Teufelskreis und Lebensweg: Systemisch denken im sozialen Feld 9783666401589, 9783525401583


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German Pages [224] Year 2009

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Teufelskreis und Lebensweg: Systemisch denken im sozialen Feld
 9783666401589, 9783525401583

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Walter Milowiz

Teufelskreis und Lebensweg Systemisch denken im sozialen Feld Mit ausführlichen Praxisbeispielen von Renate Fischer, Klemens Fraunbaum, Georg Kanitsar, Renate Pokorny, Ines Strasser, Alexander Josef Weber

Mit 38 Abbildungen

2., überarbeitete Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40158-3

Die erste Auflage ist 1998 im Springer-Verlag (Wien/New York) erschienen.

© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Daniela Weiland, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständiges Papier.

Wenn eine besondere Form der Kommunikation – nämlich die mit dem Helfer – dazu führen kann, dass das Problem vergeht, dann kann das nichts anderes bedeuten, als dass die bis dahin stattgefundene gewöhnliche Kommunikation entscheidend daran beteiligt war, das Problem aufrechtzuerhalten. Daher sollten wir uns, wenn wir mit Problemen konfrontiert sind, zuallererst und vor allem mit der Frage befassen, wie wir mithelfen, sie zu erhalten.

Inhalt

Vorwort von Johannes Herwig-Lempp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Theorie Einleitung: Systemisch denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus Chaos wird System . . . . . . . . . . . . Systemgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer definiert Systeme? . . . . . . . . . . . . Dauerhaftigkeit von Systemen . . . . . . . . Rigide Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . Verselbständigung von Dysfunktionalitäten Große soziale Systeme . . . . . . . . . . . .

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Die Entstehung von großen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle des Denkens in sozialen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . Leitdifferenzen: Der Unterschied zwischen großem und kleinem System Einführung von Veränderungen in großen sozialen Systemen . . . . . . Der Konflikt – ein System quer zum Sozialsystem . . . . . . . . . . . . . Aus System wird Chaos: Das Life-Event . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Entwicklung von Außenseiterrollen . Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungskämpfe . . . . . . . . . . . . . Komplexe Beziehungen . . . . . . . . . . . Die Isolierung des Außenseiters . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Über das Erlernen von Interaktionsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Systemische Definition der Sozialarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . Der Beziehungskampf: Kommunikation und Metakommunikation . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lösungen: Kalibrierung und Neukalibrierung . . . . . . . . . . . . . Begründung der Sozialarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Methodik Die Haltung des Sozialarbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . Die systemische Werthaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die negative Zuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Paradoxie der Bekämpfung dysfunktionaler Beziehungen Die Lösung: Umbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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99 99 100 101 102

Diagnostik und Fallanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Erkennen von Mustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fallanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Spezielle systemische Interventionsformen . . . . . . . Veränderungen einführen aus einer Berater-Perspektive Umdeutungen und Umbewertungen . . . . . . . . . . . Veränderungen einführen als Beteiligter im System . . .

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Praxisbeispiel Bewährungshilfe: Ein Hund kam in die Küche … (Renate Pokorny) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Praxisbeispiel Berufsfindungskurse: Auf dem Weg in die systemischen Landschaften (Ines Strasser) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Praxisbeispiel berufliche Rehabilitation: Die »Blöd-Seins-Theorie« (Klemens Fraunbaum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Praxisbeispiel Familienintensivbetreuung: Die einfachste Lösung (Georg Kanitsar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Praxisbeispiel allgemeine Sozialhilfe: Umdefinitionen (Alexander Josef Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Praxisbeispiel Wohnungslosenhilfe: Es gibt noch vieles hier zu sehen … Überlebensstrategien für Sozialarbeiter (Renate Fischer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Praxis

Vorwort

Sozialarbeit wird von und für Menschen gemacht, von denen jeder seinen eigenen Kopf und seine eigene Perspektive hat. Und da Menschen lebendig sind und (buchstäblich) ständig in Bewegung, wechseln sie auf diese Weise unablässig nicht nur ihre Perspektive, sondern damit auch ihre Ansichten und Meinungen. Menschen sind eigensinnig, sie stellen selbst Sinn her über sich und ihre Umwelt. Dies bedingt, dass Sozialarbeit nicht einfach eine Technik sein kann, mit der soziale Probleme auf eine genau definierte Art und Weise zuverlässig und eindeutig beseitigt werden können. Auch wenn dies von außenstehenden Nichtfachleuten häufig so gewünscht und verlangt wird, weil sie nicht ohne Weiteres verstehen können, dass Menschen einfach nicht wie Maschinen gesteuert werden können, sondern eigensinnige Wesen sind. Was Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter (wie auch vor ihnen ihre beruflichen Vorfahren in der Armenpflege, der Wohlfahrt und der Fürsorge) – nicht zuletzt eben aus beruflicher Erfahrung – schon lange wissen, berücksichtigen die systemischen Ansätze in ganz besonderer Weise. Aus diesem Grund sind sie auch hervorragend geeignet als wichtige (wenn auch nicht die einzigen) Konzepte für die Sozialarbeit. Die systemischen Ansätze kommen ursprünglich aus dem Bereich Therapie und Beratung und wurden vor allem von Psychoanalytikern und Ärzten für die damals neu erfundene Familientherapie entwickelt. Ihre ersten Vertreter waren äußerst experimentierfreudig, hatten große Lust und viel Vergnügen am Ausprobieren und Erfinden neuer Wege, benötigten hierfür aber auch Mut und Ausdauer. Man denke nur daran, wie viel Selbstbewusstsein und Zutrauen es wohl braucht, wenn man nach jahrelanger Einzelarbeit mit Patienten nun plötzlich die gesamte Familie zum Gespräch einlädt, wenn man sich bei der Arbeit von Kolleginnen und Kollegen durch die Einwegscheibe zuschauen lässt oder wenn man mit paradoxen Aufgaben experimentiert. Beflügeln ließen diese Menschen sich durch Blicke über den Zaun in andere Disziplinen – z. B. die Systemtheorie (Ashby, Luhmann), die ja ursprünglich eine Maschinentheorie war, in die Philosophie und Erkenntnistheorie (von Foerster, von Glasersfeld, Wittgenstein, Buber) und in die Biologie (Maturana, Varela). Sie waren bereit, sich in vielerlei Hinsicht auf unbekanntes Gebiet zu begeben. Einige der Pioniere des systemischen Arbeitens waren selbst einmal Sozialarbeiter, zum Beispiel Virginia Satir, Insoo Kim Berg und Salvadore Minuchin, bevor sie Beratung und Therapie als Schwerpunkt wählten. Und doch dauerte es Jahrzehnte, bevor diese Konzepte wieder zurück zur Sozialarbeit fanden. Abgesehen davon, dass die Haltung passte und die Methoden wirkungsvoll waren, wurde diese Annahme systemischer Konzepte vermutlich auch dadurch erleichtert, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter es schon immer gewohnt waren, mit vielen Menschen zu arbeiten, mit Kolleginnen zu kooperie-

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Vorwort

ren und von diesen bei ihrer Arbeit beobachtet zu werden, immer wieder neue Interventionen zu erfinden und zu experimentieren. Walter Milowiz ist ein Pionier der Systemischen Sozialarbeit. Er hat frühzeitig – in den 1970er Jahren – begonnen, das systemische und konstruktivistische Denken zurück auf die Sozialarbeit zu übertragen. Walter Milowiz versteht sich dabei als Theoretiker und Praktiker, als Vor-Denker und als Handelnder zugleich. Theorie und Praxis gehören für ihn zusammen und beziehen sich aufeinander. Das merkt man diesem Buch wohltuend an: Er denkt, um zu handeln bzw. um Handlungsoptionen zu entwickeln – und er nimmt den beruflichen Alltag der Sozialen Arbeit als Anlass zum Nachdenken. Professionalität heißt für ihn auch, nicht einfach nur zu machen, sondern das eigene Handeln zu reflektieren, es zu überprüfen, nach weiteren Möglichkeiten zu suchen und sich auf diese Weise zu entwickeln. Sein Buch enthält viele Beispiele, an denen er seine Theorie und seine Methodik nicht nur demonstriert und überprüft, sondern wie jede gute Praktikerin und jeder gute Praktiker auch weiterentwickelt. Als »Teufelskreis und Lebensweg« 1998 erstmals erschien, war es eine der ersten Veröffentlichungen, die systemische Konzepte ausdrücklich auf das gesamte vielfältige Spektrum der Sozialarbeit (und nicht nur auf Beratung und Therapie) bezogen. Das hat sich geändert und mittlerweile liegen eine Reihe von Büchern zur Systemischen Sozialarbeit vor – und verdeutlicht so eine der für mich wesentlichen Stärken der systemischen Ansätze: dass es keine einheitliche »systemische Schule« gibt, sondern eine Vielfalt der unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen. Wenn Walter Milowiz sein Buch jetzt in einer überarbeiteten Neuauflage vorlegt, wird deutlich, dass es nichts von seiner Aktualität verloren hat und eine Bereicherung für die Theoretiker/-innen und Praktiker/-innen der Systemischen Sozialarbeit darstellt. Es ist voll von Anregungen und eröffnet neue Blicke auf vertraute Begriffe und Konzepte. »System«, »Beziehung« und »Konstruktivismus« bleiben nicht abstrakt, sie werden mit Leben gefüllt, systemische Handlungsformen sind nicht nur »praktisch«, sondern werden von Milowiz und seinen Mitautoren und Mitautorinnen auf die theoretischen Grundlagen bezogen – und die besonderen An- und Herausforderungen der Sozialen Arbeit, ihre Komplexität und Besonderheit gehen bei ihnen nicht verloren, sondern stehen immer wieder im Mittelpunkt. Ich freue mich, dass dieses Buch wieder erhältlich ist, und wünsche ihm viele Leserinnen und Leser. Sie werden Impulse für die eigene Arbeit daraus ziehen können und so die Entwicklung der Systemischen Sozialarbeit mit gestalten und beeinflussen. Johannes Herwig-Lempp

