden im historischen Materialismus aufgehoben. Das Aufheben (Aufbewahren) dieser beiden Pole (Philosophie und Materialismus) erzeugt die innere Spannung des historischen Materialismus, von der im vorigen Kapitel ausführlich die Rede gewesen ist. In den Marx’schen Frühschriften, so berichtet Lefebvre, ist der Empirismus das vorherrschende Moment: Der soziale und historische Prozess muss in erster Linie empirisch studiert werden – ein Credo, das Marx und Engels (wie 89

wir inzwischen wissen) wohl nicht zuletzt von Auguste Comte übernommen haben. Die Hegel’sche Logik dagegen, obwohl latent dem Vereinigungsprojekt zugrundeliegend, wird, so die Darstellung von Lefebvre, von Marx zu dieser Zeit mit „größter Verachtung“ bedacht (1966, 62). Das ändert sich allerdings in den späteren Jahren ab Ende der 1850er, in denen die Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie im Mittelpunkt des Marx’schen Denkens steht. Nun wendet sich Marx dem Hegel’schen Ansatz wieder zu. In Lefebvres Interpretation lässt die Marx’sche Ausarbeitung „der ökonomischen Kategorien und ihrer inneren Zusammenhänge den Empirismus hinter sich“ und erreicht dadurch das „Niveau wissenschaftlicher Strenge“ (1966, 65). Erst die Überwindung des empirischen Ansatzes und die Einbeziehung von einer philosophischen Denkweise (hier: der Logik) führt also zur eigentlichen Relevanz des Marx’schen Denkens, so interpretiert es Lefebvre. Lefebvre möchte mit einer Gliederung in einen frühen und einen späten Marx das originale Marx’sche Denken davor bewahren, insgesamt als empiristisch und ökonomistisch verurteilt zu werden. Dass diese Interpretation nicht unbedingt überzeugt und zu einfach gedacht ist, sollten die Erörterungen im ersten Teil meiner Studie verdeutlichen. Mehr noch: Auch der Titel von Lefebvres Schrift ist (nicht nur aus heutiger Sicht) ein ziemlicher Fehlgriff. Der dialektische Materialismus war schon damals Inbegriff eines rigiden Stalinistischen Theoriesystems, in dem Dogmatismus und Ökonomismus verbreitet gewesen sind (vgl. Adolphi 2015), also genau das, wogegen sich Lefebvres Interventionen eigentlich richten. Lefebvre, der sich in den 1940er-Jahren durch seine Mitgliedschaft in der Partei gezwungen sah, die offizielle Dok­ trin nicht allzu offen zu kritisieren, versucht in seiner Schrift, den Begriff des dialektischen Materialismus umzudeuten. Dieser Versuch hatte gegen die Wahrheitsmaschinen des orthodoxen Marxismus jedoch keine Chance. In späteren Jahren erkennt Lefebvre das auch selbst und distanziert sich von der Begriffsschöpfung (vom „dialektischen Materialismus“) beziehungsweise von seinem Versuch, diese zu legitimieren. Dennoch lohnt es sich meines Erachtens, einen genaueren Blick in seine frühe theoretische Arbeit zu werfen, da dort bereits der postfundamentalistische Denkansatz zu finden ist, den ich Lefebvre nachweisen möchte. 90

In seinem Text über den dialektischen Materialismus macht Lefebvre zunächst deutlich, dass Materialismus ohne Philosophie genauso wenig möglich ist wie Philosophie ohne Materie. Und er zeigt, dass die Kritik von Dogmatismus, Ökonomismus und Empirismus nicht nur strategisch/politisch wichtig, sondern dass diese Kritik unabdingbarer Teil der theoretischen Konzeption selbst ist. Lefebvre arbeitet sich insbesondere an den Begriffen der Verdinglichung, des Fetischismus und der Objektivität ab und versucht, den Marx’schen Ansatz weiterzuentwickeln. Marx konzipiert, so lautet die Analyse von Lefebvre, die Objektivität (der Ware, des Marktes und des Geldes) zugleich als Schein und als Realität. Unmittelbar hätten die Menschen davon nur ein indirektes und „mystifiziertes Bewusstsein“.3 Sie würden im Markt nicht ihr eigenes Werk erkennen, das sich „brutal und unterdrückend“ gegen sie selbst wendet. Sie glaubten „an die absolute Objektivität, an die blinde Fatalität der gesellschaftlichen Tatsachen, die sie Schicksal oder Vorkehrung nennen“ (1966, 75). Dabei seien die sogenannten Marktgesetze nicht nur in der Ökonomie selbst, sondern in der öffentlichen Wahrnehmung zu nicht mehr hinterfragten (nicht mehr hinterfragbaren) allgemeinen und absoluten Naturgesetzen geworden. Diesen Vorgang bezeichnet Lefebvre als Fetischismus, Verdinglichung, Entfremdung. Eine solche Entfremdung ist in ihrer Wirkung „wirklich, sie reißt die lebendigen Menschen mit sich fort“; sie ist aber gleichzeitig „nichts als ihre Manifestation, ihre äußere Er­schei­ nung – ihr entfremdetes Wesen“ (1966, 77). Lefebvre führt aus, was dieses Wirklichwerden für die Analyse selbst bedeutet: Fetischismus, Verdinglichung und Entfremdung lassen sich nicht mehr nur empirisch untersuchen, ihre Substanz muss zuerst zerstört werden, um überhaupt sichtbar sein zu können. Das Motiv der Zerstörung erscheint auch bei Lefebvres Ausführungen zur Objektivität, einem weiteren zentralen Begriff in seinen Texten. Er unterscheidet in eine scheinbare und in eine wirkliche Objektivität. Die scheinbare Objektivität ist die „brutale Objektivität“ und gleichbedeutend mit einem „­falschen“ Ökonomismus (1966, 77). Daneben, und das ist typisch für Le­ febvres Argumentationsauf bau, gibt es aber eine anzustrebende, eine „höchste“ ­Objektivität, die durch die Bewusstwerdung und Demaskierung 91

des Scheinbaren produziert wird. Diese wirkliche Objektivität erkennt „die lebendige Tätigkeit des Menschen“ und das Menschengemachte der Welt, das „bewusst das Menschliche hervorbringt“ (1966, 77). Daraus folgert Lefebvre, dass es auch einen falschen und einen wahren (wirklichen) Determinismus geben muss. Das Falsche des falschen Determinismus ist das Fundamentalistische, das Ökonomistische und Empiristische. Der falsche Determinismus wird dadurch falsch. dass er sich absolut setzt, dass er sich für die letztgültige Wahrheit hält. Der Trugschluss eines jeden falschen Determinismus – Lefebvre nennt Liberalismus und Nationalismus als Beispiele – ist genau dieses Absolutsetzen, das Herstellen eines „Meta-Etwas“ (1966, 137). Der wahre Determinismus dagegen geht durch den falschen Determinismus hindurch, muss ihn erkennen, bewusst machen, zerstören – „wirklich, weil zerstört“, so sagt es Lefebvre (1966, 76). Der neue Determinismus darf natürlich nie selbst absolut und starr sein. Er darf nicht stillstehen, immer muss an ihm gearbeitet werden, stets ist er zu verändern, zu hinterfragen und zu kritisieren. Jeder Determinismus ist von Menschen gemacht, das betont Lefebvre, immer ist er ein menschliches Produkt, und es ist unverzichtbar, sich das unablässig klarzumachen. Er arbeitet heraus, dass es nicht nur einen wahren und wirklichen Determinismus geben kann, es muss ihn sogar geben. Die konflikthafte Produktion von einem Determinismus – hier wird es immer deutlicher, dass Determinismus ein anderer Name für Grund ist – wird für Lefebvre nicht nur zum legitimen, sondern zum letztlich notwendigen Ziel des theoretischen Denkens. Es geht um das Erkennen und Schaffen von Gründen, deren Voraussetzung es ist, anerkannt zu haben, dass Gründe (weder andere noch sie selbst) nie absolut sein können. Es geht um Gründe, die, ohne in Bewegung zu sein, zwangsläufig versteinern (zu Fundamenten). Interessant ist bei Lefebvres Ausführungen aus meiner Perspektive nicht ­zuletzt, dass Determinismus und Objektivität das eigentliche Ziel bleiben. Hier gelingt Lefebvre ein überzeugender Punkt. Es gibt, so sagt er, „keine Wissenschaft ohne Objekt und Objektivität“ (1966, 83). Und auch Determinismus ist für Lefebvre nicht negativ besetzt, sondern bleibt im Gegenteil das notwendige Ziel aller theoretischen Bemühungen. Mit einer Konzeption, die die Zerstörung von sämtlichen absolut gesetzten Gründungen als Bedingung 92

der eigenen Grundlegungen setzt, verschiebt Lefebvre den Marxismus bereits deutlich in postfundamentalistische Richtung.

• Eine Weiterentwicklung von Lefebvres reflexivem Marxismus findet sich in seinen Texten aus den späten 1950er-Jahren. 17 Jahre nach dem Dialektischen Materialismus und kurz vor seinem Ausschluss aus der kommunistischen Partei zeichnet Lefebvre ein düsteres Bild vom Zustand des zeitgenössischen marxistischen Denkens. Dieses Denken, so schreibt er im Jahre 1957 im Vorwort einer Neuauflage des ersten Bandes seiner Kritik des Alltagslebens, sei in allen theoretischen Belangen verarmt. Es herrsche eine „bedenkliche Mischung von simplifizierendem Empirismus, wendigem Subjektivismus, doktrinärem und autoritärem Dogmatismus“ vor, der sich analytisch mit der Erstellung von „ökonomischen Statistiken zufrieden gegeben“ habe (1974a, 60). Die Marxisten müssten „die Augen öffnen und eine Tatsache zur Kenntnis nehmen und überprüfen: der Marxismus ist langweilig geworden“ (1974a, 92). Ende der 1940er-Jahre hatte Lefebvre noch versucht, sein Denken mit der offiziellen Parteilinie in Einklang zu bringen.4 Im Laufe der 1950er-Jahre wird der Graben zur Partei jedoch immer größer und deutlicher. Mit der Veröffentlichung seines Buches Problèmes actuels du marxisme [1958] (1971a) bricht der Konflikt offen zutage und Lefebvre wird schließlich aus der Partei ausgeschlossen. Die steten Bemühungen um eine Aktualisierung des Marx’schen Denkens treiben ihn zu einer theoretischen Radikalität, zur Ausarbeitung eines Marxismus, der marxistischer ist als derjenige, der von der Partei erwartet und verbreitet wird. Lefebvre selbst soll seinen Parteiausschluss daher gerne als den „selten benutzten linken Ausgang“ (Merrifield 2006, XXIII ; Wark 2011, 93) bezeichnet haben. Ohne Zweifel ist der offizielle Bruch mit der kommunistischen Partei ein einschneidendes Ereignis für die Weiterentwicklung der theoretischen Perspektive von Lefebvre. Der Rauswurf führt zu der wohl produktivsten Schaffens­ phase des französischen Denkers, in der zahlreiche Texte erscheinen, nicht zuletzt mit La somme et la reste ([1959] 1989) – Lefebvres „bestes Buch“, wie sein Biograf Andy Merrifield behauptet (2006, XXII ) – eine Schrift, die als 93

direkte Antwort auf das Ende seiner Mitgliedschaft in der Partei interpretiert worden ist. Der Titel des Werks führt dabei direkt in den Kernbereich von Lefebvres Denken: Das Ganze (das System, die Struktur, die Totalität, das Fundament) wird reflektiert und angereichert um einen merkwürdigen Rest, der mehr ist als das Ganze. Allerdings expliziert Lefebvre in dem 800-seitigen Text (bestehend aus biografischen Anekdoten, Gedichten und historischen Analysen) seine These vom Ganzen und dem Rest nicht. Um der dort angedeuteten theoretischen Perspektive näher und auf die Spur zu kommen, ist es daher hilfreich, einige der zur etwa gleichen Zeit veröffentlichten Texte zu betrachten, in denen Lefebvre seine postmarxistische Theorie weiter entfaltet und detailliert. Im zweiten Band der Kritik des Alltagslebens (1975c [1961]) legt Lefebvre eine Aktualisierung seiner postmarxistischen Metatheorie vor. Hier arbeitet er sich vor allem an den Begriffen der Totalität und des Absoluten ab. Das Argument ist dabei ganz ähnlich wie beim „wahren Determinismus“ und bei der „wirklichen Objektivität“. Keine Theorie, keine ernsthafte theoretische Reflexion, so führt es Lefebvre aus, kommt ohne einen Begriff der Totalität aus. Theorie braucht Totalität als einen Zielpunkt. Ohne die Idee der Totalität zerfällt das Denken (und auch die Welt) in partikuläre Einheiten, in Dinge ohne Sinn und Verstand oder besser: ohne Richtung. Denn das Denken der Totalität ist genau hierfür unverzichtbar: ihm (dem Denken) eine Richtung zu geben. Lefebvre sagt, es gelte für die Praxis wie für die Theorie: „Kein Handeln und kein Bemühen um Erkenntnis“ sind ohne diesen Willen zum Ganzen möglich (1975c, 14). Wird auf ein solches Ziel, auf einen solchen Begriff von Totalität aber verzichtet, hat das Denken nicht nur keine Richtung mehr, es tendiert dann auch zwangsläufig dazu, die Dinge so zu nehmen (und so zu lassen) wie sie sind. Das ist natürlich gerade für das Denken des Politischen entscheidend: Eine nur noch auf Partikulares schauende Politik nimmt das Große und Ganze hin, hinterfragt es nicht, sucht nicht nach (grundlegenden) Alternativen. Erst mit der Vorstellung von einer Totalität (von einer anderen Totalität, als der bestehenden) kann eine wirklich politische Forderung gelingen. Gleiches gilt für die Wissenschaft und ihr Streben nach Erkenntnis. Im Bestreben, sich zu partikularisieren, zerstört sich die Erkenntnis letztlich 94

von innen. Ohne den Willen zur Totalität tendiert das wissenschaftliche ­Streben zur Akzeptanz des Gegebenen. Natürlich muss die Totalität von ­einer kontingenzbewussten Perspektive aus gedacht werden. Einfach eine Tota­l ität zu behaupten und daran zu glauben, ist dagegen nichts anderes als Dogmatismus. Ohne die Bereitschaft und den Drang zur Totalität versinkt die Wissenschaft in einen dogmatischen und „begriffslosen Empirizismus“ (1975c, 7). Lefebvre baut hier seine Marx-Exegese zunehmend zur Gesellschaftstheorie aus. Der Drang nach Totalität und Universalität ist in seiner Konzeption genau das, was das Soziale konstituiert und was die Gesellschaft in Bewegung hält. Das Drängen ist auch ein Kämpfen, es ist ein ständiger, erbitterter und unabstellbarer Kampf um Bedeutung und um Wahrheit. Unabschließbar ist der Kampf deshalb, weil die angestrebte Totalisierung nicht möglich ist. Es ist nämlich nicht nur dogmatisch, die Totalität absolut setzen zu wollen, sondern es ist eben auch unmöglich. Lefebvre schlägt den Begriff des Scheiterns vor: „Der Moment der Totalisierung offenbart sich dabei zugleich auch als Augenblick des Scheiterns. Jede Struktur enthält in sich den Keim ihrer Negation: die beginnende Destrukturierung.“ (1975c, 9) Das Negative wird zum ­ontologischen Element, es bestimmt die Wirklichkeit des Seins und verhindert, dass die Geschichte ein Ende findet. Es ist dafür verantwortlich, dass das Bemühen um die Totalität nicht zu einem Abschluss kommt. Für Lefebvre ist genau dieser Moment wichtig, in dem sich das zeigt, der Augenblick der Vollendung: „Nur eine vollendete Totalität“, so resümiert er seine Theorie, „offenbart, daß sie keine ist.“ (1975c, 10) Und einen weiteren postfundamentalistisch durchtränkten Gedanken steuert Lefebvre bei, wenn er darüber schreibt, welche Folgen diejenigen Totalisierungsbestrebungen haben, die daran glauben, ihnen sei die Wahrheit angeheftet. Solche Strukturen und Systeme, so Lefebvre, würden immer nur langsam zu Ende gehen, im Verlauf von „langen Agonien, zuweilen heftig aufflackernd“ und weiterwirkend „noch während sie absterben“ (1975c, 11). Auch die Theorie der Entfremdung erfährt nun eine Aktualisierung. Le­febvre kritisiert hier die Marx’sche Theorie, die aus seiner Sicht einen nur einseitigen und eingeschränkten Entfremdungsbegriff anbietet. Nicht überzeugend 95

sei es, die Entfremdung alleine aus dem Ökonomischen herzuleiten, sie ausschließlich als Warenfetischismus und Verdinglichung auszuarbeiten. Entfremdung, so Lefebvre, wäre eigentlich noch viel mehr und trete in einer nicht überschaubaren Zahl von Erscheinungsformen auf. Die ursprüngliche und wirkungsmächtigste Entfremdungsform sei die Verkennung der E ­ ntfremdung, oder in Marx’schen Worten, das falsche Bewusstsein, das fehlende Bewusstsein des eigenen Entfremdetsein. Falsch ist das Bewusstsein auch, so lässt sich nun auf Lefebvres eben skizzierte Sozialtheorie verweisen, wenn es ­einerseits glaubt, das Totalitäre zu kennen (wenn es die eigene Version des Totalitären absolut setzt), oder wenn es das Bestreben nach dem Totalitären ganz aufgegeben hat und im Partikularen verhaftet bleibt. Wenig ­überzeugend sei es, so ergänzt Lefebvre, wenn in der Marx’schen Geschichtsphilosophie die auf die ökonomische Seite reduzierte Entfremdung „en bloc, mit einem Schlage mit einem historischen aber einmaligen Akt […] durch die revolu­ tionäre Aktion des Proletariats“ verschwinden würde (1975c, 35). Lefebvre glaubt, dass es komplizierter ist. Er schlägt vor, den Begriff der Entfremdung zunächst restlos zu „partikularisieren, [zu] historisieren und [zu] relativieren“, da er „nur in einem (gesellschaftlichen) Bezugsrahmen fass- und bestimmbar sei, im Verhältnis zu einem realen und zugleich begrifflichen Ensemble“ (1975c, 35). Aus meiner Perspektive ist es besonders interessant, dass sich Lefebvre in diesem Zusammenhang dem Urbanismus zuwendet. Lefebvre identifiziert nämlich den Funktionalismus als einen Haupttypus der komplexen Entfremdungs­ formen und nähert sich damit der Analyse des urbanistischen Feldes. Der Funktionalismus, in den 1960er-Jahren die vorherrschende Doktrin der städtebaulichen Moderne (vgl. Kapitel 4.2), beruht auf der in der Charta von Athen von Le Corbusier eingeführten Gliederung in die Funktionen Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Erholung und damit auf einem Organisationsschema, mit dem die Urbanisten städtische Wirklichkeit neu ordnen wollten (und dies auch taten). Durch die strikte Trennung in unterschiedliche Bereiche, die den einzelnen Funktionen zugeordnet sind, glaubten die Stadtplaner, ein Heilmittel gegen die ungeordneten, ungesunden, unsittlichen urbanen Zustände gefunden zu haben. Lefebvre nimmt diesen Funktionalismus als einen Motor 96

der Entfremdung ins Visier. Der Funktionalismus, so formuliert Lefebvre, ist das „Pendant des Strukturalismus“ und „dekretiert eine rationale Ausgewogenheit“, nach der „alles, was keine Funktion besitzt, also überflüssig ist, zu verschwinden [hat]“ (1975c, 26). Gerade die neuen Städte und ihre stadtplanerischen sozialreformerischen Wohnungsbauprojekte der frühen 1960er-Jahre zeigten dabei, welche „unbestreitbaren Verdienste“ ein solcher Funktionalismus einerseits zu produzieren in der Lage ist, aber andererseits und vor ­a llem auch, „welche noch unbestreitbareren Mängel“ er an den Tag bringe, wenn mit ihm der „Rahmen und die Bedingungen eines Alltagslebens“ geschaffen werden sollen (1975c, 27). Der Ordnungswahn der Stadtplanung, so die Diag­ nose von Lefebvre, entfremdet die Bewohner der neu geschaffenen funktionsgetrennten Quartiere auf direkte und effiziente Weise. Lefebvres Sozialtheorie, das lässt sich hier bereits festhalten, hat schon zu diesem Zeitpunkt ein spezielles Interesse für das Städtische und dessen Bedingungen und Bedingtheiten entwickelt. Neu führt Lefebvre in seiner Kritik des Alltagslebens schließlich eine recht poetisch ausgeschilderte sozialtheoretische Ergänzung ein, nämlich die „Theorie der Momente“ (1975c, 176). Das Moment ist das Anti-Ding, es arbeitet gegenläufig zur Marx’schen Verdinglichung und spielt auf der Klaviatur von Emanzipation, Möglichkeit und Befreiung. Lefebvre gibt verschiedene Beispiele, was als Moment bezeichnet werden kann, etwa: Liebe, Spiel, Ruhe, Erkenntnis; eine Liste, die beliebig ergänzt werden könne (1975c, 180). Das Moment bedient dabei zwei gegenläufige Ansprüche: Einerseits wird es zur Kontingenzkategorie, andererseits zum Träger von Kontinuität. Das Moment ist für Lefebvre diejenige Instanz, deren Aufgabe es ist, zwischen einer „höheren Einheit und Beliebigkeit“ zu vermitteln (1975c, 177), eine Variation zur gerade referierten Differenz zwischen Totalität und Partikularität. Gleichsam wird jedes Moment absolut, es kann und muss sich absolut setzen, es „erstrebt und setzt mithin das Unmögliche“. Das Moment wird zum „Möglich-Unmögliche[n], das als solches angestrebt, gewollt und gewählt wird“ (1975c, 183). Das Moment verarbeitet die Instanz des Negativen, es hat seine ganz „spezifische Negativität“. Durch das Moment operiert das Negative „im Zentrum dessen, was sich ‚strukturieren‘, zum definitiven Ganzen verwandeln und 97

zum Stillstand kommen will“. Wie operiert es? Was ist sein Ziel? Es ver­ hindert das Absolute und treibt doch in seine Richtung. Damit, so Lefebvre, werden „Zufall und Notwendigkeit vereint und aufgehoben, erwächst das Tragische“ (1975c, 183). Und das Moment, auch hier gibt es eine Variation der Überlegungen zur Totalität, ist schließlich auch der „Augenblick des Scheiterns“, denn „die Vollendung des Moments ist zugleich sein Verlust“ (1975c, 187). Das (diesen Moment) sollten wir festhalten, bevor es (er) wieder vergangen ist: das Moment als die negative Kraft, die im Modus des Tragischen zwei Dinge miteinander verschmelzen lässt, zum einen die Notwendigkeit und zum anderen die Möglichkeit, dass es auch anders sein könnte. Insgesamt gesehen entwirft Lefebvre mit dem Moment ein multiples Paradox, eine zeitlich räumliche Einheit, die so schnell vergeht, dass sie möglicherweise doch bestehen bleibt. Das Moment ist zeitlich, es ist Steigerung, Stimulation, Ekstase. Gleichzeitig kann es aber auch von langer Dauer sein, dann, wenn es bleibt als der bleibende Moment. „Quer durch allen Wandel hindurch“, so drückt es Lefebvre aus, „gibt es etwas, das bleibt“ (1975c, 177). Das Moment ist aber schließlich auch räumlich. Es kann räumlich lokalisiert werden, nämlich in jenem Dazwischen, das sich zwischen dem Absoluten und dem Einzelnen ausbreitet. Es ist ein räumliches wie ein zeitliches Zwischen („Warten Sie bitte einen Moment.“), es ist nicht das eine oder das andere, es ist eigentlich auch keine Relation, es ist eher der Zeitraum, in dem eine Vermittlung stattfindet (oder auch nicht stattfindet), es ist der Kontext der Relation, das Plasma der Differenz. Vielleicht ist das Moment ja sogar der Stoff (die Materie), aus dem die unbesetzte Stadt gemacht ist. All das ist möglich.

• Das – neben dem Alltagsleben – zweite sozialtheoretische Schwergewicht aus der Feder von Lefebvre ist die drei Jahre davor veröffentlichte Schrift Pro­ blèmes actuels du marxisme [1958] (1971a): der Text, der schließlich zum Ausschluss aus der Partei geführt hat. Dort ist die postmarxistische Philosophie von Lefebvre vielleicht am deutlichsten und systematischsten ausgearbeitet. Als die eigentlichen Probleme des Marxismus benennt Lefebvre hier zunächst den Dogmatismus und den Ökonomismus und knüpft also an die Debatte an, 98

von der ich weiter vorne mit Bezug auf Marx berichtet habe. Lefebvre formuliert, dass der rigide Dogmatismus der zeitgenössischen Marxauslegung sich stark ausgebreitet habe. Dieser Zugang beruhe darauf, dass das Ökonomische überbetont und absolut gesetzt werde. Sein Argument lautet, dass der einseitige Blick auf den „ökonomischen Faktor“ (1971a, 30) dazu führt, zu vergessen, dass die eigentlichen Beziehungen nicht zwischen den Dingen (Waren, Geld), sondern eben doch stets zwischen den Menschen bestehen. Lefebvre erinnert daran, dass es Marx im Kapital um eine Kritik der politischen Ökonomie (und nicht um deren Bestätigung) geht, und seine These ist, dass dieser nicht ganz unwichtige Umstand aktuell von vielen Marxisten vergessen worden wäre (1971a, 30). Lefebvre schreibt den Dogmatismus dabei nicht Marx selbst zu. Marx habe niemals mit vereinfachenden oder schematischen Hypothesen gearbeitet, er habe weder einen „allseitig kohärenten und konstanten ‚Fortschritt‘“, noch einen „einseitigen Determinismus“ oder eine „absolute Notwendigkeit“ anerkannt (1975a, 81). Niemals hätte Marx die Geschichte als ein „Ensemble vollendeter Tatsachen“ und fertiger, abgeschlossener Fakten betrachtet, und sein Ziel sei es immer gewesen, gerade die Abweichungen zu erforschen (1975a, 81). Lefebvre betont, dass es sich beim Dogmatismus um ein allgemeines Problem handelt, um etwas, was nicht nur den Marxismus betrifft. Die ganze Welt werde heimgesucht von mannigfaltigem dogmatischem Denken, so die These von Lefebvre, ein solches Denken wäre nicht nur eine marxistische, sondern eine generelle Problematik. Dogmatismus bestehe dabei letztlich weniger „in Behauptungen ohne Beweis“, also darin, etwas zu postulieren, ohne es belegen zu können (1971a, 33). Das Problem stelle sich eigentlich sogar vielmehr genau umgekehrt: Gerade eine vermeintlich absolut bewiesene Behauptung würde sich regelmäßig als absolute Wahrheit geben und zur Trägheit des Denkens führen. Es sei der Glaube an die Möglichkeit des perfekten Beweises und der letztgültigen Begründung, der die dogmatische Haltung entstehen lässt und befeuert. Lefebvre sagt, dass es diese Möglichkeit (des perfekten Beweises) aber letztlich gar nicht geben kann. Eine sich der „Relativität entziehende Behauptung“ wäre unmöglich, „keine Aussage“ sei dazu in der Lage, „für sich einen vollendeten, endgültigen Beweis zu erbringen“ (1971a, 30). 99

Die Kritik am marxistischen Ökonomismus führt Lefebvre damit zu einer ­generellen Dogmatismuskritik, die mit der Fundamentalismus- und Determinismuskritik des postfundamentalistischen Denkens nah verwandt ist. Und zwar besonders deshalb, weil sie nicht nur gegen absolute Wahrheits­ behauptungen an sich argumentiert, sondern die Kategorien des Absoluten und des Totalen gleichzeitig beibehält und sogar einfordert, anstatt sie auszuschließen oder zu verdammen. Es geht Lefebvre nicht darum, zu behaupten, alles wäre zufällig und beliebig. Sein Anliegen ist es, über die Auseinandersetzung mit den begrifflichen Konzepten des Absoluten und Totalen zu zeigen, warum es keine absolute Wahrheit gibt, warum es sie nicht geben kann und was daraus folgt. Im Lichte dieser postfundamentalistischen Präambel reflektiert Lefebvre dann noch einmal die Idee des Materialismus. Der Begriff der Materie, so führt er mit Bezug auf Lenins Lektüre von Hegel aus, hat zunächst vor allem die Aufgabe, andere Begriffe zu ersetzen, Begriffe wie Natur, Welt oder Universum (1971a, 105). Die Materie übernimmt dabei zunächst das, was traditio­ nell meist der Natur zugeschrieben wurde; sie hat die Aufgabe, die im Natur­ begriff versammelten „dunkle[n] Mächte und okkulte[n] Qualitäten“ und ihre „anthropomorphe[n], fetischisierte[n], dem Menschen gegenüber objektivierte[n] Elemente“ zu erhellen (1971a, 105). Sie ist also gewissermaßen eine Kategorie der Aufklärung, vielleicht auch der Beruhigung. Es geht darum, die Welt übersichtlicher und erklärbarer zu machen, um Entzauberung und Durchblick. Die Materie übernimmt von der Natur aber auch (und vor allem) das Merkmal eines Von-Außen-Kommens, „sie ist bestimmt als jedem Denken, jeder Erkenntnis äußerlich und ihnen vorhergehend, insofern sie nämlich über jede endgültige Behauptung hinausgeht“ (1971a, 106). Die Kategorie der Materie ist äußerlich und unendlich: „in der Zeit, im Raum und auch in der Tiefe im Sinne eines unerschöpflichen Reichtums an Beziehungen“ (1971a, 106). Materie ist alles und jedes. Lefebvre versucht nicht, die Materie zu dekonstruieren, um sie wieder zu verwerfen und eine andere Kategorie zu wählen, sondern er möchte sie sich theoretisch bewusst machen, um sie mit diesem Bewusstsein weiter verwenden zu können (aber eben nicht nur weiter, sondern weiter in einem erneuerten Zustand). Sein Ziel ist es allerdings 100

ebenfalls nicht, aus der Materie ein neues letztes Fundament zu meißeln oder einen neuen letzten Grund, sondern genau das Gegenteil: Er möchte – mit seiner Konzeption von Materie – den Beweis führen, dass es so etwas wie einen letzten Grund nicht geben kann. Die Materie, so formuliert es Lefebvre, geht über jedes Denken und jeden begrenzten und bestimmten Satz hinaus. Genau daraus folgt, dass es „keinen ‚Urquell der Dinge‘, keinen ‚Grund‘ im Sinne der deutschen Naturphilosophie, keinen letzten, bestimmbaren Träger der Existenz“ geben kann (1971a, 106) und eben auch keine Ökonomie als letzte Instanz. Die Materie verhindert in Lefebvres Theorieaufbau die Möglichkeit eines letzten Grundes. Wichtig ist nun, wie die Einsicht in das Wesen der Materie die Theorie selbst weiterbringt, zu fragen, wohin jene Erkenntnis leitet, nach der die Materie zum einen von außen kommt und zum anderen die Schließung dieses Außen verhindert. „Ein bestimmter Satz über die Materie kann die Totalität immer nur unvollständig und teilweise reflektieren“, sagt Lefebvre, und deshalb ist die Materie nicht nur unendlich, sondern auch endlich (1971a, 106). Das führt zu einem erneuten Paradox: „Die Reflexion, die Endliches im Unendlichen erfasst, tritt also aus der Materie nicht heraus, wenn sie auch deren Totalität zerbricht“ (1971a, 106). Sie bleibt im Rahmen und zerstört ihn gleichzeitig. Die Materie materialisiert sich als ein weiteres konstitutives Paradox, sie „enthält Aspekte, Elemente und Teilchen, die jeweils (ob es sich um das Elektron oder um das menschliche Sein handelt) zugleich endlich und unendlich sind, bestimmbar und unerschöpflich“ (1971a, 106).5 Die Materie fungiert für Lefebvre als Scharnier zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, zwischen dem Absoluten und dem Relativen. Wie macht sie das? An dieser Stelle kommen wir glaube ich zum eigentlichen Kern der Theorie von Lefebvre. Sein Konzept besteht darin, die Materie als eine Variable zu bestimmen: „Die Materie ist eine Art x (ein Unbekanntes), das wir jedoch in unseren Behauptungen setzen (oder aber zu setzen ablehnen) müssen“ (1971a, 105). Die Materie ist ein allumfassendes (und das Allumfassende zersetzendes) Ding, ein theoretisches Chamäleon, ein subversiver Platzhalter. „So geht der Begriff der Materie, betrachtet als ein dialektisch gesetztes x in alle Teilerkenntnisse ein. Jede begrenzte, approximative, relative 101

Erkenntnis (die damit endlich und also auf dem Wege ihrer Aufhebung ist und durch die unendliche Entwicklung des Denkens bereits negiert wird), bezieht sich auf dieses dialektische x.“ (1971a, 106) Damit wird schließlich deutlich, was das Ganze und der Rest bei Lefebvre wirklich sind, für was sie stehen, was sie bedeuten. Der Rest, der „gerade die Unmöglichkeit für das Ganze und für den Teil“ bedeutet, „mit sich selbst und miteinander zusammenzufallen (Agamben 2003a, 143), ist als Materie das x. Das Ganze (la somme) ist bei Lefebvre der Materialismus, und zwar zunächst der dogmatische (dialektische) Materialismus des parteikonformen Marxismus. Es geht Lefebvre um jenen Materialismus, der von Stalin in Über dia­ lektischen und historischen Materialismus (1938) zu einem fundamentalen Ultradogmatismus kanonisiert worden ist, zu einer abgeschlossenen und ­aufteilbaren Gesamtheit: vier Punkte für die Dialektik, drei für den Materia­ lismus, zusammen die fertige Weltanschauung des „wissenschaftlichen So­ zialismus“. Lefebvre deutet diesen Bezug – das Aufgehen des Ganzen im dia­ lektischen Materialismus – deutlich genug an. Das Ganze ist in den sieben Punkten – „somme obligatoire: sept principes, nombre sacré!“ (Lefebvre 1989 [1959], 56) – eingemeißelt für die Ewigkeit zum „a priori fixierten Schema“: Mit der Stalin’schen Variante des Materialismus und der Definition „der Materie und des Bewußtseins als Reflex“, so schreibt Lefebvre, hat „die Philosophie ein Ende“ (1974a, 91). Lefebvre reaktiviert also das philosophische Denken mit der Einführung eines überschüssigen Rests. Gleichzeitig infiziert er den dogmatischen Materialismus, indem er den das Ganze subvertierenden Rest im Herzen des Materialismus selbst platziert und ihn in perfider Weise sogar „Materie“ nennt. Lefebvre kritisiert mit seinem Ansatz – mit der Einführung des Rests, der zum Ganzen hinzuzuaddieren ist – allerdings nicht nur einen dogmatischen Stalinismus, sondern allgemein jedes Denken eines abgeschlossenen Ganzen und speziell eine strukturalistische Tradition, die in den 1960er-Jahren vor allem in Frankreich ihre Blüte erlebte. „Das Ganze“ ist nicht nur das rigide System eines Stalin’schen Materialismus, sondern es ist jede Struktur, die als etwas Abgeschlossenes konzipiert ist. Lefebvre greift „das Ganze“ dabei nicht 102

als eine falsche Politik oder eine fehlgeleitete marxistische Programmatik an, sondern auf einer tiefer liegenden theoretischen (philosophischen) Ebene. Er kritisiert das Ganze als fertiges Ganzes, als nicht kontingenzbewussten Determinismus, als kalt gewordene Totalität. Und er fügt dem Ganzen etwas hinzu, einen Rest, der das Bild des Ganzen ins Wanken bringt, weil, solange es einen Rest gibt, das Ganze niemals komplett ganz sein kann.6 Lefebvre öffnet mit der Entfaltung der Materie zum notwendig unbekanntem x seine postmarxistische Theorie – ob bewusst oder unbewusst – einer psychoanalytischen Perspektive und antizipiert ein zentrales poststrukturalistisches Sprachspiel. Lefebvres Objekt x gleicht in Ansehen und Aussage nämlich dem „Objekt a“, das Jacques Lacan in seinen Seminaren aus den 1960er-­­ Jahren im Kern seiner psychoanalytischen Gesellschaftstheorie installiert.7 Bei Lacan ist das „Objekt a“ ebenfalls „an die Funktion des Rests gebunden“ und selbst ein Rest (2011, 146), und zwar der irreduzible Rest des Subjekts, der „(Ab-)Fall“ des „subjektiven Vorgangs“ (2011, 202) und zugleich „ein jeder möglichen Definition der Objektivität äußerliches Objekt“ (2011, 113). Das „Objekt a“, so formuliert Lacan in seinem an Freud angelehnten Ansatz, ist das „vom Begehren affizierte Objekt“ (2011, 39). Das „Objekt a“, so synthetisiert wiederum Marchart (2013, 295 f.) die These von Lacan, ist das unmögliche ­Reale, das unerreichbare Objekt der Begierde, das als „Subjekt des Mangels“ durch seine Unerreichbarkeit und Abwesenheit (die Abwesenheit wird Voraussetzung) zur eigentlichen Triebkraft des Sozialen wird (2013, 295). Dieses Reale konstituiert den „Relationsraum des Sozialen“ gerade dadurch, indem es unerreichbar, „als Unerreichbares aber Effekte produziert“ (2013, 350). Wäre das „Objekt a“ „tatsächlich erreichbar, so käme der Begehrensprozess zum Stillstand“ (2013, 320). Die Ähnlichkeit mit Lefebvres Theorieaufbau ist hier deutlich greifbar. Das „Objekt a“ strebt genauso zu einem Ganzen, wie es bei Lefebvre gerade der Materie zugeschrieben wurde, und ebenso verschwindet es, sobald es dieses Ganze erreicht zu haben scheint. Marchart führt aus, dass „was erreichbar ist, ist immer nur ein bestimmtes Objekt, das vorübergehend die Qualität des ‚Objekt a‘ zu verkörpern scheint, diese Qualität aber verliert, sobald es erreicht wurde“ (2013, 320). Das „obskure Objekt der Begierde“, so interpretiert 103

Marchart schließlich, entspricht der Totalität der Gesellschaft, die nicht aufgeht „in den vorübergehend stabilisierten Formationen […], die den Fluss ­sozialer Bedeutungsproduktion fixieren“, ebenso wenig, wie es in den „trivialen Gegenständen“ aufgeht, „mit denen wir unser Begehren zu stillen vermeinen“ (2013, 320). Lefebvres x und Lacans (beziehungsweise Marcharts) „Objekt a“ folgen beide einer Logik des unmöglichen Objekts und beide sind konstruiert auf Grundlage einer Paradoxie, die zwischen dem Totalen und dem Relativen oszilliert, die das Totale und Absolute im Partikularen einfangen und ausdrücken möchte, und zwar in beiden Fällen durch ihre Unendlichkeit, Unmöglichkeit und Unerreichbarkeit. Lacan geht es dabei um den überschüssigen Rest des Subjekts, Lefebvre geht es um den überschüssigen Rest des Systems/der Struktur. Beide Gedankengänge treffen sich in der Struktur des Rests als Subversion des Totalen und als Triebkraft des Sozialen. Aber nicht nur das – schließlich verbindet auch das Materielle beide Konzepte: Während für Lefebvre das Objekt x die Materie selbst ist, ist Lacans „Objekt a“ ebenso von „materieller Natur“, auch wenn es „eine spukhafte Materialität ist, die dem Spiel von An- und Abwesenheit unterliegt“ (Marchart 2013, 295). Lefebvres Objekt x (die Materie) ist jedoch nicht nur dem „Objekt a“ (das Reale) Lacan’scher Provenienz ähnlich, sondern es ist letztlich eine Variation des Grundgedankens, der in einem jeden poststrukturalistischen Theorieansatz zu finden ist, oder besser, der solche Ansätze eigentlich erst konstituiert. Die Konzeption eines überschüssigen und paradoxen Rests steht für das poststrukturalistische Gründungsmoment, den Strukturalismus weiterzudenken (oder, je nachdem, ihm entgegenzutreten, ihn aufzuheben, ihn zu subvertieren). Der Rest ist vermutlich genau das, was der Poststrukturalismus dem Strukturalismus hinzufügt, der Rest ist das „Post“. Der paradoxe Rest subvertiert jegliches Denken eines Ganzen. In Sprache und Gesellschaft scheibt Lefebvre: „Seit Saussure hat die strukturalistische Sprachwissenschaft den Begriff des ‚Ganzen‘ oder des ‚Systems‘ akzentuiert und nur diese Eigenschaft festgehalten.“ (1973 [1966], 198) Lefebvre radikalisiert und verunmöglicht den Strukturalismus durch Hinzugabe des Rests und wird damit selbst zum Poststrukturalisten avant la lettre. 104

Wie der überschüssige Rest allgemein Einzug in das sozialtheoretische Denken hält und wie es zum Kern der poststrukturalistischen Theorie wird, das zeigt Oliver Marchart ausführlich in seiner Studie Das unmögliche Objekt (2013).8 Lefebvres Theorie vom Ganzen und dem Rest ist in der Erbfolge solcher Erzählungen vom überschüssigen Objekt einzuordnen und ein frühes Beispiel für den Code, der sowohl postfundamentalistischen Versatzstücken als auch ausgearbeiteten Theorien dieser Provenienz zugrunde liegt. Lefebvre, der sich mit den Schriften von Lévi-Strauss eingehend beschäftigt hat, schafft mit seinem Objekt x eine bisher kaum registrierte Version des poststrukturalistischen Signifikanten, eine Version, die zu einer wichtigen sozialtheoretischen Verschiebung führt: Während Marchart immer wieder zeigt, dass das obskure überschüssige Ding die Gesellschaft ist, ist die Benennung des Dings von Lefebvre – nämlich als „Materie“ – nicht weniger originell. Und zwar nicht nur, weil diese Benennung einen Hieb ins Herzen des dog­ matischen historischen Materialismus versetzt, sondern auch, weil diese Überlegung den Weg zur Stadt – und deren komplexen Beziehung sowohl zur Materialität als auch zum Sozialen (falls das nicht dasselbe ist) – bereitet. Den Rest als Materie zu bestimmen, weist den Weg zu einer poststrukturalistischen Theorie der Stadt. Wie aber hat sich der von Lefebvre gesetzte Keim in der erst später zur Blüte gelangenden kritischen Stadtforschung entwickelt? Deutlich geworden ist zunächst, dass in deren Annalen mit Lefebvres Theorie ein Hang zur Paradoxie installiert worden ist. Meine These ist nun, dass dieser Hang in weiten Bereichen der urban studies immer wieder und bis heute verdrängt wird – nicht bei Lefebvre selbst, aber bei beinahe all seinen Rezeptionen und bei den späteren Versuchen, aus seinen Ansätzen eine kritische Stadtforschung zu generieren. Lefebvres Kritik am Strukturalismus und an seinen Repräsentanten wurde in der kritischen Stadtforschung – hier greife ich etwas vor – als ablehnende Haltung nicht nur von strukturalistischem, sondern auch gegenüber poststrukturalistischem Denken interpretiert. Lefebvres ablehnende Äußerungen in Richtung Althusser, Lévi-Strauss9 und Foucault wurden in der kritischen Stadtforschung als Argument dafür verwendet, sich nicht selbst eingehend mit dem Strukturalismus/Poststrukturalismus auseinandersetzen zu 105

müssen. Die Schlacht war durch Lefebvre bereits stellvertretend geschlagen, eine eigene Beschäftigung mit der das eigene Selbstverständnis beunruhigenden Metatheorie daher kaum mehr dringlich. Das in den Texten von Lefebvre virulente poststrukturalistische Denken wurde dabei immer wieder und auf unterschiedliche Weise umschifft, und zwar genau mit und in den verschiedenen Lefebvre-Rezeptionswellen der urban studies. Die poststruk­t u­ ralistische Herausforderung wurde gemieden und die Vermeidung mit dem Rückgriff auf einen eigentlich ziemlich poststrukturalistischen Denker ­begründet. Diese bis heute wirkungsmächtige Verdrängungsgeschichte ist zum kons­t i­ tutiven Element der nachfolgenden Versuche geworden, kritische Stadtforschung zu aktualisieren. Mit dem Verweis auf Lefebvre wurde das Kapitel – die Konfrontation der kritischen Stadtforschung mit einem Post-/Struk­­turalismus – meist gar nicht erst geöffnet. Kritische Stadtforschung, so eine bis heute verbreitete Haltung, ist konkret, praktisch und empirisch, sie braucht kein Philosophieren und Ontologisieren, weil sie bereits eine fertige Grundlage hat (nämlich das Marx’sche Denken). Diese Interpretation übersieht ­a llerdings, dass damit genau gegen Lefebvre argumentiert wird, da hier ein – allerdings ohne so bezeichnet zu sein – entwickeltes poststrukturalistisches Denken am Werk ist, das sich genau gegen eine solche Schließung richtet und das sich aus dem Kampf gegen jeden Dogmatismus entfaltet hat (vgl. Kapitel 4.3.). Aber auch das, was für Lefebvre der Rest ist – die Materie selbst – durchläuft in den urban studies einen Prozess der Verdrängung. Denn in der aktuellen kritischen Stadtforschung, das ist meine zweite These, wird die Materie – als ontologische Kategorie – häufig nicht zugelassen; und zwar deshalb nicht, weil insistiert wird, dass alles „sozial konstruiert“ sei und die materiellen Dinge an sich keine Rolle spielten. Historisch gesehen ist diese Abwehrbewegung durchaus nachvollziehbar, da der traditionelle Urbanismus tatsächlich prädestiniert ist für reduktonistische Objektivierungen und Essentialisierungen des Materiellen (vgl. Kapitel 4.2.). Kritische Stadtforschung konstituiert sich gerade auch in ihrer Kritik an solchen Hypostasierungstraditionen. Genau dadurch aber wird die Materie (oder wenn man so will: die Seinsseite der 106

Materie, also das, was bei Marx noch ganz in den Vordergrund gestellt ist, die geister- und fetischhaften Verselbstständigungen der Dinge) selbst verdrängt, ausgestoßen, exkludiert. Kritische Stadtforschung verdrängt gerade das, was Stadtforschung eigentlich gründet und was Stadt möglicherweise von Gesellschaft unterscheiden kann: die Materie, die materielle Seite des Sozialen. Und sie konstituiert sich (auch) durch dieses Procedere: mit der unbemerkten Überführung ihres originären Instinkts, den Essentialismus zu kritisieren, in eine wirkkräftige Verdrängung des Begriffs der Materie. Diese Konstellation erklärt vielleicht auch den vehementen Widerstand, der vonseiten einer marxistisch orientierten Stadtforschung regelmäßig den­ jenigen Theoriebewegungen entgegengebracht wird, die seit einiger Zeit die ­M aterie als eigenständige und wirkungsvolle Kategorie (die Dinge, die nicht-menschlichen Akteure etc.) wieder in den Vordergrund schieben. Mit der gerade im poststrukturalistischen Denken und seinen Nachbargebieten inzwischen als breiten Trend beobachtbaren Zuwendung zu den Objekten, also mit dem, was im postfundamentalistischen Denken zur Renaissance des Dings wird, wird das wieder sichtbar, was Lefebvre in seiner postmarxis­ tischen Theorie mit seiner Setzung der Materie als unendlich endliches ­To­t ales (oder eben als Rest) ausgeleuchtet hat. An das eigens konstitutiv ­Verdrängte erinnert zu werden führt zu der Ablehnung eines solchen „Onto­ logisierens“. Auf der anderen Seite ist schließlich die unvermittelte, gegen traditionellere marxistische Perspektiven vorgebrachte Polemik der neuen Ontologisierer (ausgeprägt etwa in einigen Texten von Bruno Latour) nicht nur als ein strategisch durch die Suche nach Aufmerksamkeit motiviertes Gebaren zu erklären, sondern zumindest auch damit, dass hier wahrscheinlich ebenfalls eine Verdrängung stattfindet, nämlich die Verdrängung der eigenen Verwurzelung in der Marx’schen Theorietradition, in den konfliktträchtigen Diskursen zum historischen Materialismus, in jenem Geister- und Spukhaften, welches – wie wir später noch sehen werden – im Marx’schen Denken eine so große Rolle spielt.

107

2.2

Condition urbaine

Im Jahre 1957, kurz vor seinem Ausschluss aus der kommunistischen Partei, macht Lefebvre die Bekanntschaft von Guy Debord (vgl. Shields 1999; Merrifield 2005 u. 2006; Wark 2011; Etzold 2009). Debord war der Kopf der Situa­ tionistischen Internationale, einer Gruppierung aus Künstlern, Architekten und Intellektuellen, die mit ihren theoretisch radikalen Interventionen und Positionen zu einiger Berühmtheit gelangt sind. Die Situationisten, zu denen neben Debord unter anderem Constant Nieuwenhuys, Asger Jorn, Raoul ­Vaneigem und Michèle Bernstein gehörten, sahen sich als Sperrspitze einer künstlerischen Avantgarde, die – zumindest in ihrem eigenen Selbstverständnis  – mit den Konventionen des bürgerlichen Kunst- und Wissenschafts­ betriebs komplett gebrochen hatte. Debord versammelte unter dem Dach der Situationistischen Internationale verschiedene Gruppierungen mit Namen wie „Lettristische Bewegung“, „Bewegung für ein Imaginäres Bauhaus“ (Mouvement pour un Bauhaus Imaginiste) oder „Londoner Psychogeogra­ phische Gesellschaft“.10 Die Situationisten veröffentlichten Traktate und Pamphlete zu Themen wie „architektonischer Kommunismus“ oder „artistischer Materialismus“, gaben eine Zeitschrift heraus, prägten Begriffe wie dérive (das Erkunden städtischer Räume durch zielloses Umherschweifen) und détournement (einer Art nicht autorisierte Aneignung und Zweckentfremdung), organisierten Aktionen, machten Kunst, mäandrierten fließend zwischen den verschiedenen Metiers. Lefebvre und Debord verstanden sich gut. Debords Situationen passten bestens zu Lefebvres Momenten und der aktionistische Ansatz der Künstlerbewegung interessierte sich genauso für die postmarxistische Metatheorie, wie jene ihre Perspektive auf das Alltagsleben durch die urbanen Experimente bereichern konnte. Der Einfluss von Debord wird von den Geschichtsschreibern als wichtiger Impuls für die Entfaltung von Lefebvres Denken in seiner urbanen Schaffensphase gesehen und die spontane anarchistische Künstlergruppe überhaupt als bedeutender Inspirationsquell für das weitere Wirken des „aging professor“ (Merriefield). Allerdings war die Symbiose von begrenzter Dauer. Die Beziehung Lefebvre–Debord (Stoff für Dramen und Tragödien: 108

Es ging um Frauen, verletzte Eitelkeiten und Plagiatsvorwürfe) war – das hat Lefebvre in einem Interview einmal selbst gesagt – eine Liebesgeschichte, die eines Tages schrecklich endete. Der Bruch zwischen den beiden extrovertierten Persönlichkeiten, zu dem es im Jahre 1962 kam, ist vermutlich auch dadurch bedingt, dass Debord in seiner Gruppierung einen ziemlich autokratischen Führungsstil pflegte und Lefebvre – was dogmatisches Gebaren anbelangt – bei seinem fliegenden Wechsel von der Partei zu den Situationisten gewissermaßen vom Regen in die Traufe geraten war (vgl. Wark 2011). Allerdings hat das Zusammentreffen mit den Situationisten – und das ist der Punkt, der für meine Analyse wichtig ist – das Interesse Lefebvres an den urbanen Dingen angestachelt (Merrifield 2006, 59). Diesen neuen Fokus – also Lefebvres Zuwendung zur Stadt, seine Thesen von der urbanen Revolution und der 100-prozentigen Urbanisierung, seine bis heute nachhallende Proklamation eines „Rechts auf Stadt“, die scharfe Kritik am orthodoxen Urbanismus, kurz: die Formulierung einer ­k ritischen postmarxistischen Stadttheorie – möchte ich im Folgenden rekonstruieren und dabei (erneut) insbesondere auf die Entwicklung des theoretischen Arguments blicken.



Die Auseinandersetzung mit Stadt lässt sich bei Lefebvre bis weit vor seine Affäre mit den Situationisten zurückverfolgen. Von besonderem Interesse ist aus dieser Perspektive der erste Teil seiner Kritik des Alltagslebens [1947] (1974a). Hier führt Lefebvre einen Ansatz ein, der auf den ersten Blick wenig spektakulär ist: Er vergleicht die Stadt mit einem Text. Unsere Städte, so schreibt er, könne man „wie ein Buch lesen“, wobei der Vergleich „nicht ganz exakt“ sei, da ein Buch „bedeutet“, die Städte dagegen „sind, was sie bedeuten“ (1974a, 235). In dieser Aussage steckt aus heutiger Sicht und – in Anbetracht der Bedeutung von Lefebvre für die Entwicklung der kritischen Stadtforschung – mehr Zündstoff, als es zunächst den Anschein hat. Zum einen zeigt es sich nämlich, dass am Anfang der urbanen Phase von Lefebvre eine Zuwendung zu einer linguistischen strukturalistischen Perspektive zu finden ist. Und das ist 109

keineswegs ein einmaliger Unfall in seiner Theorie: Lefebvre wird noch an vielen Stellen schreiben, dass die Stadt als Text betrachtet werden kann und soll. Damit vollzieht er jedes Mal eine Annäherung an eine strukturale Per­ spektive und offenbart, dass die später von der „Lefebvre-Industrie“ immer wieder verbreitete Geschichte, Lefebvre habe sich der Stadt zugewandt, um linguistischen Strukturalismus zu vermeiden oder zu überwinden (vgl. etwa Kipfer 2008), nur die halbe Wahrheit ist. Lefebvre betrachtet die Stadt als Text, vom Anfang und bis zum Ende seines Stadtdiskurses, und er vermeidet damit nicht (post)strukturalistisches Denken, sondern er öffnet dem urbanen Diskurs die Tür dorthin. Zum anderen macht es aus Sicht der kritischen Stadtforschung hellhörig, wenn Lefebvre formuliert, dass Städte sind, was sie bedeuten. Auch hier wird die bereits erwähnte (und meines Erachtens nachvollziehbare) Abneigung der urban studies gegen Essentialisierungen, Verdinglichungen und Hypos­ tasierungen aktiviert – eine Abneigung, die der Auseinandersetzung mit der problematischen Historie des eigenen Wissensbereichs und der dort konstituierenden Natur- und Raumdeterminismen entspringt. Dass nun aber selbst Lefebvre sagt, Städte seien, was sie bedeuten, zwingt dazu, sich mit der Problematik auch auf diesem Grunde der urbanen kritischen Theorie auseinanderzusetzen. Meines Erachtens zeigt es sich dabei, dass die Frage des Essentialismus differenziert betrachtet werden muss. Ja, Lefebvre essentialisiert Stadt, aber das ist bei ihm deshalb aushaltbar, weil er vorher ausführlich eine theoretische Position entwickelt und bezogen hat, als dessen Fundament (wie im vorigen Kapitel herausgearbeitet) das Bewusstsein von Kontingenz aller sozialen und historischen Faktoren entfaltet ist. Erst und nur ein solches ­Bewusstsein ermöglicht es, über das Sein von Dingen (und von Stadt) nachzudenken, ohne sogleich in das Fahrwasser vulgärmaterialistischer Reduktionismen zu geraten. Dass dieses Nachdenken selbst unvermeidbar ist, liegt daran, dass die Welt aus Seiendem besteht und jedes Nachdenken (egal über was) bewusst oder unbewusst auf ontologischen Annahmen (welcher Art auch immer) aufbaut. Das Bewusstsein von Kontingenz entpuppt sich als die eigentliche Demarkationslinie zwischen fundamentalistischem Determinismus und Sozialtheorie. 110

Von dieser Unterscheidung und auch von Theoriemodellen, in denen kontingenzbewusst essentialisiert wird, ist weiter unten noch ausführlich die Rede. Schauen wir jedoch zunächst, wie Lefebvre seinen Stadtbegriff und seine Stadttheorie weiter entfaltet. Lefebvre bietet seine allererste Ausführung zum „Wesen der Stadt“ in einem Kapitel seiner Kritik des Alltagslebens an, das er mit dem Titel „Mögliches“ überschrieben hat. Er führt aus, dass die Städte „uns die Geschichte der immer größer werdenden menschlichen Macht und der menschlichen Möglichkeiten“ zeigen, die aber „gleichzeitig mehr und mehr von den Beherrschern usurpiert worden sind, bis zur totalen Herrschaft, die ganz über das Leben und die Gemeinschaft gesetzt wurde, der bürger­ lichen Herrschaft“ (1974a, 235). Die Stadt ist also gleichzeitig Ort der Möglichkeit und Ort der Macht. Auch diese These scheint auf den ersten Blick eher konventionell zu sein. Dass sie das nicht ist, zeigt sich erst bei der Weiterentwicklung des Arguments. Der erste Punkt von Lefebvre knüpft an die Ausführungen von Marx und ­Engels an, die (wie wir gesehen haben) die Stadt nicht zuletzt als Ort des Klassenkampfes definieren. Lefebvre schreibt, dass die „Städte, wenn man sie nicht auf ihren künstlichen, pittoresken Charakter hin analysiert“, zeigen würden, wie sich in den „Fabriken und Arbeiterquartieren“ Gemeinschaft wiederherstellt (1974a, 235). In den Arbeiterquartieren, so lautet die These von Lefebvre, herrsche „ein anderer Stil des täglichen Lebens“. Es gäbe hier „andere Bedürfnisse [und] neue Sorgen“ und beide würden „in Konflikt mit den Bedingungen des täglichen Lebens“ treten, „die durch die kapitalistische Struktur der Gesellschaft und des Lebens aufgezwungen werden“ (1974a, 235). Die Stadt als Ort des Konflikts und der Solidarität, das sind die beiden großen Themen, die Lefebvre in seiner Kritik des Alltagslebens einführt und mit denen er konkretisiert, was er unter Macht und Möglichkeit versteht. Diese erste Themensetzung von Lefebvre bildet sich in dem ab, was später zu den hauptsächlichen Themen der kritischen Stadtforschung geworden ist: Die Konflikte, die sich in der Stadt manifestieren, stehen genauso auf deren Agenda wie die sozialen urbanen (und solidarischen) Bewegungen, die im Kontext solcher Konflikte agieren. Diese Seite ist also die direkte Traditionslinie der kritischen Stadtforschung von Marx, Engels und Lefebvre. 111

Der zweite Punkt zum Städtischen, den Lefebvre in seiner Kritik des Alltagslebens – weiterhin unter der Überschrift „Mögliches“ – setzt ist komplizierter, verworrener und dunkler. Lefebvre fragt wieder (oder immer noch) nach dem Sein von Stadt. Lefebvre schreibt, dass sich, neben der Untersuchung von Konflikt und Solidarität im Alltagsleben der modernen Stadt, eine weitere, eine noch „dringendere Frage“ stelle, und zwar die „nach dem Stadtleben, dem Volksleben, dem Leben der Industriestädte“. Lefebvre schreibt: „Wo, wie, in welchen Erfahrungen enthüllt es sein Wesen?“ (1974a, 241) Seine Ausführung zu diesem Wesen der modernen Stadt beginnt Lefebvre – ohne Überleitung und in dieser Unvermitteltheit umso eindrücklicher – mit einer längeren Reflexion über Auschwitz. Lefebvre fragt auch hier nach dem Sein: „Was ist das Lager von Auschwitz?“ (1974a, 242) Was waren die Lager, wiederholt er, waren es reine Vernichtungslager? Aber wäre es nicht viel einfacher gewesen, die Häftlinge zu erschießen? Waren es Arbeitslager? Aber war nicht der ökonomische Ertrag der Lager verschwindend gering? Lefebvre gibt keine schnelle Antwort auf seine Fragen, sondern er zitiert zunächst ausführlich aus verschiedenen Berichten von Überlebenden der Konzentrationslager, etwa aus Vingt Mois à Auschwitz von Pelagia Lewinska. Seine These lautet, dass sich die wahre Bedeutung der Konzentrationslager bisher noch nicht offenbart habe. Die „brutalen, objektiven Fakten“, so Lefebvre, seien „nicht identisch mit ihrer ganzen Bedeutung“, sie könnten nicht die ganze Systematisierung des Absurden zeigen und die Technik entschlüsseln, „den Menschen in den Wahnsinn zu treiben“ (1974a, 244). Lefebvre zieht ­David Rousset zurate, Überlebender des KZ Buchenwald, der in L’Univers concentrationnaire schreibt: „… Das ist ein Universum im kleinen. Dieses intensive Leben der Lager hat Gesetze und Existenzgründe. Dieses Volk von Konzentrationslagerbewohnern kennt die Beweggründe, die ihm eigen sind und die wenig gemein haben mit der Existenz eines Menschen aus Paris oder Toulouse, aus New York oder Tiflis. Aber daß dieses Konzentrationslageruniversum existiert, ist nicht ohne Wichtigkeit für die Welt der einfachen Leute.“ (1946; zitiert/ übersetzt in Lefebvre 1974a, 244) 112

Lefebvre übernimmt diese These und erweitert sie. In der Verbindung des ­Absurden und der Vernunft, die sich in den Lagern manifestiere, glaubt Lefebvre den Ansatz für eine Erklärung in der Hand zu haben. Lefebvre fragt suggestiv, ob diese kafkaesken Eindrücke, die „im ‚Konzentrationslageruniversum‘ bis zum Höhepunkt getrieben sind“, uns denn unbekannt seien, „uns Menschen aus Paris oder Toulouse, New York oder Tiflis?“ Ob sie nicht vielmehr „gerade auch im gleichbleibendsten Grund anzutreffen [sind], in der Erniedrigung des Alltagslebens?“ (1974a, 245). Die Beschreibung von Lefebvre und seine Fragen, die fragmentarisch aneinandergereiht sind (auch das trägt dazu bei, den beklemmenden Inhalt in seiner Wirkung zu stärken), gipfeln in der Aussage: „Und hier Auschwitz, kapitalistische Stadt:“ (1974a, 247). Gefolgt wird dieser Ausspruch (der Doppelpunkt verstärkt die Verbindung) von einer weiteren Beschreibung von Pelagia Lewinska: „Wenn die materiellen Bedingungen des Lagers sich verbesserten, so waren es höhere Schichten, die davon profitieren: jene, die alle Reichtümer besaßen – die abgezogene Haut der Sklaven.“ (1945; zitiert/übersetzt in Lefebvre 1974a, 247) Das kapitalistische Prinzip, so lässt sich Lefebvres Darstellung vielleicht interpretieren, setzt sich auch in der absurden/vernünftigen Barbarei des Lagers durch. Dass die Konzentrationslager „andere Bedeutungen gehabt hätten, daß sie den hitlerischen Sadismus befriedigt hätten, daß sie Millionen [gemeint ist: ökonomischer Ertrag, Gewinn] von möglichen Geiseln angesammelt hätten, usw. – das ist möglich. Aber die dominierende, wesentliche Bedeutung scheint doch die zu sein: der Faschismus repräsentiert den Grenzfall des Kapitalismus – und das Konzentrationslager die extreme und auf die Spitze getriebene Form, den Grenzfall der modernen Stadt, der Industriestadt.“ (1974a, 247) Das Wesen der Stadt, so Lefebvre, offenbart sich in ihrem Grenzfall. Und dieser Grenzfall ist das Konzentrationslager. Was folgt, an dieser Stelle ganz am Ende des ersten Bandes zur Kritik des Alltagslebens, ist nicht viel. Es gibt keine ausgearbeitete Begründung und auch 113

keine saubere analytische Ausführung der Beziehung der Stadt zum Konzentrationslager. Was Lefebvre ergänzt, ist zum einen, dass es viele „Zwischenstufen zwischen unseren Städten und dem Konzentrationslager“ geben könne. Als Beispiele dafür nennt er die Bergarbeitersiedlung, die Baracken der provisorischen Wohnanlagen für Arbeiter und die Dörfer der Kolonialarbeiter. Und dann wieder, unvermittelt und fast trotzig: „Doch die Beziehung existiert!“ (1974a, 247) Etwas mehr Einblick gewährt dann ein Absatz, in dem Lefebvre schreibt, dass es „in der dunkelsten Erfahrung des Tragischen, im offenen Außerordentlichen, im Höhepunkt des Absurden, im dramatischsten Konflikt zwischen dem Menschen und einer noch unmenschlichen Vernunft“ wohl geschehe, dass sich „das Wesen selbst unseres täglichen Lebens enthüllt, des banalsten Alltagslebens“ (1974a, 248). Und dann, wieder im Modus des Suggestiven: „Werden sie das verstehen, jene, die sich noch richtig umgesehen haben? Können sie jetzt die Städte und das ‚moderne‘ Leben verstehen, im grausamen Licht der Konzentrationslager? – und werden sie jetzt begreifen, in welche grauenhaften Wirklichkeiten sich die Möglichkeiten des Menschen und der Vernunft verwandeln können?“ (1974a, 248) Lefebvre setzt damit einen verstörenden Schluss an den ersten Teil seiner Kritik des Alltagslebens, der gleichzeitig ein erstaunlicher Beginn seiner Zuwendung zur Stadt ist. Denn genau darum handelt es sich hier: um den Beginn einer andauernden Reflexion über die Stadt, die Lefebvre sein weiteres Leben lang beschäftigt hat. Die Zuwendung zur Stadt, die Lefebvre ab Ende der 1960er-Jahre ganz offensiv verfolgt, und die vielleicht auch als der Ursprung einer expliziten kritischen Stadtforschung interpretiert werden kann, hat damit mindestens drei verschiedene Herkünfte. Eine davon – das Lieblingsnarrativ der Lefebvre-Industrie – ist das tête-à-tête mit den Situationisten und Guy Debord; eine zweite, die stabilste und substanziellste, ist der Marxismus, von dem Lefebvre kommt und dem er Zeit seines Lebens treu ­geblieben ist (dadurch treu geblieben, indem er ihn verändern wollte); die dritte Herkunft ist das Vorgängerprojekt zur Theorie der Stadt, also die Kritik des Alltagslebens, und darin das Zusammenbringen von Auschwitz mit 114

der  modernen Stadt. Die erste ausführliche Thematisierung der Stadt in ­Lefebvres Langzeit-Projekt zur Kritik des Alltagslebens mündet jedenfalls in der These von der Offenbarung des Wesens der Stadt im Grenzfall Konzentra­ tionslager und wird somit zu einem Anfangspunkt der Auseinandersetzung mit dem Städtischen. Dieser Befund wird in seiner Bedeutung nicht dadurch geschmälert, dass Lefebvre seine These mehr andeutet, als dass er sie ausführt: Lefebvres an den Anfang gestellte Reflexion zum Wesen der Stadt schafft keinen festen Grund, von dem aus eine Theorie der Stadt sich entfalten kann, sondern ist ein instabiles, unfertiges und rutschiges Fundament. Es gibt keinen feierlichen Startschuss für das Projekt „kritische Stadtforschung“, keine Pauken und Trompeten, sondern einen unsteten, unsicheren und unwohlen Moment. Lefebvres kritische Theorie der Stadt beginnt mit und in diesem Moment.



Fünfzig Jahre nach Lefebvre beschäftigt sich Giorgio Agamben – ein weiterer postfundamentalistischer Denker – in seinen Texten zum Homo sacer ausführlich mit der Bedeutung der Konzentrationslager. Hier lässt es sich weiterverfolgen und vertiefen, welcher Zusammenhang zwischen Auschwitz und der Stadt der Moderne bestehen könnte. Bei Agamben steht zwar nicht die Stadt, aber sehr wohl die Moderne im Fokus. Wortgleich mit Lefebvre lautet Agambens Fragestellung: „Was ist ein Lager?“ (2002, 175) Agamben betrachtet die gleichen Quellen (etwa David Rousset) und dieselben Narrative (insbesondere Kafkas Türhüterparabel Vor dem Gesetz), und er hat eine ähnliche These: Für ihn ist das Lager „das nómos der Moderne“ (2002, 175) und das „Paradigma des politischen Raums“ (2002, 180). Agamben spricht gegen das Verdikt des Unsagbaren, dagegen, Auschwitz als nicht-erklärbar zu klassifizieren und beiseitezulegen. Warum, so fragt Agamben, sollte „die Vernichtung mit dem Ansehen der Mystik“ geschmückt werden (2003a 28)? Agamben postuliert, dass es versäumt worden wäre, die „spezifische juridisch-politische Struktur“ des Lagers zu betrachten; es sei notwendig, das Lager nicht als eine

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„historische Tatsache und als eine Anomalie anzusehen, die (wenngleich unter Umständen immer noch anzutreffen) der Vergangenheit angehört, sondern in gewisser Weise als verborgene Matrix, als nómos des politischen Raums, in dem wir auch heute noch leben“ (2002, 175). Agambens hauptsächlicher Zugang zum Wesen des Lagers ist das Konzept des Ausnahmezustands. Der Ausnahmezustand – so erklärt Agamben – ist der eigentliche Modus der Moderne, der „als fundamentale politische Struktur in unserer Zeit immer mehr in den Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu werden droht“ (2002, 30).11 Ausnahmezustand ist ein juristischer Begriff, und er bedeutet, dass von einem Staat beziehungsweise vom Souverän die Verfassung oder Teile von ihr außer Kraft gesetzt werden. Die berühmte Definition in Carl Schmitts Politischer Theologie ([1922] 1934) lautet: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Besonders in der Weimarer Republik war es zu einer gängigen Praxis geworden, den Ausnahmezustand auszurufen – sei es gegen äußere oder innere Bedrohungen des Staates (erklärte Kriege, Verschwörungen, Revolten) oder als Schutz vor Währungskrisen. Berühmtestes Beispiel für einen dauerhaften Ausnahmezustand ist der deutsche NS-Staat, der – mit dem Ermächtigungsgesetz – von 1933 bis zu seinem Ende ohne Unterbrechung im Status des Ausnahmezustandes gewesen ist. Aber auch heute ist der Ausnahmezustand keine Ausnahme, wie etwa die Situation in Frankreich zeigt. Agamben berichtet, dass bei den bestehenden Verfassungen zwei Umgangsweisen mit dem Ausnahmezustand zu unterscheiden sind: der geregelte und der ungeregelte Ausnahmezustand. Agamben untersucht vor allem die erste Variante, also den Fall des in der Verfassung geregelten Ausnahmezustands. Dieser Fall ist ein Paradox: „Das, was ins Innere des Rechts hereingenommen werden soll, erweist sich dem Recht als wesensmäßig äußerlich.“ (Agamben 2003b, 43; vgl. auch 2015, 264) Der zentrale Punkt, an dem sich Agamben abarbeitet, ist genau diese logische Struktur. Der Ausnahmezustand, so formuliert Agamben, steht „weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent“ (2003b, 33). Und allgemeiner formuliert er: Der Ausnahmezustand repräsentiert „das Einschließen und die Beschlagnahme eines Raums, 116

der weder außerhalb noch innerhalb ist“ (2003b, 45). Bereits hier zeigt sich die Konstruktionsähnlichkeit zur Sozialphilosophie von Lefebvre. Der Ausnahmezustand ist ein Begriff – ganz wie Lefebvres Materie –, der ­außerhalb der gängigen Unterscheidung in ein Innen und ein Außen steht, oder vielleicht besser, ein Begriff, der die Grenzen dieser Unterscheidung aufdeckt. Der Ausnahmezustand setzt das außer Kraft, was ihn selbst formiert – das haben wir schon festgestellt. Die „Suspendierung der Norm“ – darum handelt es sich, wenn der Ausnahmezustand ausgerufen wird – bedeutet in Agambens Lesart allerdings „nicht ihre Abschaffung, und die Zone der Anomie, die sie einrichtet, ist keinesfalls ohne Bezug zur Rechtsordnung“ (2003b, 33). Dieser Bezug tritt nicht nur dann auf, wenn der Ausnahmezustand in Kraft gesetzt wird. Bereits die Möglichkeit hat Wirkung. Mit der Möglichkeit des Ausnahme­ zustandes wird etwas Äußeres nach innen gebracht. Dieser Import wiederum lässt das Innere nicht unberührt. Der verfassungsmäßig geregelte Ausnahme­ zustand ist die „Hereinnahme eines Außen ins Recht“ (2003b, 43) und infiziert dieses Recht. Die Möglichkeit, sich selbst außer Kraft zu setzen, ist nämlich nicht zuletzt auch eine Eigen-Verunsicherung. Das hereingeholte Außen verändert das Innen und formatiert es neu. Diese Veränderung ist genauer zu betrachten: „Der einfache topographische Gegensatz (innen/außen), […] scheint unzureichend [zu sein].“ (2003b, 32) Dieses Unzureichende ist allerdings genau das, was aufgesucht werden muss, um den Ausnahmezustand zu verstehen. Agamben schreibt: „Das Problem des Ausnahmezustands zu begreifen, setzt eine korrekte Bestimmung seiner Lokalisierung (oder Nichtlokalisierung) voraus.“ (2003b, 33) Der Ausnahmezustand ist eine Rechtsnorm, die sich konstitutiv außerhalb von jenem ver­ ortet, dem sie entspringt. „Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: Das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustands.“ (2003b, 45) Weder außen noch innen befindet sich der Ausnahmezustand. Aber wo ist er dann? Agambens Antwort lautet: „In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr im­­ manent.“ (2003b, 33) Der Ort des Ausnahmezustands muss sich woanders ­b­e­fi nden. Agamben beschreibt ihn als eine „Schwelle oder eine Zone der Unbestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, sondern 117

sich un-bestimmen“ (2003b, 33). Der Ausnahmezustand befindet sich in einer Lücke, und zwar in einer Lücke, „die nicht im Inneren des Gesetzes“ ist, sondern die das „Verhältnis zur Wirklichkeit, die Möglichkeit seiner An­ wendung selbst“ betrifft (2003b, 41). Es ist bezeichnend, wie Agamben diesen merkwürdigen Ort der Lücke beschreibt. Der Ausnahmezustand ist das, so resümiert er, was der „Schrein der Macht in seinem Zentrum enthält“ (2003b, 102). Der Ort des Ausnahmezustands ist „wesentlich ein leerer Raum, in dem sich menschliches Handeln ohne Bezug zum Recht mit einer Norm ohne ­Bezug zum Leben konfrontiert sieht“ (2003b, 102). Damit findet sich bei Agamben schließlich – ganz im Zentrum seiner Theorie – ebenfalls ein unbesetzter Ort. Der Ausnahmezustand, um wieder auf den Ausgangspunkt meines Rückgriffs auf Agamben zurückzukommen, wird im Lager materialisiert, das ist die These. Agamben verräumlicht den Ausnahmezustand, indem er im Lager ein weiteres Mal dessen theoretische Figur expliziert. Das Lager gehorcht der gleichen Logik wie der Ausnahmezustand, es ist der Ausnahmezustand. Auch das Lager (etwa das von Guantanamo, das darüber hinaus auch noch exterritorial ist) befindet sich in einem ganz speziellen Verhältnis, zum Normalfall und zur Rechtsordnung. Das Lager besetzt ebenfalls eine eigene Zone, die weder ganz dem Außen noch dem Innen zugehörig ist. In der Innensicht des Lagers ist es ein Bereich, der außerhalb (des Alltaglebens, der Regeln und Konventionen, der Stadt) ist, in dem die Regeln außer Kraft gesetzt sind. Auch das Lager wirkt aber nicht nur lokal, sondern darüber hinaus, es ist eine „entortende Verortung“ (2002, 185). Es infiziert durch sein Dasein den Innenraum, den Innenraum der Gesellschaft und der Politik. Diese Wirkung, das ist die These von Agamben, ist nicht nur partiell von Bedeutung, sondern allgemein entscheidend. Das Lager ist die „verborgene Matrix der Politik“ (2002, 185) und kon­ stituiert letztlich die Verfasstheit der Gesellschaft, die Verfasstheit unserer Gesellschaft, die Verfasstheit der Moderne. Die Vernichtungs­lager der Nazis sind aus Agambens topologischer Sicht nur der Fall der größten Reinheit dieser Struktur, sie sind das, was dabei herauskam, als versucht ­worden ist, dem „Unlokalisierbaren eine dauerhafte sichtbare Lokalisierung zu verleihen“ (2002, 30). Für Agamben ist Auschwitz „die zerstörerische Erfahrung, in der das 118

Unmögliche gezwungen wird, ins Wirkliche überzugehen“ und zugleich „die Existenz des Unmöglichen, die radikalste Negation der Kontingenz – und deswegen die absoluteste Notwendigkeit“ (2003a, 129). Agamben bestätigt damit schließlich die These von Lefebvre und nennt die „Geburt des Lagers in unserer Zeit“ als das Ereignis, das „den politischen Raum der Moderne als solchen in entscheidender Weise prägt“ (2002, 184).12 Zwischen Lefebvres frühem Zugang zum Wesen der Stadt und Agambens Bestimmung des Lagers zum Paradigma des politischen Raums der Moderne bestehen also tatsächlich etliche und wie ich finde auch erstaunliche Übereinstimmungen: die zentral gestellte Frage nach dem „Wesen des Lagers“; das Insistieren darauf, die so’ah und Auschwitz als Objekte der Analyse zu verwenden, und damit das Hervorholen dieser Objekte aus ihrer Verbannung ins Reich des Unsagbaren; die Fokussierung auf die Verräumlichung, die sich im Lager manifestiert; die Subsumierung des historischen Geschehens des ­Lagers unter den Begriff des Möglichen; und schließlich die Frage nach dem ­Wesen selbst (der Macht, des Rechts, des Staats, der Stadt) und ihre Verortung im Grenz- und Ausnahmefall, das Denken des Ausnahmefalls als Normalität. Agamben fokussiert in seiner Analyse stark auf die Struktur eines entorteten Ortes, der weder ganz dem Außen noch ganz dem Innen zuzuordnen ist, und es ist bemerkenswert, dass dieser Gedanke dem Aufbau der Lefebvre’schen Sozialtheorie so nahe ist. Agamben, so könnte es vielleicht formuliert werden, konkretisiert nicht nur Lefebvres Andeutungen zum Lager als Paradigma der modernen Stadt (die in den umfangreichen Lefebvrerezeption der urban studies bisher kaum bemerkt worden sind) zu einer ausführlichen Reflexion über die condition humaine, sondern er macht das auch in einer Art und Weise, die der Theorie von Lefebvre bis ins Detail entspricht. Er hat – ausgehend von den gleichen Fragen, eingebettet in die gleiche Art zu denken – einen provozierenden und viel beachteten Versuch unternommen, eine topologische Erklärung der Moderne durch den Grenzfall des Ausnahmezustands und des Lagers (die, wie wir gesehen haben, für Agamben gar keine Grenzfälle sind) zu entwickeln. Dass der Stadt bei Agamben dabei keine explizite Rolle zukommt, ist an dieser Stelle zweitrangig. Zum einen ist die Stadt nämlich implizit in der Analyse durchaus präsent – wenn der Ausnahmezustand die Rechtsordnung 119

durchsetzt/repräsentiert/formatiert, dann liegt es nicht fern, eine ähnliche Beziehung zwischen dem Lager und der Stadt zu vermuten. Zum anderen ist es hier ja nicht das Ziel, Agamben eine Stadttheorie unterzuschieben. Vielmehr geht es bei meiner Lektüre von Agamben darum, die ­postfundamentalistischen Essenzen von Lefebvres Stadttheorie zum Vorschein zu bringen.

• Zurück zu Lefebvre. In dem Essay „Notizen zur Neuen Stadt“ aus dem Jahre 1960, das Lefebvre in seiner Einführung in die Modernität [1962] (1978) veröffentlicht, findet sich ein gutes Jahrzehnt später eine ganz andere Form von Stadtzuwendung. Der zu dieser Zeit – nach dem Austritt aus der Partei, inmitten der Liaison mit den Situationisten – äußerst produktive Lefebvre schreibt hier in seinem „Dingroman“ erneut von dem „Text, den die Stadt uns darbietet“ (1978, 144). Lefebvre begibt sich in diesem kleinen Text auf eine eigene und etwas sentimentale dérive, die ihn auf einen Hügel in den Pyrenäen führt, von dem er über das alte Städtchen seiner Kindheit (Navarrenx) auf der einen und über die in seinem Blickfeld liegende „Neue Stadt“ (Mourenx) auf der anderen Seite blickt. Die Sympathien sind dabei eindeutig verteilt. Navarrenx beschreibt Lefebvre als „Bild einer Muschel“, als ein „lebendiges Wesen, das allmählich seine Struktur ablagert“ (1978, 140). Hier findet er „Anmut“ und „Liebreiz“, und er berichtet, jeder Teil der Stadt und jedes Haus sei „ein Werk für sich, in dem sich alles vermischt und vereinigt: Ziele, Funktionen, Formen, Vergnügungen, Tätigkeiten“ (1978, 141). Keines dieser Teile sei „von den anderen abgetrennt“, und man müsse, so schwelgt Lefebvre weiter, es „einmal gehört haben: das Singen der Handwerker, vermischt mit dem Hämmern, dem Quietschen der Hobel, dem Geplärr der Kinder und dem Schelten der Mütter“ (1978, 142). Lefebvre denkt an die „mittelalterlichen Städte, die erfüllt waren von Tätigkeiten und naturwüchsigem Leben“, in denen nichts „separiert [war]“, „alles öffnete sich allem“ (1978, 147). Ganz entrückt lässt Lefebvre den „Charme der Sonntage in der Familie“ noch einmal auferstehen, und er genießt die „glückselige Wärme“, die er dabei fühlt (1978, 142). Dann folgt der Kontrast: „Ich komme in Mourenx an – und erschrecke.“ Lefebvre scheibt, dass ihn „jedes Mal aufs Neue Entsetzen [packe] angesichts 120

dieser ‚Wohnmaschinen‘“ (1978, 143), die in der „City ohne Vergangenheit“ (1978, 140) angehäuft sind. Zwar mache „der Staatskapitalismus bei uns […] seine Sache gar nicht schlecht“ (1978, 142) – die Kritik am modernen Städtebau fällt hier noch recht moderat aus –, dennoch sei das Ergebnis „ärmlich, trotz der Bemühungen der Architekten, die Linien abwechslungsreich zu ­gestalten“ (1978, 144). Lefebvre diagnostiziert: In dem „auf seine Funktion ­reduzierte[n] Objekt“ (1978, 143) gäbe es keine Überraschung mehr, das Mögliche – die komplett andere Konnotation des Möglichen im Vergleich zu den Ausführungen im ersten Band der Kritik des Alltagslebens ist bemerkenswert – sei verschwunden „aus diesem Ort, der doch der Ort der Möglichkeiten sein sollte“ (1978, 144). Die neue Stadt ist für Lefebvre eine „tote Struktur, die […] unfähig ist, Lebendiges entstehen zu lassen“ (1978, 144). Was, so lautet Lefebvre kulturkritische Analyse, „seit den Dörfern des Neolithikums, in den Stätten des spontanen gesellschaftlichen Verkehrs vermischt war, wurde einzeln und getrennt in Raum und Zeit verwiesen“ (1978, 145). Gleichzeitig versinke „alles in Langweile“ (1978, 146).13 Lefebvre beklagt, dass sich alles trennt und totalisiert, wobei er an dieser Stelle seine postmarxistische Entfremdungsthese bemüht. „Alles verdinglicht sich und bricht zugleich in sich zusammen: Es triumphiert der Zufall.“ (1978, 146) Um diese Analyse zu unter­ streichen zitiert Lefebvre – auf seinem Hügel sitzend – dann auch Marx: „Sie [die große Industrie] vernichtete überhaupt die Naturwüchsigkeit, soweit dies innerhalb der Arbeit möglich ist, und löste alle naturwüchsigen Verhältnisse in Geldverhältnisse auf. Sie schuf an der Stelle der naturwüchsigen Städte die modernen, großen Industriestädte, die über Nacht entstanden sind.“ (Marx/Engels 1846, 59; zitiert bei Lefebvre 1978, 147) Insgesamt, so beendet Lefebvre seine Reflexion, steht in Mourenx das Alltagsleben „vor dir, vollständig oder nahezu vollständig entfremdet und verdinglicht“ und stellt die Frage: „Was anfangen mit diesem Konglomerat aus Körpern und Gesten, in ab­ strakten Blocks zusammengeballt, dort hingepflanzt am Rand der Heide (die sich nicht verändert hat), fern von den Vorfahren?“ (1978, 150) 121

Die Geister von Marx und Debord verdichten sich in Lefebvres Essay zu ­einem, zumindest aus heutiger Sicht, erstaunlich nostalgischen und darin ­vehement konservativen Blick auf die Stadt. Dieser Blick, der – im Vergleich zu der Verortung des Wesens der Stadt im Konzentrationslager – eine komplett anders geartete Grundlegung von Lefebvres urban turn ist, blieb den Geschichtsschreibern und Stadtforschern allerdings weniger unerkannt, und die Szene auf dem Hügel vor der „Neuen Stadt“ wird in den urban studies immer wieder gerne zitiert (vgl. Merrifield 2006, 60). Im Rückgriff auf die Beobachtungen, die wir bei der Lektüre der Stadttexte von Marx und Engels gemacht haben, lässt sich bei Lefebvre leicht die Übernahme der kulturkritischen und traditionellen Tropen identifizieren, die der Klage über den Verlust der „naturwüchsigen Städte“ entstammen. Allerdings liegen über einhundert Jahre zwischen der Deutschen Ideologie und Lefeb­v res „Notizen zur ‚Neuen Stadt‘“, und in dieser Zeit hat die kapitalistische Stadt ihr Angesicht geändert. Anstelle der alten Mietskasernen und der dreckigen Arbeiterviertel, die zu Zeiten von Marx und Engels den Kapitalismus repräsentiert haben, hat sich nun der moderne Städtebau mit seinen ­f unktionalistischen Neuordnungen (zumindest diskursiv, teils aber auch bereits als gebaute Stadt) durchgesetzt. Dadurch kommt es zu einer Verschiebung, was das Klageobjekt betrifft. Die kleinteiligen und durchmischten Wohnviertel gehören nämlich plötzlich nicht mehr zum Bereich der entfremdeten und entfremdenden kapitalistischen Stadt, sondern rücken auf die andere Seite des Bildes, also auf die positiv bewertete Seite der historisierenden Analyse. Navarrenx wird der heimelige Prototyp einer Gegenbewegung zum modernen Städtebau und seinen Errungenschaften, der sich im 6em Arrondissement von Paris genauso spiegelt wie im East Village von New York. Diese Umdeutung und Neubeschreibung des Feindbildes ist vielleicht das bedeutendste Motiv der kritischen Stadtforschung, das sich nicht nur bei Lefebvre findet, sondern auch in der kritischen nicht-marxistischen urbanistischen Strömungen jener Zeit. Der gerne verwendete Vergleich zwischen Henri Lefebvre und Jane Jacobs ist an diesem Punkt stimmig:14 Beide rekurrieren Anfang der 1960er-Jahre auf ein nostalgisches Denken der bestehenden alten Stadt. Wobei sie – und das ist das Neue – die Arbeiterviertel der Jahrhundertwende neu etikettieren und nicht mehr, 122

wie Engels in den Grundsätzen des Kommunismus, den Abriss dieser Viertel fordern, sondern sich für deren Erhalt engagieren. Zu dieser Zeit war das eine neue und radikale Haltung (wenn auch schon damals nicht frei von konservativer Nostalgie) und stieß in der herrschenden Stadtpolitik und in der Stadtplanung auf erhebliche Widerstände. Die Städtebauer der Moderne waren zu diesem Zeitpunkt an den Schaltstellen der Macht angekommen und hatten begonnen, ihre Vorstellungen von der neuen funktionalen und wohlgeordneten Stadt im großen Maßstab durchzusetzen. Der kritische Urbanismus gründete sich in den 1960er-Jahren im Widerstand gegen dieses Projekt. ­Lefebvres Essay aus dem Jahre 1960 bildet hier gerade in seiner Konservativität einen Berührungspunkt zu den aufkommenden urbanen Protesten in den Städten der nördlichen Hemisphäre.



Der verklärte Blick auf die alte Stadt ist bei Lefebvre jedoch nicht von langer Dauer. Sein theoretischer Zugriff auf das Urbane radikalisiert sich bald wieder, eine Radikalisierung, die vermutlich mit den historischen Ereignissen zusammenhängt und vielleicht auch mit dem Ortswechsel zu tun hat, den Lefebvre in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre vollzieht. Im Jahre 1965 geht Lefebvre nämlich von Straßburg an die neu gegründete Universität Paris X in Nanterre. Sowohl in Straßburg als auch in Paris gärt es zu dieser Zeit unter den Studierenden, die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung und dem kulturellen Klima verschmilzt mit sozialkritischen und sozialtheoretischen Ideen, und diese Verschmelzung führt im Mai 1968 zu den bekannten Ereignissen. Lefebvre ist nicht nur räumlich präsent in dieser besonderen histo­r ischen Situation, sondern er verarbeitet diese Erfahrungen auch direkt in seinen weiterhin in beträchtlicher Schlagzahl erscheinenden Schriften. Mit L’irruption de Nanterre au sommet legt Lefebvre dann auch 1968 (noch im Jahr der Pariser Revolte) eine Analyse vor, in der er vor allem auf die metatheoretischen Ausführungen aus dem zweiten Band der Kritik des Alltags­lebens zurückgreift und diese mit einer Reflexion der Ereignisse vor seiner Haustür verbindet.15 Hier stellt Lefebvre das „Ereignis“ und die „Situation“ an den Anfang seiner Analyse. Die Verwendung des Begriffs Situation ist als eine Positionierung zum 123

vollzogenen Bruch mit der Situationistischen Internationale zu verstehen, bei dem unter anderem gegenseitige Plagiatsvorwürfe – insbesondere im Kontext von Lefebvres Buch über die Pariser Kommune (1965a) – das Thema gewesen sind. Mit dem erneuten Rekurs auf die Situation behauptet Lefebvre seine Stellung gegenüber den Situationisten und erhebt Anspruch auf das begriff­liche Erbe der gemeinsam verbrachten Zeit. Ganz im Vordergrund des Textes über den „Aufstand in Frankreich“ steht nun jedoch ein von Lefebvre neu verwendeter Begriff, nämlich das Ereignis. „Ereignisse widerlegen Voraussagen“ (1969b, 7), damit beginnt Lefebvre seinen Text. Und dieses Postulat ist natürlich ein weiterer wichtiger Hinweis für die Nähe von Lefebvre zum poststrukturalistischen/postfundamentalistischen Denken. Das Ereignis ist eine zentrale Kategorie in diesem Diskurs, da seine Existenz jedes fundamentalistische und abgeschlossene Denken infrage stellt. Das Ereignis bringt die Fundamente ins Wanken, weil es etwas Unvorher­ gesehenes ist, etwas, was nicht erwartet wurde, etwas, was nicht erwartet werde konnte. Es öffnet den geschlossenen Horizont und ermöglicht dem Denken, neue Richtungen einzuschlagen. Lefebvre lässt keinen Zweifel daran, dass das Ereignis auch für ihn in erster Linie eine Kontingenzkategorie ist. Das Ereignis, so Lefebvre, bewahrt vor Stagnation, es reaktiviert Bewegung und Veränderung, sowohl im Denken als auch in jeder Art von Praxis. Den Theoretiker scheucht das Ereignis aus seinem bequemen Sessel und stürzt ihn kopfüber in ein Meer aus Widersprüchen. Diejenigen, die auf Stabilität setzen, so formuliert Lefebvre, verlieren durch das Ereignis ihre gute Laune und ihr Vertrauen in die Ordnung der Dinge (1969b, 8). Menschen und Ideen werden im Lichte des Ereignisses gewahr, was sie sind. Mehr noch, das Ereignis vereint die partiellen und partikularen Analysen, die dem empirischen Zugang unerkannt bleiben müssen. Mit dieser Vereinigung ermöglicht es erst ein Denken von Totalität und die Totalität an sich. Das Ereignis, das ist Lefebvres These, lässt die Situation, die hinter den Bergen der Fakten, Statistiken und Evaluationen verborgen ist, zum Vorschein kommen, es wischt all den Ballast beiseite, der Erkenntnis bringen soll, aber Erkenntnis verhindert. Ereignisse durchkreuzen daher nicht nur jeden Objektivismus, sondern, so lautet Lefebvres Postulat, sie zerstören auch die Struk124

turen, die sie möglich gemacht haben. Das Ereignis wird zum Gegenbeweis und zum Gegenmittel zu jeder These von einem geschlossenen System. Für Lefebvre ist das Ereignis die Antithese zum Strukturalismus. Eine zweite bemerkenswerte Schwerpunktsetzung in L’irruption de Nanterre au sommet – Lefebvre legt Wert auf die Feststellung, dass in seinen Aus­f üh­ rungen ausschließlich Theorie zu finden und dass seine Analyse von ihrem Wesen her politisch sei – ist die Auseinandersetzung mit den Kon­zepten/Phänomenen „Spontanität“ und „Gewalt“. Lefebvre These ist es, dass die Spon­ tanität „von der Leere angezogen“ wird und diese Leere „überschwemmt“ und ausfüllt (1969a, 48). Damit macht Lefebvre ein Konzept für die politische Analyse des urbanen Aufstands fruchtbar, welches er einige Jahre zuvor in seiner sprachwissenschaftlichen Studie Sprache und Gesellschaft eingeführt hat (1973 [1966]). Die Leere nämlich, so erklärt Lefebvre mit Bezug auf ­Hegel, ist das Nichts, „das vom Denken konzipiert wird“ (1973, 89). Die Leere ist zum einen die „zu füllende Form“, die für sich nichts erklärt oder analysiert, zum anderen ein „substantielles Nichts, das handelt, Wesen des Werdens, Zerstörung und Schöpfung“ (1973, 89). Lefebvre arbeitet seinen Begriff von der Leere mit einer Reflexion über die „Leerstelle“ aus, also über das, was sich in einem Satz zwischen den Wörtern befindet. Die Leerstelle, so ­Lefebvre, „verweist auf eine Abstraktion, auf ein ‚Objekt‘, das verwirrt, da es zugleich abstrakt und unmittelbar mit den Sinnen wahrnehmbar, virtuell und gegenwärtig ist. Eine Leerstelle ist eine Leere. Ein ‚Nichts‘, das etwas ‚ist‘, in der Art der Null als der ersten Zahl, die der Folge (Menge) der Aufzählung inhärent ist.“ (1973, 127) Was schließlich in der Leerstelle geschieht, das ist das Entscheidende: „Der Sinn tritt auf. Nichts weniger und nichts mehr.“ (1973, 130) In seiner Analyse des Pariser Mai 1968 postuliert Lefebvre, dass die Spontanität in diese Leere hineingesogen und sich als contestation äußert.16 Die contestation ist für Lefebvre die „globale, absolute Ablehnung von erahnten oder erfahrenen Entfremdungen. Sie ist der Wille zur Uneinnehmbarkeit […] im Negativen […] geboren 125

[und] radikal ihrem Wesen nach: Anfechtung existiert radikal oder existiert nicht.“ (1969a, 62) Die spontane Konfrontation enthüllt damit die Bedeutung der Spontanität. Lefebvre interveniert hier in die alte marxistische Debatte über den Nutzen/die Notwendigkeit von spontaner Gewalt und notiert: „Ohne Spontanität gäbe es weder Ereignis noch Bewegung. Nichts wäre geschehen. Infolgedessen ist die Spontanität der Feind aller Macht“ (1969a, 65). Allerdings warnt Lefebvre auch vor einer „Romantik von der reinen Gewalt“ (1969a, 68).17 Gewalt und Spontanität sind aus dieser Sicht zwar nicht aus sich heraus abzulehnen, aber sie sind eben auch keine eigenen absoluten Werte. Und sie müssen immer kontextualisiert und in Beziehung gebracht werden zu den sozialen und politischen Verhältnissen. Lefebvre resümiert: „Es gibt keine absolute Spontanität. Das ‚Wilde‘ ist nur eine intellektuelle Fiktion. Zur Explosion der Spontanität gehören Bedingungen, die sie vorbereitet haben.“ (1969a, 64) Mit den Begriffen Ereignis, Leere, Spontanität, Gewalt und contestation erweitert Lefebvre sein theoretisches Instrumentarium um weitere Konzepte, die heute im Kern eines poststrukturalistischen Denkens stehen und die teilweise auch in meiner Studie noch an verschiedenen Stellen eine Rolle spielen werden. Mit solchen begrifflichen Werkzeugen ausgerüstet ist diese Zuwendung zum Urbanen etwas ganz anderes als der Aufenthalt auf dem Hügel vor Navarrenx. Dieses Mal steht er inmitten der noch brennenden Barrikaden der Stadt, und auch das zeitigt Wirkung.