Theorie

Einleitung: Systemisch denken

Seit etwa 1972 beschäftige ich mich mit steigender Begeisterung mit Systemtheorie, weil mir bis dahin die verschiedenen Antworten, die die Psychologie für meine Fragen bereitstellte, als unbefriedigend erschienen, und ich im systemische Ansatz in sukzessiver Folge brauchbare Antworten gefunden habe. Seit ich mich erinnern kann, haben mich folgende Fragen beschäftigt: – Wie kommt es, dass Menschen immer wieder – offenbar in bester Absicht – ohne Ende gegeneinander arbeiten? – Wie kommt es, dass »vernünftiges Denken« nur selten aus solchen andauernden Kämpfen herausführt? – Gibt es irgendwelche grundlegenden Regeln, an denen man sich orientieren kann, wenn man an solch penetranten Situationen etwas ändern will? Interessanterweise bin ich im Lauf der Zeit zu der Feststellung gekommen, dass die meisten solchen prinzipiellen Fragen sich eigentlich selbst beantworten, wenn man sie exakt genug formuliert. Das entspricht meinem Anspruch nach einem handlungsrelevanten Theorieansatz, dessen wissenschaftliche und methodische Schlüssigkeit sich in der Praxis überprüfen lässt. Ich bin Theoretiker insofern, als ich aufgrund dessen, was ich lese, was ich in meiner Praxis und meinem Alltag erfahre und von Supervisanden und Ausbildungskandidaten als Rückmeldung bekomme, eigene theoretische Modelle entwickle. Ich bin allerdings auch Praktiker, insofern ich lebe, und insofern ich als Psychotherapeut, Supervisor und Aus- sowie Fortbildner arbeite. Dies tue ich seit etwa 30 Jahren und erlebe insbesondere die Auseinandersetzung mit Supervisanden und Ausbildungskandidatinnen, die im Allgemeinen im Sozialbereich arbeiten und dort überleben müssen, als besonders hilfreich für die Weiterentwicklung von Ideen. Ich möchte zunächst versuchen, die Entwicklung meines Modells nachvollziehbar zu machen. Der erste Schritt, der mir weitergeholfen hat, war, zu bemerken, dass Wiederholung ein sehr natürlicher Prozess ist, und nicht, wie man meist annimmt, im Speziellen mit Belohnung zusammenhängt: Menschen tun Dinge immer wieder (und öfter) nicht nur, wenn sie dafür belohnt werden. Ich hatte mich damals, im zweiten Jahr meines Psychologie-Studiums einerseits in einem Privatissimum bei Igor Caruso mit Freuds »Jenseits des Lustprinzips« (Freud 1920) befasst, wo dieser nach der Erklärung sucht, warum sein »Lustprinzip« sehr viele Situationen nicht erklären kann. Er hatte ja postuliert, dass der Mensch immer nach Lust strebt, dass das Lustprinzip alles steuert. Dann aber sah er sich immer öfter mit Situationen konfrontiert, wo Dinge immer wieder gemacht wurden, die nicht einmal

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Theorie

durch die Einführung des »sekundären Lustgewinns« mehr erklärt werden konnten, Dinge, wo nur mehr Selbstschädigung zu finden war. Zur gleichen Zeit lernte ich sehr viel über Neurophysiologie, las unter anderem Monods »Zufall und Notwendigkeit« (1971) und konnte auf dieser Basis in meiner Dissertation Freuds Frage sozusagen »physiologisch« beantworten: Gelernt wird nicht solches Verhalten, das Belohnung bringt, sondern solches, das eine Ablenkung von der auslösenden Situation verursacht, etwas, das bewirkt, dass man die Aufmerksamkeit, die psychische Energie auf etwas anderes konzentriert als vorher. Befriedigung eines Bedürfnisses kann eine solche Ablenkung sein, aber ebenso andere plötzlich eintretende Veränderungen der Situation. Wenn ein Kind aufgrund seiner Sehnsucht nach der Mutter (auslösende Situation) verbotenerweise aus der Wohnung geht (Verhalten), so kann Bestrafung (Ablenkung) bewirken, dass die Tendenz, die Wohnung zu verlassen, stärker wird. Auch Lob von der Großmutter ist als Ablenkung in gleicher Weise wirksam. Natürlich hat es denselben Effekt, wenn das Kind draußen die Mutter vorfindet: Auch das lenkt von der Sehnsucht ab, indem es die Abwesenheit beendet. Verbotenes bzw. besonders bestraftes Tun zum Beispiel kann so ebenso leicht immer anziehender werden und daher häufiger auftreten wie auch belohntes – ja sogar noch mehr: Gestohlene Kirschen schmecken am besten. Absichten, wie in der ersten meiner Fragen erwähnt, können ebenfalls auf diese Thematik der Ablenkung einwirken – allerdings nicht nur so, dass erfolgreiches Ausführen der Absicht zu Lernen von Verhalten führt: So kann ein Erfolg (hinsichtlich der Absichten) als »Verstärker« wirken, wie es die klassische Lerntheorie schreibt, ein Misserfolg kann aber durch die entstehende Sensation ebenfalls als unbewusster Verstärker wirksam werden – entgegen den Absichten der handelnden Person. Das Phänomen kennt eigentlich jeder: dass man ein Verhalten, das man eigentlich aufgeben will, nicht los wird – je mehr man sich bemüht, desto öfter passiert es einem unabsichtlich. Insgesamt bedeutet das jedenfalls, dass negative Erlebnisse ebenso wie positive dazu führen können, dass ein Verhalten häufiger auftritt als bisher. Eine Ohrfeige kann ebenso Verhalten verstärken wie ein freundliches Lächeln oder ein vorbeifahrender interessanter Sportwagen. Diese Verstärkung geschieht nicht bewusst, sondern automatisch, sie ist ein Ergebnis der Funktionsweise des Gehirns bzw. der Nervenzellen.1

1 Ich glaube, dass viele Schwierigkeiten der Lernforschung wegfallen könnten, würde man klar zwischen dem Lernen von Inhalten und dem Lernen von Verhalten unterscheiden. Es würde die Widersprüchlichkeit in den Ergebnissen der Lernforschung aufheben, wenn man statt »Lernen von Inhalten« das Lernen von »Wiedergeben von Inhalten« untersuchen, wenn man also auch hier Verhalten untersuchen würde. Verhalten ist beobachtbar und daher kann es definiert werden. Wissen kann nur über Fähigkeit definiert werden und die ist nicht feststellbar, weil Intentionalität vorausgesetzt werden muss und diese nicht beobachtbar ist.

Einleitung: Systemisch denken

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Der zweite wesentliche Schritt war für mich die Feststellung, dass Verhalten besser verstehbar ist, wenn man menschliches Denken nicht als dem Verhalten übergeordnet betrachtet, sondern einfach nur als einen Prozess, der im Zuge des Verhaltens eben auch auftritt. Die neueren Ergebnisse der Hirnforschung (siehe etwa Roth 2000) bestätigen diese Idee, während damals – meine Dissertation erschien 1976 – alleine die Vorstellung, die Psyche könnte ein physiologische Korrelat haben, noch bei sehr vielen Wissenschaftlern auf komplette Ablehnung stieß. Vieles wird klarer, wenn man sich um das vor und während des Verhaltens Gedachte nur sehr wenig kümmert. Da wir ja in ein Gehirn nicht hineinschauen können, können wir über Gedachtes ohnehin nur spekulieren. Anders wird es mit dem, was gesagt wird: Dies ist unbedingt als Verhalten in die Beobachtung mit einzubeziehen und spielt eine wesentliche Rolle bei der gegenseitigen Einflussnahme von Menschen aufeinander. Also: Menschliches Verhalten wird dann am besten verstehbar, wenn man danach sucht, wie sich Verhalten gegenseitig bedingt, und nicht, wenn man über Gedanken und Absichten spekuliert. Man bemerkt hier sehr stark den Einfluss von Watzlawick (Watzlawick et al. 1969), den ich damals gierig verschlungen habe und der auch die dritte Weisheit, die meine Denkmodelle bis heute bestimmt, beigesteuert hat: Alles, was auf der Welt stattfindet oder nicht stattfindet, hat Einfluss auf alles andere, was noch stattfindet. Dass heißt, wir alle sind vernetzt miteinander, wie entfernt wir auch voneinander sein mögen. Und nicht nur die Menschen sind vernetzt, auch alles andere: Steine, Gestirnspositionen und Wetterentwicklungen. Der Begriff »Verhalten« kann auf alles ausgeweitet werden, was auf der Welt überhaupt stattfindet. Man kann diesen Aspekt durchaus oft vernachlässigen – das heißt nur menschliches Verhalten beobachten – und trotzdem zu brauchbaren Beschreibungen kommen, es kann aber manchmal notwendig sein, auch andere Faktoren zu berücksichtigen. Ein häufig angebrachtes Gegenbeispiel sind Menschen, die am anderen Ende der Welt sitzen, und daher »hier« gar keinen Einfluss ausüben können. Wenn man allerdings bedenkt, dass diese Menschen ja auch hierher kommen könnten oder eine Atombombe zünden, dann wird leicht einsichtig, dass ihr unauffälliges Verhalten einen großen Unterschied macht gegenüber anderen Möglichkeiten. Und wenn es einen Unterschied macht, dann heißt das, dass es Einfluss hat. Von Foerster (von Foerster und Bröcker 2007, S. 63) sagt, dass seiner Meinung nach diese Vernetztheit – und insbesondere die des Beobachters bzw. die je eigene – eine unentscheidbare Frage und die Entscheidung, wie es zu sehen sei, damit der persönlichen Vorliebe jedes Einzelnen unterworfen sei. Für jemanden, der überhaupt Wechselwirkungen in der Welt annimmt, stimmt diese Behauptung der Unentscheidbarkeit nicht: Die Feststellung ist dann zwingend, denn die Vorstellung, man könne die Welt beobachten, ohne Einfluss zu nehmen, ist auf dieser Grundlage ein logischer Widerspruch. Wenn ich davon ausgehe, dass jedes Verhalten, jedes Geschehen auf seine Umgebung und deren Verhalten bzw. auf weiteres Geschehen Einfluss hat, dann ist

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Theorie

der nächste Schritt nur eine Folgerung: Verhalten erklärt sich nicht nur aus einer zurückliegenden Geschichte, sondern kann sich nur dann aufrechterhalten oder wiederholen, wenn die jetzige Situation dies unterstützt. Es gibt also zu jedem auftretenden Verhalten oder Geschehnis neben einer Geschichte der Entstehung auch eine wesentliche gegenwärtige Situation, die darüber entscheidet, wie sich das Geschehnis weiterentwickelt: Löst es sich in Wohlgefallen auf, steigert es sich, oder bleibt es konstant? Watzlawick formulierte es so, dass er sagte, jedes Verhalten werde erst dann nachvollziehbar und verständlich, wenn es in Zusammenhang mit dem Kontext gesehen wird, in dem es abläuft. Was immer jemand tut, ist also nicht nur historisch bedingt – also gelernt –, sondern auch gegenwärtig reproduziert, das heißt: aktuell hervorgerufen. Wie anders wäre erklärbar, dass sich etwas ändern kann, wenn Fachleute auftauchen und etwas tun, was bisher vielleicht nicht gemacht wurde. Das einfachste Beispiel ist ein Kind, das entgegen allen Versuchen, es »zur Vernunft zu bringen«, immer trotziger wird. Man kann hier einerseits annehmen, dass das Kind einen genetischen Schaden oder schon einen seelischen Defekt habe, andererseits kann man sich überlegen, ob es möglich wäre, dass das Kind auf die verzweifelten Bemühungen der Eltern reagiert, zum Beispiel, weil es sich ungerecht behandelt fühlt oder weil es sonst wie nicht weiter weiß. Da die Umwelt natürlich auf das Verhalten des Kindes reagiert, kann man annehmen, dass hier eine positive Rückkoppelung im Gange ist, und ein Prozess sich gegenwärtig selbst aufrechterhält: Positive Rückkoppelung heißt, dass ein zyklischer Ablauf sich aufschaukelt, dass das Tun der einen Seite das Tun der anderen Seite verstärkt und umgekehrt, so dass zwei oder mehrere Aktionen von zwei oder mehreren Personen immer intensiver werden, weil jeder auf den anderen reagiert. Dieser Gedanke kommt ursprünglich aus der Elektronik: Wenn ein Mikrofon, ein Verstärker und ein Lautsprecher so eingestellt sind, dass der Lautsprecher das, was das Mikrofon aufnimmt, lauter wiedergibt, und das Mikrofon eben dieses wieder an den Verstärker weitergibt, dann beginnt die ganze Anlage immer lauter zu pfeifen. Wenn sie nicht irgendwie eingebremst wird, dann kann sie sich auf diese Weise selbst zerstören. Jay Haley hat in der Einleitung zu seinem Buch »Gemeinsamer Nenner Interaktion« (1987) auf sehr martialische, aber auch sehr einleuchtende Weise beschrieben, wie dieses Wechselspiel aufgefasst werden kann als ständiges gegenseitiges Definieren der aktuellen Beziehung. Dieses Bild hat mir sehr geholfen, zu verstehen, was da in meinen therapeutischen Sitzungen oder auch in Supervisionen, ja sogar im Unterricht zwischen mir und den anderen vorging. Es ersparte mir eine Menge Supervision und wurde zu einem wichtigen Bestandteil meiner Theorie. Auch meine Lernerfahrungen in der Gruppendynamik-Ausbildung bekamen erst dadurch einen Rahmen, wo ich sie einordnen konnte. An dieser Stelle war es für mich auch wichtig, die Rolle der Sprache noch einmal zu überdenken. Gesagtes hat ja immer einen Inhalt, hat aber auch eine Funktion im Beziehungsgefüge. So wird zum Beispiel jemand, der gerade erzählt, wie er gestern einem Mordversuch entgangen ist, im Normalfall recht viele Zuhörer

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finden, während die Menschen, die ihm zuhören, nicht darüber nachdenken, dass da gerade jemand sie zum Zuhören veranlasst. Sollte sich dann noch jemand finden, die davon zu reden beginnt, dass man sich so etwas ja auch einbilden kann, dann könnte eine heiße Diskussion entstehen, wo zwei Menschen darum kämpfen, wer das Interesse der übrigen erhält, während die meisten der beteiligten Zuhörer im Inhalt – nämlich der Frage »Mordversuch oder nicht« – gefangen bleiben. Wenn jetzt noch ein Dritter auftaucht, etwa ein Trainer in einem Gruppendynamik-Seminar, der auf die Konkurrenzsituation hinweist, dann ist der Effekt, jedenfalls normalerweise, dass beide Diskutanten der Beachtung ihrer Diskussionsinhalte verlustig gehen, während der Trainer in den Mittelpunkt des Interesses rückt – wieder ohne dass dies selbst zur Sprache kommt. »Reflexion« und »Feedback« waren die Zauberworte der Gruppendynamik für diese Vorgänge, Watzlawick machte den Begriff »Metakommunikation« geläufig – aber Haley hielt dem entgegen, dass hier »Manöver« und »Gegenmanöver« betrieben werden, mit denen versucht wird, zu bestimmen, wer mit wem wie umzugehen hat: Wer soll wen beachten, wer soll wem helfen, wer soll wem befehlen, wer soll wessen Befehle ausführen, wer soll wen belehren und so weiter. Das Darüber-Reden, ohne dabei schon wieder Einfluss zu nehmen, ist eine unrealistische Wunschvorstellung, Einfluss wird einfach immer genommen, ob man will oder nicht. Davon abgesehen ist auch kaum vorstellbar, dass jemand in einer Situation, in der er sich gerade selbst befindet, keinen Einfluss nehmen will – und sei es nur, sie nicht ändern zu wollen. Natürlich gibt es sehr viele Beziehungen, wo die Auseinandersetzung mit der Beziehung kaum eine Rolle spielt: Wenn Schüler und Lehrer einig sind, kann einfach unterrichtet werden, wenn Bäcker und Geselle einig sind über ihre Positionen, kann Brot gebacken werden, und wenn Verletzter und Helfer einig sind, wer die Steuerung übernimmt, kann der Verletzte verbunden werden. Wenn Mann und Frau einig sind, wer kocht und wer den Abwasch macht, kann gekocht und gegessen werden und so weiter. Selbst in der Politik gab es zwischen den Wahlen Zeiten, wo sich die regierenden Parteien einigten, wer welche Position hat, und darangehen konnten, Probleme zu lösen. Durch das MiteinanderHandeln von beiden Seiten wurde das Einverständnis mit der bestehenden Beziehungsform gelebt und ausgedrückt. Dysfunktionale Beziehungen hingegen entstehen dann, wenn zwei oder mehr Kommunikationsteilnehmer sich über die Form der Beziehung uneinig sind. Watzlawick (Watzlawick et al. 1969) nannte das einen symmetrischen Beziehungskampf, wo jede Handlung dazu da ist, die Beziehung umzudefinieren, nach Haley (1987) wäre es dann eine endlose Kette von Manöver und Gegenmanöver: ein Mann und eine Frau, bei denen es ständig darum geht, ob der eine oder die andere genug für die Beziehung tut, zwei Kollegen, von denen jeder ständig zu beweisen versucht, dass er die besseren Ideen hat als der andere, bzw. umgekehrt, dass die Ideen des anderen weniger wert sind als die eigenen. Beide Partner sind ständig damit beschäftigt zu versuchen, diese Beziehung zu ändern, die Beziehung besteht sozusagen nur mehr oder fast nur mehr daraus, diese Beziehung ändern zu wollen,

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Theorie

ohne dass sich die Beziehung dadurch tatsächlich ändert. In solchen Beziehungen steht dann für andere Tätigkeiten kaum mehr Aufmerksamkeit, Zeit und Energie zur Verfügung, weil alles für diesen Beziehungskampf gebraucht wird. Und jedes Wort, jede Handlung ist nur mehr verständlich, wenn man weiß, dass es nicht um ein möglicherweise vorhandenes offizielles Thema geht, sondern nur darum, wer den Beziehungskampf gewinnt: Man redet darüber, wie man den Staat retten kann und dabei geht es nur darum, wer die meisten Wählerstimmen gewinnt. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit solchen dysfunktionalen Beziehungen findet sich im Kapitel »Systemische Definition der Sozialarbeit« (S. 82 ff.). Haley beschrieb sehr klar und einfach den Therapeuten als Mitspieler, der nur aus seiner Rolle als Mitspieler heraus handeln kann: Er ist also kein übergeordneter Beobachter mehr, sondern nur einer, der im Spiel mitspielt und von dort aus versucht, neue Interaktionsmuster einzuführen oder alte auszuhebeln. Wenn das gelingt, dann kann er wieder gehen. Schon da zeigte sich, dass diese Sicht darauf hinausläuft, dass man so ein »System« nicht zielgerichtet ändern kann – das heißt nicht bestimmen kann, welche Muster sich als Nächstes entwickeln, wenn man vorhandene unterbindet oder ad absurdum führt. Ganz besonders hatte mir natürlich die Idee der »paradoxen Intervention« gefallen, wie sie Watzlawick schon beschrieben hatte, ausführlichst aber Selvini Palazzoli und ihr Mailänder Team (1978). Ihre Beispiele waren so eindrücklich, dass ich dachte, mit diesem Instrument kann man die ganze Welt ändern. Tatsächlich kann man mit kleinen Interventionen sehr große Entwicklungen in Gang setzen, wenn man an der richtigen Stelle ansetzt. Aber auch hier zeigt sich, dass eine zielgerichtete Intervention, das heißt eine Steuerung des Ergebnisses, nicht möglich ist. So berichtet Selvini Palazzoli etwa von einem Fall, wo nach einer Symptomverschreibung ein als schizophren definierter Sohn sich als normal zeigte, dafür aber seine Schwester, die bis dahin völlig unauffällig gewesen war, Schizophrenie-Symptome zeigte. Man versuchte es dann mit einer »besseren« Intervention, danach war auch die Tochter wieder normal – dafür stritten nun die Eltern. Damit allerdings wurde das Thema Schizophrenie als erledigt betrachtet, und der Streit der Eltern als eben ein normaler Streit. Ich verwende den Begriff der »paradoxen Intervention« heute nicht mehr gerne, weil er meist missverstanden wird. Das umfangreiche Gebäude der »pragmatischen Paradoxie«, wie es Watzlawick ausführt, ist eigentlich nicht nötig, um zu verstehen, dass eine Symptomverschreibung meist eine Änderung ins System bringt, die nicht ohne weitere zusätzliche Änderungen kompensiert werden kann, und alle Beispiele »paradoxer Interventionen« sind bei genauem Hinsehen als Symptomverschreibungen erkennbar. Was ist denn nun eigentlich eine Symptomverschreibung? Hier geschieht eine radikale Umbewertung. Verhalten, das bisher als zu beheben oder zu beseitigen gesehen wurde, ist auf einmal – zumindest vorübergehend – akzeptierbar oder gar positiv zu sehen und soll herbeigeführt werden. Im System wird damit die Energie, die bis jetzt in den Versuch gesteckt wurde, das genannte Verhalten abzuschaffen, frei und die Aufmerksamkeit kann sich