2.3

Das Recht auf Stadt

Seinen eigentlichen urban turn hatte Lefebvre zu diesem Zeitpunkt bereits vollzogen, und zwar mit dem ebenfalls 1968 veröffentlichten (bereits 1967 geschriebenen) Text Le droit à la ville (1968), der im dritten Teil meiner Annäherung an die Theorie von Lefebvre in den Mittelpunkt rückt. Die Schrift zum „Recht auf Stadt“ gilt heute als der bekannteste Stadttext von Lefebvre und das – zumindest was den Titel betrifft – wohl auch zurecht. Als Slogan und Motto 126

für viele urbane Bewegungen18 hat sich die Rede vom Recht auf Stadt durchgesetzt und führt heute ein ziemlich bewegtes Eigenleben (vgl. Samara/He/ Chen 2013; Smith/McQuarrie 2012; Mayer 2009). In den englischsprachigen urban studies und in der radikalen Geografie, also dort, wo im wissenschaftlichen Diskurs die Schrift vom Recht auf die Stadt am häufigsten Erwähnung findet, wird der Text von Lefebvre allerdings nicht selten als „fragmentarisch“ und auch als ein wenig fragwürdig eingestuft. Beachtung findet Le droit à la ville vor allem als Sekundärmaterial zu Lefebvres Buch La production d’espace (1974), das – im Kontext der kritischen Stadtforschung – als Lefebvres Hauptwerk wahrgenommenen wird.19 Erstaunlich ist es jedenfalls, dass das „Recht auf Stadt“ – obwohl städtische Aktivisten in der ganzen Welt sich unzählige Male darauf bezogen haben und weiter darauf beziehen – erst kürzlich ins Deutsche übersetzt (2016) und auch in englischer Sprache recht spät (1996) zugänglich gemacht worden ist. Beides führt dazu, dass der Titel des Buches zwar in aller Munde, der Inhalt des Textes aber weit weniger bekannt ist. Meines Erachtens lohnt sich jedoch eine genauere Betrachtung dieses Inhalts unbedingt. Lefebvre liefert dort eine enorm vielschichtige Analyse des Urbanen, der Urbanisierung und des Urbanismus und das weit weniger unsystematisch, als häufig kolportiert. Lefebvres Le droit à la ville beginnt nicht mit Marx, sondern mit Nietzsche. An den Anfang seines Texts stellt Lefebvre zwei Zitate aus der Manuskriptsammlung mit dem Titel „Der Wille zu Macht“. Aus meiner Perspektive ist besonders das zweite von Lefebvre verwendete Nietzsche-Wort von Interesse. Im Original lautet es: „All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigentum und Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie.“ (1988 [1887], 41) In seinem Freiburger Seminar im Juli 1944 verkündet Martin Heidegger, dass diese meist überlesene Stelle „am großartigsten die Position Nietzsches im Hinblick auf das ausdrückt, was wir als ‚Sinngebung‘ beleuchteten“ (2004a, 298). Für Lefebvre, der sich intensiv sowohl mit Nietzsche als auch mit Heidegger beschäftigt hat, war vermutlich nicht nur eine solche Sinngebung, 127

sondern insbesondere das Motiv der „Zurückforderung“ entscheidend. Das „Recht auf Stadt“ ist genau so eine Geste, und Lefebvre markiert mit dem Zitat die Ebene, auf der sie angesiedelt ist. Es geht darum, das Bewusstsein einzufordern, dass die Dinge (Dinge wie die Stadt) menschengemacht sind. Es geht um die Rückverschiebung einer nur verliehenen (aber vorhandenen) Wirkungs- und Deutungsmacht. Die „erhabenen Dinge“ – denken wir an den ­Eindruck, den der junge Friedrich Engels schildert, als er London von der Themse kommend erblickt – sind Produkt des Menschen, und es ist notwendig, sich dessen wieder gewahr zu werden. Dieses Bekenntnis leitet in den Gründungstext der kritischen Stadtforschung ein, bereitet das Feld und setzt Prioritäten. Was ist Stadttheorie? Ein wiederkehrender Schwerpunkt in Lefebvres Stadtanalyse ist eine vehemente Kritik des Urbanismus (vgl. dazu auch Schmid 2010, 264). Lefebvre versteht unter Urbanismus die gesamte Institution der Stadtplanung, der Stadtpolitik und des Städtebaus: die kommunalen und ­zentralstaatlichen Bau- und Planungsverwaltungen, die stadtentwickelnden ­A rchitekten und Städtebauer, die Planungsgesetze und Verwaltungsvorschriften, die urbanistischen Techniker, Spezialisten und Intellektuellen, die Ideen und Annahmen, auf die der urbanistische Apparat aufgebaut ist. Der Städtebau ist für Lefebvre das „strategische Instrument des Staates und des Kapitalismus für die Nutzbarmachung der zerstückelten städtischen Wirklichkeit und für die Produktion des kontrollierten Raums“ (1974b, 17). Lefebvre privilegiert den Urbanismus als exponiertes Objekt einer Kritik, die sich mit dem Zustand der aktuellen kapitalistischen Bedingungen vertraut machen möchte. Lefebvre bezeichnet den Urbanismus als „eine wenig kohärente Ideologie aus einstigem Humanismus, aus Modernismus und technokratischen Ökonomismus“ (1996a, 125). Die Aufgabe des Urbanismus ist die permanente Transformation der Alltagswelt in die Formen des „Konkurrenz- oder Monopolkapitalismus“ (1996a, 125). Lefebvres Analyse lautet, dass bei diesen Versuchen stets die „urbane Praxis […] außer Acht gelassen“ wird (1996a, 125). Diese urbane Praxis ist für ihn das genaue Gegenstück zur „urbanistischen Praxis“. Während Erstere die Alltagspraxis der in den Städten lebenden Menschen umschreibt, ist Letztere die 128

Praxis der offiziellen Stadtplanung und die Basis deren staatstragender Ideologie. Deshalb kann „der Urbanismus sich weder als wissenschaftliche Theorie definieren, noch definiert er die urbane Rationalität. Er stellt sich vor sie oder verstümmelt sie“. Lefebvres These ist also, dass die urbanistische Praxis die urbane Praxis konstitutiv zerstört und ausblendet. Die Analyse des Urbanismus muss aus dieser Perspektive „über eine radikale ­K ritik des Urbanismus als ideologischem Überbau“ gehen (1996a, 125). Er kritisiert damit nicht eine spezielle stadtplanerische oder städtebauliche Ausrichtung, sondern – auf der Metaebene – den Urbanismus an sich. Lefebvres Überzeugung ist es, dass der Urbanismus selbst eine Ideologie ist, oder vielleicht besser, ein ideologisches Feld. Denn es ist nicht so sehr eine ausfor­mulierte Ideologie, die einem im Gewand des Urbanismus entgegenblickt, sondern eine – häufig wenig reflektierte – urbanistische Praxis, die sich pragmatisch und rationalistisch explizit in ihrer angeblichen und vermeintlichen Nicht-Ideologie konstituiert, aber gerade darin ihr eigentliches ideologisches Momentum hat. Die urbanistische Theorie ist eine Anti-Theorie, die sich ihr Ideologie-Sein nicht bewusst ist; und sie ist eine Anti-Praxis, eine urbanistische Praxis, die die ­urbane Praxis nicht erkennt. Die Demaskierung der Ideologie des Urbanismus ist in allen Stadttexten von Lefebvre ein wichtiges, ja ein hauptsächliches Element. Die Praxis des Urbanismus unterteilt Lefebvre in drei idealtypische Erscheinungsformen. Zum einen identifiziert er den Typus der Gut-Menschen-Planung (l’urbanisme des hommes de bonne volonté), der immer mit einem klassischen liberalen Humanismus verbunden ist, häufig auch mit einer Prise Nostalgie gewürzt (1968, 83). Den eigenen Nostalgismus hat Lefebvre zu d ­ ieser Zeit tatsächlich nahezu komplett abgelegt. Der sich als humanistisch betrach­ tende Urbanismus produziert, so führt Lefebvre nun aus, das Narrativ des „menschlichen Maßstabs“ – eine Geschichte, die bis heute viel erzählt wird – und möchte die Stadt „für die Menschen“ gestalten. Das Selbstverständnis dieser Urbanisten ist zur gleichen Zeit das eines Gesellschaftsdoktors (médecines de la société ) und das eines kreativen Wegbereiters von neuen sozialen Beziehungen (1968, 83).20 Als zweiten Typus nennt Lefebvre den Stadtplaner in der Verwaltung, der Teil des bürokratischen Systems ist und sich dabei als 129

Technologe, Modernisierer und Sozialingenieur definiert. In diesem Fall wird die Geschichte vom Primat der Technik erzählt. Lefebvre schreibt, dass eine so ausgerichtete Planung niemals auch nur einen Moment zögern würde, die nicht mehr zeitgemäßen Residuen des städtischen Alltags abzuräumen, um Platz zu schaffen für technische Infrastrukturen, Autos und Kommunikations­ netzwerke. Diese Version des Urbanismus ist nach Lefebvre bereits eng verbunden mit der globalen Vision einer technisierten Hochglanzökonomie und den glitzernden Schaltzentralen des Kapitalismus. Die Stadt als reines Netzwerk21 der Zirkulation und Kommunikation zu definieren, als Zentrum der Information und des decision-making, auch das ist für Lefebvre nichts als Ideologie, die dazu führt, die urbane Praxis aus den Augen zu verlieren und Stadt mit Leitungs- und Straßenplanungen und Kostenrechnungen verwechselt (1996a, 84). Der dritte von Lefebvre genannte Charakter im Urbanismus ist ein Äquivalent zum technologischen Idealtypen, dieses Mal jedoch mit dem Fokus auf die Reproduktion. Der Reproduktions-Urbanist ist engagiert im Geschäft des urbanen joy of living und er liest die Messe der Konsumenten­ gesellschaft, er gestaltet das durchorganisierte und vorgefertigte Glück für die Bewohnerinnen der Städte (1996a, 84). Als Beispiel für den letztgenannten Typus nennt Lefebvre den Schweizer Architekten Le Corbusier, den „Philosophen der Stadt“ (1996a, 98). Auf der einen Seite steht Le Corbusier für ausschweifende metaphysische Betrachtungen und kosmologische Annäherungen an den Städtebau und ähnliche Themen. Auf der anderen Seite ist er ein Meister darin, die bestehenden Städte samt ihrer Bewohner als veraltet, überflüssig und marode zu verdammen. Dem entgegen – hier knüpft Lefebvre an seine frühere Funktionalismuskritik an – setzt Le Corbusier auf die Planungsideologie einer zu errichtenden neu geordneten modernen Stadt, in der die komplexe urbane Gesellschaft auf einige vorhersehbaren Funktionen reduziert wird. Er ist der typische Repräsentant eines Urbanismus, in dem der oberste Stadtplaner sich selbst als „Mann der Synthese“ sieht und glaubt, menschliche Beziehungen dadurch erschaffen zu können, indem er sie definiert und indem er ihnen eine Umgebung baut (eigentlich definiert er sie, indem er die Umgebung baut). Le Corbusier ist, so Lefebvres These, der Prototyp eines Stadtarchitekten, der sich 130

selbst als Architekten der Welt versteht und zum God the Creator mutiert (1996a, 98). Le Corbusiers Philosophie der Stadt ist nichts anderes als die Ideologie des Urbanismus in ihrer Reinform. Die radikale Kritik einer solchen „Philosophie der Stadt“ respektive der „urbanistischen Ideologie“, so das Plädoyer von Lefebvre, ist „unverzichtbar“ und erfordert eine „extensive Forschung, rigorose Analysen und das geduldige Studium von Texten und Kontexten“ (1996a, 99). Im Kontext seiner Urbanismuskritik macht Lefebvre eine weitere interessante Bemerkung: „Planning as ideology formulates all the problems of so­ ciety into questions of space.“ (1996a, 99) Hier deutet sich nicht nur der eigene spatial turn an, der Mitte der 1970er-Jahre auf Lefebvres Stadtzuwendung folgen sollte, sondern hier ist auch – die großen Debatten seit den 1980er-Jahren vorwegnehmend – schon auf den Punkt gebracht, woran sich radikale Geografie und kritische Stadtforschung immer wieder abgearbeitet haben und bis heute abarbeiten. Das disziplininterne Dilemma besteht nämlich in der Privilegierung des Raums selbst – also in der Transformation gesellschaft­ licher Problematiken in „Raumfragen“ –, der, wie Lefebvre es klarstellt, für sich selbst bereits Teil der Ideologie mit dem Namen „Planung“ (der Planungsideologie) ist. Herausgearbeitet hat das in neuerer Zeit der Planungs­t heo­­­ retiker Michael Gunder, einer der wenigen Vertreter seines Fachs, die sich offen­siv auf poststrukturalistische Theorie einlassen. In seinem Aufsatz „Plan­n ing as the ideology of (neoliberal) space“ (2010) argumentiert Gunder – genau wie Lefebvre –, dass Planung immer ideologisch ist, dass dem Konzept „Planung“ stets eine Ideologie inhärent ist, auch wenn sie, was meist der Fall ist, nicht expliziert wird. Mit „Planung“ werden Ideen nach festen Abläufen strukturiert und aufbereitet. Gunder schlägt vor, zu untersuchen, wie diese Ideen ideologisiert werden, wie sie sich als sublime Ideale einer besseren ­Zukunft entfalten (2010, 298). Er plädiert für eine Wiederaufnahme von Ideo­ logiekritik auf dem Feld der Planungstheorie. Zudem verbindet Gunder die beiden Grundelemente der institutionellen Planung: Ideologie und Raum. Planung, das ist seine These, hat zur Aufgabe, räumliche Verhältnisse zu steuern – bestimmte Nutzungen in bestimmten Räumen zuzulassen oder auszuschließen. Daher ist Planung die Ideologie von der Definition und der Nutzung 131

des Raumes (2010, 308). Lefebvre sagt in Le droit à la ville im Grunde nichts anderes. Es sind allerdings nicht nur die Planer und Urbanisten, auf die Lefebvre mit seiner Kritik zielt. Der gesamte wissenschaftliche Apparat, der sich auf dem urbanistischen Feld herausgebildet hat (der dieses Feld bildet) – also die sozialwissenschaftliche, humangeografische oder auch sozialpsychologische empirische Forschung über Städte, die die empirischen Daten für den Urbanisten bereitstellen und ihm damit Legitimation für seine Pläne liefern soll – ist selbst Teil des ideologischen Überbaus. Direkt an die Empirismuskritik aus seinen frühen Schriften anknüpfend, fragt Lefebvre pointiert: „Are not the scholars, sociologists leading […] themselves the servants of State and Order, under the pretence of empiricism and rigour, of scientificity?“ (1996a, 161) Hervorzuheben in Lefebvres Urbanismuskritik ist schließlich die Problematisierung der biologisierenden Analysen, die das Feld in den 1960er-Jahren weiterhin dominieren. Auch hier ist eine Veränderung zu bemerken. Während auf dem Hügel bei Navarrenx Lefebvre noch ein ums andere Mal „das Organische“ der Stadt bemüht und die „gewachsene Stadt“ als „Muschel“ erzählt, gibt er sich nun selbst sensibilisiert für diesen im urbanistischen Kontext so sehr verbreiteten Denkstil.22 Auf dem urbanistischen Feld, so berichtet Lefebvre, ist es in den 1960er-Jahren weiterhin äußerst üblich, die u ­ rba­ne Form als „organisch“ zu beschreiben, als „kollektives Sein“ und als „so­zialen Organismus“. Die Geschichte der Urbanisierung wird als ein „evo­lutio­närer Prozess“ dargestellt und die Stadt selbst in ein biologistisches, evolutionistisches und kausalistisches Korsett gesteckt.23 Die Theoretiker des ­Urbanismus, darauf verweist Lefebvre, werden dabei – unbewusst und versehentlich – zu philosophierenden Apologeten, zu Gründern einer Philosophie der Stadt, die einerseits eine biologistische Ontologie einführt und bedient, die andererseits aber stets betont, dass sie mit so etwas (wie Ontologie) nichts zu tun habe. Die Ideologen des Urbanismus insistieren stets darauf, dass ihre Theorie einen rein technischen und naturwissenschaftlichen (oder auch rein soziologischen) Charakter hätten. Dieses Denken findet sich auch in den Annalen des modernen Städtebaus. Das historische Schlüsselkonzept der Institution Planung ist die Öffentliche 132

Gesundheitspflege, in der sich der biologistische Zugang zur Stadt in der Ideologie des Urbanismus verdichtet. Ergebnis dieser Konzeption ist es nicht zuletzt, dass der Urbanismus in seiner Analyse immer in „ungesunde“ und „gesunde Räume“ eingeteilt hat und dass – dem Selbstverständnis der Profession nach – die eigentliche Aufgabe des Planers darin besteht, zwischen den „kranken Räumen“ und jenen Bereichen zu unterscheiden, die mit „sozialer und mentaler Gesundheit“ assoziiert sind. Vom Planer als Sozialingenieur und als „Physiker des Raums“, so Lefebvre, wird genau das an erster Stelle erwartet: dass er dazu fähig ist, sich solche sozialen, normalen und normalisierenden Räume vorzustellen (1996a, 99). Lefebvre spricht von einer „medizinischen Ideologie“, in die sich der Urbanismus verwandelt. Die Urbanisten treten an, eine „sick society“ und einen „pathological space“ (2003 [1970], 157) zu heilen. Dabei wird der Raum schließlich selbst zu einem Subjekt, das leidet, wächst, auf das Acht gegeben werden muss und das eine moralische Gesundheit hat. Die Problematik der Biologisierung auf dem urbanistischen Feld verdient meines Erachtens einen zweiten Blick. Und dieser Blick führt zunächst noch einmal zu Heidegger und dessen Nietzscherezeption. Heidegger bearbeitet in seinem Freiburger Sommerseminar im Jahre 1939 explizit den Einwand des Biologismus, der gegen das Denken von Nietzsche in zeitgenössischen Kritiken laut geworden war. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das biologistische Denken in der nationalsozialistischen Ideologie nicht nur zu Hause, sondern dass es ein fundamentales und konstitutives Element dieser Ideologie gewesen ist. Heidegger beschäftigt sich – unmittelbar vor dem deutschen Überfall auf Polen – in seinem Seminar allerdings nicht mit den Mechanismen der ­nationalsozialistischen Propaganda, sondern mit den Biologisierungen bei Nietzsche. Heideggers Interpretation des „Willens zur Macht“ als den „einzigen Gedanken“ von Nietzsche ist im Kontext der na­t ionalsozialistisch gleichgeschalteten und arisierten Universität, in der sie stattfindet, natürlich äußerst problematisch. Die Ausführungen zum Wesen der Biologisierung, die Heidegger in diesem Zusammenhang macht, sind aus meiner Sicht dennoch von Interesse.

133

Heidegger versteht unter Biologismus „die Auslegung des Seienden im Ganzen als ‚Leben‘“ (1989, 321). Er verortet die biologistische Sprechweise direkt auf einem ontologischen Terrain und verknüpft damit die entsprechenden Inszenierungen mit der Frage nach dem Sein. Heidegger fragt, was eigentlich unter diesem Leben zu verstehen ist, ob die Feststellungen „über das Lebendige (Pflanze, Tier)“ gleichbedeutend sind mit der „Wesenskennzeichnung des ‚Lebens‘“ (1989, 321). Die Frage von Heidegger lautet, ob das Biologische (das reine Leben, wie Agamben später sagen wird) eine spezifische Art des Seins darstellt. Heidegger diskutiert den Biologismus mit Bezug auf Nietzsche und erklärt, dass dessen Denken sich „auf weiten Strecken im Gesichtsfeld der zeitgenössischen Biologie und ihrer Grundbegriffe“ befindet (1989, 321). Nietzsches Biologismus, in dem „Höhe und Flachheit […] sich stets zusammen­ finden“, verstärke die „unüberwindliche […] Zwiespältigkeit zwischen dem Drang zur höchsten ‚Lebendigkeit‘ und ‚Wirklichkeit‘ und dem völligen Einsturz aller Ausblicke in das Offene des Seins selbst“ (1989, 323). Die Bezeichnung Biologismus für die „biologische Phrasierung seines Grund­gedankens“ sei also durchaus zutreffend, allerdings wäre sie „die Folge einer metaphysischen Auslegung der Seiendheit als Wille zur Macht“ (1989, 321). Das ist für Heidegger der entscheidende Punkt: Der Biologismus von Nietzsche entspringt einem philosophischen Gedankengang, und genau das hebt ihn heraus. Nietzsche sei, so erklärt Heidegger, „vielfach dieser Umklammerung seines metaphysischen Gedankens durch die Vorstellung vom ‚Leben‘ nicht entgangen und konnte ihr auch nicht entgehen“, weil er die Vermenschlichung zum „ausdrücklich übernommenen und ins Äußerste entfalteten (‚Leib‘-gedanke) Gesichtskreis des Weltentwurfs machte“ (1989, 322). Bleibe man aber bei der „Feststellung des Biologismus“ stehen und fasse „sie gar noch als einen Einwand“, dann würde man nicht Nietzsche treffen – falls solches „Treffen“ überhaupt einen Sinn habe; man schließe sich „lediglich selbst aus von dem Wissen, das Nietzsche zum Austrag brachte, ohne ihm doch die gehörige Durchleuchtung und geschichtliche Weihe eigens zu verleihen“ (1989, 321). Deshalb könne und müsse der Biologismus bei Nietzsche festgestellt werden – eine solche Feststellung ermögliche erst, die „innere Grenze dieses metaphysischen Denkens von außen her anzudeuten“ (1989, 321). Das 134

gelänge „aber nur dann, wenn zuvor der Wille zur Macht metaphysisch gedacht“ worden ist (1989, 321). Biologismus bleibe daher eine Kennzeichnung, die „stets ein Richtiges, Nachweisbares trifft und die doch nie ausreicht, um die Verstrickung dieser metaphysischen Endstellung durch und durch sichtbar zu machen“ (1989, 322). Gerade weil Nietzsches Denken in diesem metaphysischen Grundgedanken verwurzelt sei (und zwar so, dass er „die Verwurzelung nicht völlig beherrscht“), erreiche die „Neigung zur biologistischen Ausdeutung und Darstellung seines Denkens bei ihm selbst eine unversieg­ liche Triebkraft“ (1989, 323). Heidegger versucht also zu zeigen, was Biologismus eigentlich ist, und er entfaltet dieses Verständnis aus der ontologischen Dimension des biologistischen Denkens. Heideggers Analyse der bewussten/unbewussten Biologisierungen bei Nietzsche überzeugt meines Erachtens vor allem da, wo er deren Ambiguität sichtbar macht und herausstellt, dass gerade dadurch die eigentüm­l iche Eindrücklichkeit der entsprechenden Textstellen entsteht – weiter hinten wird es noch Kostproben von solchen Nietzschezitaten geben. Deutlich wird in Heideggers Ausführungen – zum einen, weil er es selbst so darstellt, zum anderen aufgrund von Kontext und Zeitpunkt seiner Ausführungen –, dass ­jener ontologischen Dimension des Biologismus etwas Dunkles und Bedrohliches immanent ist. Die Vermenschlichung der Dinge und Konzepte, die Transformation des „reinen Lebens“ auf Stadt und Gesellschaft, das Reden vom „Stadtkörper“, vom „Volkskörper“, „Lebensraum“, „Tragfähigkeit“ und „Gesundungsplanung“, all das ist durch einen Biologismus zusammengehalten, in dem mächtige Geister hausen, Gespenster, die Nietzsche gerufen hat und die Heidegger in seinem Freiburger Seminarraum sichtbar macht, ohne sie dabei einzuhegen (vermutlich will er das auch gar nicht). Auch die Biologisierungen der urbanistischen Ideologie – um wieder zu Lefebvres Ausführungen zurückzukehren – sind in diesem Lichte zu bewerten. Lefebvre arbeitet heraus, dass im Urbanismus eine Philosophie am Wirken ist, die sich das eigene Philosophieren nicht eingesteht und daher auch der onto­ logischen Dimension des biologistischen Theoretisierens nicht bewusst ist. Dieses Unbewusste ist das Element, das Heideggers und Lefebvres Ana­lysen kenntlich machen. Die unbewusst-philosophisch/metaphysische urbanistische 135

Praxis der Biologisierung, die sich nach 1945 keineswegs in Luft aufgelöst hat und die bis heute ein diskursives Kernelement des Urbanismus darstellt, ist ein wichtiger Punkt für die Analyse des urbanistischen Feldes, auf das ich später noch genauer eingehen werde (vgl. Kapitel 4). An dieser Stelle sei bereits auf die so naheliegende wie bisher kaum beachtete Verbindung aufmerksam gemacht, nämlich auf den sich auf dem urbanistischen Feld manifestierenden Zusammenhang zwischen Biologismus und Biopolitik. Lefebvre spürt – ohne den Begriff der Biopolitik zur Verfügung zu haben – diese Verbindung auf und zeigt, wie sich der Urbanismus zu einem Zentralbereich einer Konzeption entwickelt, die in ihrem und durch ihren Biologismus als biopolitisches Beispiel par excellence bezeichnet werden muss. Lefebvres Kritik an der herkömmlichen „Philosophie der Stadt“ als Ideologie des Urbanismus darf nicht mit einem Bannspruch verwechselt werden oder mit der Aufforderung, Philosophie und Stadt getrennt zu halten und nicht zusammenzudenken. Lefebvre bezweckt nämlich genau das Gegenteil. Gleich zu Beginn von Le droit à la ville formuliert er, dass er zwar nicht ein System durch ein anderes ersetzen möchte, sondern dass er das urbanistische (funktionalistische, strukturalistische) System zerschlagen will, um den „Horizont und den Weg“ frei zu räumen (1996a, 63). Dieser Weg soll allerdings ­d irekt in das Philosophieren über das Urbane führen. Lefebvre will zwar dezidiert keine neue Philosophie der Stadt begründen, das Zusammenführen der Bereiche Philosophie und Stadt ist aus seiner Sicht aber unabdingbar, genau darin liegt das eigentliche Ziel seiner Intervention. Die bisher diskutierte Einforderung einer Ideologiekritik des Urbanismus ist bei diesem Vorhaben der eine Teil. Der andere Teil besteht darin, das Verhältnis von Philosophie und Stadt zu klären, einen anderen Begriff (wenn schon keine Philosophie) von Stadt zu erwägen und auch, ein neues urbanes Wissensfeld zu begründen. Lefebvre vermerkt, dass bereits der Ansatz, über „die Stadt“ nachzudenken, Philosophie in die Stadt und Stadt in die Philosophie bringt. Das Objekt Stadt als eine gegebene Tatsache zu begreifen, ist für Lefebvre dagegen nichts ­a nderes als ideologischer Mystizismus. Diesen Mystizismus möchte er bekämpfen und das – so lautet sein Vorschlag – geht am besten mit den Instrumenten der Philosophie. Deshalb postuliert Lefebvre, dass für eine radikale kritische 136

Analyse der urbanen Problematik die Philosophie selbst der Anfangspunkt ist (1996a, 86).24 Für die Philosophen und die Philosophie, so argumentiert Lefebvre, ist die Stadt niemals eine einfache objektive Bedingung gewesen und ebenso wenig nur ein soziologischer Kontext oder ein äußeres Element (1996a, 160). Die Philosophen haben die Stadt gedacht, und aus diesem Denken ist das städtische Leben erst hervorgegangen. Die Stadt entsteht im Kopf. Umgekehrt ist auch die Philosophie in der Stadt geboren, sie ist selbst das Ergebnis einer Arbeitsteilung, eine spezialisierte Aktivität des Denkens und Reflektierens. Von Plato bis Hegel ist die Stadt deshalb auch nicht ein Thema unter vielen gewesen, sondern ein zentrales Objekt, das zentrale Objekt (1996a, 86). Die klassische Philosophie hatte ihre soziale Basis und ihre theoretische Fundierung in der Stadt (im Konzept der Stadt genauso wie in ihrer gebauten Erscheinungsform), und stets war es ihr Bemühen, ein Bild von der Idealstadt zu entwerfen. Stadt und Philosophie gehörten in der Antike zusammen, sagt Lefebvre, der logos der Griechischen Stadt ist vom logos der Philosophie nicht zu trennen (1996a, 89). Heute dagegen, so Lefebvre weiter, habe sich das Bild geändert. Die wichtigsten zeitgenössischen Philosophen würden ihre Themen kaum noch von der Stadt beziehen. Lefebvre dagegen möchte die Stadt wieder zurück auf das Feld der Philosophie bringen, und zwar als Projekt der „Totalität und Synthese“ (1996a, 86). Denn die Stadt, so lautet seine These, ist nur als totales Phänomen begreifbar, als Phänomen der Totalität. Lefebvre knüpft mit seiner Konzeption also an seine sozialtheoretischen Überlegungen an und installiert die Stadt zum eigentlichen Objekt des Unternehmens. Da überhaupt nur die Philosophie einen Zugang zur Totalität bietet, können auch nur philosophische Konzepte die Stadt und das Städtische jenseits von analytischer Fragmen­t ie­ rung denken. Zwar seien die Stadt und das Urbane niemals in ihrer Gesamtheit anwesend, aber genau diese Eigenschaft mache die Stadt zum privilegierten philosophischen Objekt. „Mehr als irgendein anderes Objekt“ würde die Stadt nämlich „eine komplexe Qualität von Totalität“ repräsentieren (1996a, 153), und aus diesem Grunde wird sie für Lefebvre zum perfekten Forschungsgegenstand. Weil ein solcher Forschungsgegenstand allerdings 137

niemals ganz in den Griff zu kriegen ist, müsse eine Untersuchung der Stadt zwingend mehrere und unterschiedliche Perspektiven auf ihren Gegenstand zulassen und jeder Versuchung widerstehen, nur einen einzigen Zugang zu verfolgen. Lefebvre schlägt verschiedene Annäherungen an eine theoretische Bestimmung von Stadt vor. Zunächst entwickelt er ein weiteres Mal die Idee, die Stadt als Text zu betrachten – die Fortentwicklung des bereits im ersten Band der Kritik des Alltagslebens ausgeführten Ansatzes (vgl. S. 109). Lefebvre mahnt aber zur Vorsicht. Wer die Stadt als „semiologisches System“ (1996a, 102) betrachte, dürfe den Aspekt der Vermittlung nicht vergessen. Überhaupt könne das Buch/die Stadt weder getrennt werden von dem, was es enthält, noch von dem, in dem es selbst enthalten ist. Die Stadt sei „ein Text in einem Kontext“ (1996a, 101), und zwar in einem von Ideologien durchzogenen Kontext, der nur durch Reflexion erschlossen werden kann. Das Ganze ist also nicht unmittelbar anwesend in diesem Buch. Das Buch produziert „mentale und soziale Formen und Strukturen“, die erst durch eine erweiterte Analyse erkannt und begriffen werden können (1996a, 108). Kern dieser Erweiterung ist es, die Materie/das Materielle (das überschüssige Objekt x) wiedereinzuführen. Lefebvre ergänzt damit seinen diskursiven Blick (die Stadt als Text) um das klassischerweise der Stadt zugeschriebene Element, nämlich das Materielle: die Gebäude, die Strukturen, die Dinge. Allgemeiner betrachtet ist Stadt, so Lefebvre, nicht vorstellbar ohne „gestaltbare Materie“, ohne „praktisch-materielle Realität“; Stadt existiert nicht „ohne Dinge“ (1996a, 103). Lefebvre betont die Materie (in der Stadt) erst, nachdem er den Umweg über das Diskursive (den Text, das Buch) gegangen ist. Wichtig ist das deshalb, weil dieser Umweg zu einer neuen Ausgangsposition führt, von der aus die ana­ lytische Neu-Verdinglichung etwas ganz anderes ist, als wenn sie auf dem ­d irekten Weg (etwa in der klassischen Definition von Stadt als eine Ansammlung von Gebäuden) vollzogen wird. Es ist – ähnlich wie im Fall des bewussten Determinismus (vgl. S. 92) – eine bewusste Materialisiserung der Stadt, die Lefebvre hier vornimmt, und es ist ebenso eine Aufhebung der Grenz­zie­ hung zwischen dem Diskursiven/Nicht-Diskursiven.25 Aber die Verbundenheit zwischen Lefebvres Ausführungen über die Stadt mit dem poststruktural/ 138

fundamental/marxististischen Denkhorizont ist noch tiefgründiger. Das wird deutlich, wenn er sich nicht nur den Dingen, sondern „dem Ding“ selbst zuwendet. Lefebvre, der sich nicht nur als Marxist, sondern auch als Heideggerianer definiert, findet Gefallen daran, die Stadt als Ding zu denken. Er entwirft so etwas wie eine Dinglichkeit der Stadt und bezeichnet sie als „‚thing‘ which is not a thing“ (1996a, 153).26 Die Stadt ist für ihn ein spezifisches Ding, das von normalen Objekten (wie einem Bleistift oder einem Blatt Papier) zu unterscheiden ist (1996a, 102). Lefebvre beruft sich bei seiner Stadt-Verdinglichung auf Hegel, der die griechische Stadt als das „perfekte Ding“ [la Chose parfaite] bezeichnet habe (1996a, 89). Die heute auseinandergebrochene Einheit zwischen dem Ding Stadt und der Idee Stadt möchte Lefebvre neu her­ stellen und damit den Dualismus zwischen Ding und Idee (Geist) überwinden. Das Bemühen von Lefebvres Stadttheorie ist es also gewissermaßen, der Stadt – über die Konzeption als Ding – einen ontologischen, nicht-essentialistischen Sonderstatus zu verleihen.27 Neben der Konstitution der Stadtdings schlägt Lefebvre – als einen weiteren Zugang zum Begriff der Stadt – eine differenz-theoretische Unterscheidung vor, und zwar die Unterscheidung zwischen der Stadt und dem Städtischen (1996a, 103). Die Stadt auf der einen Seite könnte, so führt Lefebvre diesen ­A nsatz aus, als die unmittelbare Realität und als praktisch-materielle sowie architektonische Tatsache, das Städtische auf der anderen Seite hingegen als relationale soziale Wirklichkeit konzipiert werden, die ausschließlich durch den denkenden Geist wahrgenommen und (re)konstruiert wird.28 Aber Lefebvre traut dieser Konzeption nicht. Er warnt – unmittelbar nachdem er sie vorgeschlagen hat – davor, dass solch eine Differenzierung „gefährlich“ und „riskant“ sei und insistiert, dass die Beziehungen zwischen „der Stadt“ und „dem Urbanen“ immer mit größter Vorsicht untersucht werden müssten. Was er ­befürchtet ist, dass dem Urbanen bei seiner Trennung von „der Stadt“ eine ­ontologische Überhöhung angedacht wird, die der komplexen städtischen Problematik nicht gerecht wird. Das Urbane, so mahnt Lefebvre, sei keine „philosophische Entität“ und hätte weder eine eigene Seele noch einen eigenen Geist (1996a, 103). Lefebvre bleibt der eigens eingeführten städtischen Differenz gegenüber also eher reserviert. 139

Erwähnenswert ist der Vorschlag aber dennoch, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er bis heute in manchen Stadtdiskursen als mögliche ontologische Annäherung an das eigene Metier virulent ist. Das liegt vermutlich auch ­daran, dass uns die Differenz zwischen der Stadt und dem Städtischen bei ­David Harvey wieder begegnet (vgl. auch Kapitel 4.3). Harvey beginnt seine Annäherung an das Wesen des Urbanen gleichfalls damit, die Stadt als Ding zu bezeichnen und führt dann – ohne auf Lefebvres Mahnung zu hören – die Unterscheidung zwischen der Stadt (dem Ding) und dem Städtischen (dem Prozess) in sein Argument ein. Eine solche „dialektischer Annäherung“ an diese Differenz, so Harvey, impliziere drei Aussagen, nämlich dass erstens „Prozesse fundamentaler seien als Dinge“; zweitens „Prozesse immer vermittelt wären durch die Dinge, die sie produzieren, bewahren und aufheben“ und drittens die „durch die Prozesse produzierte Permanenz“ als „feste und unbewegliche Basis der alltäglichen materiellen Existenz“ funktioniere (2000, 29). Insbesondere aus seiner ersten Prämisse leitet Harvey dann den ontologischen Vorrang des Prozesses ab. Die Stadt, das ist für Harvey das Hemmende, Statische und Verhindernde, das Urbane als Prozess dagegen das Fließende, Bewegende und Gestaltende. Zudem postuliert er: „This style of thought initiate a radical break with late nineteenth century thinking as well as with much of contemporary architecture and social science, in which the dominant view, in spite of all the emphasis upon social relations and processes, was and is that the city is a thing that can be engineered successfully in such a way as to control, contain, modify or enhance social processes.“ (2000, 29) Dieser Analyse ist in ihrer Kritik des klassischen urbanistischen Verständnisses von der Stadt als steuerbarem Ding zutreffend und aktuell. Für die urbanistische Zunft der Sozialingenieure gehört bis heute zur eigenen Verfasstheit der Glaube, die Stadt durch planerische Maßnahmen passgenau steuern zu können. Die orthodoxe urbanistische Verdinglichung des komplexen Phänomens Stadt ist die Voraussetzung für einen solchen Ansatz. Was bei der Kritik von Harvey – die in den zeitgenössischen urban studies viel dazu beigetragen hat, das Denken über „die Stadt“ zu vermeiden und lieber über „das 140

Städtische“ zu reden (vgl. Brenner/Schmid 2014) – allerdings ins Abseits zu geraten droht (und genau das ist vermutlich das Risiko, vor dem Lefebvre gewarnt hat), ist, dass das Denken des Dings noch in eine andere Richtung weist. Harvey registriert nicht, dass mit dem Ding stets auch ein Denken verfolgt wurde, mit dem jener Dualismus „Objekt versus Prozess“ ausgehebelt wird und in dem das Ding Prozesse gerade auslöst – Prozesse wie „versammeln“ oder „in Streit geraten“ (vgl. Kapitel 5.2). Harvey hat keinen Zugang zu einem solchen Denken, und er zielt damit in seiner Ablehnung, Stadt als Ding zu denken, spektakulär an Lefebvres Intention vorbei (später werden wir noch sehen, dass das nicht das einzige Mal ist). Doch zurück zum französischen Denker. Über die Diskussion der „städtischen Differenz“ nähert sich Lefebvre in Le droit à la ville dem Kern seiner Stadttheo­ rie und schlägt dann auch – sympathisch zögerlich – eine erste Definition von Stadt vor. Stadt, so Lefebvre, könne möglicherweise als die im Geiste wahrgenommene und bewusst gewordene „Projektion der Gesellschaft auf den Boden“ bestimmt werden.29 In diesem Versuch zeigen sich die inneren ­Widerstände, gegen die Lefebvre ankämpfen muss. Seine vorläufige Stadtdefinition ist – und darin äußert sich wohl auch die Absicht, die eigens vorgenommene Verding­ lichung des Stadtdings wieder zurechtzurücken – gleich doppelt dagegen ab­ gesichert, materielle Substanz zu sein. Zum einen ist sie eine Projektion (also ­zumindest ein Abbild, nichts zum Anfassen, nichts mit eigener Materialität; vielleicht aber auch eine Projektion im psychoanaly­t ischen Sinne, ein Abwehrmechanismus, mit dem innere Konflikte durch die Abbildung eigener Emotio­ nen und Wünsche verlagert werden) und zum ­a nderen (gewissermaßen als zusätzlicher Schutz vor der Substanzwerdung) e ­ twas, was erst im Gedachten entsteht. Wegen der Preisgabe des materiellen Kerns von Stadt scheint diese Definition auf halber Strecke stecken zu bleiben. Als eine zweite Variante schlägt Lefebvre daher vor, Stadt als ein Ensemble von Differenzen zu definieren30 und schließt damit an die poststrukturalistische Grundströmung der „Umstellung von Identität durch Differenz“ (Stäheli 2000b, 11) an.31 Wie fragil ein solches Differenzgebilde ist, zeigt sich daran, dass er das Ensemble der Differenzen mit dem Zusatz „zwischen Städten“ ergänzt und damit eine – wie er selbst einräumt – unbefriedigende „Emphase 141

auf Partikularitäten“ setzt, durch die die Totalität des Phänomens aus den ­Augen verloren zu geraten droht (1996a, 109). Hier scheitert der Versuch, die radikale Relationalität in den Differenzen zwischen den physisch-räumlich definierten Entitäten namens „Städte“ zu materialisieren, am unvermittelten Wechsel von der ontologischen auf die empirische Ebene. Auch das scheint Lefebvre selbst zu spüren, jedenfalls beeilt er sich zu betonen, dass beide vorgeschlagene Definitionen nicht erschöpfend seien und keinesfalls weitere Bestimmungsversuche ausschließen würden. Als dritte Variante versucht sich Lefebvre schließlich mit dem Ansatz, Stadt als Ort des Konflikts zu denken. Ein solcher Ansatz entspringt und entspricht natürlich der Tradition und dem Verständnis von Marx und Engels. Lefebvre umkreist diese Bestimmung der Stadt an zahlreichen Stellen von Le droit à la ville (und auch in seinen anderen Texten zur Stadt). In der Stadt werden die Kämpfe um die Macht ausgetragen, hier stoßen unterschiedliche Interessen aufeinander, nicht zuletzt Klasseninteressen. Allerdings, so Lefebvre, geht es in der Stadt nicht nur um das Proletariat, sondern auch um andere „nicht-dominierende sozialen Schichten“ und ganz allgemein um die „Konfrontation von Differenzen“ – insbesondere politischer und ideologischer Art – (1996a, 75), die auf dem städtischen „Feld der Begegnungen“ (1996a, 11) zwangsläufig entstehen. Die Stadt, so Lefebvre, antwortet auf solch „angelandete Machtverhältnisse und Klassenkämpfe“, manchmal in aller Stille, manchmal gewalttätig (1996a, 119). Die Kämpfe zwischen den Fraktionen, Gruppierungen und Klassen, die im urbanen Kontext entstehen, so greift Lefebvre auf die These von Marx und Engels zurück, führen zu einem Gefühl des Zusammenhalts und lassen urbane Revolten entstehen. Lefebvre erklärt, dass die politischen Konfrontationen die Stadt als ihr Schlachtfeld haben, solche Kämpfe seien Gefechte von den „Rivalen in ihrer Liebe zur Stadt“ (1996a, 67). Auch auf das klassische Thema des Stadt-Land-Konflikts kommt Lefebvre in diesem Kontext zu sprechen. Historisch betrachtet würden die gewaltsamen Zusammenstöße in den Städten auf der Konfrontation der „städtischen Wirklichkeit mit der industriellen Wirklichkeit“ zurückzuführen sein (1996a, 70). Der Stadt-Land-Gegensatz, so Lefebvre, sei dabei heute keineswegs verschwunden, im Gegenteil habe er sich in den am meisten industrialisierten 142

Ländern sogar intensiviert und zu einem „latenten Konflikt“ geführt, der unter städtischen Bedingungen immer wieder zum Vorschein komme (1996a, 72). All die städtischen Konflikte, so die hier klassisch marxistische These, würden letztlich von dem Gegensatz zwischen der Stadt und dem Land her stammen.32 Möglicherweise, darauf läuft Lefebvres Argumentation hinaus, kann die Stadt also als Ort der Konfrontationen bestimmt werden – als Bereich von „konfliktuellen Beziehungen zwischen Wunsch und Bedürfnis, zwischen Befriedigung und Nicht-Befriedigung“, vielleicht sogar als „Zone des Begehrens“ (1996a, 109). Es sei durchaus denkbar, so formuliert Lefebvre, dass solch eine Annäherung an Stadt eine über die „fragmentierte Wissenschaft der Psychologie“ hinausgehende Bedeutung habe (1996a, 109). Diese letzte Aussage von Lefebvre ist auch insofern bemerkenswert, weil er sich ansonsten vehement ablehnend gegenüber aller Vermengungen von kritischer Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse gibt (was ihn allerdings – wie wir schon mehrfach gesehen haben – nicht daran hindert, immer wieder Gedankengänge zu entwickeln, die insbesondere an die Perspektive von Jacques Lacan erinnern).33 In seiner vorsichtigen Annäherung an eine Konfliktdefinition von Stadt ist dann auch die entscheidende Erweiterung der Marx’schen StadtKonflikt-These zu finden. Lefebvre entdeckt, dass im Konflikt möglicherweise eine ontologische Seite der Stadt zu finden sein könnte und dass der konflikt­ hafte Inhalt etwas ist, was Stadt konstituiert. Und er bemerkt auch, dass psychoanalytische Gesellschaftstheorie die Suche nach einer ontologischen Annäherung an Stadt möglicherweise befruchten kann. Die vierte Definition von Stadt, die in Le droit à la ville gefunden werden kann, ist diejenige, die heute vermutlich am meisten präsent ist, wenn von einem Stadtbegriff bei Lefebvre geredet wird. Hier geht es um die Stadt als den Ort der Möglichkeiten und des Möglichen (1996a, 156). Allerdings hat dieses Mögliche nichts mehr gemein mit jenen unheilvollen Überlegungen, die im ersten Band der Kritik des Alltagslebens Lefebvres die erste Annäherung an die moderne Stadt überschrieben hatten (vgl. S. 112). Nun, fast zwanzig Jahre später, ist es ein positives Mögliches, mit dem Lefebvre die Stadt belegt. Es ist eine positive, aber auch eine paradoxe Bedeutungszuweisung. Es handelt sich um eine Besetzung mit Löchern, Abgründen und Spalten, die Lefebvre als 143

eigentliche Substanz der Stadt ausmacht. In gewisser Weise findet die Theorie der Momente in den voids der Stadt ihre Entsprechung. Durch ihre Leer­ stellen wird Stadt das „Medium (Milieu, Mittel, Vermittler, Unterhändler) der Veränderung“, der „Ort der Verwandlungen und Begegnungen, der dramatische Raum, der das Scheinbare und das Wirkliche vermischt“ (1975b, 27). Die voids existieren nicht zufällig (1996a, 156), so proklamiert Lefebvre, sondern sie sind der folgerichtige Ausdruck des fragmentierten, entfremdeten Sozialen, sie sind die räumliche Ausformung der immer wieder aufbrechenden Inkohärenz, der Unmöglichkeit der Schließung der Gesellschaft. Sie sind aber auch und gleichzeitig, darin liegt die Pointe, der Ort des Möglichen. Das positiv Mögliche, die Überwindung der Entfremdung, die Verwirklichung der Utopie – all das geschieht, so der Vorschlag von Lefebvre, in den urbanen Zwischenräumen und Restbereichen.34 Stadt von ihren voids aus zu denken ist in den Stadtwissenschaften – etwa im Kontext der verschiedenen Hausbesetzerbewegungen oder bei den Zwischennutzungsdebatten der letzten Jahre – weit verbreitet. Eine aktuelle und theoretisch ambitionierte Version dieses Gedankens findet sich bei Erik Swyn­ gedouw, der eine ganz ähnliche Argumentation wie Lefebvre entfaltet und darin auch ein gutes Beispiel gibt, wie eine solche Analyse zur Programmatik gewendet werden kann. Swyngedouw (2013) untersucht die „postpolitische Stadt“ und beschreibt sie als „fragmentiert und kaleidoskopisch“ (2013, 154). Innerhalb der „Spannungen, Inkonsistenzen und Ausgrenzungen“, die durch „kaleidoskopische, aber zusammenhanglose Transformationen“ produziert werden, würden „alle möglichen Reibungen, Sprünge, Risse, Lücken und ‚leerstehenden‘ Räume“ entstehen (2013, 154). Solche Räume bildeten wieder­u m „Knotenpunkte des Experimentierens mit neuen urbanen Möglichkeiten“ und leisteten ihren Beitrag zu „alternativen Vermessungen und Kartografien des Denkbaren, des Wahrnehmbaren und folglich des Möglichen und Machbaren“ (2013, 155). Gerade in diesen Zwischenräumen würden sich dann „alle möglichen neuen städtischen sozialen und kulturellen Praktiken“ und „neue Formen der Urbanität“ entfalten können (2013, 154). Daraus entständen die „radikalen Ränder“, die einen „wesentlichen Bestandteil der demokratischen Urbanität des 21. Jahrhunderts“ ausmachten (2013, 155). Genau 144

diese Praktiken, so lautet die programmatische Zuspitzung bei Swyngedouw, würden nun „dringend unserer Aufmerksamkeit, Fürsorge, Anerkennung und Wertschätzung“ bedürfen (2013, 155). Bei Lefebvre und bei Swyngedouw sind die Leerstellen des Urbanen – die Brachen, Nischen und geheimen Plätze – so etwas wie physisch-räumliche Repräsentanten der unbesetzten Stadt. Sie sind damit ein mögliches Einlasstor für eine empirische Variante meiner These, eine Möglichkeit, physisch-räumliche Phänomene der unbesetzten Stadt (eine Stadt aus voids scheint eine unbesetzte Stadt zu sein) zu untersuchen. Vielleicht sind die Brachen aber auch nur eine Bebilderung. Vor allem öffnen sie einen möglichen Zugang für eine urbane Programmatik, für eine Form von Stadtpolitik, für das bewusste Offenlassen von Flächen, für das Aushalten von „suboptimalen Nutzungen“ (vgl. Hessen Agentur/Overmeyer 2008). In Lefebvres Stadttheorie vollzieht sich mit der Bestimmung von Stadt als Ort des Möglichen jedenfalls eine entscheidende Verschiebung. Die Sozialtheorie, die Lefebvre bis zu diesem Punkt betrieben hat, wird nun ergänzt (und ein bisschen auch konterkariert)35 durch ein Programm oder ein Manifest. Das Recht auf Stadt lässt sich nun auch als politische Forderung begreifen und mehr noch, die Stadt wird mit einem Mal zu dem, was angestrebt und begehrt wird, sie wird gleichzeitig zum Ausgangs- und Zielpunkt des Möglichen. Am Ende von Le droit à la ville findet sich ein weiteres Mal die These von der Stadt als Ort der Möglichkeiten. Lefebvre variiert hier seine Herleitung aus der Antike, und zwar mithilfe einer topologischen Betrachtung. Schlüssel­ begriff in dieser Argumentation ist die „Zentralität“, durch die Stadt sich ­definiert. Die Stadt als Zentrum des Staates, der zentrale Bereich der Stadt als Sphäre der Macht, Stadt als zentrale Verdichtung, all das sind zunächst klassische Argumentationslinien, die weit verbreitet sind, wenn über die Bedeutung von Stadt nachgedacht wird. Lefebvre erweitert diesen Ansatz und erinnert daran, dass in der griechischen und in der römischen antiken Stadt die Zentralität an einen leeren Platz [„an empty space“] gekoppelt gewesen ist (1996a, 169, vgl. auch Hoskyns 2014), nämlich an die agora beziehungsweise das forum. Dieser leere, unbesetzte Platz wurde freigehalten, um ­Versammlungen möglich zu machen [„a place for assembly“]; erst in der 145

mittelalterlichen Stadt sei dieser Platz dauerhaft besetzt worden, und zwar durch Märkte, Waren und Händler, also durch die Ökonomie (1996a, 169). Das unbesetzte Zentrum der Stadt wurde von der ökonomischen Seite her eingenommen und dauerhaft besetzt. Im „Neo-Kapitalismus“, so führt Lefebvre sein Argument weiter, ist das Zentrum ein weiteres Mal überlagert worden, mit Strukturen der Macht und der Entscheidungsgewalt, die sich an die gleiche Stelle wie die Konsumption gesetzt haben, ohne diese zu verdrängen (1996a, 170). Lefebvre gelingt damit einerseits eine topologische Beschreibung der zeit­ genössischen neoliberalen Stadt und ihrer Zitadellen des Konsums und der Macht. Andererseits liefert er eine mögliche weitere Lesart für die These von der unbesetzten Stadt. Möglicherweise ist die Stadt, so wie in der These von Claude Lefort, zwar aus theoretischer Perspektive ein leerer Ort, weil eine endgültige und abschließende Besetzung Stadt von innen her auflösen würde. Die endgültig besetzte Stadt – also der mögliche Grenzfall des Lagers (vgl. S. 119) – würde ganz einfach den Möglichkeiten den Raum nehmen, sie würde Möglichkeiten unmöglich machen. Auf der historisch-empirischen Betrachtungsebene ist aber vielleicht dennoch von einer Besetzung des Zentrums der Stadt zu sprechen, von der Besetzung des ursprünglich (in der Antike) freigehaltenen Platzes durch den Markt, den Wettbewerb und die Entscheidungsgewalt. Für beide Argumente scheint jedenfalls die These von Lefebvre zuzutreffen, dass die „Irreduzibilität des städtischen Zentrums“ eine „essentielle Rolle“ bei der Annäherung an das Wesen von Stadt spielt (1996a, 170). Die Annäherungen an das, was Stadt ist, verdichtet Lefebvre in Le droit à la ville schließlich zu einem weiteren programmatischen Punkt, nämlich zum Plädoyer für eine „neue Wissenschaft der Stadt“ (1996a, 176). Darin besteht das eigentliche positive Projekt, der Zielpunkt seiner philosophischen Analyse. Die Idee ist es, unter dem Begriff der Stadt eine neue, synthetisierende postmarxistische Wissenschaft zu versammeln, die die fragmentierten Einzelinteressen und -perspektiven überwinden und zu einer neuen prima philosophia werden soll. An den Anfang dieser Idee stellt Lefebvre mehrere Perspektiven, die das Vorhaben umreißen.

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Der erste Bereich besteht in der Kritik an der fragmentarischen Struktur der Sozialwissenschaften. Lefebvre macht darauf aufmerksam, dass Disziplinen wie die Soziologie, der Urbanismus oder die Geografie im 19. Jahrhundert gerade gegen die Philosophie gegründet worden sind und zum Ziel hatten, die Totalität der Welt in partikulare rationale Systeme aufzulösen. Damit einher ist die Entwicklung zum Empirismus gegangen und auch der Glaube, die gesellschaftliche wie die urbane Realität auf der Grundlage von quantitativen Untersuchungen vermessen und kartieren zu können. Den analytischen Disziplinen mangelt es, so Lefebvre weiter, nicht an Sorgfalt, aber am Willen zu einer Gesamtschau und zu einer begrifflichen Durchdringung ihrer Studien­ objekte. Eine solche Gesamtschau soll zur zentralen Aufgabe der neu zu gründenden Stadtwissenschaft werden. Denn nur im Angesicht der urbanen Wirklichkeit könnten neue Theorien und Konzepte entwickelt werden, nur im Zusammenspiel mit der sozialen Praxis der städtischen Gesellschaft (1996a, 94). Im zweiten Gedanken kritisiert Lefebvre die Akademie als Ort der Wissens­ produktion. Mit einem Seitenhieb auf die neu errichtete Universität X in Paris-­ Nanterre (an der er zu diesem Zeitpunkt selbst lehrt) beklagt er die neu ­errichteten „städtischen Ghettos“ (1996a, 162), in denen isoliert von der städtischen Alltagswirklichkeit an sterilen Orten ebenso sterile Narrative über das Soziale und das Urbane verbreitet werden. In durchaus aktuell anmu­ tender Diktion richtet Lefebvre seine Beschwerde auch gegen die internen Strukturen des Wissenschaftsbetriebs, der eben bereits in den 1960er-Jahren vor allem ein Betrieb gewesen ist, ein ökonomisierter und auf wettbewerblicher Basis organisierter Sektor, in dem Wissen weniger entsteht, als wörtlich produziert wird, und in dem dieses Wissen dann auch durchzogen ist von auf Verwertung und Gewinnmaximierung ausgerichteten Denkweisen. Auch die prekäre Situation vieler Forschenden gehört zu dieser Analyse, der Blick auf die wissenschaftliche Reservearmee, die in unsicheren und befristeten Verträgen ihre Wissenschaft betreiben und dabei stets in Gefahr ist, aus der Wissenschaftsproduktion ausgeschlossen und arbeitslos zu werden. Die heutige Kritik am neoliberalen Wissenschaftsbetrieb ist ein Echo von Lefebvres Analyse. 147

Der dritte die neue Stadtwissenschaft konstituierende Punkt ist die Ideologiekritik des Urbanismus (1996a, 149). Der orthodoxe Urbanismus ist für Lefebvre nichts anderes, als das, was sich der neuen Stadtwissenschaft ständig in den Weg stellt, was den Weg verstellt, was Erkenntnis verhindert. Deshalb ist es integraler Bestandteil der neuen Stadtwissenschaft, die klassische urbanistische Ideologie und ihre Praxis zu analysieren, ihre Blindheit bezüglich der urbanen Praxis aufzuzeigen und ihren Empirizismus und Dogmatismus zu entlarven, den Weg frei zu räumen. Kritische Stadtwissenschaft hat damit zuallererst die Aufgabe einer fundamentalen Kritik des Urbanismus. Ohne diese Kritik kann sie sich nicht selbst entfalten, ohne diese Kritik bleibt der Pfad zum neuen Horizont blockiert. Ein vierter Vorschlag von Lefebvre besteht schließlich darin, eine „spektrale Analyse“ der Stadt durchzuführen. Er betont, dass er diesen Ansatz nicht metaphorisch, sondern ganz wörtlich verstanden wissen möchte, und formuliert, dass die Gespenster der Stadt [„the ‚spectre‘ of the city“] vor unseren Augen spuken (1996a, 142). In der Stadt, das ist die These, erscheinen Geister und Gespenster bevorzugt (Gespenster der städtischen Gesellschaft, so formuliert Lefebvre). Die Stadt ist die geeignete Kontrastfolie, vor der die Gespenster­ wesen sichtbar werden. Lange bevor Jacques Derrida die Gespenster von Marx bemüht, suchen sie also bereits Lefebvres Stadttheorie heim. Lefebvre schreibt, dass das Gespenst des Kommunismus vielleicht nicht mehr in Europa umgehe, dieses „alte Grauen“ aber durch einen anderen Geist ersetzt worden wäre, nämlich durch den „Schatten der Stadt“. Dessen Gespenster hausen in den unzählbaren Residuen des Urbanen, in den materiellen und diskursiven Versatzstücken, in denen Bedeutungen vergangener Zeiten aufgehoben sind. Das Residuum, das wiederum erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem überschüssigen Objekt x erkennen lässt – als Restsubstanz, nicht mehr gebrauchte und daher überschüssige Materie, die vom System (vom Ganzen) ausgeschieden wurde –, ist das materialisierte Gespenst (oder andersherum, das Gespenst das entmaterialisierte Residuum). Beide, Gespenster wie Residuen, möchte Lefebvre ergründen, untersuchen, beleuchten. Der Vorschlag der spektralen Analyse nimmt den Ansatz der Hantologie vorweg (vgl. Kapitel 5.1) und weist ihm einen ziemlich überzeugenden Ort zu: die Stadt. Die 148

spektrale Analyse der Stadt – auch wenn die Idee nicht detailliert ausgearbeitet wird – ist aus meiner Perspektive der weitgehendste und originellste Vorschlag von Lefebvre für die Ausgestaltung einer neuen Wissenschaft der Stadt. Denn darum geht es Lefebvre: um die Idee einer Stadtwissenschaft, die einerseits die Fragmentierung der partikularen Disziplinen durch den aus der Philosophie importierten Fokus auf das Ganze (und den Rest) überwinden und andererseits die Philosophie durch die Stadt materialisieren möchte. Gleichzeitig soll diese neue Wissenschaft den falschen Dualismus von Theorie und Praxis beseitigen und durch eine neue, auf einer höheren Erkenntnisstufe stehende Praxis ersetzen. Fünfzig Jahre nach Le droit à la ville ist festzustellen, dass sich eine neue Wissenschaft der Stadt im Lefebvre’schen Sinne nicht wirklich hat etablieren können – weder in Form der urban studies, die sich meist auf die Seite der hauptsächlich empirisch konstituierten Sozialwissenschaften geschlagen haben, noch in Form einer urbanen Praxisforschung, die zwar immer wieder in Randbereichen zwischen städtebaulicher Lehre, künstlerischen Interventionen und urbanen Bewegungen aufblitzt, aber keinen gefestigten Platz im universitären/gesellschaftlichen Kontext einnehmen konnte. Es lässt sich aber ebenso feststellen, dass die Idee von Lefebvre kaum an Attraktivität verloren hat. Das Interesse an Fragen der Stadt und des Städtischen ist ungebrochen, möglicherweise ist es sogar so hoch wie nie zuvor. In den gesellschaftlichen Debatten, den politischen Diskussionen, der akademischen Wissensproduktion – überall wird im Namen des Urbanen diskutiert, postuliert und lamentiert. Genauso groß wie die Präsenz des Städtischen ist jedoch oft auch die Ratlosigkeit, was mit Stadt jenseits von neo-positivistischen, technologischen und neoliberalen Narrativen eigentlich anzufangen ist. Gegen diese Leerstelle richtet sich der Slogan vom Recht auf Stadt. Allerdings wird der Ausdruck heute kaum mehr im eigentlichen Sinne von Lefebvre verwendet. Heute wird das Recht auf Stadt meist verstanden als das Recht auf Teilhabe, als das Recht auf eine andere Stadt, als Recht auf (soziale) Gerechtigkeit und als Recht auf eine städtische Zugehörigkeit. In der Hauptsache verfehlt eine solche Interpretation aber den Kerngedanken von Lefebvre. Der ganze Text in Le droit à la ville versteht unter dem Recht auf Stadt nicht 149

vorrangig eine soziale Forderung, sondern ein Recht auf Philosophie. Dabei soll nicht eine neue Philosophie der Stadt erschaffen und auch nicht die neue Form einer historisch-sozialen Philosophie als Wissenschaft des Städtischen ergründet werden, sondern es geht um die Verwirklichung der Philosophie durch den Bezug auf die Stadt. Die Problematik der Stadt und des Städtischen, so schreibt Lefebvre, expliziert letztlich die Problematik der Philosophie insgesamt und ist zugleich Notwendigkeit und Lösungsansatz für die Erneuerung der Kategorien und Methoden des philosophischen Denkens. Die Recht-­aufStadt-Bewegungen sind zwar sicherlich dazu in der Lage und auch dafür prädestiniert, die urbanen Fragestellungen in und mit ihrer Praxis kontinuierlich zu stellen und zu verhandeln. Um ein kohärentes Bild zu erhalten, ist es jedoch erforderlich – zumindest dann, wenn man Lefebvre folgen möchte –, diese Praxis mit Stadttheorie zu reiben und zu konfrontieren, und zwar ohne Unterlass. Ein zweiter Punkt, der in der Gesamtbetrachtung von Lefebvres Stadttext hervorgehoben werden kann, ist die erstaunlich aktuelle Urbanismuskritik beziehungsweise die Rolle, die solch eine Kritik in seinem Theorieaufbau erhält. Viele der Annahmen, die Lefebvre seinem Ansatz zugrunde legt, sind heute unverändert gültig. Weiterhin sind Urbanismus und Planung ein Feld des unbewussten Philosophierens, das sich gerade in der Behauptung konstituiert, keine Ideologie zu sein. Die biologistischen Exzesse im Urbanismus sind zwar etwas zahmer geworden und nicht mehr ganz so dominierend, in vielen ­Begriffen und Konzepten (etwa im Bereich der Stadtsanierung) sind die Gespenster allerdings weiterhin aktiv, und es gibt kaum einen städtebaulichen Wettbewerb, in dem bei der Begründung für die Preisvergabe nicht auf das „organische Ganze“ abgestellt werden würde. Was aus der Analyse von Lefebvre ebenfalls in die Jetztzeit mitgenommen werden kann, ist der Ansatz, den Urbanismus in das Zentrum einer kritischen Gesellschaftsanalyse zu stellen. Er expliziert damit – und auch das ist von hoher Aktualität – einen möglichen Aufgabenbereich für kritische Stadtforschung: die Ideologiekritik des Urbanismus. Ideologiekritik bedeutet in diesem Zusammenhang nicht anderes, als dass die Ideologie, die in den Institutionen, den Begriffen und Narrativen, den Gesetzen und Verordnungen, den Leitbildern und Masterplänen versteckt ist 150

(in die diese urbanistischen Fundamente getaucht sind), zum Vorschein gebracht wird. Das Erkunden der Ideologie des Urbanismus, mit dem auf die diskursive Ebene des Materiellen verwiesen wird, ist auch heute eine drängende Aufgabe für kritische Stadtforschung.

151

Gesellschaft auf. Durkheim, so stellt es Marchart dar,

Anmerkungen

setzt das Soziale als ein Ding, als einen „Gegenstand eigener Realität“, der „zur Summe seiner Teile hinzugezählt werden muss“ (2013, 67). Deutlich expliziert wird der paradoxe Überschuss erstmals

1 2

3 4

5

Auch bei Walter Benjamin (1977, 494) findet sich

von Lévi-Strauss, der in seiner Einführung in das

eine anerkennende Erwähnung.

Werk von Marcel Mauss (1989 [1950]) eine Norm

Zur Rezeption von Lefebvre im deutschen Sprach-

isoliert, indem er die menschliche Praxis von ihrer

raum vgl. Ronneberger 2008 und Ronneberger/­

konkreten Ausübung trennt und auf diese Weise

Vogelpohl 2014.

­jenen „Überschuß an Signifikation gegenüber der

Eine weitere Frühschrift von Lefebvre – La Consci-

Denotierung“ schafft – den überschüssigen Signifi-

ence Mystifiée (1936) – trägt diesen Titel.

kanten und seinen „uneinholbare[n] Überschuß an

In einem im Jahre 1949 für das offizielle Zeitschrif-

Bedeutung“, der zum „Leitbegriff in den Human­

tenorgan der französischen kommunistischen Partei

wissenschaften des 20. Jahrhunderts“ geworden ist

geschrieben Text zitiert Lefebvre nicht nur in zustim-

(Agamben 2003b, 35 und 47). Bei Lévi-Strauss tritt

mender Weise Stalin, sondern auch dessen Chef-

das paradoxe Objekt in Form der „Null-Iinstititution“

ideologen Andrei Zhdanov (vgl. Anderson 1995,

auf, einem Objekt, dessen Funktion darin besteht,

197).

keine Funktion zu haben, und das gerade durch die-

Um in dieser Konstellation nicht komplett verloren

ses Keine-Funktion-Haben Wirkungskraft entfaltet

zu gehen, sind nach Lefebvre zwei Dinge notwendig:

(vgl. Marchart 2013, 93 f.). Auch bei Deleuze gibt

Reflexion und Praxis: „Praxis und Reflexion verwan-

es ein „Objekt = x“, und zwar die Gesellschaft selbst,

deln legitimerweise Stücke des ‚An-sich‘ in Reali­

die als Ding in zwei heterogenen Serien installiert ist:

täten ‚für uns‘, in angeeignete Realitäten.“ (1971a,

„Die Gesellschaft ist Begriff in einer Serie, aber Ob-

106) Erst in der Aneignung materialisiert sich ein

jekt in einer anderen“, so erklärt Marchart (2013,

Zugang zu dem Paradox, das der Materie einge-

124). Die „paradoxe Natur“ des Objekts = x ergibt

schrieben ist. 6

sich bei Deleuze daraus, dass es „– als ‚Wort‘ und

Dieser Gedanke, so führt Müller-Schöll in seiner

‚Sache‘ – nie mit sich selbst zusammenfällt“ (2013,

Analyse Das System und der Rest aus (einem der wenigen Texte, der Lefebvres Überlegung explizit aufnimmt), sei entscheidend „für die Überschreitung des Rahmens der Philosophie“ (1999, 8) und ein „bedeutender Beitrag zur Frage nach einer aus den

7

Lefebvre kritisiert Lévi-Strauss in dem Text „Claude Lévi-Strauss et le nouvel éléatisme“ und Althusser in „Sur une interprétation du marxisme“, beide zu finden in L’idéologie structuraliste (1971b). Le-

besseren Traditionen der Philosophie sich nähern-

febvre bezeichnet Althussers „ideologische[n] Ver-

den kritischen Gesellschaftstheorie“ (1999, 10).

renkungen“ hinsichtlich des Begriffs „Überdetemi-

In der Rezeption von Lefebvres Production of Space

nierung“ als „bloßes Geschwätz“ (1974b, 76). Vor

[1974] (1991) wurde auf die Verbindung Lefebvre–

allem gefällt es ihm nicht, Konzepte der Psychoana-

Lacan hingewiesen (vgl. Gregory 1995; Blum/Nast

lyse in die politische Theorie zu importieren (obwohl

1996) und dabei festgestellt, dass bisher übersehen

er das im Grunde natürlich ständig selbst macht).

worden wäre, welch großen Einfluss die Psychoanalyse Lacans auf die Theorie Lefebvres gehabt habe. Bei der Betrachtung von Lefebvres Objekt x und

10 Zu aktuellen psychogeografischen Versuchen vgl. Richardson 2015. 11 Im Hintergrund lauert ein Gedanke von Nietzsche,

­Lacans objet petit a wird nun jedoch deutlich, dass

der in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral

auch die umgekehrte Einflussnahme nicht ganz

schreibt: „Man muss sich sogar noch etwas Bedenk-

­abwegig zu sein scheint: Möglicherweise hat Le-

licheres eingestehn: dass, vom höchsten biologi-

febvres (im französischen Sprachraum seinerzeit

schen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur

sehr populäre) Marxismusinterpretation ja auch Spuren in Lacans Theorieaufbau hinterlassen. 8

124). 9

Ausnahme-Zustände sein dürfen.“ (1968a, II §11) 12 Marchart kritisiert Agambens These, da in ihr

Marchart spürt den Ansatz in einer latenten Form

Auschwitz zu einen „paradigm of everything“ werde

bereits bei Durkheim und dessen Erzählung von der

(2010a, 227). Dieser Vorwurf ist sicher nicht ganz

152

von der Hand zu weisen. Andererseits ist es ebenso

von der unbesetzten Stadt ist Le droit à la ville je-

wenig unplausibel, zu denken, dass Auschwitz

doch der wichtigere Text (es ist meines Erachtens

­tatsächlich eine allgegenwärtige Erfahrung der

auch das originellere Buch). In der „Produktion des

­Moderne ist. 13 Zu Lefebvres Gebrauch des Begriffs Langweile siehe den Text „Henri Lefebvre and the ‚Sociology of Boredom‘“ (Gardiner, 2012). 14 Auf der theoretischen Ebene haben Lefebvre und

Raums“ geht es vor allem um den Versuch, einen ­systematischen Zugang zu einem Raumverständnis zu finden, der allerdings die Tiefe etwa der phänomenologischen Raumtheorien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum erreicht.

Jacobs dagegen wenig miteinander zu tun. Während

20 An anderer Stelle urteilt Lefebvre vehementer: „The

Jacobs weitgehend ohne Interesse an Sozialphiloso-

career of the old classical humanism ended long ago

phie und traditionell städtebaulich argumentiert, ist

and badly. It is dead. Its mummified and embalmed

Lefebvre Metatheoretiker und Marxist. Auf dieser

corpse weighs heavily and does not smell good.

Ebene könnte der Unterschied zwischen den beiden

It occupies many spaces, public or otherwise, thus

Protagonisten kaum größer sein.

transforms into cultural cemeteries under the guise

15 Das Buch ist bereits 1969 sowohl in englischsprachiger Übersetzung (The Explosion: From Nanterre to the Summit) als auch auf Deutsch (Aufstand in Frankreich. Zur Theorie der Revolution in den hochindustrialisierten Ländern) publiziert worden. Die

of the human.“ (1996a, 149) 21 Zur Kulturgeschichte der Netzwerke siehe Gießmann 2014. 22 In Lefebvres Worten: „Organicism and its implications, namely the simplifying evolutionism of many

deutschsprachige Ausgabe erschien in der Edition

­historians and the naive continuism of many socio­

Voltaire, in der in dieser Zeit Texte unter anderem

logists, has disguised the specific features of urban

von Fritz Teufel, Daniel Cohn-Bendit, Ernesto Che Guevara und Mao Tse-tung veröffentlicht wurden. Die Qualität der deutschen Übersetzung ist in diesem Fall eher durchwachsen, weshalb ich im Folgen-

reality.“ (1996a, 104) 23 Nicht zuletzt, auch darauf weist Lefebvre hin, ver­ hindern organizistische Modelle, zu begreifen, was „Differenz“ ist (1996a, 104). Das organiszistische

den auch auf die englische Übersetzung zurück-

Denken, so könnte ergänzt werden, geht immer von

greife.

einem Konzept der Identität aus; ein Denken von

16 In der deutschen Übersetzung wird „contestation“ als „Anfechtung“ wiedergegeben, was nicht unpassend ist, aber vielleicht nicht die ganze Breite des

­radikal konstituierender Differenz ist damit nicht vereinbar. 24 Und er fügt hinzu, dass diese Vorbedingung vermut-

Begriffs (Kontroverse, Streit, Auseinandersetzung)

lich überraschend wäre. Diese Bemerkung ruft ins

wiederzugeben vermag.

Gedächtnis, dass der kritische Stadtdiskurs bereits

17 Agamben zitiert in diesem Zusammenhang Walter Benjamin: „Die Reinheit eines Wesens ist niemals

(oder gerade) in den 1960er-Jahren von einem eher orthodox ausgerichteten Marxismus dominiert

unbedingt oder absolut, sie ist stets einer Bedin-

wurde, der sich nicht zuletzt durch seine Abgren-

gung unterworfen. Diese Bedingung ist verschieden

zung gegen jeden „Philosophismus“ definiert hat.

je nach dem Wesen, um dessen Reinheit es sich

25 Die Wiedereinführung der Materialität in den Dis-

­handelt; niemals aber liegt diese Bedingung in dem

kurs erinnert an die postmarxistische Theorie von

­Wesen selbst. Mit anderen Worten: die Reinheit

Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die – etwa

­jedes (endlichen) Wesens ist nicht von ihm selbst

zwanzig Jahre später – eine ganz ähnliche Denkbe-

abhängig […]. Für die Natur ist die außerhalb ihrer selbst liegende Bedingung ihrer Reinheit die menschliche Sprache.“ (Benjamin, Briefe, 206; hier: 73; zitiert bei Agamben 2003b, 73) 18 Zum Thema Stadt und soziale Bewegungen siehe die

wegung ausarbeiten (siehe ausführlich Kapitel 3.2). 26 Im französischen Original: „… cette ‚chose‘ qui n’est pas une chose.“ (1968, 124) 27 Dieser Ansatz erinnert an die „Phänomenologie der Räumlichkeit“ und die Interventionen etwa von

Sammelbände von Gestring/Ruhne/Werheim 2014

Edmund Husserl oder Gaston Bachelard, die Anfang

und Holm/Gebhardt 2011.

des 20. Jahrhunderts ein ähnliches Vorhaben mit

19 Zu La production d’espace [1974] (1991) gibt es eine ausführliche Begleitliteratur. Für meine These

dem Raum unternommen haben (vgl. Günzel 2006, 105 f.).

153

28 Ein aktueller Versuch der Einordnung von Stadt

33 Eine weitere implizite Annäherung an das post­

­zwischen „Begriff und Wirklichkeit“ findet sich bei

strukturalistische Denken macht Lefebvre bezüglich

Hoerning 2016.

der „Ideologie der Partizipation“. In Anlehnung an

29 „We therefore here propose a first definition of the

die Arbeiten von Michel Foucault – von dem er zu-

city as a projection of society on the ground that is

dem (ohne zu fragen) den Begriff der Heterotopie

[…] perceived and conceived by thought, which

übernimmt (oder war es umgekehrt?) – bezeichnet

­determines the city and the urban.“ (1996a, 109) 30 „… ensemble of differences between cities.“ (1996a, 109) 31 Auch an dieser Stelle lässt sich auf Marchart zurückgreifen, der als die „Hauptmerkmale avancierter

Lefebvre diese Ideologie als Steuerung des Selbst („self-management“), die eine „Vereinnahmung von „Betroffenen“ urbanistischer Planung zum kleinen Preis“ ermöglicht (1996a, 145). 34 Allerdings zögert Lefebvre bei der Zuweisung eines

­Sozialwissenschaften“ folgende vier Umstellungen

ontologischen Status seiner voids. Letztlich schei-

benennt: a) von Notwendigkeit auf Kontingenz,

nen es doch nur Raumcontainer zu sein, die die Ele-

b) von Identität auf Differenz, c) von Substanz auf

mente des Möglichen zwar enthalten, aber nicht die

Relation und d) die Rückkehr der Objekte (2013,

Macht, sie auch zu versammeln. Nur die „sozialen

335). 32 In einem etwas späteren Text gelingt Lefebvre eine möglicherweise überzeugendere Annäherung an die

Kräfte“ wären letztlich fähig, die städtische Gesellschaft zu verwirklichen (1996a, 156). 35 Denn auch hier ist vor Vereinfachungen zu warnen.

Frage nach dem konstitutiven Widerspruch. Dort

Wie der Moment, so lebt auch der void gerade von

fragt er, ob nicht „der entscheidende Gegensatz in

seiner Unvollkommenheit. Beide wollen „in Freiheit

einem ständigen Konflikt zwischen der Bemühung

total sein“ (Lefebvre 1975c, 185) und erschöpfen

um die Sicherung der Kohärenz des gesellschaftli-

sich, sobald sie verwirklicht/besetzt werden. Die

chen Ganzen und dem ständigen Wiederauftauchen

Besetzung des unbesetzten voids ist zugleich sein

der Gegensätze auf allen Gebieten“ besteht (1972,

Verlust und daher ein Augenblick des Scheiterns.

110).

154

3 Postfundamentalistische Fundamente

155

3.1

Planung und Theorie: agon

Die Theorie des Postfundamentalismus gründet auf den Konzepten von Antagonismus und Kontingenz, die dort als die eigentlichen Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung benannt werden. Deshalb rücken im dritten Teil meiner Studie diese Begriffe ganz in den Vordergrund. Nähern möchte ich mich den beiden postfundamentalistischen Fundamenten jedoch nicht sofort und unmittelbar, sondern gewissermaßen durch die Hintertür, und zwar ausgehend vom urbanistischen Feld. Auf diesem heterogenen Gebiet hat sich seit etwa den 1960er-Jahren insbesondere im englischen Sprachraum die Planungstheorie als eigener, abgrenzbarer Teilbereich etabliert, ausgestattet mit eigenen Institutionen und Narrativen. Planungstheorie bildet eine Schnittstelle zwischen dem anwendungsbezogenen Urbanismus – der Stadtplanung, dem Städtebau, der sozialwissenschaftlichen empirischen Forschung – und eher analytisch interessierten Stadtforschungsgebieten wie den urban studies. Planungstheorie möchte beide Ansätze bedienen, also sowohl Planung als auch Theorie. Aus meiner Perspektive ist die planning theory nicht zuletzt deshalb interessant, weil hier seit geraumer Zeit eine gewisse Zuwendung zu poststrukturalistischen Denkansätzen zu beobachten ist. Die Affinität der Planungstheorie zum poststrukturalistischen Denken drückt sich zum einen darin aus, dass führende Protagonisten der Disziplin seit einigen Jahren entsprechende ­A nsätze von Lacan, Laclau oder Deleuze bemühen (vgl. Hillier 2002; Gunder 2003; Purcell 2013). Zum anderen und vor allem zeigt sich die Verbindung zum Poststrukturalismus darin, dass sich in der Planungstheorie unter dem Ausdruck der „agonistischen Planung“ ein neues Metaziel durchgesetzt zu haben scheint, das auf dem insbesondere von Chantal Mouffe bewegten ­Begriff des Agonismus rekurriert. Mouffe konzipiert den agon – den aus dem Griechischen übernommenen Ausdruck für einen regelgeleiteten Wettkampf – als Gegenstück zur Habermas’schen Idee des idealen Kommunikationsraums. In etlichen aktuellen Beiträgen der Planungstheorie wird gegenwärtig dafür plädiert, das bisherig dominierende Modell der kommunikativen Planungstheorie durch das Konzept des agon zu ersetzen. Damit rücken die Konzepte 156

Agonismus/Antagonismus und Kontingenz ganz nah an den normativen Kern­bereich des Urbanismus. Mein Ansatz ist es nun, zu rekonstruieren, aus welchen Gründen und auf welche Weise es zum Aufstieg des agon zum derzeitigen Leitmotiv der Planungstheorie gekommen ist. Zudem werde ich eine Kritik der ago­n istischen Planungstheorie versuchen, die zeigen soll, dass das Konzept als ­B­­e­schreibung von institutioneller Planung zwar tatsächlich geeignet ist, dass aller­d ings der Ansatz, agonistische Planung zur Programmatik und zum Leit­bild zu erheben, eben durch dieses Programmatische einen theoretischen Kurz­schluss produziert.1 Rekonstruktion und Kritik des Konzepts der ago­­nistischen Planung führen dann auf kurzem Wege zu den eigentlichen Fun­da­menten des Postfundamentalismus, nämlich zu den Konzepten von Anta­­gonis­mus und Kontingenz, die in den folgenden Kapiteln untersucht werden.

• Wie kommt der agon in die Planungstheorie? Was genau ist Planungstheorie eigentlich? Planungstheorie beschäftigt sich auf theoretischer Ebene mit Planung. Sie definiert sich dabei als Teil der Planung (der institutionellen Planung, des Planungsapparates). Bedeutung und Stellenwert des theoretischen Parts von Planungstheorie – also der Bedeutung von Theorie in diesem Kontext – sind umstritten. Planungstheorie beschäftigt sich einerseits mit dem Versuch, eine Theorie der Planung aufzustellen, andererseits mit den Bedingungen und Bedingtheiten, mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten sowie mit den Zielen und Resultaten von räumlicher Planung. Planungstheorie ist in der ­Regel tendenziell bodenständig und häufig – etwa im Vergleich zur Gesellschaftstheorie, die bekanntlich in Richtung Philosophie und Metatheorie tendiert – auch etwas angepasst, was vermutlich wiederum mit der Nähe zum Pla­nungsapparat zusammenhängt. Planungstheorie ist in aller Regel näher an Planung, als – um beim Vergleich zu bleiben – Gesellschaftstheorie an ­G esellschaft. Und zwar in dem Sinne näher, als dass sie traditionell affir­ mativ und positivistisch an ihren Gegenstand herantritt. Die disziplinen­ geschichtlich recht junge Planungstheorie hat in aller Regel die erklärte Absicht, Planung zu ermächtigen und besser zu machen (was immer auch unter 157

„besser“ verstanden wird) und unterscheidet sich dadurch von der Gesellschaftstheorie, die Gesellschaft vor allem verstehen möchte (natürlich möchte auch Sozialtheorie Gesellschaft verbessern, aber weniger per Anleitung, sondern eher durch Erkenntnis). Auf ein inhärentes theoretisches Dilemma der eigenen Disziplin machten in den 1970er-Jahren die Planungstheoretiker Horst Rittel und Melvin Webber (1973) aufmerksam: Planungsprobleme, so Rittel und Webber, sind „bösartige Probleme“ (wicked problems), da sie in einem unauflösbaren Paradox eingelagert sind. Dieses Paradox besteht in der Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Rationalität von Planung – eine Denkbewegung, die bereits eine gewisse Verwandtschaft mit dem poststrukturalistischen Denken vermuten lässt. Rittel und Webber arbeiten heraus, warum die Planung mit bösartigen Problemen zu tun hat. Es könne, so beginnt ihre Aufzählung, keine definitive Formulierung eines Planungsproblems geben: Um ein Problem exakt formulieren zu können, sei das Vorhandensein sämtlicher Informationen erforderlich; die Anzahl an Informationen innerhalb eines sozialen Kontexts werde jedoch laufend größer und verändere dadurch die Ausgangslage (1973, 161). Es bestehe auch keine „Stopp-Regel“ für das Sammeln von Informationen und das Ausarbeiten von Lösungsvorschlägen, da kein logischer Zeitpunkt existiere, damit aufzuhören (1973, 162). Auch gäbe es kein Richtig-oder-Falsch in der ­Planung, sondern höchstens ein Gut-oder-Schlecht; Planungen könnten nicht nach objektiver Richtigkeit, sondern nur nach subjektiver Einschätzung der Betrachter beurteilt werden, die relativ zu ihren differenzierenden Wertesystemen oder ideologischen Filtern Skalen zwischen „gut“ und „schlecht“ benutzen (1973, 162). Weiter wäre eine unmittelbare und endgültige Überprüfungsmöglichkeit nicht gegeben, da die umgesetzte Planung in das Geschehen eingreift und selbst Konsequenzen und Kausalitäten verursacht (1973, 163). Zudem sei es immer möglich, dass sich die Auswirkungen der Planung in der Zukunft noch ändern. Auch sei eine umgesetzte Planung nicht reversibel, da sich deren Auswirkungen nicht zurückdrehen lassen und jeder Versuch signifikant zählt. Im Bereich der Planung gäbe es keine erschöpfend beschreibbare Menge potenzieller Lösungen und die Menge der Kriterien und der Maßnahmen für ein Planungsproblem lasse sich nicht 158

exakt bestimmen. Die zu berücksichtigenden Kriterien würden durch Vereinbarung (und nicht durch logische Beweisführung) festgelegt. Rittel und Webber stellen fest, dass es keine zwei Planungsprobleme gibt, die exakt gleich sind, und das jedes ­Planungsproblem auch Symptom eines anderen Problems ist, das in vielen Fällen auch noch auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt ist (1973, 165). Planungsprobleme ließen sich nie eindeutig und abschließend erklären. Schließlich habe der Planer kein Recht, unrecht zu haben: Planer wollten und sollten die Welt (oder zumindest die Lebensbedingungen) verbessern; erreichten sie dieses Ziel nicht, hätten sie ihre Planung besser gelassen (1973, 166). Planung kann aus diesem Grunde letztlich nicht ausschließlich rational und technisch begründet werden, so das Resultat der Analyse von Rittel und Webber. Ihnen gelingt damit der rational-logische Beleg von der Unmöglichkeit einer in sich geschlossenen rational-logischen objektivistischen Konzeption von Planung. Rittel und Webber dekonstruieren mit ihren Argumenten das objektivistische Grundverständnis der – in den gebräuchlichen Periodisierun­ gen von Planungstheorie meist an die erste Stelle gesetzten (vgl. Bäcklund/ Mäntysalo 2010, 338) – sogenannten comprehensive-rationalist planning theory und untergraben zugleich, auch wenn das unbemerkter geblieben ist, die Grundfeste des traditionellen Urbanismus und seines identitären Wahrheitsanspruchs. Allgemeiner gesprochen zeigen Rittel und Webber in ihrer genüss­ lich vorgebrachten Argumentation, dass erstens das Soziale kontingent ist und dass zweitens Planung diesem kontingenten Feld unabänderlich zugehörig ist. Herausgearbeitet werden dabei gewissermaßen die obstacles épistémologiques (Gaston Bachelard), die Niklas Luhmann als „epistemologische Blockierungen“ der Moderne bezeichnet.2 Als ein Versuch, mit den bösartigen Planungsproblemen – also mit der Kontingenzerfahrung der Planung – umzugehen, kann der von Charles Lindblom formulierte Entwurf einer Wissenschaft des „Muddling Through“ ([1959] 1973) gesehen werden, in der er dem Wahrheits- und Allwissenheitsanspruch der Planer und Urbanisten ein bescheideneres und kontingenzbewusstes „Durch­w ursteln“ entgegensetzt. Zentraler Punkt in Lindbloms Vorschlag ist das Konzept des Inkrementalismus, nach dem in einer Art „trading zone“ 159

(Mäntysalo 2011, 258) des Sozialen eine große Zahl an relativ autonom agierenden, aber vernetzten Akteuren ihre eigenen begrenzten Planungen verhandelt und durchführt, stets konfrontiert mit den permanent wechselnden und in ihrer Gänze nicht überschaubaren sozialen Bedingungen. Dieser Inkrementalismus, der im Grunde vor allem eine treffende Beschreibung der Alltagserfahrung der Planerinnen und Planer lieferte, wird in der planungstheo­ retischen Eigen-Geschichtsschreibung als Bezeichnung für die zweite, die rational-comprehensive planning (theory) ablösende Periode eingesetzt (vgl. Mäntysalo 2011). Die incrementalist planning theory ist ein angenehm zurückhaltendes und pragmatisches Planungsparadigma, aber sie ist vielleicht etwas zu sehr bescheiden. Kritisiert wurde der Ansatz Inkrementalismus in neuerer Zeit dann auch für seinen „naiven Pluralismus“ und einen „Mangel an Vision“, dem ein schwelender Konservatismus inhärent ist (Hillier 2008, 39). Inkrementalismus, in diese Einschätzung mündet die Kritik, sei wenig mehr als die positivistische, marktbasierte und instrumentelle Form einer ­rational-choice theory und würde letztlich „die Dinge genauso lassen, wie sie sind“ (Friedmann 1987, 37).3 Die dritte Phase des als aufsteigende Entwicklungsgeschichte angelegten planungstheoretischen Stufenmodells wird repräsentiert durch das Konzept der kommunikativen und kollaborativen Planung, mit dem sich auf die Demo­ kratietheorie von Jürgen Habermas berufen wird. Der wissenschaftsgeschichtliche Ansatz von Habermas (1990 [1962]) mündet bekanntlich in eine real­politische politikwissenschaftliche Konzeption von Politik als einem Konsensmodell. Der ideale öffentliche Raum ist für Habermas ein Ort des freien, deliberativen Austausches in freier Kommunikation unter Gleichen. Habermas postuliert mit Bezug auf Kant: „In Reinheit stellt sich Welt in der Kommunikation vernünftiger Wesen her.“ (1990, 182) Er verdichtet dieses ­A r­g ument zur programmatischen Forderung an die Institutionen, die sich „zunächst in ihrem inneren Aufbau nach dem Prinzip der Öffentlichkeit“ or­ ganisieren müssten um eine „innerparteiliche bzw. verbandsinterne Demokratie institutionell [zu] ermöglichen – eine ungehinderte Kommunikation und öffentliches Räsonnement [zu] gestatten“ (1990, 310). Mit der Übernahme des Habermas’schen Theorems des idealen Seminarraums vollzog sich, so 160

zumindest lautet das Narrativ der planungstheoretischen Geschichtsschreibung, in der Planungstheorie die Überwindung des Inkrementalismus. Mit ihrem communicative turn ist die Herstellung des idealen Sprechraums zum eigentlichen Ziel der Planungsdisziplin erhoben worden. Dabei wurde aus den Politikwissenschaften das Konzept der „Governance“ als Leitbegriff übernommen und das Prinzip der staatlich gesteuerten Planung erweitert, indem der Planungsgedanke nicht mehr nur durch die kommunalen Verwaltungen exerziert wird, sondern alle und jede in die planerische Aktivität eingebunden werden und die Planung bis in die einzelnen Subjekte hinein verlagert wird. Die institutionelle Planung beschränkte sich mit diesem Selbstverständnis mehr und mehr darauf, einen konsens­orientierten Aushandelsprozess zwischen den verschiedenen Akteuren zu moderieren. Diese Art der kommunikativen Planung erfuhr eine große Akzeptanz unter den praktizierenden Planerinnen und Planern wie in der Planungstheorie und besetzt dort bis heute „eine extrem hegemoniale Position“ (Purcell 2009, 148). Natürlich wurde und wird auch das Paradigma der kommunikativen Planung immer wieder kritisiert, und zwar vor allem im Rahmen der Diskurse zur neoliberalen Stadt. Die fortschreitende Neoliberalisierung der „städtischen politischen Ökonomien“ erfordere dringend, so lautet das entsprechende Argument, eine Kritik des Modells der kommunikativen Planung. Dieses Modell würde nämlich die neoliberale Agenda eher unterstützen als sich ihr widersetzen. Allgemein sei kommunikative Planung „extrem attraktiv“ für die ­g lobal verbreitete neoliberale Ideologie (Purcell 2009, 140). Das an Habermas angelehnte Modell basiere einerseits auf einer Wettbewerbslogik (wirtschaftlicher Wachstum, globaler Wettbewerb der Städte etc.) und andererseits auf „transzendenten ideologischen und utopischen Idealen“ wie „Nachhaltigkeit, Fortschritt und Verbesserung“; letztlich sei Planung selbst Neoliberalismus (Gunder 2010, 308/310). Auch das Konzept der kommunikativen Planung ändere – ähnlich wie der Inkrementalismus – nichts grundsätzlich und stelle auch nichts grundsätzlich infrage. Im Gegenteil würde das an den Anfang ­gestellte Ziel der Konsensfindung (ein Ziel, das die Idee des Konsenses erschafft), von vornherein grundlegende Kritik ausschließen. Kommunikative Planung à la Habermas sei daher tendenziell systemfördernd und eher Teil 161

der herrschenden Verhältnisse als emanzipatorisch ausgerichtet (Gunder 2010, 302). Als Alternative zu einem solchen stabilisierenden Planungsansatz wird eine „radikale gegenhegemoniale Mobilisierung“ vorgeschlagen, die Machtbeziehungen nicht neutralisieren, sondern transformieren möchte (Purcell 2009, 140). Planerinnen und Planer, so lautet das Plädoyer für einen kritischen Planungsansatz, sollten von den bestehenden urbanen Bewegungen und ihren Kämpfen lernen und es bewusst zu ihrem Anliegen machen, solche Bewegungen in ihren Bemühungen zu unterstützen, sich aus der „neoliberalen Wildnis“ zu befreien. Aufgabe sei es, politisch zu mobilisieren: Gegenmacht aufzubauen wäre das vielversprechendste Mittel, einen Beitrag zur Herstellung von demokratischeren, gerechteren und zivilisierteren Städten zu leisten. Planer sollten also den „hegemonialen Kampf gegen Neoliberalisierung“ bewusst aufnehmen, anstatt ihn mit „Träumen zu verschatten“ (Purcell 2009, 160). Diese diskursinterne Kritik des Modells der kommunikativen Planung ist das Einfallstor für poststrukturalistische Einflüsse auf das Gebiet der Planungstheorie. Grundlegend für die Formung von Gesellschaft und damit auch für das Feld von Planung, so wird dabei mit Bezug auf die psychoanalytische ­Sozialtheorie von Jacques Lacan ausgeführt (etwa bei Hillier 2002), sei das Konzept des Mangels und des Realen. Ein solches Zusammenbringen kann das Wesen der Planung gut erfassen. In der Theorie von Lacan ist der Mangel das Reale. Der Mangel/das Reale bilden – meist in „Form des Traumas“ (Lacan 1987, 61) – das ontologische Fundament des Sozialen. Das nicht symbolisierbare Reale ist das „Objekt a“ (vgl. S. 103), das Objekt der Begierde, das, was nicht erreichbar ist und was wegen seiner Unerreichbarkeit das Begehren auslöst und damit das Kraftfeld des Sozialen strukturiert. Und es ist auch Triebkraft eines jeden Versuchs, sich auf rationale und logische (etwa planerische) Weise diesem Fundament anzu­ nähern. Lacan erklärt, „das Verhältnis zum Mangel ist so grundlegend für die Konstitution jeder Logik, dass […] die Geschichte der Logik die ihrer Erfolge ist, ihn [den Mangel] zu maskieren“ (2011, 166). Die Institution Planung lässt sich direkt in diesen Ansatz einordnen. Sie erhält nämlich erst einmal die Auf­ gabe, Mangel und Defizität politisch und technisch zu erfassen und herzu­ 162

stellen. Der fest-gestellte Mangel (etwa der Mangel an Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit oder an Nachhaltigkeit) legitimiert Planung und macht sie notwendig. Planung ist aus dieser Perspektive vor allem dafür da, Mangel durchzusetzen und dann Lösungen anzubieten, ihn zu beheben. Dadurch kommt es erst zu der Implementation (zu einer „begehrlichen Materialisierung“) einer ganzen „public planning policy“ (Stavrakakis 2007a, 306), mit der der Raum für eine Identitätspolitik abgesteckt wird: Der Mangel stimuliert das Begehren und erfordert die Konstitution von Identität mit sozial verfügbaren Identifikationsobjekten wie politischen Ideologien, Konsumtionsmustern oder gesellschaftlichen Rollen. Planung wird also sowohl für die Identifizierung des Problems (für seine Erschaffung) als auch für dessen Lösung verantwortlich. Ein zentraler Punkt der damit aufgerufenen Ideologie ist die Illusion, dass Planer und ihre „technokratischen Lösungen“ dazu in der Lage sind, „jede soziale Krise zu beruhigen“, neutral und objektiv „jeden Antagonismus aufzulösen, alle sozialen Missstände zu beseitigen und jede politische Explosion einzudämmen“ (Stavrakakis 2007b, 144). In diesem Erklärungsansatz findet sich, das ist unschwer zu erkennen, auch meine These von der unbesetzten Stadt. Die Unbesetztheit ist nichts anderes als eine Ausdrucksform von Lacans notwendigem Mangel. Würde die Stadt besetzt und die Mangelsituation dauerhaft beseitigt, würden nicht nur Planung und Urbanismus überflüssig werden, sondern letztlich eben auch die Stadt selbst (als Ort des Mangels und des Begehrens). Deshalb ist die Unbesetztheit eine konstitutive Bedingung von Stadt. Zudem eröffnet der Rückgriff auf das poststrukturalistische Denken innerhalb des planungstheoretischen Diskurses einen neuen Ansatz, Planung zu verstehen und einzuordnen: Auch die Institution der Planung konstituiert sich durch einen konstituierenden Mangel und letztlich durch die Unmöglichkeit, ihr Planungsziel zu erreichen. Das Konsensmodell als aktuell hegemoniales Narrativ der Planung gehört – um weiter die Terminologie von Lacan zu bemühen – zum Ort der Illusion und zum Register des Imaginären.4 Das Konsensziel wird als totalisierender Moment der partizipatorischen Planungstheorie und Planungspraxis identifiziert (Hillier 2002, 265) und der Konsens selbst zum Objekt des Begehrens, das in seiner Unerreichbarkeit der eigentliche Motor der kommunikativen 163

Planung ist.5 Das „ultimative Paradox des Konsens“ ist, dass „Gesellschaft ­zusammengehalten wird vom „eigentlichen Antagonismus“, der die „Schließung zu einem harmonischen, rationalen Ganzen verhindert“ (Hillier 2002, 265). Wie lässt sich mit diesem Paradox umgehen? Wie lässt sich Planung darin ­verorten? Ein Versuch, Antworten auf diese Fragen zu erhalten, findet sich im „Advent der agonistic planning theory“ (Mäntysalo 2011, 266), die im planungs­ theoretischen Stufenmodell auf das kommunikative Modell folgt.6 Zentraler Bezug dabei ist Chantal Mouffes Konzept des Agonismus (vgl. Mouffe 1999 und 2000). Für die poststrukturalistisch interessierte Planungstheorie liefert Mouffe zu einem Zeitpunkt, an dem die kommunikative Planung ihren Zenit überschritten zu haben scheint, ein willkommenes und sogleich adaptiertes Gegenmodell. Der Anfangspunkt von Mouffe ist es, eine zunehmende Ent­ politisierung festzustellen und zu beklagen. Das Politische, so lautet ihre Analyse, werde im späten neoliberalen Kapitalismus durch das Post-Politische ­ersetzt. Mouffe übernimmt damit den von Slavoj Žižek Ende der 1990er-Jahre mit explizitem Bezug auf Jacques Rancière eingeführten Terminus der Postpolitik. Žižek folgt der Konzeption des Politischen als eigener ontologischen Sphäre und erweitert die von Rancière zu diesem Zwecke ausgeführte Typologie (vgl. Michel/Roskamm 2013). Während bei Rancière (2002 [1995], 73 f.) Arche-Politik auf den Ursprung von polis und politike verweist, Para-Politik durch eine Polizei- und Wettstreitlogik bestimmt wird und Meta-Politik das Modell eines wissenschaftlich-technologischen, instrumentellen Verfahrens repräsentiert, basiert Žižeks Begriff von Postpolitik auf dem Modell der geschäftlichen Verhandlung und des „strategischen Kompromisses“ (Žižek 2010, 272 f.). Postpolitik ist für Žižek die Bezeichnung des Typus des Politischen, in dem die „Kollaboration voraufgeklärter Technokraten (Ökonomen, Meinungsforscher) mit liberalen Multikulturalisten“ den „Konflikt globaler ideologischer Entwürfe“ ersetzt (2010, 273). „Über den Prozess des Aushandelns von Interessen“ und „ausgestattet mit dem notwendigen Expertenwissen“, so formuliert es Žižek, wird unter dem Dach von nicht mehr hinterfragbaren Grund­a nnahmen ein mehr oder weniger allgemeiner Konsens erreicht (2010, 273). „Die Postpolitik 164

plädiert folglich für die Notwendigkeit, die alten ideologischen Unterscheidungen hinter sich zu lassen“ (2010, 273), womit sich auch hier eine Ideologie durch ihr Postulat begründet, sie sei keine (vgl. S. 129). Als post­politisch bezeichnet Žižek damit insgesamt den dominanten „politischen M ­ odus des gegenwärtigen globalen Kapitalismus“ und dessen „liberal-demokratische“ Ideologie (2010, 10). Mouffe folgt dieser These und argumentiert, dass das Modell der deliberativen Demokratie im Habermas’schen Sinne das Postpolitische repräsentiert.7



Für einen Begriff des Postpolitischen bedarf es auch eines Begriffs des Politischen, und diese Notwendigkeit führt zu Mouffes zentraler Referenz auf den gleichnamigen Text von Carl Schmitt (1932). Auf Schmitt wird heute in zahlreichen Debatten der politischen Theorie Bezug genommen, nicht zuletzt mit dem Ziel, einen liberalen, deliberativen und konsensorientierten Politikbegriff herauszufordern. Schmitts Ausführungen üben – trotz oder vielleicht auch wegen der Verstrickungen seines Autors in das nationalsozialistische Regime/ die nationalsozialistische Ideologie, und obwohl Schmitt darüber hinaus einer konservativen Denkschule zugehörig ist – eine große Faszination auf viele Denkerinnen und Denker der poststrukturalistischen politischen Theorie aus, die eigentlich meist einer politisch linken Tradition verpflichtet ist. In Schmitts Werk hat die politische Theorie ein ambivalentes Erbe angetreten. Einerseits ist diese Hinterlassenschaft möglicherweise tatsächlich relevanter denn je (Mouffe 1993, 118) und von „unbestreitbarer Originalität“ (Derrida 2000, 123).8 Andererseits gilt es, bei allen Bezugnahmen auf Schmitt ­u nbedingt auch die Verbindung zu beleuchten, die zwischen diesem Denken des Politischen und jenen Verstrickungen des Nazis und Antisemiten Schmitts in den Nationalsozialismus besteht. Mouffe ist zwar sicherlich zuzustimmen, dass Schmitt ein wichtiger Denker für die politische Theorie ist. Schmitts Involviertsein – nicht nur in den nationalsozialistischen Machtapparat, sondern auch in die nationalsozialistische Ideologie – als moralischen Fehltritt zu kennzeichnen, wird jedoch der erforderlichen Kontextualisierung meines Erachtens nicht gerecht. Seine Nähe zum Nationalsozialismus ist nicht nur eine 165

moralische, sondern sehr wohl auch eine theoretische Angelegenheit. Daher ist es unvermeidbar, die Frage zu stellen, was in Schmitts Theorie das nationalsozialistische Denken affiziert hat (und umgekehrt). Gerade in Feldern, in denen die Tradition der politischen Theorie weniger präsent ist, also etwa in empirisch orientierten Sozialwissenschaften wie den urban studies, ist aus diesem Grunde der Import des Schmitt’schen Denkens des Politischen besonders dazu verpflichtet, sich dessen problematischer Geburtskanäle bewusst zu machen. Die griffige Formel, mit der Schmitt „die Frage nach dem spezifischen Inhalt des Politischen“ (1932, 31) beantwortet, ist die Gleichsetzung des Politischen mit dem Gegensatz von Freund und Feind: „Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich also theoretisch und praktisch an der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden.“ (Schmitt 1932, 54) Schmitt bereitet seine These vor, indem er postuliert, dass eine „Begriffsbestimmung des Politischen“ nur durch „Aufdeckung und Feststellung der spezifisch politischen Kategorien“ und deren „irreduziblen Kriterien“ gewonnen werden kann (1932, 13). Schmitt unterscheidet streng dichotomisch zwischen gut und böse als Kategorien des Moralischen, schön und hässlich als die Ästhetik konstituierend, nützlich und schädlich beziehungsweise rentabel und nicht-rentabel als Essenz des Ökonomischen. Das Politische (hier auf eine Ebene gebracht und verhandelt mit dem Moralischen, der Ästhetik und dem Ökonomischen) erhält dagegen die Zuordnung „Freund und Feind“ (1932, 14). Schmitt definiert vor allem, was der Feind ist: der Andere, der Fremde. Er erläutert mit unheilvollem Duktus, dass zu bestimmen sei, „ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.“ (1932, 15) Zum einen ist die „seinsmäßige Wirklichkeit von Freund und Feind“ als Grundbestimmung des Politischen genau der Punkt, dem Schmitts Text seine andauernde Aktu­a lität verdankt. Schmitts wiederholter und wiederholender Bezug auf das „Seinsmäßige“ bringt seine Begriffsbestimmung (des Politischen) nämlich auf eine ontologische Ebene – auf die Ebene der „Wissenschaft vom Sein in ­seiner ­Gesamtheit“ (Marchart 2010b, 149) – und grenzt ihn gegen den „ungenaue[n], 166

liberale[n] Begriff des „Sozialen“ ab (Schmitt 1932, 30). Dem Politischen steht bei Schmitt nicht nur eine exponierte, sondern die führende Rolle zu, es ist dem „Wesen nach die maßgebende Einheit“ (1932, 31). Das Politische als „erste Philosophie“ und als Gegenspieler des Sozialen zu bestimmen, sind Thesen, die ihren Wiederklang in den gegenwärtigen Debatten der politischen Philosophie haben. Zum anderen ist eine solche „seinsmäßige Wirklichkeit“ aber auch genau die Verbindung, die Schmitt für den Nationalsozialismus interessant machte (oder: die den Nationalsozialismus für Schmitt interessant gemacht hat). Denn der Fremde und der Andere sind Kategorien, die für natio­na­l is­ tische, völkische und schließlich rassistische Ansätze nicht nur begriffliche Grundbedingungen sind, sondern in den 1930er-Jahren einen diskursiven Höhe­punkt erlebten, auf dem der Siegeszug der nationalsozialistischen Bewegung aufbaut. Schmitt betont, dass zum „Begriff des Feindes“ der „Begriff des Kampfes“ und der Begriff des Krieges gehören (1932, 20). Schmitt ist sich dabei vollkommen bewusst, dass solche „terminologische Fragen“ zu „hochpolitischen Angelegenheiten“ werden (1932, 18). Mehr noch, nach Schmitt erhalten die Begriffe Freund, Feind und Kampf ihren „realen Sinn“ gerade dadurch, dass sie „insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten“; „der Krieg“, so formuliert Schmitt weiter, „folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ (1932, 20). Nur wenn es „wirklich Feinde in der seinsmäßigen Bedeutung“ gibt, so lautet sein Argument, sei es sinnvoll, aber nur „politisch sinnvoll“, sie „nötigenfalls physisch abzuwehren und mit ihnen zu kämpfen“ (1932, 37). Das Politische ist für Schmitt damit letztlich nichts anderes, als die Möglichkeit, Krieg zu führen, einen Krieg, der zwar nicht permanent andauern, aber immer als letzte Möglichkeit vorhanden sein muss. Schmitts Bestimmung des Politischen als die Möglichkeit, Krieg zu führen, entspricht der Konzeptualisierung des Konflikts als zentrale Instanz des Sozialen und ist die Verbindungslinie zu Mouffes Kon­ zept des agon. Er erklärt, dass das, „worauf es ankommt“, immer „nur der Konfliktfall“ ist (1932, 27). Schmitt bedient zudem die Ablehnung des Liberalis­ mus und des Konsensdenkens allgemein, wobei er die These der Postpolitik fast wörtlich antizipiert. Eine „endgültig pazifizierte Welt“ ergibt nach Schmitt 167

„jenen idyllischen Endzustand der restlosen und endgültigen Entpolitisierung“ (1932, 42), eine „Welt ohne Politik“ (1932, 23). Auch bei diesem Argument klingt allerdings ein völkischer Grundtenor an: „Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk.“ (1932, 41) Schmitts Ablehnung des deliberativen Konsenses als politisches Leitmotiv geht einher mit einer auch heute anschlussfähigen Kritik der Vorherrschaft des Ökonomischen, die er als eines „der wenigen wirklich undiskutierbaren, unbezweifelbaren Dogmen dieses Zeitalters“ bezeichnet (1932, 59). Das humanistische Denken identifiziert Schmitt dabei als ein „besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansion und in ihrer ethisch-­ humanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen I­ mperialismus“ (1932, 42). Sämtliche liberalen Begriffe würden sich „zwischen Ethik (‚Geistigkeit‘) und Ökonomik (Geschäft)“ bewegen und von diesen polaren Seiten her das Politische als eine Sphäre der „erobernden Gewalt“ zu beseitigen ­suchen. Dabei diene der Begriff des Rechtsstaates „als Hebel“ und der Begriff des Privateigentums bilde „das Zentrum des Globus“, dessen „Pole – Ethik und Ökonomik – nur die gegensätzlichen Ausstrahlungen dieses Mittelpunktes sind“ (1932, 58). Schmitt bettet seine Bestimmung des Politischen also ein in eine scharfe Kritik der pluralistischen Theorie – an einem liberalen Individualismus, in dem alle Fragen und Konflikte vom Individuum entschieden werden – sowie am Gesellschaftsbegriff selbst (1932, 32). In jeder „typisch libe­ ralen Äußerung“ würden sich das „ethisches Pathos“ und die „materialistisch-­ ökonomische Sachlichkeit“ verbinden und dabei jedem politischen Begriff „ein verändertes Gesicht“ geben (1932, 58). Als Beispiel für seine These nennt Schmitt die Umwandlung des Kampfes in die Begriffe „Konkurrenz und Diskussion“ (1932, 58).9 Dass Mouffe das Denken von Schmitt an den Anfang ihrer Ausführungen stellt, ist natürlich selbst eine Positionierung. Sie übernimmt einige der zentralen Punkte von Schmitt: zunächst die eigentliche Frage nach dem Wesen des Politischen, dann die Definition des Politischen als Sphäre von antago­ nistischen Kräften, das Primat des Politischen und schließlich die Kritik von 168

Humanismus und Liberalismus. Das Problem für Mouffe ist jedoch, dass sie eine demokratische politische Theorie begründen möchte, mithin ein Ziel, das Schmitt nicht verfolgt. Deshalb muss Mouffe sich an einem bestimmten Punkt von den Thesen Schmitts distanzieren. Ihr Argument dabei ist, dass Schmitt zwar zeigen könne, dass der modernen Demokratie ein paradoxer Moment inhärent ist, dass er aber die wahre Bedeutung dieses Moments nicht begreifen würde. Schmitt würde nämlich die pluralistische Demokratie als „widersprüchliche Kombination unvereinbarer Prinzipien“ konstituieren: auf der einen Seite den deliberativen Konsens als das Ziel demokratischer Politik, auf der anderen Seite die antagonistischen Kräfte als das Wesen des P ­ olitischen (1993, 133). Der Widerspruch zwischen diesen beiden Prinzipien würde bei Schmitt zu der Erkenntnis führen, dass „liberale Demokratie eine nicht praktikable Regierungsform“ sei (1993, 133). Der springende Punkt bei Mouffe ist es nun, dieses Argument umzukehren und zu erklären, dass genau das wider­ sprüchliche Verhältnis zwischen einer „Logik der Identität“ (des Konsenses) und einer „Logik der Differenz“ (des Antagonismus) die Demokratie konstituiere, dass gerade die Spannung zwischen Identitäts- und Differenzdenken das Wesen der pluralistischen Demokratie ausmache (1993, 133). Eine solche Spannung sei daher keineswegs zu beklagen, so argumentiert Mouffe weiter, sondern beide Logiken sollten samt ihrer Widersprüche begrüßt werden. Das Ziel müsse sein, beide Ansätze in ihrer Widersprüchlichkeit zu vertei­d igen, und nicht, sie zu beseitigen. Die durch das Verhältnis von Konsens zu ­A ntagonismus produzierte Grundspannung sei die „beste Garantie dafür, dass das Projekt der modernen Demokratie lebendig bleibe“ (1993, 133). Der „Wunsch, die Widersprüche aufzulösen“, würde dagegen zur „Eliminierung des Politischen und zur Zerstörung der Demokratie“ führen (1993, 133). Als demokratietheoretischen Alternativentwurf bringt Mouffe daher den Ansatz des Agonismus in Stellung. In ihrer Auslegung steht der agon zwischen den beiden Polen harmonische Eintracht und unversöhnlicher Kampf. Ago­ nismus wird somit zum Bindeglied zwischen Antagonismus und Konsens, also zwischen den beiden hauptsächlichen Erklärungsangeboten über das We­ sen des Sozialen. Mouffe möchte entgegen dem postpolitischen Konsens-­Ideal die Dimension des Konflikts als grundlegendes Prinzip des Sozialen bewahren 169

und verankern, allerdings ohne den Antagonismus/Konflikt dabei als absolut oder unversöhnlich zu setzen. Der agonistische Konflikt soll als Wettstreit funktionieren, bei dem es zwar gegnerische und vielleicht auch unvereinbare Positionen und Interessen gibt, in dem sich die Gegner aber an gemeinsame Regeln halten und insofern gegenseitig akzeptieren, die Legitimität der jeweils anderen Haltung anerkennen. Mouffe formuliert, dass die eigentliche Herausforderung der Demokratie nicht darin bestehe, einen allgemeinen rationalen Konsens zu erreichen (das wäre ein Ding der Unmöglichkeit). Aufgabe sei es dagegen, erstens die Tatsache des Antagonismus als Grund des Sozialen anzuerkennen und zweitens diesen grundlegenden Antagonismus zu entschärfen, ihn zu zähmen und ihn in den regelakzeptierenden Agonismus zu verwandeln.