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auf andere Interaktionen richten. Häufig habe ich erlebt, dass Klienten ihr »Symptom« vergaßen, oft auch die Aufgabe, die die Symptomverschreibung enthielt. Erst wenn man sie wieder darauf ansprach, bemerkten sie, dass das alles bedeutungslos geworden war. Und nur selten konnte jemand sagen, wie das gekommen war. Ein Paar, das wegen seiner dauernden Streitereien, die beide Seiten nicht wollten, zu mir gekommen war und dem ich vorschlug, sie mögen je einen Streit pro Tag absichtlich herbeiführen, erinnerten sich nachher nur mehr, dass ihnen die Durchführung der Übung zu peinlich gewesen sei – die Streite waren aber auch ausgeblieben. Was mir an den damaligen systemischen Beschreibungen der Welt fehlte, war eine Erklärung, wie es dazu kommt, dass viele Menschen – und insbesondere auch die, die ihrer Umgebung auffielen – immer wieder in ähnliche Situationen kamen, so als würden sie diese magisch anziehen. Ich weiß nicht, ob diese Erklärung wirklich wichtig ist, aber ich habe gerne Nägel mit Köpfen, und hier fehlte mir ein Kopf. Zum Glück fiel es mir aufgrund meiner Dissertation nicht schwer, diese Frage so zu beantworten, dass sich die Antwort leicht und einfach in das ganze Modell einfügte. Über dieses Thema gibt es ein eigenes Kapitel in diesem Buch (Über das Erlernen von Interaktionsmustern, S. 77 ff.). Wir müssen ja auf bestimmte Interaktionsmuster trainiert sein, damit wir einerseits die Umwelt in entsprechender Weise wahrnehmen und interpretieren können sowie andererseits zum Muster passende Verhaltensweisen zeigen können. Und trainiert wird spätestens von Geburt an. Das bedeutet, dass ein kleines Kind nur solche Dinge lernen kann, bei denen seine Umgebung auch in irgendeiner Form mitspielt. Es könnte also durchaus sein, dass ein Mensch fast nur lernt, sich vor der nächsten Katastrophe in Acht zu nehmen, mit Situationen, in denen keine Katastrophe zu erwarten ist, hingegen nichts anfangen kann. Und da das sehr früh beginnt, kann das Kind schon im Kindergarten so weit sein, dass es nur mehr Wiederholungen seiner gewohnten Rolle wahrnimmt. All diese Ideen entwickelten sich unter dem Oberbegriff »Systemtheorie«. Monod (1971), Watzlawick (Watzlawick et al. 1969) und Haley (1987) bezogen sich darauf, und ich in meiner Dissertation (1976) ebenfalls. Das war damals eine neue Strömung in der Wissenschaft, die sich in den verschiedensten Fächern als fruchtbar erwies, weil sie ein neues Licht auf bis dahin schlecht begreifbare Prozesse warf. Es gab hier in einer bis dahin unbekannten Dichte und Fruchtbarkeit einen Austausch und eine Zusammenarbeit von Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Bereiche wie Mathematik, Technik, Psychologie, Biologie, Philosophie und andere. Der Begriff System ist eine recht schwierige Angelegenheit. Von Ashby (1956) und Wiener (1968) kam die technische Vorstellung, dass gewisse Strukturen irgendwelche Parameter regeln – wie das damalige Paradebeispiel einer automatisch geregelten Heizung. Ein System also, das Abweichungen von einem Sollwert korrigiert. Man fand dazu die Parallelen, dass auch Warmblüter wie der Mensch ihre Temperatur und noch viele andere Faktoren regeln oder Zellen ihre chemische

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Zusammensetzung. Und man stellte fest, dass hier ebenso wie in der Kommunikation mehrere Mitspielende beteiligt sind, die jeweils auf die Botschaften, die sie voneinander aufnehmen, reagieren. Und bei Kommunikationssystemen, wie sie Watzlawick beschrieb, gibt es ja auch Faktoren, die aufrechterhalten werden. Watzlawick übernahm damals auch den Begriff der Rückkoppelung aus dieser technischen Darstellung von Systemen in die Kommunikations- und Systemtheorie und zeigte, dass die so genannte positive Rückkoppelung dazu führte, dass die Dinge immer weiter eskalieren; so wie etwa ein Streit, der mit einer kleinen Diskrepanz über etwas Unwesentliches beginnt und durch die Auseinandersetzung selbst (»ein Wort gab das andere«) erst zum ernsthaften Streit wird. Aus der Technik und den Naturwissenschaften kam ein Begriff von System, der einfach war, weil die Techniker etwas definieren, es dementsprechend herstellen und dann sagen können: Das ist das definierte Ding. So gab es in der Technik die Idee von einem System, dessen Teile und Grenzen klar waren, man konnte seine Eigenschaften untersuchen und fertig. Die Systemiker des Sozialbereiches gingen von diesem Begriff aus, und sie untersuchten und bearbeiteten zuerst vor allem Familien als Systeme: Mutter, Vater und die Kinder. Und man suchte nach Rückkoppelungen und Wechselwirkungen, nach Wiederholungen und Redundanzen. Sie waren fasziniert davon, wie einfach auf einmal manche Vorgänge, manches zuvor als verrückt erscheinende Verhalten, verständlich, nachvollziehbar und erklärbar wurden. Doch sehr bald kam man darauf, dass da oft noch andere Personen eine wichtige Rolle spielten – zum Beispiel Großeltern. Man lud diese mit ein, untersuchte sie mit und konnte wieder neue Zusammenhänge finden. Also dachte man, das System Familie sei eben größer. Und dann stellte sich heraus, dass manche Phänomene, die sich da abspielten, sich besser erklären ließen, wenn auch noch Förderlehrer oder Sozialarbeiterinnen oder Kindergartenonkel mit einbezogen wurden. Auf diese Weise wurden die Beratungszimmer immer voller und unübersichtlicher, bis dann Goolishan den Begriff des Problemsystems erfand. Er fragte einfach nach, wer denn alles mit diesem Problem (über das die Familie zu ihnen gekommen war) zu tun habe, und lud diese Leute alle ein, um mit ihnen zu arbeiten. Und spätestens jetzt wurde klar, dass Systeme nicht einfach etwas sind, was wir nur finden müssen, sondern dass wir uns sozusagen in die Welt Systeme hineindenken, mit denen wir dann etwas anfangen können. Die Systemgrenzen, die man aus der Naturwissenschaft als etwas Vorgegebenes übernommen hatte, stellten sich als frei wählbar heraus, und manche Abgrenzungen schienen praktisch für bestimmte Überlegungen und andere weniger. Oft wurde dem systemischen Ansatz seine »Unmenschlichkeit« vorgeworfen, weil er sich nur mit Beobachtbarem befasste und so einfache und klare Zusammenhänge herstellte. Die damaligen Systemiker wollten ja auch nicht mehr, als sich auf das beschränken, was sie zu sehen glaubten, und sehen, wie weit sie damit kamen. Und es war sehr überraschend, dass sie damit mindestens ebenso weit kamen wie andere, die komplexeste Modelle der Persönlichkeit, der Gedankenund Gefühlswelt aufgebaut hatten. Für manche blieb es unbefriedigend, dass die

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Gefühle und das »Menschliche« (was immer das sei) im systemischen Modell nicht vorkamen. Und dann kamen die Konstruktivisten. Ich las von Foerster (von Foerster und Pörsken 1998), von Glasersfeld (1997), Maturana und Varela (1987). Es war eine intensive Auseinandersetzung, besonders mit Maturana habe ich heiß diskutiert, aber letzten Endes musste ich mich auf die Erkenntnis einlassen, dass ich über die Welt nichts wissen kann – ja nicht einmal, ob es eine gibt. Es ist einfach nicht möglich, weil wir unsere Eindrücke nur mit unseren Eindrücken überprüfen können. Und woher sollen wir dann wissen, was die mit einer vielleicht vorhandenen objektiven Welt zu tun haben? Von Maturana kam das autopoietische System, von von Foerster die nichttriviale Maschine: Eine technische Maschine verhält sich theoretisch immer gleich: wenn man auf das Gaspedal des Autos drückt, beschleunigt sie. Praktisch gibt es solche »triviale Maschinen«, wie von Foerster es nennt, nicht. Technische Maschinen nützen sich ab oder, wie ein Freund einmal sagte: »Ich spüre, wenn mein Sohn mit meinem Auto gefahren ist. Es tut dem Motor gut, wenn er ab und zu damit fährt: Da wird der Motor ordentlich durchgeputzt.« Also: Triviale Maschinen gibt es nicht. Das Gegenstück ist die nichttriviale Maschine, die nicht nach so einfachen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, weil sie nie im gleichen Zustand ist wie jemals vorher. Bei Motoren gibt es die Abnützung, Materialermüdung, Korrosion und das »Durchputzen«. Bei »lebendigeren« Systemen gibt es da noch viel mehr Faktoren. Das »autopoietische System« nennt Maturana so, weil seine eigene Organisation so gestaltet ist, dass es sich ständig selbst erzeugt und wiederherstellt. Es kann nicht von außen gezielt gesteuert werden, weil es immer entsprechend seiner eigenen Organisation reagiert, und nicht entsprechend den Absichten oder der Information, die eine Einfluss nehmende Person hat. Trotzdem ist Autopioesis keine Eigenschaft, wie gerade von der neueren deutschen Literatur suggeriert wird (siehe etwa Luhmann 1984, Kleve 1996, 2007, Kraus 2000), sondern ein Prozess, ein funktionierender komplexer Regelkreis. Die Feststellung von Eigenschaften widerspricht dem dynamischen Grundgedanken der systemischen Theorien, die immer in Prozessen denken. Der Begriff der Autopoiesis suggeriert darüber hinaus auch eine Stabilität, die tatsächlich sehr fragil ist. Wir wissen, wie leicht so ein autopoietisches System wie etwa eine Zelle oder ein Mensch von seiner Selbstreproduktion abgebracht werden kann, und auch viele Gesellschaften haben sich in einer veränderten Umwelt, in der Wechselwirkung mit unserer »modernen« westlichen Gesellschaft, in Nichts oder in eben diese westliche Gesellschaft hinein aufgelöst. Diese drei Ideen – Konstruktivismus, Autopoiesis und die nichttriviale Maschine –, die direkt ineinandergreifen, erschienen als diametral entgegengesetzt den vorhergehenden Vorstellungen der Systemiker, hatten diese doch immer von den stabilen und berechenbaren Zuständen von Strukturen gesprochen. Nun war auf einmal wieder alles in Bewegung, nichts stabil, kein Mensch berechenbar und so weiter. Das freute die, denen die »menschliche« Seite vorher abgegangen war,

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weil man in diese Unwägbarkeiten alles hineinlegen konnte, was wir eben »Psyche« nennen. Von Foerster hat die beiden gegensätzlich erscheinenden Überlegungen durch die Einführung seines Begriffs »Eigenwert eines Operators« miteinander verbunden in der Weise, wie es auch die Chaostheorie mit ihren »seltsamen Attraktoren« macht, wieder eine sehr mathematische Darstellung, die viele Leute abschreckte. Aus konstruktivistischer Sicht jedenfalls erscheint es einsichtig, dass Strukturen, die sich ständig ändern, uns nicht als regelhaft und daher nicht fassbar erscheinen, während der Sonderfall, dass aus irgendwelchen Gründen heraus sich die Aktionen und Reaktionen regelmäßig wiederholen, auffällig und sichtbar wird. Der Normalfall ist durchaus das Chaos, und nur in Ausnahmefällen spielen sich Zusammenhänge ein, die eine Regelhaftigkeit hervorbringen. Der Mensch hat sich gezwungenermaßen damit beschäftigt, möglichst viel Regelhaftes zu finden – denn Nicht-Regelhaftes kann nicht erfasst werden, und eine Erfassung von Zusammenhängen ist das einzige, womit wir etwas anfangen können. Beobachten, Wiedererkennen, gezielt Handeln, Planen, ja schon Benennen, erfordern die Wiederholung von Gleichem oder zumindest Ähnlichem. Wenn wir wo ein sich wiederholendes Interaktionsmuster zwischen bestimmten Menschen wahrnehmen, so sind das zwar nicht sui generis selbst erhaltende, »triviale« Systeme, aber umgekehrt wird eben doch ein Schuh daraus: Wenn sich irgendwo solche Strukturen einspielen und erhalten, fällt uns das auf und wir erkennen ein System. De Shazer (1989b) und Berg (Berg und Miller 2000) haben aus dem grundsätzlichen Glauben an die Veränderlichkeit von Strukturen eine wunderbare, effektive Therapie- und Beratungsform gemacht, den lösungsorientierten Ansatz. Dieser befasst sich nicht mit den Problemen, die das Klientensystem mitbringt, sondern mit Ideen von einer problemfreieren Zukunft und Erfahrungen damit, wie man dieser schon mal näher gekommen ist. Dieser Ansatz hat sich aufgrund seiner schnellen Wirksamkeit und prinzipiell einfachen Erlernbarkeit sehr schnell verbreitet. Vielleicht auch, weil er wieder viel »menschlicher« war als die mathematische, technizistische Darstellung von Selvini Palazzoli oder Watzlawick. Insbesondere I. K. Berg (Berg und Miller 2000) erklärte all ihre Vorgangsweisen neben dem Blick auf die Lösung statt auf das Problem vor allem mit unerschütterlichem Glauben an das Produktive im Menschen und man konnte ihn praktizieren, ohne sich mit dem systemischen Denkansatz zu beschäftigen, der dahinter steht. Niemand hat darauf hingewiesen, dass diese Methode eine von vielen möglichen Formen der Einführung von Veränderung in ein System ist, eine Intervention, die das bestehende Muster konterkariert und daher Veränderung ermöglicht: Wenn Leute mit einem Problem befasst sind und alle ihre Energie und Aufmerksamkeit dem Problem widmen, ist es wohl klar, dass, wenn man das Gegenteil tut, etwas Neues passiert. Es wäre daher Vorsicht angebracht, diesen Ansatz dort zu probieren, wo jemand schon immer nur an Ziele denkt, und sich – auf welche Weise auch immer – gerade mit dieser Bemühung in Schwierigkeiten gebracht hat oder eben aus solchen nicht wieder herauskommt. Für manche Situationen ist die Lösung zum Beispiel erst dann zu finden, wenn man aufgibt.

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In ähnlicher Weise hat sich auch der narrative Ansatz (White und Epston 1990, Andersen 1990) aus konstruktivistischem Denken entwickelt, der sich damit beschäftigt, im Gespräch die Geschichten zu verändern, mit denen Menschen ihre Probleme beschreiben und die ihre Reaktionen steuern – natürlich wird auch hier eine Veränderung ins System eingeführt, die dann weitere Änderungen zur Folge hat. Auch die Psychoanalyse (siehe dazu etwa Wyss 1972) ist eine solche Strategie, die Geschichten, die Menschen zu ihren Erlebnissen haben und auf die sie reagieren, zu verändern. Diese wird aber, da sie schon alt ist und Freud sich nicht auf die Systemtheorie beziehen konnte, im Allgemeinen nicht zu den systemischen Methoden gezählt, obwohl inzwischen manche Praktiker Systemik und Psychoanalyse verbinden. Diese neuen Methoden sind Methoden der Gesprächsführung, die Veränderungen herbeiführen wollen, indem sie durch das Gespräch das Denken der beteiligten Menschen verändern. Was vom ursprünglichen systemischen Denkansatz geblieben ist, ist, dass man den Bezug zu Familie und sozialer Umgebung immer mit einbezieht. Von den inzwischen schon klassischen Techniken wie etwa der Symptomverschreibung oder sonstigen unerwarteten Interventionen spricht man heute weniger. Für die Sozialarbeit, wo häufig wenig Zeit und Gelegenheit für längere Gespräche ist und wo es oftmals um sachliche Hilfe für materielle Teufelskreise geht, ist aber der grundlegende Gedanke von großer Bedeutung: Es geht darum, in einen Teufelskreis machbare Änderungen einzuführen, die weitere Änderungen zur Folge haben. Und machbar sind natürlich zunächst solche Änderungen, die man selbst machen kann: Wenn die anderen (und natürlich auch ich selbst …) autopoietische Systeme sind, deren Verhalten man nicht steuern kann, wie vor allem Bardmann (Bardmann und Hansen 1996), Kleve (2007) und Kraus (2004) deutlich machen, dann kann man doch immerhin sein eigenes Verhalten ändern und etwas tun, was bisher noch nicht gemacht wurde. Dies kann natürlich sein, dass man selbst sein Augenmerk verlegt vom Problem zu den Erfolgen, es kann aber auch sein, dass man einen beklagten Zustand für aufrechterhaltenswert erklärt oder jemanden, der bisher immer viele Probleme zeigen musste, um Unterstützung zu bekommen, bei etwas unterstützt, was dieser gut kann. Der amerikanische Hypnotherapeut Milton H. Erickson hat sogar gezeigt, dass eine sinnvolle Änderung manchmal auch sein kann, Menschen negativ zu bewerten (siehe dazu Haley 1978). Gedankenhilfen für Professionelle, um neues eigenes Verhalten in die Beratungsbeziehung einzubringen, sind in diesem Buch ausführlich beschrieben von Renate Fischer (»Es gibt noch vieles hier zu sehen …«, S. 192 ff.). Was sich aus den konstruktivistischen Überlegungen sonst noch ergibt, ist von schwerwiegender Bedeutung: Es heißt, das wir die Welt ständig neu erfinden müssen und dass wir nur solche Dinge wahrnehmen können, die wir selbst »erfinden«. Was immer es da draußen geben mag, unsere »Erkenntnis« kann bestenfalls ein Raster sein, mit dem wir experimentieren. Und was davon sich beim Experimentieren bewährt bzw. dabei irgendwie aufrechterhalten werden kann, gilt

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uns als wahr. Eine über diese »Brauchbarkeit« hinausgehende Überprüfung, wie wahr eine Aussage sei, ist prinzipiell unmöglich, weil eben zum Überprüfen wieder nur mit unserem Raster experimentiert werden kann. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine neuen systemischen Erkenntnisse eben als Erkenntnisse betrachtet, und hatte den Eindruck, immer mehr über die Welt und insbesondere über Menschen und ihr Zusammenwirken herauszufinden. Und nun merkte ich auf einmal, dass ich nicht einmal weiß, ob es andere Menschen gibt. Genau genommen stellt sich ja auch die Frage, ob es mich selbst gibt bzw., wenn ich annehme, dass es mich gibt: was das bedeutet. Ich lebe seither in einem komplexen Entwurf von Welt, über den ich nicht mehr weiß, als dass ich in diesem Entwurf bis jetzt überleben konnte – was immer das heißt. Ich lebe mit anderen zusammen, von denen ich nicht weiß, ob es sie außerhalb meines Entwurfes – also »objektiv« – gibt, und lebe in meiner so erfundenen Welt durch das Leben. Alle Beweise für eine objektive Welt, von denen ich bis jetzt gehört habe, sind unhaltbar, wenn man sie genauer anschaut. Jetzt war also Kreativität gefragt: Wie geht das denn mit meinen so schönen Überlegungen und Erkenntnissen über Wechselwirkungen zusammen? Sind die dann auch beliebig austauschbar gegen ganz andere Vorstellungen? Sie stellen ja dann auch keine Wirklichkeit dar, sondern nur eine Möglichkeit, sich die Welt zu denken. Aber – und das war für mich immer besonders wichtig – sie passten logisch zusammen. Es gab keine Widersprüche. Meine Weltbeschreibung war konsistent und »viabel«, wie Varela (1990) es nennt und was nichts anderes bedeutet, als dass man damit weiterkommt, dass man nicht in Widersprüchen stecken bleibt, dass die Dinge, die man angeht, funktionieren. Nicht dass das mit der Logik eine unbedingte Notwendigkeit wäre. Ich glaube eher, dass die meisten Menschen das nicht brauchen – sie haben andere Regeln, nach denen sie in der Welt zurechtkommen, und diese funktionieren auch. Was aber unbedingt notwendig ist, ist ein »viables« Weltbild – eines, mit dem man sich in seinem Leben zurechtfinden kann. Wenn da nicht alles ganz zusammenpasst, macht das wohl nicht so viel – solange der Besitzer des Weltbildes es nicht verlangt und solange er oder sie für Situationen, wo ein Widerspruch sichtbar wird, wieder eine Möglichkeit des Umgangs findet. Es scheint sogar, dass logische Konsistenz gar nicht die ursprünglichste Form des Weltentwurfes ist – das Kind lernt – ohne sich dessen bewusst zu sein – vor allem einmal, sein Verhalten – und damit auch sein Denken – auf die soziale Situation abzustimmen. Zwei und zwei ist nicht gleich vier, weil das logisch ist, sondern weil die Umgebung es so sieht und man ja mit dieser Umgebung lebt. Logik kann sich nur entwickeln, wenn es dafür ein Trainingsfeld gibt. Und wenn da niemand ist, den logische Konsequenz irgendwie berührt, dann gibt es auch keine Reaktionen und nichts wird gelernt. Was aber soll es bedeuten, wenn man von etwas als einem System spricht? Jedenfalls gilt – und auch hier zeigte sich die logische Praktikabilität –, dass Systeme Erfindungen des Menschen sind, der gerade etwas mehr oder weniger