Bevor ich den Ansatz von Chantal Mouffe genauer betrachte, möchte ich mir anschauen, wie Friedrich Nietzsche den Begriff des agon aus der Antike in die Moderne importiert. Nietzsche ist für das agonistische Denken deshalb wichtig, weil sich viele der Denkerinnen, die sich mit dem Konzept beschäftigen, auf dessen Zugang berufen. Nietzsche beschäftigt sich insbesondere in dem nachgelassenen Text Homer’s Wettkampf ([1872] 1973) mit der Beschaffenheit des agon. Nietzsche eröffnet seine Reflexion mit einem Gedanken über das Verhältnis von Mensch und Natur. Unter Humanität würde meist das verstanden, „was den Menschen von der Natur abscheidet und auszeichnet“ (1973, 277). „Eine solche Abscheidung“ gäbe es „in Wirklichkeit“ aber gar nicht, „die ‚natürlichen‘ Eigenschaften und die eigentlich ‚menschlich‘ genannten“ seien nämlich miteinander „untrennbar verwachsen“ (1973, 277). Nietzsche verweigert also die saubere Unterscheidung in einen wilden, rohen biologischen und einen humanen aufgeklärten und gesitteten Bereich. Zudem bringt er beide Elemente in eine unauflösbare Umklammerung. „Der Mensch in seinen höchsten und edelsten Kräften“ sei „ganz natur“ und trage den „unheimlichen Doppelcharakter an sich“ (1973, 277). Mehr noch, „seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen“ wären der „fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität, in 170

Regungen Thaten und Werken hervorwachsen kann“ (1973, 277). Nietzsche hat einen Sinn für das Abgründige des Menschen und seiner Gesellschaft. Seinen eigentlichen Punkt zum agon macht Nietzsche mit einer Reflexion über die Griechen, die „humansten Menschen der alten Zeit“, die dennoch (oder deswegen) einen „Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust an sich“ gehabt hätten (1973, 277). Durchbohrte Füße, lebend an einen Wagen gebundene Leiber, Hinrichtung der gesamten männlichen Bürgerschaft: „Der Grieche“ erachtete „ein volles Ausströmenlassen seines Hasses als ernste Nothwendigkeit“ (1973, 278). Nietzsche glaubt, den Grund für diese notwendigen Grausamkeiten in der vorhomerischen Welt zu finden, auf dem geschichtlichen Grund, oder besser, im geschichtlichen Abgrund. Was dort verborgen ist, ganz am Anfang der griechischen Kultur, beschreibt Nietzsche wie folgt: „Als der Reisende Pausanias auf seiner Wanderschaft durch Griechenland den Helikon besuchte, wurde ihm ein uraltes Exemplar des ersten didaktischen Gedichtes der Griechen, der Werke und Tage Hesiods gezeigt, auf Bleiplatten eingeschrieben und arg durch Zeit und Wetter verwüstet. Doch erkannte er soviel dass es, im Gegensatz zu den gewöhnlichen Exemplaren, an seiner Spitze jenen kleinen Hymnus auf Zeus nicht besass, sondern sofort mit der Erklärung begann ‚zwei Erisgöttinnen sind auf Erden.‘“ (1973, 280) Diese doppelte Göttin des Streits ist nach Nietzsche „einer der merkwürdigsten hellenischen Gedanken“ überhaupt „und werth dem Kommenden gleich am Eingangsthore der hellenischen Ethik eingeprägt zu werden“ (1973, 280). Nietzsche zitiert Pausanias, nach dem beide Erisgöttinen ganz unterschied­ liche Gemütsarten haben. Die eine – „die ältere“, die, die „die schwarze Nacht“ gebar – fördere den „schlimmen Krieg und Hader, die Grausame!“; „kein Sterb­ licher mag sie leiden“ (1973, 280). Die andere Eris wäre im Gegenteil beliebt und lobenswert und treibe „auch den ungeschickten Mann zur Arbeit“ (1973, 280). Sie sei dafür verantwortlich, dass „der Nachbar […] mit dem Nachbarn“ wetteifert (1973, 280), sie verursache Neid und Eifersucht und bringe den Laden erst in Schwung. Auch in späteren Texten kommt Nietzsche auf das Thema 171

zurück und umschreibt den harten, kalten, grausamen, gefühls- und gewissenslosen, gründlich und lange mit Blut begossen Untergrund des Sozialen, von dem das „Raubthiere ‚Mensch‘“ entstammt. Als Wahrheit, so Nietzsche in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral, wäre nun gesetzt, dass es „Sinn aller Cultur sei, aus dem Raubthiere ‚Mensch‘ ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier herauszuzüchten“ ([1887] 1968a, I §11). Nietzsche ist – wird in seinem Text sehr deutlich – alles andere als ein Freund dieser Strategie und polemisiert gegen eine solche „krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisirung“ (1968a, II §7). Nietzsches Texte beschreiben/erschaffen einen agon, der vor allem zwei ­Eigenschaften hat. Zum einen ist er doppelgesichtig. Das Grausame, Konflikt­ hafte, Unzähmbare – der Antagonismus – ist im agon enthalten, es ist seine Voraussetzung und seine Wiege. Der agon sublimiert den Antagonismus, er versucht es zumindest. Tief unten brodelt es aber weiter. Nietzsche hat ein Gespür für die grausamen Gespenster, die dieser Tiefe entsteigen, und er feiert den agon nicht als Sieg über die dunkle Seite. Im Gegenteil, er leuchtet den weiter bestehenden Abgrund aus und besteht darauf, dass dieser konstitutiv ist für den Wettkampf und seinen Ort. Nietzsches agon zeichnet sich gerade durch seine archaische und nicht-einhegbare Seite aus, und er ist untrennbar mit dem Antagonismus verbunden. Agon und Antagonismus, so das Resultat von Nietzsche, sind Vor- und Rückseite ein und desselben Dings. Zum anderen zeigt Nietzsche, was den agon bewegt, nämlich Neid, Eifersucht und Groll. Er wendet sich damit gegen das Narrativ im zeitgenössischen Humanismus, in dem diese Eigenschaften – nach Nietzsches Darstellung anders als bei den Griechen – negativ besetzt sind. Er möchte Neid und Ehrgeiz dagegen legitimieren (nicht: zähmen) und zeigen, dass der neidgetriebene Wettkampf mit seinen vorhomerischen Geistern, die in ihm hausen, notwendig für das Gedeihen der Gesellschaft (der Stadt!) ist.10 Den agon selbst idealisiert Nietzsche aber nicht. Im Gegenteil zeigt er dessen Ambivalenz und Nähe zum ursprünglichen konfliktorischen Grauen, welches die sozialen wie die städtischen Funda­ mente ständig umspült und das selbst der Boden ist, auf dem die Fundamente von Gesellschaft und Stadt gründen (vgl. dazu auch Marchart 2013, 223 f.).

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Wie lässt sich ein solcher agon zum Gründungsbild von Planungstheorie ­machen? Tatsächlich lassen sich mit dem Konzept des Agonismus die Bemühungen auf der Ebene des Sozialen erklären, nämlich Antagonismus und Kon­t ingenz als den postfundamentalistischen Fundamenten von Gesellschaft beizukommen. Es lässt sich beschreiben, wie in der Politik und in der ­Planung versucht wird, Kontingenz zu verdrängen und Antagonismus zu domestizieren. Der agon ist vor allem das Ergebnis von Sublimierung – und „Sublimierung ist, wie üblich, ein riskantes Geschäft“ (Marchart 2013, 223). Der agon sublimiert den grundlegenden Antagonismus und wird damit (in dieser Aktivität) zu einer strukturellen Basis des Sozialen.11 Der Antagonismus ist im agon immer anwesend; Agonismus ist der Name für das Bemühen, den Antagonismus zu zähmen. Ein solches Zähmen ist notwendig für den Versuch, eine geordnete Gesellschaft zu errichten, ein soziales Gefüge, an dem alles an seinem Platz ist. Politik allgemein und Planung im Besonderen sind die hauptsäch­ lichen Instrumente für die Herstellung einer solchen Ordnung. Die Herstellung eines agon als gezähmtem Antagonismus ist daher in der Tat eine gute Beschreibung für die Funktionsweise von Planung. Politik und Planung verfolgen stets das Ziel, Antagonismus einzudämmen (zu beherrschen, zu unterdrücken). Tatsächlich kann mit dem Begriff des agon also eine Planungs­ theorie ausgeschildert werden, und es trifft zu, dass Planung immer ein agonistischer Versuch ist (Hillier 2002, 268). Die eigentliche Pointe der poststrukturalistischen These ist es nun aber, dass die Verwirklichung dieses Versuches notwendig scheitern muss. Deshalb wird der Zugang von Chantal Mouffe an dem Punkt prekär, an dem sie das Erklärungsmodell zur Programmatik wendet. Das macht sie nämlich. Das Zähmen des Antagonismus zum Agonismus ist das, was sei als Ziel für demokratisches Handeln vorschlägt. Es macht dabei einen erheblichen Unterschied, ob der agon als analytischer Begriff oder als programmatisches Ziel eingeführt wird. Die Herstellung des agon als Aufgabe zu konstruieren konterkariert die Theorie des grundlegenden Antagonismus und verdrängt selbst die antagonistische Erfahrung. Bei Mouffe und in der Planungstheorie wird der agon zum Schachspiel, bei dem sich zwei Gegner gegenüberstehen, die sich zwar gegenseitig besiegen, aber nicht vernichten wollen (Purcell 2013, 79). Die Aufgabe, 173

die mit dem Agonismuskonzept gesetzt wird, ist das konfliktorische Brodeln des Sozialen zu einem solchen Schachspiel zu transformieren. Marchart spricht von einer „Gentrifizierung des Antagonismus“, wenn dieser „zu einem […] systemischen Stabilisierungsfaktor“ umgewandelt werden soll (2013, 214). Genau damit haben wir es bei Mouffe und in der agonistic planning theory zu tun. Der antagonistische Spuk wird transformiert zum positiven Beitrag (­Domestizierung) und zur Funktion (Hauptaufgabe der Demokratie). Positivierung und Funktionalisierung von etwas „grundsätzlich Dysfunktionalem“ sind jedoch lediglich Formen einer besonders effektiven Verdrängung (Marchart 2013, 213). Wenn Antagonismus das Wesen des Sozialen ist, dann lässt sich das erkennen, erfahren, in Beziehung setzen. Zähmen lässt sich der Antagonismus in letzter Instanz aber nicht. Antagonismus als ontologische Grundsubstanz zu bestimmen hat – so viel sei im Vorgriff auf das folgende Kapitel gesagt – in den Theorien von Lacan bis Laclau ja gerade den Sinn, auf der Seite des Seins fündig zu werden und damit eine Kategorie jenseits des grundlosen Sozialen zu bestimmen und bereitzustellen. Antagonismus ist Grund und Fundament, aber um Grund und Fundament zu sein – das ist wiederum eine Umschreibung des paradoxen Theorieaufbaus der postfundamentalistischen Über­ legung – kann Antagonismus nicht innerhalb des Reich des Sozialen verortet werden (sonst wäre er konventioneller Fundamentalismus). Den Antagonismus zum agon zähmen zu wollen verkennt die konstitutive Unzähmbarkeit des Antagonismus und damit den Kern des postfundamental/struktural/ marxistischen Denkens. Mouffe manövriert sich mit ihrem Agonismus daher in eine Sackgasse. Ihre Theorie basiert auf einer Konzeption des Politischen als primäre ontologische Kategorie, die zu unterscheiden ist von der Kategorie der realpolitischen Politik: Politik ist das Reich der Planung, der Statistiken und des Sozialen. Das Politische ist ein Seinsmodus, ein para­doxes Fundament erschaffen durch antagonistische und kontingente Kräfte. Das Ziel von Mouffe besteht darin, beide Kategorien zueinander zu bringen, also Antagonismustheorie aus der Sphäre des Politischen in das Reich der Politik zu implementieren. Dieser Transfer scheitert jedoch. Er scheitert deshalb, weil die Antagonismustheorie den Wechsel zwischen den beiden Sphären nicht 174

überlebt. Der gezähmte Antagonismus von Mouffe ist nicht länger antagonistisch. Das Konzept verliert beim Transfer seine konzeptionelle Kraft. Durch das Zähmen verändert die importierte politische Theorie ihren Aggregat­ zustand, das Politische wird zur Politik. Die einzige Möglichkeit wäre es vielleicht, die Zielsetzung agon bewusst und offensiv zum Paradox zu erklären und das Ziel als unmögliches Ziel zu deklarieren. Das würde, bleibt man auf der planerischen/realpolitischen Ebene, aber zu einem wenig wirkungsmächtigen und handlungsfähigen Ziel führen und im hegemonialen Spiel um Machtpositionen kaum überzeugen können. Deshalb gehen auch weder Mouffe noch die Planungstheorie diesen Weg, sondern inszenieren die Zähmung als ein Mögliches, was aber nur eine Verdrängung des Antagonismus im neuen Gewand darstellt. Die Idee des Zähmens, so lässt sich dieser Befund vielleicht noch einmal in anderen Worten ausdrücken, gerät in Konflikt mit der Programmatik, die in dieser Idee eingesetzt wird. Das Programmatische hält den Ort der Macht und den Ort der Stadt nicht frei, sondern besetzt ihn. Es besetzt ihn durch Programm, durch Politik. Es vertreibt das Politische, Antagonistische und Kontingente. Aus urbanistischer Perspektive ist das nicht nur verständlich oder begrüßenswert, sondern notwendig. Aus Sicht einer postfundamentalistischen Stadttheorie kann das Zähmen allerdings nicht funktionieren. Deshalb ist es erforderlich, noch einen Schritt weiter zu gehen.

3.2

Raum und Außen: Antagonismus (I)

In den theoretischen Reflexionen des Postfundamentalismus stehen die Themen Konflikt und Kampf genauso im Zentrum wie in vielen sozialwissenschaftlich orientierten Analysen der critical urban studies. Kampf, Konflikt und Antagonismus markieren eine Transportroute vom Marx’schen Denken zu beiden Wissensbereichen. Allerdings verbindet das Denken des Konflikts nicht nur marxistische und postmarxistische, sondern auch weitere und ganz andere Theorietraditionen des philosophischen Denkens (wie die Theorien von Carl Schmitt, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Michel Foucault). 175

Im Folgenden möchte ich daher ein weiteres Mal fragen: Was ist das eigentlich, Konflikt und Kampf? Warum spielt das Antagonistische im Marx’schen wie im postmarxistischen Denken eine solch zentrale Rolle, und was für eine Rolle ist das genau? Und was hat das alles mit Stadt zu tun? Eine sozialtheoretische Ausarbeitung und Fundierung von Antagonismus findet sich in der politischen Theorie von Ernesto Laclau. Laclau entwickelt seine Antagonismustheorie in mehreren Ausführungen und Anläufen. Für mein hier verfolgtes Vorhaben, die postfundamentalistischen Fundamente zu ergründen, lohnt es sich, zwei dieser Versionen etwas genauer zu rekonstruieren. Zudem möchte ich wiederum auf die Stadt fokussieren beziehungsweise auf die Verbindung von Laclaus Theorie mit dem Begriff der Stadt.12 Was ist das für eine Verbindung? Auf den ersten Blick scheint Laclau auf diesem Gebiet nicht allzu viel beisteuern zu können. Die Stadt und das Städtische tauchen in Laclaus Texten zwar an einigen Stellen auf und bilden dann die Hintergrundfolie für die Ausführungen zu den dort hauptsächlich verhandelten Themen. Ein Stadttheoretiker oder gar ein Urbanist ist Laclau aber mitnichten. Im Laclau’schen Ideengebäude ist die Stadt kein zentraler Begriff, das ­Urbane und Überlegungen, was das eigentlich sein könnte, kommen, wenn überhaupt, nur am Rande seiner politischen Theorie vor. Aus der anderen Richtung betrachtet – aus Perspektive des urbanistischen Feldes – ist die Beziehung Laclau/Stadt jedoch anders zu bewerten. Für die kritische Stadtforschung ist Laclau ein wichtiger Ideengeber, und zwar in ganz verschiedenen Bereichen dieses komplexen Wissensgebiets. In der kritischen Geografie, die schon lange das eigentliche Sammelbecken der critical urban studies ist, hat die Auseinandersetzung mit den Ideen von Laclau sogar eine relativ weit zurückreichende Tradition (vgl. Massey 2007 [1992]), und in neuerer Zeit ist dieser Diskurs auch in die deutschsprachigen Diskussionen eingesickert (vgl. Hölzl 2015; Glasze 2009; Mattissek 2008). In den Debatten der planning theory, von denen gerade berichtet wurde, ist Laclau ein häufig verwendeter Ideengeber. In den in der Stadtforschung derzeit viel vertretenen Debatten der postkolonialen Theorie ist Laclau ebenso ein wichtiger Bezugspunkt, vielleicht ist er diesem Felde sogar zugehörig. Schließlich bietet für den Diskurs zur postpolitischen Stadt, in dem nicht zuletzt auf einen Begriff des 176

Politischen abgezielt wird, die diesbezügliche Laclau’sche Ausarbeitung einen zunehmend diskutierten Ansatzpunkt (vgl. Michel/Roskamm 2013 sowie das gesamte sub\urban-Themenheft zur postpolitischen Stadt). Ich möchte nun zunächst versuchen, einige der für die kritische Stadtforschung zentralen Punkte in der Theorie von Laclau herauszuarbeiten. Dabei ist es naheliegend, nicht mit der Stadt, sondern mit dem Raum zu beginnen. Raum ist ein zentraler Begriff in der kritischen Geografie, und Raum ist auch eine zentrale Kategorie in der Stadtforschung. Stadtforschung begreift sich stets als Raumwissenschaft, für eine Stadttheorie ist Raum so etwas wie das eigentliche Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmal (etwa zu den Gesellschafts­ wissenschaften). Und zum Raum hat Laclau eine ganze Menge zu sagen. Der Schlüssel zu einem Verständnis des hier ausgebreiteten Raumbegriffs ist das „konstitutive Außen“, das zu Recht im Zentrum der geografischen Kontroversen der Sozialgeografie mit und über Laclau steht. Aus diesem Grund steht die Konzeption des konstitutiven Außen auch im Mittelpunkt meiner ersten Annäherung an das Verhältnis zwischen Urbanismus und der politischen Theorie von Laclau. Im zweiten Schritt (im darauffolgenden Kapitel) untersuche ich eine weitere Konzeption, die ein konstitutives Außen beinhaltet, nämlich Laclaus Begriff der sozialen Heterogenität. Diese Analyse führt dann zurück zum Städtischen und zu der Frage, ob Laclau – auf den zweiten Blick – nicht vielleicht doch mehr zur Stadt beizutragen hat, als es zunächst den Eindruck macht.



Die wiederkehrende Prämisse in den Texten von Laclau ist es, dass der Grund für die Entwicklung der sozialen Kräfte nicht innerhalb eines Systems (einer Gesellschaft, der Produktionsverhältnisse) zu finden sein kann, sondern ­außerhalb gesucht werden muss. Laclau führt aus diesem Grunde den Begriff des „konstitutiven Außen“ ein, ein radikales Außen, das gleichwohl als Zielpunkt und als Antriebskraft für alle sozialen Konstituierungen konzipiert ist (1990, 84). Das Laclau’sche Raumkonzept – genau darum handelt es sich hier – baut auf den in den 1950er- und 1960er-Jahren ausformulierten Überlegungen zum 177

Raum in der Phänomenologie und in den Sprachwissenschaften auf. Jacques Derrida, auf den sich Laclau immer wieder bezieht, reflektiert das Außen vor allem in seinen linguistisch ausgerichteten Arbeiten. Das Außen und das Innen, so lautet Derridas Zugang, ist anhand der Beziehungen zwischen Sprechen und Schreiben zu bestimmen. Die absolute „Exteriorität“ des Schreibens ist konstitutiv für das Innen (das Innen der Sprache, der bezeichneten Bedeutung, der Anwesenheit selbst). Das Außen unterhält dabei ganz allgemein eine Beziehung mit dem Innen, die jedoch selbst nicht äußerlich ist. Die ­Be­deutung des Außen ist stets im Inneren präsent, gefangen außerhalb des ­Außen (nämlich im Innern) und umgekehrt (1997, 35). In Die Schrift und die ­Differenz (2005 [1967], 138) baut Derrida diese paradoxale Bestimmung aus. Derrida fragt, warum gerade bei der Umschreibung von vermeintlich nicht-­ räumlichen Verhältnissen so oft das Außen und die Exteriorität bemüht werden und warum es erforderlich ist, gewisse Verhältnisse als nichträumliche Beziehung zu exponieren (wo doch letztlich jede Beziehung räumlich ist). Woher, so Derrida, kommt die Behauptung, dass die Wahrheit des Außen unwahr ist, dass wahre Exteriorität nicht räumlich und auch nicht außen sein kann? Derridas Thema ist es, die Unentscheidbarkeit zu kennzeichnen, und zwar genauso die Schwäche des Innen-Außen-Denkens wie dessen Unvermeidbarkeit: die Ver­geblichkeit, Wörter wie innen, außen, innerhalb und außerhalb zu vergessen oder sie mit einem Bann zu belegen. Jeder Versuch, Sprache vom Sprechen des Innen und Außen zu entwöhnen, so resümiert Derrida, ist zum Scheitern verurteilt (2005, 140). Henry Staten schlägt in seiner Studie Wittgenstein and Derrida (1986) dann den Begriff des konstitutiven Außen vor. Dieser Ausdruck liegt bei Derrida zwar bereits in der Luft, aber er ist noch nicht expliziert. Genau das holt Staten nach. Er erklärt, dass Derrida das Außen als „notwendig für die Konstitution eines jeden Phänomens“ betrachtet, „als Bedingung für die Möglichkeit eines Innen“ (1986, 16). Dadurch wird es konstitutiv. Staten führt aus, dass das konstitutive Außen nichts Zufälliges oder Versehentliches hat, sondern dass es sich gerade durch seine unbegrenzte Notwendigkeit auszeichnet. Das Außen als „Nicht- oder Anti-Substanz verletzt dabei bewusst jene Grenzen der Positivität, mit denen die klassische Philosophie ihr Seinskonzept schützen 178

möchte“ (1986, 18). Das Nicht-Sein des Außen befällt das Sein, infiltriert es und wird schließlich zur „dekonstruktiven Alternative des fundamental-philosophischen Konzepts und dessen hauptsächlichen und unantastbaren Grenzziehungen von Einheit und Selbstidentität“ (1986, 23). Das Außen wird somit zum Symbol des nicht schließbaren Raums und der nicht abschließbaren Gesellschaft (1986, 17). In dieser Traditionslinie verortet Laclau sein Modell. Seine gesamte politische Theorie basiert auf der philosophischen Provokation des konstitutiven Außen. Der Grundgedanke bei Laclau lautet, dass jegliches „Bedeutungssystem“ durch ein Außen konstituiert ist, „jeder Diskurs, jede Identität und jede Struktur“ (Marchart 1999): Sämtliche Bedeutungssysteme haben ein Außen als Gründungsbedingung. Nach Laclau ist es solchen (allen) Bedeutungssystemen (Diskursen, Identitäten, Systemen, Gesellschaften) nicht möglich, sich vollständig zu stabilisieren, und zwar deshalb nicht, weil sie auf das radikal andere Außen verwiesen sind (1990, 18). Auf der einen Seite drängt jedes Bedeutungssystem (das Innen) dahin, sich dem konstitutiven Außen anzunähern (1990, 35); auf der anderen Seite ist es aber für das Innen unmöglich, selbst zum Außen zu werden. Das konstitutive Außen wird zum einen die Ursache dafür, dass die Bedeutungssysteme sich um Stabilisierung bemühen, zum anderen ist es aber auch gleichzeitig der Grund, dass eine vollständige Stabilisierung des Systems nicht möglich ist. Das konstitutive Außen entfacht damit auf zweierlei Weise die Antriebskräfte, die jegliche Konstitution des Innen bewirken. Einerseits ist das Außen das Ziel jeder sozialen Identifikation – allerdings ein Ziel, was unmöglich zu erreichen ist. Andererseits ermöglicht jedoch das Außen erst die Bemühungen, das unmögliche Ziel anzustreben. Diese Doppelbewegung – das Auslösen eines Bemühens und die Verunmöglichung desselben Bemühens – ist die Quelle des Antagonismus (vgl. auch Laclau 2012, 111). Die dabei ausgelösten Stabilisierungen und Destabilisierungen werden von Laclau als Sedimentation und Dislokation bezeichnet. Die langfristig unmögliche Konstitution des Innen (als Außen), so erklärt Laclau, könne kurzzeitig durchaus erfolgreich sein: in Form von Sedimentationen (1990, 35). Sedimentationen sind diskursive und/oder materielle Setzungen, Ablagerungen, die durch Wiederholung und Routinisierung entstehen, sie sind (zeitweise) 179

gelungene Fixierungen von Bedeutung und damit auch der Name für das Ergebnis solcher Fixierungen, also von (vermeintlicher, behaupteter) Objektivität. Sedimentationen sind das, was in einem Diskurs als objektiv gilt. Die Kräfte, die sich gegen die Sedimentationen richten (die die Verfestigungen entfestigen), erhalten von Laclau den Namen Dislokation (1990, 21). Dislokationen gefährden jede Identität, sie reaktivieren die Verbindung zum Außen, machen die identitäre Existenz unmöglich, schaffen aber zugleich den Grund, für den nächsten (und erneut zum Scheitern verurteilten) Versuch. Sie zerstören Bedeutungssysteme und schaffen gleichzeitig Platz, Luft und Raum für die Konstitution von neuen Identitäten und neuen Sedimentationen. Sedimentation und Dislokation werden von Laclau nun mit weiteren Namen belegt, nämlich als „Politik“ (Sedimentation) und als „das Politische“ (Dislokation) bezeichnet. Politik ist dabei der Versuch der Stabilisation und der Schließung, der Etablierung und der Verfestigung, sie ist die Sphäre der „Realpolitik“, der staat­l ichen Organe, der Verwaltung, der Planung, der Statistik. Der Politik gegenüber steht das Politische. In Laclaus Modell der stabilisierenden und destabilisierenden Kräfte ist das Politische die Gegenbewegung zur Sedimentation; es de-fixiert Bedeutung, hinterfragt sicher geglaubte Positionen, kehrt das Unsichere hervor und torpediert Routinen. Das Politische ist: Störung, Unterbrechung, Ereignis. In einem solchen Rahmen entwickelt Laclau seinen Raumbegriff, der sich von sozialwissenschaftlichen und geografischen Setzungen grundlegend unterscheidet. Ein Raum ist für Laclau genauso ein Bedeutungssystem wie ein Diskurs, eine Identität und ein System; und er unterliegt den gleichen antagonistischen Kräften: den Dislokationen. Die konstitutive Natur der Dislokationen führt dabei zu der Krise aller Räumlichkeit und letztlich zur Unmöglichkeit jeglicher Repräsentation (1990, 78). Das Streben der Bedeutungssysteme nach Stabilisierung nennt Laclau da­ gegen „Verräumlichung“ (1990, 41). Verräumlichung äußert sich in einer auf Wiederholung beruhenden artikulatorischen Praxis, die zum Ziel hat, Bedeutung in einer hierarchisierten Struktur zu fixieren oder – noch eine andere Bezeichnung für das gleiche Bemühen – Räume herzustellen. Eine solche ­F ixierung kann jedoch (aus dem gleichen Grunde wie das Innen nicht zum 180

Außen werden kann) letztlich nicht gelingen. Verräumlichung ist für Laclau damit der permanente (notwendige und notwendig scheiternde) Versuch, Räume herzustellen. Laclaus gesamte Konzeption kann daher auch als Raum­ theorie gelesen werden. Denn das Außen ist eine Antwort auf die Frage, die in der Philosophie seit ehedem gestellt wird: Was befindet sich außerhalb des Raums? Die Antwort von Laclau (der diese Frage allerdings nicht stellt) wäre: das konstitutive Außen. Das Außen bewohnt aber auch das Innen. Diese Wendung ist prägend für Laclaus Raumbegriff, denn dadurch vollzieht sich eine entscheidende Verschiebung: Der Raum (das konstitutive Außen) wird in das Innen der Bedeutungssysteme gerückt, der Raum wird zum Innen, das durch das Außen konstituiert wird. Laclaus konstitutives Außen ist also auch und nicht zuletzt ein Raumkonzept, mit dem andere explizite und implizite Anschauungen von Raum herausgefordert werden. Laclau betont – und stellt mit dieser Betonung das geografische und/oder ­u rbanistische Raumverständnis auf den Kopf –, dass für ihn auch physischer Raum ein Bedeutungssystem ist (wie Identität, Diskurs etc.) und dass das Kon­zept von Raum den physischen Raum einschließt: Auch physischer Raum ist Raum (1990, 42).13 Physischer Raum ist für Laclau aber nur deshalb auch Raum, weil er gleichfalls an der generellen Form von diskursiver Räumlichkeit Anteil hat (1990, 42). Es geht deshalb nicht um Raum im metapho­r ischen Sinne, nicht um eine Analogie zum physischen Raum: „There is no metaphor here“ (1990, 41). Damit liefert Laclau einen Ausweg aus der geografischen „Raumfalle“: Er denkt Raum als Bedeutungssystem und überwindet dadurch die Banalität der räumlichen Metapher. Zudem setzt er die „geome­t rische Dialektik“ (Bachelard 1987, 211) des Innen und Außen außer Kraft, indem er das Außen zwar als konstitutiv konstituiert – die räumliche Bedingung also in Szene setzt –, aber mit der Exponierung von Diskursivität und Nega­t ivität vermeiden kann, einem reduktionistischen Positivismus zu verfallen. Wichtig für einen solchen Raumbegriff ist, dass Laclau die Unterscheidung zwischen diskursiv und nicht-diskursiv zurückweist, woraus sich gleichfalls ein spezifisches Verständnis von Materialität ergibt. Diskurs ist demnach keineswegs auf Gesprochenes und Geschriebenes zu reduzieren, sondern bezieht sich auf jeglichen „Komplex von Elementen“, in denen nicht die Elemente, sondern „die 181

Beziehungen zwischen ihnen die konstituierende Rolle spielen“ (Laclau 2005, 68). Laclaus Raumbegriff ist einerseits der Teil seiner Theorie, der in den urban studies und von der Sozialgeografie bisher am deutlichsten wahrgenommen wurde. Andererseits zeigt sich aber auch genau hier das schwierige Verhältnis, das zwischen kritischem Urbanismus und politischer Philosophie allgemein besteht. Das wird deutlich bei den Ausführungen der britischen Geografin Doreen Massey, die in ihrem Text Politics and Space/Time den Laclauschen Zugang zum Raum kritisiert ([1992] 2007). Massey, die sich in der Tradition der cultural studies und des Marx’schen Denkens verortet, erklärt, dass das Konzept von Laclau eine Provokation sei für „jemanden, die als Geografin seit Jahren gemeinsam mit anderen für eine dynamische und politisch progressive Vorstellung des Räumlichen streitet“ (2007, 112): Laclau verstehe „unter Raum einen Bereich des Stillstands“, in dem es „keine Möglichkeit von Politik“ gäbe (2007, 113), in dem die „Ursachen jedweder Veränderung nur interne Ursachen sein können“ und keine Vorstellung einer offenen und krea­t iven Möglichkeit politischen Handelns bestehe (2007, 114). Laclau würde mit seiner „metaphorischen“ Verwendung zu einer Entpolitisierung des Raums beitragen und damit die Errungenschaften der kritischen Geografie torpe­d ieren (2007, 114). Die bei dieser Interpretation offen zu Tage tretenden Missverständ­ nisse – angefangen bei der von Laclau explizit abgelehnten Verwendung des Raumbegriffs als Metapher, über die Behauptung, Laclau würde die Ursache von Räumlichkeit im Innen verorten (das Gegenteil ist der Fall) bis hin zu dem (gerichtet an einen politischen Theoretiker) etwas absurden Vorwurf der ­Entpolitisierung (vgl. Marchart 1999) – wären für sich vielleicht nicht weiter der Rede wert. Allerdings ist besagter Text von Massey in den critical urban ­studies heute recht kanonisch und bedarf daher weiterer ­Betrachtung. Deutlich geworden sein dürfte aus dem Bisherigen, dass für Laclau „Raum“ selbstverständlich politisch ist. Verräumlichung ist für ihn sogar der zentrale Bestandteil von Politik. In Masseys Kritik und bei ihrem Versuch, den Raum zu legitimieren (darauf läuft ihr Argument hinaus), zeigt sich vor allem eine Schwierigkeit, die symptomatisch für den Umgang der Raumwissenschaften mit dem eigenen Grundbegriff ist. Der Grundbegriff der Geografie – auch der 182

kritischen Geografie – ist der Raum. Der Grundbegriff der politischen Theo­ rie ist die Politik/das Politische. Für jede Disziplin ist es eine Kernaufgabe, das Verhältnis zu den eigenen Grundbegriffen zu klären, und regelmäßig geht es dabei um eine Form der Privilegierung. So wie in der politischen Theorie das Politische exponiert und als Primat (etwa über das Soziale oder das Ökonomische) inszeniert wird, geht es auch in den Raumwissenschaften häufig genau darum, den Raum oder das Räumliche zu privilegieren.14 Daraus ergeben sich zwei Fragestellungen. Erstens: Eignen sich das Politische und das Räumliche gleichermaßen für die jeweils beabsichtigte Privilegierung? Zweitens: Wie wird die Privilegierung ausgeführt? Privilegierung geht auf der Ebene der Metatheorie meist mit der Diskussion des ontologischen Status des jeweiligen Objekts einher. Laclau setzt das Politische als ontologische Form, die fundamental für die Entwicklung des Sozialen und der Geschichte ist. Um nicht selbst ein identitäres substanzialistisches Modell vorzulegen, bestimmt er das Politische als Antagonismus und nimmt ihm alle eigene positive Substanz – das Politische entsteht in der Relation und (negativ) als Äquivalenz (zum Begriff der Äquivalenz siehe weiter unten). Es ist also ein erheblicher Aufwand nötig, um dem Politischen ein ontologisches Primat zu verleihen. Den Raum als ontologische Substanz zu setzen, ist aber eine noch schwierigere Operation. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die frühe Geografie genau darauf gründet, den Raum zu ontologisieren. Die problematische geopolitische Vergangenheit beruht auf dem Versuch, mit Begriffen wie „Lebensraum“ oder „Raumdruck“ den Raum zu biologisieren und ihm dadurch ein ontologisches Primat zukommen zu lassen. Nun lässt sich zwar Ähnliches auch vom Politischen sagen (erinnert sei an die Ausführungen von Carl Schmitt), aber dieser Punkt wird in der politischen Theorie nicht nur explizit problematisiert, sondern die neue Ontologisierung beruht letztlich auf dem dekonstruktiven Durchgang durch das Schmitt’sche Angebot und seine Freund/Feind-Unterscheidung. Bei den gängigen Raumprivilegierungen sind solche Bemühungen dagegen kaum zu bemerken. Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit, nämlich die, dass Raum (wie die Zeit) ein Medium ist, das – so formuliert es Niklas Luhmann (1995, 180) – „an sich“ kognitiv unzugänglich ist. Auf direktem Wege kann Raum daher nicht 183

erschlossen und deshalb vermutlich auch nicht privilegiert werden. Meines Erachtens wird aus diesen Gründen das in den Raumwissenschaften extensiv betriebene „Für-den-Raum-Plädieren“ zum eigentlichen Hindernis jeder theo­ retischen Selbstbeschreibung einer kritischen Geografie (und auch der crit­ ical urban studies), da die Privilegierung des Räumlichen als Wert an sich gesetzt wird und in Folge die kritische Distanz zum Grundbegriff verloren geht. Laclaus Konzeption des Raums als ein Bedeutungssystem könnte daher gerade für die genannten Raumwissenschaften erhellend und weiterführend sein, wird dort aber (bisher) meist kategorial verpasst. Das zeigt sich etwa bei neueren Bezugnahmen auf Laclaus Ansatz aus dem Bereich der Sozialgeografie. Mustafa Dikeç etwa berichtet in einem Text über die Pariser banlieu, dass deren Bewohner („the Apaches“ of Belleville) als die „Barbaren vor dem Tore“ dargestellt, wahrgenommen und dadurch zum konstitutiven Außen gemacht werden (2013a, 28/40). Diese Analyse ist mit Laclaus Ansatz durchaus vereinbar – insbesondere mit der Weiterentwicklung zur Heterogenität (siehe unten). Allerdings leitet Dikeç daraus ab, dass Laclaus Theorie im schmittianischen Denken zu verorten sei und reproduziert damit das alte geografische Missverständnis. Das konstitutive Außen, so Dikeç, würde von Laclau als „Feind“ konzipiert, und zwar mit dem Ziel, dadurch die politische Identität des „Freundes“ zu gründen (2012, 672; 2013b, 79). Dikeç kritisiert (und nimmt dabei Bezug auf Massey), dass Laclaus „limitiertes räumliche Bild einer Innen/Außen-Dichotomie“ nicht geeignet wäre für die Beschreibung von „komplexeren Relationen“ (2012, 673) – obwohl er ja selbst das Argument in seinem Bericht aus der Pariser banlieu verwendet. Die Kritik zielt dabei nicht auf das räumelnde Denken der eigenen geografischen Disziplin – hier wäre sie meines Erachtens durchaus zutreffend –, sondern auf eine Theorie, die ausgesprochen bewusst mit den Fallstricken der geometrischen Bildproduktionen umgeht. Auch in diesem Fall gibt es also ein Beispiel von verkehrter Welt: Der politischen Theorie wird – von geografischer Warte aus – ein verräumlichtes Denken vorgeworfen. Die von Dikeç kritisierte Personifizierung des konstitutiven Außen spiegelt dabei die problematische Programmatik des agon bei Chantal Mouffe wieder. Denn Mouffe bringt das konstitutive Außen tatsächlich mit „dem Feind“ (2013, 18) und „dem Anderen“ 184

(2005, 15) zusammen. Dabei zeigt sich der Unterschied zwischen dem „anti-­ Schmittian Schmittian“ Laclau (Žižek 1999, 172) und der „Left neo-­Schmittian“ Mouffe (Marchart 2007, 45). Laclau konstituiert das Außen als Grundbedingung und Zielpunkt seines theoretischen Modells und erschließt damit den ontologischen Status des Politischen; Mouffe dagegen folgt Schmitt in seiner These vom Feind, um dann (notwendigerweise) gegen diese These ihr Konzept vom gezähmten Antagonismus in Stellung zu bringen. Antagonismus erzeugt allerdings nur dann einen wesenhaften Feind und ­einen war of existence (Purcell 2008, 66), wenn er (beziehungsweise das konstitutive Außen) als anthropologische Eigenschaft konzipiert ist. Als postfunda­mentalistische Gründung führt Antagonismus dagegen nicht zum Vernichtungskrieg, sondern zum Konflikt, der das Soziale in Bewegung bringt. Ein weiteres Mal lässt sich an dieser Stelle auf Derrida verweisen. Die Bedingung „außerhalb des Systems“ (das konstitutive Außen), so formuliert es der Gründungsvater des Poststrukturalismus, sei nämlich nur dann ein „Skandal“, wenn sie innerhalb desjenigen Systems begriffen werden soll, dessen eigentliche Bedingung sie ist (2003, 104). Die Bedingung des konstitutiven Außen ist nur skandalös (ein Skandal, der beruhigt und eingefangen werden muss), wenn sie innerhalb des Systems des Sozialen gedacht wird.

3.3

Masse und Lumpen: Antagonismus (II)

So überzeugend es sein mag, postfundamentalistisch orientiert die Fundamentalismen der bewussten wie der unbewussten Ontologien offenzulegen oder einen routinisierten Objektivismus/Rationalismus zu dekonstruieren: Immer wieder stellt sich das Problem, dass auch das postfundamentalistische Denken Fundamente hat. Deshalb ist es stets von Neuem notwendig, zu begründen, weshalb die postfundamentalistischen Fundamente andere Fundamente sind und wie die Paradoxie der postfundamentalistischen Fundamente gefasst und ausgehalten werden kann. Nicht zuletzt wegen dieses fortwährenden Aktualisierungserfordernisses entwickelt Laclau in seinen späteren Texten eine weitere, zweite Version der Antagonismustheorie. Auch hier ist das 185

konstitutive Außen als strukturelle Gründungssubstanz konzipiert, der Unterschied ist allerdings, dass dieses Außen nun tatsächlich an menschlichen Subjekten haftet. In gewisser Weise hält also das „Wesensmäßige“ Einkehr in das Modell, allerdings nicht Schmittianisch gedacht: Nicht, indem „der Andere“ als Feind konzipiert und auch nicht, indem das Wesen des Politischen in der Macht gesucht wird, Freund und Feind zu unterscheiden. Was Laclau vorschlägt, geht in eine andere Richtung. In seiner Studie On Populist Reason (2005) identifiziert er diejenigen, die aus dem Sozialen und aus der Geschichte ausgeschlossen sind, als die eigentlichen Träger des Politischen. Laclau interveniert damit erneut auf subversive Weise in einen Diskurs, in dem die Fronten eigentlich geklärt zu sein schienen: Populismus – darüber ist man sich im akademischen Diskurs weitgehend einig – ist etwas Negatives, ein Phänomen, das in der politikwissenschaftlichen Analyse zwar untersucht werden kann, das aber kaum zum politischen Ziel taugt. Laclau attackiert diese vermeintliche Klarheit, er dekonstruiert den Begriff des Populismus, um ihm einen neuen (irgendwie positiven) Gehalt zu geben. Die Auseinandersetzung mit den begrifflichen Grundlegungen des populus (des Volks, der Menge, des Pöbels) führt Laclau zum Diskurs über die Masse, der Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere im bürgerlichen Lager großen Einfluss auf die Theorien von Gesellschaft und Stadt ausgeübt hat (während der Begriff in sozialistischen Kreisen deutlich weniger gebraucht wurde). Damit betritt Laclau den Diskursraum der Massenpsychologie, der sich in den 1890er-Jahren im Umfeld der Soziologie konstituiert und der – das ist aus meiner Perspektive von besonderem Interesse – zumindest in Teilen dem urbanistischen Feld zugerechnet werden kann. Die Massenpsychologie erfährt heute in vielen aktuellen Beiträgen der politischen Theorie und der Gesellschaftstheorie besondere Aufmerksamkeit (vgl. etwa Gamper 2007, Borch 2012, indirekt auch bei Hardt/Negri 2002). Im Fokus dieses neu erwachten Interesses stehen nicht zuletzt die Texte von Gabriel Tarde, auf die sich auch Gilles Deleuze und Bruno Latour umfangreich beziehen (was entscheidend dazu beigetragen hat, dass Tarde in der poststrukturalistischen Theorie heute verstärkt wahrgenommen wird). Tarde galt in der Gründungsphase der französischen Soziologie als der Gegenspieler von 186

Emile Durkheim und wird heute meist als Differenztheoretiker gelesen. Zeitgenössisch ist er aber auch und in erster Linie der Ideen- und Stichwortgeber für den massenpsychologischen Diskurs gewesen. Diese Funktion ist es wiederum, die ihn für die Antagonismus- und Populismustheorie von Laclau wichtigmacht. Tarde bietet mit seiner Nachahmungstheorie ([1890] 2009) einen – im Vergleich zu den seinerzeit vorliegenden positivistischen Angeboten etwa eines August Comte (vgl. S. 56) oder dem kausalistischen Entwurf von Durkheim – alternativen Zugang zu einer Konzeption des Sozialen (vgl. Roskamm 2011a). Auf der einen Seite weist Tardes Theorie der Nachahmung den Relationen (zwischen den Menschen, aber auch zwischen Menschen und Dingen) die Rolle als eigentliche Bedeutungsträger und -erzeuger zu und konterkariert damit das Ende des 19. Jahrhunderts in den Sozialwissenschaften dominierende Identitätsdenken. Dass Differenztheoretiker wie Deleuze oder Latour die Schriften von Tarde so enthusiastisch wiederentdeckt haben, ist mit genau dieser These erklärbar. Auf der anderen Seite gründet Tarde mit seinem Nachahmungstext das urbanistische Metier der Massenpsychologie, indem er die Nachahmung in der städtischen Masse als fieberhafte Ansteckung der Menschen untereinander konzipiert. Während Tarde also einerseits einen differenztheoretischen Entwurf des Sozialen liefert, ist in seinen Ausführungen andererseits eine Pathologisierung der Masse wirksam – und das ist der Punkt, der für Laclau interessant ist –, die den Weg in die Massen­ psychologie ebnet. Tardes Masse, die als biologisches und pathologisches Phänomen herausgearbeitet wird und deren Eigenschaften in und von den städtischen Verhältnissen hergestellt werden, ist die Grundsubstanz von Laclaus Antagonismustheorie. Zur Bekanntheit und Verbreitung der Massenpsychologie beigetragen hat vor allem Gustave Le Bon mit seiner Psychologie des Foules (1950 [1895]). Seine Schrift zeichnet sich dadurch aus, dass die Formulierungen drastischer und populärer ausfallen als die von Tarde, auf dessen theoretischem Grundgerüst sich Le Bons Ausführungen stützt. Le Bons Interesse gilt insbesondere der „psychologischen Masse“, der flüchtigen, vorübergehenden Erscheinung, die aus Teilen jener dauerhaften soziologischen Massen besteht und sich bei Aufläufen und spontanen Demonstrationen bildet (1950, XVI ). Le Bon konzipiert 187

die Analyse der Masse in Kontinuität seiner Forschungen über die „Rassenseele“ (1950, XXVIII ) und stellt die Massenpsychologie damit in eine Linie mit den Rassediskursen seiner Zeit. Le Bons „Grundgesetz“ lautet, dass die niederen Eigenschaften der Masse umso weniger betont sind, je stärker die „Rassenseele“ ausgestaltet sei (1950, 136). Mit der Masse verbindet Le Bon allgemein Attribute wie Triebhaftigkeit, Beweglichkeit, Erregbarkeit, Beeinflussbarkeit, Leichtgläubigkeit, Unduldsamkeit und Herrschsucht, die Masse führt nicht nur zu einem Individualitätsverlust, sondern auf Dauer auch zum Absinken des „Kulturniveaus der zivilisierten Menschheit“. Die Massenpsychologie produziert die Masse also, indem sie sie einerseits ontologisiert (mit Seinsmäßigkeit ausstattet) und andererseits verunglimpft und verachtet. In der Masse, dar­ auf läuft Le Bons These hinaus, wird der Einzelne „zum Barbar“ (1950, 19). Die von Le Bon benutzte klare und einfache Terminologie trug zur Popula­ risierung der Theorie bei und implementierte die Masse als Begriff und Konzept ins Zentrum der „pessimistischen Gegenwartsdiagnostik“ (Gamper 2007, 432). „Die industrialisierten Massen“, so das im massenpsychologischen Narrativ entworfene Schreckensbild, „erobern die bürgerliche Öffentlichkeit, sie rotten sich zusammen und ziehen demonstrierend und revoltierend durch die Straßen.“ (Günzel 2002, 124) Aber es ist gar nicht die Panik der Masse, die in der Massenpsychologie verhandelt wird. In Wahrheit ist es andersherum: Was eigentlich in der „Zombologie“ der Massen verhandelt wird, das ist „die Panik des Bürgertums vor den Massen“ (Marchart 2013, 412). Diese Panik ist jedoch nicht nur die Angst vor Revolte und Revolution, sie ist auch die Angst vor dem Nicht-Rationalen. Die Massen manifestieren sich in der Spannung zwischen Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit, sie durchkreuzen als unberechenbares Phänomen das Phantasma von der Berechenbarkeit historischer Bewegung. Die „Angst vor der Masse ist Angst vor den unkontrollierbaren Bewegungen des Sozialen, ist Schwindel vor dem sich zurückziehenden Grund, ist die in Panik umschlagende Erkenntnis, dass sich Gesellschaft möglicherweise doch nicht gesetzmäßig entwickeln könnte, sondern von sozialen Kämpfen in Bewegung gehalten wird, ohne auf ein vernünftiges Ziel hinzusteuern“ (Marchart 2013, 412). 188

An diesem Punkt setzt Laclau mit seiner Analyse an. Zum einen interessiert ihn dabei die negative Konnotation der Masse in der Massenpsychologie, die Verschmähung des Volks als Masse, die Geringschätzung und Verabscheuung des populus. All das lässt sich in den Schriften der Massenpsychologie nachweisen, und all das führt auch zu der gängigen negativen Bewertung von Populismus, eine Negativität, die bei Laclau besonderes Interesse weckt. Laclau argumentiert, dass die Massenpsychologie – trotz all ihrer Kurzschlüsse – einige entscheidenden Aspekte bei der Konstruktion des Sozialen und des Politischen berührt habe, und zwar besonders, was die Herausbildung von kollek­ tivem Verhalten betrifft (2005, 39). Tatsächlich scheint die Massenpsychologie genau deshalb so interessant zu sein, weil die Masse hier als ein eigenständiges Wesen konzipiert wird und dabei Psychoanalyse und politische Theorie so nah zueinanderkommen, wie zu sonst kaum einer Gelegenheit. Laclau nähert sich dem Wesen der Masse, indem er die Frage stellt, warum und woran die Massenpsychologie eigentlich gescheitert ist (2005, 40). Zum einen, so lautet seine Antwort, würde das an der konstitutiv ablehnenden Grundhaltung gegenüber dem Volk/der Masse selbst liegen. Bei Le Bon, so Laclau, wird das Volk in der Masse pathologisch und damit zum Feind, die Masse wird zum personifizierten Antagonisten. Das sei weniger Theorie denn Propaganda, und auch die analytischen Blitzlichter (etwa eines Gabriel Tarde) würden im konservativen, essentialistischen und reduktionistischen Diskurs der Massenpsychologie schnell wieder ausgelöscht werden. Zum ­a nderen sei die massenpsychologische Diskursrahmung der hauptsächliche Hinderungsgrund für weiterführende Überlegungen, und zwar wegen der dort dominierenden, allzu „schlichten und sterilen Dichotomien“ – das Individuum/die Masse, das Rationale/das Irrationale, das Normale/das Pathologische (2005, 40). Laclau schlägt daher vor, die rigiden massenpsychologischen Oppositionen durchlässiger zu gestalten und dabei die jeweiligen Pole zueinander zu bringen, sie gegenseitig zu kontaminieren (2005, 40). Wie kommt die Masse in Bewegung? Ganz in Tradition von Jacques Lacan ist die Grundbedingung in Laclaus Theorie die Erfahrung eines Mangels, das Bemerken einer Lücke, die im harmonischen Fluss des Sozialen aufklafft. Das, was fehlt, ist in den Worten von Laclau die Ganzheit der Gesellschaft. 189

Die initiale Erfahrung des Mangels ist das Pendant zu dem, was sich auf dem Grunde des Sozialen befindet: das unerfüllte/unerfüllbare Verlangen nach Vollständigkeit. Dieses Verlangen, das sich in Ausdrücken wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit repräsentiert, bezeichnet Laclau als democratic demand (2005, 125). Solche demands sind in dieser Auslegung weniger Abstraktionen für etwas Positives und Konkretes, sondern sie repräsentieren in erster Linie die Abwesenheit selbst, die Unmöglichkeit, vollständig zu sein, die Leere, die sich in dieser Unmöglichkeit manifestiert. Sie sind das, was Laclau als empty signifier benennt (2005, 127). Einerseits repräsentiert solch ein leerer Signifikant damit eine echte Leere, nämlich den gründenden Mangel. Der leere Signifikant nimmt einen Platz im Zeichensystem ein, der konstitutiv unrepräsentierbar ist, eine Leerstelle im Bedeutungsganzen. Nur dieser Mangel an Erfüllung, also die Unmöglichkeit der Schließung eines Bedeutungssystems (vgl. Kapitel 3.2), gibt dem Verlangen seine materielle wie diskursive Präsenz. Andererseits verweist der leere Signifikant auf eine Lücke, und zwar auf die Lücke zwischen dem Partikularen und dem Universellen. Ohne leere Signifikanten wie Gerechtigkeit und Freiheit, so das Argument von Laclau, würden soziale Forderungen (etwa nach höheren Löhnen, nach mehr Rechten, nach niedrigeren Mieten) in ihrem Partikularismus verhaftet und deshalb wirkungslos bleiben. Nur aufgrund des „radikalen Investment“ (2005, 115), mit dem das Universelle und Totale angestrebt wird, wird etwas von der Leere, die in den Ausdrücken Gerechtigkeit und Freiheit repräsentiert ist, in die partikulare Forderung verschoben. Die Lücke zwischen dem Einzelnen und dem Totalen wird durch solch ein Investment nicht geschlossen, aber das Partikuläre erhält Anteil an der Universalität. Das bedeutet aber auch, dass die Partikularität bestehen bleibt (2005, 97): Die Spannung zwischen beiden Polen geht bei den Bemühungen um eine hegemoniale Position – genau darum handelt es sich bei einem radikalen Investment – nicht verloren (2005, 120) und erschafft den Rahmen für politisches Handeln.15 Eine wichtige Funktion in Laclaus Entwurf hat dabei das Benennen selbst, die „performative Dimension des Namengebens“ (2001, 79 und 2005, 103). Der Name ist der Grund des Dings – the name becomes the ground of the thing (2005, 104). Die Bedeutung des Benennens spiegelt dabei die in der Geschichte 190

der Sozialtheorien beobachtbare „zunehmende Emanzipation des Signifikanten“ (2005, 104). Diese wachsende Autonomie ist das Ergebnis einer Theorieentwicklung, die sich vom rein deskriptiven Blick auf das Soziale (auch hier sei noch einmal an Auguste Comte erinnert) mehr und mehr abwendet. Die Benennung ist in der aktuellen Sozialtheorie nicht mehr Hilfsmittel der Beschreibung, sondern etwas Eigenständiges, etwas, was Bedeutung schafft. Das, was benannt wird, existiert zwar schon vor der Benennung; Identität und Einheit des benannten Objekts (nicht: Existenz) resultieren aber aus der eigentlichen Operation der Bezeichnung und des Benennens. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn das Benennen dem Beschreiben nicht untergeordnet wird, und das gibt dem signifizierenden Signifikanten seine eminente Bedeutung. Um diese Rolle spielen zu können, darauf zielt Laclaus Argument, kann der Signifikant selbst weder vorbestimmt (mit vorbestimmter Bedeutung besetzt), noch kann er überhaupt dauerhaft mit etwas gefüllt sein. Ein Signifikant ist, darauf läuft es hinaus, letztlich notwendig unbesetzt (vgl. 2005, 104). Unschwer lässt sich an dieser Stelle – ganz im Zentrum meines Versuchs einer poststrukturalistischen Stadttheorie – erkennen, was der leere Signifikant und die unbesetzte Stadt gemein haben. Das, was Laclaus Begriff des leeren Signifikanten bezeichnet, gleicht nicht zufällig der Überschrift, die ich für mein hier insgesamt ausgebreitetes Vorhaben gewählt habe. Laclaus Theorie offenbart eine weitere, wenn nicht gar die eigentliche Bedeutung der These von der unbesetzten Stadt. Mit der unbesetzten Stadt wird Stadt nämlich als ein Signifikant bezeichnet. Mit Laclau gesprochen bedeutet das, dass Stadt unbesetzt ist, weil sie ein Signifikant ist. Die These von der unbesetzten Stadt bestimmt Stadt zunächst als leeren und kontingenten Signifikanten und ist gleichzeitig ein radical investment in ein partikulares Objekt, also der Versuch, eine Verbindung zu einem universellen Stadtbegriff herzustellen. Ein so entwickelter Stadtbegriff ist etwas komplett anderes, als der klassische Stadtbegriff der klassischen Sozialtheorien, wo Stadt – auch dieses Argument von Laclau lässt sich mühelos übertragen – vor allem deskriptiv verwendet wird (als Ansammlung von Gebäuden und Menschen, als Größe und Dichte etc.).16 Stadt ist etwas, das – weiter mit Laclau gedacht – zwar außerhalb des Diskurses existiert, aber seine Identität erst im Diskurs erhält, im 191

performativen Vorgang der Benennung. Aufgabe von Stadttheorie wird aus dieser Sicht die Benennung von Stadt, die Füllung des leeren Signifikanten mit Inhalt, die Intervention in die Auseinandersetzung um hegemoniale Bedeutung. In der Laclau’schen Bestimmung des Signifikanten als Forderung wird dabei auch und nicht zuletzt die Möglichkeit eröffnet, die Stadt zum democratic demand zu machen: Das „Recht auf Stadt“ (vgl. Kapitel 2.3.) findet hier eine theoretische Voraussetzung und Bestimmung. Auf seinem Weg, das Politische durch einen personifizierten Antagonismus zu bestimmen, fügt Laclau einen weiteren Begriff hinzu, und zwar den flo­ ating signifier (2005, 129 f.). Ziel dieses Konzepts ist es wiederum, die klare Opposition von Innen und Außen brüchiger zu gestalten. Eine solche Grenze, so erläutert es Laclau, könne keine starre und unbewegliche Grenze sein, vielmehr müssten begriffliche Möglichkeiten geschaffen werden, wie sie als überwindbar gedacht werden kann. Der flottierende Signifikant bietet diese Möglichkeit, indem mit ihm eine Forderung bezeichnet wird, die aufgrund einer Verschiebung von Machtgrenzen die Seiten wechselt. Das lässt sich recht einfach vorstellen: Eine Forderung wird erfüllt, da die Position, von der sie gesetzt wird, sich in der hegemonialen Auseinandersetzung um die Macht durchgesetzt hat. Damit wechselt die Forderung die Seite, sie ist nicht mehr Verlangen, sondern Teil der Macht. Oder der Vorgang spielt sich entgegengesetzt ab: Ein Teil der Macht bröckelt und wird dadurch wieder zu einem Verlangen. Die Signifikanten flottieren. Ohne eine solche Möglichkeit des Flottierens, so Laclau, wäre das Modell zu starr gedacht und die Grenze fest und unbeweglich, mithin etwas, was kaum vorstellbar sei (2005, 133) und, so lässt sich hinzufügen, sowohl der These von der notwendigen Kontingenz als auch jeder historischen Erfahrung widersprechen würde. Auf der anderen Seite könne aber ein komplett flottierendes Modell eines komplett „psychotischen Universums“ ebenso wenig überzeugen, weshalb temporäre Fixierun­gen und Stabilisierungen unverzichtbar seien (2005, 133). Eine Grundlegung der Antagonismustheorie ist schließlich der Begriff der Äquivalenz – ein Konzept, das Laclau erstmals in Hegemony and Socialist Strategy ([1985] 2006) zusammen mit Chantal Mouffe ausgebreitet hat. Mit der Äquivalenz schlagen Laclau und Mouffe ein Strukturprinzip vor, mit dem die 192

Herstellung von Gemeinsamkeit gedacht werden kann, ohne auf traditionelle identitäre Konzepte zurückzugreifen (2006, 167 f.). Die Grundüberlegung ist die, dass die orthodoxe Idee von Gemeinsamkeit auf Konzepten von Identität und Identifikation aufbaut, die einem objektivistischen und essentialistischen Weltbild entspringen. Ein Weltbild, das auf der Zurückweisung solcher Fundamente beruht, benötigt ein anderes Prinzip, Gemeinsamkeit herzustellen. Und zwar nicht zuletzt deshalb, um zu gewährleisten, dass Ziele wie Soli­ darität oder Emanzipation auch dann möglich sind, wenn die Welt auf ­kontingenten und nicht objektivistischen Grundlegungen beruht. Das Konzept der Äquivalenz verfolgt also die Absicht (und deshalb ist es so wichtig), die Möglichkeit zu denken, wie in einer nicht-objektivistischen Welt gemeinsame Positionen eingenommen werden können. Die Lösung, die Laclau und Mouffe mit ihrem Konzept der Äquivalenz entwerfen, besteht darin, dass hier Gemein­samkeit nicht direkt und auf etwas gemeinsames Positives bezogen hergestellt wird, sondern durch die gemeinsame Unterscheidung von etwas ­a nderem. Mit der Einführung der Äquivalenz verhandeln Laclau und Mouffe zugleich das Konzept der Differenz (2006, 167), und zwar wiederum auf subversive Art und Weise. Das Konzept der Differenz scheint auf den ersten Blick eher einer relationalen nicht-identitären Sichtweise zuzugehören, einem Denken, das sich dadurch auszeichnet, dass es von Substanz auf Differenz umgestellt hat. Laclau und Mouffe deuten Differenz jedoch anders. Differenz steht hier nicht für Vielfalt und Unterschiedlichkeit, für Kreativität und Toleranz, sondern für Schließung, Positivität und Objektivität. Die Bedingung für die Existenz eines geschlossenen Systems sei es gerade, dass es differenzielle Positionen gibt, die jeweils als ein „spezifisches und unersetzbares Moment fixiert“ sind (2006, 167). Differenz wird also zum einen dadurch konstituiert, dass ihre Bestandteile als fix, starr und substanziell identifiziert werden: Die Zusammensetzung von Differenz ist selbst Substanz und konterkariert das eigene Strukturprinzip. Zum anderen besteht – aus der entgegengesetzten Betrachtungsrichtung – die Aufgabe der differenziellen Elemente letztlich darin, zusammen ein ­System zu bilden. Differenz wird damit als ein auf Schließung beruhendes und Schließung herstellendes Prinzip herausgearbeitet, als etwas, was 193

zusammen­genommen etwas Ganzes (ein positives System) anstrebt. Da sie etwas ihnen allen zugrundeliegendes Identisches ausdrücken möchten, heben sich die Differenzen aber gegenseitig auf. Genau darin entstehen die Grenzen, die verhindern, dass Bedeutungssysteme sich selbst als objektive Realität konstituieren (und damit schließen). Die Äquivalenz ist das radikalisierte Gegenstück zur Differenz, sie ist der Name der Subversion, die die Schließung verhindert, die Herstellung des Objektiven untergräbt und die reine Negativität einführt. Äquivalenz ist negierende Identifikation und negative Identität. Anders als Differenz ist Äquivalenz angelegt als eine Struktur, in der erstens die einzelnen Bestandteile als kontingente und leere Elemente konstruiert sind und in der sich zweitens diese Bestandteile nicht hinsichtlich eines positiven Ganzen bilden, sondern alleine durch Abgrenzung gegenüber etwas Äußerem. Das, was die Dinge ­zusammenbringt und zusammenhält, die nicht-identitäre und anti-positive Form von Gemeinschaft, bezeichnen Laclau und Mouffe als Äquivalenzkette. In einer Äquivalenzkette versammeln sich Elemente, indem sie sich gegen ­etwas ausrichten. Eine „‚Äquivalenzkette‘ besteht aus partikularen unerfüllten und miteinander solidarisch werdenden Verlangen/Forderungen“ (Laclau 2005, 120). Die Elemente einer Äquivalenzkette konstituieren sich immer in gemeinsamer Referenz auf solch ein Äußeres, das selbst nicht etwas Positives sein kann (Laclau/Mouffe 2006, 168). In diesem Fall, wenn es selbst etwas Positives wäre, könnte das Verhältnis zwischen den beiden Polen nämlich auf direkte und positiv identitäre Art und Weise hergestellt werden. Das Prinzip der Äquivalenz ist für Laclaus Antagonismustheorie von zentraler Bedeutung. „Um äquivalent zu sein, müssen zwei Begriffe verschieden sein – ansonsten wäre es eine einfache Identität.“ (2006, 168) Mehr noch: „Etwas zu sein, heißt immer auch, etwas anderes nicht zu sein.“ (2006, 169) Bei dieser Feststellung zeigt sich jedoch nichts weiter als der „Widerspruch“, und das Argument verbleibt auf dem konventionellen „logische[n] Terrain“, die „Positivität des Seins“ beherrscht weiterhin die „Totalität des Diskurses.“ (2006, 168) Nach Laclau und Mouffe geht es um mehr, und zwar darum, dass „bestimmte diskursive Formen durch die Äquivalenz jede Positivität des Gegenstandes auslöschen und der Negativität als solcher eine reale Existenz geben“ 194

(2006, 169). Dadurch, dass dem Negativen eine Sonderstellung zugewiesen wird, soll der allen sozialtheoretischen Konzepten (selbst dem von Marx) zumindest latent inhärente Positivismus und Essentialismus ausgetrieben werden. Äquivalenz existiert nur durch die „Auflösung des differenziellen Charakters“ jener Begriffe (2006, 170). „Genau an diesem Punkt untergräbt […] das Kontingente das Notwendige, indem es letzteres daran hindert, sich vollständig zu konstituieren.“ (2006, 168) Die entgegengesetzten Logiken der Differenz und Äquivalenz regulieren sich durch die „wechselseitige Subversion ihrer Inhalte“ (2006, 169). Aber auch dieses System kommt nie zu einer Schließung. „Ebenso wie die Logik der Differenz niemals einen völlig genähten Raum bilden kann, erreicht dies auch die Logik der Äquivalenz nie.“ (2006, 170) Beide „bewohnen den Raum, der durch die Spannung zwischen den beiden Dimensionen erst entsteht“ (Laclau 2005, 120). Äquivalenz und Differenz „reflektieren sich daher stets im jeweils anderen“, und dieses Reflektieren ist konstitutiv für beide Konzepte (2005, 120). Von diesem Punkt aus entwickelt Laclau seinen Begriff der Heterogenität (2005, 139). Auch hier radikalisiert er (ähnlich wie bei der Differenz und wie beim Raumbegriff) ein Konzept auf eine Art und Weise, bei der sich die routinisierte Bedeutung verändert, verbiegt, umkehrt, auf den Kopf stellt. Gerade auf dem urbanistischen Feld ist Heterogenität – als Verschieden- und Ungleichartigkeit – meist positiv besetzt. In einem der einflussreichsten Texte der Stadtsoziologie überhaupt (Wirth 1938) wird Heterogenität (neben der Größe und der Dichte) als einer der drei gründenden positiven Bausteine der Stadt gesetzt, und diese Formel ist die bis heute wohl gebräuchlichste Definition von Stadt überhaupt. Dort steht Heterogenität für Vielfalt, Abwechslung, Durchmischung. Laclau dagegen verschiebt den Begriff der Heterogenität kurzerhand (fast brutal) auf die ontologische Ebene, wo er nicht mehr für Varietät und auch nicht für Differenz, sondern für ein absolut ausgeschlossenes Anderssein steht. Für Laclau bedeutet Heterogenität die Abwesenheit eines gemeinsamen Raums. Im Normalfall, so leitet Laclau diesen Punkt ein, ist der Antagonismus die Grenze zwischen Elementen auf zwei unterschiedlichen Seiten, und alle ­z usammen (die Elemente, die Grenze) sind in einem gemeinsamen Raum 195

enthalten (2005, 140). Hier konstituiert das Außen (das, was jenseits der Grenze ist) tatsächlich das Innen, das Außen ist notwendig für die Identität des Innen, es braucht es, um selbst existieren zu können. Dadurch (durch das Angewiesensein) entsteht zwischen Innen und Außen eine direkte Verbindung und ein gemeinsamer „gesättigter“ Raum. In einem so entstandenen Raum gibt es keinen absoluten Ausschluss. Im anderen Fall dagegen, also bei der sozialen Heterogenität, handelt es sich um ein komplettes Ausgeschlossensein. Das derart Ausgeschlossene hat keinerlei Zugang zu einem gemeinsam akzeptierten und etablierten Repräsentationsraum (2005, 223). Laclau entwirft damit eine Kategorie des absoluten Ausschlusses, eine Art von Außen, bei der die Exterritorialität nicht zwischen zwei Elementen ­i nnerhalb eines Repräsentationsraumes besteht, sondern zu diesem Raum selbst. Laclau führt als Beispiel Hegels „Volk ohne Geschichte“ an. Diesem Volk stehe, so lautet der Bericht von Hegel, noch nicht einmal seine eigene Historie als Repräsentationsraum zu Verfügung. Hegel bezeichnet in seinen Vor­lesungen über die Philosophie der Geschichte ganz Asien als „Boden des Despotismus und, im bösen Charakter, der Tyrannei“ (1986, 202). In Indien allerdings sei es am schlimmsten, dort wäre der „willkürlichste, schlechteste, entehrendste Despotismus zu Hause“ (1986, 201). Während – und das ist für Laclau das Interessante an Hegels Punkt – im restlichen Asien die Tyrannei aber die Individuen empöre, wäre das in Indien nicht der Fall, „denn hier ist kein Selbstgefühl vorhanden, mit dem die Tyrannei vergleichbar wäre und wodurch das Gemüt sich in Empörung setzte.“ (1986, 202) Daraus folgert ­Hegel: „Bei einem solchen Volke ist denn das, was wir im doppelten Sinne Geschichte nennen, nicht zu suchen.“ (1986, 202) In die Begrifflichkeiten von Laclau überführt, zeigt sich in Hegels Beispiel also tatsächlich so etwas wie reine Negativität und absolutes Ausgeschlossensein. Es bildet sich eine äquivalente Beziehung, die sich zwar in Bezug auf ein Außen (die Tyrannei) bildet, aber ohne sich dabei zu empören (in der Empörung selbst fände sich noch das Positive). Hegels „Volk ohne Geschichte“ führt zurück zur verachteten und verunglimpften Masse, zum Pöbel, zum Mob, zum, wie wir nun sagen können, heterogenen Antagonisten. 196

Über Hegel gelangt Laclau zu Marx und diskutiert anhand seines bis hierhin entfalteten begrifflichen Instrumentariums dessen Konzeption vom Ablauf der Geschichte. Akteur der Geschichte (und ihrer Revolutionen) ist bei Marx und Engels natürlich das Proletariat. Das Proletariat befindet sich damit im gleichen Repräsentationsraum wie sein kapitalistischer Antagonist. Proletariat, Kapitalist und Geschichte finden in einem gemeinsamen sozialen Raum statt (2005, 143). Dieser Raum ist ein Innen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil der Ausgang des Klassenkampfs (der Sieg des Proletariats) vorgezeichnet ist. Es gibt hier weder ein zeitliches noch ein räumliches Außerhalb. Produktionsverhältnisse, Geschichte, Proletariat und Kapitalist bilden ein klar umrissenes System, das ohne ein äußeres Außen auskommt und in dieser Haltung eine deutlich positivistische Note entwickelt. Aus der Perspektive des Proletariats besteht das (innere) Außen aus der anderen Seite der Produktions­ verhältnisse und die Grenze (der Antagonismus) darin, über Produktionsmittel oder eben nicht über Produktionsmittel zu verfügen. In diesem Bild gibt es keine reine Negativität, da das Proletariat auf lange Sicht eine klar positive Funktion zugewiesen bekommt (nämlich die Geschichte zu ihrem Ende zu führen). Auch der Kapitalist ist – aus der Sicht des Proletariats – nicht rein negativ, da er notwendig ist für die Gesamtkonzeption: ohne Klassenfeind kein Klassenkampf. Einen Riss erhält das Marx’sche Gebilde durch das Lumpenproletariat, also der Entität, aus dessen Rippen das Proletariat herausgeschnitten ist. Die städtische Armenschicht wird im späten 18. Jahrhundert zum diskursiven Objekt – etwa bei Malthus, der sich sein berühmtes Bevölkerungsgesetz gewisser­ maßen im Angesicht dieses neu ins Bewusstsein rückenden städtischen Phänomens ausgedacht hat und der damit nicht zuletzt in den Diskurs über eine staatliche Armenpolitik intervenierte (vgl. S. 40). Marx und Engels sind scharfe Kritiker der Mathus’schen Ansichten, und sie werfen ihm vor, dass bei ihm „die Armen gerade die Überzähligen sind“ und er im Grunde dafür plädiere, nichts für die Armen zu tun „als ihnen das Verhungern so leicht als möglich zu machen“ (Engels 1844, 397). Marx und Engels haben eine deutlich andere Sicht auf die Armen (anders als Malthus), dennoch ist das Lumpenproletariat auch für sie ein ambivalenter, meist negativ besetzter Begriff. 197

Marx beschreibt das Lumpenproletariat als eine „in allen großen Städten“ vorkommende und „vom industriellen Proletariat genau unterschiedende Masse“ (1850, 132). Diese Masse ist für Marx ein „Rekrutierplatz für Diebe und Verbrecher aller Art, von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, gens sans feu et sans aveu, verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation, der sie angehören, nie den Lazzaronicharakter verleugnend“ (1850, 132). In Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte bezeichnet Marx das Lumpenproletariat als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“ und lässt die schöne Aufzählung folgen: „Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschen­ spieler, Spieler, Maquereaus Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse“ (1852, 141). Engels wiederum differenziert zwischen dem Proletariat einerseits und andererseits dem „Lumpenproletariat der Städte“ (1870, 172): „Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjecte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich. Wenn die französischen Arbeiter bei jeder Revolution an die Häuser schrieben: Mort aux voleurs! Tod den Dieben! und auch manche erschossen, so geschah das nicht aus Begeisterung für das Eigentum, sondern in der richtigen Erkenntnis, daß man vor allem sich diese Bande vom Hals halten müsse.“ (1870, 172) Anhand der Ausführungen von Marx und Engels lassen sich zwei unterschied­ liche Problemstellungen diskutieren. Zum einen wird deutlich, wie zugeneigt Marx und (vor allem) Engels dem biologistischen Zeitgeist gewesen sind. 198

Peter Stallybrass – auf dessen Analyse Marx and Heterogeneity: Thinking the Lumpenproletariat (1990) sich Laclau ausführlich bezieht – stellt fest, dass Marx und Engels das Lumpenproletariat zumindest teilweise als eine „rassische Kategorie“ verwenden und dass diese Verwendung die „Allgemeinplätze der bourgeoisen Sozial- und Massenanalyse“ bedient, nämlich „die Beschreibung der Armen als nomadische und von Geburt an moralisch verderbte Stammesform“ (1990, 70). Die Biologisierung des Lumpenproletariats gerät dabei gefährlich nahe auch an offen rassistische Ansätze. Das zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn der Begriff in den 1920er-Jahren in der sogenannten „sozialistischen Eugenik“ verwendet wird. Oda Olberg, eine Vertreterin dieser Denk­r ichtung, spricht in ihrer Schrift Die Entartung in ihrer Kulturbedingtheit von einem Lumpenproletariat, dessen „soziale[r] Schiff bruch eine Folgeerschei­nung und ein Ausdruck biologischer Unzulänglichkeit“ sei (1926, 20). Mit Unrecht, so Olberg, würde das Lumpenproletariat „als Opfer unserer Wirtschaftsordnung“ hingestellt werden, da es genau genommen „außerhalb des Produktions­prozess[es]“ stehe (1926, 20). Bei Olbergs Konzeption wird deutlich, welche Sorg­falt bei jedem Ansatz vonnöten ist, bei dem der soziale Antagonismus personifiziert und im Lumpenproletariat installiert werden soll. Das Argument „außerhalb des Produktionsprozesses“ wird von Olberg wie von Laclau zentral gesetzt. Bei Olberg wird ein solcher Zugang allerdings zu einem biologistisch-rassistischen Argument ausgebaut, während Laclau damit seine ontologische Beweisführung antritt und sich dem Wesen des Politischen nähert.17 Zum anderen zeigt es sich, dass Marx – und das ist der Punkt, der Laclau besonders interessiert – bei der Thematisierung des Lumpenproletariats in den Grenzbereich seiner eigenen Theorie gerät. Im Kapital wird das Lumpenproletariat zur Reservearmee und damit funktional. Diese Reservearmee steht zwar außerhalb des Sozialen, aber sie hat – und genau das unterscheidet sie vom Lumpenproletariat – eine Funktionalität für das System. Die Reserve­ armee bleibt also weiterhin ein Bestandteil der Geschichte der Produktion. Laclau führt aus (2005, 146), dass dieser Schritt für Marx absolut notwendig ist, um eine dialektische Geschichtskonzeption denken zu können. Der „heterogene Überschuss“, so Laclau, muss von Marx eingefangen und zu einer 199

„marginalen Präsenz“ reduziert werden, um die „dialektische Version einer einheitlichen Geschichte“ – in der auch das Negative immer seine positive Funktion hat und in der deshalb die Richtung festgelegt ist – aufrechtzuhalten (2005, 143). Das Lumpenproletariat muss von Marx in die Reservearmee umgewandelt werden, um nicht die eigene metatheoretische Konzeption zu konterkarieren. Laclau formuliert, dass in der Transformation des Lumpenproletariats zur Reservearmee und zum Proletariat der „meisterliche Schachzug von Marx“ zu finden ist, mit dem er sich aus der selbst produzierten Theo­ riekrise herausmanövriert (2005, 143). Marx isoliert aus dem Innen des durch die Industrialisierung produzierten geschichtslosen „Abhubs“ mit der Reservearmee eine Substanz, die nicht nur die Funktionsweise des Kapitalismus erklären kann, sondern als Proletariat auch zum eigentlichen historischen Akteur wird. Was aber, so fragt Laclau, passiert nun, wenn die „marginale Masse“ als „außerhalb jeglicher Funktiona­ lität der kapitalistischen Akkumulation“ (2005, 147) definiert ist? Wenn Marginalität nicht nur temporäre Funktionslosigkeit impliziert, sondern „mit einer Heterogenität konfrontiert wird, die nicht unter eine einzige Innen-Logik subsumiert“ werden kann (2005, 147)? Dadurch, dass mit der Heterogenität ein Grund identifiziert wurde, der außerhalb der Geschichte steht, wird das Feld verlassen, auf dem – wie im dialektischen Modell, in dem die positive Wirkung der negativen Kräfte ja von vornherein festgelegt ist – der historische Wandel vorgezeichnet ist. Laclau wendet das Konzept Lumpenproletariat also gegen Marx selbst beziehungsweise gegen dessen Konzeption von einem linearen Geschichtsablauf. Geschichte, so proklamiert Laclau, „ist nicht das Terrain, auf dem eine einheitliche und ko­ härente Erzählung“ (2005, 146) erzählbar ist: Geschichte kann in letzter In­ stanz kein determinierter Prozess sein. Mit der Figur des Lumpenproletariats, das ist Laclaus postdialektische Pointe, lässt sich die Theorie in eine andere Richtung entwickeln, und zwar dann, wenn die Heterogenität der Lumpen als „sozialer Antagonismus“ (2005, 149) gedacht wird. Die nicht mehr funk­t ional konzipierte und destabilisierte Kategorie des Lumpenproletariats erweitert ihre sozialen Effekte über das hinaus, was Marx beabsichtigt und ­eröffnet ein Feld jenseits jeglicher dialektischen Determinierung. Die 200

soziale Heterogenität des Lumpenproletariats verschiebt den Antagonismus. Der Antagonismus ist nun nicht mehr – wie bei Marx und Engels – in die Produktionsverhältnisse eingeschrieben und auf diese beschränkt, sondern er etabliert sich an einem Ort, der zwischen den Produktionsverhältnissen einer­ seits und einer dazu externen heterogenen Identität (dem Lumpenproletariat) andererseits liegt. Durch Laclaus Verschiebung wird die Heterogenität die Voraussetzung für den sozialen Antagonismus, der fortan nicht mehr dialektisch abrufbar ist. Dialektisch bedeutet, dass durch die Negation der Negation etwas Positives erreicht wird: Die Sphäre der Dialektik ist letztlich die der Positivität. Laclaus Heterogenität ist dagegen reine Negativität. Heterogenität stellt mit einer solchen Negativität eine eigenständige Materialität her und verhindert eine komplette konzeptionelle und funktionale Eingliederung des Signifikanten in ein positives System. Die Existenz des Lumpenproletariats bewirkt, dass es ein der „symbolischen Integrierung“ widerstehendes Reales gibt (2005, 152). Dabei torpediert die Undurchlässigkeit des nicht erreichbaren Außen (die Autonomie des Heterogenen) unablässig diejenigen Kategorien, die das Innen definieren und herstellen. Heterogenität, so dreht Laclau seine Theorie um noch ein Stück weiter, „bewohnt das Herz des homogenen Raums“ (2005, 152). Letztlich ist nämlich nichts ganz außen, genauso wenig wie nichts ganz innen ist. Die Unterscheidung zwischen dem Innen und dem Außen selbst wird brüchig. Alles Interne/Innere wird von einer Heterogenität belagert, die deshalb nie ein reines Außen ist, weil sie die eigentliche Logik der internen Konstitution (der Konstitution des Innen) bewohnt und somit selbst zum Innen gehört. Die Möglichkeit eines reinen Außen wird genauso heimgesucht von den Operationen einer ebenfalls immer präsenten „homogenisierenden Logik“ (2005, 153). In einer „globalisierten Welt“, so Laclau, wird der Begriff des Lumpenproletariats immer ähnlicher mit der „gegenseitigen Verschmutzung des Innen mit dem Außen“ (2005, 147). Insgesamt betrachtet, schaffen damit beide Versionen der von Laclau angebotenen Antagonismustheorie die instabile Möglichkeit einer Identitätskonstruktion, bei der die politische Artikulation in einem reinen Kontingenzraum stattfindet, in dem (be)setzende und entsetzende Kräfte ein hegemoniales Spiel 201

formen. Beide Versionen berufen sich auf ein absolutes und konstitutives Außen, wobei das räumliche Außen in der ersten Variante genauso wenig ein geografisches Außen darstellt (zumindest nicht in erster Linie), wie das ­heterogene Außen der zweiten Entwicklungslinie als ein rein anthropolo­ gisches Außen gedacht werden kann.18 Laclau provoziert mit seinen beiden ­Außen die eingefahrenen Denkgewohnheiten gerade von kritischen, sich auf Marx und Engels berufenden Ansätzen und Traditionen, und zwar deshalb, weil er in beiden Fällen zeigen kann, wie der Verzicht auf das Denken des Außen – das wiederum in der gegen einen philosophistischen Idealismus gewendeten Konzeption des historischen Materialismus wurzelt – das Eingeschlossen-Sein (das Eingeschlossen-Bleiben) in Objektivismus und Rationalismus befördert und zementiert. Laclau verwendet seine Antagonismustheorie schließlich für seine Annäherung an die Bestimmung des Politischen. Er verweist dabei auf Gramsci und dessen Begriff des Stellungskriegs und erklärt, dass das politische Spiel von der essenziellen Unentscheidbarkeit zwischen dem Homogenen und dem Heterogenen – zwischen dem Proletariat und dem Lumpenproletariat – überhaupt erst in Gang gesetzt und am Laufen gehalten wird (2005, 153). Der Stellungskrieg des Sozialen folgt einer Logik der Verschiebung von stets instabilen Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen dem, was dazugehört, und dem, was nicht dazugehört. Jede politische Transformation impliziert dabei nicht nur eine Re-Konfigurierung von bereits bestehenden Bedürfnissen, sondern auch die Setzung von neuen Ansprüchen in den politischen Kämpfen sowie die Exklusion von bestimmten Anforderungen, die auf die andere Seite der Grenze flottiert sind (die durch die geänderte Grenzziehung die Seite gewechselt haben). Solch eine Grenzziehung, darauf zielt Laclaus Analyse, betrifft auch und in erster Linie jede Konstruktion des Diskursobjekts Volk und damit das, was Laclau mit dem Namen Populismus bezeichnet. Die konstitutive Heterogenität (das Außen, das Lumpenproletariat) macht es notwendig, das Volk (und die Gesellschaft) permanent neu zu erfinden und den Grenzverlauf zwischen innen und außen (oder drinnen und draußen) neu zu ziehen. Der Repräsentationsraum des Volks muss unaufhörlich konstruiert und rekonstruiert werden – genau das ist die hegemoniale Aktion, die im Zentrum 202

des Politischen zu finden ist. Die „Konstruktion des Volks“ wird für Laclau „zur politischen Operation par excellence“ und schließlich synonym mit dem Politischen (2005, 154).19



Laclaus Modell ähnelt einer anderen Annäherung an das Politische, und zwar der Theorie von Jacques Rancière, auf die sich Laclau mehrfach positiv bezieht. Rancière, dessen Texte in der kritischen Stadtforschung gut verbreitet sind (vgl. Michel/Roskamm 2013), macht – wie Laclau – die aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen zum Synonym des Politischen. Die historischen Wurzeln dieses Außerhalb findet Rancière im antiken Griechenland. Mit Verweis auf Aristoteles erläutert er, dass die antike polis eigentlich nur zwei Teile gehabt habe: die Reichen und die Armen (2002, 23). Die Armen der polis sind – wie das Lumpenproletariat der industriellen Stadt – „die Herrschaft der Abwesenheit einer Eigenschaft, die Wirklichkeit der anfänglichen Trennung, die den leeren Namen der Freiheit trägt, das uneigene Eigentum, den Rechtsanspruch des Streits“ (2002, 26). Der Kampf zwischen Reichen und Armen ist identisch mit der Einrichtung der städtischen Wirklichkeit, die polis entsteht im Ausschluss der Anteillosen und Ungleichen, sie ist der materialisierte Streit, das materielle Unvernehmen. Politik kennt dagegen/deshalb nur ein einziges Bestreben, nämlich die Herstellung von Gleichheit. Es gibt Politik, so formuliert Rancière, wenn es einen Anteil der Anteillosen gibt, Politik ist die „Aktivität, die als Prinzip die Gleichheit hat“ (2002, 9). Rancière führt damit eine ähnliche politische Differenz ein wie Laclau, ­u nterscheidet aber nicht zwischen Politik und dem Politischen, sondern zwischen Polizei und Politik. Diese Verschiebung führt oftmals zu Missverständnissen, da Laclaus Politik ziemlich genau Rancières Polizei entspricht, wohingegen das, was Laclau (und andere) als das Politische bezeichnen, synonym zu Rancières Politik ist; der Begriff Politik hat in beiden Versionen also eine entgegengesetzte Bedeutung. Die Polizei stellt in Rancières Konzeption den städtischen/sozialen Repräsentationsraum her, sie ist 203

„eine Ordnung der Körper, die die Aufteilungen unter den Weisen des Machens, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens bestimmt, die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist die Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes als Lärm“ (2002, 41). Die Polizei ist für Rancière das, was Stadt und Gesellschaft stabilisieren, was die Dinge ordnen soll und was die Regeln aufstellt und durchsetzt. Politik ist dagegen der Polizei entgegengesetzt. Politik tritt dann auf, „wenn es einen Ort und Formen für die Begegnung zwischen zwei ungleichartigen Vorgängen gibt“, nämlich dem polizeilichen (ordnenden, stabilisierenden) Vorgang der Polizei und dem politischen „Vorgang der Gleichheit“ (2002, 42). Aus sich her­ aus ist nichts politisch, so formuliert Rancière, „aber alles kann es werden, wenn es die Begegnung der zwei Logiken stattfinden lässt“ (2002, 44). Die Grundlegung der Politik (des Politischen) ist dabei auch für Rancière „die Abwesenheit eines Grundes, die reine Kontingenz aller gesellschaftlichen Ordnung“ (2002, 28). Es gibt das Politische „einfach deshalb, weil keine gesellschaftliche Ordnung in der Natur gegründet ist, kein göttliches Gesetz die menschlichen Gesellschaften beherrscht“ (2002, 28). Die Einsetzung des Politischen bezeichnet Rancière schließlich als Demokratie (2002, 111). Demokratie ist für ihn also „keine Herrschaftsform oder gesellschaftliche Lebensweise“, sondern „das System der Formen der Subjektivierungen, durch welche jede Ordnung der Verteilung der Köper nach Funktionen, die ihrer ‚Natur‘ entspricht, und nach den Plätzen, die ihren Funktionen entsprechen, in Frage gestellt, auf ihre Kontingenz verwiesen wird“ (2002, 111). Unschwer lassen sich die Gemeinsamkeiten zwischen den Konzeptionen von Rancière und Laclau erkennen. Der zentrale Berührungspunkt beider Ansätze ist, dass sie jeweils einen grundlegenden, nicht-schmittianischen aber dennoch personifizierten Antagonismus zur Grundlage ihrer Bestimmung 204

des Politischen/der Politik/der Polizei machen. Genauso wie Laclau ergänzt Rancière das identifizierte strukturelle Prinzip mit einer Zuweisung zu einer Gruppe von Subjekten: Die Armen und Anteilslosen (Rancière) entsprechen bis ins Detail dem Lumpenproletariat und der sozialen Heterogenität (Laclau). Auch die äquivalente Beziehung, die die Armen miteinander verbindet, die durch ein gemeinsames Außen hergestellte Gemeinsamkeit, ist in Rancières Darstellung deutlich greifbar. Die für Rancière zentrale Begrifflichkeit „Unvernehmen“ – das strukturelle und zwangsläufige Missverständnis zwischen den Ungleichen – umschreibt schließlich nichts anderes als die Grundbedingung von Laclaus sozialer Heterogenität. Ein solches Unvernehmen, darauf will Rancière hinaus, kennzeichnet das Verhältnis zwischen den Anteilhaben­ den und den Anteillosen, es repräsentiert den konstitutiv fehlenden gemeinsa­ men Repräsentationsraum zwischen denen drinnen und denen ­d raußen. Aus meiner Perspektive ist Rancières Darstellung deshalb besonders interessant, weil bei ihm Polizei und Politik so nahe an die Stadt heranrücken. Die Polizei entspricht – Rancière bezieht sich explizit auf Foucaults Begriff der Polizey (vgl. Kapitel 4.1) – in weiten Teilen dem Urbanismus als eine die Stadt ordnende positive Regierungsform. Die Ordnung der Dinge ist eine städtische Ordnung, und die urbanistische Disziplin entwickelt sich aus den alten Bauund Polizeiordnungen (Roskamm 2011a). Politik ist für Rancière die Gegenbewegung zu einem solchen Urbanismus, die allerdings ebenso – auch das ist ein wichtiger Punkt – in der Stadt stattfindet. Denn hier versammeln sich die Anteillosen und Unzählbaren, die einst aus der polis ausgeschlossenen waren (ein Ausschluss, der die polis erst gegründet hat).20 Politik bekommt bei Rancière also eine explizit städtische Note und verdeutlicht damit das, was auch schon bei Laclau zu bemerken gewesen ist: Das Lumpenproletariat bringt das Politische in die Stadt zurück, die Ausgeschlossenen kehren wieder, um die unbesetzte Stadt mit ihrer Anwesenheit zu besetzen. Aber auch Laclau selbst nimmt den Weg in die Stadt. Und zwar schlägt er diese Richtung ein, indem er Frantz Fanon und dessen berühmten Text Die Verdammten dieser Erde ([1961] 1966) in seine Analyse einbezieht. Fanon ist ein früher Protagonist der in der heutigen kritischen Stadttheorie sehr präsenten postkolonialen Theorie. In seinen Schriften analysiert er die koloniale 205

Gewalt und die Gegengewalt der Unterdrückten in den kolonisierten Ländern. Fanon, der in den 1950er-Jahren eine der wichtigsten Stimmen der antikolonialen Bewegungen in Afrika gewesen ist, wendet sich in seiner Schrift genauso von der europäischen Arbeiterklasse ab wie von den westlichen linken Intellektuellen. Beide betrachtet er nicht als Verbündete für die Befreiung der kolonisierten Länder. Seine Hoffnungen setzt er auf den gewaltsamen Aufstand der afrikanischen Landbevölkerung. Fanon verwendet in seinem Manifest der afrikanischen und antikolonialen Revolution ebenfalls den Begriff des Lumpenproletariats. Dieses Lumpenproletariat gehorcht einer eigenen Logik und ist „wie eine Meute Ratten, die trotz Tritten und Steinwürfen die Wurzeln des Baumes annagen“ (1966, 111). Für ihn ist das „Lumpenproletariat, diese Horde von Ausgehungerten, die aus der Stammes- und Klangemeinschaft herausgerissen sind“, eine der „spontansten und radikalsten unter den revolutionären Kräften eines kolonisierten Volkes“ (1966, 110). Geburtsfehler des Lumpenproletariats sei allerdings „mangelndes Bewusstsein und Wissen“ (1996, 116). Deshalb müsse jede nationale Befreiungsbewegung die in ihrer „dumpfen Bewegung“ verharrende, „unteilbare, immer noch ‚mittelalterliche‘ Masse“ des Lumpenproletariats (1966, 126) ganz in den Fokus nehmen und ihr ihre größte Aufmerksamkeit widmen. Zwar antworte die unterste urbane Schicht nämlich „immer auf den Appell zum Aufstand, aber jedes Mal, wenn der Aufstand glaubt, ohne das Lumpenproletariat auskommen zu können, wird sich diese Masse von Ausgehungerten und Deklassierten auf der Seite des ­Unterdrückers in den Kampf stürzen und am Konflikt teilnehmen“ (1966, 116). Im Lumpenproletariat – „in dieser Masse, in diesem Volk der Slums“ –, so die Prognose von Fanon, würde der Aufstand jedenfalls „seine Lanzenspitze gegen die Städte finden“ (1966, 110). Der Kampf der Kolonisierten gegen die Kolonisierer verändere sein Gesicht mit dem „Einbruch des Aufstandes in die Städte“ (1966, 111), er werde zum Kampf in den Städten und gegen die Städte. Das Lumpenproletariat, so formuliert Fanon mit drastischen Worten und im unverkennbaren Modus des Biopolitischen, sei die „uneindämmbare Fäulnis, 206

der Krebsschaden mitten in der Kolonialherrschaft“ und drücke „mit all ­seinen Kräften auf die ‚Sicherheit‘ der Stadt“ (1966, 111). Bei Fanon finden wir damit zum einen den in Marx’scher Tradition stehenden Skeptizismus gegenüber der Stadt samt deutlicher Anleihen im biologistischen Register – es handelt sich gewissermaßen um einen Text, der mit ganz traditionellen urbanistischen Bildern und Denkfiguren agiert. Zum anderen und gleichzeitig ändert sich – im Verhältnis zu Stadtanalyse von Marx – die Konnotierung: Das Lumpenproletariat ist ein Krebsschaden, aber eben ein Krebsschaden von zwei Dingen – Kolonialherren und Städte –, gegen die Fanon sich richtet, also ein zu begrüßender Krebsschaden. Die Analyse von Laclau lautet nun, dass Fanon – trotz aller Übereinstimmung zum Marx’schen Konzept des Lumpenproletariats – einen entscheidenden Punkt außen vor lässt, und zwar die konstitutive Exklusion (der Lumpen) aus dem Produktionsprozess. Da Fanon dieses Ausgeschlossensein nicht in seinen Ansatz einbezieht, muss er etwas anderes betonen, und deshalb identifiziert er das Lumpenproletariat wieder verstärkt mit seinem ursprünglichen Referenten – mit dem Pöbel der Städte. [„the rabbit of the cities“] (Laclau 2005, 34). Das führt, so argumentiert Laclau, zum einen dazu, dass Fanon eine „innere Kohärenz“ (2005, 151) der von ihm bekämpften Ordnung behauptet, also einen zusammenhaltenden kolonialen städtischen Rahmen. An die Stelle eines Klassenkampfs und des Ziels, die Produktionsverhältnisse zu ändern, setzt Fanon auf eine gegen das Städtische gerichtete antikoloniale Bewegung, was nach Laclau eine Überbetonung des Städtischen (oder auch – wie sich ergänzen lässt – des Anti-Städtischen) zur Folge hat. Zum anderen kann Fanon, so Laclau weiter, ohne die Einbeziehung der Produktionsverhältnisse die Problematik der Heterogenität nicht „in ihrer ganzen Generalität“ einfangen (2005, 151). Da die anti-kolonialen und anti-urbanen Frontstellungen keine partikulare Forderung hervorbringen (keine demo­­ cratic demands), ist es auch nicht möglich, eine partikulare Kraft zu ent­ wickeln. Fanon produziert ein Modell, in dem ein kollektiver totaler Wille die Antriebs­k raft ist, der mit dem individuellen partikularen Willen zusammenfällt, mit ihm identisch wird. Das wiederum führt dazu, dass sich der Zwischenraum zwischen dem Totalen und dem Partikularen schließt und politische 207

Artikulation sich verunmöglicht. Nicht nur das Totale ist notwendig, auch das Partikulare – darauf möchte Laclau hinaus. Bei Fanon gibt es überhaupt keine Artikulation mehr. Laclau arbeitet damit heraus, dass bei Fanon das Kontingente (die Möglichkeit der Kontingenz, der leere Platz) verschwindet – eine Kritik, die meines Erachtens sowohl für viele neo-marxistische als auch für manch post-koloniale Theorieansätze von Relevanz ist. Bei der Betrachtung von Laclau und Fanon zeigt es sich, dass beide unterschiedliche Positionen in ihrem Verhältnis zum Lumpenproletariat einnehmen. Fanon ist nicht nur Intellektueller, sondern er ist vor allen Dingen ein Aktivist. Er möchte die Verdammten dieser Erde tatsächlich und unmittelbar vertreten. Laclau dagegen denkt über das Lumpenproletariat nach, nicht, um es zu vertreten, sondern, um über sich selbst etwas zu erfahren. Das lässt sich anhand der von Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem klassischen Text „Can the Subaltern Speak?“ verdeutlichten Unterscheidung des Begriffs Repräsentation herausarbeiten. Spivak unterscheidet „repräsentieren“ im Sinne von „vertreten“ auf der einen und im Sinne von „darstellen“ auf der anderen Seite. Sie fragt, welche dieser beiden Repräsentationsarten zwischen den Ausgebeuteten/Ausgeschlossenen und den Intellektuellen/ Theoretikern am Wirken ist. Für die Letzteren könne es, so die Kritik von Spivak, weder darum gehen, die Ausgeschlossenen zu vertreten, noch darum, für jene als Fürsprecher aufzutreten – beides wäre eine Form von Paternalismus, mit dem der Kolonialismus nur reproduziert wird. Was den Theoretikern bei der Thematisierung des Außen bleibt, ist der Versuch, sich selbst zu verstehen: „To confront them is not to represent [vertreten] them but to learn to represent [darstellen] ourselves.“ (Spivak 1988, 288) In diesem Sinne sollte meines Erachtens die heute vielfach zu hörende und zumindest in Teilen sicherlich berechtigte postkoloniale Kritik (vgl. etwa Lanz 2015) interpretiert werden. Es ist wenig weiterführend, wenn Intellektuelle aus dem globalen Süden Denkverbote für westliche Intellektuelle aussprechen. Die westlichen Theoretiker an ihre Position zu erinnern und Konsequenzen aus dieser Position zu fordern ist dagegen nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Bei der Diskussion von Fanons Ansatz ist aus meiner Perspektive ein weiterer Punkt herauszustellen: Die Antagonismustheorie von Laclau nähert sich hier 208

einer Betrachtung des „Wesens des Städtischen“. Das Thema taucht zwar eher am Rande, aber doch ziemlich kontinuierlich auf. Laclau schreibt, dass das Markenzeichen des Lumpenproletariats seine Distanz vom Produktionsprozess sei und dass sich die Frage aufdränge, ob diese Distanz nur beim Pöbel der großen Städte zu finden ist. „Given that the ‘inside of history’ is conceived as a history of production (‘the anatomy of civil society is Political Economy’), its distance from the productive process becomes the trademark of the lumpenproletariat. And the question arises: is that distance to be found only in the rabble of the big cities?“ (2005, 144) Diese Frage bleibt in Laclaus Text aber ohne eine Antwort. Dass das Lumpenproletariat ein städtisches Phänomen ist – ein Phänomen, das in den großen Städten zum Vorschein kommt –, stellt er also immer wieder fest, aber es wird nicht klar, ob diese Feststellung eine Bedeutung hat, und falls ja, welche. Für ein Nachdenken über die Stadt ist die Konzeption von Laclau jedenfalls fruchtbar. Die Stadt findet hier – zusammen mit dem Marx’schen Lumpenproletariat – ihren Weg in den Theorieraum des Politischen und des Antagonismus. Das Lumpenproletariat markiert genau den Punkt, an dem das Marx’sche Denken in die Krise gerät und es setzt diese Marke in der Stadt. Vielleicht kann man sagen, dass in der Stadt die Krise der Marx’schen Theorie aufgehoben ist. Die Stadt als der Ort des städtischen Pöbels ist auch der Ort, an dem die Marx’sche Geschichtsphilosophie aufläuft, an dem der Marx’sche Ökonomismus ins Wanken gerät und vor der verdichteten Heterogenität kapituliert.