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Bestimmtes mit seiner Welt anfangen will. Wir haben irgendwann die Idee von »System« erfunden, und wir haben eine Art Regelsystem erfunden, mit dem man solche Systeme anschauen und irgendwie einteilen kann, um dann damit umgehen zu können. Wenn wir also jetzt die Welt anschauen wollen, können wir diese Idee von System auf die Welt legen wie einen Filter; wie wenn wir Lackmus in eine Phiole gießen. Dann können wir schauen, wie uns dieser Filter weiterhilft. Das also ist ein System: eine Idee, wie man die Welt betrachten könnte. Und jeder kann sich Systeme in die Welt hineindefinieren nach Lust und Laune, um zu sehen, was dabei herauskommt. Und je nachdem, was man da miteinander als System definiert, kommt etwas anderes heraus. Wir wählen also einen Ausschnitt der Welt, irgendwelche Bestandteile oder Interaktionen oder Prozesse, die wir wahrnehmen, und ziehen eine Art Grenze darum herum, indem wir diesen Ausschnitt ein »System« nennen. Wenn wir dieses System dann untersuchen, können wir erkennen, ob uns diese Abgrenzung, diese Definition des Systems, bei unserer Frage, unserem Anliegen weiterhilft oder nicht. Welche Abgrenzung nützlich ist, hängt also von der Fragestellung ab. Mir geht es oft so, dass ich höre, wie Menschen in bestimmten Zusammenhängen sagen, irgend etwas sei ein System, und ich kann natürlich nicht sagen, das sei falsch. Aber mit einiger Erfahrung kann ich abschätzen, ob diese Abgrenzung, diese Zusammenfassung eines »Systems« weiterhelfen wird oder nicht: Wenn man das ein System nennt, wenn man es so abgrenzt, dann kommt bei der Untersuchung in Bezug auf die gestellte Frage vielleicht etwas Brauchbares heraus – oder eben nicht viel. Man sollte auch nicht übersehen, dass Systemabgrenzungen, die sich für eine Fragestellung bewährt haben, nicht unbedingt auch für andere Fragestellungen geeignet sind. Auch ein soziologischer Ansatz wie der von Luhmann (1984) ist eine sehr interessante soziologische Darstellung der Welt, aber vielleicht nicht so gut geeignet, die Dynamik sozialer Ungleichheit zu untersuchen (siehe dazu etwa Hillebrandt 2004 oder Farzin 2006). Die logische Konsistenz von Beschreibungen bleibt aber – trotz Konstruktivismus – eines der Grundprinzipien der Wissenschaften. Und damit bleiben von den systemischen Überlegungen einige übrig, die meines Erachtens nicht in Frage stehen: Der Mensch kann nur Phänomene erkennen und sich mit Phänomenen befassen, die Dauer haben (andernfalls sind sie vorbei, bevor man sich damit befassen kann). Für ganz Genaue sei hier noch darauf hingewiesen, dass Existenz überhaupt verstehbar wäre als sich selbst aufrechterhaltende Schleife zwischen dem, der die Welt erfindet, und der Tatsache, dass in dieser Welt auch die vorkommt, die sie erfunden hat. Wenn das Ganze in sich schlüssig ist, dann ist es eine vollkommene, existenzfähige Wirklichkeit. Wenn die Naturwissenschaftler eine Welt erfinden, in der der Mensch vorkommt, der die Natur, dann die Naturwissenschaften und dann die Naturwissenschaftler erfindet, dann ist der Kreis geschlossen und es kann funktionieren. Jede Frage nach dem, was sich außerhalb dieser

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Schleife befindet, ist sinnlos. Aber dies genauer auszuführen, würde hier zu viel Raum beanspruchen. Da es für jedes Phänomen eine Möglichkeit zu geben scheint, es durch Veränderung der Umweltbedingungen zu beenden, ist die Aufrechterhaltung (also die Erzeugung von Dauer) eine Frage der Wechselwirkung zwischen dem Phänomen und seiner Umwelt, also eine dynamische Angelegenheit. Wenn man an irgendeinem Teil des Phänomens oder seiner Umwelt relevante Veränderungen vornimmt, verändern sich weitere Teile. Das bedeutet für Strukturen, die wir verändern wollen, dass wir mögliche relevante Veränderungen finden müssen. Eine gezielte Steuerung scheint allerdings nicht möglich: Aufgrund der inneren Struktur des Systems, selbst dann oder gerade dann, wenn wir selbst Beteiligte sind, entwickelt sich das System nach seinen eigenen, inneren Möglichkeiten, und »experimentiert« so lange, bis sich wieder ein homöostatischer Zustand einspielt, ein Zustand also, wo uns Erkennbares sich als konstant zeigt – was bedeuten kann, dass die Struktur, die wir vorher als System definiert haben, zerfällt bzw. sich so weit verändert, dass wir unsere Definition nicht mehr aufrechterhalten können (Würden wir eigentlich einen Schmetterling als dasselbe System definieren wie die Raupe?).

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In einer Zeit, als Ehen noch von den Eltern des (zukünftigen) Brautpaares beschlossen wurden, gab es zwei reiche Familien, die miteinander übereinkamen, ihre Kinder miteinander zu verheiraten. Als es aber an der Zeit war, dass die Heirat bald stattfinden sollte, hatten die beiden Kinder einander noch nicht einmal gegenseitig zur Kenntnis genommen. Da die Eltern wussten, dass ihre Kinder recht eigenwillig waren und sich nicht einfach dem Willen der Eltern unterordneten, gingen sie zum Heiratsvermittler und fragten ihn um Rat. Dieser handelte mit ihnen seinen Preis aus und sagte: »Veranstaltet ein großes Fest, an dem beide teilnehmen sollen, und ladet auch mich ein!« Die Eltern taten, wie er verlangt hatte. Noch am selben Abend sahen die Eltern, wie sich die beiden angeregt miteinander unterhielten und bald heimliche Komplimente austauschten. Sie bezahlten den Heiratsvermittler und wunderten sich, wie dieser die Vermittlung wohl angestellt habe. Dieser aber wollte sein Geheimnis nicht preisgeben. Natürlich hatte er, als das Fest seinen Lauf nahm, dafür gesorgt, dass er mit dem Sohn der einen Familie ins Gespräch kam, und diesen dabei beiläufig gefragt, wer denn dieses hübsche Mädchen sei, das ihn dauernd von Ferne mit großen, neugierigen Augen beobachte. Als der Sohn nicht wusste, von wem die Rede sei, hatte er die zu heiratende Tochter beschrieben. Dann hatte er dafür gesorgt, dass er mit der Tochter ins Gespräch kam und desgleichen mit ihr getan. Zufällig – wie könnte es anders sein – waren die beiden einander kurze Zeit später begegnet, hatten einander neugierig beobachtet und sich insgeheim daran gefreut, dass der/ die andere an ihnen so interessiert war. Es hätte aber doch anders sein können: Es gab in jener Stadt einen zweiten Heiratsvermittler, der weniger erfolgreich war als er. Dieser hatte ihm nachspioniert, um das Geheimnis seines Erfolges herauszufinden. Als dann einige Zeit später eine ähnliche Angelegenheit an den Konkurrenten herangetragen wurde, gedachte er, das Gleiche zu tun. Er trug den Eltern auf, ein großes Fest zu veranstalten, ging hin und instruierte die beiden Kinder, wie er es vom anderen gesehen hatte. So ging der zu verheiratende Mann herum und suchte nach dem Mädchen, und das junge Mädchen tat desgleichen. Als aber die Blicke der beiden sich kreuzten und das Mädchen gerade erkannte, dass er derjenige war, erblickte dieser eine andere, die ihm schöne Augen machte, und war sich sicher, dass diese die war, von der der Heiratsvermittler gesprochen hatte. Die beiden begannen, miteinander zu scherzen und entdeckten ihre Liebe zueinander. Die »richtige Braut« aber, die ihn schon »erkannt« hatte, verließ angesichts der Unverschämtheit des anderen in großem Schmerz

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das Fest, und der Heiratsvermittler, als er sah, was er angerichtet hatte, suchte das Weite.2

Aus Chaos wird System Stellen wir uns vor, wir veranstalten ein Tanzfest für Leute, die sich noch nicht kennen. Wir schicken alle Leute auf die Tanzfläche, jede für sich alleine. Jeder tanzt vor sich hin, alleine. Jede macht Bewegungen, jeder sieht auch die Bewegungen der anderen. Wenn Zwei sich berühren, spüren sie es. Ein großes, unüberschaubares Chaos, keine Ordnung zu erkennen, außer eventuell einer gewissen Regelmäßigkeit aufgrund des Taktes der Musik. Welche Entwicklungen sind möglich? a) Wenn einer eine Bewegung macht, wird das von den anderen zwar registriert, aber die Reaktion ist sozusagen »null«, das heißt für ihn bedeutungslos. (Nicht alles, was geschieht, macht einen Unterschied: Ein System funktioniert nach seinen eigenen Regeln und wählt nach diesen aus, was für es relevant ist und was nicht.) Daher macht er eine neue Bewegung, die mit denen der anderen keinen Zusammenhang hat. Und so machen es alle: ein Chaos von Bewegungen, die nichts miteinander zu tun haben, die sich nicht regelmäßig wiederholen, die nicht als etwas Beobachtbares registriert werden können. Dies ist sozusagen der Normalfall, das, was am häufigsten geschieht. b) Wenn eine eine Bewegung macht, wird es von den anderen registriert, und einer (oder mehrere) der anderen reagiert so, dass die Erste sich angesprochen fühlt. So könnte jemand, auf den sie sich zu bewegt, sich zu ihr drehen. Es ist ein momentaner Bezug entstanden. Sie macht daher eine Bewegung, die sich auf die eben erhaltene Reaktion auf ihre frühere Bewegung bezieht: Sie schaut ihn an und geht wieder zurück. Auf diese Bewegung allerdings bekommt sie wieder keine für sie als auf ihn orientiert erkennbare Reaktion (der andere dreht sich wieder weg und tanzt weiter) und die kurz entstandene »Beziehung« löst sich wieder auf, die Tanzflächen-Bewegungsstruktur bleibt chaotisch. c) Wenn einer eine Bewegung macht, wird sie von den anderen registriert, und einer (oder mehrere) der anderen reagiert so, dass der Erste sich angesprochen fühlt. Er macht darauf eine Bewegung, die sich auf die eben erhaltene Reaktion auf seine frühere Bewegung bezieht. Auf diese Bewegung bekommt er nun wieder eine Reaktion, auf die er wieder reagiert (andere könnten etwa ihm nachgehen). Und so geht es – für eine gewisse Zeit – weiter, hin und her. Hier zeigt sich, dass Aufmerksamkeit füreinander entstanden ist, zwei Personen reagieren aufeinander in beobachtbarer Dauer. Eine sich wiederholende, sich selbst ständig wiederherstellende Struktur ist entstanden. 2 Ich kann leider nicht mehr eruieren, woher ich den ersten Teil dieser Geschichte kenne, der zweite Teil ist von mir ergänzt.