• Insgesamt ergeben sich damit unterschiedliche Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen der Sozialtheorie des sozialen Antagonismus und dem Nachdenken über die Stadt und das Urbane. Historisch kann die polis als Gründung begriffen werden, die auf einem Ausschluss beruht (auf einem sozialen Antagonismus) – aus dieser Perspektive rückt auch das zeitgenössisch Ausschließende der heute oftmals als Inklusionsmaschine behaupteten Stadt in den Mittelpunkt. Zudem ist die Stadt im Lichte der hier verhandelten Theorie als ein 209

leerer Signifikant zu bestimmen, als ein Transportmittel, mit dem vom Partikularen ausgehend das Universale erstrebt werden kann und auch erstrebt wird – das „Recht auf Stadt“ ist das prominenteste Beispiel für solch eine Bewegung. Die Stadt wird dabei zum unmöglichen Objekt, zu einem Bedeutungssystem, das nicht geschlossen werden kann. Was sich im urbanen Kontingenz­ raum zwischen dem Partikularen und dem Universellen abzeichnet, ist eine unbesetzte Stadt, eine Stadt, die sich in ihrer Unbesetztheit konstituiert. Die Versuche der Schließung und das notwendige Scheitern dieser Versuche werden dadurch zu exponierten Sphären für eine Untersuchung des Städtischen. Weiterhin lässt sich an dieser Stelle, gewappnet mit den Instrumenten der ­A ntagonismustheorie, die Frage stellen, ob es möglicherweise einen Grund ­geben könnte, die Stadt – etwa gegenüber der Gesellschaft – zu bevorzugen. Denn diese Frage ist irgendwann einmal zu stellen, wenn die Bereiche Sozial­ theorie und Stadt zusammengebracht werden. Warum sollte es überhaupt sinnvoll sein, sich mit der Stadt zu beschäftigen (oder gar eine Stadttheorie zu ­propagieren)? Gibt es Gründe, das Städtische gegenüber dem Sozialen zu privilegieren? Ein erstes Argument könnte lauten: Warum eigentlich nicht? Das Soziale scheint nicht mehr und nicht weniger problematisch zu sein als das Städtische, und daher gibt es, andersherum betrachtet, keinen triftigen Grund, das Soziale in den Vordergrund zu stellen. Was tatsächlich für die Stadt sprechen könnte, ist die Verbundenheit der Stadt zu den Dingen und zu den in ihnen aufgehobenen Ideen. Eine Stadt ist schon ein Ding, wie Engels es sagt. Und sie besteht auch aus lauter Dingen. Das erstarkte Interesse der Sozialtheo­ rie an den Objekten könnte also zu einem Einfallstor in die Stadt umgebaut werden (Kapitel 5.2). Eine solche Deutung wäre zudem durch die immer ­w ieder anklingende Vorliebe der Gespenster für die Residuen des Urbanen zu unterstützen (Kapitel 5.1). Die Stadt als materielle Verdichtung bietet sich als sozialtheoretischer Reflexions- und Resonanzraum an, und die eigentliche Frage ist, wie ein solches Nachdenken zu gestalten ist.

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3.4

Die Notwendigkeit der Kontingenz

Die Verbundenheit von Antagonismustheorie und (critical) urban studies ist evident. Der Grund dafür besteht darin, dass die kritische Stadtforschung sich aus dem Marx’schen Denken entwickelt hat, in dem Antagonismus und Konflikt bekanntlich zentrale Rollen spielen. Die postmarxistische Ausarbeitung des Antagonismus zu einem der beiden hauptsächlichen Fundamente des Postfundamentalismus ist daher etwas, was in den Stadtwissenschaften häufig auf Interesse und vielerorts auch auf Zustimmung trifft. Etwas anders verhält es sich beim zweiten postfundamentalistischen Fundament, nämlich beim Konzept der Kontingenz. Kontingenz bezeichnet allgemein die Grundannahme, dass es auch anders sein könnte. Die Thematisierung von Kontingenz stößt auf dem urbanistischen Feld – das ist meine Erfahrung – häufig auf Unverständnis und Ablehnung. Und zwar nicht nur bei den Repräsentanten des traditionellen Urbanismus, bei denen es, wenn man sich mit der Geschichte des Feldes beschäftigt hat, wenig verwundert, dass das Konzept der Kontingenz der dort traditionell gepflegten und tief verwurzelten fundamentalistischen Haltung rigoros entgegenläuft (vgl. Kapitel 4). Überraschender ist es möglicherweise, dass auch in den Theoriediskursen der kritischen Stadtforschung Kontingenz kein besonders beliebtes Thema ist. Eher widerwillig wird dort wohl zugestanden, dass Machtverhältnisse „meinetwegen kontingent“ sind, diese Erkenntnis aber gerne banalisiert und/oder als eher lästige und überflüssige Binsenwahrheit abgetan. Möglicherweise hat dieser Befund mit der natürlichen Notwendigkeit von Gründungen auf dem urbanistischen Feld zu tun – Gebäude brauchen Gründungen –, die bei der Betonung von Kontingenz brüchig zu werden drohen. Vielleicht wird in dem Unverständnis und Unbehagen hinsichtlich Kontingenzannahme und -erfahrung aber auch einfach deutlich, wie sehr die critical urban studies dann doch originärer Teil des urbanistischen Feldes sind. Ohne feste Fundamente scheint es in beiden Fällen kein Auskommen zu geben: weder beim Ziel, eine Stadt zu planen/zu bauen, noch bei der Aufgabe, Stadt zu verstehen/zu durchdringen. Während der ­Diskurs zur alten marxistischen Kategorie des Antagonismus akzeptiert ist, belastet die Kontingenz ein verinnerlichtes Selbstverständnis, das auf 211

Rationalität, Objektivismus und einem traditionellen Konzept von Empirie aufgebaut ist. Erschwerend kommt hinzu, dass dem Konzept der Kontingenz regelmäßig der Geruch der Postmoderne anhängt (oder angehängt wird). Die Postmoderne, die im Rahmen von Architekturdiskursen früh auf dem urbanistischen Feld angekommen (und auch früh wieder abgelehnt worden ist), ist in der zeitgenössischen Stadtforschung ebenfalls ein rotes Tuch. Bei genauerer Betrachtung hat postmoderne Beliebigkeit allerdings wenig mit Kontingenz zu tun: Im Kern jeder Kontingenztheorie wird, wie wir gleich sehen werden, herausgearbeitet, dass Kontingent-Sein keinesfalls Beliebig-Sein bedeutet. Mein Anliegen auf den folgenden Seiten ist es, das postfundamentalistische Fundament der Kontingenz genauer zu betrachten und zu untersuchen, warum es so wichtig ist, nicht nur die Kontingenz der Notwendigkeit zu denken, sondern auch – wie es Louis Althusser (2010 [1994], 41) formuliert hat – die Notwendigkeit der Kontingenz.



Ein möglicher Zugang zum Konzept der Kontingenz ist die politische Theorie von Hannah Arendt, die mit ihrem Fokus auf den öffentlichen Raum einen der Kreuzungspunkte zwischen politischer Theorie und urbanistischem Feld besetzt. Arendts Arbeiten sind in der politischen Theorie und zum Teil auch in den Sozialwissenschaften äußerst einflussreich, während der in ihrem Werk zentrale Begriff des öffentlichen Raums ein Schlüsselkonzept auf dem urbanistischen Feld ist. An ihrem Denken haben sich unzählige Theoretikerinnen und Theoretiker abgearbeitet. In diesem Kontext wurde sie auch – und das ist zu einem eigenen und nicht mehr wegzudenkenden Teil der Rezeption ihrer Ansätze geworden – immer wieder (und teils in scharfer Form) kri­t isiert, etwa im Kontext der feministischen Theorie in den 1980er-Jahren. Arendt wurde dabei vor allem vorgeworfen, politische Ökonomie und soziale Ungleichheit aus ihrem Konzept des öffentlichen Raums ausgeschlossen zu haben (vgl. Fraser 1994, 247). Andere Stimmen bewerten den Bezug auf die griechische polis als exercise in nostalgia (Benhabib 1996, 172) oder erklären, dass ihr Konzept vom öffentlichen Raum den Herausforderungen der modernen Zeiten 212

nicht gerecht werden würde (Madanipour 2003, 157). Eine ganze Weile lang war es sehr populär, „mit Arendt gegen Arendt“ zu denken (Benhabib 1996, 198), vermutlich nicht zuletzt wegen der fundamentalen Kritik der streitbaren Theoretikerin an den Konzepten des Sozialen und der Soziologie im Allgemeinen und an den Arbeiten von Marx und Engels im Besonderen. Es ist aber nicht nur ihre politische Haltung, es ist ihr ganzer Denkstil (das „Denken ohne Geländer“), mit dem sie eher traditionalistische Herangehensweisen konfrontiert. Seyla Benhabib hat Arendt einmal als Postmodernistin avant la lettre bezeichnet und liegt dabei vermutlich nicht ganz falsch.21 Arendt entwickelt in ihrem Hauptwerk The human condition (1958) [1960 auf Deutsch als Vita activa veröffentlicht] eine Theorie des öffentlichen Raums, der sie verschiedene Reflexionen über die antike polis zu grunde legt. Der Griechische Stadtstaat ist für sie der Idealtypus für die Teilung in eine öffentliche und in eine private Sphäre, eine Teilung, die im Wesentlichen in drei Unterscheidungsmerkmalen ihren Ausdruck findet: erstens im Ziel (Freiheit versus Wohlfahrt), zweitens im Modus (öffentlich/gemeinsam versus versteckt/ vereinzelt) und drittens in der Voraussetzung (unabhängig versus abhängig vom Ökonomischen). Dass Arendt diese Darstellung auf die polis und die dort in Erscheinung tretenden Akteure der Oberschicht bezieht, hat dazu geführt, ihrer Konzeption des öffentlichen Raums als naiv und reduktionistisch zu bezeichnen. Tatsächlich trägt sie an mancher Stelle dazu bei, einen solchen Eindruck entstehen zu lassen, und zwar vor allem dann, wenn sie ihren Ansatz mit einem Elitismus einrahmt, der in ihren Texten immer wieder aufblinkt.22 Der Vorwurf, sie würde die Exklusivität der polis nostalgisch romantisieren und die exklusive Vorausetzung verschweigen, übersieht allerdings, dass Arendt das Ausgeschlossensein sogar als eigentliche Gründungsbedingung der polis expliziert. Die dort vorhandene Gleichheit, so formuliert sie in The human condition, habe „sicher sehr wenig mit unserer Vorstellung von Egalität gemein: sie bedeutete, daß man mit seinesgleichen zu tun hatte, und setzte so die Existenz von ‚Ungleichen‘ als selbstverständlich voraus, wie denn ja auch diese ‚Ungleichen‘ stets die Mehrheit der Bevölkerung in den Stadt-Staaten gebildet haben“ (1967, 34).23 213

Arendt möchte mit ihren beiden Idealtypen also nicht die Existenz von Ungleichheit verwischen oder unkenntlich machen, sondern hat etwas anderes im Sinn, nämlich die begriffliche Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Politischen. Eine begriffliche und theoretische Hauptschwierigkeit sieht sie darin, dass „die Neuzeit das Gesellschaftliche nicht eigentlich vom Politischen scheidet und unterscheidet“ (1967, 35). Für Arendt ist das der Anfang vom Ende des eigentlich Politischen, der Beginn des Niedergangs der öffentlich-politischen Sphäre. Das Soziale ist für sie das Konzept des guten Lebens, während das Politische im Konzept der Freiheit aufgeht. Ihre historische und mit mindestens leicht kulturkritischer Schlagseite ausgestaltete historische Analyse lautet, dass das Politische im Lauf der Jahrhunderte durch das Soziale verdrängt worden ist. Interessant ist es, dass Arendt insbesondere Karl Marx dafür verantwortlich macht, diesen Niedergang des Politischen bewirkt und besiegelt zu haben. Mit Marx hätte die Geschichte einen Punkt ohne Wiederkehr erreicht, von dem an sich das Ziel von Revolutionen und politischen Kämpfen grundlegend geändert habe: Nicht mehr Freiheit, sondern „Wohlbefinden“ sei zum eigent­ lichen Motiv jeglicher revolutionären Bewegungen und Kämpfe geworden (1968, 75). Das Denken von politischem Wandel wäre seitdem komplett von der sozialen Frage dominiert. Marx Verdienst sei es zwar, Armut und soziale Ungleichheit nicht mehr als Naturereignis, sondern als „politisches Phänomen“ (1968, 78) zu begreifen (und dieses Verständnis etabliert zu haben), er habe aber auch mehr als jeder andere dazu beigetragen, der „politisch jedenfalls verderblichsten Lehre der Moderne, daß das Leben der Güter höchstes und daß der Lebensprozeß der Gesellschaft Zweck und Ende aller Politik sei, zu einem endgültigen Sieg zu verhelfen“ (1968, 79). Bei Marx werde Politik reduziert auf eine „Funktion der Gesellschaft“, wohingegen „Handeln, ­Sprechen und Denken primär zum Überbau sozialer Interessen“ gehören würden und damit nicht zu deren Basis (1967, 35). Marx vollziehe damit, so Arendt weiter, eine schon viel länger zu beobachtende Entwicklung, nämlich die Unterordnung des Politischen unter das Soziale, die Aufhebung des Öffentlichen durch das Private. Die Erhebung des Sozialen und Ökonomischen (des Materiellen!) auf Kosten des Politischen sei dabei „weder eine Entdeckung noch eine bloße 214

Erfindung von Marx, sondern gehört im Gegenteil zu den axiomatischen Vor­ aussetzungen, die Marx kritiklos von der politischen Ökonomie der Neuzeit übernommen hat“ (1967, 35).24 Daher habe sich die Revolution davon ver­ abschiedet, den „Erscheinungsraum der Freiheit neu zu gründen“ (1968, 79). Arendt beklagt damit einen Modus des Postpolitischen, den sie aber nicht – wie das heute üblich ist – im Neoliberalismus (oder im Liberalismus) ver­ortet, sondern im Kern des Marx’schen Denkens. Arendts Argument ist hier ähnlich der Schmitt’schen These (vgl. S. 165), nach der in der Neuzeit das ­Soziale und das Ökonomische die Vorherrschaft über das Politische erlangt haben. Allerdings unterscheidet sich ihr Ansatz darin von Schmitt, dass sie daraus keinen Antagonismus ableitet. Im Gegenteil ist das Politische für Arendt – mit Bezug auf die antike polis – eine Bühne des gemeinsamen und freien Austausches unter Gleichen. Ein solches Konzept steht nicht nur im Gegensatz zu Schmitts Freund-Feind-Theorie, sondern auch im Widerspruch zu den Interventionen der Agonismustheoretiker, die ja genau die Konzeption des Politischen im Sinne eines – wie etwa Chantal Mouffe es formuliert – habermasianischen ­Seminarraums kritisieren, in dem durch freie Kommunikation demokratische Konsense erzielt werden. Erwähnenswert ist auch Arendts Kritik an Empirie und Statistik. Arendt greift hier der Analyse von Foucault vor, der die statistische Methode als urbanis­ tisches Schlüsselelement der neuen Gouvernmentalitätstechniken der frühen Moderne herausarbeitet (vgl. Kapitel 4.1). Sie schreibt, dass auf „dem gleichen Konformismus, den die Gesellschaft verlangt und durch den sie handelnde Menschen in sich verhaltende Gruppen organisiert“ auch die Nationalökonomie beruht, „deren wichtigstes wissenschaftliches Rüstzeug die Statistik ist, welche die Berechenbarkeit menschlicher Angelegenheiten bereits als selbstverständlich voraussetzt“ (1967, 42).25 Die „statistische Einebnung geschichtlicher Prozesse“ habe, so erweitert Arendt ihre Analyse, „längst aufgehört, ein harmloses wissenschaftliches Ideal zu sein“ (1967, 44). Seit geraumer Zeit sei es vielmehr das „offenbare politische Ideal einer Gesellschaft“, die in den „Gesellschaftswissenschaften mit Recht die ‚Wahrheiten‘ sucht und findet, die ihrer eigenen Existenz entsprechen“ (1967, 44). Arendt fügt – ebenfalls ganz im Duktus von Foucault – hinzu, dass aus der als unbestreitbar konzipierten 215

„Gültigkeit statistischer Gesetze im Bereich großer Zahlen“ folge, dass „jede Zunahme der Bevölkerung diesen Gesetzen eine erhöhte Geltung verleiht“ (1967, 43). Politisch gesprochen bedeute das, „je größer die Bevölkerung […] anwächst, desto wahrscheinlicher ist es, daß das Gesellschaftliche und nicht das politische Element den Vorrang innerhalb des öffentlichen Bereiches erhält“ (1967, 43).26 Das ist der Kontext, in dem Arendt ihre Theorie vom öffentlichen Raum ausbreitet – eine Theorie, die auf direktem Wege zum Thema der Kontingenz zurückführt. Da ist zunächst der Begriff des Öffentlichen, der bei Arendt zwei Bedeutungen hat: Erstens bezeichnet er die Welt selbst und zweitens das Gemeinsame (also das, was heute als commons bezeichnet wird). Die Welt ist dabei in dem Sinne zu unterscheiden von der Erde und der Natur, dass erstere menschengemacht ist, wohingegen letztere ohne Einfluss/Beeinflussung des Menschen existiert. Die Welt, so lautet Arendts Definition, besteht aus menschlichen Artefakten – solche Artefakte machen die Welt erst zur Welt. Das Gemeinsame ist einfach das, was nicht privat ist, das, woraus sich das Gemeinwesen zusammensetzt, das, was den Menschen gemein ist (vgl. Geuss 2013). „In der Welt zusammenleben“, so entwickelt Arendt ihr Argument, „heißt wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist“ (1967, 52). Im Begriff der Dingwelt kommt das zum Vorschein, was uns schon mehrfach beschäftigt hat und was uns später noch ausführlich beschäftigen wird. Durch die Verbindung von Welt und Ding ermächtigt Arendt die Dinge, eine eigene Bedeutung zu haben. Und zwar – das ist das Entscheidende – ohne dabei essentialistisch zu werden. Die Dingwelt ist menschengemacht. Es gibt weltliche Dinge, Dinge, die eine Bedeutung haben, aber eine Bedeutung, die vom Menschen ausgeht/vermittelt ist. Die Heimstatt der Dinge ist das Dazwischen. Diesen sonderbaren Ort umschreibt Arendt mit dem Bild des Tischs: Die dazwischenliegende Welt der Dinge bildet den Zwischenraum „in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist“ (1967, 52). Auch der Tisch wird uns weiter unten wiederbegegnen, bei Derrida und bei Marx: zum einen als Tisch, der auf dem Kopf steht und dabei 216

tanzt; zum anderen als Gegenstand aus Holz, einem Material, das im Griechischen der Inbegriff für Materie ist. Bei Arendt ist der Tisch das, womit der öffentliche Raum umschrieben werden kann. „Der öffentliche Raum […] versammelt Menschen und verhindert gleichzeitig, daß sie gleichsam über- und ineinanderfallen“ (1967, 52). Im öffentlichen Raum versammeln sich die Menschen und zugleich generiert er die Kraft, die versammelt. Verortet ist der öffentliche Raum in einer von einer Dingwelt ausgefüllten Sphäre, in einem Dazwischen, in einer Zwischenwelt, die sich den Dingen öffnet (vgl. Kapitel 5). Eine solche Konzeption beinhaltet den eigentlich radikalen politischen Aspekt von Arendts Theorie, nämlich, dass der öffentliche Raum nicht als ein Drumherum, sondern als ein Dazwischen zu verstehen ist (vgl. Marchart 2005, 89). Dadurch wird das Politische neu verortet (im öffentlichen Raum), und es wird kontingent (weil menschengemacht). Über ihre Theorie vom öffentlichen Raum eröffnet Arendt damit nicht zuletzt die Möglichkeit, dem Begriff des Politischen eine „emphatisch radikaldemokratische Wendung“ zu geben (Jaeggi 1997, 147). Bevor dieser Gedanke weiter ausgeführt wird, ist noch ein (gerade auch für das urbanistische Feld) wichtiger Punkt in Arendts Ausarbeitung vom öffentlichen Raum zu betrachten, und zwar der Aspekt der Verräumlichung. Der öffentliche Raum als gebauter Raum hat bei Arendt eine sedimentierende und stabilisierende Funktion, mit ihm werden Dauerhaftigkeit und Robustheit hergestellt. Arendt schreibt: „Denn die Polis war für die Griechen – wie die res publica für die Römer – primär eine Garantie gegen die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit des Lebens der Einzelnen.“ (1967, 55) Ziel ist es also stets gewesen, Dauerhaftigkeit herzustellen, Kontinuität zu gewährleisten, Stabilität zu garantieren. Der öffentliche Raum war der Raum, „der gegen alles nur Vergängliche geschützt und dem relativ Dauerhaften vorbehalten“ gewesen ist. Die Verräumlichung des öffentlichen Raums hat in der Theorie von Arendt die Aufgabe, das Ephemere zu verstetigen, das Flüchtige einzuhegen. Aber nicht, um es zu bekämpfen, sondern um es möglich zu machen. Die Natur des Öffentlichen (und des Politischen) ist die des Flüchtigen, das im gemeinsamen Handeln, beim Teilen von Taten und Worten entsteht. Das, was der öffentliche Raum (und auch die polis) beinhaltet, ist damit das Politische selbst. Und dieser 217

Inhalt entsteht durch gemeinsames Handeln. Die Verräumlichung – die Einhegung mit Mauern und die Einhegung durch Institutionen und Gesetze – ist dagegen zum einen die Gründungsbedingung – nur in diesem geschützten Raum kann das Öffentliche entstehen und sich entfalten –, zum anderen das, was dem Flüchtigen einen – wenn auch nur temporären – Schutz gewähren soll. Arendt erläutert das mit einem zweiten Argument: der These, dass im antiken Griechenland „das Aufstellen des Gesetzes […] eine vorpolitische Aufgabe“ gewesen ist, die „das eigentlich Politische, nämlich die Polis selbst, konstituiert“ (1967, 62). Die „Mauer des Gesetzes“, die das politische Leben der Stadt umhegt und beherbergt, ist als räumliche Komponente die Voraussetzung für die Existenz des öffentlichen Raums, aber sie ist ihm vorgängig (1967, 62). Deshalb ist auch die polis „genau genommen nicht die Stadt im Sinne ihrer geographischen Lokalisierbarkeit“, sondern das Ergebnis, das „sich aus dem Miteinanderhandeln und -sprechen ergibt“ (1967, 192). Arendt ist hier ganz deutlich: Der öffentliche Raum der polis „liegt zwischen denen, die um dieses Miteinander willen zusammenleben, unabhängig davon, wo sie gerade sind“ (1967, 192). Der „Inhalt des Politischen […] war weder die Stadt noch das Gesetz – nicht Athen, sondern die Athener waren die Polis“ (1967, 188). Bringt man Arendts Konzept des öffentlichen Raums mit dem Raumkonzept von Laclau ins Gespräch (vgl. Kapitel 3.2), zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsam ist beiden Ansätzen zunächst, dass Raum auf unterschiedliche Weisen konstituiert wird: auch baulich und physisch, aber nicht ausschließlich. Raum wird jedes Mal als menschengemachtes und verän­der­ bares Bedeutungssystem gedacht. Entsprechung finden die Konzepte von Arendt und Laclau zudem darin, dass beide Male zwei grundlegend gegen­ läufige Antriebskräfte für alle soziale und historische Bewegung identifiziert werden, nämlich das Flüchtige und Performative auf der einen und das Stabilisierende und Verfestigende auf der anderen Seite. In beiden Versionen wird dabei das unstete Moment zum Synonym des Politischen. Schließlich geht es in beiden Theorien um das Vorhandensein eines Dazwischen, um die Existenz eines Zwischenraums, um eine konstitutive Leerstelle. Würde diese Lücke geschlossen werden, so lautet die Analyse, würde eine ­solche Schließung dem Politischen die Luft zum Atmen nehmen und hätte abso­ 218

luten Stillstand zur Folge. In beiden Modellen ist ein unbesetzter Zwischenraum unbedingt notwendig für die Möglichkeit, zu handeln. In ihrer ­a llgemeinen Konzeption ähneln sich also die Modelle von Arendt und Laclau ­signifikant. In einem wichtigen Punkt unterscheiden sich aber die beiden Ansätze. Und zwar darin, dass den unterschiedlichen Antriebsarten bei der Herstellung des Öffentlichen und Politischen verschiedene Wirkungsweisen zugeschrieben werden. Bei Laclau bekämpfen sich das Stabilisierende und das Destabilisierende, ihre Begegnung ist konstitutive Konfrontation und erzeugt ein unabstellbares Brodeln, das allem Sozialen zugrunde liegt. Bei Arendt hingegen erhält das Stabilisierende eine Schutzfunktion für das Flüchtige/das Politische und ermöglicht erst das Politische. Was bei ihr allerdings nicht vorkommt, ist die Dimension des Konflikts als inhärenter Faktor des Theoriemodells.27 Nur deshalb, so scheint es, wird es für sie auch erforderlich, immer wieder in den Modus einer eher kulturpessimistischen Betrachtungsweise zu schalten, bei dem der historische, allgemeine und komplette Niedergang des Politischen wie des Öffentlichen beklagt wird. Da der Konflikt nicht in das theoretische Modell intergiert wird, bahnt er sich seinen Weg mittels der Zeitdiagnose. Was durch den Verzicht auf die Konfliktdimension als Element der Theorie bei Arendt aber besonders deutlich zum Tragen kommt, ist das Konzept der Kontingenz. Während nämlich bei Laclau Antagonismus und Kontingenz per­ manent ineinandergreifen und das eine das andere bedingt (und immer auch umgekehrt), erscheint bei Arendt das Denken von Kontingenz ohne Antagonismus und damit gewissermaßen in reiner Form. Und zwar buchstäblich von Anfang an – ihr Ausgangspunkt ist der Anfang als solcher, das Anfangen selbst.28 Arendt betont in ihren Texten den Begriff des Anfangens in unterschiedlichen Variationen, und er wird für sie zur entscheidenden theoretischen Kategorie. Anfangen und Neubeginnen sind für sie die Verbindungen zu der universalen menschlichen Fähigkeit, Initiative zu ergreifen. Mit der Betonung des Anfangens beschreibt Arendt bereits eine spezielle Art von politischem Denken. Die Möglichkeit des Anfangens und Neubeginnens, und das ist der entscheidende Punkt, negiert die Annahme, Bedeutung würde aus sich heraus vorhanden sein, von vornherein und unveränderbar. Wäre das so, wäre 219

Anfangen zwecklos, da es nichts verändern könnte und also zu nichts führen würde. Anfangen ist nur dann sinnvoll möglich, wenn nicht alles bereits vorgegeben und festgelegt ist. Arendt bestreitet mit ihrem Grundmotiv des Anfangens die Existenz von gegebener unveränderbarerer objektiver Realität. Im Umkehrschluss erscheint Kontingenz als notwendige Vorbedingung. Die Bedeutung von Kontingenz zeigt sich auch in der Geschichtsphilosophie, die Arendt ihren Texten zugrunde legt. Zentral ist hier wiederum der Begriff Ereignis (vgl. S. 124 und S. 244), den sie von Alfred North Whitehead übernimmt und dem später in poststrukturalistischen Ansätzen eine Hauptrolle zukommt. Das Ereignis verkörpert das Unberechenbare, Unvorhersehbare, dasjenige, was sich in keiner Weise einer bereits bestehenden Ordnung einfügen oder sich aus ihr ableiten lässt. Das unvermittelt geschehene, nicht vorhersagbare Ereignis – Standardbeispiel ist der Ausbruch einer Revolution – ist der Bruch einer jeden kausal angelegten Verhältniskonstruktion. Mit dem Ereignis zeigt sich – dieses Thema liegt Anfang der 1960er-Jahre in der Luft – das Wesen des Realen: die „unendliche Unwahrscheinlichkeit, welche die eigentliche Struktur von dem konstituiert, was ‚real‘ genannt wird“ (1961, 169). Die Wirkung von einem Ereignis ist nie vollständig erklärbar, so berichtet Arendt, seine Faktizität transzendiert jeden Versuch einer Antizipation. Zudem beleuchtet das Ereignis mit seinem Auftreten die Geschichte selbst. Geschichte lässt sich in Arendts Theorie nur im Nachhinein begreifen, und zwar im Lichte, welches vom Ereignis erzeugt wurde. Marchart formuliert in seiner Analyse, dass bei Arendt damit die „Nicht-Gründung“ zur „Voraussetzung von Geschichte“ wird (2005, 180). Der „Entzug des Anfangs“ wäre für sie die „Bedingung der Möglichkeit jeder Neu-Gründung – sei es einer philosophischen oder einer historisch-politischen“ und nur „weil der Anfang selbst ungründbar ist, sind Neu-Beginne und Neu-Gründungen möglich“ (2005, 180). Damit wird das Ereignis zum Gegenbeweis einer jeden deterministisch angelegten Konzeption und lässt keinen anderen Schluss zu, als den, dass alle historischen und sozialen Bestimmungsfaktoren kontingent und damit auch veränderbar sind. Im Moment des Ereignisses, so sagt es Marchart, öffnet sich ein spezifischer Raum der Öffentlichkeit, ein momentaner und temporärer Raum, der selbst den Geist der Revolution (2005, 148) birgt.29 220

Und genau dort ist das Politische zu Hause. Das Politische ist nur möglich, wenn es eine Entscheidung für das eine oder für das andere gibt, wenn Alternativen möglich sind, weil nichts vorgegeben ist durch irgendetwas, was von außerhalb der Welt kommt.30 Kontingenz wird für Arendt jedenfalls zum very relevant issue (1961, 89), zum eigentlichen Grundthema. Sie wendet sich immer wieder vehement gegen jedes objektivistische und technokratische Verständnis des Politischen, gegen jeglichen Determinismus und jegliche Konzeption von historischer Vorbestimmtheit, gegen die Postulierung von Alternativlosigkeit.31 Arendt ist damit nicht nur Theoretikerin des öffentlichen Raums, sie ist vor allem (und davor) eine Kontingenztheoretikerin. Der öffentliche Raum ist hier Teil der menschen­ gemachten und deshalb veränderbaren Welt, und er ist ein notwendig unbesetzter Raum. Die agora der antiken polis, der Idealtypus von Arendts Theorie, ist freigehalten von Bebauung (ist baulich-räumlich unbesetzt), um Versammlungen Platz zu lassen, Raum zu geben und sie dadurch möglich zu machen. Der öffentliche Raum ist aber nicht nur baulich räumlich freigehalten, er darf auch nicht besetzt sein, was seine Bedeutung betrifft. Der öffentliche Raum hat die Aufgabe, das von ihm aufgespannte Dazwischen (zwischen dem Festen und dem Flüchtigen, zwischen dem Partikularen und Universellen) ­offen zu halten. Wenn das Dazwischen verschwindet, dann schließt sich der öffentliche Raum und mit ihm die Möglichkeit von Alternativen. Arendts Theorie des Anfangens ist das Gegenkonzept zum berühmten TINA-Postulat there is no alternative, mit dem Kontingenz erstickt und Möglichkeit vernichtet, öffentlicher Raum geschlossen wird. Zum steten Ziel von politischem Handeln wird es deshalb, so lässt sich die Theorie von Arendt deuten, öffentlichen Raum einzurichten, offen zu halten und zu erweitern.32 Die Forderung nach öffentlichem Raum ist synonym mit der Forderung nach Veränderlichkeit, und beide sind die Essenz von Arendts anti-essentialistischer Kontingenztheorie des ­Politischen.

• Natürlich würde es auch anders gehen. Die Theorie von Hannah Arendt ist hier vor allem deshalb als Zugang zum Konzept der Kontingenz gewählt 221

worden, weil sie mit ihrer Idee vom öffentlichen Raum ein Scharnier zwischen politischer Theorie und urbanistischem Feld bildet. Eigentlich hätte diese Verbindung gute Voraussetzungen geschaffen, einem Transfer von Kontingenztheorie in den Urbanismus den Weg zu bereiten. Bevor ich diskutiere, weshalb es nicht so gekommen ist, möchte ich einen weiteren Blick auf den Begriff der Kontingenz werfen. Um zu begreifen, was Kontingenz eigentlich ist und warum (und für was) sie so eine zentrale Bedeutung hat, ist es – so lautet mein Vorschlag – lohnend, den Ansatz von Niklas Luhmann zu rate zu ziehen. Luhmann expliziert in seinen Beobachtungen der Moderne ([1992] 2006) die Kontingenz als nichts anderes als den eigentlichen Kern (das eigentlich Moderne) der Moderne. Was immer in der modernen Gesellschaft geschieht, so Luhmann, „ist Einsatz im Kontext von Kontingenz“ (2006, 94). Luhmann definiert Kontingenz mit Verweis auf Aristoteles als Bezeichnung für dasjenige, „was weder notwendig noch unmöglich ist“ (2006, 96). Der Begriff der Kontingenz wird also durch eine Negation gewonnen, durch die Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Die Aussage „es könnte auch anders sein“ bedeutet, dass das, was kontingent ist, nicht nur nicht notwendig so ist (es könnte ja anders sein), sondern darüber hinaus, dass es nicht un­möglich ist (nämlich: möglich). Dass es anders sein könnte, impliziert eben gleichzeitig, dass es selbst möglich ist. Kontingenz und Notwendigkeit entfalten ­dabei eine „modaltheoretische Paradoxie“ zueinander, die „Kontingenz des Notwendigen“ und die Notwendigkeit der Kontingenz (1995, 181). Luhmann macht die Trennung der beiden Medien Raum und Zeit verantwortlich für das Entstehen dieser Paradoxie: „Der Raum macht es möglich, dass Objekte ihre Stellen verlassen. Die Zeit macht es notwendig, dass die Stellen ihre Objekte verlassen. Kontingenz wird dadurch mit Notwendigkeit, Notwendigkeit mit Kontingenz versorgt.“ (1995, 181) Luhmann fügt hinzu, dass Notwendigkeit und Unmöglichkeit selbst keine eindeutigen Konzepte sind und daher selbst kontingentgesetzt werden ­können. „Das Problem dabei ist, dass die beiden Negationen sich nicht auf eine reduzieren lassen. Das wiederum wäre nicht weiter schlimm, wenn man 222

Negation als identischen Operator behandeln und diesen einfach auf verschiedene Aussagen anwenden müßte. Hier wird aber ein Begriff durch zwei Negationen konstituiert, die dann im weiteren Einsatz des Begriffes als Einheit behandelt werden müssen.“ (2006, 96) Luhmann erklärt weiter, „daß Kontingenz im Vergleich zu Notwendigkeit und Unmöglichkeit eine voraussetzungsschwache Generalisierung darstellt und gerade deshalb den komplexen logischen Apparat erfordert – so als ob Verluste an Welteindeutigkeit mit logischen Mitteln kompensiert werden müssten“ (2006, 97). Schon im Mittelalter, so führt Luhmann sein Konzept mit einer historischen Betrachtung weiter aus, hat sich dabei herausgestellt, „daß Kontingenzpro­ bleme sich mit einer auf Ontologie (Sein/Nichtsein) bezogenen zweiwertigen Logik nicht adäquat behandeln lassen“ (2006, 96). Die Kontingenz wird deshalb zur logischen Herausforderung für die Denkapparate der klassischen Philosophie. Die klassische Zweiteilung in Sein und Nicht-Sein musste erweitert werden um die Kategorien des Anders-Seins und des Nicht-Notwendig-­ Seins. Diese Erweiterung, so Luhmann, hat die bisher im theoretischen Denken gesetzten Fundamente verunsichert, was wiederum dazu führte, dass die Problematik der Kontingenz in andere Sphären verschoben wurde, und zwar in den Geltungsbereich der Religion. Kontingenz wurde einem außerhalb des Menschen liegenden Verantwortungsbereich zugeschrieben und in das Geheimnis der Schöpfungsgeschichte verlagert: Auf der Ebene von Gott konnte die Möglichkeit des Anders-Sein-Könnens ausgehalten werden. In der Moderne (nach dem Tod Gottes) steht die Verschiebung in die Religion aber als gangbarer Weg nicht mehr zu Verfügung. Und diese Diagnose führt wieder zu Marx, an dem Luhmann das moderne Kontingenzbewusstsein festmacht. Die „muskulöse Metaphysik des Materialismus“ (2006, 20) sei und bleibe nämlich zumindest da bemerkenswert, wo von Marx ein naturbezogen gerechtfertigtes Wissen „in einen sozialen Kontext“ überführt worden ist (2006, 20) – also etwa bei der Marx’schen Abgrenzung des historischen Materialismus von einem mechanischen Materialismus (vgl. Kapitel 1.1). Luhmann postuliert, 223

dass zumindest dieser Punkt von Marx beizubehalten und über ihn hinauszuführen sei: „die grundlegende Einsicht […], daß die kapitalistische Wirtschaft nicht auf einer extrasozialen Objektivität beruht, sondern auf sich selbst“ (2006, 24). Bei Luhmann ist Marx damit nicht wie bei Arendt derjenige, der den Kontingenzraum durch einen Ökonomismus schließt, sondern der, der diesen Raum erst ganz öffnet. Tatsächlich, so lässt sich im Rückblick auf die Betrachtung von Arendts Konzeption sagen, sind vermutlich beide Argumente richtig: Marx öffnet und verschließt den Zugang zur Kontingenz als dem zentralen Konzept der Moderne. Dennoch (oder deshalb) drängt Kontingenz in der Moderne ganz ins Zentrum von Theorie und Reflexion, sie wird zum eigentlichen „Eigenwert“ (2006, 93) der Epoche. „Der Blick auf Kontingenzen“ wurde in weiten Teilen der Theorieproduktion der Moderne so verinnerlicht und „eingeübt, daß er sämtliches Suche nach Notwendigem, nach Geltungen a priori, nach unverletzlichen Werten begleitet und in der Kontingenz dieser Bemühung (die als Bemühung sichtbar wird) die Ergebnisse in Kontingentes transformiert“ (2006, 94). Der auf diese Weise gewonnene Erkenntnisstand muss allerdings – dieser Punkt ist wichtig für Luhmann – teuer bezahlt werden, und zwar mit einer Kontingenzerfahrung, die das sicher geglaubte Terrain erbeben lässt: Die „Bodenlosigkeit des Strukturgewinns wird abgefunden mit dem Pauschalzugeständnis“, dass es auch anders sein könnte (1991, 159). Alles, was betrachtet wird, erweist sich jetzt als kontingent, selbst die Vergangenheit wird, auch wenn sie selbst nicht mehr kontingent sein kann (oder kann sie es doch?) „so rekonstruiert, daß man sieht: auch sie war kontingent gewesen“ (2006, 94). Der „binäre Code der Wahrheit [ist] aus seiner Verankerung in präkonstruktivistischen Sicherheiten“ gelöst (2006, 34), die Kontingenz wird zum „Midas-­ Gold der Moderne“ (2006, 94). Die moderne Gesellschaft, so Luhmann, „kann sich nicht mehr auf einen Abschlussgedanken, auf eine referenz­ fähige Einheit, auf eine Metaerzählung […] beziehen, die ihr Form und Maß vorschreibt. Und in genau diesem Sinne ist die Semantik der Moderne gescheitert.“ (2006, 30)33 224

Luhmann zeigt in seiner Analyse also „die Einheit einer historisch-seman­ tischen Entwicklung, die den Übergang zur modernen Gesellschaft begleitet hat“ (2006, 52). Dieser Prozess, den Luhmann als „Lernen am unbegriffenen Phänomen der modernen Gesellschaft“ bezeichnet, „oszilliert zwischen Selbst­ zersetzung (schubweise unter Bezeichnungen wie Kritik, Nihilismus, Postmoderne) und utopischer Erneuerung“, mit denen die Kontingenzerfahrung verarbeitet wird (2006, 52). An dieser Stelle diskutiert Luhmann die Beziehung von Kontingenz und Postmoderne. Insgesamt bezeichnet er die „Kon­ trastierung von Moderne und Postmoderne“ zwar als wenig weiterführend (2006, 42). Ein Erfolg sei der Postmoderne aber nicht abzusprechen, nämlich das Verdienst, bekannt gemacht zu haben, „daß die moderne Gesellschaft das Vertrauen in die Richtigkeit ihrer eigenen Selbstbeschreibung“ verloren hat“, und zwar deshalb, weil jene Selbstbeschreibung selbst kontingent geworden ist (2006, 7). Mit dieser Diagnose wendet sich Luhmann auch gegen das weit verbreitete Missverständnis, Kontingenz und Postmoderne würden sich entspre­ chen. Kontingenz ist die Eigenschaft (das Fundament) der Moderne, nicht der Postmoderne. Die Postmoderne, falls es sie überhaupt gibt oder gegeben hat, hat lediglich die Aufgabe, etwas zu verkünden: die Kontingenz der ­Moderne. Das Ziel von Luhmanns Thematisierung und Problematisierung von Kontingenz ist es schließlich, eine „sachlich präzisere Vorstellungen über die ‚andere Seite der Rationalität‘ [zu] gewinnen“ (2006, 85), also die Bedingungen für einen kontingenzbewussten Theoriemodus zu umreißen. Luhmann fragt, ob es überhaupt eine Theorie geben kann, die den Begriff der Kontingenz zum Fundament hat. Er plädiert für einen Richtungswechsel, für ein Umdenken, bei dem es darum geht „zu verstehen, dass man nicht versteht“, einen Ansatz, der sich darauf einlässt, Strategien und „Semantiken zu erproben“, wie mit einer solchen Form von Nicht-Wissen zurechtzukommen ist (2006, 90). Absicht in der kontingenzbewussten Moderne könne es nicht mehr sein, das „Potential für Sicherheit“ auszuloten (2006, 90). Die neue Aufgabe sei vielmehr, sich mit den allgegenwärtigen Unsicherheiten vertraut zu machen. Luhmann entwirft damit (eher zurückhaltend als emphatisch) die Möglichkeit einer psychoanalytisch, ideologiekritisch und/oder wissenssoziologisch informierten Erkundung des „Ort[es] der Willkür, die nirgendwo einen Platz findet, um 225

Imagination“ (2006, 91).34 Und er deutet an, dass die dafür brauchbaren Praktiken mit einem Gespür für Zirkularität und Paradoxie ausgestattet sein müssen. Als Beispiele nennt Luhmann Semantiken des „imaginären Raumes“, des „blinden Flecks aller Beobachtungen“ und „des sich selbst parasitierenden Parasiten“ (2006, 85). Genau ein solches Denken von Kontingenz findet sich – darin besteht hier die Pointe – in der poststrukturalistischen Theorietradition. Das Denken von Kontingenz in verschiedenen Variationen ist das eigentliche Band, welches das poststrukturalistisch informierte Denken zusammenhält. Möglicherweise lässt sich Poststrukturalismus sogar so definieren: als strukturalistisches Denken plus Kontingenz. Der Rest zum Ganzen, das Objekt X, das objet a, all das sind unterschiedliche Annäherungen an das gleiche Thema: das Bewusstsein von Kontingenz.

• Es ist wenig verwunderlich, dass Kontingenz sich auch bei den bisher von mir diskutierten Denkern an zentraler Stelle wiederfindet. So macht etwa Giorgio Agamben die Kontingenz zur Grundlegung seiner Subjekttheorie. Kontingenz bedeutet für Agamben vor allem Nichtsein-Können und wird damit zum „tatsächliche[n] Gegebensein einer Möglichkeit, die Weise, in der eine Potenz als solche existiert“ (2003a, 127). Kontingenz „ist ein Ereignis […], das unter der Perspektive der Potenz betrachtet wird – als das Gegebensein einer Zäsur zwischen einem Sein-Können und einem Nichtsein-Können“ (2003a, 127). Ähnlich wie Luhmann zielt Agamben also auf die ontologische Bedeutung von Kontingenz und warnt davor, Möglichkeit (Unmöglichkeit) und Kontingenz (Notwendigkeit) als „harmlose logische […] Kategorien“ zu betrachten (2003a, 127). Vielmehr seien sie „ontologische Operatoren, d. h. die verheerenden Waffen, mit denen die biopolitische Gigantomachie um das Sein geschlagen und jedesmal über das Menschliche und Unmenschliche, über ein ‚Leben-Machen‘ oder ein ‚Sterben-Lassen‘ entschieden wird“ (2003a, 127). Agamben bestimmt also Möglichkeit und Kontingenz als wirkmächtige Mittler. Sie werden damit zu Ursachen, sie sind das, was das Sein bestimmt, das 226

Sein und das Subjekt. Kontingenz ist für Agamben in erster Linie ein Seinsmodus, der den Rahmen setzt für das Subjekt und seine Möglichkeiten. Kontingenz bestimmt (determiniert) das Subjekt in all seinen Handlungen. Es ist genau jenes Verhältnis von Kontingenz zu Subjekt, das Agamben besonders interessiert. Seine These ist, dass das Subjekt in dieser Beziehung nicht der aktive Part ist. Es ist nicht Spieler, sondern Spieleinsatz. Das Subjekt steuert nicht die Kontingenz, sondern findet in ihr statt. Kontingenz ist nicht das, mit dem das Subjekt umgeht, sondern es ist umgekehrt: Die Kontingenz bestimmt den Radius des Subjekts. Die Übermittlung findet umgekehrt statt. Kontingenz ist für Agamben die eigentliche Bedingung für alle Subjektivierung. ­Dadurch, dass es auch anders sein könnte, entsteht erst die Möglichkeit der Subjektwerdung. Aber auch das Gegenteil der Kontingenz, nämlich Notwendigkeit und Unmöglichkeit, sind für Agamben – das darf nicht vergessen werden – ebenbürtige Mittler des Seins, sie sind ebenfalls ontologische Bestimmungsfaktoren des Subjekts. Ihr Ergebnis ist aber das Gegenteil von ­Subjektivierung, es ist „Entsubjektivierung“ (2003a, 128). Im Modus von Not­ wendigkeit und Unmöglichkeit verschwindet die Möglichkeit des Subjekts, zu sein. Auch bei Laclau findet sich im Kern seiner postfundamentalistischen Theorie ein poststrukturalistischer Kontingenzbegriff. Laclau identifiziert neben der konstitutiven Natur des Antagonismus (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3) als zweite (post)fundamentale Grundlage die konsequente radikale Kontingenz aller Objektivität (1990, 26). Dafür definiert auch er Kontingenz als ontologische Kategorie, als „das Sein, dessen Essenz keine Existenz beinhaltet“ (1990, 19). Ein solches Kontingenzpostulat verlagert die Bedingung der Existenz einer jeden Entität nach außerhalb ihrer selbst. Zudem führt es ein Element von radi­kaler Unentscheidbarkeit ein – immer könnte es eben auch anders sein. Letztlich verunmöglicht Kontingenz jedes objektivistische Konzept des Sozialen und jegliche Fixierung von Identität. Von der anderen Seite aus angegangen lautet das Argument: Wenn es nicht so wäre, wenn das Rationale/Objektive und das Reale tatsächlich eine Einheit bilden würden, dann könnte es keine Kontingenz geben – die Lücke wäre geschlossen, der leere Platz besetzt. Das aber ist nicht der Fall. Im Gegenteil ist Kontingenz allgegenwärtig und „penetriert 227

radikal die eigentliche Identität des Sozialen“ (1990, 22), indem sie deren Unmöglichkeit zeigt. Kontingenz entlarvt Identität als Unmögliches, allerdings ohne sie (die Identität) dabei verschwinden zu lassen. Im Gegenteil muss für eine Analyse, welche die kontingente Natur von Identität zeigen möchte, genau das Identitäre ganz in den Vordergrund gerückt werden. Etwas zu bedrohen, das betont Laclau, setzt voraus, es bestätigt zu haben (1990, 27) – was sollte sonst bedroht werden? Die kontingenten Kräfte erfüllen daher zur gleichen Zeit zwei gegensätzliche Aufgaben. Einerseits verhindern sie die vollständige Konstitution von Identität, andererseits sind sie Teil deren Existenz. Kontingenz ist für Laclau „die Verbindung zwischen Verhinderung und Affirmation von Identität“ (1990, 21). Der Umgang mit Kontingenz wird zur Gretchenfrage. Wenn die originale kontingente Substanz eines Dings komplett ­z ugeschüttet werden soll, ist Objektivität/Objektivierung am Wirken. Das ­Bemühen, jenen Originalzustand der Kontingenz wiederherzustellen, ist da­ gegen die Reaktivierung des Politischen. Kontingenz zu (re)konstruieren ist nichts anderes als das, was das Politische ausmacht, „kontingentes ­I nvestment ist die eigentliche Logik von aller hegemonialer politischer Artikulation“ (2012, 124). Die Fokussierung auf Kontingenz führt bei Laclau zu einer erneuten Be­ stimmung des Politischen und auch zu einer politischen Positionierung. Die Grundlegung von Kontingenz bewirkt hier – im Grunde wie bei Agambens Ausführungen zur Subjektivierung – keine Handlungsunfähigkeit, keine haltlose Un(be)greifbarkeit der sozialen Realitäten und auch keine Unmöglichkeit, Ziele zu artikulieren. Das Gegenteil ist der Fall. Laclau postuliert: „Wenn soziale Verhältnisse kontingent sind, dann bedeutet das, dass sie radikal transformiert werden können durch Kämpfe“ (1990, 36). Und zwar ist das nur so, weil es keine Vorbestimmung durch eine „objektive Natur“ gibt, weil der Lauf der Dinge nicht einem fixen unveränderbaren Determinismus unterliegt. Veränderung ist möglich, weil die Welt kontingent ist, weil es eine radikale Freiheit gibt, die nicht von irgendeiner übergeordneten Essenz eingeschränkt und gefesselt ist. Viel Aufmerksamkeit verwendet Laclau für die Frage, ob die Bestimmung von Kontingenz zum postfundamentalistischen Fundament nicht die reine Inver228

sion des essentialistischen Arguments bedeutet und was eigentlich auf eine solche Bestimmung folgt (1990, 26). Kontingenz führt, so argumentiert Laclau, weder zu Beliebigkeit noch zur Abwesenheit von Rationalität und auch nicht dazu, dass „ein kohärenter Diskurs nicht mehr möglich ist“ (1990, 26). Kontingenz besteht also nicht einfach als „die negative andere Seite der Objek­ tivität“, sondern als „Störstelle“, die alle Objektivierung und Notwendigkeit „deformiert und sie an ihrer vollständigen Konstitution hindert“ (1990, 27). Kontingenz „ist nicht die Negation von Notwendigkeit, sondern deren Subversion“ (1990, 27). Aus diesem Grunde ist es auch nicht ausreichend, es bei der einmaligen Feststellung von Kontingenz zu belassen. Notwendig ist dagegen eine permanente analytische Ausarbeitung des Themas. Für sich alleine genommen bleibt es ohne große Wirkung, zu sagen, alles ist kontingent. Als singuläres Postulat ist eine solche Feststellung, so spitzt es Laclau zu, höchstens „für einen Bewohner des Mars sinnvoll“ (1990, 27). Kontingenz an den Anfang zu setzen, darauf zu bestehen, dass „in letzter Instanz keine Objektivität auf einen absoluten Grund rückbezogen werden kann“, bleibt außerhalb jener letzten Instanz – also außerhalb der Frage nach dem Sein und nach dem Nichtsein, außerhalb der ontologischen Sphäre – ohne unmittelbare Auswirkung (1990, 27). Für die Erkundung des Sozialen bleiben die zentralen Untersuchungsgegenstände deshalb auch die unablässig produzierten Objektivitäten und Identitäten. Das Insistieren auf deren Nicht-Vollständigkeit (auf das Nicht-vollständig-sein-Können) ist der Ausgangspunkt der Analyse und nicht ihr Ende. Allerdings ist es ein entscheidender Ausgangspunkt, der zu einer unterschiedlichen Befragung des Sozialen und des Historischen führt. Laclaus Sozialtheorie mündet in einer Umkehrung der Perspektive. Bei der postfundamentalistischen Analyse gesellschaftlicher Realitäten geht es – auch das ist ein wichtiges Ergebnis des Durchgangs durch die Kontingenz – nämlich nicht mehr so sehr darum, „zu verstehen was Gesellschaft ist, sondern was sie daran hindert, eine zu sein“ (1990, 44) Das lässt sich auch auf die Stadt übertragen. Für eine poststrukturalistische Stadttheorie ist es ein vielversprechender Perspektivwechsel, Stadt kontingent zu setzen und daher nicht mehr danach zu fragen, was Stadt ist, sondern was sie verunmöglicht – also zu ergründen, was verhindert, dass Stadt mit 229

sich selbst identisch wird, was unterbindet, dass sie jemals einen komplett erschlossenen und besetzten Aggregatzustand erreicht. In das Blickfeld geraten dabei die kontingenten und antagonistischen Bedingungen und Antriebskräfte des Städtischen. Stadt und die städtischen Dinge können erstens nicht aus sich selbst heraus gegeben sein oder Wirkung erzielen – in dieser Aussage besteht die Absage an eine essentialistische urbanistische Konzeption, die traditionell das Nachdenken über Stadt in weiten Teilen dominiert hat und die auch heute noch ein Bollwerk gegen das moderne Kontingenzbewusstsein unterhält. Zweitens zeigt es sich, dass die städtischen Verhältnisse nicht zufällig und gelegentlich strittig sind, sondern prinzipiell und grundsätzlich. Die Kontingenzerfahrung der Moderne bedeutet nicht nur die Erkenntnis, dass es keinen letzten Grund gibt: Wenn alle Gründe kontingent sind, so lautet der andere Teil der Erkenntnis, dann sind sie auch umstritten und umkämpft. Stadt als verdichtete soziale Realität lässt sich immer rückbeziehen auf kontingente Kräfte, die nicht auf nur eine Wahrheit und nur einen Weg festgelegt sind, die als soziales/urbanes Fundament die Existenz von unterschiedlichen Bedeu­ tungen und Deutungen setzen, was wiederum der Grund dafür ist, dass Stadt­ entwicklung – ebenso wie jede andere Aktivität im Reich des Sozialen – ein hegemoniales Spiel ist, in das Konflikt und Kontingenz eingeschrieben sind. Der Transfer der Kontingenz auf das urbanistische Feld erschließt schließlich eine weitere Fragestellung. Weiter vorne habe ich bereits berichtet/behauptet, dass auf dem urbanistischen Feld – sowohl im traditionellen Urbanismus als auch in der kritischen Stadtforschung – Kontingenz als Begriff und Thema weder verbreitet noch beliebt ist. Diese Beobachtung lässt sich nun dahin­ gehend ergänzen, dass die Kontingenz, gegenüber der sich der Urbanismus so auffällig verschlossen verhält, die zentrale Erfahrung der Moderne ist. Das ist umso bemerkenswerter, als dass der moderne Urbanismus selbst zweifellos ein zentrales Projekt der Moderne ist: Die moderne Stadt in ihrer gesamten und vielschichtigen Ambivalenz ist vermutlich das moderne Produkt schlechthin. Der Urbanismus hat sich von der zentralen Erfahrung der Moderne (der Kontingenz) ausgeklammert und kann vielleicht als so etwas wie das windstille Auge des Hurrikans bezeichnet werden. Wobei: Auch wenn dort die Kontingenz nicht beobachtet wird, findet Urbanismus natürlich trotzdem in einer 230

kontingenten Welt statt. Er selbst (der Urbanismus) macht sich das aber nicht bewusst. Der Urbanismus als der Motor der Moderne läuft abgeschottet von deren eigentlichen Essenz, oder genauer, indem er sich von dieser Essenz ­abschottet. Das vielleicht modernste Projekt der Moderne (das urbanistische Projekt) selbst ist nie modern geworden. Wenn diese Analyse zutrifft, dann stellt sich die Frage, warum das so ist. Meine These lautet, dass das eine (die Kontingenzverdrängung des Urbanismus) unmittelbar mit dem anderen (Ergebnis der Moderne zu sein) zusammenhängt. Einerseits ist nämlich die urbane Produktion, also das, auf was der traditionelle Urbanismus fokussiert, nichts anderes als die Materialisierung und Verräumlichung, die die Beharrlichkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Apparate herstellen soll (und auch herstellt) und damit der Kontrapunkt im hegemonialen Spiel um ein Gleichgewicht der sedimentierenden und dislokativen Kräfte. Andererseits finden der moderne Urbanismus und seine Verräumlichungen im Zeitalter der Kontingenz statt, und sie verhalten sich zu dieser Kontingenz. In der Theorie von Hannah Arendt hat die Errichtung des öffentlichen Raums die Aufgabe, (politische) Handlung zu ermög­ lichen – wobei ihre Analyse ja gerade ausdrücklich die antiken Verhältnisse und die polis ­adressiert und nicht die Stadt der Moderne. Zu fragen wäre daher, ob die Er­möglichungsfunktion der Stadtherstellung auch in der Moderne noch wirksam ist (beziehungsweise warum sie das nicht mehr ist und was sie stattdessen ­bewirkt). In die Theorie von Laclau gebracht, sind die Verräumlichungen des Urbanismus dagegen – ohne das als gut oder schlecht bewerten zu müssen (denn auch Kontingenz ist in erster Linie nicht gut oder schlecht, sondern einfach vorhanden) – tatsächlich als der Versuch darstellbar, Kontingenz zu verhindern, und zwar, indem Dinge verfestigt werden. Ohne sich dessen bewusst zu sein, sind Stadtplanung und Städtebau die Gegenspieler der Kontingenzerfahrung und kämpfen einen endlosen Kampf gegen die zentrale Erkenntnis der Moderne. Auch wenn das in den theoretisch interessierten Sphären des traditionellen Urbanismus systematisch ausgeblendet wird, drängt diese strukturelle interne Crux unablässig ans Licht und lässt all jene, die wirklich Stadt planen wollen (und dabei kein technokratisches Verständnis von Stadt verinnerlicht haben), zirkulär verzweifeln. Dass Stadt 231

nicht planbar ist, wird dabei immer wieder festgestellt, allerdings meist ohne dieser Erkenntnis einen theoretischen Zugang verschaffen zu können. Henri Lefebvre, der, wie wir gesehen haben, nicht nur einer der raren wirklichen Theoretiker des urbanistischen Feldes, sondern auch und nicht zuletzt ein scharfer Kritiker der modernen Stadtplanung gewesen ist, hat den offiziellen Urbanismus einmal als Anti-Theorie und Anti-Praxis bezeichnet (weiter vorne hatte ich bereits davon berichtet). Der Urbanismus, so ließe sich im Lichte des Durchgangs durch den Begriff der Kontingenz ergänzen, muss Anti-Theorie und Anti-Praxis sein. Wäre er nämlich Theorie, dann würde er sich seiner Aufgabe bewusst werden, die darin besteht, das Kontingente (also die Praxis) zu verhindern. Die urbanistische Theorie übernimmt daher gerade die Funktion, die von der kontingenten Moderne hervorgerufenen Spalten und Lücken wieder zuzuschütten, sich systematisch vom Kontingenten abzuwenden und den Blick auf festere und feststehendere Grundlagen zu richten. Der Rückgriff auf Lefebvre führt zu meinem zweiten Punkt, und zwar zu der Diagnose, dass – andererseits – nicht nur der orthodoxe Urbanismus, sondern auch die kritische Stadtforschung das Thema der Kontingenz meidet. Das ist keineswegs selbstverständlich: Für einen kritischen Ansatz wäre es eigentlich naheliegend, die Verdrängungsprozesse des traditionellen Urbanismus in den Blick zu nehmen und daraus eine immanente Kritik zu entwickeln. Eine genealogisch angelegte Urbanismuskritik, die so etwas wie ein (fehlendes) Kontingenzbewusstsein interessieren oder feststellen könnte, ist in den urban studies aber insgesamt betrachtet eher wenig verbreitet. Möglicherweise hat diese Abwesenheit mit der Doppelrolle zu tun, die die Marx’sche Theorie für die Kontingenzerfahrung der Moderne einnimmt. Wie berichtet, macht Hannah Arendt in ihrer Analyse Marx dafür verantwortlich, durch seine Betonung des Sozialen/Ökonomischen die Stimme des Kontingenten und des Politischen zum Verstummen gebracht zu haben. Nach der Darstellung von Niklas Luhmann hat Marx dagegen – mit seiner Kritik des mechanischen Materialismus – die Kontingenz erst ins Bewusstsein der Moderne geholt. Diese beiden Versionen spiegeln ein weiteres Mal die auf dem Grunde des Marx’schen Denkens beheimatete ungelöste/unlösbare Determinismusfrage, um die es im ersten Teil meiner Studie gegangen ist. Schließlich und 232

genau genommen ist das Marx’sche Theorie-Erbe nicht als Blaupause, sondern nur als Rätsel zu haben. Im historischen Rückblick lassen sich einige Stationen ausmachen, an denen die urbanistischen Theoriediskurse mit Kontingenztheorie direkt konfrontiert worden sind. Etwa in den 1980er-Jahren, als sich eine radikale feministische Planungssektion zu Wort gemeldet und sich dabei auch mit dem Konzept des öffentlichen Raums von Arendt beschäftigt hat. Die (berechtigten) Einwände gegen die (teilweise) Ausblendung von sozialer Ungleichheit in einer solchen Theorie sowie die Zurückweisung der dort formulierten Marx­ kritik haben in diesem Diskurs allerdings die weiterführenden Aspekte in Arendts Texten verschattet und eine entsprechend ausgerichtete politische Theorie in den urbanistischen Zirkeln für unbestimmte Zeit tabuisiert. Auch deshalb wurde in der kritischen Stadtforschung, anstatt sich mit Arendts radikaldemokratischen Anklängen und Herausforderungen oder mit der dort ausgebreiteten Kontingenztheorie zu beschäftigen, meist ein anderer Weg gewählt, nämlich die Verteidigung des Sozialen und des Empirischen als theoretische Leitmotive – oder auch eine auf die Marx’sche Kritik des Idealismus und der Philosophie rekurrierende Frontstellung gegen Sozialtheorie überhaupt. Ein noch naheliegenderes potenzielles Einfallstor für einen modernen-­ poststrukturalistischen Ansatz ist ohne Zweifel in Lefebvres sozialtheore­ tischer Engführung des Postmarxismus mit dem Urbanen zu bemerken, da dort (wie wir gesehen haben) all das thematisiert wird, was den entsprechenden Denkstil eigentlich ausmacht: eine elaborierte Dogmatismus- und Empirismuskritik, ausgeprägtes Kontingenzbewusstsein, das Denken eines zusätzlichen Rests usw. Warum Lefebvre zwar zur Theorie-Ikone der linken Stadtforschung wurde, mit diesem Bezug postfundamentalistisches Denken jedoch nicht importiert und weiterentwickelt, sondern im Gegenteil immer wieder abgelehnt und abgewehrt worden ist, ist eine eigene Geschichte, zu der ich gleich noch kommen möchte.

233

kommunikativen Planung in die Planungstheorie

Anmerkungen

transferiert wird, macht nicht halt beim kritisierten Entwurf, sondern betrifft Planung generell und somit auch jeden Alternativentwurf zum Modell der kommunikativen Planung.

1

2

In etwas veränderter Form habe ich meine Gedanken

6

zum agon bereits in dem Text „On the other side of

schichtsschreibung der Planungstheorie zeigt, wie

‚agonism‘: ‚The enemy,‘ the ‚outside,‘ and the role of

ein neues Paradigma regelmäßig aus der Kritik und

antagonism“ publiziert (Roskamm 2015).

der Identifizierung eines bestehenden Planungs­

Luhmann umschreibt diese Phänomene in der Form

paradigmas abgeleitet wird. Eine solche Identifizie-

von vier (blockierenden) Annahmen: erstens der

rung ist immer auch ein Teil Herstellung. Die in einem

Glaube, „dass Erkenntnis in sich selbst rational“ ist;

Diskurs hegemonial werdende Bestimmung einer

zweitens die Überlegung, dass der Zustand des­

Periode ist selbst Teil des Diskurses und produziert

jenigen Systems, „das lerne, [sich] verbessere (und

sich sozusagen selbst.

nicht [sich] verschlechtere)“; drittens die Idee, dass

7

„mehr Kommunikation“ automatisch „zur Verständi-

Kern zu haben, sich in manchen Fällen jedoch auch

„Rationalität in Form eines Programms erfasst wer-

nicht unbedingt tiefgründig zu artikulieren. Jeden-

den könne“ (2006, 66).

falls argumentiert Habermas weit weniger reduk­

In die deutschsprachige Debatte wurde der

tionistisch, als das von seinen Kritikern oftmals dar-

„­perspektivische Inkrementalismus“ – einem Wortspiel, bei dem das Durchwurschteln mit seinem

gestellt wird. 8

­Gegenteil, nämlich einem perspektivischen Weit-

„große[n] Gespür für die Zerbrechlichkeit, die dekonstruierbare Ungesichertheit der Strukturen, der

Internatio­nalen Bauausstellung Emscher Park

Grenzen und Axiome“, das in Schmitts Text an vielen

­übergeordneten Narrativ des gesamten Projekts ­gemacht worden ist. Hillier (2002, 265) lokalisiert den Konsens im Lacan’schen Register des Realen, was möglicherweise kein Widerspruch dazu ist, das Konsens­

Stellen zu finden ist (Derrida 2000, 124). 9

Schmitt unterfüttert seine These schließlich mit einer Analyse des Marxismus, dessen Überzeugungskraft vor allem darin gelegen habe, dass er seinem „liberal-bürgerlichen Gegner auf das Gebiet des Ökonomischen gefolgt war und ihn hier sozusagen

modell von Planung als Imaginäres zu bezeichnen.

in seinem eigenen Land mit seinen eigenen Waffen

Während Planung als Institution ohne Zweifel dem

stellte“ (1932, 61).

Bereich der Realität angehört, ist der Konsens

5

Diese Originalität beruht maßgeblich auf dem

blick aus­gestattet wird – vor allem im Rahmen der 1989–1999 eingeführt, wo er seinerzeit zum

4

Insgesamt scheint die inzwischen kanonisierte Kritik an Habermas zwar möglicherweise einen wahren

gung beitrage“ und viertens die Überzeugung, dass

3

Meine kurze Skizzierung der Perioden in der Ge-

10 Eine solche Umschreibung ist dabei nicht weit

selbst vielleicht wirklich das für die Planung uner-

­entfernt von einer Ideologie des Wettbewerbs.

reichbare Objekt der Begierde. Allerdings bleiben

Nietzsche verfasst gewissermaßen die ontologische

Zweifel, ob bei Habermas (und in der kommunika­

Begründung für das Metanarrativ der Ökonomie,

tiven Planung) tatsächlich der Konsens selbst jenes

das heute im Gewand des Neoliberalismus überall

„Objekt a“ ist, oder ob nicht vielmehr jenes, was mit

fröhlich Urstand feiert. Der agon ist bei Nietzsche

dem Konsens erreicht werden soll – also etwa De-

also nicht nur Wettkampf, sondern auch Wettbe-

mokratie, Gleichheit, Solidarität – das ist, was Lacan

werb. Möglicherweis ist auch das ein Grund dafür,

als Mangel und Reales bezeichnet.

dass die Kritik des Neoliberalismus und die Propa-

Allerdings – und das wird in den sich auf poststruk-

gierung eines agon – also die Doppelstrategie, die

turalistische Ansätze beziehenden Beiträgen aus der

(wie folgend berichtet wird) im Diskurs der Pla-

Planungstheorie häufig übersehen – betrifft diese

nungstheorie derzeit hoch gehandelt wird – immer

Analyse nicht nur das orthodox gewordene Modell der kommunikativen Planung, sondern jede Form der Institution Planung. Der sozialtheoretische ­Gedanke, der im Rahmen der partikulären Kritik der

234

wieder miteinander ins Gehege geraten. 11 Darin könnte man möglicherweise auch einen ­Fortschritt sehen. Nach Freud ist Sublimierung die „notwendige Voraussetzung des Zusammenlebens“;

als „Deckerzählung von der Harmonieseligkeit des

­direkte Affinität der Laclau’schen Theorie zum

Sozialen“ verstellt sie dagegen „den genealogi-

­urbanistischen Feld, zu der ich gleich kommen

schen Blick“ (Marchart 2013, 257). 12 Eine etwas veränderte Version dieses Kapitels ist

werde. 19 Der eigentliche Skandal des Lumpenproletariats

­erschienen unter dem Titel „Annäherungen an das

in der Marx’schen Analyse ist nach Laclau, dass

­Außen. Laclau, die Stadt und der Raum“ in einem

­dieser Pöbel „das Politische selbst darstellt“

von Oliver Marchart herausgegebenen Sammelband zu Ernesto Laclau (Roskamm 2017c). 13 Die geografische Denkbewegung setzt genau ­anders herum an: Sie fasst den Raum zunächst

(1990, 88). 20 Eine aktuelle Studie über das „Zählen der Unzähl­ baren“ findet sich bei Marquardt 2016. 21 Slavoy Žižek behauptet dagegen (ohne die Behaup-

­physisch-geografisch-räumlich und bezeichnet ihn

tung weiter auszuführen), dass die aus seiner Sicht

erst danach (gegebenenfalls) als „sozial konstru-

seit den 1990er-Jahren stattfindende Erhebung von

iert“. Das wiederum würde bei Laclau kaum einen

Arendt zur unangreifbaren Autorität ein untrügliches

Sinn ­ergeben, da für ihn Raum und das Soziale sich

Zeichen für den Niedergang der Theorie der Linken

­entsprechen, womit die Feststellung einer sozialen

sei (2001, 2).

Konstruiertheit schlichtweg überflüssig wird (vgl. Roskamm 2011b). 14 Das beste Beispiel dafür ist vielleicht Masseys Titel

22 Arendt schreibt zum Beispiel zustimmend, dass in der polis der „öffentliche Raum […] gerade dem Nicht-Durchschnitt­lichen vorbehalten“ gewesen ist

For Space (2005), mit dem sie Louis Althussers

(1967, 42). Heute dagegen drohe die „Massen­

Pour Marx (2011 [1965]) paraphrasiert.

gesellschaft […], das eigentliche Menschsein des

15 Ein radikales Investment, so erklärt Laclau mit ­Bezug auf Gramsci, besteht aus der „Verkörperung

Menschen zu vernichten“ (1967, 46), was – an­ gesichts der Ausführungen im vorigen Kapitel – als

eines Objekts in einer mythischen Ganzheit“ [mythi-

eine Verlängerung des massenpsychologischen

cal fullness] (2005, 115). Es sei zwar immer das

­Arguments zu werten ist.

„­Ergebnis einer kontingenten Auseinandersetzung“, welche „soziale Kraft die hegemoniale Repräsentation der Gesellschaft“ übernehmen kann. Wenn eine

23 Hier zeigt sich auch der Ursprung des Arguments von Rancière (vgl. S. 203). 24 Der „Unterschied zwischen Marx und seinen Vor­

solche „partikulare Kraft“ aber einmal hegemonial

läufern“ sei nur gewesen, das Ersterer „das Faktum

geworden wäre, dann würde sie das auch für eine

widerstreitender Interessen ebenso ernst nahm wie

ganze Zeit bleiben (wenn auch nicht für immer). Der

die wissenschaftliche Hypothese einer diesem

hegemonial gewordene Partikularismus werde zu

­Widerstreit heimlich zugrundeliegenden Harmonie“

­einer mythischen Erklärung, die nicht beliebig ge-

(1967, 44).

wechselt werden kann (2005, 115). 16 Weiter zeigt es sich, dass Stadt als Signifikant viel mehr mit dem philosophischen Stadtbegriff der ­Antike zu tun hat als mit dem soziologischen Stadt-

25 Eine Analyse, die vermutlich auch Henri Lefebvre ­sofort unterschrieben hätte. 26 Zur eigentümlichen Ambivalenz von Arendts Texten gehört es auch, dass sie an dieser Stelle die (von

begriff der Moderne. Die aktuellen Rückgriffe auf

Plato in der Politeia aufgeführten) bevölkerungs­

die polis, von denen bereits berichtet wurde und von

politischen Regulierungsmaßnahmen der Antike

­denen noch zu berichteten sein wird, werden dadurch verständlicher und nachvollziehbarer. 17 Dass Laclau an keiner Stelle seiner Grenzerkun­

rechtfertigt. 27 Die Abwesenheit des Konflikts wird auch in Arendts Bezugnahme auf den agon deutlich, der bei ihr ein

dungen diese Sorgfalt vernachlässigt und deshalb

Raum ist, „in dem Menschen sich auszeichnen und

auch zu keinem Moment in Gefahr gerät, seinen

das Vortreffliche die ihm gebührende Stätte finden

Grund­gedanken biologistisch zu phrasieren,

kann“ (1967, 49). Die von Nietzsche beschriebene

­zeichnet seine Analyse meines Erachtens beson-

dunkle Seite der Eris (vgl. S. 170) wird hier nicht

ders aus. 18 In der Argumentationsarbeit, die dieses NichtGeografi­sche und jenes Nicht-Anthro­pologische identifiziert und verdeutlicht, findet sich auch die

ausgeschildert. 28 Vgl. dazu Dikeç 2015. 29 Vgl. die Untersuchung Räume der Revolution (Aulke 2015).

235

30 Auf den ersten Blick scheint es so, als ob dieses Kontingenzverständnis mit dem weiter vorne

34 Luhmann entwickelt in diesem Zusammenhang seine Theorie von der Beobachtung zweiter Ordnung (die

­re­konstruierten konstitutiven Außen von Laclau

hier lediglich kurz und oberflächlich gestreift wer-

nicht vereinbar wäre. Denn dort gibt es ja ein bestim-

den kann). Prämisse seiner Überlegung ist es, den

mendes Außerhalb, etwas außerhalb der Welt, das

Begriff der Kontingenz durch den Begriff der Beob-

soziale Prozesse bedingt. Der Unterschied ist je-

achtung zu interpretieren, um auf diese Weise zu ei-

doch, dass dieses Außen bei Laclau keine ­Positivität

nem Ansatz zu kommen, der für ein Verständnis der

hat; es ist kein Gott, kein Gen und kein Markt. Das

modernen Gesellschaft aussagekräftig ist – „erst

Insistieren auf der reinen Negativität, von der in den

Beobachtungen zweiter Ordnung“, so formuliert

letzten beiden Kapiteln ausführlich die Rede

Luhmann, „geben Anlass, Kontingenz mitzu­meinen

­gewesen ist, ist notwendig, um das Konzept der

und eventuell begrifflich zu reflektieren“ (2006,

Kontingenz nicht in einer kreisförmigen ­Bewegung

100). „Beobachtungen zweiter Ordnung sind“ zu-

zu untergraben und damit der Beliebigkeit preis­

nächst schlicht und ergreifend „Beobachtungen von

zugeben.

Beobachtungen“ (2006, 100). Luhmann sieht den

31 Von Habermas wird der Spieß allerdings umgedreht

Modus der Moderne genau darin konstituiert, dass

und Arendt selbst fehlendes Kontingenzbewusst-

nicht mehr direkt, sondern vermittelt und reflexiv be-

sein vorgeworfen. Ein „heute überholter Begriff von

obachtet wird. Bedeutung ist dabei nicht im Gegen-

theoretischer Erkenntnis“, so formuliert Habermas, „der auf letzte Evidenz baut, hält Hannah Arendt da-

stand der Beobachtung angelegt, sondern entsteht erst in der und durch die Beobachtung.

von ab, die Verständigung über praktische Fragen

Die Beobachtung wird somit zur Quelle von Kontin-

als rationale Willensbildung aufzufassen“ (1976,

genz (da es immer mehrere Beobachter geben kann).

247). Dieses Argument findet sich immer wieder,

Diese Ausgangslage wird allerdings (auch) dadurch

wenn Kontingenz in das Zentrum der Betrachtung

verkompliziert, dass der Beobachter das, was er

gestellt wird, und es beruht auf der Zirkularität, die

­beobachtet, bezeichnen muss – nicht zuletzt, um es

mit der Einführung des Kontingenzbegriffs angesto-

von dem zu unterscheiden, was er nicht bezeichnet

ßen wird: Jede Aussage über den Begriff der Kon­

(2006, 62). Dieses Nicht-Bezeichnete bleibt übrig

tingenz kann auch selbst kontingent gesetzt werden.

als unmarked space (ein weiterer unbesetzter

Die Thematisierung von Kontingenz generiert daher

Ort!), in dem der Beobachter als „ausgeschlossener

beinahe automatisch den Einspruch, ihr fehle es

­Dritter“ meist auch noch selbst verschwindet

selbst an Kontingenzbewusstsein (siehe auch weiter

(2006, 64).

unten). 32 Vgl. dazu Parker 2015. 33 Marchart formuliert derweil, dass die Moderne „durch die doppelt paradoxe Erfahrung von not­ wendiger Kontingenz und unstrittiger Strittigkeit“ geht (2013, 360).

236

4 Zur Genealogie des Urbanismus

237

4.1

Ursprung, Herkunft und Entstehung

Wer sich auf die Suche nach einer poststrukturalistisch informierten/inte­r ­ essierten Analyse des Urbanismus macht, kommt an Michel Foucault und ­dessen genealogischen Studien nicht vorbei (vgl. auch Schipper 2013, Fontana-­ Giusti 2013, Marquardt/Schreiber 2012, Füller/Michel 2012, Michel 2005). Foucault ist ein Genealoge der Macht und des Wissens. Und er ist nicht nur – wie sämtliche Denkerinnen und Denker aus dem Umfeld des Poststrukturalismus – ein Kontingenztheoretiker, sondern er verfolgt auch einen Ansatz, der auf einem postfundamentalistischen Denken aufbaut. „Nichts ist grundlegend“, so lautet sein Credo, und „das ist gerade das Interessante an der Analyse der Gesellschaft (1982, 332). Dort, wo Foucault in seinen genealogischen Studien soziale Wissens- und Machtpraktiken dekonstruiert, geraten ein ums andere Mal die Stadt und die Stadtplanung in das Rampenlicht. Deshalb eignen sich die Texte von Foucault gut als Brücke zwischen den bisher verhandelten postfundamentalistischen Grundlegungen und der (historischen) Betrachtung des urbanistischen Feldes. Mit seiner genealogischen Analyseform stellt Foucault allgemein zwei Dinge in den Vordergrund: erstens den Blick in die Geschichte, also einen Zugang zu aktuellen Diskursen, Gegenständen und Problematiken, der angeleitet ist von der Beschäftigung mit deren Herkunft und Entstehung; zweitens eine spezielle Art, wie in die Vergangenheit zu schauen ist, und zwar eine Weise, die sich nicht nur von orthodoxer Geschichtsschreibung unterscheidet, sondern die sich auch dezidiert gegen die dort eingeübten Traditionen und Wahrheitsnarrative richtet. Genealogie ist bei Foucault sowohl Theorie als auch Methode. Der theoretische Anteil der Genealogie offenbart sich nicht zuletzt darin, dass die von ihr behandelten Begriffe und Gegenstände nicht bleiben, wie sie waren, sondern sich verändern, indem sie aus ihren Verankerungen und Routinen herausgelöst werden. Die Annäherung an das Konzept der Genealogie selbst führt dabei zunächst (und erneut) zu Friedrich Nietzsche, oder genauer, zu dessen Streitschrift Zur Genealogie der Moral ([1887] 1968a). Nietzsche formuliert eine scharfe und philosophisch-psychologisch begründete Kritik an den Moralvorstellungen 238

seiner Zeit. Zudem entfaltet er eine neue und gegen die traditionellen Vor­stel­ lungen gerichtete Konzeption von Geschichte. Nietzsche bezeichnet Geschichte als „eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpreta­t ionen und Zurechtmachungen“ (1968a, II §12). Zurechtgemacht bedeutet: ausgelegt, hingebogen, manipuliert, vielleicht sogar umgeschrieben. Geschichte ist hier kein auf genauen Fakten beruhendes feststehendes Konstrukt, sondern schwankend, anfällig, tendenziös. Und Nietzsche ergänzt, dass die Ursachen der Geschichte „unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen“ (1968a, II § 12). Geschichte ist in dieser Auslegung kein logischer und notwendiger

Fortschritt „auf ein Ziel hin, sondern die Aufeinanderfolge von […] Überwältigungsprozessen“ (1968a, II § 12). Nietzsche rückt die Ausübung von Macht in das historische Rampenlicht, und er ergänzt als weitere zentrale Bestandteile der Geschichte das, was auf die Überwältigungsprozesse folgt, nämlich „die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwand­ lungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen“ (1968a, II § 12). Nietzsche führt also in die geschichtliche Analyse – neben einer Grundlegung von Kontingenz – das Denken von „Entunterwerfung“ ein (vgl. Butler 2009) und lenkt den Blick nicht nur auf die Macht, sondern auch auf die Gegenmacht. Damit rüttelt Nietzsche an den geschichtshistorischen Fundamenten des zeitgenössischen Denkens, das Ende des 19. Jahrhunderts – erinnert sei an Malthus, Comte oder Darwin (und vielleicht auch an Marx) – weitgehend von deter­ ministisch angelegten Kausalszenarien in unterschiedlichen Ausprägungen bestimmt gewesen ist. Nietzsche wendet sich entschieden gegen eine wie auch immer ausgestaltete lineare Perspektive. Auf unserer „Erden-Bühne“, so ­erklärt er, würde es nämlich „niemals an wirklich Neuem, an wirklich ­u n­erhörten Spannungen, Verwicklungen, Katastrophen“ fehlen (1968a, II § 7). „Eine vollkommen deterministisch gedachte Welt würde für Götter errathbar und folglich in Kürze auch ermüdend gewesen sein“, so schreibt es Nietzsche leicht spöttisch (1968a, II § 7). Und das sei – interessant ist auch, dass es nicht darum geht, wie die Welt ist, sondern wie sie gedacht ist – „Grund genug für diese Freunde der Götter, die Philosophen, ihren Göttern eine solche 239

deterministische Welt nicht zuzumuthen!“ (1968a, II § 7). Aus Rücksicht vor den überirdischen Launen und um himmlischer Langeweile entgegenzu­ treten, denken die Denker (offenbar können sie denken, was sie wollen) den Lauf der Welt als kontingent. Das ist natürlich mehrfach anti-essentialistisch, es bestreitet die Existenz einer aus sich heraus wirkenden historischen Substanz, ja es bestreitet jede Behauptung von einem voraussetzungslosen Sein: „Aber es giebt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles.“ (1968a, I § 13) Eine theoretische Ausarbeitung dieses reichlich radikalen Denkens findet sich in einem aus dem gleichen Jahr stammenden und Fragment gebliebenen Nachlassskript, in dem Nietzsche seine Weltanschauung unter der Überschrift „Zur Bekämpfung des Determinismus“ ([1887] 1970) zu Papier bringt – vielleicht deutlicher als irgendwo sonst. Nietzsche systematisiert hier seine Analyse und startet einen Frontalangriff auf die begrifflich-metaphysischen Fundamente seiner Zeit. Zunächst eliminiert er dabei die Notwendigkeit. Seine Begründung lautet: „Daraus, dass Etwas regelmäßig und berechenbar erfolgt, ergiebt sich nicht, daß es auch nothwendig erfolgt.“ (1970, 47) Nietzsche erklärt, dass es keinen „unfreien Willen“ gibt und auch keine „mechanische Notwendigkeit“; beides hat der Mensch erst „in das Geschehen hineininterpretiert“ und daraus folgt: „Die Nothwendigkeit ist kein Thatbestand, sondern eine Interpretation.“ (1970, 47) Das hat Folgen für die Frage nach Ursache und Wirkung. Nietzsche führt aus, dass das Konzept der Notwendigkeit auf einen außerhalb des Subjekts liegenden Zwang verweist, auf einen „in den Dingen“ liegenden Zwang (1970, 47). Ein solcher Zwang sei aber „gar nicht nachweisbar“ (1970, 47). „Erst dadurch, daß wir Subjekte ‚Thäter‘ in die Dinge hineingedeutet haben, entsteht der Anschein, daß alles Geschehn die Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Zwang ist.“ (1970, 47) Wenn die Dinge aber gar nicht kausal wirken, das ist die These von Nietzsche, dann ist auch das Subjekt – als durch ein Außen zur Handlung gezwungener Akteur – „eine Fiktion“ (1970, 47). Erst die Erschaffung des durch die Dinge zum Handeln gebrachten Subjekts ermöglicht die Vorstellung davon, dass alles, was passiert, deter­m i­ nistisch erfolgt, als Folge von einem auf Subjekte ausgeübten Zwang. Wenn das Subjekt aber nur eine Fiktion ist, dann muss auch die Vorstellung von 240

einem durch die Determinierung der Subjekte bestimmten Lauf der Geschichte aufgegeben werden. Dem Determinismus fehlt dann das zu determinierende Objekt, mit dem Subjekt entschwindet das, auf was ein Determinismus überhaupt zugreifen kann. Das aber bleibt nicht die einzige Folge. Zunächst, so Nietzsche, stellt sich her­ aus, dass auch die „Dinglichkeit erfunden und in das Sensationen-Wirrwarr hineininterpretirt“ worden ist (1970, 47). Keine Dinge, keine Verdinglichung, kein mechanischer und auch kein historischer Materialismus. „Glauben wir nicht mehr an das wirkende Subjekt, so fällt auch der Glaube an wirkende Dinge, an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge nennen.“ (1970, 47) Nietzsche dekonstruiert das „Ding an sich“, und zwar mit der Begründung, dass es baugleich mit dem „Subjekt an sich“ ist (1970, 48). Ist das Subjekt eine Fiktion, dann ist auch die Konzeption vom wirkenden Ding nicht mehr möglich. Wird das wirkende Subjekt auf­ gegeben, so setzt Nietzsche seine Sezierung munter fort, dann verschwindet auch das Objekt, welches auf das Subjekt gewirkt und welches es konstituiert hat (und umgekehrt). Die Kurzformel lautet: kein Subjekt, kein Objekt. Dinge wie Sein, Identität und Dauer sind daher auch, so die hier zumindest latent postfundamentalistische Überlegung von Nietzsche, nie fest mit irgendeinem Subjekt/Objekt verbunden gewesen, sondern allesamt „Complexe des Geschehens, in Hinsicht auf andere Complexe“ (1970, 48). Ebenso verschwindet das Denken des Gegensatzes selbst. Subjekt und Objekt sind, das ist die anti-dialektische These von Nietzsche, keine konstitutiven Gegensätze, weil auf der philosophisch-ontologischen Ebene gar keine Gegensätze existieren: „Es giebt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes — und von denen aus fälschlich in die Dinge übertragen.“ (1970, 48) Mehr noch: Wenn die Begriffe Subjekt und Objekt aufgegeben werden, dann entfällt schließlich auch der Begriff der Substanz. Und nicht nur die Substanz, auch deren Modifikationen – namentlich die Materie („wir sind die Stofflichkeit los“) und der Geist – verschwinden auf den gleichen Schlag (1970, 48). In diesen Ausführungen wird deutlich, wie viel Nietzsche tatsächlich nicht nur hinter Foucault und Lefebvre, sondern auch bei Laclau und Agamben zu 241

finden ist. Die angebotene radikal perspektivische und kontingenzbewusste Theorie erklärt, weshalb Nietzsches Texte für das poststrukturalistische Denken eine so große Faszination ausüben. Allerdings, und dieser Einwand scheint mir bei manchen Adaptionen etwas zu kurz zu kommen, ist Nietzsche natürlich alles andere als eine unproblematische Quelle. Nietzsche führt sein Verdikt von der nie feststehenden, sondern immer erst zu schaffenden Wahrheit nämlich schließlich und wiederum zum „Willen zur Macht“, dem politisch-philosophischen Credo, zu dem er in dieser Phase seines Schaffens immer wieder zurückkommt. In der Rede vom „Willen zur Macht“ konzentriert sich der chauvinistische, anti-demokratische und anti-emanzipatorische (andere sagen: latent faschistische) Kern von Nietzsches Theorie, der auch in seiner Schrift zur Genealogie der Moral immer wieder greifbar wird.1 Poststrukturalistisch interessiertes Denken tut deshalb meines Erachtens gut daran, die angetretene Erbschaft immer wieder auch kritisch-distanziert zu betrachten und sich zu vergegenwärtigen, dass dort die „Heraufkunft der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung“ als „Symptome des absinkenden Lebens“ genannt werden (1968a, III § 25). Vergessen werden sollte auch nicht, dass die Erben des „Willens zur

Macht“ im 20. Jahrhundert vor allem Faschisten und Nationalsozialisten gewesen sind. Nietzsche ordnet sich damit in eine Reihe ein mit weiteren pro­ blematischen Stichwortgebern des Poststrukturalismus wie Carl Schmitt und Martin Heidegger. Vielleicht ist es ja aber gerade die offenkundige Ambivalenz dieser Denker und dieses Denkens, die dazu beiträgt, dass sich die poststrukturalistische Theorie nirgendwo und zu keiner Zeit behaglich einrichten kann und immer gezwungen ist, sich auch mit den eigenen Grundlegungen auseinanderzusetzen.