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Dieser letzte Fall ist – logisch betrachtet – natürlich ein Ausnahmefall gegenüber den vielen »Nichtbegegnungen«, die ja ununterbrochen passieren. Trotzdem erscheint uns dieser Fall als der normale, der dauernd stattfindet. Warum? Weil eine solche sich selbst am Leben erhaltende Struktur von dem Moment an, in dem sie entsteht, Dauer hat. Das heißt, sie ist nicht nur eine Millisekunde lang existent, sondern über Tausende oder Milliarden von Millisekunden. Sie reproduziert sich ununterbrochen selbst. Das heißt, sie ist beobachtbar, im Gegensatz zu den Nichtbegegnungen, die so kurz sind, dass man sich fragt, was an ihnen man als existent betrachten soll. Es scheint an dieser Stelle angebracht, darauf hinzuweisen, dass wir nichts darüber wissen, wie viele Ereignisse es gibt, die nur von extrem kurzer Dauer sind und keine weiteren Wirkungen auf sonstiges, regelmäßiges Geschehen haben: Sie sind nicht erkennbar! Wir können nur Dinge erkennen, die Dauer haben, die sich also über einen bestimmten Mindestzeitraum wiederholen. Darüber hinaus sind noch zeitliche Grenzflächen erkennbar: Wenn regelmäßiges Geschehen sich ändert. Übung 1 Notieren sie, soviel Ihnen einfällt, was alles in der Begegnung zwischen Menschen Einfluss darauf hat, wie sich die Beteiligten verhalten. Fangen sie an bei Dingen wie Inhalten einer Aussage und schreiten Sie fort über Mundgeruch, jemandem etwas schenken oder wegnehmen, Krankheiten und Schulden bis zu der Frage, zu welcher Zeit ein Mensch sich an weichem Ort wie verhält. All dies nennen wir Kommunikation. Überlegen Sie sich zu allem, was sie aufgeschrieben haben, wie auf jede solche »Mitteilung« reagiert werden könnte, d. h. was sie bei anderen auslösen kann. Es müsste eine ähnliche Liste wie vorher herauskommen. Auch all dies nennen wir Kommunikation. Überlegen Sie weiterhin zu jeder Reaktion, ob es vorstellbar ist, dass sie dazu führt, dass der auslösende Faktor aufhört, und ob vorstellbar ist, dass der Auslöser dadurch erhalten oder verstärkt werden könnte. Sammeln Sie die Interaktionen, die sich aufrechterhalten oder verstärken, und schreiben Sie sich einige davon auf: Beteiligte A m zeigen Verhalten 1 m das wirkt auf Beteiligte B m diese zeigen Verhalten 2 m das wirkt auf Beteiligte A m diese zeigen Verhalten 1 etc. Wenn Ihnen dieser linearkausale Zusammenhang zu lang wird, dann schreiben Sie es zirkulär auf: Verhalten 1

A

B Verhalten 2

Und jetzt überlegen Sie noch, welcher der Beteiligten diese Interaktion aufrechterhält. Wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass es alle Beteiligten miteinander tun, dann haben Sie das Prinzip des zirkulären Denkens verstanden.

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Für »Helferinnen« ist natürlich noch die Bewertung relevant: – Die entstandene Struktur kann eine positiv bewertete sein, wenn sich die beiden sozusagen als unterstützend erleben: Sie tanzen miteinander. – Negativ bewertet ist sie, wenn eine den anderen von seiner Art zu tanzen abbringen will, jener aber sich nicht abbringen lässt oder gar im Gegenzug den Tanz der einen zu verändern versucht: Sie tanzen gegeneinander. Jeder versucht, den anderen zu ändern. d) Natürlich können auf ähnliche Weise auch sich selbst wiederherstellende Strukturen entstehen, die nicht nur zwei, sondern mehrere Personen umfassen. Für sie gilt dasselbe wie beim vorigen Fall: Zwei Gruppen tanzen miteinander oder gegeneinander. e) Und da solche Strukturen sich über längere Zeit erhalten, so ist es natürlich auch möglich, dass gleichzeitig mehrere oder gar viele davon existieren. Dann sieht die Sache aus wie eine ganz normale Tanzfläche, auf der viele Paare, vielleicht einige Gruppen und einige Einzelne vor sich hin tanzen. Dem menschlichen Beobachter erscheinen solche Interaktionsstrukturen, wie sie in unserer Beschreibung entstanden sind, als eigenständige Elemente, und die Systemiker haben dafür den Begriff »System« eingeführt. Alle systemische Literatur bezieht sich auf solche Strukturen, die als von der Umwelt relativ unabhängig betrachtet werden. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es sich hierbei um eine Erfindung handelt! Wir haben nicht etwas Neues entdeckt, sondern wir haben beschlossen, etwas, was wir wahrnehmen, in einer uns praktisch erscheinenden Weise zusammenzufassen, und verwenden dafür den Namen »System«! Es scheint zwar in vielen Fällen nützlich zu sein, zu Beobachtungszwecken solche Systeme quasi als isoliert zu betrachten, tatsächlich sind sie es aber natürlich nicht. Denn so, wie wir als Beschreibende eine solche Struktur wahrnehmen, wird sie natürlich auch von ihrer eigenen Umgebung (zu der wir als Beobachter ja auch gehören) wahrgenommen, in diesem Beispiel also von den übrigen Tänzern auf der Tanzfläche. Und, wie schon bei Watzlawick (1976) nachzulesen, diese anderen Tänzer können nicht umhin, darauf zu reagieren. Ja, das Wahrnehmen selbst bedingt ja schon eine Art Reaktion: Ein gewisser Teil ihrer Aufmerksamkeit und damit ihrer Bewegungen richtet sich auf diese Struktur. Und hier müssen wir uns nun mit einer zweiten Ebene der Interaktion befassen: Was wird aus dem Wechselspiel zwischen dieser Kleinstruktur und ihrer Umgebung? a) Auch die hier entstehende Interaktion kann dazu führen, dass sich die Struktur wieder auflöst. Denken Sie etwa an ein Paar, das sehr auffällig zu tanzen beginnt, als aber einer der Partner bemerkt, dass alle zusehen, wird er verlegen und wendet sich weg. Der andere mag es noch ein wenig weiter versuchen, aber es hilft nicht: Das Spiel ist zu Ende. b) Einzelne aus der Masse treten in das Spiel ein, wirken verändernd auf die Struktur ein. Es entsteht eine neue, größere Struktur, die sich wieder am Leben

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erhält. Für diese neue Struktur stellt sich dieselbe Frage wie vorhin: Was wird aus der Interaktion mit der Umgebung? c) Alle aus der Umgebung reagieren ähnlich, aber auf eine solche Art, dass das Spiel der ursprünglichen Zwei weitergeht: – Das kann etwa so aussehen, dass nach und nach alle anderen zusehen und Beifall klatschen und das Paar sich dadurch veranlasst sieht, wie bisher weiterzumachen (gegenseitige positive Bewertung). – Oder so, dass die Umgebung versucht, die Beiden abzudrängen, weil sie zuviel Platz brauchen, diese aber sich dadurch veranlasst sehen, auf ihrem Tanz zu beharren (gegenseitige negative Bewertung), worauf wiederum weiter versucht wird, sie abzudrängen und so weiter. Hier ist ein Außenseitersystem entstanden. Das Subsystem wird abgedrängt, eingesperrt, ermordet, psychiatrisiert, umerzogen oder was auch immer eine Gesellschaft an Methoden zur »Behandlung« von Außenseitern hat. d) Die Umgebung tanzt sozusagen auf einer Seite des Zweierspieles mit, reagiert ähnlich wie dieser eine auf den anderen. Der andere reagiert nun auf die Menge ähnlich wie bisher auf den einen. Auch hier gibt es eine positive und eine negative Möglichkeit: – Positiv: Man bestätigt den einen in seiner Art zu tanzen, und er sieht sich dadurch veranlasst, so weiterzumachen: Ein »Star« oder ein »Führer« ist entstanden. – Negativ: Die Menge versucht, den Einzelnen von seiner Art zu tanzen abzubringen, dieser aber macht erst recht weiter. Das führt zu einer Außenseiterentwicklung, der Einzelne wird abgedrängt, eingesperrt, ermordet, psychiatrisiert, umerzogen oder was auch immer eine Gesellschaft an Methoden zur »Behandlung« von Außenseitern hat. e) Die Umgebung teilt sich auf: Ein Teil stellt sich auf die Seite des einen, der andere Teil auf die Seite des anderen. – Auch hier kann es eine positive Form geben: So könnte etwa ein volkstanzartiges Gebilde entstehen, wo sich die Parteien gegenseitig voreinander verbeugen etc. – Die negative Form heißt Krieg. Es gibt also – nach diesem Aufbau – zwei mögliche Außenseiterentwicklungen, die beide denselben Verlauf nehmen. Der Unterschied besteht nur darin, dass in einem Fall ein Einzelner zum Außenseiter wird, im anderen Falle ein Subsystem. Das können, wie man sich gut vorstellen kann, zwei Personen sein oder mehrere: Es kann eine Familie sein, eine ethnische Minderheit oder sonst etwas, das wir dann als Randgruppe bezeichnen.