Einen ganz direkten und unmittelbaren Bezug zu Nietzsche hat nun der Ansatz von Michel Foucault, der im Folgenden in den Mittelpunkt meiner Betrachtung rückt. Foucault führt in Nietzsche, die Genealogie, die Geschichte ([1971] 2002) die genealogische Analyse als Methode/Theorie detailliert aus. Dabei vermischen sich, wie nicht selten bei Foucault, die eigene Position und 242

die Position der referierten Texte so weit, dass es manchmal schwer zu sagen ist, wo Nietzsche aufhört und wo der eigene Standpunkt anfängt. Den Begriff der Genealogie importiert Foucault jedenfalls aus Nietzsches gleichnamiger Streitschrift. Wobei auch dieser Import selbst nicht ganz unproblematisch ist. Das, was Foucault als Genealogie ausbreitet und bezeichnet, stimmt nämlich mit Nietzsches Gebrauch desselben Begriffs nicht unbedingt überein. Eigentlich schreibt Nietzsche nicht eine Genealogie, sondern er schreibt etwas zu einer Genealogie. Das zeigt sich bereits beim Titel. Nietzsche nennt seine Streitschrift – und das macht beim genaueren Hinsehen doch keinen kleinen Unterschied – nicht Genealogie der Moral oder Die Genealogie der Moral, sondern eben Zur Genealogie der Moral. Nietzsche benennt seinen Text also nicht selbst als eine Genealogie, sondern er kommentiert damit das Metier der Genealogie, und zwar ziemlich negativ und spöttisch. Sein Text, das schreibt Nietzsche in seiner Vorrede (1968a, I § 4), ist konzipiert als eine Kritik an den Ausführungen eines früheren Weggefährten, an einem „Büchlein“ von Paul Brée (wieder – wie später bei Henri Lefebvre und Guy Debord – geht es wohl auch um Frauengeschichten und um enttäuschte Liebe). Nietzsche redet an den wenigen Stellen, an denen er in seiner Abhandlung dann tatsächlich von Genealogie spricht, über die „perverse Art von genalogischen Hypothesen“, über den „Aber­g lauben jener Moralgenealogen“ (1968a, I § 4) oder auch über die „Stümperei ihrer Moral-Genealogie“ (1968a, II § 2). Für sein eigenes Vorgehen verwendet er den Begriff dagegen nicht, und in seinem Verständnis ist seine Schrift daher wohl auch kaum als Genealogie zu bezeichnen, sondern vielmehr als eine Kritik der Genealogie. Wenn Foucault schreibt, dass Nietzsche „die Genealogie als die ‚wirkliche Historie‘“ benennen würde (2002, 178), dann ist das jedenfalls nicht ganz korrekt. Es ist vielmehr Foucault selbst, der Nietzsches (und dann auch seinem eigenen) Projekt den Namen Genealogie gibt.2 Auch lässt sich hinzufügen, dass Foucault das Ressentiment von Nietzsche gegenüber dem Begriff der Genealogie nirgendwo thematisiert. Die Genealogie wird von Foucault stillschweigend vom eigentlichen Gegenstand der Kritik zur Bezeichnung für eine Methode des kritischen Denkens transformiert.3

243

Die genealogische Beobachtung, so knüpft Foucault gleich zu Beginn das Band zu dem uns inzwischen wohlbekannten poststrukturalistischen Schlüsselkonzept, beschäftigt sich mit Ereignissen. Foucault führt aus, was für ihn unter den Ereignisbegriff fällt: „die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses, der Verlust der Macht, die Übernahme eines Wortschatzes, […] die Schwächung einer Herrschaft“ (2002, 180). Was ist die Beziehung von Genealogie zu Ereignis? Foucault erklärt, dass die Genealogie „die Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit und jenseits aller endgültigen und gleichbleibenden Finalität ­erfassen“ möchte (2002, 166), und ist dabei nahe am Definitionsangebot von Hannah Arendt. Die Genealogie bietet einen eigenen Umgang mit dem Ereignis an, sie verändert die Anordnung, in der ein historisches Ereignis normaler­ weise seinen Platz findet: Es findet nicht mehr statt in einem „idealen Kontinuum“ oder einer „natürlichen Kausalkette“ (2002, 180), sondern es erschüttert durch sein Stattfinden genau jene Denkfiguren. Foucault arbeitet die Genealogie explizit zu einer Methode/Theorie aus. Als ein zentrales Abgrenzungsmerkmal zur herkömmlichen Geschichtswissenschaft setzt er die Unterscheidung von Ursprung und Herkunft. Die Genea­ logie, so Foucault, sucht gerade nicht nach dem Ursprung, sie ist das Gegenteil einer solchen Suche. Wer einen Ursprung sucht, sucht nach einem „mit sich selbst übereinstimmenden Bild“ (2002, 168), also nach Identität. „Die Historie“ betrachtet „alles Vergangene vom Ende der Welt her“ (2002, 178), sie glaubt an einen finalen und vorgegebenen Bezugspunkt, dieser Glaube wird zu ihrer eigentlichen Gründungsbedingung. Die „Historie der Historiker“ (2002, 178) funktioniert „unter dem Deckmantel einer objektiven Wissenschaft“ (2002, 179), sie beruft „sich auf Objektivität, Faktengenauigkeit und die Unabänderlichkeit der Vergangenheit“ (2002, 184). Die orthodoxe Geschichtsschreibung, so Foucaults Analyse, glaubte (und glaubt), „daß der Ursprung der Ort der Wahrheit“ ist (2002, 170). Tatsächlich aber erwarte uns hinter Ursprung und Wahrheit „das Gewimmel uralter Irrtümer“ (2002, 170). Der Genealoge erfährt in seiner Analyse daher vor allem, „dass es hinter den Dingen […] nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben“ gibt (2002, 168). „Am geschichtlichen Anfang der Dinge“, das ist die These von Foucault, „stößt man nicht auf die unver244

sehrte Identität ihres Ursprungs, sondern auf Unstimmigkeit und Unterschiedlichkeit“ (2002, 169). Die Objekte der genealogischen Untersuchung sind vielfältiger Natur: Gegenstände, Traditionen, Praxen, Ideen. Die Grundannahme der Genealogie ist es, dass diese Objekte niemals voraussetzungslos, dass sie nicht vom Himmel gefallen sind. Immer gibt es Verwandtschaften und Herkünfte. Immer gibt es auch schwierige Angehörige, und um die kümmert sich die Genealogie ganz besonders. Die genalogische Analyse sucht sozusagen die buckligen Verwandtschaften auf. Sie macht Verbindungen deutlich, strahlt die Rückseiten an. Die Genealogie ist eine Archivwissenschaft, die im Vergangenen gräbt, unter der Oberfläche schürft, sich in Hinterlassenschaften vertieft. Sie ist eine Methode, die sich mit dem Erbe beschäftigt. Alles hat ein Erbe, alles beruht auf Erbschaften. Ein Erbe, auf das man sich nicht immer freut, ein sogar meist (oder immer) schwieriges Erbe, ein Nachlass voller Verpflichtungen und Auflagen, ein Erbe, das einen zu erdrücken droht, wenn man sich nicht von ihm befreien kann (und für diese Befreiung bedarf es der Genealogie). Die Genealogie bereist die schwer zugänglichen Einzelheiten der Anfänge und richtet ihren Blick auf das dort beheimatete „unaussprechliche, barba­ rische Gewimmel“ (2002, 181). Bei der Genealogie geht es darum, ein „Gegengedächtnis“ zu erstellen „und darin eine ganz andere Form von Zeit zur ­Entfaltung zu bringen“ (2002, 186). Zu diesem Zweck sichtet die Genealogie Dokumente „und arbeitet an verwischten, zerkratzten, mehrmals überschriebenen Pergamenten“ (2002, 166), um sich mit bestehenden Erbschaften und deren Entstehung und Herkunft auseinanderzusetzen. Dabei ist „die Erbschaft […] kein Besitz, der immer größer und sicherer würde; vielmehr ist sie voller Spalten und Risse und besteht aus heterogenen Schichten, die sie brüchig werden lassen und den fragilen Erben von innen her oder von unten bedrohen“ (2002, 172). Schließlich ist die Genealogie biologistisch, sie ist auf das Biologische bezogen, sie „richtet ihren Blick auf das Nächstgelegene, auf den Leib, das Nervensystem, auf Nahrung und Verdauung, auf die Energien“ (2002, 174). Im Leib ist die Geschichte aufgehoben, eingeschrieben, der Leib ist gezeichnet von 245

den historischen Ereignissen. Gerade „der Leib und alles, was damit zusammenhängt (Ernährung, Klima, Boden) ist der Ort der Herkunft“, er ist „eine Fläche, auf dem die Ereignisse sich einprägen“ (2002, 174). Das „perspekti­ vische Wissen“ (2002, 183) der Genealogie schafft als „Analyse der Herkunft eine Verbindung zwischen Leib und Geschichte“ und zeigt, „dass der Leib von der Geschichte geprägt und von ihr zerstört wird“ (2002, 174). Die Körperbilder und -beschreibungen der Stadt, zu denen ich gleich kommen möchte, sind – in all ihren historischen Ausdünstungen – überaus passende genealogische Objekte, sie sind in doppelter Weise wesensverwandt zur Genealogie: als Zuschreibung eines Leibs, als aktuelle Erbschaft. In seiner Umschreibung des Genres der Genealogie arbeitet Foucault drei Formen heraus: die „realitätszersetzende Parodie“, die „identitätszersetzende Auflösung“ und das „wahrheitszersetzende Opfer des Subjekts“ (2002, 186). Was diese Formen zusammenhält, ist das Ziel der Zersetzung. Das von der Genealogie gewählte Objekt soll demontiert werden. Hier zeigt sich die Nähe zur Dekonstruktion und damit zur anderen zentralen Analysetradition des poststrukturalistischen Denkens. Bei Foucault ist die Genealogie ein Störungs-und ein Zerstörungsapparat: „Alles […] was sie als ruhige, kontinuierliche Bewegung erscheinen lässt, muss systematisch zerstört werden.“ (2002, 179) Es gilt, „alles in Stücke zu schlagen, was dem tröstlichen Spiel des Wiedererkennens Vorschub leistet“ (2002, 179). Die genalogische Analyse muss dabei nicht zuletzt (oder doch zuletzt) „ihre eigenen Fundamente unter­ graben und die vorgebliche Kontinuität zerstören“ (2002, 180), welche das ­h istorische Denken leitet (auch ihr eigenes historische Denken). Das von ihr ­produzierte „Wissen dient nicht dem Verstehen, sondern dem Zerschneiden“ (2002, 180). Insgesamt zeigt sich in dieser Anfangsbetrachtung deutlich die Zugehörigkeit von Foucaults Genealogie zum postfundamentalistischen Denken. Die von ihm entfaltete Methode greift den herkömmlichen Essentialismus an und ­attackiert dessen metaphysische Fundamente. Dafür positioniert sie sich im Bewusstsein von Kontingenz: Sie postuliert, dass wir ohne sicheres Bezugssystem inmitten zahlloser verlorener Ereignisse leben, und konstituiert sich durch ihre Opposition zu jeglichem Konzept von Vorsehung und Endursache. 246

„Statt unsere blasse Individualität mit diesen überaus realen Identitäten der Vergangenheit zu identifizieren“, so formuliert Foucault, geht es bei der ­Genealogie darum, „uns selbst in all den wieder erstandenen Identitäten zu irrea­l isieren“ (2002, 186). Auch Foucault geht es darum, den Boden unter den ­F üßen brüchiger zu machen, die Fundamente ins Visier zu nehmen, nicht, um sie zu stärken, sondern um sie zu zersetzen. Foucaults Genealogie, so lässt es sich vielleicht sagen, beschildert den Weg zum Postfundamentalismus. Zudem findet sich in Foucaults Text zur Genealogie auch ein Verweis auf die Stadt. Und zwar dort, wo das Konzept der Identität diskutiert wird, oder genauer, die systematische Auflösung von Identität. Die von der Genealogie angeleitete Historie, so erläutert Foucault, will die Wurzeln von Identität nicht freilegen, sondern zerstreuen. Sie sucht nicht nach dem Herd, aus dem wir kommen, sondern macht all die Brüche sichtbar, die jede Identität durchziehen. Wenn die Genealogie ihrerseits die Frage stellt, aus welchem Boden wir kommen, welche Sprache wir sprechen und welche Gesetze uns regieren, so tut sie das, um die heterogenen Systeme ans Licht zu holen, die uns „unter der Maske unseres Ichs jegliche Identität verwehren“. Damit ist sie das Gegenteil der „antiquarischen Historie“, die nach der Kontinuität sucht, in der die Gegen­ wart wurzelt, nämlich nach der „Kontinuität des Bodens, der Sprache, der Stadt“ (2002, 188). Bei Foucault ist die Stadt also Trägerin von Kontinuität und Identität, allerdings von einer Kontinuität und Identität, die durch die Genealogie durchkreuzt wird. In diesem Sinne lässt sich mit Foucault und Nietzsche eine weitere mögliche poststrukturalistische Definition von Stadt anbieten: Die Stadt kann bestimmt werden als ein geeigneter Gegenstand der G ­ enealogie.

• Dieser Gedanke führt auf geradem Weg zur Geschichte der Gouvernemen­ talität, die Foucault in den Jahren 1977 bis 1979 in seinen Vorlesungen am Collège de France ausgebreitet hat (2006a/b). Das, wie Foucault formuliert, „häßliche Wort der Gouvernementalität“ (2006a, 173) vereinigt die Ausdrücke „Regierung“ (gouvernment) und „Mentalität“ (mentalité) in einem Begriff und demonstriert damit ihre gegenseitige Verbundenheit. Das Thema von Foucault ist die Entwicklung der „Regierungskunst“ – so die treffendste Übersetzung 247

für Gouvernementalität – von der Antike bis in die heutige Zeit. Foucault ­berichtet von den wandelbaren Formen, die die Gouvernementalität in den letzten vierhundert Jahren durchlaufen hat: ihrer Ausgestaltung in den absolutistischen Staatskonzepten, der Entwicklung des preußischen Polizeistaats, den tiefgreifenden Änderungen durch den aufkommenden ökonomischen Libe­ralismus und den neoliberalen Staatskonzepten nach 1945. Im Mittelpunkt ­seiner Analyse stehen die Wahrheitssysteme und „epistemischen Tugenden“ (Daston/Galison 2007, 41), die explizit oder implizit zur jeweiligen Praxis des Regierens geführt und diese begründet haben. Mit Gouvernementalität bezeichnet Foucault nicht nur die ausgeübte Macht des Staates oder die staatliche Macht selbst, sondern die Macht, die sich aus gesellschaftlichen Institutionen und Konventionen, aus Denkstilen, Wissensformen und -praktiken zusammensetzt. Foucault möchte in seiner Analyse die Wege des Wissens und der Macht nachzeichnen. Es geht darum, die Begriffe und Techniken mit den damit verbundenen Wahrheitskonstruktionen in Beziehung zu bringen und zu untersuchen, wie sie sich gegenseitig durchdringen. Dafür setzt er explizit auf die genealogische Analyse. Das ganze „Geflecht von Bündnissen, Verbindungen, Stützpunkten“ der Gouvernementalitäten zu rekonstruieren kann aber, auch darauf weist Foucault hin, nur mit einer gewissen Distanz gelingen, weshalb als „erster Methodengrundsatz“ gelte, dass „aus der Institution heraus[ge]treten“ werden müsse, „um sie durch den globalen Gesichtspunkt der Machttechnologie zu ersetzen (2006a, 176). Er setzt sich zum Ziel, eine „Genealogie von Systemen der Veridiktion“ zu entwerfen und dabei zu beleuchten, unter welchen Bedingungen und mit welchen Bedingtheiten sich solche Wahrsprechungen vollziehen (20046, 59). Es ist dabei „nicht die Geschichte des Wahren oder Falschen“, die Foucault erzählt, sondern die Geschichte der Wahrheitsherstellung (2006b, 62). Und jene Geschichte, auch das sagt Foucault, ist diejenige, die eine wahrhaft „politische Bedeutung“ hat (2006b, 62). In diesem Kontext beschäftigt sich Foucault zuallererst mit den „Raumfragen“ (2006a, 27) und dabei insbesondere mit der Stadtplanung, der Polizei und der Bevölkerung. Für ihn ist die Entstehung des Urbanismus eng mit Teil der Geschichte der Polizei verflochten. Die Polizei (Foucault gebraucht auch die alte 248

Schreibweise „Polizey“) galt lange als der unmittelbarste Ausdruck des königlichen Absolutismus und kümmerte sich um die alltäglichen Angelegenheiten der Staatsführung. Das Wort Polizei findet sich bereits im 15. Jahrhundert und hatte lange Zeit eine andere und viel umfassendere Bedeutung als heute (vgl. auch von Mohl 1866). Zu dieser Zeit wurde als Polizei „erstens eine Form von Gemeinschaft oder eines Vereins“ bezeichnet und zweitens das allgemeine lokale Handeln einer Regierung (2006a, 450). Der Ausdruck war dabei, zumindest im zeitgenössischen Schrifttum, positiv als Sammelbegriff für die alltäglichen „geringfügigen Dinge“ (1994a, 274) und für die anfallenden Verwaltungsangelegenheiten des Staates besetzt. Ab dem 17. Jahrhundert lässt sich eine Verschiebung der Bedeutung der Begrifflichkeit feststellen, bei der zum einen die ordnende und verordnende Seite der Polizei in den Vordergrund rückt und ihr zum anderen die Aufgabe übertragen wird, die „Kräfte des Staates [zu] erhöhen“ (2006a, 451). Insgesamt etabliert sich die Polizei in dieser Zeit (im Laufe des 17. Jahrhunderts) neben der Justiz, der Armee und der Finanzen als zentraler Bereich des Staates und markiert die eigentliche Entstehung der modernen Verwaltung (2006a, 462). Dabei entwickelt sie sich in den verschiedenen europäischen Ländern allerdings recht unterschiedlich (2006a, 455). So wird sie in Deutschland „überproblematisiert“ und der polizeiliche Apparat stärker als anderswo ausgebaut (2006a, 457), während es in Frankreich vor allem die Tendenz gibt, die Polizei als wissenschaftlichen ­Gegenstand zu etablieren (2006a, 458). Foucault berichtet von einer Bibliografie der Kameralwissenschaften mit 4.000 unter der Rubrik Polizeiwissenschaften aufgeführten Titeln für den Zeitraum von 1520 bis 1850. In einer ­d ieser Schriften, der Utopie eines Polizeistaats von Turquet de Mayerne aus dem Jahre 1611, werden vier Dienststellen der Polizei genannt: erstens die Er­ ziehung der Kinder und Jugend, zweitens die Fürsorge samt der öffentlichen ­Gesundheit und der Brandbekämpfung, drittens das Marktgeschehen und viertens die Liegenschaften zusammen mit der Verwaltung des Grundstücks­ verkehrs, der Straßen und der öffentlichen Gebäude (2006a, 461). Foucault macht sich auf die Suche nach den Gemeinsamkeiten der Dinge, die der polizeilichen Sphäre zuzuordnen sind, und auch nach dem, was sie dabei verbindet und zusammenhält. All die unterschiedlichen Themen, Objekte 249

und Aufgaben der Polizei, so beginnt Foucault das Argument, sind „wesentlich Gegenstände […], die man städtisch nennen könnte“ (2006a, 481). Die ­Polizei stützt sich auf städtische Vorschriften und Gesetzessammlungen, die zum Teil bis ins frühe Mittelalter zurückreichen, die nun jedoch unter ihrem Dach übernommen, versammelt und dadurch gefestigt werden. Die Ausdehnung der städtischen Reglementierungen – die „Urbanisierung des Territo­ riums“ (2006a, 483) – ist das, was sich die Polizei des 17. und des 18. Jahrhunderts zur Aufgabe setzt und zugleich das Material, aus dem sie selbst gemacht ist. Entscheidend ist dabei, dass die Polizei in der Stadt stattfindet. Das, womit sich die Polizei beschäftigt, existiert nur „in der Stadt“ und „weil es eine Stadt gibt“ (2006a, 481). Die Probleme, für die die Polizei zuständig ist, sind allesamt „Probleme der Stadt“, es sind „Probleme des Zusammenlebens, und zwar des dichten Zusammenlebens“ (2006a, 481). Die Polizei hat zur Aufgabe, alle Formen der „Koexistenz der Menschen“ zu steuern (2006a, 487). Genau das soll ihr hauptsächlicher Gegenstand sein. Die Polizei entsteht, so lautet die These von Foucault, sowohl auf dem urbanistischen Feld als auch als Urbanismus. Dabei verkörpert die städtische Polizei die zeitgenössische Gouvernementalität, sie ist „nichts anderes als die ganze Regierungskunst“ (2006a, 459). Gouvernementalität findet, das ist ein erstes Ergebnis von Foucaults Analyse, als Stadtplanung in der Stadt statt. In diesem Zusammenhang bildet sich im 17. Jahrhundert ein „neues anthropologisches System“ heraus, bei dem es „nicht mehr [um] das unmittelbare Problem des Überlebens“ geht, sondern um „das Problem: leben und etwas mehr als nur leben“ (2006a, 470). Ein solcher Überschuss wird zu dem Objekt, mit dem sich die Polizei beschäftigt. Ihr „soll es gelingen, die Kraft des Staates auf der Annehmlichkeit der Menschen aufzubauen“ (2006a, 470). Der Zuständigkeitsbereich der Polizei, das destilliert Foucault aus seiner Lektüre der entsprechenden Abhandlungen, ist „alles, was von der bloßen Existenz zum Wohlbefinden führt, alles, was zur Herstellung dieses Wohlbefindens über die bloße Existenz hinaus dient“ (2006a, 471). Denn „das Wohl des Individuums“, so stellen es zumindest die Polizeiwissenschaften dar, ist „die Kraft des Staates“ (2006a, 471). In den Vordergrund gesellt sich damit ein ganz neues Ziel, nämlich das Glück des Menschen. Für die Herstellung eines solchen Glücks 250

bedarf es neuer Methoden, neuer Begriffe, neues Wissens. Zudem ist es gerade die Verallgemeinerung vom Glück des Einzelnen, was in das Zentrum des Interesses rückt. Denn erst in seiner Gesamtheit wird es den gewünschten Effekt haben, den ganzen Staat zu stärken. In den zeitgenössischen Definitionen von dem, was Polizei ist, findet sich dieses Argument an vielen Stellen. Foucault zitiert aus einem Text von Delamare aus dem 18. Jahrhundert, der schreibt, dass „der einzige Gegenstand der Polizei“ darin bestehe, „den Menschen zur vollkommendsten Glückseligkeit zu führen, die er in diesem Leben genießen kann“ (2006a, 471). Die Polizei hat sich – so lautet das neue Begründungsnarrativ – „um die Glückseligkeit jedes einzelnen“ zu kümmern und kümmert sich dadurch automatisch auch um den „Glanz der Republik“ (2006a, 471). Gleichzeitig wird das Motiv des Glücks in die urbanistische Entstehungsgeschichte implementiert und findet sich dann im 19. Jahrhundert – ergänzt um das Motiv der Schönheit4 – in vielen wichtigen Gründungstexten der modernen Stadtplanung und des modernen Städtebaus. Ein zentrales Argument der polizeiwissenschaftlichen Selbstbegründungen lautet, dass die staatliche Kraft von der Anzahl der Bewohner abhängt. In Folge wird es zum Gegenstand der Polizei, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Damit schlägt die Stunde der Bevölkerung. Für Foucault ist die Herstellung des Objekts der Bevölkerung durch den Apparat der Polizei ein ganz entscheidendes Element für die Entwicklung einer „absolutistischen Theorie der Staatsräson“ und ihrer Gouvernementalität (2006a, 403). Mit der Bevölkerung wird eine Perspektive eingeführt, die es erst ermöglicht, mit einer Vielzahl von Individuen umzugehen und sie als abgeschlossene Gesamtheit zu betrachten beziehungsweise sie als solche bearbeitbar zu machen. Foucault bezeichnet die Bevölkerung als die neue Figur des politischen Denkens, als kollektives „Subjekt-Objekt“ (2006a, 117), und er arbeitet heraus, dass erst mit ihrer Einführung das eigentliche Feld der Politik in der Neuzeit überhaupt wiedereröffnet wurde. Entscheidend ist für Foucault dabei das Verhältnis, das zwischen Bevölkerung und Natur besteht (vgl. auch Roskamm 2013). Seine These lautet, dass die Bevölkerung ab dem 18. Jahrhundert als ein Naturphänomen wahrgenommen wird. Seitdem wird sie als ein Gesamtpaket betrachtet, das ausgehend von 251

dieser Natürlichkeit zu verwalten ist (2006a, 108). Die Natur der Bevölkerung, so lautet die Lesart der neuen gouvernementalen Vernunft, ist so beschaffen, dass der Staat und die Verwaltung „im Inneren dieser Natur, mit Hilfe dieser Natur, wegen dieser Natur“ ihre spezifischen Praktiken entwickeln und gestalten müssen (2006a, 114). Das bewirkt zwei neue Sichtweisen: Zum einen wird offenbar, dass sich das Phänomen der Bevölkerung nicht einfach „per Dekret ändern“ lässt (2006a, 110). Notwendig für ihre Steuerung wird eine ausge­ feilte und sorgsame Regierungskunst, die sich darauf versteht, das neue Objekt zu erfassen, zu pflegen und zu ordnen. Gleichzeitig setzt sich nun auch die Erkenntnis durch, dass die Bevölkerung – trotz ihrer Naturalität – kein „unzugängliches, undurchdringliches Wesen“ ist (2006a, 110). Die Einführung des Objekts der Bevölkerung als steuer- und reglementierbare, stets von komp­­lexen und modifizierbaren Variablen abhängige Einheit, so resümiert Foucault, bewirkt die entscheidende „Wandlung in der Organisation und der Rationalisierung“ der Gouvernementalität und ihrer „Machtmethoden“ (2006a, 111). Mit der Konstituierung der Bevölkerung als Bezugspunkt der Machttechniken öffnet sich an diesem Punkt „eine ganze Serie von Gegenstandsbereichen für mögliche Wissensarten“ (2006a, 120). Mit der Bevölkerung beginnt eine ganz neue Ära des Wissens, es ist die Geburtsstunde der Bevölkerungswissen­ schaften. Umgekehrt produzieren auch diese Wissensarten selbst permanent neue Gegenstände und diese Produktion konstituiert, erhält und verlängert „die Bevölkerung als privilegiertes Korrelat der modernen Machtmechanismen“ (2006a, 120). Einer dieser neuen Gegenstände ist die Statistik und das Narrativ der „großen Zahl“ (vgl. dazu auch Gamper 2007). Die Bevölkerung wird erfasst, ihre Entwicklungen und Bewegungen werden erforscht, es wird gezählt, und es wird prognostiziert. Allgemein ist die Statistik die Wissenschaft der „Kräfte und Ressourcen, die einen Staat […] charakterisieren“ und damit vor allem die „Kenntnis der Bevölkerung, [die] Messung ihrer Quantität“ und die Einteilung in bearbeitbare Einheiten (2006a, 396). Ein solches Wissen lag im 18. Jahrhundert kaum vor, und es gab auch keine Institution, die dieses Wissen generiert hätte. Das Denken eines „administrativen Apparat[es]“ für die Erhebung und Definition von statistischem Bevölkerungswissen und die Umsetzung dieses Denkens stellen nach Foucault eine wesentliche Dimension 252

der Regierungskunst und der Machtausübung dar. Die Statistik ergibt als eine Form von „gouvernementaler Vernunft eine bestimmte Weise des Denkens, des Räsonierens, des Berechnens“ (2006a, 415).5 In seiner Historisierung unterscheidet Foucault in zwei Perioden, und zwar zum einen in die „Gouvernementalität der Politiker“ im 17. Jahrhundert, in der die Polizei sich herausbildet, zum anderen in die „Gouvernementalität der Ökonomen“ ab dem 18. Jahrhundert, in der „einige der grundlegenden Linien der modernen und zeitgenössischen Gouvernementalität“ eingeführt werden (2006a, 499). Die neue Gouvernementalität funktioniert, indem sie neben der Bevölkerung auch die Wirtschaft und den Markt in die Sphäre des Natürlichen und Naturgegebenen verschiebt. Aufgabe des Staates ist es nun, Bevölkerungen in Bezug zu dieser neuen Natürlichkeit zu verwalten. Die Geschichte der Regierungskunst lässt sich aus dieser Perspektive als eine Abfolge von Gouvernementalitäten beschreiben, die miteinander in Konflikt geraten und sich in diesen Disputen bis heute fortentwickeln. Die Politik/Polizei tritt an gegen die Idee vom alleinigen Souverän, während Ökonomie und Liberalismus sich gegen ein starres Konzept des Polizeistaats wenden. Dabei kommt es weniger zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von Machttechniken und Wissensformen, sondern eher zu langsamen, manchmal kaum merklichen Transformationen, in denen immer auch Teile der ehemals hegemonialen Wissensbestände und Routinen aufgehoben sind. Für das 18. und 19. Jahrhundert bedeutet dies, dass die Polizei im klassischen Sinne dieses Begriffs – als Steigerung der Kräfte des Staates durch die Achtung der allgemeinen Ordnung – sich als einheitliches Projekt auflöst und sich in unterschiedlichen Institutionen und Mechanismen fortsetzt. Der Urbanismus ist so eine Institution, die sich nun von der Polizei emanzipiert und als autonomes Projekt Gestalt annimmt. Foucault spricht von einer „Kreisbewegung […] zwischen der Staatsräson und dem städtischen Privileg, zwischen der Polizei und dem Primat der Ware“, in deren Folge das „Leben und Besser-leben, das Sein und das Wohlbefinden der Individuen […] für das Eingreifen der Regierung relevant“ wird (2006a, 486). Polizei, städtische ­Entwicklung und die Ökonomie bilden eine Einheit. Die Gouvernementalität des Staates interessiert sich dabei erstmals für die Stadt und deren materielle 253

Details (für die Materialität der Verdichtungen). Im folgenden Kapitel werde ich mich dem Fortgang des urbanistischen Projekts zuwenden. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass Herkunft- und Entstehungsgeschichte des ­Urbanismus in den tektonischen Plattenverschiebungen der Geschichte des Wissens und der Macht enthalten ist und dass die Stadtplanung den Kern der Polizei als Gesamtprojekt des 17. und 18. Jahrhunderts zu großen Teilen ausgefüllt hat. Stadtplanung und Urbanismus werden ab dem 18. Jahrhundert durch die Kräfte des Liberalismus aus dem Bereich der Polizei herausgelöst und zu e ­ igenständigen Einrichtungen. Die Erbschaft, die damit angetreten wird, schreibt der urbanistischen Disziplin die Spannung zwischen Polizei und Libe­ralismus beziehungsweise zwischen Reglementierung/Ordnung und Gewährung/Flexibilisierung schon in ihren Gründungsmomenten ein. Mit der von Foucault in seinen Gouvernementalitätsstudien entwickelten genealogischen Analyse lässt sich jedenfalls ein ganz neuer Blick auf das urbanistische Feld selbst werfen. Foucault schreibt, dass „die Städte nur existieren konnten, weil es eine Polizei gab“ und er diagnostiziert „die Polizei als Existenzbedingung von Urbanität“ (2006a, 483). „Im entscheidenden Sinn dieser Begriffe sind der Einsatz der Polizei und die Urbanisierung ein und dasselbe“ (2006a, 484).6 Zudem wird im 17. und 18. Jahrhundert die in den Städten erprobte Regierungskunst umgekehrt zu einer Blaupause für die allgemeine Staatsführung. Foucault führt aus, dass nur, weil es Städte gibt, „die so vollkommen von der Polizei geführt werden“, die Idee entstanden ist, „die Polizei auf den allgemeinen Maßstab des Königsreichs zu übertragen“ (2006a, 484). Die Städte enthalten, so der Kerngedanke der Regierungskunst, das Konstruktionsprinzip für die allgemeine Staatsführung. „Es handelte sich im Grunde darum, aus dem Königreich, aus dem ganzen Territorium eine Art von Großstadt zu machen, so daß das Territorium wie eine Stadt, nach dem Vorbild einer Stadt und genauso vollkommen wie eine Stadt geordnet sein würde.“ (2006a, 483) Foucault beschäftigt sich nun intensiv mit der Stadt selbst und arbeitet vor ­a llem zwei städtische Idealtypen heraus: die verpestete Stadt und die Kerkerstadt. Die Stadt im Zustand der Pest, „die im allgemeinen Funktionieren ­einer 254

besonderen Macht über alle individuellen Körper erstarrt […] ist die Utopie der vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft“ und der Probefall für „die ideale Ausübung des Disziplinarstaats“ (1994a, 255). Foucault schreibt, dass sich die Urbanisten – ähnlich wie die Juristen, wenn sie sich in den Naturzustand versetzen, „um die Rechte und Gesetze in der reinen Theorie funktionieren zu lassen“ – die Stadt im Pestzustand träumen, um im Planspiel „die perfekte Disziplin funktionieren zu lassen“ (1994a, 255). Die Stadt der Pest ist der Ausnahmenzustand, der den absoluten Zugriff der Stadtplanung möglich oder ­zumindest denkbar macht. Aber nicht nur als Kulisse der Disziplinarmacht, auch für das Sicherheitsdispositiv ist die verpestete Stadt von Relevanz. Hier geht es verstärkt um das „Problem der Gesundheit“, um „die tägliche Gesundheit für jedermann“ (2006a, 467). Für die Polizei und die Stadtplaner wird diese Gesundheit „ein ständiges Objekt der Sorge und der Intervention“ (2006a, 467). Es geht um „die Luft, die Lüftung, die Belüftung“, um eine „Theorie der giftigen Ausdünstungen“ (2006a, 467) – lange Zeit waren die sogenannten Miasmen (eine Art umherfliegendes Bakterium) für die Verbreitung des schwarzen Todes verantwortlich gemacht worden. Die Identifikation dieser Probleme verschiebt den Schwerpunkt des Sicherheitsdispositivs in Richtung Stadt. Es entsteht ein ganz neues Politikfeld, das sich zum Ziel setzt, den städtischen Raum neu und nach den „Prinzipien und nach der Sorge um die Gesundheit“ zu ordnen (2006a, 467). Die konkreten Gegenstände der zunächst noch ganz im Einflussbereich der Polizei befindlichen Stadtpolitik sind etwa die Dimensionierung der Straßen und der öffentlichen Räume, die Überwachung der „giftigen Ausdünstungen“, die Verortung und Verteilung störender Einrichtungen (Metzgereien, Schachthöfe, Friedhöfe) im Stadtgebiet, „eine ganze Stadtraumpolitik also, die an das Problem der Gesundheit gekoppelt ist“ (2006a, 467). Gleichzeitig entstehen die Sozialmedizin und die öffentliche ­Hygiene und liefern die Theorien und Begründungen für die Verwissenschaftlichung der urbanistischen Perspektive. In dieser Gemengelage emanzipiert sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der moderne Urbanismus von der Polizei und etabliert sich als eigenständige Institution. Der andere Idealtypus der Stadt ist das Modell der Kerkerstadt. Foucault ­entwickelt in seiner berühmten Studie über „Die Geburt des Gefängnisses“ 255

([1975] 1994a) sein Argument anhand der Analyse des Panoptikums, also dem von Jeremy Bentham Ende des 18. Jahrhunderts entworfenen architektonischen Prinzip für den Gefängnisbau. Das Panoptikum ist der Turm in der Mitte einer Gefängnisanlage, von dem aus sämtliche Zellen und Aufenthaltsbereiche einsehbar sind. Der Traum von Bentham ist es, das Wissen der Disziplinartechniken zu verallgemeinern und daraus eine ideale Stadtplanung abzuleiten. Das, was nur im Ausnahmezustand der verpesteten Stadt an Einfluss und Kontrolle möglich gewesen ist, soll nun zum allgemeinen Konstruktionsprinzip erhoben werden. Bentham möchte „ein die Gesamtgesellschaft lückenlos überwachendes und durchdringendes Netzwerk“ gestalten (1994a, 268). Das Prinzip des Panoptikums besteht darin, dass über die Sichtbarkeit „die Zwangsmittel der Macht“ in den Einzelnen hineinverlagert werden (1994a, 260). Durch das Bewusstsein, immer und überall gesehen zu werden, wird das Machtverhältnis „internalisiert“ und zum „Prinzip der eigenen Unterwerfung“ gemacht (1994a, 260). Das ist die Idee, die Foucault als den utopischen Kern der Regierungstechnik präsentiert. Das Panoptikum ist „so etwas wie das Ei des Kolumbus im Bereich der Politik“ (1994a, 265). Foucault erklärt, dass „nach Bentham […] der ‚Panoptismus‘ in der Lage [ist], die Moral zu reformieren, die Gesundheit zu bewahren, die Ökonomie wie auf einen Felsen zu bauen, den Gordischen Knoten der Armengesetze zu entflechten anstatt zu durchhauen – und all das dank einer einfachen architektonischen Idee“ (1994a, 266). Mit diesem Gedanken schlägt Foucault in seiner Studie schließlich die B ­ rücke zu der These von Kantorowicz, die ich an den Anfang meiner Untersuchung gestellt habe. Der Panoptismus bildet in seiner fragilen und vielgliedrigen ­Gestalt den extremen Gegensatz zu den „materiellen und mythischen Gegenwart[en]“ der two bodies of the king (vgl. S. 22) und repräsentiert eine neue, durch das Modell der Kerkerstadt symbolisierte „Physik einer beziehungs­ reichen und vielfältigen Macht, die ihre größte Intensität nicht in der Person des Königs hat, sondern in den Körpern, die durch eben diese Beziehungen individualisiert werden“ (1994a, 268). Benthams Idee einer perfekten Stadt256

planung ist damit das notwendige Gegenstück zum Bild von den zwei Körpern des Königs. Mit der Übernahme des Panoptikums als gesellschaftliche Machttechnologie kann, und das ist für die Gouvernementalität der Ökonomie ­entscheidend, „eine direkte Beziehung zwischen Machtsteigerung und Produktionssteigerung“ hergestellt werden (1994a, 265). Das mag aber nur dann gelingen, „wenn die Macht ohne Unterbrechung bis in die elementarsten und feinsten Bestandteile der Gesellschaft eindringen kann“ (1994a, 267). Genau das ist das Prinzip, das Bentham im Sinn hat. Bentham definiert mit dem Pan­ optikum eine „Theorie […] des Gesellschaftskörpers und der ihn durchkreuzenden Machtbeziehungen“ (1994a, 268). Er entwirft, so die Analyse von Foucault, „eine Prozedur der Unterordnung von Körpern und Kräften, welche die Nützlichkeit der Macht erhöht, indem sie sich den Fürsten erspart“ (1994a, 268). Die beiden Körper des Königs sichern das Fortbestehen der Macht. Der panoptische Urbanismus implementiert diese Macht in die untertänige Bevölkerung.

• Insgesamt betrachtet beinhaltet Foucaults Geschichte der Gouvernementa­ lität eine Genealogie des Urbanismus, in der Stadt und Stadtplanung in das komplexe Geflecht von Wissens- und Machttechniken eingebettet werden und in der gezeigt wird, dass die „gute Polizei“ des 17. und 18. Jahrhunderts im Kern eine außerordentlich urbanistische Angelegenheit gewesen ist. Folgt man Foucault, dann bietet gerade das urbanistische Feld einen Zugang für die Frage nach der Ausgestaltung und der Entwicklung von Wissen, Macht und Regierungskunst. Dieses Feld wird bei Foucault sichtbar als quergeschaltete Ebene, auf der sich die Debatten von Philosophie, politischer Theorie und der Sozial-, Kultur- und Raumwissenschaften manifestieren. Außerdem bietet Foucaults Analyse mit der verpesteten Stadt und der Kerkerstadt zwei richtungsweisende Detailanalysen an, die wichtige Ansatzpunkte für meine nachfolgende Betrachtung der institutionellen Entstehungsgeschichte des modernen Urbanismus ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geben. Dennoch gibt es bei Foucault – trotz anderslautender Gerüchte – keine Theorie der Stadt im engeren Sinne. Und das ist ein Punkt, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Es ist nämlich nicht so eindeutig, was Foucault mit dem 257

„Wesen der Stadt“ eigentlich macht, ob ihm an einer ontologischen Bestimmung von Stadt überhaupt gelegen ist oder eher nicht, und wenn doch, wie sie sich darstellt. Für den Versuch einer poststrukturalistischen Theorie der Stadt ist es jedenfalls von Interesse, sich die Bemühungen (und die Nicht-Bemühungen) von Foucault zu vergegenwärtigen. Im Grunde beinhaltet natürlich jede Beschäftigung mit Stadt impliziet auch ein ontologisches Statement (einfach eine Vorstellung davon, was Stadt ist), auch wenn das jenseits der Sozialtheorie kaum je bemerkt wird. Wer in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung etwa rein auf empirische Analyse vertraut, vertritt bewusst oder unbewusst die – bei genauerer Betrachtung ziemlich spekulative – Position, dass Stadt etwas Zähl- und Kategoriesier­ bares ist. Deutlicher wird die ontologische Dimension regelmäßig dann, wenn ein Begriff in den Vordergrund gestellt wird. Wenn (wie bei Foucault) auf die Stadt fokussiert wird, hat das auch etwas mit Ontologie zu tun, da die Frage nach dem, was Stadt ist, durch das In-den-Vordergrund-Stellen sogleich an Relevanz gewinnt. Foucault ist sich dieser Anforderung (oder dieser Selbstverständlichkeit) selbstverständlich bewusst. Seinem Einsatz von Stadt und Stadtplanung liegt, davon lässt sich ausgehen, eine sowohl bewusste als auch eine entschieden ontologische Haltung zugrunde. Was ist das für eine Haltung? Und wie verhält sie sich zum urbanistischen Feld? Im traditionellen Urbanismus geht es, wie eingangs skizziert, meist um die „gute Stadt“. Oder es geht um die „schlechte Stadt“, aber dann immer mit dem Ziel, sie durch den Urbanismus gut zu machen (auch hier sei noch einmal auf das nächste Kapitel verwiesen). Stadt wird im Urbanismus traditionell in Kategorien von Verbesserung und Planung gedacht; und auch das beinhaltet bereits eine ontologische Position: Etwas zu denken, um es zu planen, ist etwas anderes, als etwas zu denken, um es zu verstehen. Womit ein erster Unterschied zu Foucaults Analyse herausgearbeitet ist. Die verpestete Stadt als Erkenntniswerkzeug zu bestimmen und dabei nicht ein Konzept für ihre Gesundung hinterherzuschieben, beruht auf zwei sehr unterschiedlichen Auffassungen über das Sein von Stadt. Allerdings ist die Kluft zwischen Planung und Erkenntnis ein ziemlich allgemeines Unterscheidungsmerkmal und trifft nicht unbedingt das Besondere von Foucaults Stadtanalyse. 258

Spezifischer sind bei Foucault zwei andere Punkte. Und zwar ist das zunächst die Negativität, also der Gedanke, die Stadt über etwas ihr anhaftend Nega­ tives zu definieren. Die verpestete Stadt und die Kerkerstadt implizieren eine ontologische Verschiebung, die der Intention der weiter vorne diskutierten Antagonismustheorie nicht ganz unähnlich ist. In gewisser Weise ist eine solche über eine Negativität hergeleitete Inwertsetzung von Stadt der Marx’schen Tradition verbunden und insofern wiederum gut kompatibel zum Ansatz der urban studies. Die gesamte von Marx inspirierte kritische Stadtforschung geht einen ähnlichen Weg, indem sie die Stadt als Ort der Revolte und des Umsturzes bestimmt und diese Bestimmung einen großen Teil ihres Zusammenhalts definiert. Foucaults Fokussierung auf die Pest und den Kerker ist hier vor allem eine wichtige Erweiterung und eine Vertiefung der Überlegung, wie eine anders geartete nicht positiv identifizierende Identifikationsmöglichkeit vorstellbar ist. Ein noch entscheidenderer Punkt ist meines Erachtens aber etwas anderes. Foucault privilegiert Stadt in seinen Studien, indem er sie in den Vordergrund rückt, ohne ihr ihr Geheimnis entreißen zu wollen, und vor allem, ohne ihr eine neue Substanz zu verabreichen. Die Stadt ist für Foucault vor allem ein verbindendes Element, sie ist die Verbindung unterschiedlicher Kräfte, Pro­ blematiken, Dispositive. Sie ist ein Ort der Versammlung, und das ist es, was sie privilegiert. Es ist keine aus sich heraus bestehende Essenz, die Stadt be­ deutungsvoll macht. Bei Foucault ist die Stadt eine „spezifische und un ­z u­ sammen­hängende Wirklichkeit“ und hat kein Wesen und auch kein „Inneres und keine Innereien“. Die Stadt ist „nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten“ (2006b, 115).7 Meine These ist nun, dass es genau dieses Nicht-Verabreichen von Substanz ist, welches bei Foucault das konstitutive oder ontologische Moment der Stadt ausmacht. Damit bringt uns Foucault einem poststrukturalistischen und postfundamentalistischen Stadtbegriff näher und damit bietet er nicht zuletzt eine Lösung für das Dilemma der Stadtforschung an, die, wie ich einleitend ebenfalls berichtet habe, große Probleme dabei hat, Stadt zu privilegieren (genau das aber müsste sie eigentlich ständig tun, um weiterhin Stadtwissenschaft zu sein). Die Stadt ist im reflexiven Urbanismus als unnützer und obsoleter 259

Begriff gebrandmarkt, und zu Recht wird dabei misstrauisch auf alle Ver­ suche geschaut, ihr (etwa über Konstruktionen von Eigenlogiken) eine neue substanzielle Identität einzuflößen. Erst ein poststrukturalistisch veranlagtes Denken schafft es, dieses Loch sinnvoll zu füllen, oder vielleicht besser, die Leere fruchtbar zu machen. Das poststrukturalistische Denken denkt Stadt als durch die Unmöglichkeit der Substanzgebung selbst bestimmt. Es privilegiert, ohne zu substanzialisieren, und das geht nur, indem es durch Nicht-­ Substanzialisierung privilegiert. Foucault nennt das nicht so, aber er importiert eine solche Strategie durch seinen genealogischen Ansatz und das darin enthaltende (darin aufgehobene) nietzscheanische Projekt von der Auflösung der (r)einen Wahrheit. Der entscheidende Punkt ist daher vielleicht ganz einfach der, dass Foucault die Genealogie mit der Stadt zusammenbringt.

4.2

Biopolitik und urbane Pathologien

In seinen genealogischen Analysen bietet Foucault einen weiteren Zugang zur Stadt an, und zwar im Rahmen seiner Ausarbeitung des Begriffs der Biopo­ litik. Biopolitik ist zunächst eine Umschreibung für jene im vorigen Kapitel skizzierte Regierungstechnik, die nicht mehr hauptsächlich – wie die Disziplinarmacht – auf den Körper des Individuums zielt, sondern die Bevölkerung zu ihrem eigentlichen Gegenstand hat. Biopolitik bezieht den Bereich des ­Politischen auf das biologisierte Objekt der Bevölkerung. Sie erschafft die ­Bevölkerung als politisches Problem, als wissenschaftliches Problem, als biolo­g isches Problem, als Machtproblem. Die Bevölkerung ist der neue multiple Körper, der mit empirischen Erhebungen, Sozialstatistiken, quantita­t iven Gesamtbetrachtungen, Prognosen und der Bestimmung von Durchschnittswerten produziert und am Leben gehalten wird. Dabei werden Ge­sundheit und Krankheit zu den naturalisierenden Elementen, die die Bevölkerung affizieren. Biopolitik und Biomacht biologisieren und naturalisieren die Bevölkerung und machen sie zum Objekt des Regierens. Sie verhandeln, so lautet Foucaults berühmte Formel der Biopolitik, das Recht und die Kompetenz des Staates, „Leben zu machen und Sterben zu lassen“ (2003, 247). Das Transkri260

bieren des politischen Diskurses in biologische Begriffe bereitet, so die These von Foucault, die konzeptionellen Voraussetzungen nicht nur für die Begründungsdiskurse von Gesundheitsfürsorge und Sozialhygiene, sondern auch von völkischem Denken, Rassismus und Expansionismus. Für Foucault ist insbesondere das „urbane Problem“ wesentlich für die Ausgestaltung der Biopolitik als Macht- und Wissenstechnik seit dem 18. Jahrhunderts (2003, 245). Das sich im späten 19. Jahrhundert etablierende urbanis­ tische Feld der klassischen Moderne ist aus dieser Perspektive als ein Teil der Biopolitik darstellbar, der moderne Urbanismus ist selbst vor allem und in erster Linie ein biopolitisches Projekt. Diesem Projekt – der „Klinik der Stadt“ (Derrida 2000, 136) – möchte ich mich im Folgenden zuwenden, und zwar, ­i ndem ich verschiedene Schlaglichter auf einige der zentralen urbanistischen Begründungsdiskurse werfe. In den Mittelpunkt rückt dabei die Untersuchung der Produktion von „urbanen Pathologien“, die das urbanistische Feld konstituieren.



Das sich Ende des 19. Jahrhunderts herausbildende Gründungsnarrativ der klassischen Städtebaumoderne erzählt einerseits die Geschichte von der guten und schönen Stadt. Vom „schönen Bauen“, so die allseits vertretene Lehrmeinung, hängt „die Schönheit des Landes oder der Stadt, die Gesundheit und die Lebensfreude der Menschen ab“ (Lux 1908, Vorwort). Stadt soll geplant und gebaut werden, „um die Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen“ (Sitte 1889, 2). Neben dieser Verheißung des Guten bedarf es aber an­ dererseits auch einer ausgearbeiteten Vorstellung von Krankheit (wer wann, wo und warum krank ist). Die Ausdifferenzierung einer solchen Vorstellung ­fi ndet statt in der Produktion urbaner Pathologien. Genau das wird Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zum biopolitischen Hauptbetätigungsfeld der stadtplanerischen und städtebaulichen Analyse. Dabei wird mit Vehemenz auf das originäre Objekt des Wissensfeldes selbst gezielt, nämlich auf die bestehende Stadt. Auch bei Nietzsche findet sich ein solches Denken. Zwar nicht durchgängig, aber vereinzelt, und dann gewohnt eindrücklich findet sich hier ebenfalls das 261

Metier der urbanen Pathologisierung und der Großstadtfeindschaft. Im dritten Teil des Also sprach Zarathustra ([1884] 1968b) gibt es einen Abschnitt mit der Überschrift „Vom Vorübergehen“, in dem Nietzsche die Stadt verhandelt. Zarathustra kommt bei seinen Reisen an das Tor einer großen Stadt und trifft dort einen „schäumenden Narren“, der sogleich auf ihn einredet: „Oh Zarathustra, hier ist die grosse Stadt: hier hast du Nichts zu suchen und Alles zu verlieren. Warum wolltest du durch diesen Schlamm waten? Habe doch Mitleiden mit deinem Fusse! Speie lieber auf das Stadtthor und – kehre um! […] Riechst du nicht schon die Schlachthäuser und Garküchen des Geistes? Dampft nicht diese Stadt vom Dunst geschlachteten Geistes? Siehst du nicht die Seelen hängen wie schlaffe schmutzige Lumpen? Und sie machen noch Zeitungen aus diesen Lumpen! […] Speie auf diese Stadt der Krämer und kehre um! Hier fliesst alles Blut faulicht und lauicht und schaumicht durch alle Adern: speie auf die grosse Stadt, welche der grosse Abraum ist, wo aller Abschaum zusammenschäumt! Speie auf die Stadt der eingedrückten Seelen und schmalen Brüste, der spitzen Augen, der klebrigen Finger auf die Stadt der Aufdringlinge, der Unverschämten, der Schreib- und Schreihälse, der überheizten Ehrgeizigen: wo alles Anbrüchige, Anrüchige, Lüsterne, Düstere, Übermürbe, Geschwürige, Verschwörerische zusammenschwärt: speie auf die grosse Stadt und kehre um!“ (1968b, 218) Zarathustra unterbricht nun den Narren in seiner Schmährede und hält ihm den Mund zu: „Höre endlich auf! rief Zarathustra, mich ekelt lange schon deiner Rede und deiner Art! Warum wohntest du so lange am Sumpfe, dass du selber zum Frosch und zur Kröte werden musstest? Fliesst dir nicht selber nun ein faulichtes schaumichtes Sumpf-Blut durch die Adern, dass du also quaken und lästern lerntest? Warum giengst du nicht in den Wald? Oder pflügtest die Erde? Ist das Meer nicht voll von grünen Eilanden?“ Zarathustra bricht ab, blickt die große Stadt an, seufzt und schweigt lange. Endlich redet er weiter:

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„Mich ekelt auch dieser grossen Stadt und nicht nur dieses Narren. Hier und dort ist Nichts zu bessern, Nichts zu bösern. Wehe dieser grossen Stadt! Und ich wollte, ich sähe schon die Feuersäule, in der sie verbrannt wird! Denn solche Feuersäulen müssen dem grossen Mittage vorangehn. Doch diess hat seine Zeit und sein eigenes Schicksal. Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, zum Abschiede: wo man nicht mehr lieben kann, da soll man – vorübergehn!“ Nietzsche lässt seinen Ausflug zur großen Stadt mit der üblichen Formel „Also sprach Zarathustra“ enden und fügt hinzu: „und [er] gieng an dem Narren und der grossen Stadt vorüber“ (1968b, 221). Die Stadt kommt bei Nietzsche und seinem Zarathustra also nicht gut weg. Sie stinkt und verwest, sie ist ein Sammelbecken für alles Niedrige und Kranke, sie ist verachtenswert. Dabei ist sie auch ein Körper, ein organisches Gebilde, allerdings eine verpestete und hoffnungslose Kreatur. Die doppelte Stadt­ anklage – zum einen durch die Tirade des Narren und zum anderen durch ­Zarathustra selbst – vermittelt dabei zwei unterschiedliche Dinge: einerseits Nietzsches Kritik an den kulturpessimistischen Diskursen des Bürgertums, das – hier durch den Mund des Narren – die Stadt gleichfalls verdammt; andererseits die Bestätigung der dort vorgebrachten Diagnose von der heillos kranken und krankmachenden Stadt. Die Städter (das städtische Bürgertum) werden von Nietzsche/Zarathustra verachtet, aber gleichzeitig wird die Diagnose (der Abgesang auf die Stadt) dieses Bürgertums bestätigt. Wobei weder Aussicht auf Heilung besteht, noch ein Ausweg aufgezeigt wird. Das Einzige, was helfen kann, ist eine Feuersbrunst. Bis es dazu kommt (und es wird dazu kommen), bleibt nur eins: sich von der großen Stadt abzuwenden und sie hinter sich zu lassen. Dieses Hinter-sich-Lassen ist eines der Grundprinzipien der modernen Städte­ baunarrative. Zentral findet es sich etwa im Konzept der Gartenstadt, einer Idee, die erstmals Ende des 19. Jahrhunderts von Ebenezer Howard und von Theodor Fritsch propagiert worden ist. Howard schlägt in seiner Schrift Garden Cities of Tomorrow eine von der Einwohnerzahl her begrenzte Ansiedlung auf dem Land vor, die die Naturnähe mit den Vorteilen der städtischen 263

Lebensweise verbinden soll ([1897] 1968). Howards Idee fußt auf einer Ablehnung der Großstadt und ihrer städtebaulichen und sozialen Realitäten – mit der Gartenstadt wird letztlich eine Flucht ins Umland propagiert.8 Noch vor Howard publiziert der völkisch-nationale Propagandist Theodor Fritsch seine Stadt der Zukunft ([1896] 1912), in der ebenfalls eine Gartenstadt, und zwar als ein „organisches Wesen“ entworfen wird (1912, 4). Bei der Analyse der bestehenden städtischen Realität ist bei Fritsch, und das unterscheidet ihn von Howard, die Praxis der urbanen Pathologisierung deutlich ausgeprägt. Sein Ausgangspunkt ist eine Brandrede auf die bestehenden Großstädte, die er als „Seelenloses, etwas zermalmend Materialistisches“ beschreibt, als „abstoßend häßliche Häuserwüste“ bestehend aus „ein[em] widerwärtige[n] Netz krummer Gassen“, deren „schlimme[r] Charakter […] einen schädigenden Einfluß auf Geist und Sittlichkeit ihrer Bewohner ausübt“ (1912, 4). Fritsch verweist auf eine Statistik aus dem Jahre 1893, in der die jährlichen Sterbefälle und unehelichen Geburten von London, Berlin, Paris, Petersburg und Wien aufgeführt sind (eine Quelle wird nicht genannt). Die Diagnose von Fritsch lautet, dass die „Dichtheit der Bevölkerung in unmittelbarem Verhältnis zur Sterblichkeits-Ziffer und auch zu gewissen sittlichen Zuständen steht“ (1912, 28). Er postuliert, „daß dem Volke in seinen Großstädten und Industrie-­ Zentren schwere Gefahren drohen“ und dass „die Bewohner der Städte einem raschen Aussterben preisgegeben“ sind (1912, 28). Trotz der unterschiedlichen Ausprägungen ihrer Diagnosen ähneln sich nicht nur die städtebaulichen Vor­ schläge von Howard und Fritsch bis ins Detail, es findet sich auch als gemeinsames Grundmotiv der Drang, der zeitgenössischen großen Stadt den Rücken zu kehren. Die Ideologie der Gartenstadt, die schnell zum populärsten Planungskonzept der Moderne aufgestiegen ist (de Bruyn 1996, 173) und beliebt war „von Liebknecht bis Himmler“ (Durth/Gutschow 1988, 168), basiert auf einer gemeinsam und jenseits von politischen Ausrichtungen hergestellten urbanen Pathologie: Sie ist eine historische Aufforderung des resignierenden Städtebaus, die „unheilbar kränkelnde Stadt“ zu verlassen (Rodriguez-Lores 1991, 75). Die urbane Pathologisierung erfolgt nicht nur in der Gartenstadtbewegung, sondern feldübergreifend – gerade sie ist es, die das urbanistische Feld erst 264

zum Feld werden lässt. Deshalb findet sich Großstadtkritik und Großstadtfeindschaft auch bei den Vertretern des Neuen Bauens. Diese These lässt sich gut belegen anhand der Ausführungen von Le Corbusier. Das Ziel von Le ­Corbusier ist es, die Stadt nach den Prinzipien industrieller Rationalisierung, ­optimaler Besonnung, Belichtung und Durchlüftung zu gestalten. In seinen Thesen erhebt er den Städtebau zur entscheidenden gesellschaftlichen Aufgabe. In der Charta von Athen ist diese Aufgabe ausformuliert (Le Corbusier 1962). Hier geht es darum, „objektive“, „wissenschaftliche“ und „wahre“ Kate­ gorien und Gesetze zu schaffen, mit denen die Stadt von Grund auf neu zu ordnen ist. Mit der Trennung und Aufteilung der Stadt in Bereiche verschiedener Bauweise und verschiedener Dichten wird der klassische Ansatz des sozialreformerischen instrumentellen Städtebaus in das Programm des modernen Städtebaus integriert. Der mit der Charta eingeführte neue Ansatz der Funktionstrennung ist eine Weiterentwicklung dieser Tradition, welche die bautypologische Trennung um eine organisatorische/soziale Dimension erweitert. Die Funktionstrennung rückt in den Kern des theoretischen Ansatzes des modernen Städtebaus und wird dort mit dem ökonomischen Ansatz verbunden, die Stadt als ein Unternehmen zu denken. Le Corbusiers Diagnose der bestehenden Stadt, auf die sein Funktionalismus aufbaut, unterscheidet sich dabei kaum vom traditionellen städtebaulichen Diskurs seiner Zeit. Das Zentrum der Städte, so die These, ist „tödlich erkrankt“, aber auch seine Umfriedung ist „wie von einem Ungeziefer zerfressen“ (1929, 83). Für Le Corbusier sind die Großstädte „fruchtlose Gebilde: sie verbrauchen den Körper, sie arbeiten dem Geiste entgegen, die Unordnung, die sich in ihnen vervielfältigt, wirkt verletzend: ihre Entartung verwundet unsere Eigenliebe unsere Würde. Sie sind des Zeitalters nicht würdig: sie sind unsrer nicht mehr würdig.“ (1929, VII ) Genau aus diesem Grunde, so lautet das städtebauliche Narrativ, ist der ­Moment des modernen Städtebaus gekommen, weil nämlich „eine Kollektiv­ leidenschaft aufgewacht ist unter dem Drucke der brutalsten Not, geleitet von einem hohen Gefühle für Wahrheit“ (1929, 21). Haus, Straße und Stadt ­müssen in Ordnung gebracht werden, wenn sie „nicht den Grundgesetzen 265

zuwiderlaufen sollen, auf denen wir selbst aufgebaut sind“ (1929, 15). Die biopolitische (und auch die fundamentalistische) Grundlegung des modernen Städtebaus offenbart sich hier in aller Deutlichkeit: Der Städtebauer ist der allwissende Arzt der Gesellschaft, der die Krankheit diagnostiziert und eine durchgreifende Therapie verordnet. Was getan werden muss, schildert Le Corbusier in klaren Worten: „Ich denke also ganz kühl daran, dass man auf die Lösung verfallen muß, das Zentrum der Großstädte niederzureißen und wieder aufzubauen, dass man ebenfalls den schmierigen Gürtel der Vorstädte niederreißen, diese weiter hinausverlegen und an ihre Stelle nach und nach eine freie Schutzzone setzen muß.“ (1929, 83) Urbanistischer Diskurs und kulturpessimistische Diagnosen gehen in den 1920er- und 1930er-Jahren Hand in Hand – auch jenseits der originär städtebaulichen Debatten. Einigen Einfluss entfaltet etwa die zu seiner Zeit sehr populäre Schrift Der Untergang des Abendlandes, in der Oswald Spengler über die „Seele der Stadt“ philosophiert. In Spenglers Stadtbegriff vermischen sich auf eigentümliche Weise ein teils durchaus tiefgängiges und sich vom Empirismus nachfolgender Generationen deutlich abhebendes Nachdenken über die Stadt – das in einigen Passagen an Lefebvres Versuche erinnert – mit dem kulturpessimistischen und völkischen Zeitgeist, der im Laufe der Darstellung die Oberhand gewinnt. Spengler macht dabei etwas, was heute aus der Mode gekommen ist, er denkt über die Stadt als Ganzes nach, über das, was sie ausmacht, beziehungsweise darüber, ob es etwas gibt, was sie ausmacht. Er tut dies anfangs durchaus wertschätzend und im Fahrwasser sozial­refor­me­r i­ scher Traditionen, in denen die urbanen Verdichtungen eher als Chance, Potenzial und Errungenschaft erscheinen und weniger als Ort des Bösen und des Schlechten. Spengler betont in seinem Text die „ganz ent­scheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie gewürdigte Tatsache, daß alle ­g roßen Kulturen Stadtkulturen sind“ (1922, 106). Der Mensch der Neuzeit ist, so Spengler, vor allem „ein städtebauendes Tier “, die Weltgeschichte „die ­G eschichte des Stadtmenschen“, die Stadt das „Urphänomen menschlichen Daseins“ (1922, 106). Stadt ist hier stark privilegiert, nicht eine, sondern die relevante Katego266

rie für historische Entwicklung in ihrer Gänze. Menschliche Zivilisation und Stadtkultur verschmelzen in Spenglers Erzählung und werden zu ein und demselben. Möglich ist das nur als befreiender Akt, als re­vo­lutionäre Aktion. Die Großstadt ist für Spengler der „freie Geist“, der mit ­einer Auflehnung ­gegen die feudalen „Mächte des Blutes und der Tradition sich seines Sonderdaseins bewusst zu werden“ beginnt (1922, 114). Das Besondere der Stadt ist in dieser Darstellung ihr Aufbegehren gegen die alten Strukturen und Mächte, die vom Land symbolisiert werden. Was aber ist die Stadt? Auch darauf gibt Spengler Antwort. Eine Besonderheit ist für ihn die textliche Seite der Stadt – auch für ihn ist Stadt nicht zuletzt Sprache, und zwar die Sprache des Bürgertums. Sie ist „Prosa im strengsten Sinne des Wortes“ (1922, 187),9 die „leise zwischen vornehm geselligen und gelehrten Ausdrucksweisen“ schwankt, „dort auf immer neue Wendungen und Modeworte bedacht, hier an den vorhandenen Begriffen eigensinnig ­festhaltend“ (1922, 187). Die „Stadtsprachen“ nehmen die Attitüde „der vornehmen Welt und der Wissenschaft in sich auf“ (1922, 187). Wobei Stadt – an ­d ieser Stelle nähert sich Spengler der klassischen Stadtdefinition von Max ­Weber – nicht nur Sprache und Geist bedeutet, sondern auch Geld: In ihrem „Wesenskern“ ist die Stadt „wirtschaftlicher Natur“ (1922, 187). Spengler kennt sich offenbar aus in den seinerzeit gängigen Bestimmungsversuchen von Stadt, und bei ihm ist beides – Poesie und Ökonomie – auf der Liste der Elemente, aus denen die Stadt sich zusammensetzt. Das ist aber nur die eine Seite von Spenglers Substanzialisierungsversuchen. Es gibt noch einen anderen Tonfall in seiner Stadtreflexion, der uns wieder zum Thema des Kapitels zurückführt, nämlich den Modus des Biopolitischen, den Spengler aktiviert und in dem er sich den Weg in das zeitgenössisch weit verbreitete Metier der Kulturkritik bahnt: „Als Massenseele von ganz neuer Art, deren letzte Gründe für uns ein ewiges Geheimnis bleiben werden, sondert sie [die Stadt] sich plötzlich ab aus dem allgemeinen Seelentum ihrer Kultur. Ist sie erwacht, so bildet sie sich einen sichtbaren Leib. Aus der dörflichen Sammlung von Gehöften, von denen jedes seine eigene Geschichte hat, entsteht ein Ganzes. Und dieses 267

Ganze lebt, atmet, wächst, erhält ein Antlitz und eine innere Form und ­Geschichte.“ (1922, 106) Spengler stattet sein Nachdenken über die Stadt mit dramatischen und drama­ tisierenden Elementen aus. Die Stadt wird als die Weltstadt zum eigentlichen Symbol für den Untergang des Abendlandes: „Der Steinkoloß ‚Weltstadt‘ steht am Ende des Lebenslaufes einer jeden großen Kultur.“ (1922, 117) Mehr und mehr entwickelt die Stadt in dieser kulturpessimistischen Ausschmückung des bevorstehenden Endes ein Eigenleben (eine Eigenlogik) und gewinnt Macht über ihre Bewohner. Der „Kulturmensch wird von seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen, zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer gemacht“ (1922, 117). Die Stadt wird bei Spengler zur eigens wirkenden und überwältigenden Substanz, zur letzten Instanz einer untergehenden Epoche, und in dieser letzten Station wird sie auch ganz sie selbst und zeigt ihr wahres Gesicht: „Diese steinerne Masse ist die absolute Stadt.“ (1922, 117) Großartigkeit und Apokalypse sind die beiden Seiten dieser Weltstadt, „ihr Bild, wie es sich mit seiner großartigen Schönheit in die Lichtwelt des menschlichen Auges zeichnet, enthält die ganze erhabene Todessymbolik des endgültig ‚Gewordenen‘“ (1922, 117). Spengler erzählt hier die Geschichte der endgültigen Verstädterung, der planetarischen Urbanisierung (vgl. Kapitel 4.4), die ihr theatralisches Ende in der totalen, universellen und endgültigen Stadt finden wird, die gleichbedeutend mit dem Untergang des Abendlandes ist. „Aus dem ursprünglichen Markt zur Kulturstadt und endlich zur Weltstadt herangewachsen, bringt sie das Blut und die Seele ihrer Schöpfer dieser großartigen Entwicklung und deren letzter Blüte, dem Geist der Zivilisation zum Opfer und vernichtet damit zuletzt auch sich selbst.“ (1922, 127) Spengler ist ein Stadtpoet und ein Untergangspoet, und er trifft den Ton seiner Zeit. Er orchestriert die städtebaulichen Stadt-Pathologisierungen mit einem dramatischen Stück in Moll, und er prägt damit ein Stadtbild, das sich bis zur Jahrhundertmitte weiter durchsetzen und polarisieren wird. Seine These vom Ende der Zivilisation in der und durch die Stadt ist direkt kom­patibel mit 268

dem biopolitischen Diskurs der Großstadtfeindschaft, der in den 1930er- und 1940er-­Jahren seinen Höhepunkt erreicht. Ein Meister dieses Fachs ist zweifellos der Urbanist und Anthropologe Willy Hellpach. In Mensch und Volk der Großstadt legt Hellpach den Versuch einer „wirklichkeitsnahen Volksseelenkunde und Volksgesundheitspflege“ vor und stellt seinen Ansatz in eine Reihe mit bestehenden Arbeiten zu „wissenschaftsstrenger Erforschung völkischer Daseinsbedingungen und Lebens­zusammen­ hänge“ (1939, V). Hellpach möchte „die Volkslebensgefahr einer gedanken­ losen Großstädtezüchtung mit vorwiegend biologischem und statistischem Rüstzeug unbeschönigt herausstellen“ und verwebt diesen Ansatz mit den Thesen der bevölkerungspolitischen Grundlagenforschungen aus dem geografischen, volkswirtschaftlichen und eugenischen Umfeld. Hellpach entschuldigt sich in seinem Text zunächst dafür, dass er sich überhaupt mit der Großstadt auseinandersetzt – ein Kotau an das völkische Umfeld, aus dem er stammt, und in dem die Idealisierung des „gesunden Landvolkes“ zum Gründungsnarrativ gehört – und sieht sich zu dem Bekenntnis veranlasst: „Mir persönlich liegt die großstädtische Daseinsform gar nicht.“ (1939, VI ) Trotzdem findet Hellpach Stadtforschung wichtig, ja notwendig. Angesichts einer „Volkslebensgefahr, von welcher im 20. Jahrhundert vorab die germanische und nicht zum geringsten unsere deutsche Heimatwelt sich bedroht sieht“, fühlt sich Hellpach verpflichtet, durch „wissenschaftliche Ermittlung und Ergründung selbst aus der großen Stadt noch tunlichst ansehnliche, tunlichst unzweideutige Volkslebenswerte herauszuholen und zur Entfaltung zu bringen“ (1939, VII ). Hier zeigt sich also eine besonders originelle Begründung für Stadtforschung, nämlich die Fortsetzung von Spenglers These („Großstadt ist der Untergang des Abendlandes“) als Legitimation, sich mit dieser apokalyptischen Kategorie zu beschäftigen – nur wer die Gefahr kennt, kann sich vor ihr schützen. Verbunden ist diese Relevanzbestimmung mit ­einer überaus deutlichen Programmatik, und zwar dem Ziel, sich ihrer (der Großstadt) möglichst schnell zu entledigen. Die Aufgabe seines Forschungsbereichs sieht Hellpach dezidiert darin, die Großstädte „so weit wie mögliche zurückzudrängen und die Zeit ihrer einseitigen Vorherrschaft zum ‚Verrinnen‘ zu bringen“ (1939, 4). Das, was an großen Städten bleibt, sei „so unschädlich 269

wie nur möglich“ zu gestalten (1939, 4). Dazu, so Hellpach weiter, sei „verlässliches Wissen“ unersetzlich, und das bedeute: „Wissenschaft von der Großstadt, Großstadtforschung tut not.“ (1939, 4) Die Diagnose der Großstadt fällt bei Hellpach erwartungsgemäß eindeutig aus. Das Großstadtleben zerrüttet „die Lebenskraft der Bevölkerungen“, es ist „schädigend, widernatürlich, volksbedrohlich“ (1939, 3). In seinen Unter­ suchungen bezieht sich Hellpach vor allem auf Ansätze aus der Vererbungsforschung und entwickelt eine „Psychophysik des Großstadtdaseins“ (1939, 36), in der er die Wesenszüge des von „fremdbodigen Substanzen“ lebenden (1939, 57) „asozialen und kriminellen Weltstadtpöbels“ herausarbeitet (1939, 15). Die Auswirkungen, von denen Hellpach berichtet, sind etwa die „Umwandlung des Genitiallebens in den Städten“ (1939, 67), die „Verflüchtigung des Zeugungswillens“ und auch die um sich greifende „Heiratsverspätung“ (1939, 117). Insgesamt sei die „sozialbiologische Entartung durch Unzucht“ die „Hauptgefahr aller städtischen Eliten“ (1939, 84). Hellpach schließt seine Ausführungen, in dem er dafür plädiert, dass die Deutschen „auch in Sachen Großstadt“ den Mut für ein „utopische Programm“ haben sollten, „mit wissenschaftlicher Erkenntnis dahin zu gelangen, daß die großen Städte ihres Unsegens entgiftet und zur ausschließlichen Entfaltung ihrer Werte fürs Volkstum gelenkt werden“ (1939, 124).10 In der Großstadtforschung der 1930er- bis 1950er-Jahre ist Hellpach eine Kory­ phäe. So stehen seine Thesen etwa auf der Konferenz Biologie der Großstadt im Jahre 1940 – einem Meilenstein in der Geschichte des biopolitischen Urbanismus – ganz im Mittelpunkt. Etliche Beiträge auf dem Kongress beziehen sich explizit auf Hellpach, unter anderem auch der Beitrag „Anthropologie der Großstadt“ von Otmar Freiherr von Verschuer. Verschuer, der Direktor des Frankfurter Instituts für Erbbiologie und Rassen­ hygiene, führt darin aus, dass der „Prozeß der biologischen Entartung“ in der Großstadt eine „bedrohliche Beschleunigung“ erfahre und dazu führe, dass dort das „Grab der Rassenuntüchtigkeit und der Kulturbegabung unseres Volkes“ liege (1940, 8). Die Städter würden sich in Form der Geburtsverhütung „am Leben der Rasse“ versündigen (1940, 10). Verschuer plädiert für die Durchführung von „Sippenanalysen“, um den biologischen Unterschied zwischen 270

Stadt- und Landbevölkerung herauszuarbeiten und zu ergründen, welches die Ursachen dieser Unterschiede sind und welche Bedeutung sie für das „weitere biologische Schicksal eines Volkes“ haben (1940, 1). Die These von Verschuer ist es, dass in der bisherigen Geschichte nur ein einziger Menschen­ typ an die Großstadt angepasst gewesen wäre, und zwar „der Jude“ (1940, 9). Schon in der Antike habe ein „internationales Weltjudentum“ existiert, das „seine Wohnung in den Städten aufgeschlagen hat“ (1940, 9). Durch zwei Jahrtausende hindurch habe sich dieses „von jeder natürlichen Bindung losgelöste Weltjudentum erhalten, an Zahl sogar vermehrt“ (was genau genommen die These vom Massengrab der Großstadt unterläuft – aber um Genauigkeit geht es hier natürlich nicht). Das liege, so Verschuer, an der degenerierten Volksform der Juden selbst. Für „unser deutsches Volk“ erscheint es ihm dagegen aussichtslos, „daß wir uns je an die Großstadt werden anpassen können“ (1940, 9). Verschuer beschäftigt sich auch mit der städtebaulichen Disziplin selbst. „Die Beherrschung der Umwelt Großstadt“, so seine Diagnose, sei „bisher hauptsächlich mit Großstadtsanierung, Stadtrandsiedlung und anderen hygienischen Maßnahmen“ versucht worden und all das hätte „sich auf die soziale Lage des Städters auch segensreich ausgewirkt“ (1940, 9). Solche Maßnahmen würden allerdings gerade nicht das „Kernproblem des Geburtenrückgangs in der Stadt“ berühren und blieben deshalb auch ohne „bevölkerungspolitische Folge“ (1940, 10). Das entscheidende „Problem des Geburtenrückgangs“ müsse jedoch „an seiner Wurzel selbst erfaßt“ und dafür Sorge getragen werden, dass „in den Menschen eine innere Umwandlung“ ausgelöst wird (1940, 10). Die Stadtbewohner müssten „seelisch wieder so gesund werden, daß das Blühen der Familie wieder selbstverständliche Äußerung eines natürlichen Lebens wird“ (1940, 10). Um eine solche „seelische Gesundung durch echte Gemeinschaftsbildung“ zu bewirken, müsste „in gewissem Sinne das Dorf in die Stadt“ zurückgebracht werden (1940, 10). Diese Zielrichtung entspricht der allgemein auf dem Urbanismuskongress vertretenen Intention, die ­Ablehnung der Großstadt auf ein Maß zu reduzieren, mit dem sie als Planungsobjekt zugelassen bleibt und damit Umgestaltungsvorschlägen überhaupt zugänglich wird. Im Schlusswort der Veranstalter wird daher betont, dass es sich natürlich 271

nicht bestreiten lasse, dass die Großstadt in vielerlei Hinsicht „ungünstig auf die Organismen“ wirke, dass aber die den letzten Jahren häufig geäußerten pessimistischen Ansichten teils doch übertrieben seien und kein Grund bestehe, die „Großstadt als Lebensraum des Menschen in Grund und Boden zu verdammen“ (Rudder/Linke 1940, 199). Ein ähnlicher Argumentationsaufbau findet sich bei Johannes Göderitz, einem der bekanntesten und einflussreichten Städtebauer im Nachkriegsdeutschland. Ende der 1930er-Jahre schreibt Göderitz zwei Grundsatzbeiträge zu den Themen Städtebau und Altstadtsanierung. Der neuzeitliche Städtebau, so leitet Göderitz in sein Thema ein, umfasse „die Ordnung des völkischen Lebensraums“ – erst nach dem politischen Umbruch des Jahres 1933 sei hier „Klarheit geschaffen worden“ (1938a, 1015). Mit dem Städtebau setze der Staat die Ziele für die „Ordnung des deutschen Lebensraumes“ und regele das Bauen „auf deutschen Boden nach den Lebensnotwendigkeiten des Volkes“ (1938a, 1021). Göderitz fordert weitere Maßnahmen und Regelungen auch für den Umbau und die Auflockerung11 der überalterten, ungesunden und den neuzeitlichen Anforderungen nicht mehr entsprechenden Stadtviertel. Die Analyse von Göderitz bewegt sich in den bekannten Bahnen des Städtebaudiskurses. Der „Stadtkörper“ sei „krank“ und müsse daher „gesundet“ werden (1938b, 15). In den Großstädten hätten sich, so schreibt Göderitz, sozial und politisch unerträgliche Zustände gebildet, die Städte böten Unterschlupf für „asoziale Elemente, Prostitution und Verbrecherwelt“ (1938b, 15). Ganze Stadtteile würden in ihrer Anlage und vor allem in ihren Wohnverhältnissen den neuzeitlichen Leistungsansprüchen nicht mehr genügen. Betroffen seien vor allem die Altstadtviertel, aber auch die aufgrund schlechter Bauordnungen dicht und vielgeschossig bebauten Stadtteile seien ungesund. Die erforderliche Auflockerung werde eine „Herabzonung“ notwendig machen und damit eine „Senkung der Wohndichte“ herbeiführen, in vielen Fällen sei der Abriss ganzer Blöcke oder gar die „Niederlegung von Stadtteilen“ erforderlich (1938b, 15). Zusammen mit Roland Rainer und Hubert Hoffmann fasst Göderitz im Jahre 1957 seine seit den 1930er-Jahren entwickelten Thesen in der Schrift Die ­gegliederte und aufgelockerte Stadt zusammen, die zum Standardwerk des westdeutschen Nachkriegsstädtebaus geworden ist. Je mehr – so wird hier 272

weiter auf die Urquellthese rekurriert – die „lebensstarke Landbevölkerung“ gegenüber der Bevölkerung der Großstädte, die „ihre Volkszahl nicht aus ­eigener Kraft erhalten können“, zurücktrete, umso stärker müsse sich der „ungünstige Bevölkerungsaufbau dieser immer zahlreicher werdenden Großstädte in der Vergreisung des gesamten Volkes auswirken“ (1957, 9). Die allgemeine bevölkerungspolitische Lage und die Folgen des Krieges machten es zu einer „brennenden Lebensfrage“, die nicht ernst und gründlich genug erörtert und nicht frühzeitig genug beantwortet werden könne. Der Städtebau habe für die Zeit nach dem Krieg eine besonders ernste Verpflichtung zu erfüllen, nicht nur die baulichen Schäden, auch die „Schädigungen am Volkskörper“ müssten wiedergutgemacht werden (1957, 84). Sei dagegen der „Stadtkörper durch und durch gesund“, so würden auch die „in ihm lebenden und ihn bildenden Menschen gesunden Sinnes sein“ (1957, 84). Im Städtebau seien die Lösungen zu bevorzugen, die geeignet seien, zum Ausgleich der „schweren Verluste des Volkes an Gut und Blut den gesunden und leistungsfähigen Stadtkörper zu schaffen“ (1957, 84). Der Gründungstext des deutschen Nachkriegsstädtebaus, das wird in all diesen Textstellen mehr als deutlich, ist dem biopolitischen Denken weiter verpflichtet. Auch Roland Rainer, der kongeniale Koautor von Göderitz und wie dieser im Städtebaudiskurs bis heute hoch angesehen, bedient sich in seinen Texten ­eines ähnlichen Duktus und stellt sich bewusst und entschieden in die ­völkisch-biopolitische Traditionslinie der Großstadtkritik. Im Jahre 1948 ver­ öffentlicht Rainer die Schrift Städtebauliche Prosa, mit der er sich bereits im ­T itel an Oswald Spengler und dessen Suche nach der Seele der Stadt anlehnt. Wie Spengler möchte auch Rainer das „Wesen der Stadt“ ergründen und „sich darüber klar […] werden, was eine Stadt ist“ (1948, 9). Dafür macht er sich auf die Suche, der Stadt ihr dämonisches Geheimnis zu entreißen. Rainer bedient sich dabei der Thesen von Willy Hellpach. Ausdrücklich lobt Rainer dessen Schrift über Mensch und Volk der Großstadt und berichtet, dass dort „ausführ­ lich und tiefgründig“ erörtert werde, „wie grundlegend die massenhafte Ansiedlung zu vieler Menschen auf zu engem Raume die Menschen seelisch umformt“ (1948, 16). In einer bemerkenswerten Volte bemüht sich Rainer sogar, Weltkrieg und Nationalsozialismus mit Hellpachs Ausführungen zu erklären. 273

„In einer Zeit, in der Großstadtleben und Großstadtdenken alles geschichtliche Geschehen beherrscht, in der Geschichte Großstadtgeschichte ist, dürfte Hellpach damit die tiefsten Ursachen jener Krankheit aufgedeckt haben, die in den vergangenen tragischen Jahren zum Ausbruch gekommen ist – der Verkümmerung des menschlichen Empfindens für den Nächsten, – der ‚Menschlichkeit‘.“ (1948, 17) Die Großstädte, so wird die These der Großstadtfeindschaft über die Zeit gerettet, „sind das größte Hindernis für ein segensreiches menschliches Zusammenleben und Zusammenwirken geworden“ (1947, 24). Die „tragischen Ereignisse“ sind für Rainer letztlich also nichts anderes als Folgeerscheinungen der „entartenden Großstadt“, der „Raumenge des deutschen Volkes“ und der „unabsehbaren physischen und moralischen Schäden, welche die Kasernierung verursachte“ (1947, 18). Rainer möchte aber vor allem nach vorne blicken und entwickelt eine eigene städtebauliche Programmatik. Der Zeitpunkt – die Städte liegen in Trümmern – scheint für den Städtebauer dabei geradezu ideal zu sein. Der Augenblick birgt „die einzigartige, noch nie dagewesene Chance, statt der alten eine andere, bessere, neue Umwelt zu schaffen, unvergleichlich glücklichere ­L ebensbedingungen vorzubereiten“ (1947, 9). „Die entscheidenden Lebens­ fragen der menschlichen Gesellschaft“, um die „überall auf die verschiedenste Weise gerungen wird“, sind für Rainer „nur durch eine andere Form der Städte, nur durch einen grundlegenden Umbau oder Neubau des städtischen Lebensraums zu lösen“ (1948, 17). Rainer ist überzeugt davon, dass alleine „die aufgegliederte, aufgelockerte Stadt […] das Wesen unserer Zeit verkörpern“ kann (1947, 19). Dabei zeichnet er „das Bild der zukünftigen Stadt […] als ein räumlich lockeres, aber funktionell höchst lebendig verbundenes Gewebe aus einzelnen Zellen menschlichen Maßes“ (1947, 19). Die Menschen, so Rainer, könnten „sich nicht im lärmenden Massengetriebe“ entwickeln, die neue Stadt müsse daher „Raum und Ruhe geben, alles ameisenhafte muß ihr fremd sein“ (1947, 42). Rainer schließt in seinen Ausführungen also nahtlos an die biologistischen Begründungsnarrative an und postuliert, dass der Kern der heutigen Städtebauaufgabe darin bestehe, den „Stadtmechanismus 274

in einen selbstständig lebensfähigen, sparsam arbeitenden Stadtorganismus zu verwandeln“ (1947, 46). In Rainers Auslassungen findet sich exemplarisch die Vermischung des konservativen, biologistischen und völkischen Ansatzes mit dem funktiona­­lis­ tischen Neuordnungs-Credo der Moderne. Ein Blick in Rainers späteren Texte zeigt zudem, dass er seinem Denken nicht nur in der bereits erwähnten Schrift zur aufgelockerten und gegliederten Stadt, sondern auch später und in weiteren Texten treu geblieben ist. In seinem diskursiven Kampf gegen das Konzept des Hochhauses (Rainer war Zeit seines Lebens Verfechter des Einfamilienhauses) schreibt er auch noch in den späten 1970er-Jahren mit kaum übersehbarer biologistischer Note. Als „Auswirkungen des Hochhauses“ – den städtebaulichen Grundtyp, den er immer bekämpft hat – nennt Rainer nun „nervöse, seelische und Entwicklungsstörungen bis zur Kriminalität“ (1978, 10). Rainer beruft sich auf die sozialpsychologische crowding-Forschung (vgl. Roskamm 2017b) und berichtet, dass dort eine „Übereinstimmung zwischen tierischem und menschlichem Verhalten hinsichtlich des Einflusses von durch Überbevölkerung und Revierverkleinerung entstandenen Streßsituationen offenkundig bestätigt“ worden sei (1978, 23). Großstadt und Hochhaus sind für Rainer noch immer die Klinik der Gesellschaft, das Grab der Zivilisation. Geändert haben sich in dieser Diagnose nur die Krankheitsbilder: „Auf einen Nenner gebracht“, so formuliert Rainer, sei festzuhalten, dass sich zwar „die TBC -Krankenhäuser […] geleert [haben], aber die Nervenanstalten füllen sich“ (1978, 10). Die Geschichten von Rainer und Göderitz sind aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Hier zeigt sich, wie sich das völkisch-biologistische Denken stufenlos mit dem städtebaulichen Ideengut vereinigen konnte. Rainer und Göderitz haben beide den Städtebau nach 1945 entscheidend geprägt und sind treibende Kräfte seiner Institutionalisierung gewesen. Städtebauausbildung (etwa in Form des renommierten Johannes-Göderitz-Städtebauwettbewerbs an der TU Braunschweig oder der Roland Rainer Gastprofessur an der Akademie der Künste in Wien), städtebauliche Rahmengesetzgebungen (Göderitz gilt als einer der Väter des Bundesbaugesetzes und der Baunutzungsverordnung, die in ihrer Grundstruktur bis heute unverändert sind) und Begriffe 275

und Narrative (etwa das Reden vom „menschlichen Maßstab“ oder von der „Gesundungsplanung“) haben ihre selten hinterfragten Grundlegungen in eben dieser Ideenlehre. Die Kontinuität, für die die beiden Protagonisten stehen, vermag heute auf dem urbanistischen Feld erstaunlicherweise kaum zu stören. Das wäre vielleicht noch aushaltbar, wenn Göderitz und ­Rainer einfach alte Nazis gewesen wären und ihr Denken später grundlegend ge­ ändert hätten. Dem war aber nicht so. Der Denkstil, der sich in den 1930er-­ Jahren mit den völkisch-nationalsozialistischen Ansätzen eines Willy Hell­ pach vermählen konnte, blieb weitgehend der gleiche. Es gibt, und das ist eine Erkenntnis, die meines Erachtens im Urbanismus bis heute kaum angekommen ist, nicht nur personelle Kontinuitäten, die zu verhandeln sind. Es gibt auch und vor allem Kontinuitäten im Denken, die sich in Erzählungen und Begriffen ablagern und ausdrücken. Und das ist es, worauf Foucaults Analyserahmen der Biopolitik aufmerksam macht: der Kern, der die Ideen- und Wahrheitsproduktionen des Urbanismus zusammenhält. Biopolitik, so drückt es Foucault aus, ist eine bestimmte Form von Veridiktion, also eine Praxis der Wahrheitsherstellung. Auf dem urbanistischen Feld bedeutet das, dass die Naturalisierung der Stadt – genau darum handelt es sich – die Möglichkeit eines substanziellen Wissens von der Stadt erst eröffnet. Es ist ganz ähnlich wie bei der Bevölkerung: Die Stadt wird zum Subjekt/Objekt des Urbanismus, und sie wird mit ihrer Biologisierung dem ­rationalistischen Glauben an quasi-naturwissenschaftliche Gesetz­mäßig­kei­ ten zugänglich. Wie die Bevölkerung, muss auch die Stadt erst neu erfunden werden, um zum Gegenstand von Planung und Steuerung werden zu können. Nicht zuletzt eröffnet die naturalisierte Stadt damit auch die Figur des all­ wissenden Gottvater-Städtebauers, der alleine das genaue und ex­q uisite Wissen von der Stadt besitzt. Auch diese Figur verkörpern Rainer und Göderitz ­idealtypisch.12 Der moderne Städtebau ist eine extrem Fundamen­t alis­mus-­ anfällige Disziplin – das ist er seit seinem Anbeginn gewesen, und das ist er bis heute. Die von Rainer und Göderitz symbolisierte Fundamenta­lis­mus­ form bedarf der biopolitischen Grundierung, da ein empirischer und technokratischer Ansatz alleine das fundamentalistische Selbstverständnis und das dafür erforderliche Selbstüberzeugtsein kaum leisten kann. Auch hinter der 276

Idee, die Stadt berechnen/zählen/vergleichen zu können, findet sich damit das Narrativ des Organischen, auch hier ist eine solche Begründung unverzichtbar. Das ist es, was im traditionellen Urbanismus erkannt (oder ­erfühlt) wird, und das ist auch das, was das urbanistische Feld als Unter­suchungs­ bereich so ertragreich macht.13 In diesem einen Punkt liegt der traditionelle Städtebau aus meiner Sicht nämlich richtig: Er traut sich, die Frage nach dem Wesen der Stadt zu stellen. Die Strategie eines linken, kritischen Urbanismus, zu dem ich im folgenden Kapitel komme, besteht häufig darin, diese Frage als rückwärtsgewandte und unnötig/gefährliche Metaphysik abzulehnen. Auf den ersten Blick unterstützt der hier unternommene Exkurs in die biologistisch-völkische Begründungstradition des Urbanismus diese These, und eine solche urbanistische Metaphysik ist tatsächlich nichts, auf was man seine eigene Praxis gerne gründen möchte. Aber, und das wurde schon weiter vorne festgestellt, ist es eben auch keine Lösung, die Fragen nach dem Wesen und dem Sein und der Identität einfach gar nicht mehr zu stellen – genau das ist es, was aktuell in vielen Beiträgen der critical urban studies gefordert wird. Das ist aber deshalb keine Lösung, weil es schlichtweg nicht möglich ist, einer Auseinandersetzung mit Metaphysik ganz aus dem Weg zu gehen. Die Frage nach der eigenen Ontologie drängt immer wieder in den Vordergrund (etwa dann, wenn eine gena­ logische Analyse versucht wird). Die Frage nach dem Selbst lässt sich nicht vermeiden, höchstens verdrängen. Die nicht gestellte Frage nach dem Sein und dem Wesen (etwa der Stadt) bedeutet letztlich nur, dass im Ergebnis auf eine bestehende, unreflektierte oder zumindest kaum reflektierte und nicht selten ziemlich beschränkte Metaphysik zurückgegriffen wird. Genau an ­d iesem Punkt schlägt die Stunde des poststrukturalistischen Denkens. Ein solcher auf das urbanistische Feld importierter Ansatz macht es sich zur Aufgabe, das Urbane sozialtheoretisch zu verhandeln. Darin besteht die eigentliche Umschreibung von dem, was eine poststrukturalistische Stadttheorie sein und tun kann. Das Urbane und die Stadt sozialtheoretisch zu denken, ist allerdings etwas ganz anderes, als eine (neue) „Philosophie der Stadt“ zu gründen – darauf hat (wie weiter vorne skizziert) bereits Henri Lefebvre hingewiesen. Viel mehr hat es mit der genealogischen Analyse des eigenen Feldes 277

zu tun. Foucaults Genealogie auf dem urbanistischen Feld in Stellung zu bringen, ist bereits ein Schritt und auch eine Voraussetzung für die sozialtheo­ retische Betrachtung des Urbanismus (mit Derridas Hantologie werde ich weiter hinten eine weitere mögliche Vorgehensweise diskutieren). Die genealogische Analyse, hier schließt sich der Kreis, führt dabei erstens die Universalitätsbehauptungen des Urbanismus auf dessen zutiefst partei­ische Position zurück (und erweist sich damit als nietzscheanisches Projekt). Zweitens führt sie zu den biopolitischen Grundlagen des urbanistischen Feldes und sie findet, dort angekommen, die Frage nach dem Wesen der Stadt. Eine Frage, die im traditionellen Urbanismus immerhin gestellt wird. Und eine Frage, die auch beantwortet wird, und zwar auf bemerkenswerte Weise. Der traditionelle Urbanismus instituiert einerseits die Stadt mithilfe der bekannten biologischen Metaphern, die den organischen und gesellschaftlichen Geschichtsvorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts zugrunde liegen, mit deren Hilfe es möglich wird, die faktische Pluralität im Bilde eines übermenschlich großen Leibes zu sehen, als Körper der Nation oder des Volkes oder der Gesellschaft oder eben als Körper der Stadt. Andererseits erfindet sich die urbanistische Disziplin dadurch, dass sie ihr eigentliches Objekt – die (Groß)Stadt – zum Todfeind erklärt. Die urbanistische Identifikation wird hergestellt durch das gemeinsame Band der biologisierten Großstadtfeindschaft. Und das ist eine Grundierung, die erst das postfundamentalistische Denken in seiner ganzen Bedeutung zu erkennen und zu würdigen vermag.14 Denn von dort aus lassen sich mindestens zwei Erklärungsversuche für diese Negativ-Identifikation unternehmen. Zum einen ist die Stadtfeindschaft des traditionellen Urbanismus eine Reaktion auf eine Konflikterfahrung. Reagiert wird damit auf die dunkle Seite der Erisgöttin (Nietzsche), das Donnerrollen (Foucault) und das Brodeln des Sozialen, das in den Städten unter dem Pflaster der Straße zu spüren ist. Die Stadtfeindschaft ist eine Antwort auf den grundlegenden Antagonismus des Sozialen, der in der Stadt immer spürbar, der in den urbanen Strukturen und Residuen aufgehoben ist. Die Stadt wird mit Konflikt identifiziert und in dieser Rolle zum Behälter, auf den die eigene Angst vor dem Konflikthaften (der Krankheit, der Kriminalität, der Revolution) projiziert wird. Die Urbanisten der frühen Moderne waren also (heimliche 278

oder offensive) Ontologen, die das Konflikthafte der Stadt erkannt und die die Stadt dafür gehasst haben. Damit kommt der traditionelle Urbanismus einer Bestimmung von Stadt möglicherweise tatsächlich näher, als die ganz auf das Empirische fokussierte nüchtern sozialwissenschaftliche Traditionslinie. Zudem ist die emotional aufgeladene Ablehnung der bestehenden Stadt im ­orthodoxen Urbanismus als eine Form der Sublimierung der Kontingenz­ erfahrung (der Erfahrung der sozialen Ungründbarkeit) der Moderne zu verstehen. Es ist also gewissermaßen das eigene Scheitern bei der Ontologisierung der Stadt, die auf der einen Seite den Hass auf das Objekt (den Ekel vor der verdreckten verseuchten Stadt) anfeuert und auf der anderen Seite in ihrer obsessiven Zuwendung zu einem Methodenfetischismus führt, der bei der sich an den Naturwissenschaften orientierenden sozialwissenschaftlichen Stadtforschung bis heute anzutreffen ist. Die (zumindest vordergründige) Überwindung des Großstadthasses in den 1960er-Jahren hat – bei all ihren Errungenschaften bezüglich der Zerschlagung von völkisch-getränkten ­Begründungsstrukturen – nicht wenig zum Verschwinden dieser ontolo­­­ gischen Affinität beigetragen und somit die Stadt zunehmend bedeutungslos gemacht.

4.3

Kritische Stadtforschung

Eine genealogische Analyse des Urbanismus, die sich selbst als Teil der kritischen Stadtforschung verortet (die von dort aus startet), kann ihren eigenen Bereich nicht ausklammern. Um sie genealogisch durchdenken zu können, ist zunächst ein weiteres Mal die Frage zu stellen, was kritische Stadtforschung eigentlich ist, was sie umfasst und wie sie bestimmt werden kann. Eine mögliche Antwort darauf lautet, dass kritische Stadtforschung immer durch Abgrenzung von etwas anderem entsteht. Kritik ist immer eine Kritik an etwas, und kritische Stadtforschung ist eine Kritik des orthodoxen klassischen modernen Urbanismus, der im vorigen Kapitel besprochen wurde. Aufgabe der kritischen Stadtforschung könnte es also sein, den klassischen Urbanismus zu kritisieren, eine Praxis der Kritik zu entwerfen. 279

Eine solche Definierung läuft auf eine erneute negative Identitätszuweisung hinaus. Kritische Stadtforschung konstituiert sich in ihrer Grenzziehung zur Zunft der Stadtplaner und Städtebauer und zu deren Diskursen, Narrativen und Institutionen. Dadurch wird kritische Stadtforschung zu einer Form der „Kritik der Kritik“. Denn auch der klassische Urbanismus kritisiert ja etwas, nämlich die Stadt. Die Aufgabe des klassischen Urbanismus ist es – wie im vorigen Kapitel skizziert – nicht nur, Stadt zu gestalten (neuzubauen, umzubauen, zu planen), sondern auch, Stadt zu pathologisieren (für krank und als krankmachend zu bestimmen). Während der klassische Urbanismus die bestehende/vorgefundene Stadt kritisiert, um sich zu finden, so kritisiert die kritische Stadtforschung den orthodoxen Urbanismus, um ihrerseits eine eigene Gestalt annehmen zu können. Das wird für den eigenen Theorieaufbau allerdings spätestens dann problematisch, wenn kritische Stadtforschung zum Urbanismus dazugerechnet wird. Wenn das der Fall ist, dann kritisiert sich die Kritik der Kritik selbst. Was vielleicht gar nicht so schlimm wäre, aber eben doch ein gehöriges Maß an Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbst-Distanz vor­ aussetzt. Gibt es eine solche Neigung nicht, dann sind der Kritik enge Grenzen gesetzt. In diesem Fall ist es wenig wahrscheinlich, dass die dem Urbanismus und dessen Kritik gemeinsamen Grundbegriffe und -konzepte – etwa der Begriff der Stadt oder die orthodoxe empirische Perspektive – grundlegend hinterfragt werden, da damit der eigene Bestand und die eigene Daseins­be­ rechtigung gefährdet werden könnten. Möglicherweise lässt sich auch durch diese Binnenstruktur die in der kritischen Stadtforschung herrschende Abneigung erklären, sich mit dem Begriff der Stadt selbst auseinanderzusetzen: Die auf dem urbanistischen Feld verortete kritische Stadtforschung scheut es, die eigene Grundierung zu dekonstruieren. Vielleicht hat die kritische Stadtforschung (wie die neo-marxistische Theorietradition überhaupt) sich deshalb auch so lange davor gescheut, sich mit strukturellen Biologisierungen und mit den urbanen Pathologien zu beschäftigen. Michel Foucault stellt in seinen Vorlesungen einmal fest, dass in den Gefilden der kritischen Theorie niemals das Thema Biomacht zum Gegenstand der Kritik gemacht und nie dessen Basis und Entstehung untersucht worden wäre. Im Gegenteil, so Foucault, seien die biopolitischen Argumente und 280

Denkstile einfach übernommen worden (2003, 261). Auch wenn diese Diagnose heute – zumindest in dieser Generalisierung – nicht mehr zutreffend ist (dazu hat nicht zuletzt die Rezeption von Foucault selbst beigetragen), so ist auf dem Feld der kritischen Stadtforschung auch aktuell eine latente Abneigung gegen den Analyserahmen der Biopolitik speziell und gegen poststrukturalistische Argumentationsweisen allgemein zu bemerken. Die das eigene Selbstverständnis besser adressierende Kritikrichtung der kritischen Stadtforschung ist die klassische Kapitalismuskritik. Hier ist es einigermaßen eindeutig, was unter Kritik zu verstehen ist, nämlich die Kritik – in Marx’scher Tradition – an sozialer Ungleichheit und deren Ursachen in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Schwieriger ist es in diesem Fall allerdings, den Stadtbezug herauszuarbeiten und zu begründen. Denn dieser Stadtbezug lässt sich nicht ohne Weiteres (zumindest nicht zwingend) mit Marx und Engels herleiten. Dort spielen die städtischen Verhältnisse zwar durchaus eine Rolle, Stadtforschung wird jedoch nicht als ein eigenständiger Bereich privilegiert (vgl. Kapitel 1.3). Stadtforschung mag aus klassisch marxis­ tischer Sicht als empirische Begleitforschung zulässig und auch wünschens­ wert sein, sie schafft es aber nicht, sich aus dem ökonomischen Primat der Produktionsverhältnisse zu lösen und sich als autonomer Wissenszweig zu emanzipieren. Stadt ist aus dieser Perspektive immer nur eine Ausdrucksform der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und Stadtforschung immer nur ein Teilgebiet der Kritik der politischen Ökonomie. Die Möglichkeit, dass Stadt auch deshalb bedeutsam ist, weil sie Ort und Schauplatz von Revolte und Revolution ist, liegt hier zwar in der Luft, bleibt aber theoretisch unausgeführt. Bei Marx und Engels hat die Stadt keinen eigenen ontologischen Gehalt. Die Ontologie des Marx’schen Denkens ist der historische Materialismus, und dort findet die Stadt als Stadt nicht wirklich statt. Deshalb benötigt kritische Stadtforschung – gedacht als post- oder neomarxistisches Projekt – einen erwei­ terten Ansatz, um sich selbst gründen zu können. Genau diese Erweiterung ­l iefert natürlich Henri Lefebvre mit den Schriften aus seiner urbanen Phase, vor allem mit Le droit de la ville und mit La revolution urbaine (vgl. Kapitel 2). Es spricht einiges dafür, kritische Stadtforschung als ein ursprünglich Lefeb­ v­re’sches Projekt zu bezeichnen (vgl. auch Schmid 2010, 122) – was wiederum 281

die Erklärung dafür ist, dass Lefebvre in den critical urban studies heute eine so bedeutsame Rolle spielt. Lefebvre überführt nicht nur das Marx’sche Denken zur Stadt in eine theoretische Reflexion über das städtische Selbst, sondern er entwirft eben auch die Idee einer eigenen Stadtwissenschaft.15 Bevor ich mich nun der Theorieentwicklung der kritischen Stadtforschung zeitlich und inhaltlich nach Lefebvre zuwende, ist ein weiterer Punkt zu erwähnen, der das Geschehen auf dem urbanistischen Feld maßgeblich geprägt hat, nämlich die Entstehung des städtischen Aktivismus seit Anfang der 1960erJahre. Auch hier gilt es zu differenzieren. Natürlich gab es zu allen Zeiten urbane Bewegungen und städtische Revolten, dafür ist nicht zuletzt die Französische Revolution ein ausgezeichnetes Beispiel. Urbane Bewegungen, die sich als Bewegung explizit gegen den modernen Urbanismus richten, entstehen jedoch in erster Linie Anfang der 1960er-Jahre. Vor allem mit dem Namen Jane Jacobs verbunden sind die Proteste gegen die städtebaulichen Umbaumaßnahmen etwa im New Yorker Greenwich Village (vgl. Roskamm 2014b). Der Widerstand gegen den Stadtumbau zielte nicht nur auf die einzelnen ­Sanierungsmaßnahmen, sondern torpedierte auch die generelle inhaltliche Ausrichtung der Stadtplanung. Die Proteste dieser Zeit wandten sich nicht ­zuletzt gegen die von Le Corbusier, Göderitz und Rainer aufgestellten Leit­ linien des klassischen Urbanismus. Und sie führten zu eindrucksvollen Umwälzungen: etwa zur (weitgehenden) Überwindung der klassischen Großstadtfeindschaft (die allerdings durch andere partielle Feindschaften – auf die Großwohnsiedlungen der Nachkriegsmoderne, auf den „suburbanen Siedlungs­ brei“ – immer wieder ersetzt wurden), zum Abkehr von der Flächensanierung und der Erfindung der behutsamen Stadterneuerung sowie zur Zuwendung zur Stadtsoziologie und der Etablierung eines differenzierten und reflektierten Diskurses innerhalb des urbanistischen Feldes selbst (vor allem Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren). Ab den 1960er-Jahren entsteht also tatsächlich ein Umbruch auf dem urbanistischen Feld, in dem manche Wahrheit neu verhandelt und auf den Kopf gestellt wird.

• 282

Einer der einflussreichsten Texte für die Weiterentwicklung der kritischen Stadtforschung nach Lefebvre ist Manuel Castells’ im Jahre 1972 veröffentlichte Schrift La Question urbaine. Castells kommt aus dem direkten Umfeld von Lefebvre und unterrichtete Ende der 1960er-Jahre an der gleichen Pariser Universität (vgl. Merrifield 2002). Das erklärte Ziel von Castells ist es, aus einer Kritik der traditionellen sozialwissenschaftlichen und urbanistischen Kategorien neue Werkzeuge für eine neue Stadtforschung zu entwickeln. ­Unter Einbeziehung einer ideengeschichtlichen und theoretischen Durch­ querung der Stadtforschung möchte Castells eine bessere und effektivere ­empirische Forschung ermöglichen. Dabei verortet er seinen Ansatz in einer marxistischen Tradition. Seine These ist, dass die urbane Frage zwar ganz wesentlich Marx’sche Themen – wie „Klassen, Kampf, Revolte, Widerspruch, Konflikt, Politik“ – berührt, eine Marx’sche Tradition bezüglich der Analyse von dezidiert urbanen Problemstellungen aber bisher schlichtweg „nicht existiert“ (1977, Viii). Die von einer neu erstarkten Arbeiterklasse ausgelösten ­Ereignisse der späten 1960er-Jahre hätten, so Castells, nicht nur den fortgeschrittenen Kapitalismus erschüttert, sondern auch die „städtischen Probleme“ an die Oberfläche gespült (1977, 1). Diese Sichtbarkeit mache es notwendig, die Ideologie zu untersuchen, die der urbanen Frage zugrunde liegt, also der ­u rbanen Ideologie auf den Grund zu gehen. Die urbane Frage, die Castells ­expliziert, lautet etwa: Ist die Stadt gesellschaftszersetzender Zerfall oder ­gesellschaftsbildender Fortschritt? Dem klassischen Urbanismus, bei dem Anfang der 1970er-Jahre das negative Bild der kranken und krankmachenden Stadt noch relativ unangetastet war, stellt Castells also die auf dem urbanistischen Feld zu dieser Zeit bereits angekommene und etablierte stadtsozio­ logische Betrachtungsweise und Inwertsetzungspraxis zur Seite, die etwas ganz anderes behauptet, nämlich, dass die Stadt die eigentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Fortentwicklung ist. In seiner Ideologiekritik beschäftigt sich Castells besonders mit der zweiten Position. Die stadtsoziologische Zuwendung zu einem positiven Stadtbild, so lautet seine Diagnose, bringt eine „kulturalistische Ideologie“ zum Ausdruck, die in den selbsternannten Stadtwissenschaften ständig reproduziert wird (1977, 74). Diese „urbane Kultur“ sei aber kein belastbares theoretisches 283

Konzept, sondern lediglich ein „Mythos“ (1977, 83). Zudem sei der Ausdruck „urban“ keineswegs unschuldig, sondern transportiere bei genauerem Hinsehen ein soziales materielles Verhältnis – und das wiederum sei nur mit einer Marx’schen Analyse wirklich zu begreifen. Die Stadtsoziologie dagegen reifiziere den Stadtbegriff und stelle dabei ein spezifisches System sozialer Beziehungen (die urbane Kultur) als durch eine räumliche Form (die Stadt) hervorgebracht dar. Castells verortet den Ursprung solch unzulässiger Verräumlichungen in der deutschen Soziologie, und zwar namentlich bei Tonnies, Weber, Simmel und auch bei Spengler (1977, 76). Auch wenn diese Aufzählung selbst etwas vorschnell zusammengestellt zu sein scheint,16 liegt Castells sicherlich richtig, wenn er auf die Kontinuitäten der problematischen Kausalbeziehungen zwischen (räumlicher) Form und (sozialem) Inhalt aufmerksam macht und sie von den Anfängen der Soziologie bis in die US-amerikanische Stadtsoziologie weiterverfolgt. Vor allem anhand der berühmten Stadtdefinition von Louis Wirth 1938 arbeitet Castells den Kern der urbanen Ideologie der Stadtsoziologie heraus, der in der These besteht, dass durch die räumliche Konzentration (durch die Dichte) eine besondere Art von sozialen Beziehungen entstehe. Zudem erwähnt Castells eine zweite Fährte, nämlich die Spuren der anti-urbanen Vorurteile, die in einigen Texten der Chicago school weiter zu finden sind und die dann wieder zu den Wurzeln des orthodoxen Urbanismus und seiner negativen Sicht auf die bestehende Stadt führen. Was Castells also überzeugend darstellt, ist die gemeinsame Herkunft der negativen wie der positiven Stadtideologie, die beide trotz ihrer entgegengesetzten Beurteilung der Stadt auf ganz ähnliche Weise das Räumliche in das Soziale wirken lassen. Ausführlich diskutiert und kritisiert Castells schließlich auch die Stadttheorie von Henri Lefebvre (1977, 86 f.). Vor allem anhand von zwei Argumenta­ tions­l inien entwickelt er seine Kritik. Den ersten Punkt leitet Castells mit der Diagnose ein, dass Lefebvre das Städtische als emanzipierte kreative Spontanität inszeniert, als Raum des Ephemeren, in dem das Unerwartete geschieht. Handlung und Kommunikation sind hier intensiviert, und dadurch entstehen – verursacht durch die Konzentration – Vergnügen, Geselligkeit und Begehren. Um diesen „Mechanismus der Soziabilität“ zu gewährleisten, der eine direkte 284

Verbindung zum Konzept des Organischen unterhalte, müsse Lefebvre aber, so die Analyse von Castells, eine „mechanistische Hypothese“ in Stellung bringen: Die Hypothese, dass soziale Beziehungen in ihrer „Negation zur Distanz“ erscheinen (1977, 90). Lefebvres Exponierung des Urbanen folgt – in der Lesart von Castells – der gleichen Logik wie der Theorieaufbau der Stadtsoziologie. Die These von Castells ist es nun, dass das Urbane auch bei Lefebvre vor allem Zentralität, Simultanität und Konzentration und also eng verwandt mit Louis Wirths Stadtbaustein der Dichte ist. Bei beiden gehe es letztlich um die Identifikation einer Form (nämlich der Stadt) mit einem bestimmten Inhalt: bei den Stadtsoziologen mit dem modernen Kapitalismus; bei Lefebvre mit dem Reich der Freiheit und des neuen Humanismus. Castells glaubt also auch auf dem Grunde des Lefebvre’schen Theorieaufbaus die problematische Kausalbeziehung zwischen dem Baulich-Räumlichen und dem Sozialen zu finden, die die Stadtsoziologie seit ihrer Entstehung (etwa in den Texten von Emile Durkheim) begleitet. Der zweite Punkt von Castells Kritik hängt mit der Lefebvre’schen Konzeption von Geschichte zusammen. Lefebvre konstruiert, das arbeitet Castells wieder­u m ziemlich überzeugend heraus, eine Art von „Post-Geschichte“ mit dem Urbanen als Endzustand (1977, 88). Das Urbane ersetzt dabei das, was die marxistische Tradition „Kommunismus“ nennt. Für Castells ist es nun jedoch weniger das Problem, dass Geschichte bei Lefebvre als ein endlicher und ­i rgendwie ebenfalls vorbestimmt notwendiger Prozess konzipiert ist. Sein Punkt ist vielmehr die Verschiebung, die Lefebvre dabei vornimmt. Der urbane Endzustand (das urbane Zeitalter), so führt es Castells aus, ist bei Lefebvre direkt verbunden mit einem „neuen Humanismus“, definiert durch den städtischen Menschen, für den und durch den die Stadt und das eigene Alltagsleben in der Stadt „Nutzwert und Appropriation“ bedeutet (1977, 88). Und das findet Castells vor allem politisch bedenklich. Die Gegenüberstellung von For­ men „ohne präzisen strukturellen Inhalt“ (also etwa die Industrie und das ­Urbane) ermögliche es, „mithilfe von Wortspielen“ zu behaupten, dass eine proletarische Revolution auf die Industrialisierung ziele, wohingegen eine urbane Revolution auf die Stadt als Ganze gerichtet sei (1977, 91). Castells erklärt, dass diese Perspektive – hier zeigt sich das Unbehagen eines linientreuen 285

Marxisten – zu „politisch gefährlichen Konsequenzen“ führe (1977, 91). Es sei keinesfalls hinnehmbar, wenn Lefebvre infolge seiner urbanen Geschichtsschreibung das „Ende des Proletariats“ verkünde und behaupte, dass die „­Konzeption des Klassenkampfes im Weltmaßstab überholt“ sei und dass die ­u rbane Praxis die industrielle Praxis ersetzt habe (1977, 91). Castells betätigt sich also als Hüter der wahren marxistischen Lehre und exkommuniziert ­Lefebvre gewissermaßen ein weiteres Mal aus der Partei (aus der dieser ja schon 15 Jahre davor ausgeschlossen worden war). In einigen Punkten sind Castells Einwände an Lefebvres Konzeption sicherlich nicht unbegründet. Tatsächlich finden sich gerade bei Lefebvres Konzept der Zentralität etliche Versatzstücke aus der klassischen stadtsoziologischen Ideengeschichte, mit denen die dort zentral stehenden Problematiken gleich mit importiert werden – vor allem die Konstruktion von Kausalbeziehungen zwischen der räumlichen Form und dem sozialen Inhalt.17 Auch dass Lefebvre das Urbane zum Endzustand der Menschengeschichte erklärt, ist tatsächlich ein problematischer Punkt – dieses Thema wird uns bei der Diskussion der „planetarischen Urbanisierung“ gleich wiederbegegnen. Entscheidend für eine Bewertung der Kritik von Castells ist meines Erachtens aber etwas anderes, und zwar die generelle Ausrichtung seiner Intervention in die urbane Frage. Das von Castells an den Anfang gesetzte und immer wieder bestätigte Ziel ist es, eine empirische Stadtforschung im Sinne der Marx’schen Theorie zu ermächtigen. Die gesamte Ideologiekritik – sowohl an der klassischen Stadtsoziologie als auch an Lefebvres Stadttheorie – ist ausgerichtet auf dieses Ziel. Der Ausflug in die Sozialtheorie, der den Rückfahrtschein bereits gelöst hat, soll helfen, die Hindernisse, die der empirischen Stadtforschung das Vorankommen erschweren (vielleicht ja Hindernisse wie die Texte von Lefebvre), aus dem Weg zu räumen. Deshalb muss Castells wohl auch übersehen, dass Lefebvre in seiner Ideologiekritik genau dieses Empirische zum eigentlichen Angriffsziel hat. Für Lefebvre ist das Empirische ein fester Bestandteil der urbanen Ideologie. Andersherum ist die urbane Ideologie nicht nur in jener Problematik aufgehoben, die darin besteht, dass das Soziale durch das Räumliche bestimmt wird, sondern sie besteht ebenfalls in der Anschauung von der Stadt als etwas Zählbaren. Während es das Ziel von Castells ist, die 286

Marx’sche Theorie für die empirische Forschung fruchtbar zu machen, ist für Lefebvre der Empirismus wichtiger Teil des Problems selbst. Aus heutiger Sicht lässt sich nun feststellen, dass der Beitrag von Castells genau an dieser Stelle richtungsweisend gewesen ist, und zwar in gleich zwei Punkten. Erstens legitimiert er die empirische Tradition der Stadtforschung (und er kann dabei, wie weiter vorne berichtet, bis Friedrich Engels zurückverweisen). Er unternimmt zwar einen Ausflug in den Bereich der Ideologiekritik und Sozialtheorie, um dort eine (zumindest in Teilen nachvollziehbare) Kritik der Kritik zu platzieren. Das macht er allerdings nur deshalb, um auf diesem Wege die Rückreise in das Feld des Sozialen, Rationalen und Empirischen als einzig mögliche Konsequenz erscheinen zu lassen. Entscheidend ist in der Nachbetrachtung vor allem, dass er die Tür hinter sich fest verschließt. Die Beschäftigung mit der „urbanen Ideologie“ funktioniert gewissermaßen als ein Ablenkungsmanöver, mit dem das verschattet wird, was Lefebvre Zeit seines Lebens wiederholt hat: seine Kritik des Empirismus und des Öko­ nomismus. Castells lehrt der Stadtforschung die Lektion, dass die Ideologiekritik des Urbanen notwendig gewesen ist, dass sie aber nun als beendet betrachtet werden sollte und dass sie (die kritische Stadtforschung) sich beruhigt wieder der empirischen Betrachtung von Stadt zuwenden kann. Die Verun­ sicherungen von Lefebvre werden damit erträglich gemacht. Und das ist der zweite Punkt, mit dem Castells die urban studies geprägt hat: mit der Einordnung von Lefebvre. Castells prägt die Sicht auf Lefebvre als kreativen Kopf, dessen Theorie aber unmöglich als kohärentes Ganzes zu ­sehen ist. Lefebvre hätte von der Realität eben keine Ahnung und ignoriere vorsätzlich alle statistischen und historischen Daten. Vor allem aber möchte Castells das wildgewordene poststrukturalistische Denken von Lefebvre wieder einfangen. Castells inszeniert damit den Bereich der Stadtforschung als Paralleluniversum: einerseits die urbane kulturalistische Ideologie, die nur in und durch Marx überwunden werden kann, und andererseits die empirische Stadtforschung, die, gerüstet mit der Marx’schen Ideenlehre, ihrem theoretischen Anspruch Genüge getan hat und sich nun wieder auf ihr Kern­geschäft konzentrieren sollte. Dass Lefebvre stets darauf insistiert, dass das eine nur mit dem anderen zusammengedacht werden und nur eine permanent neu 287

verhandelte selbst-reflexive Ideologiekritik zu so etwas wie einer kritischen Stadtforschung führen kann, fällt dabei komplett hinten runter. Übrig bleibt das Bild von Lefebvres Texten als einem Steinbruch mit einigen genialen Fundstücken, die aber niemals zu einer überzeugenden Kritik (weder einer Kritik des Marx’schen Denkens noch einer Kritik der empirischen Stadtforschung) zusammengesetzt werden können.18

• In englischer Übersetzung erscheint Castells La Question urbaine im Jahre 1977 in einer Buchreihe, die von David Harvey herausgegebenen wird. Harvey wiederum hat die kritisch-(post)marxistische Stadtforschung der letzten Jahrzehnte geprägt wie kein anderer. Die Grundzüge seines bis zum heutigen Tage in beeindruckender inhaltlicher Kontinuität vertretenen Ansatzes entfaltet er bereits in den frühen 1970er-Jahren. In Social Justice and the City ([1973] 1988) formuliert Harvey eine Kritik der „liberalen Formulierungen“ der traditionellen Stadtforschung und stellt dieser seine „sozialistischen Formulierungen“ gegenüber. Harveys Text ist einerseits die Ausarbeitung des Grundgerüsts einer Theorie des Urbanen und andererseits ein (weiteres) Gründungsmanifest für eine kritische Stadtforschung. Harvey geht es darum, ein begriffliches und theoretisches Verständnis von Stadtplanung, städtischen Systemen und Urbanismus zu entwickeln. Deshalb reflektiert er nicht nur über das Wesen des Urbanismus, sondern gleichfalls darüber was „Theorie“ ist und auch, wie sich Raum konzeptionell fassen lässt. Seine Anfangsthese lautet, dass nur eine Analyse der urbanen Frage dazu in der Lage ist, die eigene Disziplin – Harvey ist Geograf – zu revolutionieren. Sein Ziel ist es, die theoretischen Grundlagen für eine kritische Geografie zu entwerfen, und der Weg zu diesem Ziel führt über die Analyse des Städ­ tischen. Damit wird der Urbanismus für Harvey das notwendig zu durch­ querende Feld für die von ihm als Kernaufgabe für eine kritische Geografie gesetzte neomarxistische Analyse räumlicher Verhältnisse. Harvey plädiert für eine in Marx’scher Tradition stehende Ideologiekritik des Urbanismus.19 Er wendet sich – ganz in eben dieser Marx’schen Denktradition – grundsätzlich dagegen, in Methode und Theorie zu unterscheiden. Obwohl 288

sie zum wissenschaftlichen Standardrepertoire gehört, so postuliert Harvey, sei diese Trennung eigentlich unmöglich. Es habe weitreichende weltanschau­ liche Folgen, in einen methodischen und einen theoretischen Bereich zu ­u nterteilen: Exakt auf dieser Unterscheidung beruhten nämlich die anderen klassischen Dualismen – wie die Teilung in Fakten und Werte oder die Konzeption von Objekten, die unabhängig von Subjekten sind (1988, 11).20 All diese Kategorisierungen seien, so Harveys These, von „fundamentaler Bedeutung“ für jegliche Form von Praxis (1988, 12). Daher wäre es auch entscheidend, zu verstehen, wie die routinisierten Bestimmungen etabliert werden und wie mit und durch sie Bedeutung hergestellt und transformiert wird. Es gäbe „in unterschiedlichen sozialen Kontexten ganz unterschiedliche Typen von Theo­r ie“ und jeder Typus sei mit „unterschiedlichen ­Verifikationsprozeduren“ verbunden (1988, 12). Verifikation wiederum sei selbst eine Praxis, was schließlich bedeutet, dass jede Theorie auch Praxis ist (1988, 12). Als Geograf ist es für Harvey zunächst notwendig, sich von den historischen essentialistischen und methodischen Grundlegungen seiner eigenen Disziplin zu distanzieren, also vom sich naturwissenschaftlich gebenden mechanischen Materialismus, der den ontologischen Nährboden der geografischen Zunft ausmacht. Harvey setzt die Bewusstmachung einer nicht-essentialis­ tischen Welt als eigentliche Voraussetzung für das Programm einer kritischen Geografie und stellt der traditionellen Weltanschauung einen radikal gedachten Relativismus gegenüber. Er eröffnet seinen Ansatz mit dezidiert philo­ sophisch/ontologischen Fragestellungen, mit einem klaren Bekenntnis zur Relationalität der Welt und auch mit einem entschiedenen Plädoyer für eine ideengeschichtliche Analyse. Als allgemeinen Denkrahmen schlägt Harvey („natürlich“, wie er schreibt) die Marx’sche Theorie vor (1988, 17). Allerdings, so beeilt er sich hinzuzufügen, beruhe dieser Vorschlag nicht auf irgendeiner a priori getroffenen Annahme, sondern einfach darauf, dass er keinen anderen Weg gefunden habe, die Analyse des Urbanen sinnvoll anzugehen (1988, 17). Harvey macht es sich daher zur Daueraufgabe, die Ontologie des Marx’s­ chen Denkens zu explizieren, um sie für die kritische Geografie zugänglich und zur Grundlage zu machen.

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Ontologie, so erläutert Harvey, „ist die Theorie von dem, was ist“ (1988, 288). „Zu sagen, dass etwas ontologischen Status hat, bedeutet zu behaupten, dass es existiert“ (1988, 288) – weiter hinten wird uns noch die Hantologie beschäftigen als die Theorie von dem, was abwesend ist. Die ontologischen Grundlegungen von Marx bestehen laut Harvey aus zwei Säulen: erstens aus der „Konzeption von Realität als Totalität von intern relativen Teilen“ und zweitens „aus der Konzeption dieser Teile als erweiterbare Verhältnisse, die jedes in ihrer Fülle die Totalität repräsentieren“ (1988, 288). Harvey schlägt mit Bezug auf Jean Piaget den Begriff des „operationalen Strukturalismus“ vor, bei dem weder auf eine absolut atomistische Verbindung (in der die partikularen Elemente selbst die Bedeutung tragen) noch auf eine allumfassende Totalität (die alles andere strukturiert und vorbestimmt) rekurriert, sondern eine relationale Perspektive an den Anfang gesetzt wird (1988, 288). Hier wird also abgelehnt, den Elementen oder der Totalität eine eigene und unabhängige Bedeutung zuzugestehen; entscheidend sind die Verbindungen zwischen den Elementen. Solch ein Konzept von Totalität rückt die Frage in den Vordergrund, wie das Innere der Totalität strukturiert ist und wie/wann/warum sich diese Strukturen ändern. Weiterhin Piaget folgend, schlägt Harvey das Konzept von „Strukturen in Transformation“ vor, da ohne die Idee der Transformation die „Strukturen jegliche erklärende Kraft verlieren und in unbewegliche Formen kollabieren würden“ (1988, 289). Die Beziehungen zwischen den Elementen innerhalb der Struktur können dagegen als Regeln begriffen werden, die die Transformation des Ganzen steuern. Die Totalität ist strukturiert durch die internen Beziehungen ihrer Elemente. Es ist daher irrelevant, so postuliert Harvey (und wir können auch Nietzsche und Foucault in diesem Sprechen hören), festlegen zu wollen, welche Kategorien und Konzepte wahr oder falsch sind; vielmehr sei es wichtig, zu erkunden, wer sie herstellt und warum sie hergestellt werden (1988, 298). Harvey erklärt, dass aus der Ontologie von Marx nicht das Ziel folge, isolierte/islolierbare Ursachen und Gründe zu finden oder evolutionäre Phasen oder Stände der gesellschaftlichen ­Entwicklung zu identifizieren, sondern dass es darum gehe, die Transformations­regeln zu erforschen, durch die „das Soziale ständig restrukturiert wird“ (1988, 289). 290

Marx würde nämlich gerade nicht von „Ursachen im herkömmlichen Sinne“ sprechen, und es gäbe bei ihm auch „kein geschichts-evolutionäres Ablaufschema“ (1988, 290). Vielmehr sei es der Fokus der Marx’schen Analyse, die Widersprüche zwischen und in den transformierenden Strukturen des Totalen ausfindig zu machen (1988, 293). Dass diese Interpretation der Marx’schen Theorie nicht die einzig mögliche und dass der von Harvey herausgearbeitete relationale Ansatz dort zwar tatsächlich enthalten ist, aber von einem dazu parallel geführten Determinismus ständig begleitet wird, das ist weiter vorne bereits ausführlich besprochen worden (vgl. Kapitel 1). Die gleiche Problematik zeigt sich nun bei Harvey, der seinen Relativismus alsbald selbst wieder relativiert. Und zwar dort, wo er sich der Marx’schen Erklärung der Welt (und der Stadt) aus der Analyse der Produktionsverhältnisse zuwendet und sie zum eigentlichen Kern seines Ansatzes bestimmt. Harvey führt sein Argument mit Marx aus und erklärt, jener würde, indem er das Ökonomische zur Basis des Sozialen erkläre, zwei Dinge vorschlagen: zum einen, dass die Beziehungen zwischen den Strukturen (das Soziale) selbst auch durch die Totalität (das Ökonomische) beeinflusst sind; zum anderen, dass, wenn die Gesellschaft oder die Stadt als Totalität betrachtet werden, alles und jedes mit den Strukturen der ökonomischen Basis verbunden ist (1988, 292). Produktion und Reproduktion des materiellen Seins formen „sowohl den Ausgangs- als auch den Endpunkt“ für die Aufgabe, die strukturellen Beziehungen der Totalität zu erkunden (1988, 292). Harvey manövriert damit unfehlbar und unvermeidbar in das Grundfragen-Gewässer, in die Gefilde, in denen die Problematik des Determinismus/Ökonomismus zum Vorschein kommt. Interessant ist es, dass Harvey in seinem Gründungstext genau diese Problematik selbst expliziert. Zum einen erwähnt er den Brief von Engels an Bloch (vgl. S. 45) und die Rede von der letzten Instanz, und er arbeitet dabei vor ­a llem eine „gewisse Autonomie“ des Überbaus und seiner politischen, juri­ dischen und religiösen Formen hinaus, die die „Idee eines simplen ökonomischen Determinismus zurückweisen“ würden (1988, 198). Wenn jede Gesellschaft im Bewusstsein ihrer Einzigartigkeit untersucht werde, so lautet der an dieser Stelle nicht allzu ambitionierte Lösungsvorschlag von Harvey, dann 291

würde das „Konzept der Produktionsverhältnisse viel von seiner Ambiguität verlieren“ (1988, 198). In einem späteren Text schreibt Harvey, dass es üblich geworden sei, jeden Ansatz, der das Ökonomische (was immer das auch sei) als determinierend für das kulturelle Leben darstellt, abzulehnen, und zwar selbst dann, wenn diese Determinierung nur auf die „letzte Instanz“ à la Engels und Althusser bezogen werden würde (1989, 336, vgl. dazu auch S. 47). Aus postfundamentalistischer Perspektive ist natürlich genau diese Behauptung einer letztinstanzlichen Determinierung das, was den Ökonomismus ­definiert. Seinen Ansatz einer neuen und kritischen Geografie grenzt Harvey – auch hier in deutlicher Traditionslinie von Marx und Engels – gegen eine rein philosophische/theoretische Denkbewegung ab. Alle „idealistische Interpretation“, so formuliert Harvey, dürfe nicht die ihr zugrunde liegende materielle Basis vergessen (1988, 121). Die Notwendigkeit einer „Revolution des geographischen Denkens“ würde erforderlich aufgrund wachsender Relevanz der „objektiven sozialen Bedingungen“ und der „patenten Unfähigkeit“, mit diesen Bedingungen umzugehen (1988, 129). Rein philosophisch oder phänomenologisch argu­ mentierende Ansätze würden auf kurz oder lang in einer Sackgasse enden. Notwendig für eine „adäquate Interpretation der sozialen Realität“ sei eine Mischung aus „Positivismus, Materialismus und Phänomenologie“ (1988, 129). Genau diese Mischung ist es, davon ist Harvey überzeugt, die die Marx’sche Theorie bereitstellt. Von Interesse ist hier der Verweis auf den Positivismus. Harvey verlautet, dass es zwischen Positivismus und Marxismus gewisse Gemeinsamkeiten gibt, und zwar vor allem den jeweiligen Aufbau auf „einer materialistischen ­Basis“ und einer „analytischen Methode“ (1988, 129). Der eigentliche Unterschied bestehe wiederum darin, dass „der Positivismus die Welt nur verstehen, der Marxismus sie dagegen verändern wolle“ (1988, 130) – dass die Verbindung Positivismus-Marxismus möglicherweise noch weitgehender ist, wurde bereits weiter vorne erörtert (vgl. S. 59). Für den Fortgang seines Arguments ist es an dieser Stelle entscheidend, welche Lösung Harvey für das Positivismus-­ Problem anbietet, nämlich die „dialektische Methode“ (1988, 130). Harvey ­verlegt „die Wahrheit“ in den „dialektischen Prozess“ und glaubt, dabei jene 292

andere Gefahr umschiffen zu können, die seiner Ansicht nach darin besteht, sich einen beziehungs- und bedeutungslosen Flux als Grundlage einzuhandeln (1988, 130). Er betont, dass die „fundamentale Schlussfolgerung“ seiner Analyse darin liegt, die dialektische Methode als einzig möglichen Ansatz festzustellen (1988, 302).21 Harvey expliziert also die Problematik von Wahrheitsproduktionen und deren beiden Pole (Essentialismus und Unverbindlichkeit) und findet die vermeintliche Lösung des damit aufgespannten Dilemmas in der Marx’schen Version des dialektischen Denkens. Aus postfundamentalistischer Sicht kann dieser Lösungsansatz kaum überzeugen. Das dialektische Denken ist nämlich möglicherweise weniger emanzi­ patorisch, als Harvey es darstellt. Noch bevor Harvey mit seinem Grund­lagen­ ­werk zur kritischen Geografie punkten konnte, schrieb Michel Foucault, dass die Dialektik genau genommen gar nicht das Abweichende befreit, sondern „garantiert, dass es stets wieder eingefangen wird“ (1970, 111). Die „dia­ lektische Souveränität des Selben“, so Foucault weiter, bestehe darin, die Dinge „sein zu lassen, aber unter dem Gesetz des Negativen, als Moment des Nichtseins“ (1970, 111). Die Lösungskompetenz der dialektischen Methode scheint also möglicherweise geringer zu sein, als Harvey es darstellt. Denn mit der Dialektik wird „das Identische reinsituiert, nicht unterlaufen“ und daraus folgt schließlich, dass Ereignisse wie Revolutionen und politischer Kampf von der marxistischen Geschichtsschreibung in eine „logische Form“ gezwängt und damit die „empirische Realität der Kämpfe“ ignoriert wird (Marchart 2013, 258). Ein solcher Zirkel scheint auch in Harveys Analyse zu wirken. Eine ähnliche Perspektive bestimmt Harveys Sicht auf das „Wesen des Raums“ (1988, 13). Der Raum, so Harvey, ist ein Ding, dem der soziale Prozess genauso eingeschrieben ist, wie eben dieser Prozess selbst immer auch eine räum­l iche Angelegenheit darstellt. Allgemein beschrieben ist der Raum stets abhängig von den „menschlichen Praxen“, die ihn entstehen lassen (1988, 13). Harvey fokussiert damit auf Begriffe vom relativen und relationalen Raum, die er als Kategorien verwendet, welche immer und permanent neu hergestellt werden. Der relative Raum ist für ihn eine Beziehung zwischen Objekten, die nur deshalb existiert, weil die Objekte sich zueinander verhalten. Raum entsteht also 293

genau dann, wenn aufeinander reagiert wird. Aber auch die Objekte lassen sich auf ähnliche Weise bestimmen. Objekte können nämlich nur existieren, sofern sie in sich selbst Verhältnisse zu anderen Objekten beherbergen. Das ist es, was Harvey als „relationalen Raum“ bezeichnet (1988, 16). Wichtiger als die Frage, was Raum ist, wird in dieser Konzeption die Frage, wie es kommt, dass verschiedene menschliche Praxen verschiedene Konzeptualisierungen von Raum hervorbringen. Statt um eine begriffliche Bestimmung von Raum geht es Harvey um das Verhältnis zwischen räumlicher Form und sozialem Prozess (1988, 14). Die der menschlichen Praxis inhärente unaufhörliche gegenseitige Durchdringung des Sozialen mit dem Räumlichen ist für ihn vor allem eine bearbeitbare und veränderbare Thematik: Der Raum ist nicht gegeben, sondern gemacht. Aus genau dieser Prämisse entwickelt Harvey auch sein Verständnis vom „Wesen des Urbanismus“ (1988, 16). Der Urbanismus ist in der Harvey’schen Lesart weniger ein institutionelles Feld oder eine Wissensform, sondern eher ein spezifischer Bereich des Sozialen, ein Knotenpunkt für „sämtliche Facetten des menschlichen Daseins, der Natur, der Ideologie und der Produktion“ (1988, 16). Um diese Spezifik begreifen zu können, sei es notwendig zu verstehen, wie menschliches Handeln den Bedarf an räumlichen Konzepten erzeugt. Harvey plädiert für das Konzept von einem relational definierten Urbanismus, der kein gegebenes und gesetztes Phänomen ist, sondern durch die Interaktion seiner Objekte entsteht. Nur damit könne der Urbanismus zum eigent­l ichen Ausgangspunkt für das umkämpfte und stürmische Feld einer sozialgeografischen Theorie werden (1988, 17). Eine solche Analyse des Städtischen, so ergänzt Harvey sein Vorhaben, müsse parallelisiert werden mit der Analyse der urban theory, also mit einer Ideologiekritik des Urbanismus (1988, 17). Harveys gesamte Programmatik baut auf diesen Überlegungen auf. Seine These ist es, dass sich die aufgeworfenen komplexen Raumfragen am besten durch die Analyse des Städtischen und Alltäglichen (des alltäglich Städtischen, des städtisch Alltäglichen) bearbeiten lassen. Der Urbanismus ist für Harvey vor allem ein privilegiertes Feld für die Beobachtung der Gesellschaft. Er ist ein Resonanzraum der Gesellschaft, der ein Spiegelbild erzeugt, welches das Soziale verständlicher und erklärbarer macht. 294

Nach dem sozialtheoretischen Vorlauf wendet sich Harvey ausführlich der ökonomischen Analyse des Urbanismus zu, und zwar über das Phänomen des „urbanen Ghettos“ (1988, 131). Einer theoretischen Annäherung, so erklärt Harvey, dürfe es nicht nur darum gehen, die Entstehung eines solchen Ghettos rational zu erklären (wie das etwa die klassische ökonomische Standorttheorie mache). Die einzig erkenntnisbringende Herangehensweise sei es vielmehr, diejenigen Bedingungen zu eliminieren, die dem Phänomen (dem urbanen Ghetto) und der Theorie (zum Beispiel von Standort- und Verteilungstheorien) Geltung verschaffe. Ziel müsse es also von Anfang an sein, bestimmte Theorien an ihrer Geltung zu hindern und in die Mechanismen einzugreifen, von denen die Theorie erst generiert wird (1988, 135). Auch dieser Zugang führt natürlich zu Marx. Harvey schlägt eine eingreifende kritische ökonomische Theorie des Urbanen vor. Für das gewählte Beispiel bedeutet das, dass es für Harvey nicht darum gehen kann, eine weitere „empirische Untersuchung der sozialen Bedingungen des Ghettos“ durchzuführen (1988, 145). Kritische Stadtforschung dürfe sich nicht in einem weiteren Kartieren der „menschlichen Unmenschlichkeiten“ beschränken, die nur dafür da sind, den „sentimentalen Liberalen in uns“ vorzugaukeln, dass es damit möglich sei, zur Lösung irgendeines wirklichen Problems beizutragen (1988, 144). Einen solchen „Empirizismus“ verdammt Harvey mit klaren Worten und bezeichnet ihn als „irrelevant“ (1988, 144). Urbanismus, sei nämlich „kein ‚Ding‘ im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes“ (1988, 303). „Die Stadt als eine gebaute Form“ könne zwar als eine „im Raum arrangierte Menge von Objekten betrachtet werden“, das rechtfertige aber nicht, sich einem reinen Partikula­ rismus zu verschreiben: Die Stadt sei vor allem auch als Totalität zu unter­ suchen, in der alles miteinander verbunden ist (1988, 303). Urbanismus sei als „ein Set von sozialen Verhältnissen“ zu betrachten, die „jene Beziehungen reflektieren, die durch die Gesellschaft als Ganzes etabliert werden“ (1988, 305). In der Stadtforschung, so lautet die Diagnose von Harvey, würde jedoch – nach einem „ritualisierten Schwenk auf die Stadt als Totalität“ und der Feststellung, dass das Städtische nicht nur in Statistiken auszudrücken sei – regelmäßig schnell (und mit dem Hinweis auf das Machbare) wieder auf die empirische Analyse zurückgegriffen (1988, 304). Solche Untersuchungen 295

wären zwar durchaus wichtig, könnten aber nur zu partikularen Problemen „in der Stadt beitragen und zu keiner Erkenntnis über die Stadt selbst führen“ (1988, 304). Harvey kommt zu dem Ergebnis, dass eine generelle „Theorie des Urbanismus“ (1988, 195) unmöglich ist – eine Erkenntnis, der wir schon bei Lefebvre begegnet sind. Urbanismus – und hier lässt sich vermutlich auch „Urbanität“ ergänzen22 – ist, so erklärt es Harvey, viel zu komplex, als dass das Phänomen mit einer „umfassenden Theorie“ erklärt werden könnte (1988, 195). Die ganze Komplexität und Zwiespältigkeit der urbanen Erscheinungsformen würden gerade erst ins Bewusstsein rücken (1988, 196). Der Versuch, eine allgemeine urbane Theorie zu entwerfen, sei „eher blamabel denn hilfreich“ und würde zudem zu einer Schließung des Denkhorizonts führen (1988, 196). Allerdings dürfe die Unmöglichkeit einer allgemeinen urbanistischen Theorie nicht dazu führen, auf die Fragen „nach den essentiellen Qualitäten“ des Städtischen und der Stadt zu verzichten (1988, 196). Die eigentliche Aufgabe der kritischen Stadtforschung ist für Harvey daher, über eine Kritik der herkömmlichen analytischen Ansätze zu der bewussten/selbstbewussten Konstruktion eines neuen geografisch/urbanistischen Paradigmas zu gelangen – das sei nun einmal das, was Akademiker am besten könnten (1988, 145). Allerdings dürfte dieses Paradigma nicht rein abstrakt formuliert werden, sondern müsste realistisch geschmiedet sein, mit Respekt für die Ereignisse und Handlungen, die sich um uns herum entfalten (1988, 145). Auch für Harvey stellt sich nicht nur die Frage, was Urbanismus oder Stadttheorie ist oder sein könnte, sondern auch, was Stadt selbst ist. Harvey wählt zunächst eine historische Betrachtungsweise beim Versuch, eine Antwort ­darauf zu geben. Historisch betrachtet sei die Stadt erstens der „Dreh- und Angel­punkt, um den herum sich eine gegebene Produktionsweise jeweils organisiert“, zweitens das „Zentrum der Revolutionen gegen die etablierte Ordnung“ und drittens das „Machtzentrum der Privilegierten“ (1988, 203). Harvey betrachtet „die Kanäle, durch die der Mehrwert zirkuliert, als die Arterien, durch die all jene Beziehungen fließen, die die Totalität der Gesellschaft ausmachen“ (1988, 310) – selbst bei Harvey findet sich noch ein Stadt-Körper-Bild. Das Studium der städtischen Entwicklung würde „signifikant zum Verständ296

nis der sozialen Verhältnisse innerhalb der ökonomischen Basis der Gesellschaft beitragen“ und auch die „politischen und sonstigen ideologischen Elemente der Superstruktur“ greifbar machen (1988, 204). Natürlich bewegt sich Harvey bei seiner Analyse des Urbanen sehr bewusst und absichtsvoll in den Marx’schen Begrifflichkeiten und reproduziert damit die Lehre von der ökonomischen Basis und vom politisch/ideologischen Überbau. Da der „generelle Vorschlag, dass eine Beziehung zwischen Form und Funktion des Urbanismus und der dominanten Produktionsweise bestehe, vollkommen vernünftig erschiene“, so bestätigt Harvey seine eigene These, läge die eigentliche Herausforderung darin, über das Wesen dieser Beziehung aufzuklären (1988, 205). Urbanismus entsteht, so betont Harvey, mit dem Aufkommen einer Produktions- beziehungsweise Regulationsweise, und zwar notwendigerweise. Wenn es keine „geographische Konzentration eines gesellschaftlichen Mehrwerts-Produktes“ gäbe, dann gäbe es eben auch keinen Urbanismus (1988, 240). Wo auch immer sich Urbanismus manifestiere, würde „die einzig legitime Erklärung in der Analyse der Prozesse“ zu finden sein, die jenes „soziale Mehrwertprodukt erschaffen, mobilisieren, konzentrieren und manipulieren“ (1988, 240). Eine urban theory nach Harvey muss daher von zwei Dingen ausgehen: erstens von der Notwendigkeit, dass Mehrwert lokal konzentriert und in Zirkulation gehalten wird; zweitens von der Notwendigkeit, „einen ökonomischen Raum zu konstruieren, in dem die verschiedenen Produktionsweisen effektiv funktionieren“ (1988, 284). Städte, so lautet die Harvey’sche Formel, entstehen durch die „geographische Konzentration von sozialer Mehrwertproduktion“, wobei es Voraussetzung sei, dass der Modus der ökonomischen Integration (die Produktionsweise) fähig ist, eine solche Konzentration herzustellen (1988, 216). Das Konzept der Produktionsweise, so baut er einer möglichen Kritik vor, wäre bei Marx nicht idealtypisch, sondern relational angelegt; daher sei es möglicherweise zu generell gedacht, wenn nun „ein Werkzeug präsentiert wird, mit dem die Beziehung zwischen Gesellschaft und Urbanismus passgenau dargestellt werden soll“ (1988, 206). Schließlich beschäftigt sich Harvey auch ausführlich mit dem Gegensatz von Stadt und Land. Die „Antithese von Stadt und Land“ sei die bewegte und ­kon­fl iktreiche Achse, anhand der sich im Lauf der Geschichte die gesamte 297

ökonomische Entwicklung der Gesellschaft entfaltet hat (1988, 203). Marx und Engels, so berichtet Harvey weiter, wären beide davon ausgegangen, dass in einem sozialistischen Staat sich der historische Gegensatz zwischen Stadt und Land auflöse (1988, 234). Das sei aber zu vereinfachend gedacht und würde nicht den „komplexen Mustern der Mehrwert-Zirkulation entsprechen, die sowohl in kapitalistischen als auch in sozialistischen Staaten bestehen“ (1988, 234). „Im fortgeschrittenen Kapitalismus“ würde der „lokale Konflikt zwischen Stadt und Land“ von anderen und „größeren Antagonismen“ abgelöst werden, nämlich einerseits vom Antagonismus zwischen „entwickelten und unterentwickelten Nationen“ und andererseits von den „wachsenden sozialen Spaltungen“ innerhalb der Städte (1988, 237). Harvey erwähnt in seinem Text auch das Lumpenproletariat und Frantz Fanon (1988, 355). Bei der Problematik der neuen Antagonismen lässt sich also von einer möglichen ­gemeinsamen Schnittmenge von Harveys Theorie des Urbanen und Laclaus Antagonismus- und Kontingenztheorie (vgl. Kapitel 3.3) sprechen. Insgesamt betrachtet beruht Harveys Manifest für eine kritische Stadtforschung aus den frühen 1970er-Jahren auf einer zweifachen Denkbewegung: erstens auf einem ambitionierten sozialtheoretischen Versuch, ein struk­­ turalistisches/essentialistisches Denken durch die Betonung des Relativen/ Rela­t ionistischen aufzubrechen, also auf einem im Wortsinne poststrukturalistischen Ansatz, der nicht nur einen reduktionistischen Strukturalismus überwinden möchte, sondern – wie alle nennenswerten Versuche aus dieser Richtung – diese Überwindung durch eine Radikalisierung erreichen will. Was Harvey vorschlägt, ist eine Radikalisierung des Strukturalismus in Richtung eines radikalen Relationismus, also genau das, woran sich auch das post­ strukturalistische Denken im Kern abarbeitet. Auch auf dem Grunde der ­Harvey’schen Konzeption einer kritischen Stadttheorie findet sich somit (überraschenderweise) ein poststrukturalistischer Denkansatz. Letztlich dann doch entscheidend ist jedoch zweitens, dass Harvey das Marx’sche Edikt von der ökonomischen Basis nicht infrage stellt, sondern im Gegenteil den Urbanismus ganz aus dieser Perspektive erklären möchte. Social Justice and the City ist eine sozialtheoretisch fundierte Begründung dafür, den Urbanismus von der ökonomischen Basis ausgehend (und dahin wieder zurückgehend) zu 298

erklären. Harvey entwickelt aus seinen sozialtheoretischen und auf Marx rekurrierenden Überlegungen eine relationistische Weltanschauung, die weiterhin auf eine ökonomische Basis setzt, diese aber nicht als reine Faktenlage interpretiert, sondern als zumindest teilweise kontingente Voraussetzung und als komplexe Wechselwirkung.23 Der Schwerpunkt der Harvey’schen Stadttheo­ rie ist hier bereits deutlich zu erkennen und wird von ihm in seinen nachfolgenden Schriften ausgebaut und gefestigt.24 Die Analyse läuft darauf hinaus, dass er die Stadt als ein Produkt der Zirkulation des Mehrwerts definiert. Harveys Stadttheorie ist damit selbstverständlich ein ökonomistisches Projekt. Allerdings ist der Ökonomismus bei Harvey ein sozialtheoretisch begründeter und informierter Ansatz, es handelt sich gewissermaßen um einen relationistisch hergeleiteten und begründeten Ökonomismus. Harvey entwickelt ­seinen Ökonomismus, so könnte man vielleicht sagen, ontologisch informiert. Er ­rettet das Denken von der letzten Instanz durch das urbane Dickicht, und er macht das ziemlich bewusst und überzeugend.

• Für die kritische Stadtforschung ist ein weiterer Text von Harvey richtungsweisend, und zwar seine Schrift The Condition of Postmodernity (1990 [1989]). 16 Jahre nach seinem ersten Grundlagenwerk hat sich die Zielrichtung in Harveys Denken leicht verschoben. Während er in Social Justice and theory den Ansatz verfolgt, mithilfe einer sozialtheoretischen Reflexion eine marxistische kritische Stadttheorie zu begründen, geht es nun eher darum, seine ­urban theory gegen eine Richtung abzugrenzen, die – in Harveys Bewertung – das Philosophieren übertreibt, nämlich gegen ein als postmodern wahrgenommenes Denken. Die Postmoderne, so Harvey gleichlautend mit der These von Fredric Jameson (1984), sei die „kulturelle Logik des späten Kapitalismus“ (1990, 63), die eine spezifische „Zeit-Raum-Kompression“ herstellt (1990, 306), aufgrund der sie als eigenständige historisch-geografische Bedingung betrachtet und untersucht werden könne. In Kurzform lautet das Argument von Harvey, dass es erstens die Postmoderne als Phänomen gibt, dass zweitens die postmoderne Theorie scheitert und dass drittens nur das Marx’sche Denken Phänomen wie Scheiten richtig zu erklären vermag. Insbesondere der zweite 299

Punkt ist dabei für meine Perspektive von Interesse, da hier – so lautet meine These – der Bannspruch gefällt wird, der dafür verantwortlich ist, dass es die Verbindung von kritischer Stadtforschung und poststrukturalistischer Theorie auf dem urbanistischen Felde bis heute so schwer hat. Im Grunde, so Harveys, sei der Postmodernismus eine einfache und direkte Übernahme der spätkapitalistischen Marktlogik. Die urbane alltägliche Realität der Verarmung und Entmachtung sei das „Schrot für die Mühlen der Kulturproduzenten“, allerdings nicht mehr – wie zu Ende des 19. Jahrhunderts – in der Gestalt des sozialen Skandals, sondern als bizarre Hintergrundkulisse, die keinerlei politische Kommentierung erzeugt (1990, 336). Die Armut würde vielmehr „ästhetisiert“ und dadurch jeder auf soziale Veränderung zielenden Vision entzogen (1990, 336). Übrig bleibe „eine passive Beschreibung von ‚otherness‘“ und das Feiern von Entfremdung und Kontingenz (1990, 336). Wenn „Armut und Obdachlosigkeit als schöngeistiges Vergnügen aufgetischt“ werden, dann würde jegliche „Ethik durch Ästhetik verschüttet“ und damit einer populistischen Politik und einem „ideologischen Extremismus“ der Weg bereitet (1990, 336). Harvey spricht von einer Kontinuität von postmodernen Politikern zu dem – gemeint ist Ronald Reagan – „Geschichtenerzählern des Weißen Hauses“ (1990, 117) und klagt die Postmoderne an, mit der „Voodoo-­ Ökonomie“ und der „Bildproduktion“ der bestehenden amerikanischen Regierung verschwistert zu sein (1990, 336). Gemeinsam würden beide an der Dekonstruktion der traditionellen Arbeiterklasse arbeiten (1990, 336). Die Ausrichtung auf einen Fortschritt scheuend, würde von der Postmoderne jegliche „Idee von historischer Kontinuität und Gedächtnis über Bord geworfen“ und gleichzeitig die Historie geplündert, um aus ihren Versatzstücken beliebige und belanglose Kollagen zu entwerfen (1990, 56). Die Postmodernisten würden lehren, solche Fragmentierung nicht nur zu akzeptieren, sondern sie „sogar zu genießen“ (1990, 116). „Besessen von der Dekonstruktion und der Dele­getimierung jeden logischen Arguments“ würden sie letztlich sogar ihre eigenen Begründungen so weit verurteilen, dass am Ende keinerlei rationale Handlung mehr möglich ist (1990, 116). Die postmodernen Ansätze müssten in ihrer „bodenlosen Fragmentierung“ deshalb zwangsläufig resignieren und den Willen zur Veränderung aufgeben (1990, 59).25 300

Als den zentralen Punk der postmodernen Theorieansätze arbeitet Harvey die Ablehnung von Meta-Narrativen heraus. Denker wie Foucault und Lyotard würden jeden Versuch von Meta-Sprache und Metatheorie ablehnen und bestreiten, dass überhaupt irgendwelche universale und ewige Wahrheiten existieren (1990, 45). Mit dem Insistieren auf eine „Pluralität“ der diskursiven Machtformationen oder auf „Wortspiele“ würden dabei nicht zuletzt auch die Meta-Narrative Marx’scher Prägung als totalisierend verdammt werden (1990, 45). Harveys Kritik der postmodernen Theorie ist damit vor allem auch eine Kritik der Kritik an Marx. Anstatt dem postmodernen Allerlei zu huldigen, so lautet Harveys Vorschlag, solle besser mit den Marx’schen Kategorien und an ihrer Weiterentwicklung gearbeitet werden. Harvey bedient sich bei seinem Vorschlag für eine solche Weiterbearbeitung der französischen Regulations-Schule und deren Historisierungen in einen Fordismus/Postfordismus, die in den critical urban studies überaus verbreitet sind und bis heute als zentrale Erklärungsinstanzen herangezogen werden. Er beschreibt den Fordismus als relativ stabile, auf einer stark standardisierten Massenproduktion und -konsumtion basierende Phase des Kapitalismus und datiert ihn von 1945 bis 1973. Der in den 1970er-Jahren beginnende Übergang vom Fordismus zum Postfordismus habe, so berichtet Harvey, die marxistischen Theoretiker vor ein Dilemma gestellt: Eigentlich hätte es ja so sein sollen, dass sich der Kapitalismus selbst abschafft. In Form der flexiblen (post­ modernen) Akkumulation ist er aber im Gegenteil nur noch allgegenwärtiger geworden (1990, 173). Wegen dieses analytischen Fehlschlags, so Harvey weiter, hätten sich viele Stadtforschende von jeglicher Theorie abgewandt und der „reinen Datenjagd“ (1990, 173) verschrieben, um zu versuchen, mit dem schnellen Wandel Schritt zu halten (möglicherweise denkt Harvey an Manuel Castells). Die Frage stelle sich daher, wie es möglich sei, eine solche, nicht mehr an Erklärungen interessierte Resignation, zu überwinden und auch, wie überhaupt jemals wieder „essentielle Bedeutung“ identifiziert oder erzeugt werden könne (1990, 59). Anstatt Stadtforschung als ein Feld zu betreiben, in dem Dinge nur noch gezählt und nicht mehr erklärt werden – hier werden Empirismus- und Postmodernismuskritik miteinander verwoben –, beharrt Harvey darauf, die neokapitalistische und postmoderne Produktionsweise der 301

flexiblen Akkumulation als ein einer Theorie zugängliches Phänomen zu betrachten. Allerdings sei für die Durchdringung des postmodernen Phänomens nicht die postmoderne Theorie selbst erkenntnisbringend, sondern nur ein Ansatz, der auf dem Marx’schen Denken und den Begriffen und Instrumenten des historischen Materialismus aufbaut. Damit werde es möglich – und ­genau das ist die eigentliche These von Harvey –, die Postmoderne als „historisch-­ geographische Bedingung“ zu verstehen (1990, 328).26 Mithilfe einer derart entwickelten „kritischen Basis“ könne dann die theoretisch-strategische „Gegenattacke“ gegen das postmoderne/postfordistische Regime gestartet und die Dinge wieder zurechtgerückt werden: Das Werden erlange sein Recht zurück als Primat vor dem Sein, die Ethik erhalte wieder ihren Vorrang vor der Ästhetik (1990, 359). Zudem gelte es, das Gemeinsame in der Differenz zu suchen. Harvey konzipiert also einen aktualisierten historisch-geografischen Materialismus und dessen Narrativ vom Fordismus/Postfordismus zur neuen Metaerzählung, die weiterhin die Ökonomie/die Produktionsverhältnisse zur letztinstanzlichen Grundlage hat und sie auch weiter und immer wieder zu einer solchen Grundlage macht. In seinem Ringen um die Geltung und Nichtgeltung von metatheoretischen Erklärungen zeigt sich meines Erachtens die eigentliche Ambivalenz in Harveys Argumentation. Harvey möchte das Marx’sche Denken als Leitschnur setzen – so weit ist die Sache klar. Kompliziert wird das Ganze dadurch, dass er diesen Vorschlag in Angesicht der postmodernen Kritik an den Metaerzählungen unterbreitet. Harvey will einerseits einen direkten Zusammenhang zwischen dem Wachsen der postmodernen kulturellen Form und dem Auftreten des flexiblen Modus der Kapitalakkumulation nachweisen, wofür er den Versuch unternimmt, die Postmoderne (als Phänomen) zu verstehen und zu erklären. Andererseits geht es ihm jedoch darum, sein Projekt einer kri­ tischen Stadtforschung/Stadttheorie gegen jene theoretischen Ansätze abzugrenzen, die sein eigenes Projekt zu bedrohen scheinen. Harvey identifiziert die Postmoderne (als Theorie) als Gegenposition zu seinem eigenen Standpunkt und arbeitet sich an ihr ab. Beides – Erklärung der Postmoderne und Abwehr der postmodernen Theorie – vermischen sich dabei ein ums andere Mal und ergeben ein schwer entwirrbares Knäuel. Die Postmoderne als Phä302

nomen wird von Harvey diskutiert und damit eben auch akzeptiert, etabliert oder gar erst erschaffen. Gleichzeitig wird jedoch die postmoderne Theorie fundamental kritisiert, in ihrer Geltung bestritten, ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Das Vorhaben, die Postmoderne zu erschaffen und sie zugleich abzuschaffen, gerät bei Harvey zu einem ungelösten und – was schwerer wiegt – uneingestandenen Konfliktfall. Letztlich möchte Harvey, so lässt es sich vielleicht besser verstehen, das Marx’sche Denken als das einzig mögliche Meta-Narrativ zulassen, und zwar mit der bemerkenswerten Begründung, dass es gar kein solches ist. Harvey vertritt die Auffassung, dass der Marx’sche (und sein eigener) Ökonomismus nicht ökonomistisch und dass die Marx’sche Geschichtsphilosophie (wie seine eigene) eine offene ist. Er kon­ struiert eine Letzterklärung und behauptet gleichzeitig, dass sie keine ist. Das Argument unterläuft sich also selbst, was es aus postfundamentalistischer Perspektive unbedingt interessant macht. Aus dieser Sicht könnte es nämlich gewendet werden in die Frage: Ist die Marx’sche Theorie genau deshalb der einzig mögliche Fundamentalismus, weil er nicht fundamentalistisch ist? Diese Idee ist nicht weit entfernt vom postfundamentalistischen Gedanken, der die Nicht-Geltung von Letztbegründungen zur eigenen Gründungsinstanz erhebt. Von Harvey wird die paradoxale Erscheinungsform des Gedankengangs aller­ ­d ings nicht herausgearbeitet. Was dazu führt, dass er für den eigenen Argu­ men­t ationsaufbau weniger zur Grundlegung, denn zum Stolperstein wird. Das zeigt sich etwa dann, wenn Harvey zu bedenken gibt, dass Moderne und Postmoderne möglicherweise gar nicht voneinander zu trennen sind (1990, 116). Das ist natürlich vollkommen richtig, unterläuft aber gleichfalls die ­eigene Argumentation. Das wird an dem Punkt deutlich, an dem Harvey (wieder zu Recht) Marx als einen großen Autor der Moderne einordnet. Ist die Postmoderne aber eigentlich ein ziemlich modernes Projekt, dann wäre zumindest zu prüfen, ob Marx nicht auch als ein Denker der Postmoderne zu gebrauchen ist. Für eine solche These könnte sprechen, dass – wie im ersten Kapitel ausgeführt – im Marx’schen Denken nicht nur ein fundamentalistisches, sondern eben auch ein postfundamentalistisches Denken angelegt ist. Die von Harvey vorgenommene Frontstellung zwischen einem beliebigen 303

flüchtigen postmodernen und dem historischen-materialistisch modernen Denken jedenfalls gerät mit der Einbettung der Postmoderne in die Moderne selbst ziemlich ins Wanken. Mehr noch: Das Ergebnis von Harveys Analyse lautet, dass wir im Postfordismus und damit in der Postmoderne angekommen sind. Die Postmoderne verschwindet nämlich nicht in der Harvey’schen Historisierungsvariante, sondern sie ist nichts anderes als die eigentliche Gegenwart. Eine Gegenwart, die (natürlich) nur mit Marx zu verstehen ist. Während Harvey sich damit einerseits gegen die postmoderne Theorie wendet, diagnostiziert er gleichzeitig, dass wir im Zeitalter der Postmoderne angekommen sind. Die Moderne geht in der Postmoderne auf. Wir alle sind postmodern, so lässt sich das vielleicht zusammenfassen. Eine solche Zeitdiagnose ließe sich allerdings auch andersherum vornehmen, etwa in einem Luhmann’schen Sinne, bei dem es ziemlich fraglich wird, ob es die Postmoderne je gegeben hat (und bei dem der Postmoderne dennoch die Aufgabe zufällt, die Kontingenz der Moderne zu verkünden). Es ließe sich also – alternativ zur These, dass wir alle postmodern sind – auch darüber nachdenken, ob wir nie postmodern gewesen sind (vgl. Marchart 2013, 32).27 In diesem Falle löst sich aber die Begründung für einen Harvey’schen historisch-geografischen Materialismus weitgehend auf, da ihr in diesem Falle nicht nur das Erkenntnisobjekt, sondern auch ihre Begründungsgeschichte abhandengekommen ist. Theoretische Stringenz und historische Wirkkraft sind jedoch keine sich ­u nbedingt entsprechenden Faktoren. Harveys Kritik an der postmodernen Theorie hat in der kritischen Geografie und den urban studies vielfach dazu geführt, die gesetzte Marx’sche Grundlegung als ausreichend zu erklären und eine weitere sozialtheoretische Auseinandersetzung mit den eigenen Gründungen eher zu meiden. Allerdings gilt das nicht für Harvey selbst, den die grundlegenden Theoriefragen (die Fragen nach den Gründen) immer weiter beschäftigt haben. In seinen späteren Texten lässt sich vielleicht sogar von ­einer gewissen (Wieder)Annäherung an poststrukturalistische Positionen sprechen. Metatheorie und/oder Sozialtheorie seien, so führt es Harvey an ver­ schiedenen Stellen aus, keineswegs unnötig oder unwichtig, auf eine solche Betrachtungsebene könne und dürfe grundsätzlich nicht verzichtet werden. 304

Harvey bezieht in diese Aussage nicht nur die Marx’sche Metatheorie ein, sondern lässt nun auch – ohne das allzu tief auszuführen – poststrukturalistische Positionen gelten. Manche Themen, so Harvey, könnten nur mit „solchen Ansätzen“ erkundet werden (2005b, 97; 2009, 281). Selbst die Kritiken, die gegen die „fundamentalistischen und ökonomistischen Formen“ eines ­reduktionistischen Marxismus vorgebracht werden, bezeichnet Harvey nun explizit als – zumindest teilweise – berechtigt (1996a, 74). Der orthodoxe Mar­ x­ismus, so Harvey, würde oftmals auf ein einziges Ziel und auf ein singuläres Objekt ­fokussieren. Ein weiterführender Ansatz müsse sich hingegen zur Aufgabe setzen, solch „langweilige Homogenität“ zu überwinden und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Konzepten der Differenz und des Universalen zu führen (1996a, 433). Allerdings bleiben solche Aussagen bei Harvey eher vereinzelte Fundstücke und innerhalb eines sorgsam abgesteckten und gehüteten Denkhorizonts. Er beharrt letztlich doch immer auf dem von ihm entworfenen dialektischen und historisch-geografischen Materialismus, mit dem er sich gegenüber jenen poststrukturalistischen Gedankengängen abgrenzen und be­haupten möchte, die seit den 1990er-Jahren verstärkt in die kritische Geografie einsickern und ausstrahlen (deutlich stärker als in die ­urban studies). Neben Harveys Zuwendung an bestimmte Positionen der von ihm als post­ modern bezeichneten Theorie steht daher auch weiter stets eine dezidierte Kritik derselben. Der „neue radikale Idealismus“ (1996a, 75) – so lautet Harveys Bezeichnung für das poststrukturalistische Feld – würde erstens zu „psycho-­ analytischen Reduktionen“ (1996a, 100) neigen, zweitens durch seine Innerlich- und Theorielastigkeit das Materielle tendenziell außen vor lassen (1996a, 72)28 und daher drittens für die Analyse von politischen Machtverhältnissen nicht gut gerüstet sein (1996a, 75). Wenn die kritische Geografie ganz und gar auf das Primat des Relationalen setze, dann würde das zu einer narzisstischen und selbstbezogenen Weltsicht führen, in der jedes politische Engagement komplett verschattet sei (2009, 81). So grundlegend die Erkenntnisse der relationalen Denker auch wären, sie würden so lange politisch irrelevant bleiben, bis sie sich wieder mit den materiellen (etwa urbanen) Praktiken der menschlichen Wesen verknüpften (2009, 281). 305

Harvey attackiert allerdings nicht nur die abstrakten postmodernen Differenz­ theoretiker, sondern auch die klassische „bourgeoise“ Sozialtheorie. Diese würde – und dieser Punkt wird gleich bei der Bewertung der aktuellen Tendenzen in den urban studies wichtig – in aristotelischer Tradition stets einen Blick von außen (from outside) anstreben, um von dort aus ein „‚objektives‘ Verständnis“ der Dinge zu ergründen (2001, 88). Der bürgerliche Sozialwissen­ schaftler würde typischerweise versuchen, die „Welt zu verlassen“, um ein für seine Erkenntnis vermeintlich notwendiges Maß an Abstraktion zu gewin­ nen (2001, 88). Im Gegensatz dazu sei es das Ziel der Marxisten, die Gesellschaft von innen heraus zu verstehen. Jedes wirkliche Wissen, so erklärt Harvey, würde eine aktive Einbezogenheit in den Prozess des sozialen Wandels erfordern. Wir würden uns (uns selbst und auch die Welt) nur im Kampf entdecken können. In diesem Kampf sei nicht nur nichts sicher, sondern es wäre auch so, dass wir dort als Individuen notwendig scheitern müssten. Dennoch wäre ein solcher Kampf der einzig sichere Pfad, der zu jenem Wissen führt, das wiederum allein in der Lage ist, wirklich etwas zu ändern. Für die bür­ ger­l ichen Theoretiker läge genau darin das größte Hindernis für ein Verständnis der Marx’schen Gedanken. Letzten Ende bedeute die notwendige ­A n­teilnahme nämlich, dass der bourgeoise Akademiker aufhören müsse, bourgeoise zu sein, und dass er, wenn er die Perspektive von innen (die Perspektive der Arbeit) verstehen möchte, auf die andere Seite der Barrikaden wechseln müsse (2001, 89). Harvey konstituiert also – wieder ganz in Marx’­ scher Tradition – den Kampf als das Kontingenzkorrektiv zu der linearen und vorgegebenen Geschichtsphilosophie, die die materialistisch-ökonomische Perspektive impliziert. Problematisch ist dabei, dass Harvey die von ihm als einzig möglicher Weg beschriebene konfliktorische Teilnahme nicht nur mit einer Kritik des Außen verbindet, sondern beides an eine selbst im klassischen Gewand erscheinende Innen/Außenteilung hängt. Was bei seiner Kritik der klassischen Sozialtheorie und seiner Ablehnung der Außenperspektive aus dem Blick gerät, ist, dass sich auch in jenem Inneren die Gewissheiten längst in Auflösung befinden. Das Bild vom notwendigen Kampf, der auf der Ebene des Individuums notwendig scheitert, ist zwar ein ambitionierter Versuch, der zwangsläufig para306

doxen Problematik solcher Ungewissheiten auf die Schliche zu kommen. ­I ns­gesamt bleibt dieser Versuch bei Harvey aber nur am Rande seiner Ge­ samtdarstellung. Den Sinn für Dinge jenseits des Rationalen und Sozialen, etwa für jene Dinge, die nicht unmittelbar da sind, aber in ihrer Abwesenheit anwesend, hält sich Harvey mit seinem historisch-geografischen Mate­r ia­l is­ mus erfolgreich vom Leibe. Dadurch verpasst er aber auch den Kern dessen, was nicht die klassische, aber eben die moderne/postmoderne Sozialtheorie ins Zentrum rückt. Dort wird begriffen, dass das Außen das Innen längst erreicht und es durchsetzt hat mit Zweifel und Kontingenz. Harvey hält sich von solchen Gedanken eher fern. Harvey ist kein Theoretiker des Außen und des Nicht-Greifbaren/Abwesenden, sein Denken verortet sich ganz und gar im Anwesenden. Ähnliches zeigt sich schließlich auch bei Harveys Bezugnahmen auf Henri Lefebvre. Harvey hat stark dazu beigetragen, dass in den urban studies die Referenz auf Lefebvre zum Normalfall geworden ist und dass dessen Texte heute als theoretische Grundlegung der kritischen Stadtforschung bezeichnet werden. Harvey erklärt, dass Lefebvres Texte die einzigen Arbeiten wären, die bei dem Vorhaben weiterhelfen, Marx’sche Ontologie und Urbanismus­ kritik zu verknüpfen, und zwar indem sie dazu beitragen, dem „Marxismus seinen Dogmatismus auszutreiben“ (2005a, 65). Allerdings steht Harvey auch für eine entscheidende Verschiebung. Lefebvre nämlich kommt zwar von Marx, aber er (Lefebvre) entfaltet seinen Stadtbezug aus seinem dezidiert ­d ekonstruktiven Durchgang durch den marxistischen Dogmatismus, Empirizismus und Ökonomismus. Genau bei diesem letzten Punkt zögert Harvey. Er möchte das Urbane ergründen, aber er besteht darauf, dieses mithilfe der ökonomischen Analyse (des Mehrwerts, der Produktionsverhältnisse) zu tun. An diesem Punkt, bei der Bewertung des Ökonomischen, widerspricht H ­ arvey also Lefebvre. In seinen Stadttexten, das bemerkt Harvey zu Recht, macht ­Lefebvre dem Ökonomischen seinen Status streitig und ersetzt ihn quasi mit dem Urbanen. Für Lefebvre löst das Urbane das Ökonomische ab, die Urbanisierung die Industrialisierung. Und das ist der Punkt, zu dem Harvey nicht folgen möchte. Ein solcher Ansatz entfernt sich zu weit weg von den Marx’­ schen Wurzeln und der Idee von der ökonomischen Basis.29 307

Auch deshalb ist und bleibt Harveys historisch-geografischer Materialismus schließlich ein Ökonomismus – ein bewusster Ökonomismus und deshalb auch kein unsympathischer Ökonomismus. Er lehnt es zwar ab, seinen Ansatz so zu bezeichnen (was schade ist, weil der Ansatz dann möglicherweise noch sympathischer werden würde). Aber es ist ganz eindeutig, dass bei ihm das Soziale und das Urbane stets und ausnahmslos auf das Ökonomische als das in letzter Instanz Geltende rückbezogen werden – und das ist nun einmal die Definition für einen ökonomistischen Ansatz. Jenes Ökonomistische wiederum macht den eigentlichen Unterschied zwischen Harvey und Lefebvre. Letztgenannter möchte einen solchen Ansatz überwinden, und zwar in der und durch die Analyse des Städtischen. Lefebvre denkt das Ganze (das ökonomische Ganze), fügt diesem Ganzen aber etwas hinzu. Harvey dagegen denkt das Ganze stets ohne einen Rest.

4.4

Planetarische Urbanisierung

Seit einigen Jahren versammeln sich unter dem Begriff der planetarischen Urbanisierung aktuelle kritische und theorieinteressierte Stadtforschungs­ ansätze. Dahinter verbirgt sich ein stadttheoretischer Ansatz, der die Vorstellung von einer 100-prozentigen Verstädterung der Erdoberfläche zum Ausgangspunkt nimmt. Diese in den urban studies aktuell exponiert verhandelte Erzählung stellt sich dezidiert in die Harvey’sche Traditionslinie einer kritischen Stadtforschung. Die eigentliche These des Planetarischen geht wie­ derum zurück auf Henri Lefebvre, der in seinen Stadttexten die lückenlose und daher planetarische Urbanisierung als eine zentrale Denkfigur seiner kritischen Stadttheorie entwickelt. Auch diese Konstellation bietet sich für eine genealogische Analyse an. Der planetarische Gedanke ist eine Weiterentwicklung von Lefebvres Theorie der Totalität. Weiter vorne habe ich berichtet, wie Lefebvre in seiner Kritik des Alltagslebens die Totalität als Fundament seiner postmarxistischen Philosophie entfaltet. Lefebvre stellt sich dort die Frage, wie sich das Dilemma vermeiden lässt, „entweder vom Ganzen auszugehen oder von den parzellier308

ten Teilstücken“, und ob es nicht ein Ausweg wäre, ein „Totalphänomen“ zu bestimmen, das eine „Totalität enthüllt, ohne ihr theoretische und praktische Macht zu verleihen und ohne zu erlauben, daß sie definiert und beherrscht wird“ (1975c, 16). „Den Übergang von der Erscheinung zum Wesen“, so schreibt Lefebvre, jene „spekulative Operation, die zu Philosophismus und Ontologie verführt“, solle dabei bewusst vermieden werden (1975c, 16). Und zwar, indem ein „Phänomen als solches“ gefunden wird, als „Ensemble von Konstatie­ rungen, also von konstatierten Unterschieden, die wir ohne ontologische An­ maßung miteinander verbinden“ (1975c, 16). Somit könne sich das Phänomen einer­seits „von der Erkenntnis und in der Praxis diversifizieren, ohne die Einheit eines ‚Wesens‘ oder einer ‚Substanz‘ zu bekommen“ und ohne sich anderseits in Fragmente zu verlieren. Damit würde Raum gelassen für eine „dialektische Vernunft“, die unentwegt darum bemüht ist, „ein Ganzes durch die Unterschiede und Konflikte seiner ‚Formanten‘ zu fassen“ (1975c, 16). Ein paar Jahre später benennt Lefebvre in La révolution urbaine dieses ­Totalphänomen als planetarische Urbanisierung. Anschaulich und einprägsam zeichnet er hier ein einfaches Diagramm, eine Linie, die bei 0 Prozent urba­n isierter Gesellschaft startet und bei 100 Prozent urbanisierter Gesellschaft endet (1990, 7). Anhand dieser Linie würden sich, so führt Lefebvre seine These aus, die traditionell gebräuchlichen Historisiersierungen (Noma­ den, Ackerbau, politische Stadt, Handelsstadt, Industriestadt) erst schlüssig einordnen lassen. Die komplette Verstädterung symbolisiert aus dieser Perspektive die nach­i ndustrielle Phase, die sich in einer „dialektischen Bewe­g ung“ (1990, 93) als „Explosion-Implosion“ verwirklicht (1990, 179). Es sind nämlich die „Nicht-Stadt und die Anti-Stadt“, die die Stadt erobern und durchdringen, „sie sprengen“ und „ins Maßlose“ führen und eben dadurch die „vollständige Urba­n isierung“ exekutieren (1990, 20).30 Zum einen benennt ­Lefebvre mit seiner Hypothese eine historische Gesellschaftsformation, zum anderen geht es ihm explizit darum, einen neuen Gesellschaftsbegriff (die „vollständig verstädterte Gesellschaft“) zu entwerfen und in Konkurrenz zu Beschreibungen wie Wohlstandsgesellschaft, Freizeitgesellschaft oder Konsumgesellschaft zu setzen. Die angedrohte Vollständigkeit dieser Verstädterung grenzt den Begriff von der weniger verstörenden Beschreibung einer „Stadtgesellschaft“ ab 309

und positioniert Gesellschaftsanalyse als Gesellschaftskritik (mit leichter Tendenz zu einem Kultur- und Technikpessimismus). Der Ausdruck von der „verstädterte[n] Gesellschaft“, so betont Lefebvre, entspricht einem „theore­ tischen Bedürfnis“ und sei zugleich Hypothese und Definition (1990, 11). Es handle sich nicht bloß um eine literarische oder pädagogische Darstellung, sondern um Formulierung, Entwicklung, Untersuchung, Begriffsbildung (1990, 11). Lefebvre entwirft also, ausgehend von einer empirischen Diagnose (aber bewusst darüber hinausgehend), ein gesellschaftskritisches Panorama, eine 360-Grad-Darstellung des sozialen Raums in seiner Gesamtheit.31 Lefebvre macht darauf aufmerksam, dass das „planetarische Wesen des ­u rbanen Phänomens“ insbesondere im Genre der Science-Fiction zum Vorschein kommt (2003, 123). Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Foundation-Triologie von Issac Asimov (1996a, 160), was gerade aus einer postfundamentalistischen Sicht eine interessante Verbindungslinie entstehen lässt (im Englischen wird postfundamentalistisch als post-foundational ­übersetzt). Tatsächlich findet sich bei Asimov der Blick in die Zukunft einer wahrlich planetarischen Urbanisierung und in eine vollkommen verstädterte Gesellschaft. In seinen Erzählungen berichtet Azimov über den Planeten Trantor, der vollständig besiedelt ist und aus einer einzigen Stadt mit 40 Milliarden Einwohnern besteht (1982). Der Held in der Geschichte heißt Hari ­Seldon, ein Wissenschaftler, der die sogenannte Psychohistorie gegründet hat. In dieser Wissenschaft wird das menschliche Verhalten erfolgreich auf mathematische Gleichungen reduziert und damit vorhersagbar gemacht. Das einzelne menschliche Wesen bleibt für die Psychohistorie zwar unberechenbar, die Menschenmasse dagegen ist der quantitativen Analyse zugänglich. Auf die Masse lassen sich die „Methoden der Statistik“ anwenden: „Je größer die Masse, eine desto größere Genauigkeit kann erzielt werden.“ (1993, 12) Die Wissenschaft der Psychohistorie wird zur Voraussetzung für die Verwaltung des vollständig urbanisierten Planeten. Mit dem Bild der kompletten Verstädterung verbinden sich bei Asimov eine Reflexion über die Berechenbarkeit und Verwaltbarkeit von Städten und ihren Einwohnerinnen sowie ein subtiler Kommentar zu den Diskursen der Massenpsychologie. All das inspiriert Lefebvre zu seiner Stadttheorie. Lefebvre zeigt mit seiner Referenz zu Asimov, 310

dass seine Verstädterungshypothese nicht beim Planeten Erde (bei der Erde als Planeten) haltmacht, sondern wirklich planetarisch ist, indem es ein ­Denken vorschlägt – genau darum scheint es Lefebvre mit seinem Begriff des Planetarischen letztlich zu gehen –, welches es wagt, Gegenden jenseits des Irdischen und damit auch jenseits von dem zu erkunden, was der rein rationalen Betrachtung zugänglich ist. Eine zweite Herkunft der Hypothese von Lefebvre sind die Schriften von Kostas Axelos, der in Vers la Pensée planétaire (1964) das Planetarische bereits im Titel einfordert. In verschiedenen Texten (etwa 1965b und 1986) diskutiert Lefebvre diesen planetarischen Ansatz explizit. Axelos, der ebenfalls zum Kreis der undogmatischen Postmarxisten zu zählen ist, entwirft eine Anbindung der Marx’schen Theorie an Martin Heidegger (und umgekehrt). Sein Vorschlag eines planetarischen Denkens wendet sich – dem postfundamen­ talistischen Gedanken verbunden – gegen geschlossene Theoriesysteme im Allgemeinen und gegen jede a priori getroffene Annahme im Besonderen (vgl. auch Elden 2004 und 2006). Das aus dieser Haltung explizierte planetarische Element korrespondiert mit Lefebvres Denken des Totalen und auch mit der eingeforderten Wiedereinführung des (Meta)Philosophischen und Sozial­ theoretischen in das urbanistische Feld. Axelos und Lefebvre zitieren beide mehrfach den Ausspruch von Marx, nach dem „das Philosophisch-Werden der Welt zugleich ein Weltlich-Werden der Philosophie“ bedeutet (1841, 68). Für Axelos ist das Planetarische das weltlich gewordene Philosophische, in dem dieses Weltlich-Sein kein Mangel ist, sondern eine Errungenschaft. Dieser Gedanke erhält bei Lefebvre Bedeutung für sein Bemühen, die Materie als den Rest jenseits des Ganzen zu bestimmen (vgl. Kapitel 2.1). Überhaupt ist die Idee, die planetarische Urbanisierung zu denken, tief in den sozialtheo­ retischen Grundlegungen von Lefebvre verwurzelt. Lefebvre schlägt mit seinem Begriff des Planetarischen das vor, was er in seine Kritik des Alltags­ lebens als „die Bestimmung eines Totalphänomens“ diskutiert, „das eine Totalität enthüllt, ohne ihr theoretische und praktische Macht zu verleihen und ohne zu erlauben, dass sie definiert und beherrscht wird“ (1975c, 16). Später erklärt Lefebvre die vollständig verstädterte Ge­sellschaft zu diesem Totalphänomen und bezeichnet es als planetarisch. Die urbane Revolution, 311

so postuliert Lefebvre, ist eine „totale und planeta­r ische Revolution“ und sie ist eine Revolution des „unmöglich Möglichen“ (1996b, 187). Damit wandelt Lefebvre seine empirische Beobachtung (der absolut werdenden Verstädterung) zu einem theoretischen Instrument, mit dem er einerseits den partikularen Ansatz des traditionellen anwendungsbezo­genen Urbanismus angreift, andererseits sich aber auch gegen solche zeitgenössische Metatheorieposi­ tionen wendet, die seines Erachtens „das Globale“ vernachlässigen (1974b, 140).32



Es lohnt sich, nun einen weiteren Moment bei der genealogischen Erkundung des Planetarischen zu verweilen. Woher, so lässt sich fragen, kommt die Rede vom Planetarischen eigentlich? Wer hat sie erfunden? In welchem Umfeld ist sie groß geworden? Was wurde jeweils bezweckt, wenn das Planetarische als Rahmung bemüht wurde? Lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen? Der Begriff des Planetarischen kommt vor allem in den 1930er-Jahren auf (vgl. Auer 2014). So philosophiert etwa Walter Benjamin am Ende seiner Schrift Einbahnstraße einen mit „Zum Planetarium“ überschriebenen längeren Absatz über das Verhältnis zwischen Mensch und Kosmos.33 Benjamin schreibt hier, dass die Lehre der Antike, ausgedrückt in einem Satz, lauten müsse: „Denen allein wird die Erde gehören, die aus den Kräften des Kosmos leben.“ Das hört sich etwas esoterisch an und ist es vielleicht auch. Der Unterschied zwischen dem antiken und dem modernen Menschen, so erklärt Benjamin, sei die „Hingegebenheit“ des Ersteren an eine kosmische Erfahrung, die dem Letzteren abhandengekommen ist. Die Neuzeit wäre geprägt von einer rationalen und „optischen Verbundenheit mit dem Weltall“, wohingegen in der Antike der Kosmos noch eher „im Rausche“ erfahren und verarbeitet worden sei. Der Rausch wird für Benjamin infolge zu der Erfahrung, in der wir uns „des Allernächsten und des Allerfernsten“ versichern, und zwar nie „des einen ohne des andern“. Der Mensch könne nur in Gemeinschaft „rauschhaft mit dem Kosmos“ kommunizieren, genau das sei in der neuen Zeit jedoch nicht mehr beliebt und würde nicht mehr eingeübt werden. Die Rauscherfahrung des Kosmos ließe sich jedoch nicht gänzlich verdrängen, „Völker und Ge312

schlechter“ könnten ihr nicht entgehen. Die kosmischen Kräfte würden sich stets ihren Weg bahnen, sich brutal Geltung verschaffen: im Krieg, der letztlich nur aus diesem Grunde geschehe. Benjamin deutet den (Ersten) Weltkrieg als einen „Versuch zu neuer, nie erhörter Vermählung mit den kosmischen Gewalten“. Das Verdrängte des Rauschs kehrt zurück. Es ist vielleicht ein wenig so wie bei Nietzsches Beschreibung des agon und der dunklen Kräfte, die auf dessen Grunde lauern. Bei Benjamin vermählen sich jene Dämonen mit den von der Moderne entfesselten Energien. Dies „große Werben um den Kosmos“ vollzieht sich „in planetarischem Maßstab, nämlich im Geiste der Technik“. Wegen der Profitgier der herrschenden Klasse (nicht aus sich heraus), so beschließt er seinen Gedanken, habe die Technik die Menschheit verraten und „das Brautlager in ein Blutmeer verwandelt“. Das Planetarische umschreibt bei Benjamin ein zumindest subtil bedrohliches Szenario und versammelt die Antagonismen der Antike mit denen der Neuzeit. Benjamins Planetarisches ist faszinierend, beeindruckend, aber vor allem bedrohlich. Häufiger und zentraler als bei Benjamin findet sich das Planetarische bei Ernst Jünger. In seinem Text Der Arbeiter ([1932] 1981) möchte er mit einer begrifflichen Neufassung des Proletariers das reformulieren, „was Marx aus Hegel hinausdestillierte“ und „statt einer ökonomischen Figur“ – auch Jünger ist ein Meister der organischen Konstruktion – eine Gestalt „etwa im Sinne der Urpflanze“ erschaffen (1981, 194). Diese Gestalt interessiert dann kurz darauf Heidegger (zu dem ich gleich komme), der die Idee weiter zum „Gestell“ entwickelt, einen Begriff, den er als allgemeinen Namen für „Technik“ vorschlägt und in dem er gewissermaßen den Arbeiter (wieder) zur Struktur ­gerinnen lässt. Für Jünger ist es nun von entscheidender Bedeutung, den „planetarischen Charakter“ und die „planetarische Funktion“ jener Gestalt herauszuarbeiten (1981, 76) und also den Anspruch des Arbeiters auf „planetarische Gültigkeit“ zu verdeutlichen (1981, 100). Die Repräsentation der Gestalt des Arbeiters, so formuliert es Jünger in ziemlich nebulösem Duktus, führe „mit Notwendigkeit Lösungen von planetarisch-imperialen Ausmaßen zu“ (1981, 105). Der „natürliche Raum“, auf den sich Herrschaft und Gestalt des Arbeiters beziehen, hätte eine „planetarische Dimension“, er sei „der Erdball, den ein neu aufkeimendes Erdgefühl als Einheit begreift – ein Erdgefühl, das 313

kühn genug zu großen Konstruktionen und tief genug zur Umfassung seiner organischen Spannungen ist“ (1981, 113). Jünger setzt sein Reden von der „planetarischen Gültigkeit“ gegen das Bild der „kosmopolitischen Gesellschaft“ und kulminiert das Ganze im Ausdruck der „planetarischen Wucht“ (1981, 121) – vom wem oder was, wird allerdings nicht ganz klar. Da „der Raum, der der Gestalt des Arbeiters zugeordnet ist, planetarischen Umfang“ besitze, sei es begrüßenswert, „wenn weite Gebiete dieses Raumes leitend gemacht werden, wo immer dies geschehen mag“ (1981, 145). Der „Weltstaat“, so resümiert Jünger, behandele „das Problem des Überganges der Gestalt des Arbeiters von planetarischer Macht zu planetarischer Ordnung“ (1981, 164).34 Das Planetarische bei Jünger ist etwas, was ziemlich vage bleibt, irgendwie dramatisch und mit Hang zu einer behaupteten Großartigkeit. Es fällt insbesondere dadurch auf, dass es ständig wiederholt wird. Über Jünger führt der Weg zum eigentlichen Protagonisten der planetarischen Rede, nämlich – der Hinweis auf Axelos hatte schon die Richtung gewiesen – zu Martin Heidegger. Heidegger hat sich sehr intensiv mit den Schriften von Jünger auseinandergesetzt – ein ganzer Band der Heidegger’schen Gesamtaus­ gabe (2004b) besteht ausschließlich aus Texten über Jünger. In einem dieser Manuskripte aus dem Jahre 1934 – Heidegger ist gerade Dekan an der Universität in Freiburg geworden – findet sich auch bei Heidegger der Ausdruck des Planetarischen. Das „planetarische Menschentum im Sinne des ‚Kommunismus‘“ ([1934] 2004a, 40), so lautet hier die Rahmenhandlung, ist für Heidegger die äußerste Steigerungsform auf einer Liste potenzieller Subjekte, die vom Einzelnen über die Gemeinschaft, die Nation und das Volk reicht. „In der Gestalt des Arbeiters“, so wandelt Heidegger auf Jüngers Pfaden, erreiche „die Subjektivität des Menschentums ihre Vollendung ins Unbedingte und die Aus­ breitung in das Planetarische“ (2004a, 40). Das „planetarische Menschentum“ könne eine „neue Rasse“ sein, wobei, so fügt Heidegger auf dem Höhepunkt seiner eigenen Kollaboration mit den Nazis, unter Rasse ein „rein subjektiver Begriff“ zu verstehen wäre (2004a, 67). In der „Typik und Technik einer ­planetarisch herrschenden Rasse“, so Heidegger weiter, werde „die Subjektivität des Menschen absolut“ und damit zur „Objektivität (d. h. planetarisch)“ (2004a, 80). 314

Hier ist der bereits bei Jünger in der Luft liegende Gedanke greifbar: Das völkisch aufgeladene Großartige, das sich aus einer merkwürdigen Mischung aus Nationalismus, dem sozialistischen Gedanken und Technikfaszination herausbildet, wird mit dem Begriff des Planetarischen belegt, umschrieben, ja herbeigerufen. Gespenstisch wird das nicht zuletzt durch den zeithistorischen Kontext, in dem sich beide Autoren bewegen – und durch die geistige Nähe von beiden zum Nationalsozialismus. In einer seiner Einführungen in die Metaphysik, die Heidegger im Jahre 1935 gibt, bringt er das planetarische Denken dann auch in direkte Verbindung mit der „Philosophie des Nationalsozialismus“: Heidegger doziert über die „innere Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung, deren Kern er in der „Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen“ verortet (1976b, 152). Heidegger ist nicht der Einzige, der das Planetarische mit den Nationalsozialisten in Verbindung bringt. Auch bei Carl Schmitt findet sich der plane­ tarische Gedanke im gleichen Zusammenhang, und zwar in seinem – offen ­nationalsozialistischen – Text über die Völkerrechtliche Großraumordnung aus dem Jahre 1939. Schmitt betätigt sich zu dieser Zeit nicht nur als Theoretiker des Politischen (vgl. dazu S. 188 f.), sondern auch als ein Theoretiker des Raums, oder genauer als Entwerfer einer neuen „territorial konkrete[n] Raum­ ordnung.“ (1939, 7). Vom völkerrechtswissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, das ist die These von Schmitt, würden sich Raum und politische Idee nicht voneinander trennen lassen. Schmitt stellt sich dabei explizit in eine ­L inie mit Karl Haushofer und dessen Geopolitik, die wiederum ein direktes Erbe der Politischen Geografie und der Anthropogeografie eines Friedrich Ratzel ist (vgl. ausführlich Roskamm 2011a). Die geopolitische These von ­Schmitt lautet, dass ein „Recht der Völker auf Raum und Boden“ bestehe, ein Recht, das auch als „demografisches Recht“ (1939, 16) bezeichnet werden könne. Anliegen des Begriffstheoretikers Schmitt ist es, das Reich als alter­ nativen Begriff zum Staat zu etablieren, da sich in ihm die „Dreiheit: Boden, Volk, Idee“ (1939, 34) manifestiere und zu einer „völkische[n] Lebensform und Lebensordnung“ vereinen könne (1939, 77). Ziel sei es, den „Begriff einer konkreten Großraumordnung“ zu finden, der „unseren neuen Begriffen von Staat 315

und Volk“ gerecht werde. Das könne nur der „völkerrechtliche Begriff des ­Reiches“ sein als einer „von bestimmten weltanschaulichen Ideen und Prinzipien beherrschten Großraumordnung“, deren „Garant und Hüter ein Volk ist, das sich dieser Aufgabe gewachsen zeigt“ (1939, 86). Darin erscheine die politische Idee für den mittel- und osteuropäischen Raum, in dem „viele, aber – von den Juden abgesehen – einander nicht artfremde Völker und Volksgruppen leben“ (1939, 64). Daraus entstehe, so Schmitt weiter, die „Unabwendbarkeit kommender Raumplanungen“. Schmitt bündelt seine Idee in dem Ausspruch: „Wir denken heute planetarisch und in Großräumen.“ (1939, 86) Dieses Postulat unterstreicht er noch einmal, wenn er ausführt, dass ­d arunter eine Denkweise zu verstehen sei, die den „heutigen Raumvor­ stellungen und den wirklichen politischen Lebenskräften“ dadurch gerecht zu werden vermag, weil sie „‚planetarisch‘, d. h. erdraumhaft“ ist (1939, 87). Das Planetarische ist bei Schmitt ein ausdrücklich geopolitischer und antilibe­raler Begriff, der die Blut-und-Boden-Ideologie auf eine universelle Stufe heben soll. Etwa zur gleichen Zeit, in der Carl Schmitt seine Raumordnungsfantasien zu Papier bringt, setzt sich auch Heidegger noch einmal und ganz explizit mit dem Planetarischen auseinander. Dieses Durchdenken findet sich in Heideggers „Schwarzen Heften“, also in den erst kürzlich veröffentlichten Notiz­ büchern aus den Jahren 1938 bis 1941. In diesen ambivalenten Reflexionen aus den Kriegsjahren spiegelt sich in manchen Passagen Heideggers Nähe zu den Nazis wieder, an verschiedenen Stellen lässt sich aber auch eine Distanzierung zur nationalsozialistischen Ideologie herauslesen. So stellt Heidegger ­einerseits die Frage, was es bedeutet, wenn „für ein Volk an die Stelle des ­denkerischen Fragens (d. h. der Philosophie) die ‚Geographie‘ tritt“ (2014a, 279), und er spricht von einem „Grundirrtum“, der darin liege, dass „ein Volk durch ‚Räume‘ sich einen ‚Lebens‘-Raum schaffe“ (2014b, 131). Unschwer können diese Formulierungen als eine Kritik an jener geopolitischen Staats­ doktrin gelesen werden, die uns gerade bei Schmitt begegnet ist. Andererseits schreibt Heidegger in seinen Notizen dann wieder im dumpfen antisemi­t i­ schen Blut-und-Boden-Jargon vom „Weltjudentum“, das „aufgestachelt“ sei „durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten“ und „sich bei ­a ller 316

Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen“ beteiligen müsse, wogegen „uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern“ (2014b, 262). Auch das Planetarische wird in solchen Passagen immer wieder gedanklich umkreist, und zwar in drei unterschiedlichen Zusammenhängen. Erstens ist der Planetarismus, so Heidegger, die „historisch gedachte Bestimmung der überall gleichen, die ganze Erde überdeckenden Seinsverlassenheit des Seienden“ (2014b, 261). Das Planetarische ist aus dieser Sicht eine „Einebnung des Menschentums“ – hier klingt ein nietzscheianischer Elitismus an – und diese Gleichheit hat seinen „Wesensgrund“ darin, dass „die Macht selbst, sobald sie zur unbedingten Ermächtigung gelangt, in sich das gleiche und die Eintönigkeit der immer einfacheren Mittel fordert“ (2014b, 261). Jede Macht versuche stets, „sich zu erweitern“, und treffe sich dabei „mit jeder anderen in derselben Machenschaft“ (2014b, 261). Der Grund der „historisch feststell­ baren Totalität und Unbedingtheit des Machtwesens“ ist für Heidegger in dessen „Wesensselbigkeit“ zu finden (2014b, 261). Zweitens postuliert Heidegger zu Beginn des, wie er schreibt, „dritten Jahres des planetarischen Krieges“, dass man „geschichtlich“ und nicht nur „historisch“ denken und dabei den „Planetarismus in die Wandlung der Geschichte“ einbeziehen müsse, statt ihn „nur und höchstens geographisch als Rahmen der ‚historischen‘ Begebenheiten“ zu verwenden“ (2014b, 261). Allerdings, wäre „auch der Planetarismus […] noch eine historische Bestimmung der Weltgeschichte, keine seynsgeschichtliche“ und „in der welthistorischen Aufgabe der Massenordnung“ würde vor allem „die Massenhaftigkeit des Menschentums bejaht und die Technik in die unbedingte Rolle der maßgebenden Kenntnisart gesetzt“ (2014b, 264). Das Planetarische weist hier zwar in Richtung einer „Seynshaftigkeit“ und wird damit beinahe zur ontologischen Kate­ gorie. Aber eben nicht ganz. Der Planetarismus, so nimmt Heidegger den Diskurs seiner Zeit auf, ist die Sphäre der Masse und der Technik und dabei dann letztlich doch nicht „wesenhaft“. Dennoch ist er in Heideggers Auslegung ­z umindest partiell in der Lage, über das geografisch-räumliche Denken ­h inauszutreten und damit „wahrhaft geschichtliche“ und also „seinsmäßige“ Dimension zu erklimmen. 317

Interessant ist schließlich drittens eine Passage, in der Heidegger – weiter befinden wir uns in den frühen 1940er-Jahren – dem Planetarismus einen zusätzlichen Begriff beiseitestellt, nämlich den „Idiotismus“. Unter Idiotismus möchte Heidegger nicht den „psychiatrischen Begriff der Blödigkeit des Geistes und der Seele“ verstanden wissen, sondern „das Eigene“, das „seinsgeschichtlich“ gedachte „idiov […]“ in dem der „heutige Mensch innerhalb der Massenordnung sich selbst findet“ (2014b, 265). Heideggers Analyse zielt auf die Massenmedien (Rundfunk, Zeitungen), wo das Eigene in das „Jedermann Gehörige“ verlagert wird (2014b, 265). Der Idiotismus, so führt Heidegger seinen Gedanken weiter, ist nichts anderes als „die wesenhafte Beschränkung auf das Weltläufige, d. h. Planetarische“ (2014b, 265). Jenes Planetarische wiederum könne nur als Idiotisches bestehen. Eine solche Beschränkung (auf das Planeta­ rische) ist für Heidegger, und das ist das Entscheidende, gleichfalls der „Verzicht auf jede Besinnung“, der immer ein unbewusster Verzicht ist, da weder der Verzicht als Verzicht noch überhaupt die Möglichkeit der Besinnung bekannt ist (2014b, 265). Ein planetarischer Idiotismus, so betont Heidegger, sei daher auch kein „Vorrecht von ‚Idioten‘ (d. h. beschränkt begabter Menschen)“, sondern im Gegenteil eine Eigenschaft des historisch-technischen Menschen in all seiner „Wendigkeit und Geschicklichkeit […]: Nur der planetarische Mensch kann idiotisch und der idiotische Mensch muß planetarisch sein“ (2014b, 265). Das Planetarische wird von Heidegger in diesen Reflexionen, so scheint es, mit zunehmender Distanz betrachtet, und vermutlich spiegelt das auch ein Stück weit eine sich ändernde Haltung zu den Nationalsozialisten wider. Die Wandlung des Planetarischen bei Heidegger vollzieht sich ausgehend von einer Interpretation, in der es als „den-Planeten-übergreifend“ und einfach als besonders bedeutsam eingeführt ist, über die Darstellung als beinahe-ontologische Ebene bis hin zu der Gleichsetzung mit einem Idiotismus, bei der in kulturkritisch-elitistischer Wendung die planetarische Masse im Zeitalter der Massenmedien als eben doch: „idiotisch“ konzipiert wird. Die These, dass in dieser Entfremdung vom Planetarischen auch eine gewisse Fortentwicklung von Heidegger weg von der nationalistischen Partei erkennbar sein könnte, ist vielleicht eine zu sehr gewagte These. Aber möglich ist es schon. Bis zu ihrem 318

Untergang waren die Nazis – neben der Technik – der andere Inbegriff des Planetarischen, und zwar etwas, das in diesem seinem Planetarismus fas­ zinierte. Mit zunehmender Kulturkritik verliert für Heidegger nicht nur die Technik, sondern auch der Nationalsozialismus seinen Glanz, und beides spiegelt sich in seinem planetarischen Reden. Auch nach 1945 bewohnt das Planetarische die Heidegger’sche Gedankenwelt, allerdings führt er den Gedanken zum „Ìdiotischen“ nicht noch einmal aus. Ebenso kommen die Nazis und der Nationalsozialismus in Heideggers Ausführungen nun nicht mehr vor. In den berühmten Bremer Vorträgen aus dem Jahre 1949 zum Ding und zum Ge-Stell (die uns weiter unten noch beschäf­ tigen werden) spricht Heidegger über die „heutige Entfaltung zur planeta­ rischen Totalität“, die „die Voraussetzung dafür [ist], daß der neuzeitliche Kampf um die Erdherrschaft sich auf die Positionen der beiden heutigen ‚Welt‘-Mächte konzentriert“ (1994, 51). Die „Wesensgenealogie des Ge-Stells“ – das Ge-Stell selbst ist das Wesen der Technik – zeige in die „Wesensherkunft […] des planetarischen Seinsgeschickes“ (1994, 65). Das Planetarische verliert hier einen großen Teil seiner metaphysischen Aufgeladenheit und wird zum eher beiläufig (vermutlich aus alter Gewohnheit) gebrauchten Adjektiv. In seinen Freiburger Vorträgen von 1957 beschreibt Heidegger dann wieder die Massenmedien seiner Zeit – Zeitungen, Rundfunk, Fernseher und Taschenbücher – als die „planetarischen Formen der historischen Verrechnung des Vergangenen“, die das Gewesene ins Aktuelle aktualisieren (1994, 84), und spricht von der entschränkenden Wirkung der „modernen Welttechnik unseres planetarischen Zeitalters“ (1994, 98). An einer anderen Stelle bestimmt Heidegger die „Logistik“ als die vermutlich „letzte und d. h. universale, planetarische Herrschaftsform“ einer „noch logischer“ gewordenen Logik, die im „Weltalter der Technik in der Gestalt der Maschine zur Erscheinung“ komme (1994, 104). Planetarisch ist für Heidegger also nun stets verbunden mit Technik, mit einer aus der Technisierung entstehenden und sich in medialer Verfügbarkeit manifestierenden veränderten Seinsweise. Wenn „planetarisch“ als Beiwort gewählt wird, dann schwingt in dieser Wahl stets eine subtile Ablehnung gegen die „Technisierung der Welt“ mit, dann zeigt es sich, dass die Dramatik zwar runtergestuft wurde, der Konservatismus aus den 1930er-Jahren 319

aber weiter dort aufgehoben ist. Das Planetarische steht bei Heidegger auch nach dem Krieg für die Zusammenführung von Ontologie mit Kultur- und Technikkritik, es bedient ein tiefsitzendes Ressentiment gegenüber der ­Moderne. Insgesamt betrachtet ist die Häufung der planetarischen Zuschreibungen im Umfeld von Autoren wie Heidegger, Schmitt und Jünger signifikant. Das Planetarische besetzt zwar einen nicht besonders expliziten Bedeutungsraum, in dem aber immer ähnliche Klangfarben miteinander verwoben sind: technik­ skeptische Befindlichkeit, antiliberaler Konservatismus und das Gefühl der besonderen (nämlich planetarischen) Bedeutsamkeit. Auf den ersten Blick ist das Planetarische nicht von einer unbedingt zentralen Bedeutung, es scheint kein „Grund-Begriff“ zu sein, kein Notwendiges und keine Hauptsache. Mehr ist es Beiklang, etwas ausstaffierend und eher nebenbei verwendet. Aber es kommt vor und steht stets in einem speziellen Kontext, bei bestimmten Themen, trägt dazu bei, eine spezifische Atmosphäre zu schaffen. Gerade die Fundstelle bei Benjamin, die die Ausnahme der gerade aufgestellten Regel darstellt, zeigt einen Gedankengang, der bei allen Planetarikern irgendwie mitschwingt. Benjamin reflektiert im Lichte des Planetarischen über die Natur der T ­ echnik, auch wenn er ihr nicht – wie Heidegger – eine eigene „Wesenhaftigkeit“ zuspricht. Benjamin inszeniert das Planetarische, um einen Kontrapunkt zu einer mehr und mehr auf das Technische und Rationale, auf ein letztinstanzlich erklärendes Rationales zu setzen. Die Rede vom Planetarischen behauptet eine mit und in der Technik aufgehobene Bedeutung, die aber gerade jenseits des durch die Technik repräsentierten Objektiven und Empirischen angesiedelt ist. Zudem erzählt es eine Geschichte von der Aufhebung von Grenzen und erzeugt die bedrohliche Vorstellung von einem gefährlichen und gefähr­ deten Raum zukünftiger Geschehnisse. In diese Tradition lässt sich auch Lefebvres Ansatz einordnen, zumindest ein Stück weit. Seine These von der planetarischen Urbanisierung beinhaltet zunächst ebenfalls eine gewisse Modernekritik: Den Endpunkt einer vollkommenen Verstädterung umhüllt weniger ein paradiesischer Schein (wie das etwa beim Marx’schen Kommunismus der Fall ist), sondern er ist eher ein bedrohliches und ungemütliches Szenario, mehr Dystopie als Utopie. Zugleich 320

ist in der planetarischen Urbanisierung eine Kritik der modernistischen orthodoxen Stadtplanung enthalten.35 Lefebvre bemüht sich, einen Namen und ein Feld jenseits von einem technokratischen Urbanismus zu finden, in dem das Urbane als eine mystisch aufgeladene Praxis sich gegen ein objektivis­ tisches und empirizistisches Planungs- und Stadtverständnis wendet. Die ­u rbane Revolution, so postuliert Lefebvre, ist ein planetarisches Phänomen (2003, 113). Lefebvres Planetarismus ist dabei einerseits die Antithese zur orthodoxen technischen Stadtplanung und ihrem rationalistischen und objektivistischen Selbstverständnis. Andererseits ist er aber auch der Gegenentwurf zu einem dogmatischen Marxismus, in dem das Urbane immer eine einfache Ableitung der Produktionsverhältnisse ist. Die These von der planetarischen Urbanisierung, das ist ihr Zweck, importiert etwas (das Planetarische), das sich einer letzten und abgeschlossenen irdisch abgesicherten Erklärung ­i mmer wieder entzieht und das daher auch das Ökonomische als letztlich ­Bestimmendes verunmöglicht. Gerade dieser Import erlaubt es dem postfun­ damentalistisch talentierten Lefebvre erst, einen emanzipatorischen Theorie­ ansatz zu verfolgen, der nicht nur jenseits der letzten Instanz Bedeutung vermutet, sondern der dieses Bedeutungsgeschehen auch verortet – nämlich im Urbanen. In dieser Verortung wird Lefebvres Denken zur Stadttheorie. Dass das Planetarische dem Urbanen einen leicht düsteren, kultur- und technikkritischen Beigeschmack anhängt, ist eine vermutlich nicht unerwünschte Begleiterscheinung. Zum einen mag das vermeiden helfen, einen naiv romanti­ sierenden Stadtutopismus als Ertrag des stadttheoretischen Ansatzes zu ernten. Zum anderen speist Lefebvre mit dem Planetarischen mehr oder weniger versteckte Anleihen an den ontologischen Diskurs – über Wesenhaftes und Seins­ mäßigkeiten – aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Debatte ein. Und das befähigt ihn dazu, mit dem Urbanen andere Seinsmäßigkeiten zu attackieren, und zwar den Ökonomismus von Marx und den Empirizismus der Stadtplanung.

• Zwischen der These von der planetarischen Urbanisierung und dem eingangs erwähnten „demografischen Argument“ besteht eine direkte Verbindung. 321

Das demografische Argument lautet, dass seit dem Jahre 2006 auf der Erde mehr als die Hälfte der Menschen in Städten leben (Soja/Kanai 2014, 143). Die Welt, das ist es, was damit erzählt wird, ist auf dem Weg zur planetarischen Urbanisierung. Es ist auffällig, wie oft diese Geschichte verbreitet und wiederholt wird. In aktuellen Produkten des Urbanismus – Programmen, Analysen, Ausschreibungen, Manifesten –, in Äußerungen ganz unterschiedlicher Herkunft, überall wird von jener Zahl berichtet („… über die Hälfte …“), überall wird sie ganz an den Anfang gestellt. Warum ist die quantitative Angabe eigentlich so wichtig? Und was bedeutet es, dass neuerdings mehr Stadt- als Landbewohner auf diesem Planeten gezählt werden? Mit der statistischen Bevölkerungsangabe, das ist meine These, wird die ­Bedeutung der eigenen Disziplin produziert, die Wichtigkeit von Stadt, Stadt­ forschung, Stadtplanung hergestellt. „Wir müssen uns mit dem Urbanen und dem Urbanismus beschäftigen“, das ist die Aussage, weil „so viele und immer mehr Menschen in Städten leben“. Es geht also um Relevanz, um Wichtigkeit, um Legitimation. Es geht darum, Stadt als Feld (für Forschung, Lehre, Inter­ vention, Analyse) zu setzten, das urbanistische Feld mit Bedeutung zu besetzen. Es geht wie immer darum, das eigene Feld zu privilegieren. Genau dafür wird das demografische Argument gebraucht, das ist sein eigentlicher Punkt. Das demografische Argument, darauf läuft es hinaus, ist heute zum bestimmenden Gründungsnarrativ des Urbanismus geworden. Die Begründung, sich mit Stadt zu beschäftigen, ist heute (meist) eine quantitative Angelegenheit, im Grunde beruft sie sich genau darauf: auf die Angabe einer Zahl. Die Angabe einer Zahl ersetzt sozusagen die Notwendigkeit einer Theorie, ­einer Stadttheorie, die es zur Aufgabe hätte, zu erklären, warum Stadt wichtig ist, wichtig genug, um sich mit ihr zu beschäftigen. Deshalb ist es meines Erachtens angebracht, sich den Diskursraum, der in neuerer Zeit unter dem Dach der These von der planetarischen Urbanisierung geschaffen worden ist, noch einmal genauer anzuschauen. Hier findet sich das Angebot der critical urban studies für eine aktuelle Form von Stadttheorie, hier gibt es den Spagat zwischen Henri Lefebvre auf der einen und dem ­demografischen Argument des Mainstream-Urbanismus auf der anderen Seite.

322

Der Bezug zu Lefebvre ist allerdings zumindest ambivalent. Auf den ersten Blick scheint es zwar auch bei Lefebvre und seiner Hypothese von der 100-prozentigen Urbanisierung eine Quantifizierung zu geben. Allerdings geht es Lefebvre dabei nicht um empirische und statistisch basierte Forschung. Quantitative Sozialforschung gibt es bei ihm nicht, und zwar nicht aus Ver­sehen, sondern aus Prinzip. Lefebvre macht, wie weiter vorne ausführlich ­berichtet, mit der Stadt etwas ganz anderes: Er wendet sich dem Begriff des Totalen zu, er philosophiert und spekuliert. Im planetarisch-urbanistischen Diskursraum finden sich dagegen eher empirische Annäherungen, Unter­suchungen und Kartografien, die den Urbanisierungsgrad der Welt beschreiben sollen. Die These von der planetarischen Urbanisierung eignet sich offenbar dafür, sie mit quantitativen Untersuchungen zu unterfüttern. Auch in den critical urban studies wird Stadtforschung meist empirisch betrieben, und oft finden sich demografische Argumentationsmuster, die den eher traditionell (und/oder technokratisch) ausgerichteten Bereichen des Urbanismus durchaus ähneln. Eine Frage, die dabei oft gestellt wird, lautet, wie Lefebvres Theo­r ie für die empirische Analyse fruchtbar gemacht werden kann (vgl. Schmid 2014, 79). Der empirische Fokus wird im aktuellen Planetarismus dabei ­weniger kritisch reflektiert – obwohl es das ist, was Lefebvre zeit seines Lebens gemacht hat – und auch nicht als wesentlicher Teil des problematischen Wesens des Urbanismus identifiziert, sondern zum eigenen Handwerkszeug und zur eigenen Forschungspraxis. Wo Lefebvre eine radikale Kritik der Kate­gorien einfordert, werden heute eher die Neubestimmungen von eingeübten geografischen Abgrenzungen und methodologische Strategien verhandelt, um die empirische Untersuchung zu untermauern.36 Bei der theoretischen Fundierung der Idee von der planetarischen Urbanisierung wird dafür plädiert, die herkömmliche Unterscheidung in das Urbane und das Nicht-Urbane zu überwinden, und zwar mit einer urban theory ­without an outside (Brenner 2014, 15). Mit dem erneuerten planeta­r ischen ­Urbanismus vermischt sich die deskriptive Beschreibung einer als ­total wahrgenommenen Verstädterung mit einer theoretischen Richtungs­bestimmung. Eine solche Vermischung ist der methodischen Vorgehensweise von Lefebvre nicht unähnlich. Letzterer lässt ebenfalls Empirie und Theorie eins werden 323

und bestimmt die (gewissermaßen empirisch festgestellte) totale Verstädterung zum genius loci seiner Annäherung an das Philosophische. Inhaltlich geht Lefebvre damit aber in eine ganz andere Richtung. Er führt mit seinem Planetarismus das Denken der Stadt als Totales ein und setzt damit dem Ökonomischen (oder dem Ökonomistischen) einen sozialtheoretischen urbanen Entwurf entgegen. Er rehabilitiert das spekulative philosophische Denken und öffnet dem Außen ein Einfallstor. In der aktuellen Version des Planetarismus wird dagegen auf das Gegenteil abgestellt: auf die Vertreibung des A ­ ußen. Das Ziel, das damit verfolgt wird, besteht darin, einen Bezug zur Marx’schen Tradition herzustellen, mit dem – ähnlich wie bei David Harvey – alles Philosophistische und Idealistische ausgetrieben werden soll. Zudem ist die Innenperspektive aber vielleicht auch die unbewusste Bezugnahme auf eine andere Tradition, nämlich auf die urbanistische Grundtugend des Gestaltens und Veränderns. Architekten und Städtebauer planen, bauen und gestalten, sie verändern – das zumindest ist ihr Selbstverständnis – die Welt. Darin findet sich eine strukturelle Ähnlichkeit zum Marxismus. Beides sind Projekte der Moderne. Auch der frühe Kommunismus, auf den Marx und Engels sich immer wieder beziehen, war aus ihrer Sicht ja in erster Linie weniger Theorie als gelebte stadtplanerische Utopie. Es sind genau diese Geister, die bei der Forderung nach einer Theorie ohne ein Außen ans Licht streben. Ein Ressentiment gegen zu viel Theorie (ein Überbleibsel des Marx’schen Denkens) verbindet sich mit einer Verbundenheit zur Praxis (einem Residuum von Marx und des Urbanismus). Mit Bezug auf Lefebvre – auch hier findet sich das inzwischen klassisch gewordene Paradox der zeitgenössischen urban studies – wird also dessen eigentliches Anliegen auf den Kopf gestellt. Die planetarische Urbanisierung verdrängt auf der Ebene des Empirischen das Nicht-­ Städtische (alles wird Stadt), und sie verdrängt mit dem Außen auch – auf der Ebene des Theoretischen – das Spekulative und Unsichere des Philosophierens. Was in den critical urban studies und ihrer Lefebvreindustrie in immer neuen Wellen geschieht, ist vermutlich eine Sublimierung des unorthodoxen, anti-empiristischen und widerspenstigen Kerns (widerspenstig auch gegen die eigene Tradition), der von Lefebvre in die Stadtforschung eingepflanzt

324

worden ist. Um einen Umgang mit diesem Gewächs zu finden, wird die dort aufbewahrte These immer wieder in ihr Gegenteil gewendet.37 In Beziehung gesetzt zu dem von mir hier vorgeschlagenen poststrukturalistischen Theorieentwurf schlägt die Rede von der planetarischen Urbanisierung also zunächst eine andere Richtung ein. Sie besetzt nämlich etwas, und zwar die Welt mit der Stadt. Sie zeichnet ein Bild, in dem das Urbane allgegenwärtig geworden ist. Dass die Stadt sich in ihrer Allgegenwärtigkeit letztlich selbst auflöst, das ist das original Lefebvre’sches Moment, welches in einem solchen Denken erhalten bleibt. Dass im Planetarischen das Außen verdrängt wird, ist dagegen eine neue Interpretation, mit der ein altes Ressentiment gegen das Theoretische an sich bedient wird. Die Verdrängung des postfundamentalistischen Kerns von Lefebvre, so lässt es sich vielleicht beschreiben, ist zum konstituierenden Element der kritischen Stadtforschung geworden. Die planetarische Urbanisierung ist damit schließlich das Gegenbild zur unbe­ setzten Stadt: Erstere schließt den Raum gegen ein Außen ab, Letztere möchte ihn öffnen und das Außen in das Innen hineinziehen, um Unabschließbarkeit zu behaupten und Luft für Spekulation zu gewinnen. Allerdings – und das ist der Grund dafür, dass die Unterschiede möglicherweise dann doch weniger grundlegend sind, als es auf den ersten Blick scheint – ist im planetarischen Diskurs der urban studies (etwa in den Texten von Harvey) gerade in der Ablehnung des Außen auch ein Interesse an eben diesem Außen angelegt. Der Ausschluss des Außen ist gewissermaßen selbst ein Gedanke, der auf dem Feld des Außen stattfindet. Es ist vermutlich nicht unähnlich zum Verhältnis zwischen Marx und den Gespenstern: Noch im Austreiben der Geister zeigt sich eben auch eine ziemlich große Affinität zu jenen Wesen (vgl. Derrida 2004 und Kapitel 5.1). Gerade in seiner mehrfach unausgeführten Ambivalenz ist der Begriff des Planetarischen deshalb aus meiner Sicht tatsächlich gut geeignet, um über das nachzudenken, was eine urban theory sein könnte. Und zwar nicht nur, weil in ihm der genauso alte wie fruchtbare Dissens über die Philosophie des Marxismus neu zu diskutieren ist, sondern auch, weil mit der Ideengeschichte des planetarischen Denkens aus den 1930er- und 1940er-Jahren zumindest potenziell die gerade auf dem

325

urbanistischen Feld so folgenreich eingeklemmte Lage zwischen Moderne und Modernekritik in Erinnerung gerufen wird. Die in den Beiträgen unter dem Dach des planetarischen Urbanismus regelmäßig aufgestellte Forderung nach neuen Theorien und neuen Begriffen (Schmid 2014; Brenner/Schmid 2014; Soja/Kanai 2014; Harvey 1996b) kann ­dabei aus meiner Sicht gerade mit dem entsprochen werden, was dort aus­ geschlossen werden soll. Im postmarxist-struktural-fundamentalistischen Denken findet sich jene neue Sprache, die dazu in der Lage ist, eine kritische Stadt- und Raumforschung zu kritisieren und damit zu befruchten. Insbesondere das konstitutive Außen als buchstäblich planetarische Kategorie bedient (wenn es nicht ausgeschlossen wird) die Forderung nach begrifflicher und theoretischer Neuerung, setzt ein sozialtheoretisches Denken (wieder) auf die Agenda des Wissensfeldes und reaktiviert die im Begriff des Städtischen aufgehobenen Möglichkeiten/Ambivalenzen. Das Projekt einer Untersuchung des planetarischen Phänomens – das vermutlich nichts anderes ist als jener allgemeine Ausnahmezustand, der „dazu tendiert sich über den ganzen Planeten auszubreiten“ (Agamben 2002, 49) – ist deshalb vermutlich gut beraten, sich nicht nur auf die empirische Forschung zu verlassen und nicht auf ein Denken des Außen zu verzichten, sondern im Gegenteil, sich ihm zuzuwenden. Ohne das Außen droht die Welt langweilig zu werden (eindimensional und ohne Grauzonen), ist die Welt geschlossen, verpufft das Planetarische zur halbgaren Metapher.

326

Anmerkungen

5

Zu der Anzahl der Bevölkerung als Indikator für die Kraft eines Staates kommt im 18. Jahrhundert (­spätestens mit Malthus) ein weiterer Punkt hinzu, nämlich das Verhältnis von Bevölkerung zur (Staats) Flä­che. Wie viele Menschen, so lautet nun die Frage,

1

Hier polemisiert Nietzsche etwa gegen die von ihm

sind erforderlich, und welches Verhältnis muss zwi-

so bezeichnete „Mitleids-Moral“ (1968a, V §6) sei-

schen der Zahl der Menschen und der Ausdehnung

ner Zeit und vermutet eine „Verschwörung der Lei-

des Territoriums bestehen, damit die Kraft des

denden gegen die Wohlgerathenen und Siegreichen“

­Staates am besten und am sichersten wachsen kann

(1968a, III §14). Auch dort, wo über die „Dauer­

(zum diesem Verhältnis und seiner Einheit der Dichte

fähigkeit einer Rasse (oder auf Steigerung ihrer ­Anpassungskräfte an ein bestimmtes Klima oder auf

vgl. ausführlich Roskamm 2011a). 6

Erhaltung der grössten Zahl)“ philosophiert und

die erste Stadt der Welt geworden durch die strenge

darüber nachgedacht wird, wie sich der „stärkere Typus“ herausbildet (1968a, I Anmerkung), wird die

Perfektion der Polizei“ (2006a, 484). 7

Bezugnahme auf Nietzsche hochgradig unheimelig. 2

er gegenüber der Stadt an den Tag legt. 8

verwendet wird. In Foucaults Aufsatz wird Nietz-

tionsmodell angelegt: Vereint werden sollen einerseits der klassische Stadt-Land-Gegensatz, ande-

­morale“ (1994b, 317), woraus in der englischen

rerseits die verschiedenen sozialen Klassen und

­Foucault-Übersetzung an der gleichen Stelle schließ-

Schichten. In der bodensozialistischen Utopie von

lich „The genealogy of Morals“ (1977, 77) wird. Der

Howard ist das Grundeigentum abgeschafft, aller-

bestimmte Artikel (das la/the) wandert bei Foucault

dings nicht durch Revolution, sondern aufgrund der

in den Titel von Nietzsches Schrift und lässt gleichnicht nur bei Foucault (auch Nietzsche selbst lässt in einigen Briefen das „zur“ weg und spricht teils einfach von der Genealogie), allerdings hat das ange-

Einsicht des Bürgertums, dass es so am besten ist. 9

Diese These wird uns gleich bei Roland Rainer noch einmal begegnen.

10 Hellpach erhielt 1952 das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland und 1953 die

sichts der Intention von Foucault – nämlich durch eine

Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft.

genalogische Analyse einen Begriff von Genealogie

1973 wurde ein Wirtschaftsgymnasium in Heidel-

zu generieren – eine gewichtigere Bedeutung als dort, wo es weniger um den Begriff selbst geht. Um nicht missverstanden zu werden: In dem skizzierten Sinne, den Foucault der genalogischen Herangehensweise verleiht, ist natürlich auch die Streit-

berg nach ihm benannt (und nennt sich noch heute so). 11 Zum Ideal der Auflockerung siehe auch Roskamm 2017a. 12 Kurz vor seinem Tode schreibt Rainer einmal: „Die Frage ist, ob geschieht, was die Bevölkerung

schrift von Nietzsche eine Genealogie: Sie ist eine

wünscht, oder das, was fachlich richtig ist?“

provokante Zerlegung eines routinisierten Moralbe-

(2003, 237)

griffs und der Ressentiments, in denen sich dieser Begriff auszudrücken pflegt. Abgesehen davon, dass Nietzsche seinen Text nicht selbst als Genealogie benennt, ist der Ansatz ziemlich genealogisch. Festzuhalten ist hier dennoch, dass Genealogie als

4

Das städtebauliche Konzept ist dabei als ein Integra-

sches Titel umetikettiert zur „la Généalogie de la

zeitig das „zur“ verschwinden. Zwar geschieht das

3

Foucault sagt das nicht über die Stadt, sondern über den Staat. Es trifft aber auch für die Haltung zu, die

Das drückt sich nicht zuletzt dadurch aus, dass der Titel von Nietzsches Text bei Foucault meist verkürzt

Paris, so berichtet Foucault, sei „im 17. Jahrhundert

13 Rutland (2015) beleuchtet die Zusammenhänge zwischen aktuellen Praxen der Stadtplanung und Biopolitik. 14 Zu unterscheiden ist dabei zwischen den wenig originellen Thesen von Urbanisten wie Rainer, Göderitz

Bezeichnung für eine kritische, kontingenzbewusste

und Hellpach auf der einen und den zumindest in

und postfundamentalistische Geschichtsschreibung

­Teilen differenzierter gestalteten Ideen etwa eines

nicht von Nietzsche eingeführt worden ist (zumin-

Oswald Spenglers. Letzterer könnte möglicher-

dest nicht explizit), sondern von Foucault.

weise in die Liste der „gefährlichen Freunde“ des

Zum Begriff der Schönheit siehe die Dissertation

Post­struk­turalismus (Nietzsche, Schmitt, Heideg-

von Stephanie Herold (2017).

ger) aufgenommen werden.

327

15 Von der hier diskutierten kritischen Stadtforschung

späterer Generationen, äußert sich persönlich ent-

Marx’scher Prägung lässt sich ein zweiter Bereich

täuscht über diesen Werdegang Castells vom anre-

unterscheiden, nämlich die Stadtsoziologie (die sich

genden wie herausfordernden Kritiker der bürger­

natürlich auch als ein Projekt der Kritik versteht).

lichen Stadtsoziologie („He’d snatched the mantle

Die Herkunft dieser anderen kritischen Stadtfor-

away from humanists like Lefebvre, and formalized

schung ist die frühe klassische Soziologie. In den

Marxism as a social science of the city, giving it rigor

Schriften von Emile Durkheim, Georg Simmel und

and respect, making it empirically ‚doable‘.“) zum

Max Weber ist die Stadt zunächst in eine allgemeine

Protagonisten des sozialwissenschaftlichen Main-

Soziologie eingebettet. In den 1920er-Jahren wird

streams (2002, 129). Merrifield beschreibt Castells

dann insbesondere durch die Chicago School of

als einen modischen Marxisten, der, sobald der Wind

­Sociology der eigenständige und vor allem empi-

drehte, ohne große Umstände die Seiten g ­ ewechselt

risch aufgestellte Bereich der Stadtsoziologie aus

hat: „The gospel according to Silicon Valley has found

der allgemeinen Soziologie ausgegründet (vgl. aus-

its ablest and most eloquent commissar.“ (2002,

führlich Roskamm 2011a, Kapitel 1 und 2). Unter-

132) Was Merrifield nicht reflektiert, ist die Frage,

scheidungsmerkmal zwischen den beiden Berei-

ob das glatte Umschwenken von Castells nicht schon

chen Stadtsoziologie auf der einen und kritische

im Kern dessen empiristischen Denkens Anfang der

Stadtforschung auf der anderen Seite ist der Bezug

1970er-Jahre angelegt ge­wesen sein könnte.

der Letzteren auf die Bestimmung des Kritischen als

19 Harvey bezieht sich auf eine Marx’sche Ausarbeitung

Element einer Marx’schen Traditionslinie. Dass auch

des Ideologiebegriffs. Als Ideologie sei demnach der

in den Texten den genannten Gründungsvätern der

unbewusste Ausdruck von Idealen und Glaubens-

(Stadt)Soziologie, die in dieser Zeit vor allem Sozial-

richtungen zu bezeichnen, die jeder sozialen Situa-

theorie gewesen ist, die postfundamentalistische

tion zugrunde liegen. Im Gegensatz dazu stellt er die

Überlegung eine bedeutsame Rolle spielt, lässt sich

kritische, kontextualisierte, bewusste und deshalb

an vielen Stellen von Oliver Marcharts Studie zum

nicht ideologische (wenn auch oft als ideologisch

unmöglichen Objekt nachverfolgen (2013). 16 So ist sich etwa Georg Simmel der von Castells ­her­aufbeschworenen Gefahr durchaus bewusst

bezeichnete) Ausführung von Ideen (1988, 18). 20 Auch die, wie Harvey formuliert, „verbreitete Tendenz“, von einer eigenen „Identität der Dinge“ zu

und betreibt seine Soziologie des Raums mit einiger

sprechen, entspringt seiner Meinung nach der

Sorgfalt (vgl. Roskamm 2011b); und zwischen

Theorie-Me­thode-Unter­scheidung. Diese Diagnose

Weber und Spengler liegen weltanschauliche

ist meines Erachtens jedoch weniger schlüssig. Zu

­Gräben, die in einer solchen Analyse schwerlich

den Dingen komme ich weiter hinten noch einmal

­unberücksichtigt bleiben können. 17 Hier entgeht Castells allerdings, dass Lefebvre seine

ausführlich (Kapitel 5.2). 21 Dass Harvey hier explizit für einen neu ausgearbeite-

Privilegierung des Urbanen auf einer theoretisch/

ten „dialektischen Materialismus“ (1988, 302)

philosophischen Ebene vornimmt. Die Problematik

­plädiert, ist vermutlich als eine gezielte, aber nur

der Kausalität kommt aber in erster Linie dann zum

­angedeutete Provokation zu verstehen. Die enge

Tragen, wenn ein solches Denken in die Sphäre des

Verbindungslinie des dialektischen Materialismus

Sozialen rückübertragen wird. Auf der theoretischen

zu e ­ iner stalinischen und dogmatischen Marxinter-

Ebene dagegen ist das Nachdenken über die Wir-

pretation diskutiert Harvey dabei genauso wenig wie

kungsmacht des Räumlichen und des Objekthaften nicht nur legitim, sondern auch notwendig, erfordert

Lefebvres Verhältnis zu diesem Konzept. 22 Die Abgrenzung zwischen urbanism (Urbanismus)

allerdings ein Bewusstsein von der Kausalitäts-Pro-

und urbanity (Urbanität) ist nicht ganz eindeutig. Das

blematik; ein solches Bewusstsein ist bei Lefebvre

wird etwa dann deutlich, wenn Louis Wirths berühm-

aber zweifellos vorhanden. 18 Zu ergänzen ist vielleicht, dass sich Castells in spä­ teren Jahren von einer Marx’schen Perspektive ab­ gewandt hat und zu einem Protagonisten einer neo-

tes Essay Urbanism as a way of life (1938) im Deutschen als „Urbanität als Lebensform“ übersetzt wird. 23 Harvey geht an einer Stelle sogar so weit, dass er ­erklärt, die Wahl der ökonomischen Basis als Funda-

positivistischen Netzwerkgesellschaft konvertiert ist.

ment der Analyse selbst sei ein verhandelbarer Aus-

Andy Merrifield, der britische Lefebvre-Erklärer

gangspunkt (1988, 292).

328

24 Insbesondere in The Limits to Capital ([1982] 2006).

umfassenden Gesellschaft als „Welt-Stadt“ be-

25 Das würde auch erklären, weshalb etwa Jacques

zeichnet. Verloren geht bei dieser Übersetzung der

Derrida in „politischem Schweigen verharre“ (1990,

Begriff des Planetarischen, den Lefebvre an dieser

117).

Stelle eigentlich verwendet: „La révolution urbaine

26 Harvey diskutiert hier erneut das Verhältnis von Raum und Form. Er erklärt, dass letztlich weder

est une phénomène planétaire.“ (1970, 152) 31 Der Ansatz von Lefebvre passt gut zu dem von Bruno

Raum noch Zeit eigenständige Bedeutung erlangen

Latour ausgeführten Begriff „Panorama“ (2010,

könnten, die unabhängig vom materiellen Prozess

316). Oliver Marchart, der dieses Konzept aus­

ist. Nur durch die Untersuchung des Letzteren

führlich diskutiert, weist darauf hin, dass, wenn von

könne der „eigentliche Grund“ (1990, 204) gefun-

einer „panoramischen Theorie“ die Rede sein soll,

den werden; ebenso würde die gebaute Form kei-

die Totalität der Gesellschaft im Spiel sein muss.

neswegs soziale Praktiken determinieren, so sehr

Eine solche Theorie müsse den Nachweis erbringen,

das die Planer auch versuchen würden. Harvey, und

dass ein bestimmter Teilaspekt „von universeller Re-

das hebt ihn meines Erachtens positiv von späteren

levanz“ ist (2013, 394). Diese universelle Relevanz

postmodernen Ansätzen in der Geografie heraus, ist

ist genau das, was die planetarische Dimension von

also durchaus vorsichtig beim originären Projekt der

Lefebvres Stadttheorie ausmacht.

Geografie, den Raum als ontologische Kate­gorie zu privilegieren. Nicht das Räumliche ist für ihn die erste (die grundlegende) Instanz, sondern das Materielle (das Ökonomische). 27 Marchart verortet den Postfundamentalismus ­deshalb auch folgerichtig nicht als postmoderne, sondern als moderne Theorie (2013, 32). 28 Harvey wendet sich in diesem Zusammenhang des

32 Lefebvre zählt darunter – mit deutlichem, aber nicht expliziertem Bezug auf Foucault – die Analyse der „Probleme der Gefängnisse, der psychiatrischen Krankenhäuser, der Antipsychatrie und all der verschiedenen konvergierenden Repressionen“, die „für die Kritik der Macht“ zwar „eine beträchtliche Bedeutung“ hätten (1974b, 140), aber auf den „psychologischen oder psychoanalytischen Aspekt

Öfteren gegen „Derridas Gespenster“ (vgl. auch

beschränkt“ blieben und deshalb nicht „bis zur poli-

­Kapitel 5.1). Derridas „ultimative poststrukturalisti-

tischen Ebene“ vorstoßen würden (1974b, 172).

sche Fantasie“ rufe eine „geisterhafte Neue Interna-

­Allerdings wirkt diese Kritik aus heutiger Sicht ziem-

tionale“ aus, eine Bewegung ohne Partei, ohne Land

lich unausgeführt, und es stellt sich die Frage, ob

und ohne Gemeinschaft (1996a, 8). Damit möchte

nicht die Verbindung zwischen dem psychoanaly­

Harvey sich nicht anfreunden. Es würde, so lautet

tischen Denken und dem Denken des Politischen –

sein Einwand, mehr als Konzepte und Gedanken (so

ein Denken, von dem Lefebvre nie besonders weit

wichtig die auch seien) benötigen, um „auf emanzi-

entfernt gewesen ist – eine politische Positionierung

patorische Weise sozio-ökologische und politischökonomische Veränderungen“ zu bewirken (1996a, 433). Auch wenn solche Ideen wie die von Derrida

gerade erst ermöglicht. 33 Sämtliche in diesem Absatz aufgeführten Textstellen finden sich bei Benjamin (2009, 75/76).

im akademischen Feld neuerdings als radikal und

34 Auch in seiner Science-Fiction Heliopolis. Rückblick

­revolutionär betrachtet werden würden, so hätten

auf eine Stadt (1949) spricht Jünger von einer „pla-

sie doch keinerlei materiellen Einfluss (1996a, 433). 29 Allerdings gesteht Harvey zu, dass eine solche Bedeutungsverschiebung (vom Ökonomischen zum ­Urbanen) möglicherweise in Zukunft bevorstehen

netarischen Ordnung“ (1949, 206), allerdings ohne den Begriff dabei mit einer besonderen Bedeutung aufzuladen. 35 Zudem findet sich bei Lefebvre die Verbindung zwi-

könnte. Tatsächlich seien die Kräfte der Urbanisie-

schen dem Planetarischen und dem Postkolonialen,

rung stark und mächtig und würden einen zentralen

die einen weiteren Ausgangspunkt für den planetari-

Platz in der Geschichte der Welt anstreben. Insofern

schen Urbanismus darstellt: „Die doppelte Ausbeu-

könnte Lefebvres Hypothese als eine Möglichkeit

tung des Produzenten als solchen und des Konsumen-

­interpretiert werden, die in der Gegenwart bereits

ten als solchen überträgt die koloniale Erfahrung in das

enthalten ist (1988, 311).

Innere des ehemals kolonialistischen Volkes. Diese

30 In der deutschen Übersetzung von La révolution ur-

Rückwirkung des Planetarischen auf das ­Nationale

baine wird das virtuelle Objekt einer die ganze Erde

nimmt unterschiedliche Formen an.“ (1974b, 171)

329

36 Diese Begründung ist bei Brenner und Schmid (2014, 163) zu finden. 37 Michelle Buckley und Kendra Strauss (2016, 617 f.) kritisieren die Hypothese von der planetarischen Urbanisierung aus einer anderen Richtung, nämlich mit dem Vorwurf, dass sich dort nicht mit feministischen Positionen zum Verhältnis von Stadt und Land auseinandergesetzt werde.

330

5 Dinge und Gespenster

331

5.1 Heimsuchungen In seiner Schrift Das Unbehagen der Kultur reflektiert Sigmund Freud über die Stadt „an sich“ und schlägt ein Gedankenexperiment vor. Was wäre, so überlegt Freud, wenn man die „phantastische Annahme“ macht, dass eine Stadt „nicht eine menschliche Wohnstätte“ sei, „sondern ein psychisches Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustande gekommen war untergegangen ist“ (1930, 15)? Freud wendet das traditionelle urbanistische Denken der Stadt als Organismus ­psychoanalytisch und gibt ihr (der Stadt) ein Wesen (verleiht ihr eine Seele). Allerdings macht er das nicht, um die Stadt zu pathologisieren, sondern um ihr das aufzubürden, was jedes Wesen mit sich herumträgt, nämlich eine eigene Vergangenheit, in der das Vergangene nicht vergangen ist, sondern nachhallt, Dinge bewirkt, verarbeitet. Kaum ausgesprochen, schreckt Freud vor seiner eigenen Annahme jedoch auch schon wieder zurück: „Es hat offenbar keinen Sinn, diese Phantasie weiter auszuspinnen, sie führt zu Unvorstellbarem, ja zu Absurdem.“ (1930, 15) Freud, so scheint es, hat geradezu Angst davor, seinen Gedanken weiterzudenken. Die prompte Abkehr vom eigens vorgeschlagenen Ansatz begründet Freud damit, dass die Mutmaßung bei genauerer Betrachtung unsinnig wäre, weil „das historische Nacheinander“ – räumlich dargestellt (in der Stadt) – nur durch „ein Nebeneinander im Raum geschehen“ könne; derselbe Raum aber vertrage nicht „zweierlei Ausfüllung“ (1930, 15). Mit dieser etwas fadenscheinigen Begründung (Warum eigentlich sollte ein Raum nur einmal ausgefüllt sein können?) wendet sich Freud, und das wirkt dann tatsächlich ein wenig überhastet, nicht nur von seinem Gedankenexperiment, sondern auch insgesamt von der Stadt ab. Dieses Abwenden fällt dann auch Jacques Lacan auf, der ein paar Jahre später in seinem ausführlichen Durchgang durch Freuds Unbehagen notiert: „Diese Stadt, sind wir heutzutage so leicht damit fertig? Was soll’s.“ (1996, 361) Im letzten Teil meiner Studie zur unbesetzten Stadt möchte ich Freuds essentialistische Überlegung („in der Stadt ist all das aufgehoben, was einmal in ihr angefangen wurde“) aufgreifen und weiterverfolgen. Meine Hypothese ist ge332

wissermaßen, dass die unbesetzte und unbesetzbare Stadt zwar fundamentalistisch nicht zu fassen ist, dass sie aber gleichwohl besetzt, oder vielleicht besser, heimgesucht wird, und zwar von all den Dingen und Ereignissen, die je in ihr stattgefunden haben, und vielleicht auch von den gescheiterten ­Unternehmungen, die gerade nicht stattgefunden haben, aber geplant oder ­gedacht gewesen sind. Damit möchte ich an den bis hierhin ausgebreiteten genealogischen Ansatz anschließen und eine Radikalisierung des Versuchs vorschlagen, Stadt zu ontologisieren (anstatt so etwas komplett abzulehnen, auch wenn es gute Gründe für eine solche Haltung geben mag). Angeleitet wird diese Radikalisierung von Jacques Derridas Hantologie und der dort ­entfalteten Figur des Gespensts. Genealogie und Hantologie verhandeln als poststrukturalistische Theorieelemente (was der Sache meines Erachtens näher­kommt als der Ausdruck „Methoden“) beide das Thema der anwesenden Abwesenheit und sind somit gewappnet, sich jenen Heimsuchungen anzu­ nähern (und ihnen auf den Grund zu gehen), vor denen Freud so zurückgeschreckt ist. Es geht darum, das urbanistische Projekt mit genealogischen Hantologien zu ergründen (oder auch zu ent-gründen) und dafür einen Zugang zu den abwesend anwesenden Wissensbeständen zu legen, die dort eingeschrieben sind.



In Marx Gespenster (2004 [1993]) entwickelt Derrida sein Konzept der Hantologie, also die „Lehre vom Spuk“, die Wissenschaft vom „gesellschaftliche[n] Modus der Heimsuchung“ (2004, 142). Das Gespenst, so berichtet Derrida „stattet uns einen Besuch ab“, immer wieder, „Besuch auf Besuch, da es wiederkommt, um uns zu sehen“ (2004, 142). Das Gespenst ist eine „paradoxe Verleiblichung“ (2004, 19), ein Phantom, das „niemals stirbt“, das „stets zukünftig und wiederkünftig“ bleibt (2004, 139). Das Gespenst ist dabei, so die These von Derrida, „keine Figur unter anderen“, sondern „die Figur, die hinter ­a llen Figuren steckt“ (2004, 166). Die unvorhergesehenen und unvorherseh­baren Wiederkünfte sind immer ein Ereignis. Das Ereignis und das Gespenst sind sozusagen strukturell miteinander verwandt. Das Ereignis gewinnt seine ­Bedeutung dadurch, dass es nicht vorhersagbar ist, dass es sich der linearen 333

konsekutiven historischen Entwicklung entzieht, dass es hereinbricht, aus heiterem Himmel, unerwartet und meist auch ungelegen. Diese Eigenschaften verbindet das Ereignis mit der Figur des Gespensts. Auch das Gespenst ist etwas, dessen Auftreten sich der Vorhersagbarkeit und der vollkommenen ­Erklärbarkeit entzieht. Die Wiederkunft des Gespensts ist das Ereignis. Das Gespenst, so formuliert Derrida, „ist vom Ereignis“ (2004, 142), und es stellt die „Frage des Ereignisses als Frage des Spuks“ (2004, 25). Die „Gespensterlehre“ der Hantologie (2004, 39) beschäftigt sich – wie ihr bürgerlicher Verwandter (die Ontologie)1 – mit dem, was ist, was existiert; aber sie verschiebt dieses Sein von der Anwesenheit in die Abwesenheit, zum anwesenden Abwesenden und auch zum abwesenden Anwesenden: „Spuken heißt nicht gegenwärtig sein, und man muß den Spuk schon in die Konstruktion eines Begriffs aufnehmen. […] Das ist es, was wir hier eine Hantologie nennen möchten.“ (2004, 221) Es ist die Konstitution durch Abwesenheit, die das Wesen der Hantologie ausmacht.2 Derrida schlägt für den Modus der Abwesenheit den Ausdruck der Ontopo­ logie vor, mit dem Ontologie (die Lehre vom Sein) und Topologie (die Systematik des Daseins) zusammengebracht werden. Ontopologie ist eine „Axiomatik, die den ontologischen Wert des Anwesend-Seins (on) untrennbar an seine Situation bindet“ (2004, 18). Nur das, was exakt verortet werden kann, hat ­Bedeutung und Berechtigung, nur was „an die stabile und präsentierbare Bestimmung einer Lokalität (den topos des Territoriums, des Bodens, der Stadt, des Körpers im allgemeinen)“3 anzudocken ist (2004, 118). Das Gespenst lässt das nicht mit sich machen. Gespenster sind flüchtige Wesen. Sie haben einen abwesenden Körper als Erkennungsmerkmal, und sie haben sich in ihrer ­eigenen Abwesenheit eingerichtet. Sie besetzten einen Zwischenraum zwischen Dasein und Nicht-Dasein, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Sie sind dabei aber auch nicht nicht anwesend. Sie sind eine Verleiblichung (wenn auch eine wenig körperliche) von Idee, Angst und Geist. Gerade in dieser Verleiblichung unterscheiden sie sich von den gar nicht körperlichen Geistern, Ideen und Gedanken. Das Gespenst ist anwesend in seinem Spuk, aber es lässt sich nicht greifen und festhalten. Es ist da, aber es ist auch nicht da. Und es verschwindet. Dieses Verschwinden ist die Aufhebung des Vorort- und 334

­Daseins, ein Wegbewegen von ebenfalls ontologischer Bedeutung, eine Dislozierung (bei Laclau haben wir es als Dislokation kennengelernt). Die „Verräumlichung einer Deplatzierung“ ist wiederum die Voraussetzung jeder Platzierung (ihre „positive Bedingung“), und auch hier zeigt sich wieder das unaufhörliche Spiel von Besetzung/Nicht-Besetzung, welches die Dinge in Bewegung hält (2004, 118). Derrida wählt das Beispiel der „nationalen Verwurzelung“, die sich je „im Gedächtnis oder in der Angst einer ihres Platz beraubten – oder mit einem möglichen Verlust des Platzes konfrontierten – Bevölkerung“ verwurzelt (2004, 118). Die Gespenster sind die Transmitter eines solchen aus den Fugen geratenen Raums. Sie lassen ihn entstehen und halten ihn offen, indem sie sich darin aufhalten. Gespenster spuken, Gespenster machen Angst. Genau darin entfalten sie ihre Dynamik. Derrida stellt die von ihm ausgebreitete Ereignis- und Gespensterlehre in die Traditionslinie mit seinem Begriff der Dekonstruktion. Das Gespenst, so Derrida, ist das „Motiv der Dekonstruktion“ (2004, 19). Die Dekonstruktion als das Prinzip einer „radikalen und unabschließbaren […] unendlichen Kritik“ (2004, 127) und die Figur des Gespensts haben gemeinsam, dass sie die herkömmliche wissenschaftliche „binäre oder dialektische Logik notwendig überschreit[en]“ (2004, 94) und damit eine Kritik des Objektivismus bereits in ihrem Bauplan enthalten. Beide Ansätze (die Gespenstlehre, die Dekon­ struktion) verbindet auch die Art und Weise, auf die sie in die Vergangenheit blicken. Beide beschäftigen sich (hierin auch der Genealogie ähnlich) mit dem gleichen Objekt, nämlich mit dem Erbe. Beides sind Erbwissenschaften, die sich für den interessieren, der erbt, und für das, was das Erbe mit sich bringt, was es auslöst, aufbürdet und verspricht. Die Erbschaft ist eine Aneignung, die „unter der Bedingung des anderen“ steht, und zwar „des toten anderen, mehr als eines Toten, eines Geschlechts von Toten“ (2004, 151). Auch die Hantologie selbst ist ein Erbe: Sie ist eine Erbschaft des Marx’schen Denkens. Derridas Gespensterlehre erkennt Karl Marx als ihren eigenen und legitimen Vorfahren an. Das macht sie aus Sicht einer kritischen Stadtforschung so interessant. Derridas Hantologie ist nämlich nicht nur von gleicher Herkunft wie die Letztgenannte (und dabei doch grundverschieden). Sie macht vor allem auch ein Angebot, wie sich jenem Herkommen genähert 335

werden kann, auf welche Art und Weise es das eigene Sein beeinflusst und ­determiniert. Das Marx’sche Erbe, das Derrida mit seiner Hantologie antritt, gründet sich im Begriff des Gespensts,4 das bei Marx eine äußerst exponierte Rolle spielt. Marx schreibt in seinen Texten ausgesprochen häufig von diesen Wesen. So berichtet er etwa in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte über die zahlreichen „Geister, die in Gespenster verwandelt“ (1852, 185) sind. In diesem Text finden sich die „Gespenster der Römerzeit“ (1852, 97), das „Gespenst der Kaiserzeit“ und das „Gespenst der alten Revolution“ (1852, 98). Aber auch „das rothe Gespenst“ taucht hier schon auf, das von den Kontrerevolutio­ nären beständig „heraufbeschworen und gebannt“ wird (1852, 119). Marx schreibt über den „Schatten des Staatsstreiches“, der „den Parisern als Gespenst so familiär geworden [war], daß sie nicht an ihn glauben wollten, als er endlich in Fleisch und Blut erschien“ (1852, 170). Auch berichtet er von der „sozialen Republik“, die in den Junitagen 1848 „im Blute des Pariser Proleta­ riats erstickt“ worden ist, um danach „als Gespenst“ umzugehen (1852, 117). Schließlich eröffnet Marx den Gegensatz zwischen dem (wahren) Bemühen, „den Geist der Revolution wiederzufinden“, und den (falschen) ­A nstrengungen, „ihr Gespenst wieder umgehen zu machen“ (1852, 98). Die historische Analyse des frühen Marx, das lässt sich bereits festhalten, ist durchtränkt von der Figur des Gespensts. Der eigentliche Höhepunkt des gespenstischen Treibens findet sich noch etwas früher, und zwar in der deutschen Ideologie. Hier lässt Marx in seiner Polemik gegen Max Stirner (gegen den „heiligen Max“) eine ganze Gespensterarmee aufmarschieren. Die generelle Kritik von Marx an Stirner lautet, dass dieser die „spekulative Idee“ und die „abstrakte Vorstellung“ zur treibenden Kraft der Geschichte mache und dadurch „die Geschichte zur bloßen Geschichte der Philosophie“ degradiere (Engels/Marx 1846, 110). Eine solche Geschichte, so schreibt Marx, werde dadurch zur „Geschichte der vorgeblichen Ideen, zu einer Geister- und Gespenstergeschichte“, wohingegen die „wirk­ liche, empirische Geschichte“, also die eigentliche „Grundlage dieser Gespenstergeschichte“, nur dazu gebraucht werde, die „Leiber für diese Gespenster herzugeben“ (1846, 110). Stirner, so formuliert Marx in seiner ätzenden 336

Kritik, schreibe „unverhüllte Gespenstergeschichte“ (1846, 110). Die Attacke gegen Stirner ist dabei eingebettet in eine allgemeine Abgrenzbewegung vom Spuk und von den Gespenstern als typische Erzeugnisse aus dem Reich der „Philosophie und [der] sonstigen Theorie“ (1846, 27).5 Es geht nicht nur gegen Stirner, es geht gegen das spekulative Philosophieren insgesamt. Marx entdeckt in seiner Textexegese bei Stirner ganze zehn Gespenster, die er – um sie ad absurdum zu führen – durchnummeriert und in einer Art „arithmetische[n] Begierde“ (Derrida 2004, 191) in einer Liste katalogisiert. Werfen wir einen Blick auf die von Marx zusammengestellte illustre Gespensterrunde, die einerseits zeigt, wie sich Marx über Stirner lustig macht (und mit der er die Stirner’schen Spekulationen als reinen Spuk entlarven möchte), die andererseits und vielleicht auch vor allem die exponierte Stellung des Begriffs des Gespenstes im zeitgenössischen Philosophie-Diskurs des 19. Jahrhunderts spiegelt. Das von Marx bei Stirner identifizierte Gespenst ( I ) ist das höchste Wesen, also Gott. Alle Kritik, so lässt sich an die Marx’sche Grundregel erinnern, gründet auf der Kritik der Religion, weshalb Marx an dieser Stelle auch schreibt, dass über diesen „unglaublichen Glauben“ kein Wort mehr verloren werden müsse (1846, 138). Gespenst (II ) ist „das Wesen“. Marx postuliert, dass das, was „unser guter Mann“ (also Stirner) über „das Wesen“ sage, sich nach „Abzug des aus Hegel Abgeschriebenen“ auf „pomphafte Worte und armselige Gedanken“ beschränke und daher keiner weiteren Überlegung bedürfe (1846, 138). Gespenst (III ) ist die „Eitelkeit der Welt“, über die „nichts zu sagen“ sei, als dass aus ihr die Gespenster ( IV ) hervorgingen, nämlich „die guten und bösen Wesen“ (1846, 138). Hierüber „wäre zwar etwas zu sagen“, so Marx, bei Stirner werde aber gerade dazu „nichts gesagt“ (1846, 139). Daher könne auch gleich – Marx findet zunehmend Gefallen am Stilmittel der Polemik – zu Gespenst ( V ) übergegangen werden, zum „Wesen und sein[em] Reich“ (1846, 139). Dass bei Stirner hier schon wieder „das Wesen“ auftaucht, dürfe „bei unsrem ehrlichen Schriftsteller“ nicht verwundern, da dieser alles immer mehrmals sage, damit er nicht missverstanden wird (1846, 139). Das Wesen werde hier, so Marx weiter, als „Inhaber eines ‚Reiches‘“ bestimmt und eben als „das Wesen“, worauf es sich „flugs“ in das Gespenst ( VI ) 337

verwandle, in „die Wesen“ (1846, 139). Diese anzuerkennen wäre bei Stirner nichts anderes als Religion. Das „Reich (der Wesen)“ sei bei Stirner, so exzerpiert Marx lakonisch und gallig, genau das: „ein Reich der Wesen“ (1846, 139). Plötzlich trete nun Gespenst ( VII ) auf den Plan, und zwar „der Gottmensch, Christus, ohne alle sichtbare Veranlassung“ (1846, 139). Marx berichtet, wie der „sentimentale Heilige“ Stirner mit „Tränen in den Augen“ über das Unverständnis der Menschen gegenüber diesem Gespenst verzweifle (1846, 138) und, nun zitiert er Stirner wörtlich, „wie sich die kräftigsten Christenmenschen abgemartert haben, um ihn zu begreifen“ (Stirner 2002, 21). Das Gespenst ( VIII ) ist das „grauenhafte Wesen“ (Stirner im Original), nämlich der Mensch. Marx kolportiert, dass „es unsrem wackeren Schriftsteller“ graut und dass er „in jedem Menschen“ einen „grausigen Spuk“ (Zitat Stirner) und einen „unheimlichen Spuk“ (Zitat Stirner) erkenne, in dem es „umgeht“ (Zitat Stirner). Gespenst ( IX) ist dann der „Volksgeist“ und Gespenst ( X) einfach „Alles“, oder, wie Marx berichtet, ein „halbes Dutzend anderer, einander wildfremder Dinge“ wie der Heilige Geist, die Wahrheit, das Recht oder das Gesetz, die von Stirner „in der Klasse Gespenster“ zusammengeworfen werden (1846, 139). Das Gespenst kommt bei Marx also nicht nur mit großer Häufigkeit vor, es ist auch in ziemlich komplexer Weise ausgebildet. Auf der einen Seite ist es eindeutig etwas Negatives, eine Kategorie für die beißende Kritik an Stirners Materialismusausarbeitung, etwas, was Marx allerdings von Stirner übernimmt – jener ist ja der eigentliche Gespenster-Autor. Bei Stirner ist die Rede vom Gespenst gleichfalls ziemlich allgegenwärtig, und zwar ebenso mit der Absicht (das übergeht Marx), es als Negativfolie zu den Ansätzen des mechanischen Materialismus aufzubauen. Marx inszeniert das Gespenst jedenfalls mit einer ziemlich ähnlich veranlagten Intention wie Stirner, beides Mal symbolisiert es die „in den Köpfen der Menschen spukende Tradition“ (Engels 1890, 463), die, darin scheinen sich Marx, Engels und Stirner einig zu sein, für den Verlauf der Geschichte eine zentrale Rolle spielt. Auf der anderen Seite geht das Gespenst im Marx’schen Denken aber nicht nur als Geist des Konservatismus um, sondern eben auch als rotes Gespenst, als Heimsuchung der herrschenden Diskurse und Verhältnisse. Das Gespenst ist 338

immer eine Idee, die die Wirklichkeit heimsucht: eine Idee aus der Vergangen­ heit, aber auch, und das wird gleich in den Fokus rücken, eine Idee aus der Zukunft. Komplex wird die Figur des Gespensts nicht zuletzt dadurch, dass – schon in den eigenen Texten – das Marx’sche Denken selbst (das eigens entfesselte „rote Gespenst“) darin aufgeht. Die Marx’sche Lehre nimmt nämlich selbst gespenstische Formen an, sie übernimmt (zumindest in Teilen) die Logik des Gespensts.6 Die Theorie von Marx hat hier ebenso die Gestalt eines heimsuchenden Gespensts, das sich rational (objektiv, wissenschaftlich) nie ganz einhegen lässt. Eine gespenstische Theorie, die aus den Fugen geraten ist, aus den Fugen geraten lässt. Ein Denken, das selbst ein Sensorium entwickelt „für die spektrale Anwesenheit des Abwesenden“ (Marchart 2013, 266). Das Gespenst ist für Marx vielleicht gerade deshalb so wichtig und präsent, weil er ahnt, dass sein eigenes Denken dazu bestimmt ist, zum Inbegriff des Gespenstischen zu werden. Auch Derrida unternimmt einen Durchgang durch die Gespensterliste der deutschen Ideologie und stellt die Frage nach den Gründen für diese Gespensterjagd und der dahinter aufscheinenden „Marx’schen Wut“ (2004, 190). Dabei interessiert ihn vor allem das achte Gespenst, also „der Mensch“. Derrida schlägt eine anthropologisch-psychoanalytisch orientierte Interpretation der Marx’schen Ausführungen vor: Die Nähe des Menschen zum Gespenstischen, so Derrida, lässt ihn (wen? Marx, Stirner, alle …) erschrecken. Das „Nahe und das Eigene“ behalten stets einen „gespenstischen Kern“, das „Heimlichste wird zum Unheimlichsten“, das „ökonomische oder ökologische Beisichsein, das Zuhause des oikos, das Nahe, das Vertraute, das Häusliche und Familiäre, will sagen: das Nationale (das Heimliche) macht sich selbst angst“, es fühlt sich „im eigenen Geheimnis seines Inneren besetzt durch das Fremdeste, das Entfernte, das Bedrohliche“ (2004, 198). Das Gespenstische ist im Menschen, und es ist das, was der Mensch an und in sich fürchtet. „Der Mensch macht sich (zur) Angst. Er wird zu der Angst, die er einflößt.“ (2004, 199) Und das ist es dann auch, was das Selbst herstellt, was den ontologischen Modus der Hantologie ausmacht. „Die Selbstheit des Selbst konstituiert sich“ in dieser Angst und „niemand wird ihr entkommen sein“, sagt Derrida, „weder Marx noch die Marxisten, noch ihre Todfeinde“ (2004, 199). 339

Marx, so resümiert Derrida, stellt in seinem Gespenst zwar „das Fatale daran heraus, aber beim anderen, eben bei Sankt Max [Stirner]: Er stellt es aus sich heraus sich gegenüber“ (2004, 199). Daher haben Marx und Stirner auch so viel gemein. Beide vereint das Motiv der Gespensterjagd, „diese Logik und diese Topologie der paradoxen Jagd“ (2004, 191), die den Rahmen bildet und das Bild erst zusammensetzt. Derrida schreibt, dass „jeder mit seinen Gespenstern liest, denkt, handelt, schreibt, auch wenn er es auf die Gespenster der anderen abgesehen hat“ (2004, 190). Das Gespenst entfaltet in den Figuren der Jagd und der Heimsuchung einen ganz eigenen Modus, der den Jäger genauso heimsucht wie den Gejagten: den Modus der Verschwörung und Heimsuchung. Die beiden Jäger – Marx und Stirner – sind „die Verschworenen einer nämlichen und selbigen Verschwörung“ (2004, 191). Daher laufen die „dekonstruktiven Kritiken, die Marx den ‚historischen Konstruktionen‘ und den ‚Montagen‘ Stirners widmet [immer] Gefahr, als Bumerang zu ihm zurückzukehren“ (2004, 192). In seiner Marxanalyse verweist Derrida aber auch auf ein Gespenst, das in der Marx’schen Liste nicht explizit genannt wird, und zwar auf das Gespenst im Ding und in der Ware. Auch hier lohnt ein Blick in das Original. Marx nimmt in seiner Abhandlung über den Fetischcharakter der Ware und über den Unterschied zwischen ihrem Gebrauchswert und Wert einen Tisch zum Beispiel. „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr […]. Die Form des Holzes z. B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“ (1883, 100) 340

Und in eine Fußnote ergänzt Marx, dass das Tischding tatsächlich tanzt: „Man erinnert sich, daß China und die Tische zu tanzen anfingen, als alle übrige Welt still zu stehn schien.“ (1883, 100) Die Analyse von Derrida lautet, dass Marx die fundamentale Bedeutung der gespenstigen Verdinglichung in der Warenform erkannt habe, und daher gleich zu Beginn in aller Deutlichkeit warne, es sei „gar sehr kompliziert mit der Ware, es ist verzwickt, verfänglich, lähmend, aporetisch, vielleicht unentscheidbar“ (2004, 205). Derrida kommentiert mit Vehemenz: „Eine Warnung, die bis zum Ende der Zeiten all jenen Dummköpfen höhnisches Gelächter entlocken wird, die natürlich kein Wort davon glauben.“ (2004, 205) Derridas Spitze richtet sich gegen das rationalistische Denken, gegen die Wissenschaftsgläubigkeit seiner Zeitgenossen, gegen die „wissenschaftlichen Sozialisten“ und gegen das Postulat der Anwesenheit, kurz gegen diejenigen, die, „überzeugt, wie sie sind“, immer nur das glauben „zu sehen, was sie sehen, nämlich alles, was zu sehen ist, und nur, was zu sehen ist“ (2004, 205). Die Ware, so Derridas Marxlektüre, spukt „im Ding, ihr Gespenst sucht den Gebrauchswert heim“ (2004, 207). Wie berechtigt diese Skepsis ist, führt Derrida in einer längeren Passage aus, in der er das gespensterhafte Wesen des Tischs in seiner Warenform in seinen Worten verdichtet: „Marx hat also gerade den Auftritt des Tischs und seine Verwandlung in ein sinnlich übersinnliches Ding angekündigt, und schon steht er da, und er hält sich nicht nur aufrecht, sondern er stellt sich auf seine vier Füße, er erhebt sich und richtet sich auf […]. Es genügt ihm nicht, diesem hölzernen Tisch, sich aufrecht zu halten, ‚er steht nicht nur‘ mit den Füßen auf dem Boden, ‚sondern er stellt sich‘ – und Marx setzt nicht ‚sozusagen‘ hinzu, wie einige französische Übersetzer ihm untergeschoben haben, die über die wortwörtliche Kühnheit seiner Beschreibung erschrocken waren –, er stellt sich auf den Kopf, einen Hitzkopf, denn er ist zu einer Art störrischen, dickköpfigen, starrsinnigem Tier geworden, das sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf (stellt). Die Erscheinung einer seltsamen Kreatur, die Front macht vor den anderen, vor ihresgleichen: gleichzeitig Leben, Ding, Tier, Objekt, Ware, Automat – mit einem Wort: Gespenst. Dieses Ding, das nicht mehr ganz und gar Ding ist.“ (2004, 207) 341

Der Tisch als Ware entfaltet ein Eigenleben, er handelt (steht aufrecht), die Warenform fährt in ihn hinein wie ein Geist, verwandelt ihn zum Gespenst. Und nun fängt er auch noch an zu tanzen. „Sich ‚aus freien Stücken‘ bewegend, mit einer Kopfbewegung, die aber dem ganzen Körper, von Kopf bis Fuß, gebietet, hölzern und dematerialisiert, scheint das Tisch-Ding sich selbst zu begründen, sein eigener Anfang und sein eigener Herr zu sein. Er emanzipiert sich aus eigenem Antrieb: Ganz allein, autonom und Automat, bewegt sich seine phantastische Silhouette von selbst, frei und ungebunden.“ (2004, 209) Interessant ist diese Analyse aus meiner Perspektive auch deshalb, weil uns der Tisch schon weiter vorne begegnet ist, nämlich bei Hannah Arendt (vgl. S. 216). Dort war der Tisch das Symbol für ihre Theorie vom öffentlichen Raum, welches das Zwischen versinnbildlicht, das zugleich trennt und verbindet und vor allem verhindert, dass wir zusammenfallen. Der öffentliche Raum wiederum ist auch bei Derrida in Sichtweite, denn das Tisch-Gespenst lebt ebenfalls in einem Zwischen, zwischen Leib und Geist, zwischen anwesend und abwesend, zwischen öffentlich und privat, oder, wie Derrida es sagt, da, „wo die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten sich unaufhörlich verschiebt“ (2004, 77). Wenn diese „entscheidende Grenze“ sich stets verändere, dann deswegen, weil das, „was ganz allgemein die Verräumlichung des öffentlichen Raums gewährleistet und determiniert, die Möglichkeit selbst der res publica und die Phänomenalität des Politischen, weil dieses Element selbst weder lebendig noch tot ist, weder abwesend noch anwesend: Es spukt.“ (2004, 77) Der tanzende und grenzverschiebende Tisch gleicht in seinem Dazwischensein nicht nur dem öffentlichen Raum, sondern er beschreibt zugleich auch den Modus des Politischen – bei Arendt definiert als die konstitutive Lücke; in meiner Studie als die unbesetzbare Stadt – als den Modus des Grenzgängigen und Gespenstischen. Für Derrida (und auch für meine These) ist der Marx’sche Tisch schließlich auch deshalb so wichtig, weil er (der Tisch) nicht nur die komplexe Warenform und ihre Verdinglichung repräsentiert und den Raum 342

des Politischen skizziert, sondern auch, weil er – meist – aus Holz ist. Holz wiederum (im Griechischen: hyle), darauf macht Derrida aufmerksam, re­ präsentiert die Materie – also das, was bei Lefebvre der Rest x ist (vgl. S. 101). Derrida argumentiert, dass Marx (man könnte ergänzen: genauso wie Arendt), „ein Immateriell-Werden der Materie ins Bild“ setzt (2004, 208). Das ist es, was auch das Konzept des Gespenstes leisten soll: Aus dieser Sicht ist Derridas Hantologie nicht zuletzt eine – mit Marx hergeleitete – neue Form des Materialismus (vgl. auch Kapitel 1.1 und 5.2). Bei der Analyse des Tischs wird die Strategie sichtbar, die Marx beim Umgang mit den Gespenstern verfolgt. Derrida schreibt, dass Marx das Gespenst zwar klassisch vertreiben möchte, dass er alles dafür tut, die „Gespenster denunzieren, verjagen oder exorzieren“ zu können, dass er aber – und das ist neu – dieses Vorhaben „nicht durch irgendeinen Gegenzauber, sondern durch kritische Analyse“ verwirklichen möchte (2004, 71). Mit kritischer Theorie gegen Gespenster kämpfen zu wollen ist wahrscheinlich lohnender und vielversprechender, als es viele andere Austreibungsformen gewesen sind. Aber Marx bleibt in seinem Ansinnen dennoch insofern konventionell, als dass er sich eben nicht auf die „Logik des Gespensts“ (2004, 94) selbst einlässt. Derrida schreibt über Marx: „Er wird das Phantom beschworen haben wollen wie die Verschwörer des alten Europa, denen das Manifest den Krieg erklärt. So unsühnbar dieser Krieg auch bleibt, und so notwendig diese Revolution – er verschwört sich mit ihnen, um das Gespenstige des Gespensts in einem zu exorzieren und zu analysieren.“ (2004, 71) Exorzismus durch kritische Analyse, das ist bei Marx eine aktive und ziel­ gerichtete Tätigkeit, eine Praxis der Selbstversicherung und Selbstberuhigung. Eine Beruhigung, die beruhigt, indem sie das Gespenst des anderen ausschaltet. Der „wirksame Exorzismus gibt sich den Anschein, den Tod festzustellen, um zu töten. Er stellt den Tod fest wie ein Gerichtsmediziner, aber hier geschieht das, um den Tod zu geben.“ (2004, 71) Für Marx gab es immer eine „Grenze zwischen Gespenst und Wirklichkeit“, eine Grenze, die durch Utopie und Revolution überschritten werden sollte (2004, 60) – das ist das 343

kommunistische Projekt. Ein so gewähltes Ziel impliziert jedoch nicht zuletzt auch, dass es eine solche Grenze gibt, dass sie existiert. Marx, so Derrida, hat nicht aufgehört, „an die Existenz dieser Grenze als realer Schranke und begrifflicher Unterscheidung zu glauben“ (2004, 60). Marx möchte das Gespenst (symbolisiert im Philosophieren von Stirner) vernichten, es sich ein für alle Mal vom Halse schaffen. Aber dieser Plan geht deshalb nicht auf, weil sich Gespenster nicht so einfach austreiben lassen. Es ist gewissermaßen ein strukturelles Nichtaufgehen, das Gespenst widersetzt sich allen Exorzismen. Und das ist im Kern deshalb so, weil sie (die Gespenster) grenzüberschreitend sind, weil sie in der Lage sind, die Grenzen des Realen und die Grenzen des Gegenwärtigen zu überschreiten. Dieses Nicht-Aufgehen wiederum kehrt auch in jenem Fall wieder, wenn es der Marx’sche Geist selbst ist, der ausgetrieben werden soll. Denn genau das ist ein Exorzismus, der heute noch genauso verbreitet ist, wie zu Beginn der 1990er-Jahre, also zu dem Zeitpunkt, zu dem Derrida seinen Text geschrieben hat. Damals ist es besonders in Mode gewesen, nicht nur das Ende des Marxismus zu verkünden, sondern gleich das Ende der Geschichte. Derrida zeigt die Grenzen solcher Verkündungen. Wenn „eine neue, weltweite Unordnung ihren Neo-Kapitalismus und ihren Neo-Liberalismus zu installieren versucht, gelingt es keiner Verneigung, sich aller Gespenster von Marx zu entledigen“ (2004, 39). Auch Marx’ Gespenster sind aktive und widerstands­f ähige Wesen, die sich nicht so einfach vertreiben lassen, weder hier noch dort. Denn, wie Derrida herausstellt, eine undogmatische Analyse „Marx’scher Tradition [wird] noch lange unerlässlich bleiben“, vielleicht sogar – „und warum nicht“ – bis in alle Zeiten (2004, 94). Derrida postuliert: „Nicht ohne Marx, keine ­Zukunft ohne Marx.“ (2004, 29) Und das liegt nicht zuletzt daran, dass das Marx’sche Denken zum Gespenst geworden ist (dass es vermutlich schon immer Gespenst gewesen ist). Derrida weiß natürlich sehr gut, dass die von ihm vorgeschlagene Gespensterlösung bei den meisten Marxisten selbst keine Begeisterung auslöst. Er schreibt, dass es „leicht vorstellbar“ sei, dass „wir den Marxisten keine Freude machen (und allen anderen erst recht nicht)“, wenn das Marx’sche Denken zum Fundament einer Gespensterlehre erklärt wird, „im Sinn von 344

Gespenstern, unzeitgemäßen Gespenstern, die man nicht verjagen sollte, ­sondern sortieren, kritisieren, bei sich behalten und wiederkommen lassen“ muss (2004, 124).7 Derrida schafft mit seiner Hantologie einen unbequemen Zugang zum Marx’schen Denken, der sich „von einem gewissen Geist des Marxismus“ inspirieren lassen möchte, der „dem treu […] bleiben [möchte], was aus dem Marxismus im Prinzip immer zuerst eine radikale Kritik gemacht hat, das heißt ein Vorgehen, das bereit ist, sich selbst zu kritisieren“ (2004, 125). Ein Denken also, dass die Kritik zum konstitutionellen Element erhebt, eine Kritik, die sich selbst (das Kritische selbst) als gründendes Prinzip einfordert, trotz aller Schwierigkeiten, die sich damit eingehandelt werden, eine Kritik, die „explizit offen [ist] für ihre eigene Veränderung, ihre Neubewertung und ihre Selbstumdeutung“ (2004, 125). Die „Dekonstruktion der marxistischen Ontologie“, so bringt es Derrida auf den Punkt, legt sich „mit einer theoretisch-­ spekulativen Schicht des marxistischen Korpus an“ (2004, 125), nicht, um sie zu vernichten, sondern um ihren Geist zu bewahren. Eine solche Dekonstruk­ tion ist dabei „in letzter Instanz keine methodische oder theoretische Prozedur“, sondern die „Erfahrung des Unmöglichen, durch die sie immer kon­s­t i­ tuiert sein wird“ (2004, 125). Neben der räumlichen (diesseits, jenseits) gibt es eine weitere Grenzüberschreitung, die mit dem Gespenst aufgerufen wird (eine weitere Grenzziehung, die überschritten wird), nämlich die Grenze der Zeiten. Gespenster bewegen Dinge aus der Vergangenheit und transferieren ihren Spuk in das hier und jetzt, so viel ist einigermaßen sicher. Gespenster haben aber nicht nur die Angewohn­ heit, uns aus der Vergangenheit heimzusuchen, sondern sie scheinen auch in der Lage zu sein, aus der anderen Zeitrichtung, also aus der Zukunft zu kommen. Das rote Gespenst des Kommunismus ist solch ein Gespenst. Es sucht eine unbeweglich gewordene Gegenwart heim, und zwar mit einer Heimsuchung, die auch eine Verheißung ist. Viele Gespenster (ein weiteres Beispiel: der Heilige Geist) führen ein Versprechen mit sich: das Versprechen auf Veränderung. Ein Versprechen, das von einem nicht ganz klaren, aber doch immer spürbaren Wissen um die Zukunft gespeist wird. Das Gespenst schafft es irgendwie, einen Zugriff auf das Zukünftige zu organisieren. Das Gespenst ist „stets zu-künftig und wiederkünftig“ (2004, 139), so formuliert es D ­ errida. 345

Die doppelte zeitliche Herkunft des Gespensts leitet Derrida schließlich an, die Geister des Marxismus (Marx’ Gespenster) zu mobilisieren, oder besser, zu beschwören. Derrida lehnt nämlich keineswegs, wie es viele Marxisten (wie David Harvey) immer wieder dargestellt haben, das Marx’sche Denken selbst ab. Auch die Analyse und Anklage von sozialer Ungleichheit,8 also das traditionelle Argumentationsfeld des Marx’schen Denkens, ist in Derridas ­Fokus: „Wenn es nun einen Geist des Marxismus gibt, auf den zu verzichten ich niemals bereit wäre, dann ist das nicht nur die kritische Idee oder die fragende Haltung (eine konsequente Dekonstruktion muß darauf Wert legen, auch wenn sie gleichzeitig lehrt, dass die Frage weder das erste noch das letzte Wort ist). Es ist eher eine emanzipatorische und messianische Affirmation, eine bestimmte Erfahrung des Versprechens […].“ (2004, 126) Das Gespenst erweitert damit die Dekonstruktion und die Kritik um ein positives, affirmatives und zukünftiges Moment. Das dekonstruktive Denken nämlich „hat immer an das Irreduzible der Affirmation und damit des Versprechens erinnert“ (2004, 127). Das körperlose Gespenstergeschöpf verbreitet nicht nur Angst und Schrecken, es importiert schließlich auch ein Versprechen. Ein Versprechen, das eine Affirmation ist, die nicht nur affirmativ ist, sondern zweifelnd bleibt, ambivalent, vulnerabel. Dieser Form von Versprechen, dieser „Historizität als Zukunft“, gibt Derrida den Namen „Messianismus“. Der Messias ist der Verkünder einer besseren Zukunft, der Messianismus ist der Modus der Verheißung. Natürlich – darauf zielt Derrida – gibt es auch bei Marx eine Verheißung, keine religiöse (im Gegenteil: Ergebnis deren Dekonstruktion), aber eben doch auch eine Verheißung: die Verkündung vom Ende des Kapitalismus und vom Beginn einer gerechten sozialistischen Welt. Derrida benennt eine solche Verheißung – und das ist eine Erweiterung der weiter vorne bereits mit Schmitt, Laclau und Arendt geführten Diskussion – als die eigentliche Voraussetzung für einen (anderen) Begriff des Politischen. Das Politische ist nur möglich, wenn ein Versprechen einer besseren Zukunft existiert, wenn es ein „emanzipatorisches Begehren“ (2004, 109) gibt, eine „Idee der Gerechtigkeit“ und eine „Idee der Demokratie“ (2004, 89). Das 346

Gespenst legt einen „Zugang zu einem affirmativen Denken des […] emanzipatorischen Versprechens als Versprechen“ (2004, 109), das die Voraussetzung des Politischen selbst ist. Es geht um ein Versprechen, um affirmatives Denken, aber um ein Denken, welches „das Prinzip einer radikalen und […] unendlichen Kritik“ (2004, 127) beibehält. Die kritische Analyse, so lautet Derridas These, ist unerlässlich. Aber sie reicht nicht aus. Sie muss ergänzt werden durch den Geist eines emanzipatorischen Marxismus. Es braucht, so lässt es sich vielleicht formulieren, ein Gespensterwesen, um der Dekonstruktion/der Kritik einen gangbaren Weg in das Versprechen zu zeigen. Das Gespenst ist damit schließlich so etwas wie die postfundamentalistische Form einer Programmatik. Es verpasst dem Versprechen das Aussehen, das es braucht, um nicht mit einem konventionellen Heilversprechen verwechselt zu werden. Es verspricht etwas, was greifbar/ungreifbar ist und funktioniert im Bewusstsein des Auch-anders-­ sein-Könnens. Das Gespenst wird bei Derrida zum notwendigen Transmitter zwischen Dekonstruktion/Kritik auf der einen und Politik/Programmatik auf der anderen Seite. Derrida schlägt vor, der gespensterhaften Verheißung, die dem Marx’schen Geist atmet, den Namen „Demokratie“ zu geben. Und er setzt an den Anfang seines Arguments das Moment des Scheiterns, das sämtliche dieser Demokratien bewohnt. Scheitern und Auseinanderklaffen sind die konstitutionellen Momente der Demokratie, die stets aus „Unangemessenheit, Disjunktion, Trennung, ‚out of joint‘-Sein“ hervorgeht (2004, 96). Aber sie entspringt nicht nur aus diesen Zuständen, sondern sie mündet auch darin. Demokratien sind nie abgeschlossen, nie fertig, nie vollkommen. Wären sie das, dann würde der Stillstand sie beenden, zum Zerrbild erstarren lassen. Demokratien sind das „Ereignis einer verbürgten Verfügung, die befiehlt, das kommen zu lassen, was sich niemals in Form der vollen Präsenz präsentieren wird“ (2004, 96). Das ist es, was Derrida als „kommende Demokratie“ bezeichnet. Demokratische Demokratien sind nie angekommen, sondern befinden sich stets auf dem Weg. Dieses Bild, das Derrida als zentralen Bezugspunkt seiner Gespensterlehre platziert, ist natürlich nicht weit weg von Leforts These vom unbesetzten Ort der Macht in der Demokratie. Die kommende Demokratie verarbeitet 347

jenen unbesetzten Ort. Beide Thesen – die von Derrida und die von Lefort – verhandeln die postfundamentalistische Gründungsbedingung der Unabgeschlossenheit. Derrida führt die gleiche Verhandlung wie Lefort, und er führt sie über die Figur des Gespensts.



Was hat das Gespenst mit der Stadt zu tun? Auf welche Art korrespondieren Hantologie und meine These von der unbesetzten Stadt? Einige Zusammenhänge sind bereits deutlich geworden. Zunächst knüpft das Reden vom Gespenst natürlich direkt an Lefebvres Konzept von der spektralen Stadt an (vgl. S. 148). Lefebvre schlägt, wie weiter vorne berichtet, eine spektrale Analyse der Stadt vor. Lefebvres W ­ issenschaft der Stadt ist also ebenfalls eine Gespensterlehre, eine Gespensterlehre des Urbanen. Die Stadt, so Lefebvre, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass in ihren Gemäuern, in ihren Restflächen, in ihren Regeln und Ordnungen, in ihren Begriffen, in ihrer Totalität – überall dort – die Gespenster hausen und dass es für eine Analyse der Stadt entscheidend ist, die Gespenster hier aufzu­ spüren und sichtbar zu machen. Lefebvres Gespenster, auch davon habe ich berichtet, hausen in den Residuen des Urbanen, in den materiellen und diskursiven Versatzstücken, in denen die Geister vergangener Zeiten aufge­hoben sind und bedeutsam werden. Dieser in der Lefebvrerezeption bisher wenig beachtete Ansatz ist bei genauerer Betrachtung vielleicht der eigentliche Kern von Lefebvres Stadttheorie. Mit der Figur des Gespensts öffnet Lefebvre nämlich einerseits den Zugang zu einer Ideologiekritik des Urbanismus – zu ­dessen uneingestandener Ideenlehre, zum Geist der modernen Stadtplanung und -gestaltung. Andererseits unterbreitet er mit seiner spektralen Analyse ein Angebot, wie der traditionell empirisch ausgerichtete Ansatz der Stadtforschung mit einer sozialtheoretischen Perspektive ergänzt oder vielleicht besser konfrontiert werden kann. Diese Perspektive ist es, die nun mit der Ausarbeitung von Derrida erweitert wird. Das Gespenst im Kontext von Urbanismus und kritischer Stadtforschung aufzurufen9 und es zur Gründungslogik der unbesetzten Stadt zu machen erschließt mehrere Bereiche. Erstens interessiert sich die Figur des Gespensts – 348

ganz im Lefebvre’schen Sinne – für urbane Bruchstücke, Rückseiten, Sack­gassen, Restgegenden.10 Freud hatte recht: Nichts ist untergegangen in der Stadt, alles taucht auf, kehrt wieder, sucht heim. Die Stadt ist ein Gespensterreich. Die urbanen voids werden in den urbanistischen Forschungen (auch bei Lefebvre) gemeinhin so interpretiert, dass sie Möglichkeitsräume sind, dass das Urbane gerade in diesen unbesetzten Gegenden entsteht und stattfindet. Insgesamt wird Stadt meist als etwas gesehen, das Möglichkeiten schafft. Möglichkeiten der Begegnung, Möglichkeiten der Auseinandersetzung, Möglichkeiten des Ereignisses. Es scheint ein guter Geist zu sein, der in den temporären Zwischenzonen des Urbanen zu Hause ist. Eine hantologisch informierte Theorie der Stadt erkennt aber noch etwas anderes: Stadt erzeugt weitere Dinge in ihren rückseitigen Zonen, nämlich die Unmöglichkeit, die die Voraussetzung für das Ereignis ist. Ein Ereignis muss vor seinem Eintreten unmöglich gewesen sein. Gespenster sind unmöglich: „es gibt keine Gespenster.“ Die Gespenster der Stadt hausen in den urbanen Residuen, und sie transformieren dort die Möglichkeiten in Unmöglichkeiten. Deshalb, wegen der unmöglichen Gespenster, ist die Stadt der Ort der Möglichkeit. Die Gespenster als Bewohner und Bewahrer der urbanen Restflächen schmieren das Getriebe der urbanen Ereignismaschinerie. Die Stadt ist – zudem und deshalb – der Ort des Ankommens, die „arrival city“ (Saunders 2011, Schmal/Elser/Scheuermann 2016). Und sie ist der Ort der „Erwartung dessen, was man noch nicht oder nicht mehr erwartet“ (Derrida 2004, 96). Ankommen, Erwartung, Öffnung – das sind seit jeher drei zentrale Eigen­ schaften, die der Stadt zugesprochen werden. Eigenschaften, die wiederum mit dem Gespenst in Verbindung gebracht werden können. Die Stadt, die das Ankommen erwartet und sich ihm öffnet, sich dem Ereignis öffnet, „das man nicht als solches erwarten und also auch nicht im Voraus erkennen kann, für das Ereignis als das Fremde“, das ist mit Derrida „der Ort der Spektralität selbst“ (2004, 96). Die oft bemühte „Willkommenskultur“ – ein Begriff, in dem selbst viele Gespenster zu Hause sind – ist in Wahrheit möglicherweise weniger humanistische Aktivität einer Zivilgesellschaft, als vielmehr so etwas wie eine grundlegende Eigenschaft der Stadt insgesamt, hergestellt von Geistern, die verhindern, dass die Residuen verschwinden. Derrida nennt das 349

„Gastfreundschaft“ und er erklärt, dass „eine solche vorbehaltlose Gastfreundschaft, Bedingung […] des Ereignisses und damit der Geschichte […], das ­Unmögliche selbst“, mehr noch, dass „diese Bedingung der Möglichkeit auch ihre Bedingung der Unmöglichkeit ist“ (2004, 97). Das wiederum ist auch eine verheißungsvolle Möglichkeit für die Suche nach einem postfundamentalistischen Begriff von Stadt, oder, mit anderen Worten, nach einer Ontologie der Stadt, die sich als Hantologie entpuppt. In der Stadt tummeln sich die Geister und Gespenster. Weil das Städtische, wie eine alte verlassene Burg, die Geister anzieht. Gespenster sind wählerisch in ihren Heimstätten. Ruinen, Speicher, alte Truhen gehören zu ihren bevorzugten Aufenthaltsorten. Auf der Ebene der Sozialwissenschaften sind die Stadt und die Stadtwissenschaften solche begünstigten Orte. Und nur eine Dekonstruktion der urbanen Geister, die den Spuk nicht austreiben möchte, sondern sich seiner annimmt, schafft die Möglichkeit, einen neuen Begriff von Stadt einzukreisen, dem Sein der Stadt auf die Spur zu kommen. Auf dem urbanistischen Feld (im traditionellen Urbanismus genauso wie in den critical urban studies) ist Stadt ganz und gar Anwesenheit. Stadt ist das Phänomen, das sich vielleicht am eindeutigsten durch seine Anwesenheit (seine Sichtbarkeit, seine Spürbarkeit, seine Materialität, seine anwesende Anwesenheit) definieren lässt. Ein postfundamentalistischer Begriff von Stadt begreift Stadt nicht durch das Anwesende, sondern durch das Abwesende, nicht als besetzt, sondern als unbesetzt.11 Zweitens hilft das Denken des Gespensts bei der Bestimmung von dem, was Stadtplanung und Urbanismus ausmachen (ausmachten, ausmachen können). Urbanismus versucht, für Ordnung zu sorgen, das Chaos der Großstadt in den Griff zu kriegen, einzuhegen, zu regulieren, Und er richtet sich gegen widerspenstige städtische Aneignungspraxen – auch im Widerspenstigen steckt das Gespenst. Ist die Stadt der Ort der Gespenster, dann ist die Stadtplanung die Disziplin der Gespensterzähmung. Dabei ist es nicht (mehr) so sehr das Verjagen, was heute mit Stadtplanung angestrebt wird – das war es gestern, in den Hochzeiten der Moderne, in der die neue Stadt als neu geordneter, vollständiger (ohne Residuen) und gespensterloser Ort gedacht wurde. Heute ist der Urbanismus bescheidener geworden und versucht eher, sich mit den Ge350

spenstern zu arrangieren, zu moderieren, sie zu beruhigen. Der Urbanismus ist klüger und deshalb zurückhaltender geworden. Mit den Gespenstern bekommt er es dennoch weiter zu schaffen. Weiter bevölkern sie die Lücken der Stadt, weiter hausen sie in den Traditionen und Institutionen. Auch Gespensterjagd als Exorzismus wird natürlich weiter betrieben. Das ist etwa dort zu beobachten, wo eine technikzentrierte und/oder quantitative Stadtwissenschaft den Geistern den Garaus machen möchte, indem durch flächendeckende Datenerfassung und -auswertung die urbanen Restbereiche und Leerstellen eliminiert und in Szenarien von smart cities überführt werden (wenn die Stadt mit Technik besetzt wird). Oder auch in der kritischen Stadtforschung, wo – hier und dort, natürlich keineswegs überall – die Gespenster des Poststrukturalismus und der Postmoderne gejagt werden, um der eigenen Verunsicherung zu entgehen. Aber auch die mit meiner These von der unbesetzten Stadt vorgeschlagene spektrale Stadtanalyse macht sich auf Gespensterjagd. Sie versucht, die Gespenster aufzuspüren und sichtbar zu machen (weniger versucht sie, sie zu vertreiben). Die von Derrida vorgelegte Analyse der Struktur des Gespensts kann einer Stadtforschung, die sich als spektrale Untersuchung des Urbanen organisiert, jedenfalls gut unterstützen. Sie kann bei der eigenen Suche nach den Gespenstern (den Gespenstern der anderen, aber auch der eigenen) helfen, indem sie einen Einblick in jene Geschöpfe ermöglicht – in ihre Erscheinungs­ formen, Logiken, Bedingungen und Bedingtheiten. Die hantologische Spektral­ analyse – die spektrale Stadtwissenschaft, wie man vielleicht in Anlehnung an Lefebvre sagen kann – verschiebt dabei die Aufmerksamkeit von den festen Fundamenten (Statistiken, Häusern, Masterplänen) zu den Konditio­nen des Unmöglichen und Unsichtbaren, zu den körperlosen M ­ aterialisierungen und zu den Geistern, die in jenen Fundamenten stecken. Eine solche Wissenschaft, die sich in einer Linie mit den Versuchen einer „spektralen Soziologie“12 stellen kann, hat zum Ziel, das in den Sozialwissenschaften untertheorisierte Geisterhafte (Marchart 2013, 334) auszuleuchten und aufzusuchen. Drittens kann die Hantologie die kritische Stadtforschung bei der Suche nach ihrer Herkunft unterstützen. Mehrfach habe ich bereits erwähnt, dass es sich bei den critical urban studies um ein Marx’sches Erbe handelt. Deshalb ist 351

hier nicht nur Lefebvre, sondern auch Derrida so interessant. Lefebvres ­Vorschlag der spektralen Analyse nimmt den Ansatz der Hantologie zwar vorweg, Derrida aber denkt das Spektrale noch ein gutes Stück weiter. Beide Vorschläge haben ja letztlich die gleiche Intention. Derrida und Lefebvre bemühen beide das Gespenst in ihrer Auseinandersetzung mit dem Marx’schen Denken, und zwar in einer (zumindest teilweise) affirmativen Auseinandersetzung mit diesem Denken. Eine solcherart angestimmte Erbpflege, das ist meine Vermutung (meine Spekulation), ist für eine kritische Stadtforschung weiterführend. Derrida hebelt mit seiner Gespensterlehre nämlich „die substantialistischen Restbestände der marx’schen Theorie aus“ (Marchart 2013, 88). Den critical urban studies ermöglicht es einerseits, einen Ansatzpunkt für den so wichtigen genealogischen Blick auf den traditionellen Urbanismus der Moderne zu finden.13 Andererseits findet sich hier ein Weg, der eigenen Abneigung gegen das Spekulieren (und der darauf zurückzuführenden Flucht in die Zahlen) auf den Grund zu gehen.14 Schließlich hilft Derridas Theorie bei den Bemühungen, den schwierigen und verlorenen, aber notwendigen Zugang zum Versprechen wiederzufinden. Denn wie die Linke im Allgemeinen hat auch die kritische Stadtforschung heute oft ihre Probleme, sich über das Kritisch-Sein hinaus (dem übrigens Derrida vollkommen zu Recht und vehement eine eigene ­Daseinsberechtigung zuspricht) eine vorwärts gewandte, in die Zukunft gerichtete Programmatik abzuringen. Der Messianismus, die gespenstische Form der poststrukturalistischen Verheißung, ist daher auch für einen kritischen Urbanismus eine vielversprechende Option. Eine Verheißung, die sich aus genealogischer Selbstbetrachtung speist. Die etwa den Geist des Kommunismus exhumiert (vgl. Swyngedouw 2010) und ihn vielleicht auch in der Kommune oder sogar in der kommunalen Selbstverwaltung wiederentdeckt – ein Geist, der ganz tief in new-public-management-Methoden der heutigen Stadtverwaltungen versteckt ist, ein Geist, der klinisch lange tot ist, und dessen Wiederbelebung ein mühsames Projekt zu werden verspricht. Oder auch eine Verheißung, die sich in den weltweiten Recht-auf-Stadt-Bewegungen manifestiert, die sich mit den lokalen Bedürfnissen befassen, mit den Bedürfnissen in der Stadt. Vielleicht eine Verheißung, die nicht mit triumphaler Geste auftritt, aber doch und in 352

kleinen und gespenstischen Dosen, in geisterhaften Wiederkünften. Eine Heimsuchung, die sich – stets und im Bewusstsein der Unabschließbarkeit dieser Bemühung – um eine Demokratisierung der Demokratie bemüht. Vielleicht ist es ja tatsächlich der urbane Geist, der heute umgeht. Und vielleicht sollte sich die kritische Stadtforschung damit beschäftigen, diesen Geist sichtbar zu machen, ihn zu pflegen und zu hegen. Mit einem Wort: Vielleicht kann Derridas Gespenst (mit seinem Gespür für die Unmöglichkeit) den klassischen Versuchen, die Stadt zu besetzen, eine spektrale Praxis an die Seite stellen, die dem kritischen Urbanismus im hegemonialen Besetzungsspiel eine neue Position eröffnet.

5.2

Die Stadt der Dinge

In Italo Calvinos Unsichtbaren Städten eröffnet Marco Polo seinen Bericht von Olivia, einer der „fragilen Städte“, mit einer Ermahnung an seinen Auftraggeber Kublai Khan: „Keiner […] weiß besser als du selbst, daß man eine Stadt niemals mit der Rede verwechseln darf, die sie beschreibt.“ (2013, 67) Er beendet seine Beschreibung mit dem Ausspruch: „Die Lüge ist nicht in der Rede, sie ist in den Dingen.“ (2013, 68) Calvino, der auf dem literarischen Feld in den 1970er-Jahren bereits etwas geschaffen hat, was sich mit gutem Grunde als postfundamentalistischer Stadtbegriff beschreiben lassen könnte – und der das als eine Art Anfechtung des Marxismus gemacht hat, eine Anfechtung, die das Marx’sche Denken attackiert, ohne sich von ihm (Marx) abzuwenden (der damit ziemlich gut in die bisher von mir hier aufgerufene Ahnenfolge passt) – Calvino also sagt damit etwas meiner Ansicht nach äußerst Treffendes. Erstens: Die Stadt ist letztlich Materialisierung. Die Stadt besteht aus ­Gebäuden, aus Dingen – damit haben die traditionellen Urbanisten (und die kritischen Stadtforschenden) schon recht. Das bedeutet aber nicht, dass diese Materialisierung (diese Dinge) unabhängig von den Worten betrachtet werden könnte. Die Dinge heben etwas auf, sie bewahren etwas, in ihnen findet etwas statt, in ihnen findet sich das Wesen der Stadt. Und dieses Wesen beruht, zweitens, weniger auf den schönen Dingen, auf den Palästen und Erfolgen, 353

und auch nicht (nur) auf den schlechten Dingen wie den Elendsquartieren und den Blechhütten. Es beruht auf Gespenstern (Lefebvre), die Versprechen materialisieren, die sie nicht halten können. Das postfundamentalistische Denken bestreitet die Existenz letzter Gründe und letztstabiler Fundamente (es bezichtigt anderslautende Behauptungen der Lüge). Zu finden sind diese Lügen, so die These von Calvino, in den Dingen, in den Dingen der Stadt, in den Dingen, die das Fundament der Stadt sind.15 Die Zuwendung zum Ding und zum Objekt ist etwas, was aktuell viele sozialtheoretisch engagierte Debatten in unterschiedlichen Wissensfeldern bewegt. Dabei ist das Thema natürlich keineswegs neu. Das Ding steht auf der Agenda bei Platon und Aristoteles, es ist wichtig für Kant und Hegel, spielt als Verding­ lichung eine große Rolle bei Marx und Engels, findet sich bei Lacan und Derrida im konzeptionellen Mittelpunkt genauso wie bei Heidegger, interessiert Foucault und die französische Philosophie. Das Ding versammelt die theoretische Reflexion von vielen Denkerinnen und Denkern, nicht zuletzt auch und gerade von denen, die meine Untersuchung bisher heimgesucht haben. Auch in der kritischen Stadtforschung findet sich das Ding an prominenter Stelle. David Harvey etwa bringt das Denken des Dings in eine Marx’sche Spur (oder auch andersherum). Nach Harvey geht es bei Marx um einen relationalen Blick, mit dem Dinge nicht als unverrückbare Ressourcen oder essenzielle Entitäten, sondern als zutiefst relative Elemente konzipiert sind, die nur in und durch ihre Beziehung zu anderen Dingen greif- und handhabbar gemacht werden können (2001, 50). Wir leben, so schreibt Harvey mit Verweis auf Walter Benjamin, zwar in einer materiellen Welt, aber diese Materialität besteht nicht aus sich selbst heraus, sondern wird in unseren Imaginationen, Träumen, Konzepten, Repräsentationen und Trugbildern erst geformt (2003, 19) – auch Harvey erweitert hier seinen Blick auf die materielle Dingwelt mit der Einbeziehung des Spekulativen und Gespenstischen. Ähnliches findet sich – dort überrascht es weniger – bei Henri Lefebvre, der das Denken des Dings explizit mit dem Denken der Stadt verbindet. Er schreibt dem Ding Stadt eine eigene Objektalität [objectalité ] zu, die er mit den Eigenschaften ­einer Sprache vergleicht, die sich in einem noch nicht angeeigneten oder modifizierten Zustand befindet.16 Das Bemühen von Lefebvres Stadttheorie ist es, 354

der Stadt – über die Konzeption als Ding – einen ontologischen, nicht-essentialistischen Sonderstatus zu verleihen. Schließlich stehen die Dinge auch im Fokus von einer Reihe ganz aktueller Theorieschulen. Prominent tun sie das etwa im Kontext der actor-network-­ theory, also jener sozialtheoretischen Spielart, die auf dem urbanistischen Feld in neuerer Zeit vielleicht am meisten Aufmerksamkeit erhalten hat – zumindest dort, wo sozialtheoretische Zugänge überhaupt Beachtung finden. Mit den urban assemblages hat dieser Bereich auch einen eigenen Namen etablieren können.17 Hier geht es viel um das Verhältnis zwischen den Dingen und dem Sozialen, um die Verfasstheit dieses Verhältnisses und um die Revision eines lange eingeübten Blickes, mit dem – so die These – an den Dingen vorbeigeschaut worden ist. Die Akteur-Netzwerk-Theorie, damit schließt sich der Kreis, wurde wiederum in den letzten Jahren im Kontext der kritischen Stadtforschung besonders vehement kritisiert.18 Ding und Stadt passen aus sozialtheoretischer Perspektive also gut zusammen. Mit postfundamentalistischem Rüstzeug wird sich dieser Zusammenhang – das ist meine Vermutung – genauer bestimmen lassen. Aus der von mir eingenommenen Perspektive ist das Ding/das Objekt zudem von besonderem ­I nteresse, da die „schärfste Kritik des Objektivismus“ zum eigentlichen Kern­ bereich des postfundamentalistischen Denkens gehört (Marchart 2013, 89). Vielleicht kehrt das Urbane aus diesem Grunde in einer postfundamentalistischen Theorie der Stadt als Ding wieder. Mich interessiert dabei zum einen die Denkschule des Dings (Inhalte, Thesen, Kontexte), zum anderen die Gründe für die aktuelle Renaissance (und die Kritik an derselben) und natürlich auch wieder die urbanen Eigenschaften und Verbundenheiten des Dings.

• Bei Marx und Engels, davon habe ich bereits an verschiedenen Stellen ­be­r ichtet, geht es viel um Verdinglichung. Verdinglichung hat zu tun mit ­Ent­f remdung, Produktion, Ware und Fetischisieren der Ware. Das natürliche Bewusst­sein des Menschen – so lautet eine der Marx’schen Kernthesen – wird im Kapitalismus überformt, und diese Überformung findet statt als ­Ver­d inglichung. Die Marx’sche Analyse hat zum Ziel, sich einer solchen 355

Verdinglichung bewusst zu werden, sie zu durchschauen und sie zu demas­ kieren. Dabei nähert sich Marx dem Objekt und untersucht, wie es zur Ware wird, was es zur Ware macht und was es als Ware bewirkt. Die Idee, dass Dinge eine Wirkung haben, ist dem Marx’schen Denken also keineswegs fremd. Genau genommen steht diese Idee sogar ganz im Zentrum der gesamten Überlegungen. Dabei wird immer wieder klar, dass dieses Wechselwirkungen von besonderer Natur sind, dass es keine einfachen linearen Zusammenhänge gibt, sondern komplexe und oft verworrene Verhältnisse und Beeinflussungen. Von der komplizierten und gespenstischen Seite der Verdinglichung wurde im vorigen Kapitel daher auch bereits ausführlich berichtet und gezeigt, dass bei Marx dieser Teil ausführliche Beachtung findet. Erinnert sei an Derridas Analyse und seinen Bericht, wie die Ware bei Marx im Ding spukt, wie der Gebrauchswert der Ware von Gespenstern heimgesucht wird und wie die Ware zum übersinnlichen Ding wird. Dinge und Gespenster, das wurde dabei deutlich, kommen einander stets sehr nahe. Aber nicht nur bei Marx, auch in der klassischen Stadtsoziologie geht es um die Dinge. Emile Durkheim, der im ausklingenden 19. Jahrhundert (in Folge von Auguste Comte) die Soziologie als eigenständiges Wissenschaftsfeld zu etablieren suchte, beschäftigt sich in seinem Frühwerk damit, die Ursachen für die Fortentwicklung der Gesellschaft zu ergründen. Dabei nimmt er vor allem die Stadt und die Dinge ins Visier (1992, 315 f.). Seine These ist es, dass die materielle Dichte (also die Dichte an Dingen) die moralische Dichte (die Dichte des Sozialen) verursacht und dass sich beide Dichten einander auch quantitativ entsprechen – was den großen Vorteil hat, dass das Soziale dabei als potenziell messbar konstruiert wird. Die Dinge der Stadt (Gebäude, Straßen, Infrastruktur) sind für Durkheim zum einen Gradmesser für den gesellschaftlichen Zustand und zum anderen die Ursache für den sozialen Fortschritt.19 Allerdings widerruft er diese doch sehr reduktionistische These, schon kurz nachdem er sie publiziert hat. Sein Credo wird es nun, Soziales immer nur durch Soziales zu erklären. Das ändert auch und besonders den Blick auf die Dinge. Durkheim geht es dabei um das Verhältnis zwischen den Dingen und dem Sozialen. In Abgrenzung zu seinem eigenen anfangs ziemlich deterministischen Blick entwickelt er eine hohe Sensibilität für diese 356

immer kritische Beziehung und versucht sich an einer sozialen Morphologie – einer dinghaften Formenlehre des Sozialen. Die „materiellen Gegebenheiten der Bevölkerung“ (1984, 113), so formuliert Durkheim, und insbesondere ­deren Volumen und Dichte, spielen in diesem Ansatz weiterhin die entscheidenden Rollen, diesmal jedoch nicht mehr als direkte Ursachen der sozialen Entwicklung, sondern als Objekte der soziologischen Analyse. Die soziale Morphologie ist für Durkheim ein Weg zum „eigentlich erklärenden Teil der Wissenschaft“ (1984, 176). Es gäbe sehr wohl „soziologische Tatbestände anatomischer oder morphologischer Ordnung“, die allerdings nicht durch eine „rein materielle Untersuchung und durch geographische Beobachtung“ zu erfassen seien (1984, 113), sondern nur mit sozialtheoretischem Rüstzeug. Durkheim verkündet als die erste und grundlegende Regel der soziologischen Methode, solche „soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten“ (1984, 115). Soziologische Tatbestände wie Dinge zu betrachten, ist ein ganz anderer ­A nsatz, als die Konzentration von Dingen zur Ursache für das Soziale zu erklären und damit einer positivistischen Sozialphysik Tür und Tor zu öffnen. Durkheim transformiert die Dinge zu etwas, in dem das Soziale aufgehoben ist und in dem dieses Aufgehobene sich auch wieder zu Wort meldet. Und er macht darauf aufmerksam, dass soziologische Tatbestände wie Dinge kon­ struiert sind, dass das Soziale vom Dinghaften bewohnt wird.20 Durkheim kommt von den urbanen Objekten und entwickelt in der Reflexion über die eigene, anfangs recht naiv konstruierte Kausalitätshypothese einen differenzierten Zugang zu den sozialen Bestandteilen der Dinge. Seine soziale Morphologie ist an diesem Punkt in ihrem theoretischen Aufbau gar nicht so weit entfernt von der Marx’schen These der Verdinglichung. Beide, sowohl die traditionelle Soziologie klassischen (Durkheimschen) Zuschnitts als auch ihr Marx’scher Verwandter, bringen das Ding mit dem Spukhaften zusammen, sind spektrale Soziologien des Dings. Beide entwickeln ein Sensorium für Dinge und Gespenster – beide hätten aber auch lieber die Gespenster ausgetrieben, als sich mit ihnen einzulassen. Auch jenseits der Soziologie entfaltet sich im 20. Jahrhundert das Denken über das Ding – vor allem bei Martin Heidegger. Heideggers Dingvortrag aus dem Jahre 1949 ist nicht zuletzt aufgrund seiner exzessiven Wortspiele und 357

-schöpfungen berühmt geworden, in denen etwa „das Ding dingt“ und „die Welt weltelt“ und ein „Gering“ seine Wirkung entfaltet. Diese Diktion hat zu viel Spott über die vermeintliche Banalität der Heidegger’schen Reflexion geführt. Aus meiner Sicht sind jedoch auch in diesen Ausführungen von Heidegger ­einige ernst zu nehmende Fährten gelegt, die für das weitere Nachdenken über das Ding und die Stadt wichtig sind. In einer Vorbemerkung zu seinem Vortrag über das Ding beschäftigt sich ­Heidegger mit dem Unterschied zwischen Nähe auf der einen und geringer räumlicher Distanz auf der anderen Seite. Seine Beobachtung ist, dass alle Entfernungen in der Zeit und im Raum geschrumpft seien, seine zeitgenössischen Beispiele sind das Flugzeug und der Fernseher. Das „hastige Beseitigen aller Entfernungen“ bringe jedoch, so Heideggers These, „keine Nähe, denn Nähe besteht, nicht im geringen Maß der Entfernung“ (1994, 3). Dass Heidegger seine Reflexion über das Ding mit der Nähe beginnt, ist aus der hier eingenommenen Perspektive zunächst bemerkenswert, weil die Nähe wiederum eine starke urbanistische Komponente aufweist. Georg Simmel arbeitet in seinem die Stadtsoziologie bis heute prägenden Text über Die Großstädte und das Geistesleben die große Bedeutung eines beständigen Auspegelns von Ferne und Nähe für das gesellschaftliche Miteinander in der der urbanisierten Moderne heraus. Im „dichtesten Gewühl der Großstadt“, so formuliert Simmel, mache die „körperliche Nähe und Enge“ die geistige Distanz erst anschaulich und führe durch die „erzeugte gegenseitige Reserve und Indifferenz“ zum Erfolg der „Unabhängigkeit des Individuums“ (1903, 198). Geringe räumliche Distanz erzeugt also für Simmel keine emotionale oder geistige Nähe, ­sondern vielmehr das Erfordernis, sich abzugrenzen. Dieses Erfordernis ist bei Simmel das, was die Großstadt letztlich ausmacht. Das ist der Kontext, in den Heidegger interveniert. Allerdings ist die Nähe bei ihm nicht die Grundierung von Urbanisierung und Modernisierung, sondern sie ist (natürlich) existenziell, vielleicht ist sie auch doch etwas nostalgisch und heimelig. In seinem Brief über den Humanismus schreibt Heidegger: „Doch näher als das Nächste und zugleich für das gewöhnliche Denken ferner als sein Fernstes ist die Nähe selbst: die Wahrheit des Seins“ (1976a, 332). Heidegger formuliert, dass die Überwindung der Metaphysik als notwendiges 358

Ziel der Philosophie mit einer Denkbewegung zurück in die „Nähe des Nächsten“ (1976a, 352) gehe. Bei der Konzeption der Nähe blitzt die konservative Seite des Heidegger’schen Denkens ein ums andere Mal hervor. An den Anfang seiner Ausführungen zum Ding stellt Heidegger jedenfalls dessen Verhältnis zur Nähe: „Der Mensch hat bisher das Ding als Ding so wenig bedacht wie die Nähe.“ (1994, 5) Nähe gibt es, so Heidegger, immer nur vermittelt. Nähe ist keine Frage der räumlichen Distanz, sondern wird in der mensch­ lichen Wahrnehmung hergestellt. Nähe ist produziert: „Nähe läßt sich, so scheint es, nicht unmittelbar vorfinden.“ (1994, 5) Wie lässt sich Nähe greifen? Über diese Frage legt Heidegger den Zugang zum Ding: „Das gelingt eher so, daß wir dem nachgehen, was in der Nähe ist. In der Nähe ist uns solches, was wir Dinge zu nennen pflegen.“ (1994, 5) Dinge sind also zunächst durch ihre Lage bestimmbar, dadurch, dass sie in unserer Nähe sind, wobei die Nähe eher ein geistig/emotionaler Zustand ist als ein räumlicher. Was ist ein Ding? Heidegger nimmt als Anschauungsobjekt nicht den Tisch, sondern einen Krug. Der Krug ist ein Gefäß, das etwas fasst, und es ist dieses Fassende, das Heidegger besonders interessiert. Das, was der Krug fasst, bedingt ihn. Das Fassende ist im Inneren des Kruges und macht ihn, so Heidegger, „Insichstehend“ (1994, 5). Das Fassende des Kruges gibt dem Krug seinen Inhalt und macht ihn selbstständig im Sinne von selbst (eigenständig) stehend. Darin unterscheidet der Krug sich von einem Gegenstand – eine Unterscheidung, die für das Denken des Dings eine zentrale Bedeutung hat: „Dieses Insichstehen kennzeichnet den Krug als etwas Selbstständiges. Als der Selbststand eines Selbstständigen unterscheidet sich der Krug von einem Gegenstand.“ (1994, 5) Das „Dinghafte des Dinges“ kann, so Heidegger weiter, nicht „von der Gegenständlichkeit des Gegenstandes aus“ bestimmt werden (1994, 5). Entscheidend ist, dass es „zu einem Stehen gebracht wurde“ (1994, 5). Zum Stehen gebracht, also gestellt, wird der Krug durch seine Herstellung: „Der Töpfer verfertigt, den irdenen Krug aus der eigens dafür ausgewählten und zubereiteten Erde.“ (1994, 5) Erst als hergestelltes Gefäß wird der Krug zum Ding. Heidegger denkt das Ding von seiner Herstellung aus, von seiner Entstehung und Produktion: „Wir gelangen erst dann zum Ding an sich, wenn unser Denken zuvor erst einmal das Ding als Ding erlangt hat.“ (1994, 5) 359

Allerdings wird der Krug weniger dadurch zum Ding, weil er produziert wurde (das wäre vielleicht der Marx’sche Ansatz), sondern umgekehrt, „der Krug mußte hergestellt werden, weil er dieses Gefäß ist“ (1994, 6). Nicht das Herstellende macht etwas notwendig, sondern es ist notwendig, weil es hergestellt wurde. Die Eröffnung des Denkens des Dings beinhaltet damit zugleich eine Variation über den Determinismus: Heidegger dreht den Spieß um und betrachtet die Notwendigkeit von der anderen Seite aus: Das Ding ist, und deshalb ist es erst notwendig. Was Heidegger weiter beschäftigt, ist die Leere des Kruges. Der Krug ist leer, solange keine Flüssigkeit in ihn gegossen wurde. Das „Leere des Kruges ist das Fassende“, der Töpfer „gestaltet die Leere“, das „Dinghafte des Gefäßes“ besteht „in der Leere, die faßt“ (1994, 8). Ein weiteres Mal ist die Leere also Voraussetzung und Erkennungszeichen, hier das Erkennungszeichen des Dings. Die Leere ist Voraussetzung für Veränderung und Gestaltung. Wäre der Krug stets und dauerhaft gefüllt, könnte er nichts fassen, wäre er eindimensional, ohne Option, wäre besetzt. Der ungefüllte (unbesetzte) Krug ist das Ding. Aber ist der Krug überhaupt jemals leer? Heidegger führt hier eine Kritik der Wissenschaft und des Wirklichen aus. Ein Physiker, so Heidegger, würde sagen, dass der Krug nie leer wäre (genauso, wie ein Städtebauer vielleicht sagen mag, die Stadt sei niemals unbesetzt). Wenn kein Wein oder Wasser im Krug ist, ist er nämlich mit Luft gefüllt. Das Befüllen des Kruges mit Flüssigkeit ist eigentlich nur ein Austausch von Gasförmigem (Luft) mit Flüssigem (Wein, Wasser). Diese physikalische Wahrheit sei nicht von der Hand zu weisen, so Heideggers Bewertung. Die Physik stelle damit „etwas Wirkliches vor, wonach sie sich objektiv richtet“ (1994, 8). Allerdings sei diese rationale Analyse (der leere Krug ist nicht leer, sondern mit Luft gefüllt) eben gerade nicht das Wirkliche des Kruges – wir „ließen die Leere des Kruges nicht seine Leere sein“ (1994, 10). Das objektiv Richtige der Physik ist für Heidegger dabei nicht nur nicht das Eigentliche, sondern es versperrt den Weg zu diesem Eigentlichen. Die „Wissenschaft macht das Krug-Ding zu etwas Nichtigem, insofern sie Dinge nicht als das Maßgebende zuläßt“. Mehr noch, die Wissenschaft „hat die Dinge schon immer vernichtet“ (1994, 9). Das Ding bei Heidegger ist ein unmögliches Objekt. Es wurde immer vernichtet (von der Wissen360

schaft), es ward nie zugelassen, es durfte nie erscheinen. Das Ding wird bei Heidegger zum Fanal gegen Objektivismus und Rationalismus, es wird zum Symbol einer Wissenschafts- und Objektivitätskritik, die behauptet, dass eine rein naturwissenschaftliche Form der Wissenschaft das Wirkliche erst verhindert. Heidegger bespielt damit das Feld der immanenten Kritik (vgl. Jaeggi 2014), indem er eine bestehende Praxis (der Wissenschaft) als Grund des Scheiterns dieser Praxis herausstellt. Das Ding ist in der Heidegger’schen Lesart gewissermaßen das Produkt dieses Scheiterns und wird zum überschüssigen Rest der abgeschlossenen Metaphysik des rationalistischen Denkens. Heidegger macht einen weiteren Punkt, indem er die Etymologie des Dings in seine Überlegung einbezieht. Wortursprünglich kommt das Ding aus dem Alt­ hochdeutschen und bezeichnet als thing eine Versammlungsstätte. Das thing versammelt, bringt zusammen, es ereignet: sich selbst, Menschen, Dinge, Situationen, Diskurse: „Der Krug west als Ding. Der Krug ist der Krug als ein Ding. Wie aber west das Ding? Das Ding dingt. Das Dingen versammelt.“ (1994, 13) Das Versammeln ist der eigentliche Zweck des Dings. Es versammelt auf zwei verschiedene Arten. Zum einen bezeichnet es den Versammlungsort, die Versammlungsstätte. Zum anderen ist das thing der Grund, das Objekt der Versammlung. Das Ding bedeutet auch „die Angelegenheit“ und „die Streitsache“. Es benennt „jegliches, was den Menschen in irgend einer Weise angeht, was demgemäß in Rede steht“ (1994, 13). Das althochdeutsche thing steht damit in einer Linie mit dem römischen res, das mit „über etwas reden“ oder „darüber verhandeln“ übersetzt wird (1994, 13). Die res publica – das, was die römische Variante der griechischen polis und damit des antiken Ursprungs des Stadtbegriffs ist – ist nicht so sehr, darauf weist Heidegger hin, als „der Staat“ zu übersetzen, sondern bezeichnet „das, was jeden im Volk offenkundig angeht und darum öffentlich verhandelt wird“ (1994, 13). Und das ist am Ende die Idee der Stadt. Damit ergibt sich eine gerade Linie von der polis über die res publica und das thing zum Ding. Die Stadt, so lässt sich die Argumentation von Heidegger also erweitern, ist ein Ding, vielleicht ist sie sogar das Ding. Mehr noch: Das römische res ist wiederum nahe dem Wort causa, das ­z unächst nicht mit Grund oder Ursache übersetzt worden ist, sondern mit Fall beziehungsweise Streitfall. Res und causa, so Heidegger, waren „fast 361

gleichbedeutend“ (1994, 14). Erst danach nahm causa die Bedeutung von „Ursache“ „im Sinne der Kausalität einer Wirkung“ an (1994, 14). Das Ding ist auch daher aus postfundamentalistischer Perspektive von so großem Interesse, weil es nicht nur die Streitsache, sondern auch den Wirkungsbereich des Grundes verhandelt. Bringt man diese Gedanken – das Ding als unmögliches Objekt, das Ding als Stadt, das Ding als Grund – zusammen, dann lässt sich das StadtDing als unmöglicher Grund/Ort des Versammelns bestimmen. Eine solche These kommt dem Kern einer postfundamentalistischen Stadttheorie ziemlich nahe. Zu ergründen, was und wie die Stadt versammelt und was es verunmöglicht, dass diese Versammlung sich dauerhaft verfestigt, ist vielleicht die originäre Fragestellung für ein Erkunden der unbesetzten Stadt. Heidegger geht es allerdings nicht um die Stadt, sondern um das Ding. Und letztlich geht es ihm natürlich um das Sein, um das „Seinsmäßige“ des Daseins. Darauf zielt schließlich sein Denken des Dings. Für Kant bedeute das „Ding an sich“ der „Gegenstand an sich“, ein Gegenstand „ohne die Beziehung auf das menschliche Vorstellen“ (1994, 16). In Heideggers Lesart ist das Gegen des Gegenstandes dagegen der Mensch. Das Kantsche Ding, so Heidegger, sei unabhängig vom Menschen und vom menschlichen Vorstellen und daher ein Gegenstand ohne ein Gegen. Das Ding bei Kant ist gewissermaßen eine Sache im Sinne von „kein Mensch“. Mit Kant, so lässt sich Heidegger interpretieren, wird im neuzeitlichen Denken die Trennung zwischen Mensch und Ding vollzogen: auf der einen Seite Mensch, auf der anderen Seite Ding. Genau gegen diese Vorstellung wendet sich Heidegger. Das Ding ist Ding, weil es ist, so lautet zum wiederholten Male sein Argument. Das Ding bestimmt das „Anwesen des Anwesenden“ (1994, 16), es macht dabei aber – das ist die Unterscheidung zu Kant – keinen Unterschied, ob es Mensch oder Sache ist, sondern es hebt die Trennung auf. Heideggers „Dingen des Dings“ setzt das Sein vor die Unterscheidung Sache/Mensch: Das ist die Pointe von Heidegger, die auch auf dem Grunde der aktuellen Renaissance des Dings/des Objekts zu finden ist (gleich werde ich darauf zurückkommen). Zehn Jahre nach Heideggers Vorlesung wird auch im Hörsaal von Jacques Lacan das Ding verhandelt. Lacan stellt sein Denken des Dings in die Tradition von Heidegger, schickt allerdings voraus: „Auf die Funktion des Dings als 362

Sein werde ich mich nicht einlassen.“ (1996, 149) So ganz darauf verzichten kann er dann aber auch nicht: Lacan berichtet seiner Hörerschaft, dass Heidegger dem Ding zwei Seiten einverleibt. Zum einen beruht das Ding darauf, dass es ein „wesenhaft menschliche[r] Vorgang“ ist (1996, 149), es ist hergestellt, gemacht, produziert. Zum anderen ist das Ding ein Mittler und Bezeichnendes. Das Ding, so interpretiert Lacan Heidegger, ist ein Signifikant, ein „von Menschenhand geformte[r] Signifikant“, der erste Signifikant überhaupt, das Ding ist der Signifikant, der den Brückenkopf zwischen „Himmel und Erde“ ausbildet (1996, 149). Im und mit dem Ding ereignet sich eine „Zusammenführung himmlischer und irdischer Kräfte“ (1996, 149). Auch mit Heideggers Krug beschäftigt sich Lacan. Er weist darauf hin, dass der Krug einerseits ein nicht aus nichts Gemachtes und eben ein sehr materielles Ding, dass andererseits die Leere aber konstitutiv ist, da er (der Krug), um voll sein zu können, zunächst leer gewesen sein muss. Der Krug erschafft die Leere, so sagt es Lacan, aber „er führt im selben die Aussicht ein, sie zu füllen“ (1996, 149). Es ist genau diese Differenz zwischen der Leere und der Fülle, zwischen dem Besetztsein und dem Unbesetztsein, die Lacan interessiert und bearbeitet. Es geht ihm um die „Leere im Zentrum des Realen“, die „zu repräsentieren“ das Ding gemacht ist (1996, 151). Das Reale – weiter vorne wurde bereits darüber berichtet (vgl. S. 103 f.) – ist bei Lacan das, woran es mangelt und als Mangel das ontologische Fundament des Sozialen. Am Ding, so Lacan mit Bezug auf Freud, orientiert sich „der ganze Weg des Subjekts […] zur Welt seiner Begehren“ (1996, 67). Das Ding steht am Ende dieses Weges, es ist der Bezugspunkt, das Ziel, die (unerfüllte, unerfüllbare) Begierde. Das Ding ist unerreichbar, es ist von Beginn an verloren, es „wird nie wiedergefunden sein“, es ist da „in der Erwartung eines Besseren oder in Erwartung eines Schlechteren, aber eben in Erwartung“ (1996, 67). Damit verortet Lacan das Ding. Er schreibt, es gäbe „Identität zwischen der Ausformung des Signifikanten und der Einführung einer Kluft, eines Lochs im Realen“ (1996, 151) und er bringt seine These auf den Punkt: „Das Ding hat seinen Ort anderswo.“ (1996, 59) Das Ding bei Lacan, hier schließt sich der Kreis zu Laclaus Antagonismustheorie,21 und hier setzt sich Lacan von ­Hei­degger ab, ist also nicht in der Nähe beheimatet, sondern gerade in der 363

Distanz, es ist nicht nähernd, sondern distanzierend. Das ist es, was Lacan betont. In einem „pathetischen Verhältnis zu ihm [dem Ding] bewahrt das Subjekt seine Distanz und konstituiert sich in einer Art Verhältnis oder ­P rimäreffekt, der aller Verdrängung vorausgeht“ (1996, 67). Das Ding schafft Distanz, gleichzeitig ist es selbst ein Außerhalb: „Das Ding als Fremdes, ge­ legentlich sogar als Feindliches, jedenfalls als das erste Außen.“ (1996, 67) Schon bei Heidegger gab es den Gedanken, dass das Ding regelmäßig vernichtet wird (durch die Praxis der Wissenschaften) und dass es ein unmögliches Objekt ist. Neu bei Lacan ist nun, aus diesem Gedanken zu einer paradoxen Ortsbestimmung zu gelangen und das Ding als „absolutes anderes“, als „Signi­ fikats-Außerhalb“ (1996, 67), kurz: als konstitutives Außen zu begreifen. Gleich­ zeitig und gleich wichtig ist das konstitutive Außen jedoch auch ein Innen, ein Zentrum, ein Mittelpunkt. Es ist „im Mittelpunkt just in dem Sinne, daß es ein ausgeschlossenes ist“ (1996, 89), ein „ausgeschlossen Innere[s]“ (1996, 126). Das Ding schafft einen leeren Raum, einen unbesetzten Raum, im Zentrum des Geschehens. Das Ding ist in Lacans Theorie das, was im unbesetzten Zentrum zu finden ist, es ist der Mangel selbst. Und als Mangel ist es wie­ derum Begehren, löst es Begehren aus. Das Ding ist das, was den ganzen ­Laden zusammenhält, indem es alle Aktivität (des Subjekts, des Sozialen) erst in Gang setzt. Mit Bezug auf Lacan begründet Oliver Marchart in seinem postfundamentalistischen Gründungstext den Begriff der Gesellschaft. Er erklärt, dass, wenn die Gesellschaft einen Ort habe, dieser Ort die „intime Exteriorität“ des Dings sei – mithin „keine Adresse, die von der Fremdenpolizei akzeptiert würde“ (2013, 199). Das Ding ist bei Marchart aber nicht nur der Ort der Gesellschaft (wobei die Verortung eigentlich kein „nur“, sondern ein sic! ist), die Gesellschaft ist ein Ding (oder besser: das Ding). Ortsangabe und Wesensheit des Dings fallen zusammen. Die Gesellschaft selbst ist das Ding, was nach Marchart „die logische Konsequenz des radikalisierten Relationismus“ ist, da die „Totalität der Relationen […] keine Relation […], die Totalität der Differenzen keine Differenz und die Totalität der Objekte kein Objekt“ sein könne und die Gesellschaft aus diesem Grunde „von den gängigen Kategorien der Sozialwissen­ schaften“ unterschieden werden muss (2013, 352). Die Gesellschaft als Totales 364

kann also nur etwas anderes sein, und dieses Andere hat den Namen „Ding“. Marchart ergänzt nun eine weitere (uns bereits wohlbekannte) Kategorie: den Antagonismus. Das Ding sei letztlich „ein Wiedergänger des Antagonismus, Antagonismus im Zustand der Verdinglichung“ (2013, 353). Durch die – in Marx’scher Tradition eingezogene, das Marx’sche Erbe bewahrende – Ebene der radikalen Negativität wird bei Marchart das Gesellschaftsding zur „Zombie-Kategorie“, die „im Zwischenreich zwischen Grund und Abgrund“ angesiedelt ist, eine Kategorie, die grundlegend ist, „ohne ein festes Fundament zu liefern“, eine Kategorie querstehend zur „empirischen Ebene objektivistischer Sozialforschung“ (2013, 359). Als Ding, so Marchart, geht Gesellschaft ebenso wenig in den sozialen Gegenständen auf, wie „Antagonismus […] in empirischen Konflikten“ (2013, 359). Beide gehen vielmehr „wie ein Gespenst“ durch die Dinge hindurch (2013, 359). Mit der „Kategorie des Antagonismus“, so Marchart, wird „das Ende der euklidischen Geometrie in den Sozialwissenschaften eingeläutet“ (2013, 353). Der Antagonismus ist in dieser Auslegung eine „Instanz sozialer Negativität“ in der hantologischen ontologischen Theoriebildung: „Das Ding verweist uns auf den Antagonismus. Denn erst durch Negativität wird Totalität zum Ding.“ (2013, 352) Eine postfundamentalis­ tische Sozialtheorie, so argumentiert Marchart, benötigt einen „Begriff von Totalität“ (2013, 352). Um Totalität zu erzeugen, sei es aber notwendig, eine Grenze zu ziehen, und der „Name dieser Grenze in der (post-)marxistischen Tradition ist Antagonismus“ (2013, 352). Marchart konstruiert ein Jenseits und ein Diesseits: Diesseits der Grenze ist die klassische empirisch orientierte Sozialwissenschaft verortet, in all ihren Auswüchsen, orthodox, quantitativ, qualitativ, kritisch, wie auch immer. Diesem ontischen Bereich dazugehörig ist auch das sozialtheoretische Denken des agon, die These von einem Wettkampf in einem gemeinsamen Raum und mit gemeinsamen für alle geltenden Spielregeln. Ebenso diesseits findet sich die klassische Marx’sche Dialektik, die Konzeption eines dialektischen Verhältnisses zwischen Kapital und Proletariat, das ebenfalls einen gemein­ samen Raum bildet (und ein festes Ergebnis im Blick hat). Jenseits der Antagonismusgrenze herrscht dagegen die Instanz der reinen Negativität. Hier betreten wir das Reich der Dinge und Gespenster. Und diesem Reich gibt 365

Marchart den Namen Postfundamentalismus. Mit den „Ressourcen des Postmarxismus“, so resümiert Marchart, kann die Konzeption des Dings als „­Versammlungs- und Konfliktraum einer Gemeinschaft“ zu einem aktuellen ­sozialwissenschaftlichen Theoriemodell umgestaltet werden – zum Modell einer postfundamentalistischen Gesellschaftstheorie (2013, 352). Eine Theorie, die auf Begriffen beruht, „die unaufhörlich schwanken zwischen dem ­Ontologischen und dem Ontischen, dem sich entziehenden ‚Grund‘ und dem unsicher Gegründeten“ (2013, 359). Marcharts Gesellschaftsanalyse und sein Modell des Postfundamentalismus lassen sich, das ist nun meine These, mit dem Denken der Stadt exquisit verbinden. Wenn die Gesellschaft einen Ort hat, so kann die Überlegung nämlich erweitert werden, dann ist „das Ding“ als Ortsbestimmung vielleicht nicht präzise genug. Wenn die Gesellschaft einen Ort hat, dann ist dieser Ort die Stadt: die Stadt als Ding und die Stadt der Dinge. Denn die Stadt bringt genau jene beiden Faktoren auf das Feld, die das Gesellschaftsding nur vermittelt zu bieten hat: eine immanente Ortsbestimmung – die Stadt ist ein Ort; ein Ort, an dem sich Anwesendes und Abwesendes tummelt – und eine (direkte) Materialität – die Stadt besteht aus materiellen Dingen, aus Möglichem und Unmöglichem. Die Kategorie der Totalität, die Marchart dem Gesellschaftsding in all seiner Unmöglichkeit und Notwendigkeit einverleibt, ist der Stadt gleich­ falls zu eigen – eine solche Totalität ist begrifflich eine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften (erinnert sei an die entsprechenden Ausführungen von ­Lefebvre). Die Stadt als Ort, als dingliche Materialität und Totalität, lässt sich auf diese Weise zu einem privilegierten Objekt einer postfundamentalistischen Sozialtheorie bestimmen. Eine weitere und ziemlich populär gewordene Beschäftigung mit den Dingen findet sich in der Sozialtheorie von Bruno Latour. Dieses Denken positioniert sich seit etwa den 1990er-Jahren in vielen unterschiedlichen Debatten der Sozial- und Geisteswissenschaften unter Namen wie science studies, actor network theory, urban assamblages oder auch new materialism. Vermutlich stoßen die Thesen von Latour – gerade in den Stadtwissenschaften – deshalb auf ein solch starkes Interesse, weil das, was dort zentral verhandelt wird – die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Dingen und den Nicht-Dingen – auf 366

dem Feld der Stadt von vornherein angelegt ist. Das urbane Feld konstituiert sich durch die urbanen Dinge, die darauf stattfinden. Zudem ist die Stadt aber auch etwas zutiefst Soziales, Politisches, Undingliches. Das Nachdenken über die Beziehungen zwischen dem Baulich-Räumlichen und dem Sozialen, zwischen den Objekten und den Subjekten oder zwischen dem Materiellen und dem Diskursiven ist für jede Beschäftigung mit Stadt von zentraler Bedeutung. Die Strategien der science studies und Latours Denken verdanken ihre Popularität dem Umstand, dass sie jenseits von vulgär-materialistischen Ansätzen ein theoretisches Modell anbieten, das die Materialität der Dinge neu denkt und neu einordnet (vgl. Roskamm 2014a). In diesen Konzepten werden die Stadt und ihre Dinge potenziell bedeutungsvoll. Latour entwickelt seinen Ansatz dabei anhand zweier vehement geführter kritischer Attacken gegen die beiden hauptsächlichen Ahnenfolgen des hier von mir unternommenen Vorhabens: gegen das Marx’sche Denken auf der einen und gegen das poststrukturalistische Denken auf der anderen Seite. Erstens steht bei Latour eine Kritik der traditionellen kritischen Ansätze in der Soziologie respektive eine „Kritik der Kritik“. Über die – teils recht polemisch vorgetragene – Abrechnung mit dem „unveränderlichen Sozialen“ der „Soziologie des Sozialen“ (2010, 23) kommt Latour zu seinem Gegenentwurf einer „Soziologie der Assoziationen“. Die Bedeutung des Sozialen, so lautet die Diag­ nose, würde zunehmend schrumpfen (2010, 18). In den meisten Fällen seien „soziale Erklärungen einfach nur ein überflüssiger Zusatz, der – anstatt die Kräfte hinter dem Gesagten zu enthüllen – verbirgt, was gesagt worden ist“ (2010, 86). „Die große Gefahr der kritischen Soziologie“ bestehe nämlich ­darin, „daß sie mit ihren Erklärungen nie unrecht“ habe; daher laufe „sie stets Gefahr, empirisch leer und politisch irrelevant zu werden“ (2010, 430). Latour formuliert, dass der Soziologie der „merkwürdige Effekt“ zu eigen sei, dass die von ihr gefundenen (behaupteten) Ursachen die Phänomene nicht er­k lären, sondern viel mehr zum Verschwinden bringen würden (2010, 173) – auch hier lauert die Logik des Gespensts. Zu viel Kontextualisierung, so Latours These, verschleiere letztlich das, was innerhalb des Kontexts stattfindet. ­Latour streitet zudem vehement gegen eine „Philosophie der Kausalität […], die gewöhnlich in den Sozialwissenschaften verwendet“ wird (2010, 178). 367

Die „Objekte und Dinge“, so Latour, müssten befreit werden, und zwar von ihrer „‚Erklärung‘ durch Gesellschaft“ (2010, 190). Solche Erklärungen und die Praxis, alles als „soziales Konstrukt“ zu betiteln, stehen ganz im Fadenkreuz von Latours Kritik. Abhilfe könne hier nur ein radikales Vorgehen schaffen – der Bruch mit dem eigenen Grundbegriff. Es gäbe „keine Möglichkeit, die Sozialtheorie zu erneuern, solange der Strand nicht gesäubert und der unselige Gesellschaftsbegriff nicht vollständig aufgelöst ist“ (2010, 283). Latour spitzt seine These zu: „Entweder gibt es eine Gesellschaft, oder es gibt eine Soziologie.“ (2010, 282) Zweitens polemisiert Latour gegen das poststrukturalistische Denken – ganz ähnlich, wie das auch Henri Lefebvre getan hat. Bei Latour hört sich das wie folgt an: „Wie der Name bereits impliziert, ist der Poststrukturalismus das Überbleibsel des Strukturalismus, nachdem die Struktur verschwunden ist, einem Huhn vergleichbar, das immer noch weiterläuft, nachdem ihm der Kopf abgeschlagen wurde. Obwohl er die Suche nach Kohärenz verabschiedet hat, hat der Poststrukturalismus dieselbe Definition von Kausalität beibehalten […].“ (2010, 368) Dennoch teilt Latour, wie wir gleich sehen werden, eine Reihe von Grundannahmen mit dem poststrukturalistischen Denken. Auch das ist eine Ähnlichkeit mit Lefebvre, Die Abgrenzungen von Latour, die sich bei beiden seiner Feldzüge etwas nach Theaterdonner anhören, sind vielleicht auch beim französischen Sozialtheoretiker vor allem das Resultat einer Sublimierung und Verdrängung der eigenen theoretischen Herkunft. Wobei das Gleiche natürlich auch für die Kritik an der kritischen Soziologie gilt: Latours Polemik und Heftigkeit lässt sich vermutlich ebenfalls nur dadurch erklären, dass im Grunde ein gemeinsames Erbe verhandelt wird. Aus meiner Sicht jedenfalls interessanter und überzeugender als seine Abgrenzungsversuche sind Latours sozialtheoretischen Überlegungen. Auch hier verknüpft Latour seine Position zunächst mit seiner Kritik an der klassischen Soziologie.

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„Die Antwort der Soziologen des Sozialen bestand darin, sich jeder Metaphysik zu enthalten und alle Verbindungen zur Philosophie zu kappen, jener wunderlichen und nicht empirischen Disziplin, welche die primitive Kindheit der inzwischen erwachsen gewordenen Sozialwissenschaften darstellt. […] Die meisten Sozialwissenschaftler dürften sich dem Gedanken heftig widersetzen, dass sie sich mit Metaphysik beschäftigen müssen, um das Soziale zu definieren. Doch eine solche Haltung bedeute nur, dass sie ihrer eigenen und gewöhnlich ‚sehr dürftigen‘ Metaphysik verhaftet bleiben.“ (2010, 89) Was Latour hier herausarbeitet ist die These, dass jegliches Denken des Sozialen und der Gesellschaft (und des Urbanen, wie sich einmal mehr ergänzen lässt) auf einer metaphysischen beziehungsweise ontologischen Annahme basiert. Für das urbanistische Feld bedeutet das, dass natürlich auch jeder rein planerische Annäherung an das Städtische, jedem Gebauch des „demogra­ fischen Arguments“ oder jeder Statistik und jedem Ranking eine Metaphysik/ Onto­­logie inhärent ist. Metaphysik bedeutet für Latour dabei das Gleiche wie Ontologie, mit dem Unterschied, das Letztere „die Frage der Wahrheit“ miteinschließt (2010, 206). Von der Metaphysik zur Ontologie überzugehen bedeute, die Frage wieder aufzuwerfen, was „die wirkliche Welt wirklich ist“ (2010, 204). Diese Frage führt Latour zu den Dingen und Objekten. Die Objekte sind für Latour nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil sie für ihn der Schlüssel für das Verständnis von Macht sind. Andauernde Macht, so lautet das Argument, könne nämlich nur „durch Entitäten ausgeübt [werden], die nicht schlafen, und durch Assoziationen, die sich nicht auflösen“ (2010, 121). Für Latour geht es darum, die „Dauerhaftigkeit und Ausbreitung jeglicher Interaktion zu ­erklären“ (2010, 125) – zu diesem Zweck schlägt er die Zuwendung zu den Dingen vor. Eine solche Zuwendung könnte helfen, die „kontrastreiche Landschaft“ zu erklären, den „Abgrund der Ungleichheiten, die gewaltigen Asym­metrien, die erdrückende Ausübung von Macht“ (2010, 125). Von einer Reduzierung auf das „ziemlich dumme Argument zur [linearen] kausalen Wirkmächtigkeit von technischen Objekten“ distanziert sich Latour dagegen 369

explizit (2010, 122). Es würden „zwischen voller Kausalität und schierer ­I nexistenz viele metaphysische Schattierungen existieren können“, Dinge könnten etwa „ermächtigen, ermöglichen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren und so fort“ (2010, 124). Das, was geschieht, geschehe aufgrund multipler Verknüpfungen: Es gebe nicht nur „Mensch-zu-­Mensch-Verbindungen“ und „Objekt-zu-Objekt-Verbindungen“, sondern eben auch und hauptsächlich solche, die „im Zickzack von den einen zu den anderen“ verlaufen (2010, 130). Latours hauptsäch­ liches ontologisches Argument lautet dann auch, dass es „zwischen ‚dem Materiellen‘ und der ‚sozialen Welt‘“ gar keine Beziehungen gibt, und zwar einfach deshalb, weil sie in Wahrheit gar nicht getrennt sind (2010, 130). Latour eröffnet die Debatte zu den Dingen also mit einer Infragestellung von dem, was gerade die (ambitionierten) Stadt­w issen­schaften so intensiv beschäftigt – mit der Anfechtung der These vom Verhältnis Gegenstand/Sozia­ les. Zwischen den Objekten und dem Sozialen, so Latours These, besteht keine Beziehung, weil „diese Zweiteilung [selbst] ein komplettes Artefakt ist“ (2010, 130). Latour vertieft den Punkt mit Heidegger. Er wandelt auf dessen Spuren und fragt, was eigentlich die res der res publica ist. Dem römischen res entspricht die Sache, der Gegenstand, das Objekt. Die zusammengesetzte res publica, so Latour, ist nichts anderes als der von den Objekten erzeugte öffentliche Raum (2005, 5). Latour macht darauf aufmerksam, dass das Objekt zum einen eine materielle Sache, zum anderen aber auch ein Untersuchungsgegenstand ist (ein Sachverhalt, ein Thema). Sein Argument ist, dass jedes Objekt in dieser doppelten Zuschreibung einen eigenen Bedeutungsraum erzeugt, einen Raum von Gefühlen, Störungen, Verständigungen und Missverständnissen. Genau diesen Raum nennt Latour den öffentlichen Raum. Der öffentliche Raum, die res publica, das wiederum ist das Ding, Heideggers Ding, das Ding, das versammelt, das thing der Versammlungsstätte. Das Heidegger’sche Ding versammelt Menschen, Nicht-Menschen, Güter. Als Beispiel nennt Latour: Gänge von Supermärkten, Finanzinstitute, ärztliche Einrichtungen, Computernetzwerke, Laufstege und – als Musterbeispiele von hybriden Formen – Architekturmodelle (2005, 14). Latour schreibt, es sei eine schöne Ironie, dass das Ding 370

gerade das versammelt, was Heidegger so gehasst hat: Kommerz, Technologie, Industrie und Massenkultur (2005, 13).22 Indem sich das Öffentliche an die Dinge selbst haftet, löst es sich von einem topografisch exakt bestimmten/bestimmbaren Ort. Der öffentliche Raum wird von den Dingen erzeugt, er befindet sich in ihnen. Nicht zuletzt emanzipiert sich der öffentliche Raum dadurch vom öffentlichen Platz der Stadt und des Städtebaus (vgl. auch Roskamm 2016). Die Objekte, so lautet Latours Kernthese, erzeugen um sich herum den öffentlichen Raum. Dieses „Erzeugen des öffentlichen Raums“ ist die eigentliche Tätigkeit, die Latour den Dingen anheftet. Latour fragt weiter: Wie versammelt das Ding? An dieser Stelle nähert er sich der Kategorie des Antagonismus. Es ist nämlich, darauf weist er explizit hin, gerade die Streitsache, die versammelt. Versammelt wird meist nicht, so Latours Beobachtung, um sich zu verstehen, übereinzukommen, sich gut zu fühlen. Versammlungen im öffentlichen Raum sind regelmäßig Ausdruck der Positionierung, der Gegenrede, des Nicht-Einverstandenseins. Der öffentliche Raum des Dings ist ein Streitraum (2005, 13). Das Ding, so Latours Formulierung, hat die Menschen immer zusammengebracht, indem es sie entzweit. Damit wendet sich Latour – womit sich ein weiterer Kreis schließt – gegen das Ideal der kommunikativen Planung (vgl. S. 160) und gegen die Idee von der leeren agora, auf der sich die Menschen versammeln, um Demokratie zu machen. Die Aufgabe, die Latour dem eigenen Ansatz einverleibt, ist es, den leeren Platz mit Dingen zu füllen, oder genauer, den Blick auf jene Dinge zu lenken, die dort schon immer versammelt sind. Interessant ist, dass Latour mit seinem als Dingpolitik bezeichneten Ansatz nicht nur das postfundamentalistische Fundament des Antagonismus in Szene setzt, sondern auch das Postulat der Kontingenz (2005, 13). Er befreit nämlich die Objekte – indem er sie zu Dingen macht – von ihrer ontologischen Form als matters of facts. Die Dinge sind für Latour gerade keine feststehenden, unveränderlichen Wahrheiten, sie sind keine Fakten, die ausschließlich der objektivistischen technologischen Sphäre (eine Sphäre, die es genau genommen weder gibt noch geben kann) zuzuordnen sind. Für zu lange Zeit, so Latour, sei den Objekten dadurch Unrecht getan worden, dass sie als harte, naturwissenschaftliche Tatsachen angesehen worden seien. Objekte seien aber nicht 371

„objektiv“ im Sinne von nur einer Interpretation (oder besser: keiner Interpretation) zugänglich (objektiv gegeben). Eine solche Auslegung sei „unfair“ gegenüber der Erfahrung, der Wissenschaft und auch der Objektivität selbst (2005, 9). Objekte (als Dinge) seien, so proklamiert Latour, vielmehr matters of concern, also umstrittene, streitbare, Streit verursachende und eben keineswegs feststehende Angelegenheiten (2005, 13). Jenseits ihres Daseins als Fakten büßten diese Dinge zwar an (vermeintlicher) Klarheit und Trans­ parenz ein, gewännen aber an Tiefenschärfe und Komplexität. Die Dinge als matters of concern können immer auch anders sein – dieses Immer-auch-anders-sein-Können mache die Sachen erst zu Dingen. So verstandene Dinge, das ist Latours These, haben den Geltungsbereich der Objektivität verlassen und sind eingetreten in das Reich des Politischen (eigentlich befinden sie sich seit jeher dort). Das Politische definiert sich auch für Latour gerade dadurch, dass es Differenz gibt, die Möglichkeit von Alternativen und eine Auseinandersetzung (­einen Streit) um diese Möglichkeiten. Latour schreibt, es sei Zeit, die res wieder zurückzubringen in die res publica. Genau genommen versucht Latour also, die Dinge zu politisieren. „Zurück zu den Dingen“ – das möchte Latour explizit als einen „politischen Slogan“ verstanden wissen (2005, 13). Bei Latour erzeugen die Dinge den öffentlichen Raum anhand der beiden postfundamentalistischen Fundamente: Kontingenz und Konflikt. Auf diesem Wege lässt sich mit Latour schließlich auch die Stadt (ihr Dinghaftes, ihr Materielles, ihr Institutionelles) in das Reich des Politischen zurückverschieben. Bis zum Ende gefolgt, findet sich bei Latour mit der Dingpolitik ein Plädoyer dafür, die Objekte – gerade die urbanen Objekte und der öffentliche Raum, der von ­i hnen geschaffen wird – zu politisieren, indem sie einerseits kontingent gemacht und andererseits als Streitsache genommen (antagonisiert) ­werden.

• Zusammengenommen lässt es sich mit dem Denken des Dings in der Tra­ dition von Heidegger, Lacan, Lefebvre und Latour erneut die für eine post­ fundamentalistische Stadttheorie so entscheidende Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Stadt treffen. Stadt unterscheidet sich von Gesellschaft in 372

ihrem dinghaften Wesen. Zum einen besteht die Stadt aus Dingen, in ihr versammeln sich Objekte, Sachen, Themen. Zum anderen ist die Stadt selbst ein Ding. Die Stadt ist ein verallgemeinerter Streitfall. Sie ist nicht nur Ort oder Behälter, sie versammelt auch selbst, sie bringt die Dinge zusammen, weil sie selbst ein Ding ist. Das Leben, so schreibt mit Robert Musil ein anderer Literat des Postfundamentalismus, „bildet eine Oberfläche, die so tut, als ob sie so sein müßte, wie sie ist, aber unter ihrer Haut treiben und drängen die Dinge“ (1978, 241). Das gilt auch für die Stadt. Dinge bewohnen die Vorder- wie die Rückseite der Stadt. Sie sind Hybride und Mittler zwischen den Welten, sie sind Heidegger’sche Streitsachen und Versammlungsorte, sie sind tatsächlich eigen-aktiv im Sinne Latours, und zwar aktiv in der Produktion des öffent­ lichen Raums. Diesen Raum zu erkunden, seine Produktionsweisen zu erforschen und zu verstehen, das ist es, was eine postfundamentalistisch informierte Stadtwissenschaft unternehmen möchte. Während die Gesellschaft vielleicht Menschen (Gruppen, Gemeinschaften, Klassen) versammelt, versammelt die Stadt Dinge im Latour’schen Sinn, Objekte, die von den Menschen und ihren Handlungen nie getrennt gewesen sind (also auch: Gruppen, Gemeinschaften und Klassen, aber eben dinghafte Gruppen, Gemeinschaften und Klassen). Die Stadt besteht aus Dingen, sie ist ein einziger großer Behälter vollgestopft bis oben hin mit dinghaften Objekten. Das Ernstnehmen dieser Dinge, der Ansatz, sich mit ihnen zu beschäftigen, sich auf sie einzulassen, die Geister, die in ihnen hausen, sichtbar zu machen, all das ist Aufgabengebiet einer Stadtanalyse, die sich dabei gut in eine Marx’sche Tradition stellen und die von Marx und Engels untersuchten Mechanismen der Verdinglichung als einen Weg betrachten kann, zu versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen. In der Stadt versammelt sich Materielles (hat sich immer Materielles versammelt), und diese Eigenschaft kann vielleicht auch etwas Licht in die diffuse Beziehung zwischen dem Marx’schen historischen Materialismus (vgl. Kapitel 1) und dem Urbanen werfen. Der new materialism, wie die neue Bezugnahme auf die Dinge auch genannt wird (vgl. Dolphijn/van der Tuin 2012), könnte in der Stadt das finden, was Latour in seinen Texten immer wieder einfordert, nämlich eine Alternative zum Begriff der Gesellschaft.23

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Die Stadt der Dinge und die Stadt als Ding haben aus dieser Perspektive das Potenzial, einen Ort zu definieren, an dem jene Hybride ihr Zuhause haben und der damit (wem? uns) einen Rahmen und eine Richtung gibt. Und einen Namen für das Gebiet, auf dem sich darum gekümmert werden könnte: Stadtforschung wird aus dieser Sicht tatsächlich zu einem privilegierten Ort für sozialtheoretische Untersuchungen postfundamentalistischer Prägung. Es ist gewissermaßen eine Wiederentdeckung des Materiellen und Realen, die eine solche Stadtforschung verspricht, allerdings eine Wiederentdeckung, die sich die komplexe Natur jenes Realen und Materiellen bewusst gemacht hat und stets aufs Neue bewusst macht, indem sie sich auf die merkwürdige Kategorie des Dings einlässt und bezieht. In der Stadtforschung, auch das passt geradezu kongenial zusammen, könnte sich das neue Interesse an den Objekten, das letztlich als „ein Ausdruck der inneren Verwerfungen des Objektivismus“ (Marchart 2013, 55) zu betrachten ist, versammeln. Die Stadtforschung ist meines Erachtens auch deshalb ein ziemlich geeigneter Ort für solch eine Zusammenkunft, weil dort (sowohl im klassischen Metier als auch in der kritischen Tradition) ein solcher Objektivismus aufgehoben ist und bis heute seinen Platz beansprucht.

5.3 Verdichtungen Stadttheorie hat vielleicht vor allem zur Aufgabe, das eigene Objekt zu bestimmen und herauszufinden, worum es sich bei Stadt eigentlich handelt. Mein stadttheoretischer Versuch verfolgt das gleiche Ziel. In diesem abschließenden Kapitel möchte ich einige der in meiner Untersuchung bisher versuchten Annäherungen nochmals aufrufen und diskutieren. Natürlich geht es dabei nicht um die Bestimmung eines metaphysischen wesenhaften Seins von Stadt, nicht darum, etwas zu finden, was Stadt „aus sich heraus“ ist. Genauso wenig ist es mein Plan, zu einer einzigen und abgeschlossenen Definition zu gelangen. Der Versuch, den Begriff der Stadt zu ergründen, kann nichts anderes bedeuten, als ihn in konzentrischen Bewegungen immer wieder zu umkreisen: Es geht darum, Angebote zu machen und zu verwerfen, Formulie374

rungen auszuprobieren und zu wissen, dass sie immer nur Versuch bleiben können, vorläufig, abhängig von der eigenen Position (zeitlich, örtlich, politisch). Auf einfache eindeutige Antworten verzichten zu wollen, ist unverzichtbare Voraussetzung für eine solche Fährtensuche. Das Herantasten selbst ist es, das zählt. Was ich reflektieren möchte ist, wie sich Stadt im Diskurs herstellen lässt (und hergestellt wird) und was für Nebenwirkungen bei diesen Produktionen zu beobachten sind. Einführen in das hier betriebene spekulative Geschäft möchte ich ein traditionelles urbanistisches Prinzip, nämlich das Konzept der Verdichtung. Die klassischen Angebote von stadttheoretischen Überlegungen auf dem urbanistischen Feld sind Dichte und Verdichtung. Die Verdichtung von Menschen, von Gebäuden, von Infrastrukturen, das ist es, was seit jeher als Kern des Städtischen herausgearbeitet wurde und wird. Kern einer solchen Geschichte ist der Gedanke, dass die Stadt eine Verdichtung ist, und zwar die Verdichtung zu einem kollektiven Projekt. Diese These bezieht sich auf die Antike, auf die griechische polis oder, noch weiter zurück, auf die ersten Stadtgründungen in Mesopotamien. Die Gründung einer Stadt ist eine vereinte Anstrengung mit dem Ziel, das Leben zu verbessern, Schutz zu suchen oder auch mit der Absicht, „Glanz“ (Foucault 2006a, 471) zu erzeugen. Eine Stadt zu gründen, ist ein Projekt, das auf der Feststellung von Gemeinsamkeit beruht, oder, wie Der­r ida es herausarbeitet, auf Freundschaft. Die antike Stadt, die griechische polis, ist eine positive gemeinsame Verdichtung, sie ist das „Werk der Freundschaft“, die Idee des Zusammenlebens „am gleichen Ort“ (Derrida 2000, 268). Diese Geschichte aber hat ihre Schattenseite. Die kollektive Verdichtung ist gleichzeitig Ausschluss und Exklusion. Verräumlichungen produzieren immer Ausschluss – im Fall der polis den Ausschluss der Fremden, der Frauen und der Sklaven. Die positive Verdichtung ist gleichzeitig die Verdichtung des Negativen. Die Stadt als baulich manifestierter glänzender Ausdruck von dem, was die Gesellschaft zu leisten in der Lage ist, hat immer auch eine andere, dunklere Seite. Das führt natürlich zu Marx. Im Marx’schen Sinne lässt sich ergänzen, dass die Stadt die Verdichtung von Konflikten, Gegensätzen und Antagonismen ist. Das wird von einer poststrukturalistisch interessierten Stadttheorie bestätigt 375

und ergänzt. Hinzu kommt, wie wir gesehen haben, eine weitere Verdichtung, nämlich das verdichtete Kontingente, das sich in den Dingen und Gespenstern als den konzentrierten Heimsuchungen des Städtischen materialisiert. Eine postfundamentalistische Analyse des Urbanen möchte sich diesen Verdichtungen zuwenden und versuchen, sie zu durchdringen. Sie untersucht die Formen einer verstädterten Gesellschaft. Eine solche Stadttheorie wird danach trachten, den Begriff der verstädterten Gesellschaft genauso beizubehalten wie das Edikt der Verdichtung. Aber sie wird neue und andere Verdichtungsformen hinzufügen, Formen mit einem Eigenleben, Formen der Kontingenz und des Antagonismus. Die Grenzen von Sozialtheorie und Stadttheorie lösen sich dabei tendenziell auf. Stadttheorie ist Gesellschaftstheorie, und vermutlich ist Gesellschaftstheorie auch Stadttheorie. Eine so ausgestellte Stadttheorie unternimmt eine Gesellschaftskritik, die den Stadtbegriff in erster Linie verwendet, um einen Zusammenhang herstellen zu können, um eine Instanz der Totalität zu benennen und hervorzubringen. Die postfundamentalistische Stadtannäherung möchte eine „panoramische Theorie“ sein, also „den Nachweis erbringen, dass ein bestimmter Teilaspekt von universeller Relevanz ist“ (Marchart 2013, 394). Aber es ist eben nicht nur der Nachweis der univer­ sellen (oder vielleicht sollten wir sagen: planetarischen) Relevanz, sondern gleichzeitig das Postulat der Unmöglichkeit: Um postfundamentalistisch zu sein, muss Theorie nicht „nur den Namen der Totalität, sondern auch jenen der Unmöglichkeit vollständiger Totalisierung liefern“ (Marchart 2013, 394). Genau das – die Behauptung von Totalität; der Nachweis ihrer Unmöglichkeit – sind die beiden Hauptstränge einer postfundamentalistischen S ­ tadttheorie. Verdichtung bedeutet Zentralität. Das Strukturprinzip des Städtischen ist die Verdichtung im Zentrum. Zentralität ist eine topologische Kategorie, die die geografische Lage (im Zentrum) verbindet mit der Frage nach der Relevanz (etwas ist von zentraler Bedeutung). In der Zentralität überlagert sich die empirische Feststellung der geografischen Verortung mit der Behauptung, dass etwas von Bedeutung ist. Beides wird hergestellt durch Verdichtung. Die Konzentration lässt die Dinge ins Zentrum rücken. Damit ist die Verdichtung ein relationales Konzept. Die Bedeutung besteht nicht von vornherein, ­sondern sie wird in Szene gesetzt durch das, was (mit) den Dingen geschieht. Zur Zen376

tralität gewordene Verdichtung ist immer auch das Ergebnis eines Kampfes, einer Konfrontation. Die Besetzung der Stadt – örtlich, bedeutungsmäßig – ist das Ziel eines Kampfes um Bedeutungshoheit und Verfügungsgewalt. Die konzentrierte Konfrontation wiederum ist das, was sich in der Stadt versammelt, und das, was sie ausmacht. Die Besetzung der Stadt ist das Ergebnis von hegemonialen Bemühungen. Das ist das, was auch die Rede vom Recht auf Stadt zum Ausdruck bringt. Das Recht auf Stadt bedeutet, Deutungsmacht für die Besetzung des verdichteten Zentrums einzufordern. Diese Macht, so die These, liegt in den falschen Händen, oder sie ist zumindest nicht so verteilt, wie sie verteilt sein sollte. Verdichtung und Zentralität werden mit einer topologischen Operation zum zentralen Strukturprinzip des Sozialen. In dieser Transformation wird Sozialtheorie zur Stadttheorie. Theorie hat den Zweck, etwas zu privilegieren. Politische Theorie privilegiert das Politische, soziologische Theorie beschäftigt sich mit dem Sozialen, geografische Raumtheorie legt den Fokus auf den Raum. Es geht darum, etwas in das Zentrum zu stellen, und auch darum, zu begründen, warum dort sein Platz ist oder seien sollte. Die Privilegierung von Stadt – das Anliegen von Stadttheorie – fällt traditionell schwer. Der Urbanismus sollte das leisten, er macht aber meist nur den ersten Schritt: Er stellt die Stadt in das Zentrum, er erklärt jedoch selten, warum eigentlich. Stadttheorie? Was bitte schön soll das sein? Auch in der politischen Theorie wird beizeiten das Politische angezweifelt und verworfen. Auch die Sozialtheorie gerät manchmal in Verzweiflung ob ihres Objekts. Die Raumtheorie hält ihrem Gegenstand (dem Raum) vielleicht am klarsten die Stange, auch wenn es mitunter schwerfällt, ihr dabei zu folgen. Stadttheorie hingegen gibt es erst einmal kaum unter diesem Namen. Und wenn über Stadt bewusst theoretisiert wird, dann kommt dabei häufig heraus, dass sie – als Begriff – unnütz, obsolet usw. ist. Aktuelle Versuche einer Privilegierung scheitern meist daran, dass sie eine neue Substanz in den Begriff hineinverlagern wollen, eine eigene Struktur, eine eigene Logik. Erst der Poststrukturalismus schafft es, einen neuen Ansatz anzubieten, nämlich den, dass die Stadt durch die Unmöglichkeit einer solchen Substanz­ implementation bestimmt wird. Eine postfundamentalistische Theorie des ­Urbanen transformiert Stadt zum unmöglichen Objekt. Sie bestätigt das 377

vielstimmige Lamento über den unnützen Stadtbegriff und dreht es noch ein Stück weiter. Dabei entsteht ein Konzept, das – aus der Warte des Urbanismus – irritiert, weil es nicht messbar und der traditionellen wissenschaft­ lichen Analyse nur begrenzt zugänglich ist, weil es dem sozialwissenschaftlichen Zugriff immer wieder entgleitet und damit nachhaltige Verstimmungen hervorruft. Es ist nicht nur irritierend, sondern auch ärgerlich, weil es eine Totalität wiedereinführt, die mühsam verabschiedet worden war, und weil es dann auch noch auf der Unmöglichkeit besteht, jemals ganz dorthin zu ge­ langen. Eingeführt auf dem urbanistischen Feld werden von der postfundamentalistischen Stadttheorie die Sprachspiele der politischen Philosophie und damit eine ziemlich ungewohnte Form von Analyse. Dieses Ungewohnte provoziert, es fordert heraus, es verlässt die „Sicherheitszone positiver Wissenschaft“ (Marchart 2013, 388). Das Zusammentreffen von Urbanismus und Postfundamentalismus generiert einen Kampfplatz, es bewirkt eine eigene Anfechtung, eine contestation. Hergestellt wird ein Streitraum, in dem Schlichtung nicht einfach ist, weil es schwerfällt, die beiden Formen – philosophisches Sprachspiel, sozialwissenschaftliche Analyse – auf versöhnliche Weise zusammenzubringen. Die unbesetzte Stadt verlässt die angestammten Gefilde des urbanistischen Feldes. Das ist ähnlich wie beim postfundamentalistischen Begriff der Gesellschaft. Ein solcher Begriff, so lautet eine der Thesen von Marcharts Postfundamentalismus, gehört „nicht dem euklidischen Raum der empirischen Sozialwissenschaften“ an und sie lässt sich „nicht topographisch vermessen“, sondern nur „topologisch beschreiben“ (2013, 194). Das Gleiche lässt sich mit Fug und Recht von der postfundamentalistisch gedachten Stadt behaupten, die jenem euklidischen Raum und jener topografischen Perspektive natürlich noch viel intensiver als die Gesellschaft verbunden ist. Aus diesem Grunde ist die unbesetzte Stadt – konstruiert als unmögliches Objekt – eine Provokation und gerät in Konflikt mit den urbanistischen Traditionen orthodoxer, reformerischer oder auch kritischer Provenienz. Allerdings bleibt Stadt in einer postfundamentalistischen Stadttheorie unbedingt ein Grundbegriff – sonst wäre es ja keine Stadttheorie, sondern irgendetwas anderes. Grundbegriffe haben die Aufgabe, eine Richtung zu geben. Die 378

Richtung des Grundbegriffs Stadt weist auf das urbanistische Feld. Stadt als Grundbegriff einzusetzen verspricht, dass dort – auf dem urbanistischen Feld – Dinge von Relevanz zu finden sind. Auf Grundbegriffe kann nicht verzichtet werden – würde auf sie verzichtet, blieben nur formelhafte nichts­sagende Schablonen ohne Schatten übrig. Grundbegriffe sind deshalb Grundbegriffe, weil sie zu den Gründen führen und dabei die gesellschaftstheoretischen Dimensionen jener Gründungen sichtbar machen – Marchart spricht von der unansehnlichen sozialtheoretischen Rückseite (2013, 357), die im Grunde sämtlichen Begriffen zu eigen ist. Eine postfundamentalistische Stadttheorie beschäftigt sich daher vorrangig mit der Rückseite der Stadt. Eine Rückseite, die – wie wir gesehen haben – tatsächlich eine ganze Reihe von eher un­ schönen Ansichten zum Vorschein bringt, erinnert sei an die urbanistische Spezialdisziplin der urbanen Pathologisierungen und an die so verbreitete biologistische Tonlage. Stadt als Grundbegriff gerät immer in die Nähe von Essentialisierung und Substantialisierung, in den Sog von deterministischen Versuchungen. Das postfundamentalistische Denken lässt sich auf solche Versuchungen ein, gerät teils gefährlich nahe an die metaphysischen Stimmungen, die in diesen Gegenden zu Hause sind. Aber es wendet sich stets und entschieden gegen absolut gesetzte Substanzgebungen und gegen das Inthronisieren von Letztbegründungen. Damit versetzt sich die postfundamentalistische Stadttheorie vorsätzlich in eine prekäre Lage und wendet das Denken vom Grund zum Navigieren am Abgrund. Der Postfundamentalismus zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Frage nach dem Grund in den Mittelpunkt gezerrt wird, dass die lange eingeübten Verdrängungsmechanismen unterlaufen werden. Wo wäre das deutlicher zu beobachten als in den Stadt- und Raumwissenschaften? Nicht nur der Grund, auch Dinge wie Wahrheit, Wesen, Ursache interessieren im Postfundamentalismus. Und zwar immer auf zweierlei Weise: zum einen, um sie zu dekonstruieren, um sie offenzulegen, um die unterschiedlichen Formen von Determinismus, Objektivismus, Po­ sitivismus und so weiter zu entlarven. Auf der anderen Seite aber auch, um das eigene paradoxe System immer wieder anzuwenden, um die identifizierten Ursachen Kontingenz und Konflikt in ihren negativen Wirksamkeiten zu ­verfolgen. 379

Die Zweiteilung in eine Vorder- und eine Rückseite lässt sich mit der „poli­ tischen Differenz“, also der Einteilung in Politik und das Politische ver­ gleichen, von der weiter vorne berichtet worden ist. Auch mein Reden von der unbesetzten Stadt ist eine Theorie der Differenz, nämlich eine Theorie der urbanen Differenz. Diese Differenz ist allerdings nicht die Differenz zwischen Stadt und Land, sie ist auch nicht die Differenz zwischen der Stadt als Ding und dem Urbanen als Prozess. Die urbane Differenz ist etwas, was die beiden Seiten der Stadt umschreibt – die Vorder- und die Rückseite, oder besser, was den Differenzraum zwischen diesen beiden Seiten erzählt und dadurch öffnet. Die urbane Differenz ist wie jene Unterscheidung in Spiel (game) und Spielen (play), die Differenz zwischen Regeln-aufstellen auf der einen und ungeregeltem Improvisieren auf der anderen Seite (Graeber 2016, 228). Stadt vereint diese beiden Seiten in einem einzigen Begriff. Stadt bedeutet einerseits Planen, Bauen, Regieren, Steuern, Ordnen und Verräumlichen. Der Stadtproduktion des Urbanismus geht es um Verfestigung, um die Beseitigung von Chaos, Spontanität, Ereignis, um die Auslöschung von Welt. Stadt- und Raumplanung sind Anti-Kontingenz-Strategien, Taktiken gegen das Ungeplante und Unberechenbare. Stadt hat aber, andererseits, immer auch etwas mit Alltäglichem, Fluidem und Chaotischem zu tun. Dem Stadtbegriff ist die urbane Differenz eingeschrieben. Genau deshalb ist er ein Einfallstor zum Denken von Totalität (beide Enden des Differenzraums sind in ihm enthalten), genau das macht ihn zu einem so interessanten Objekt der theoretischen Reflexion. Die Differenzierungen in Politik/das Politische, Spiel/Spielen oder Stadt/Stadt folgen sämtlich der heideggerianischen Teilung in das Ontische und das Ontologische: Politik, geregeltes Spiel und geordnete Stadt stehen für das Ontische; das Politische, das archaische Spielen und die urbane Alltäglichkeit sind potenziell ontologische Kategorien. Allerdings ist diese Grenzziehung selbst schwierig, denn „ontologische Einsicht“ bringt „notwendigerweise ontische Blindheit und ontischen Irrtum mit sich und umgekehrt“, nur wenn „der ontologische Horizont der eigenen Aktivität ignoriert“ wird, kann ontisch erfolgreich agiert werden (Žižek 2010, 23). Dieser berechtigte Einwand zeigt zum einen die Notwendigkeit für die ontische Stadtforschung, ontologische Fragestellungen zu verdrängen oder zu bekämpfen. Er macht zum anderen aber 380

auch aufmerksam auf die Schwäche einer ontologisch ausgerichteten Stadttheorie, die darin liegt, auf der realpolitisch umsetzungsorientierten Ebene tendenziell kraftlos zu bleiben. Zum Handlungsleitfaden auf dem ontischen Feld der Stadt – der Stadtplanung, dem Städtebau, der Stadtpolitik – taugt Stadttheorie daher erst einmal nur ziemlich begrenzt. Es gibt keine direkten programmatischen Ableitungen, postfundamentalistische Reflexion ist keine Anwendungsforschung. Ertragreich ist es allerdings – aus der anderen Richtung betrachtet – für jede Stadttheorie, sich mit der ontischen Vorderseite der Stadt zu befassen. Ein wich­ tiger Teil von stadttheoretischer Reflexion ist eine dezidierte Kritik des Urba­n ismus. Was Stadttheorie benötigt, ist eine Ideologiekritik des urbanistischen Wissens- und Machtapparates, eine aktuelle Form von „linker Bürokratiekritik“ (Graeber) und eine aktuelle Analyse der „städtischen Problematik“ (Lefebvre). Kritische Stadttheorie kann den Urbanismus nicht ignorieren, sondern muss durch seine Ideologie hindurchgehen. Stadtplanung ist der Versuch, die urbanen Dinge zu regeln, sie in eine bestimmte städtische Ordnung zu bringen. Stadtplanung und Städtebau – daran hat sich in den letzten fünfzig Jahren nichts geändert – sind Versuche von Verräumlichungen, und sie sind „(scheinbar) nicht-ideologische Ideologien“ (Lefebvre 1974b, 212). Der formelle Kern des Urbanismus ist ein bürokratischer Verwaltungsapparat, der auf einem gefestigten Gesetz- und Verordnungsfundus aufbaut und begriffliche und institutionelle Routinen bespielt. Eine „theoretische Revolution muß durch eine radikale Kritik des Städtebaus als eines ideologischen und institutionellen Überbaus hindurchgehen“ (Lefebvre 1974b, 213) – dieser Aufgabe gilt es, sich stets neu zu stellen. Stadtplanung steht für den ordnenden Teil des Stadtbegriffs. Stadtplanung regelt, reglementiert, verordnet. Wen oder was? Die urbanen Dinge. Wenn aber unter Stadt, und einiges spricht für eine solche Auslegung, das Ungeregelte, Ungeordnete und Ungleichzeitige verstanden wird, dann wird schnell deutlich, dass Stadtplanung das Ziel verfolgt, Stadt abzuschaffen. Die Stadtfeindschaft im Urbanismus der klassischen Moderne war also weder Zufall noch Unfall, sondern folgerichtig. Der Urbanismus agierte gegen das Chaos der ­bestehenden Stadt, gegen das ungeordnete Treiben in den urbanen Zentren. 381

Und dieser Grundgedanke ist weiter präsent – auch wenn die klassische Stadtfeindschaft im urbanistischen Denken seit den 1980er-Jahren durch eine Stadtfreundschaft abgelöst worden ist. Der Neuordnungsgedanke wurde von diesem oberflächlichen Ideologiewechsel jedoch nicht berührt. Offizielle Stadtplanung versucht weiterhin, die urbane Praxis in eigens entwickelte ­Kategorien zu sortieren,24 Zonen festzulegen für die eine oder für die andere Funktion, einen ordentlichen Ablauf des widerspenstigen Alltaglebens zu organisieren. Auch hier hat sich seit der Analyse von Lefebvre wenig geändert. Lefebvre hat Ende der 1960er-Jahre herausgearbeitet, dass der Urbanismus nur durch systematisches Ignorieren des urbanen Alltagslebens in der Lage ist, seinen eigenen Grundwiderspruch auszuhalten: den Widerspruch von Stadt und Planung. Die Stadt und das Städtische waren und sind Dinge, die sich nicht nur nicht ordentlich planen lassen, sondern die das genaue Gegenteil einer solchen Ordnung sind. Eine komplett durchgeplante und durchgeordnete Stadt ist keine Stadt mehr. Eine Aktualisierung dieser Problematik ist möglich mit dem Begriff des Postpolitischen. Der Urbanismus funktioniert heute im Modus des Postpolitischen, also in dem Modus, der den „gegenwärtigen globalen Kapitalismus“ repräsentiert (Žižek 2010, 10). Das Postpolitische ist dadurch definiert, dass es nichts mehr grundsätzlich infrage stellt, dass es das Denken von Alternativen nur in einem eingeschränkten und klar begrenzten Rahmen zulässt. Die Ursache für diese Funktionsform kommt aus zwei Richtungen. Zum einen wird das Postpolitische durch die Neoliberalisierungstendenzen aktiviert. Die Ideologie von Markt und Wettbewerb ist auf allen gesellschaftlichen Feldern – trotz Finanz- und Bankenkrise – weiter auf dem Vormarsch und ebnet das Politische, indem es verflacht. Wachstum und Prosperität sind nach wie vor wirkungsmächtige Narrative, die die Geschicke des Urbanismus maßgeblich beeinflusst haben, auch und vielleicht sogar gerade die Geschicke der sozialdemokratisch aufgestellten Stadtpolitik. Soziale Infrastrukturen sind längst zu „Produkten“ und „Stücken“ geworden, der Planer, der Gesellschaft durch plane­r ische Eingriffe lenken wollte, ist abgelöst vom Controller, der nur noch Effizienz und Marktlogik als Ideale gelten lässt. Stadtplanung ist ein „erster Verdichtungspunkt (neo)liberaler Gouvernementalität“ (Marquard/Schreiber 2012, 41). 382

Zum anderen sind es aber auch die hausgemachten Geister, die den Urbanismus in den postpolitischen Modus überführen. Solche Gespenster treten dann in Aktion, wenn die formelle Stadtplanung aus einem vorhandenen Katalog die Nutzung für einen städtischen Bereich auswählt und festsetzt oder wenn von der Stadtverwaltung die immer gleichen Leitbilder im konsensuellen Verfahren aufgestellt werden. In dieser Hinsicht hat sich im Urbanismus gegenüber den 1960er- und 1970er-Jahren vielleicht tatsächlich etwas verschoben. In der klassischen Moderne und auch in der Nachkriegsmoderne sind die Ziele, so erscheint es zumindest im Rückblick, größer und mutiger gewesen. Die Akzeptanz des Gegebenen war weniger durchgehend ausgeprägt, zudem standen noch Systemalternativen zu Verfügung. Das „Ende der Geschichte“ im Großen und die Praxis der Konsensfindung im Kleinen hat den Urbanismus klein- und weichgekocht. Auch wenn einige der Ziele in der klassischen Moderne nicht unbedingt sympathisch gewesen seien mögen: Politischer ist es auf dem urbanistischen Feld zu dieser Zeit auf jeden Fall zugegangen. Heute sind Stadtplanung und Städtebau vorsichtiger geworden mit ihren Versprechungen. Mit der Bescheidenheit hat sich der Urbanismus jedoch auch eine Einschränkung des Denkens eingehandelt, die das Politische tendenziell verschwinden lässt.25 Stadtplanung bedeutet die Verwaltung von infrastrukturellen Erfordernissen und den Aushandlungsprozess zwischen einzelnen Interessensgruppen – also die Organisation des Postpolitischen.26 Städtebau und Stadtplanung sind politische Institutionen, die zu befragen sind – genau da liegt das Interesse meiner These von der unbesetzten Stadt. Die postfundamentalistische Auslegung des Politischen eröffnet mit ihrer Begriffsbildung eine neue Perspektive auf Stadt, Urbanisierung und Urbanismus. Diese Perspektive zu umschreiben, das ist die Aufgabe meiner These von der unbesetzten Stadt. Die unbesetzte Stadt behauptet dabei eine Leerstelle, einen notwendig offen bleibenden Zwischenraum, einen Spalt in den Fundamenten, eine Differenz. Die urbane Differenz, an diesen Punkt sind wir ein ums andere Mal gestoßen, ist der öffentliche Raum, der Archetyp des Dazwischens, das unbesetzte innere Zentrum der Stadt. Die unbesetzte Stadt öffnet einen Raum, in dem es möglich ist, zu agieren, zu handeln, Dinge zu tun und zu gebrauchen. 383

Diese Öffnung bezeichnet allerdings auch noch ein anderes Dazwischen (oder vielleicht ist es ja auch das gleiche), das Zwischen zwischen Theorie und Praxis, zwischen der aseptischen Analyse und der verdreckten Realität, die Grauzone der gegenseitigen Verschmutzung, der Durchtränkung der ­T heorie mit dem urbanen Unrat, aber auch umgekehrt, das, was die Notwendigkeit der urbanen Alltags- und Bewegungspraxis nach Metareflexion und universellem Narrativ ins Gedächtnis ruft. Die unbesetzte Stadt folgt dem postfundamentalistischen Edikt von der Unmöglichkeit eines letzten Grundes. Sie lässt einen Platz frei, um dieser Unmöglichkeit einen Raum zu geben, und auch, um dem Universellen/Totalen/Planetarischen einen „leeren und doch unauslöschlichen Platz“ (Laclau 1996, 94) einzuräumen: Die „Unmöglichkeit eines universalen Grundes [eliminiert] nicht seine Notwendigkeit: Sie transformiert nur den Grund in einen leeren Platz, der partiell und auf verschiedene Weisen gefüllt werden kann“ (Laclau 1996, 95). Zudem ist die unbesetzte Stadt – oder, mit Agamben gesprochen, die „ent-setzte Stadt“ – etwas, was entgleist ist, sich außerhalb der Spur begibt, außerhalb des klassischen Urbanismus, vielleicht auch außerhalb des kritischen Urbanismus. Die unbesetzte Stadt ist nicht nur entsetzt, sie löst auch Entsetzen aus. Sie entsetzt das orthodoxe städtebauliche Denken (im Sinne von Bestürzung) genauso, wie sie dogmatischen Ansätzen Marx’scher Prägung auf die Nerven geht. Der Ort der unbesetzten Stadt schafft dabei einen Zwischenraum zwischen Idealismus und Materialismus. Die unbesetzte Stadt ist zu Hause in einer erneuerten (durch Streit erneuerten) Version des historischen Materialismus. Sie lässt sich auf die Dinge ein, und sie folgt der spekulativen These von Lefebvre, der die Materie als überschüssigen Rest zum Ganzen bestimmt. Die unbesetzte Stadt verhandelt das topos der Abwesenheit und verweist auf die Präsenz dieses Abwesenden.27 Sie ist ganz und gar anwesende Abwesenheit. In dieser Abwesenheit repräsentiert sie einen horror vacui, eine Lücke, sie ist unbesetzt und wirft in dieser Unbesetztheit ein grelles Licht darauf, dass ­etwas fehlt. Und, wie jeder Mangel, erweckt sie damit einen Wunsch, ein ­Begehren, das Verlangen, die Lücke zu schließen, die Leerstelle zu besetzen, die Stadt zu bebauen.

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Postfundamentalistische Stadttheorie hat zum Ziel, eine Richtung vorzuschlagen. Für wen oder was? Meine These von der unbesetzten Stadt ist letztlich in erster Linie ein Vorschlag für kritische Stadtforschung. Was beinhaltet der Vorschlag? Postfundamentalistische Stadtforschung beschäftigt sich mit Brüchen. Ihre Grundannahme ist das Fehlen eines letzten Grundes, und diese Annahme produziert am laufenden Band neue Brüche. Es geht ihr um die „Erhellung der Gegensätze des Phänomens Stadt“ (Lefebvre 1975b, 111), darum, zu begreifen, wie diese Gegensätze konstruiert und eingelagert sind. Postfundamentalistisches Denken kümmert sich um Illusionen, um die Herstellung von Verbindungen (Ursachen, Wahrheiten), und sie besteht in der „geduldige[n] Arbeit, die diese Fiktion demaskiert und die dadurch trennt, was zu vereinen man vorgegeben hatte“ (Agamben 2003b, 103). Ausstaffiert ist die Aufgabe als Genealogie oder Dekonstruktion, als kontingenzbewusster und -behauptender und von Zweifeln geleiteter Rückblick, der sich an Überlieferungen, Traditionen und Routinen, Kontinuitäten und Diskontinuitäten abarbeitet Im Kern der These von der unbesetzten Stadt gibt es auch formale Vorschläge. Vorschläge, auf welche Weise sich der Stadt und dem urbanistischen Feld möglicherweise genähert werden kann. Da ist zunächst erneut das Konzept der Verdichtung. Einen Ausdruck im sozialwissenschaftlichen Forschungsdesign findet dieses Konzept in der „dichten Beschreibung“, die für die ethnografische Methode einer genauen und aufmerksamen Beobachtung steht (Geertz 1983) und den Fokus auf das Versammeln legt, welches die Verdichtung herstellt. Stadtforschung lässt sich als Verdichtung betreiben, die ihre Aufmerksamkeit auf die Dinge richtet, die von ihr versammelt werden. Politisch wird diese Haltung dadurch, dass sie ihre Gegenstände nicht als vom Himmel ­gefallen betrachtet und dass sie sich traut, die Frage nach den geeigneten ­Objekten immer wieder neu zu stellen (und sich nicht den Mund verbieten lässt). Die Dichte – das Ergebnis der Verdichtung – ist Bestandteil eines klassischen ­Gegensatzpaares (das Dünne und das Dichte), das in der antiken Philosophie ganz an den Anfang allen Geschehens gestellt wird (Aristoteles 1829, 21). Das Gegensatzpaar erzeugt Bewegung, es löst die Dinge von ihren Plätzen und bringt sie in Fluss. Der Stadtbaustein Dichte eröffnet damit einen weiteren und eher wenig bekannten Zugang zur Stadt, der die Durkheim’sche 385

Dichtethese („Dichte verursacht Gesellschaft“) in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Er bestimmt den urbanen Modus durch Antrieb: Bewegung durch Dichte. Verdichtung verhindert Stillstand, und das geschieht bevorzugt in der Stadt. Dieses Bild lässt sich problemlos mit dem postfundamentalistischen Denken verbinden, in dem Konflikt und Antagonismus als bestimmende Elemente gesetzt sind. Im Zentrum stehen dabei die urbanen sozialen Bewegungen, die für die Stadtforschung traditionell eine große Bedeutung besitzen. Die Recht-­ auf-Stadt-Aktivisten machen in ihren Aktionen nicht zuletzt darauf aufmerksam, dass die Konfliktlinien sich ausdifferenziert und multipliziert haben. Aus dem großflächigen Systemkampf sind multiple und kleinteilige urbane Konfliktlinien entstanden, aus denen sich das Städtische zusammensetzt, es konstruiert und destruiert. Die „soziale[n] Bewegungen aktualisieren den Antagonismus“ (Marchart 2013, 410), und sie tun das bevorzugt im städtischen Kontext. Mit anderen Worten: Stadt konstituiert sich im Konflikt. Daher ist die Bewegungsforschung so wichtig für das Verständnis von Stadt – zumindest dann, wenn sie sich auf das „Wagnis ontologischer Theoriebildung“ einlässt (Marchart 2013, 328). An diesem Punkt wird noch einmal deutlich, weshalb die Empirismuskritk auf dem urbanistischen Feld so entscheidend ist. Einer Konfliktforschung, die sich den urbanen Konflikten rein empirisch nähert, wird es nicht gelingen, den Antagonismus als Grundelement des Städtischen zu identifizieren. Die Stadt, so meine postfundamentalistische Wendung, lässt sich aber nicht nur bevorzugt über ihre Konfliktlinien greifen, sondern im Grunde nur durch einen Ansatz, der das konstitutive antagonistische Element erkennen und explizieren vermag. Städtische Aneignungsbemühungen – in Form von organisierten urbanen Bewegungen, aber auch in Form von alltäglichen „Ent-unterwerfungen“ (Judith Butler) im Kontext des Städtischen – rücken für eine Analyse der Stadt in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Stadtforschung wird aktuell meist als sozialwissenschaftliche und empirisch ausgerichtete Disziplin betrieben. Es geht um messbare Fakten, um Statistiken, Daten und Kartografien. Geografische, soziologische und planerische Stadtforschung versucht, ihrem Objekt durch Vermessung auf die Schliche zu kommen. Sozialtheoretische Ansätze sind etwas, was nur – sauber getrennt in 386

einen historischen Blick und verpackt mit der Patina der alten Klassiker – den Gründervätern der Disziplin zugestanden wird, etwa Georg Simmel, Emile Durkheim oder auch Karl Marx. Zeitgenössische Versuche auf diesem Gebiet werden dagegen nicht so gerne gesehen – das ist der Eindruck, den ein Blick auf die derzeitige Forschungslandschaft vermittelt. Schaut man genauer, zeigt es sich, dass es nicht nur eine zufällige Abneigung ist, sondern die Konsequenz eines rationalistisch-objektivistischen Ansatzes, der sich gerade ­dadurch begründet, ontologische Spekulationen als unwissenschaftliche Spinnereien abzuwehren. Die Positionskämpfe um einen hegemonialen Forschungszugang zur Stadt und zum Städtischen sind immer wieder Versuche, die sozialtheoretischen Geister fernzuhalten, auszutreiben und zu verleugnen. Notwendig sind diese Abwehrmanöver vor allem deshalb, weil der Begriff der Stadt selbst durchtränkt ist von ontologischer Spekulation. In seiner nicht fassbaren Totalität stellt er sich ständig quer zu den partikularistischen Eigenversicherungen und Beruhigungsversuchen. Die sozialwissenschaft­ liche Stadtforschung kommt nicht zur Ruhe, weil ihr ihr eigener Grundbegriff ständig auf die Füße fällt und der Flucht in das wohlgeordnete Klein-Klein den Fluchtweg abschneidet. Eine postfundamentalistische Stadttheorie ist auf der einen Seite der Versuch, die ontologischen Grundannahmen von aktueller Stadtforschung und ­aktuellem Urbanismus ans Licht zu zerren. Fündig wird sie hier an ganz verschiedenen Stellen, etwa bei den biologistischen Spurenelementen der Stadtsanierungsplanung, den naturdeterministischen Versatzstücken der Raumordnungsplanung, den neoliberalen Effizienzfantasien der Stadtökonomie oder auch bei den zähen Dogmatismen von neo-marxistischen Ansätzen. Eine genealogisch/­ dekonstruktive Analyse dieser multiplen Herkünfte ist ein ertragreicher und spannender Tätigkeitsbereich für jeden postfundamentalistischen Ansatz. Es geht aber um noch mehr. Auf der anderen Seite ist es nämlich erforderlich, die eingeübten und in diskursiven Routinen gelagerten Grundbegriffe des Urbanismus postfundamentalistisch neu zu verhandeln. Begriffe wie Differenz, Heterogenität, Dichte, Mischung, Bevölkerung, Struktur, Begründung, Abwägung. Begriffe, die das diskursive Inventar des urbanistischen Feldes ausmachen und die mit der Änderung der sozialtheoretischen Geschäftsgrundlage 387

potenziell neu aufzusetzen sind – von einigen solcher Versuche habe ich in meiner Studie berichtet. Solche Neuverhandlungen, die im Grunde alles betreffen, was auf dem urbanistischen Feld zum Einsatz kommt und auf dem Spiel steht, sind für aktuelle Stadtforschungen ein nahezu unbegrenztes Forschungsdesiderat. Postfundamentalismus behauptet die Unmöglichkeit von Letztbegründungen und die Notwendigkeit von Kontingenz. Das eröffnet die Möglichkeit des Politischen. Nur wenn es nicht von vornherein festgelegt ist, gibt es die Chance, anders sein zu können. Nur das Vorhandensein von echten Alternativen aktiviert die Möglichkeit, verschiedene Positionen einzunehmen und in den Modus von hegemonialen Bemühungen zu wechseln. Die Welt muss erst aus der Verankerung gerissen sein, um in Bewegung gesetzt werden zu können. Die finale Unmöglichkeit einer vollständigen Stabilisierung von Bedeutungssystemen (also von Diskurs, Identität, Raum oder Gesellschaft), die Akzeptanz ihrer Kontingenz und die Anerkennung ihrer radikalen Historizität sind die Bedingungen für eine demokratische Gesellschaft. Das postfundamentalistische Kontingenzpostulat ist Voraussetzung dafür, die Welt – und das heißt vor allem: die Welt der Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung – nicht unveränderbar sein zu lassen. Seine Welterklärung findet der Postfundamentalismus im Antagonismus als Grundeigenschaft des Sozialen und Urbanen, und damit stellt er sich in eine postmarxistische Traditionslinie. Der Transfer des Modells auf das urbanistische Feld ist dabei hochgradig plausibel – das Städtische als den Ort des Konflikts zu identifizieren hat eine lange Tradition, das postfundamentalistische Denken kann sich problemlos an diese Denkschule(n) andocken und einen eigenen aktuellen Erklärungsansatz beisteuern. Mit dem Fokus auf die Dinge und die Gespenster interveniert der Postfundamentalismus zudem in die wichtige Frage nach den privilegierten Unter­ suchungsobjekten – auch hier ist die Verbindung zum Urbanismus direkt greif- und herstellbar. Die Frage nach dem Politischen ist der Zielpunkt des postfundamentalistischen Suchens nach den Gründen. Mein Transfer eines solchen Denkens auf das ­u rbanistische Feld bewegt letztlich vor allem genau diese Frage, indem es dem Urbanen seinen (letzten, wesenhaften) Grund entzieht. Wegen einer sol388

chen „ultimativen Grundlosigkeit […] verwandelt sich […] die Frage nach dem ‚Sein‘ zur Frage nach dem Politischen“, Postfundamentalismus ersetzt also die Sphäre des Wesenhaften/Seinsmäßigen durch die Dimension des Poli­ tischen: „Das Politische rückt an die Stelle des abwesenden Grundes.“ (Marchart 2013, 430) Diese Verschiebung ist so etwas wie die ontologische Pointe des postfundamentalistischen Ansatzes, auch und vielleicht gerade auf dem urbanistischen Feld. Wenn also etwas von einer postfundamentalistischen Stadttheorie ontologisch privilegiert wird, dann ist das weniger die Stadt (oder der Raum), sondern das Politische: das Politische als Kategorie der Dislokation, der Veränderung, des Anfangens, des Handelns, des Konflikts. Dieses Politische zu suchen, zu finden, zu benennen und in Gang zu setzen, das ist das Primat des hier lancierten Ansatzes. An die erste Stelle rückt das Politische auch für die Frage, was eine Stadtforschung tun kann, die sich auf eine solche Grundlegung beruft: kritische Durcharbeitung, zweifelndes Ergründen, reflexive Theorie. Um auf dem Feld des Privilegierens (dem Feld der Hegemonie) überhaupt intervenieren zu können, wird Theorie dringend benötigt – Stadttheorie als Theorie der planetarischen Urbanisierung ist vielleicht tatsächlich unverzichtbar. Es geht darum, das Politische der Stadt zu reaktivieren, es aus seinem Schlafzustand zu erwecken, den stillgelegten Schauplatz mit neuer Energie zu versorgen – nicht, um ihn zu besetzen, sondern um ihn dauerhaft offen zu halten. Das postfundamentalistische Denken bringt den Einsatz auf dieses Spielfeld: Antagonismus und Kontingenz. Und es zeigt den Weg zu den Fragen des Seins und der Wahrheit, den Fragen der Seinsproduktion und der Wahrheitsherstellung, den Fragen des Nicht-Seins und der Lüge. Es verschiebt die Fragen, es lässt Fragen gelten, die bisher nicht gegolten haben, Fragen nach dem Möglichen wie nach dem Unmöglichen. Es fragt danach, was Stadt ist, ermöglicht und besetzt. Und es fragt, was Stadt verhindert, verunmöglicht und unbesetzt hält. Auf dem urbanistischen Feld geht es aus postfundamentalistischer Warte darum, zu ergründen, was die Stadt daran hindert, endgültig besetzt zu werden. Und es geht darum, die eigenen Verräumlichungen und Verfestigungen – baulich, institutionell, theoretisch – im Bewusstsein dieser Unmöglichkeit zu verfassen. 389

von heute bedeutet des Marxismus nicht nur eine

Anmerkungen

arge praktische da theoretische Verlegenheit ersten Grades, sondern überdies auch noch eine theore­ tische Verlegenheit zweiten Grades, nämlich eine ‚wissenschaftstheoretische‘ Verlegenheit. Er läßt

1

2

Im französischen Original besteht die zusätzliche

sich in keinem der hergebrachten Schubkästen des

Pointe darin, dass sich Hantologie auf gleiche Weise

Systems der bürgerlichen Wissenschaften unter-

wie Ontologie ausspricht.

bringen, und selbst wenn man eigens für ihn und

Während Ontologie die Lehre des Daseins und des

seine nächsten Kumpane einen neuen Schubkasten,

Daseienden ist, ist Hantologie die Lehre von dem,

Soziologie genannt, eröffnen wollte, würde er nicht

was nicht da ist. Die Hantologie „verweist darauf,

einmal ruhig darin bleiben, sondern fortwährend aus

dass die Ontologie von ihrem eigenen abwesenden

seiner Lade hinaus in alle anderen hineinfahren. […]

Grund, ihrer Grundlosigkeit, heimgesucht wird“

Die einfache Erklärung für diese vom Standpunkt

(Marchart 2010b, 150). Das postfundamentalis­

bürgerlicher Wissenschaftstheorie unauflösliche

tische Denken stellt sich ganz in die Tradition einer

Schwierigkeit besteht darin, daß der Marxismus,

solchen Hantologie, die sich auf jene „spukhaften

­sogar in jenem weitesten bürgerlichen Sinne des

Gestalten“ konzentriert, „die jedes als Fundament

Wortes ‚Wissenschaft‘, in welchem dieses Wort

vorgestellte Sein heimsuchen und gerade die Abwe-

noch die spekulativste metaphysische Philosophie

senheit eines letzten Fundaments zur Anwesenheit

in sich einschließt, nicht als eine ‚Wissenschaft‘

verhelfen“ (Marchart 2013, 86). 3

Schon wieder gerät die Stadt ins Blickfeld, die Pro-

­bezeichnet werden kann“ (1930, 119). 7

blematik der An-/Abwesenheit wird im Angesicht

sich etwa dann, wenn David Harvey gegen dessen

der Stadt verhandelt. Derrida nennt die Stadt als

Gespenster polemisiert, indem er Eagleton zitiert:

Beispiel für eine fest bestimmbare Lokalität, als

4

„This is the ultimate post-structuralist fantasy: an op-

­topos der Anwesenheit. Aber vielleicht ist das die

position without anything as distastefully systemic

falsche Fährte? In der Stadt sind die Abwesenheiten

or drably ‚orthodox‘ as an opposition, a dissent

vielleicht bedeutsamer, als es Derrida hier andeutet.

­be­yond all formulable discourse, a promise which

Das gilt auch und gerade für den eng geführten

would betray itself in the act of fulfillment, a perpe-

­Parallel-Begriff der Dekonstruktion, der zwar „nie

tual excited openers to the Messiah who had better

marxistisch“, aber „ebenso wenig […] nicht-marxis­

not let us down by doing anything as determinate as

tisch“ gewesen und der doch immer „einem ge­ wissen Geist des Marxismus“ treu geblieben ist.

coming.“ (Eagleton, zitiert nach Harvey 1996a, 9) 8

(Derrida 2004, 110). Die Dekonstruktion, so

5

6

Wie recht Derrida mit seiner Einschätzung hat, zeigt

„… muß man es herausschreien: Noch nie in der Geschichte der Erde und der Menschheit haben Gewalt,

schreibt Derrida, sei in einem „prämarxistischen

Ungleichheit, Ausschluss, Hunger und damit wirt-

Raum unmöglich und undenkbar“ gewesen und

schaftliche Unterdrückung so viele menschliche

habe „immer nur Sinn und Interesse gehabt als eine

Wesen betroffen. Anstatt in der Euphorie des Endes

Radikalisierung, das heißt auch in der Tradition

der Geschichte die Ankunft des Ideals der liberalen

­eines gewissen Marxismus“ (2004, 130).

Demokratie und des kapitalistischen Marktes zu be-

Die „Gespenster der Philosophen“ sind bei Marx

singen, anstatt das ‚Ende der Ideologien‘ und das

und Engels die Deterministen, die die Geschichte

Ende der großen emanzipatorischen Diskurse zu fei-

still stellen mit ihrem Reden von der „Substanz“ und

ern, sollten wir niemals diese makroskopische Evi-

dem „Wesen des Menschen“ (1846, 27). Die Pro-

denz vernachlässigen, die aus dem tausendfältigen

duktionsverhältnisse sind in dieser Erzählung dage-

Leiden einzelner besteht: Kein Fortschritt der Welt

gen gerade keine Determinanten, die das Geschich-

erlaubt es, zu ignorieren, dass in absoluten Zahlen

temachen der Menschen behindern, sondern im

noch nie, niemals zuvor auf der Erde so viele Männer,

Gegenteil sind sie es, die die Dynamik der histori-

Frauen und Kinder unterjocht, ausgehungert oder

schen Bewegung entfalten (vgl. Kapitel 1).

ausgelöscht wurden“ (Derrida 2004, 121).

Karl Korsch hat dieses Phänomen schon früh auf den Punkt gebracht: „Für die bürgerlichen Gelehrten

390

9

Eine weitere inspirierende Kontextualisierung des Gespensts findet sich bei Gordon 2008.

10 Vgl. zum Beispiel Snedeker/Solnit 2013.

Verhältnis von Akteur-Netzwerk-Theorie und kriti-

11 Vgl. auch die Konzepte der „urbanen Erinnerungs-

schen urban studies (Färber 2014).

diskurse“ bei Drohsel 2016 und der „Erinnerungs­

19 Vgl. dazu ausführlich Roskamm 2011a.

topografien“ bei Dolff-Bonekämper 2007.

20 Damit stellen bei Durkheim die sozialen Tatbestände

12 Spektrale Soziologien, so führt Stäheli aus, „bestim-

„kein passives Substrat dar, sondern entwickeln ein

men sich als das Un-Heimliche der Soziologie, als

gespenstisches Eigenleben als Ding“ (Marchart

Sinnbruch in der Soziologie, ohne sich außerhalb der

2013, 54). Der Beitrag von Durkheim für das Den-

Soziologie zu positionieren“ (2000a, 72). 13 Eine Ausarbeitung eines solchen Ansatzes ist das Buch Real Cities (2005) von Steve Pile. Pile unter-

ken des Dings, so formuliert Marchart, besteht darin, dass er dieses widerspenstig Spukhafte der Dinge nicht „als überwindbares Missgeschick“ gesehen

scheidet in seinem Text in the dreaming city, the

hat, sondern – ohne es in dieser Form in Worte zu

­magic city, the vampiric city und the ghostly city und

fassen – „als konstitutiv erkannte“ (2013, 54).

vermengt dabei seine Lektüre von Freud und Ben­ jamin mit Psychogeografien von „realen ­Städten“. 14 Eine interessante Studie über die „Semantik des Spekulierens“ ist Urs Stähelis Spectacular Specu­ lations (2013). 15 Bei Rancière wiederum findet sich eine weitere ­Engführung von Stadt und Lüge. In seinem Text über die „Ordnung der Stadt“ (2004) diskutiert Rancière die Verfasstheit der städtischen Angelegenheiten in Platons Politeia. Rancière argumentiert, dass es

21 Laclau schreibt: „It is at this point that Lacan radicalizes Freudian thought: the lost Thing is not an impossibility of thought, but a void of Being.“ (2005, 113) 22 Ein anderes berühmtes von Latour untersuchtes Ding ist der „sehr an Gespenster“ erinnernde „durch die Mauern hindurchgehende“ Berliner Schlüssel (1996, 44). 23 Wobei Latour selbst eher skeptisch formuliert: „To be materialist now implies that one enters a laby-

­erstens weniger die Arbeitsteilung ist, die jene Ver-

rinth more intricate than that built by Daedalus.“

fasstheit bestimmt, sondern die Hierarchisierung der

(2005, 14)

städtischen Gruppen in Lenker, Wächter und ­Arbeiter. Zweitens, so Rancière weiter, beruht eben diese

24 Zu den Bedingungen und Effekten solcher Sortierungen/Indexierungen und ihrer politics of invisibi-

Aufteilung auf einer von den Philosophen in die Welt

lity siehe Stäheli 2016, der hier insbesondere auf

gesetzten Lüge, einer notwendigen (für die Konsti-

das im urbanistischen Diskurs derzeit viel disku-

tution der Stadt notwendigen) Lüge, die die urbane Rangfolge in Szene setzt und den Akteuren ihren Platz zuweist (2004, 291). 16 Der von Lefebvre mehrfach bemühte und dezidiert

tierte Thema der Algorithmen eingeht. 25 Das postfundamentale Verständnis des Politischen ist dem nominalen Politikverständnis entgegengesetzt. Ein solches Verständnis auf das urbanistische

auf die Stadt bezogene Begriff der Objektalität ist

Feld anzuwenden ergibt eine ganz neue Kombina-

für Marchart – neben der Totalität und der Negativi-

tion und neue Bedingungen (und Bedingtheiten) von

tät, die, wie wir weiter vorne gesehen haben, ebenso

(für) Stadtplanung/Urbanismus. Stadtplanung als

eine große Rolle in Lefebvres Theorie spielen – eine

postpolitisch zu bezeichnen, bedeutet dabei keines-

der drei „wesentlichen Elemente“ der postfunda-

wegs, zu bestreiten, dass sie politisch ist. Natürlich

mentalistischen Konzeption (2013, 335). 17 AbdoulMaliq Simone verortet solche assemblages

ist auch die Abwesenheit des Politischen eine zutiefst politische Angelegenheit.

„… between the possible – the unstable flows of mate­

26 Ein beträchtlicher Teil der Bemühungen in der Stadt-

rials and substances – and the prescribed – the impo-

planung besteht in der Begründung der eigenen Ak-

sition of functional, stable structures that secure a

tivitäten. Es gibt in der Bauleitplanung – dem harten

statistical order to their relationships – between code

Kern des formellen Urbanismus – eine ganze Praxis

and singularity, expression and content“ (2011, 357).

der Begründung in Form von vorgeschriebenen Text-

18 Vorgeworfen wird der ANT dabei, dass sie nicht nur

bausteinen und eingeübten Argumentationsmustern.

alte reduktionistische Kausalitäten wieder auf-

Der feste und verbindliche Rahmen, in dem das alles

wärme, sondern auch den Blick auf das Politische

abläuft, ist das Baugesetzbuch. Hier wird geregelt,

und auf soziale Ungleichheit systematisch ver-

was in einem Bauleitplan geregelt werden darf

schatte. Vgl. dazu die Debatte in sub\urban zum

(und damit auch, was nicht). Der Rahmen dieser

391

­Planung selbst steht bei den stadtplanerischen ­Begründungsdiskursen allerdings kaum zur Dis­ position. Auch in dieser Konstellation ist das Post­ politische des Urbanismus eingeschrieben. 27 Eine „Geographie der Abwesenheit“ zu beschreiben ist das Ziel von Parr et al. in ihrem Text Living ­Absence (2015), in dem sie unter anderem für ein „right-to-be-absent in the city“ plädieren.

392

Dank

Mein Dank geht an die Institutionen, die diesen Text möglich gemacht haben: die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG , die meine „Eigene Stelle“ zum Projekt „Die unbesetzte Stadt“ bewilligt und finanziert hat (Laufzeit Dezember 2012 bis November 2014); die TU Berlin, die mit einer Anschubfinanzierung die Antragstellung bei der DFG unterstützt hat; das Fachgebiet Denkmalpflege des Instituts für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin, an dem mein Projekt angesiedelt gewesen ist; das Graduiertenkolleg „Identität und Erbe“ (TU Berlin und Bauhaus-Universität Weimar), das Zentrum für Stadtkultur und öffentlichen Raum SKuOR der TU Wien und die FH Erfurt, die mir nach dem Auslaufen meines DFG -Projekts zu verschiedenen Zeiten den nötigen Raum zum Weiterarbeiten zu Verfügung gestellt haben. Das Bauhaus-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Planung hat das Buch mit einem Publikationszuschuss unterstützt. Für die gute Zusammenarbeit bei der Fertigstellung des Buches bedanke ich mich beim Birkhäuser Verlag und speziell bei Katharina Kulke. Für die großartige Unterstützung bedanken möchte ich mich bei Jesko Fezer, der mich nicht nur davon überzeugt hat, dass Die unbesetzte Stadt bei den Bauwelt Fundamenten gut aufgehoben ist, sondern mir auch im Publikationsprozess jederzeit mir Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Für ihre inhaltliche und/oder emotionale und/oder organisatorische Unterstützung möchte ich mich unter anderem bedanken bei: Britta Brugger, Nelly Brugger, Yannick Brugger, Laura Calbet, Katharina Dilger, Gabi Dolff-Bonekämper, Bettina Engels, Gabu Heindl, Sabine Knierbein, Oliver Marchart, sub\urban-Redaktion, Reinhold Zemke.

393

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