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Systemgrenzen Die Systemiker sprechen sehr viel von den Grenzen eines Systems. Glauben Sie nie jemandem, der behauptet, Systeme seien etwas, das es »gibt«, und die Grenzen etwas, das man »finden« müsse. Der Begriff »System« ist eine sehr praktische Erfindung, sonst nichts. Und das Beispiel mit der Tanzfläche zeigt, dass man Grenzen nur willkürlich ziehen kann: Wir können nur entscheiden, wo es möglichst praktisch ist: Wenn an der Interaktionsstruktur nur wenige Menschen in einer bestimmten Weise beteiligt sind, wie zwei Raufbolde (Frau A. und Frau B.), während weitere Personen nur zuschauen oder höchstens sich mit anfeuernden Rufen beteiligen, dann erscheint es uns als praktisch, diese beiden gemeinsam als SysAbbildung 1: Zwei Raufer tem zu bezeichnen und abzugrenzen (Abbildung 1). Da wir wissen, dass es auch eine Wechselwirkung zwischen den Raufbolden und den Zuschauern gibt, müssen wir allerdings weiter annehmen, dass diese Systemgrenzen durchlässig sind (Abbildung 2). Und da wir weiters wissen, dass die Zuschauer wesentlichen Einfluss auf das Rauf-Geschehen haben könAbbildung 2: Austausch mit nen (sie können es anfeuern oder durch Beder Umwelt schwichtigung bremsen) sowie dass das RaufGeschehen wesentlichen Einfluss auf die Umgebung hat (es kann bewirken, dass Leute zuschauen, ja, es kann sogar bewirken, dass jemand die Polizei ruft), erscheint diese Grenze dann als eine Fläche des Austauschs von »Lebensenergie« für das System. Wenn uns etwas anderes interessiert, können wir auch Grenzen ziehen um einen der Abbildung 3: Raufer und Freund beiden Raufbolde (Herrn A.) und seinen besten Freund (Herrn C.): Die beiden sind in intensivem Austausch von Anfeuerung des Kämpfers und Beschimpfung des Gegners. Dann ist der Gegner (Herr B.) nicht mehr Teil dieses neu erfundenen Systems, sondern jemand, mit dem das neue System wesentliche Beiträge austauscht (Abbildung 3). Um die Verwirrung komplett zu machen, Abbildung 4: Raufer und Umwelt ziehen wir jetzt noch eine Grenze um all dieje-

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nigen, die von dem Rauf-Geschehen merkbar beeinflusst sind (die Zuschauer etwa), und grenzen sie damit ab von denen, die davon gar nichts mitkriegen, weil sie zu weit weg sind (Abbildung 4). Damit haben wir ein System erfunden, das das andere System umfasst, wie etwa ein Körper eine Nervenzelle. Auch hier ist klar, dass ein ständiger Austausch über die Abbildung 5: Viele Systeme Systemgrenzen hinweg stattfindet: Unbeteiligte werden zu Zuschauern, Zuschauer werden zu Unbeteiligten etc. Wir können jetzt auch noch andere Systeme innerhalb oder außerhalb dieses größeren definieren, etwa ein Liebespärchen, das sich durch die Rauferei gestört fühlt und miteinander versucht, sich von der Tanzfläche zu entfernen, oder zwei zurufende, die erkennen, dass sie auf verschiedenen Seiten des Rauf- Abbildung 6: Tanzfläche und handels stehen und daher miteinander auch Beobachter zu raufen beginnen usw. usw. (Abbildung 5). Nun können wir noch eine Grenze ziehen zwischen allen anderen und uns – dem Beobachter- und Beschreiber-System (Abbildung 6). Dass auch wir beeinflusst sind und Einfluss nehmen können, braucht wohl nicht mehr gesagt zu werden. Allein dass wir uns in dieser Weise abgrenzen, kann ja schon Wirkungen auf die anderen haben, umso mehr, Abbildung 7: Das Universum wenn wir das komplexe System in einer bestimmten Weise beschreiben. Und zu guter Letzt ziehen wir noch eine Grenze um uns alle: Den Beobachter, die Zuschauer, die Unbeteiligten und die Raufbolde (Abbildung 7). Kein Mensch weiß, was außerhalb dieses Systems liegt und wer es erfunden hat.

Übung 2 Nehmen Sie irgendeine der in Übung 1 von Ihnen entwickelten Interaktionen und überlegen Sie, wer alles in irgendeiner Form etwas von dieser Interaktion mitbekommt. Überlegen Sie weiterhin, wie die verschiedenen Mitbetroffenen reagieren könnten, und wiederum, welche Auswirkungen das auf die ursprünglichen Zwei haben könnte. Ziehen Sie neue Systemgrenzen, indem Sie untersuchen, wie sich das Verhalten von irgendjemandem aus der Umgebung auf das Verhalten eines der beiden Beteiligten auswirken könnte und umgekehrt.

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Wer definiert Systeme? Wir wissen alle, dass die Menschen im Allgemeinen versuchen, sich die Welt zu vereinfachen. Wenn sie zu komplex gesehen wird, kann man schwer damit umgehen. So schaffen sie sich Unterscheidungen: Sie definieren einen Baum. Damit wird festgelegt, was der Baum ist und was nicht der Baum ist. Oder sie definieren Frau Mayer: Damit wird festgelegt, was Frau Mayer ist und was nicht. Oder sie definieren »die Schwarzen«. Oder die Obdachlosen. Oder eine Familie. Da wir modern sind, ist die Versuchung groß, alles, was Menschen definiert haben, System zu nennen. Und das wird auch getan. Eine Firma ist ein System, die Politik ist ein System, die Regierung ist ein System, eine Familie ist ein System und so weiter. Natürlich bleibt es jedem Menschen überlassen, was er als System definiert. Die Frage aber ist, wie praktisch es ist, ein solcherart abgegrenztes Gebilde als System in unserem Sinne zu betrachten: wie praktisch für das Verstehen, wie praktisch für die Handhabung. Die Familientherapeuten luden anfangs zu ihren Sitzungen die Kernfamilien ein und in der Literatur findet sich dann eben die Beschreibung von Kernfamilien als Systemen. Später kam man darauf, dass häufig Onkel, Tante und Großeltern ebenfalls wesentlich an den Geschehnissen beteiligt waren. Also definierte man die Großfamilie als System. Speziell bei Familien, die auch nach außen hin auffällig wurden, oder bei Familien, bei denen ein oder mehrere Mitglieder in Therapie oder in Beratung waren oder irgendeine Art von öffentlicher Betreuung genossen, entdeckte man, dass es praktischer war, diese Betreuer etc. ebenfalls als Teile des Systems aufzufassen. Der Begriff »Problemsystem« wurde erfunden. Wir schlagen einen Systembegriff vor, der an diesen Begriff »Problemsystem« angelehnt ist: Ein System nennen wir ein »Ding«, das in dieser Form abzugrenzen praktisch ist. Das heißt, dass es für Untersuchung und Handhabung nützlich erscheint, die Interaktionen innerhalb des »Dings« von denen mit der Umwelt zu unterscheiden. Die Abgrenzung soll uns helfen, das Ding zu handhaben. Wir fragen, wo Interaktionen stattfinden, die Energie und Aufmerksamkeit an sich ziehen, und fassen die Beteiligten zusammen zu einem System. Wir fragen weiter, ob und wo es Interaktionen dieses Systems mit seiner Umwelt gibt, fassen dieses Gegenüber zu einem System zusammen und fassen nun diese beiden Systeme miteinander zu einem übergeordneten System zusammen. Dann nehmen wir noch uns dazu, wenn wir meinen, weder zu dem ersten noch zu dem zweiten Subsystem zu gehören, nennen uns Beobachter oder Beraterinnen, untersuchen auch die Interaktionen zwischen uns und dem bisherigen Gesamtsystem und haben damit noch einmal ein übergeordnetes System geschaffen. Die Rechtfertigung für diese Art, Systeme zu definieren, liegt einfach in der Praktikabilität. Lassen Sie sich also nicht verwirren und schauen Sie genau hin: Luhmann (1984) verwendet einen anderen Systembegriff als Satir (1975), Satir einen anderen als Imber-Black (1990) und so weiter.

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Freilich ist noch etwas zu bedenken, das die Sache zusätzlich kompliziert: Soziale Systeme, Systeme also, die aus Menschen bestehen, beinhalten so etwas wie Bewusstsein. Das heißt in diesem Fall, dass die Menschen innerhalb solcher Systeme sich selbst auch Gedanken darüber machen, wo sie sich befinden, und selbst begriffliche Abgrenzungen machen. Sie nennen beispielsweise etwas eine Firma und unterscheiden, wer zur Firma gehört und wer nicht; oder sie nennen etwas Österreich und unterscheiden, wer zu Österreich gehört und wer Ausländer ist, oder wer zu Österreich gehört, obwohl er außerhalb Österreichs lebt; oder sie nennen etwas Familie und unterscheiden, wer dazugehört und wer nicht. Es ist nicht immer sinnvoll, diese Abgrenzungen, die Menschen vornehmen, als Systemgrenzen zu betrachten, aber diese beteiligten Menschen haben mit ihrer Betrachtungsweise auch eine Wirkung: Dadurch, dass etwas abgegrenzt wird, wird meistens auch festgelegt, welche Interaktionen innerhalb dieses Systems stattzufinden haben und welche nicht sowie welche nach außen stattzufinden haben und welche nicht. Die klassische Sozialpsychologie spricht in dem Zusammenhang von der Entwicklung von Normen und Regeln. Eine Familie zieht zu diesem Zweck in eine gemeinsame Wohnung, Firmen in ein Haus, Staaten definieren ihre Grenzen etc. Eine Familie hat – wenn sie kann – ein Privatleben, das sie nicht mit der Umgebung teilt, in der Firma wird der interne Informationsaustausch ebenso geregelt wie festgelegt wird, was nach außen weitergegeben wird und was nicht, und so weiter. Durch diese Definitionen und ihre Folgerungen wird tatsächlich versucht, Grenzen nicht nur zu suchen, sondern sie selbst festzulegen und zu sichern. Soweit das gelingt, ist es oftmals auch für den Beobachter tatsächlich nützlich, die Systemgrenzen so zu ziehen, wie die Beteiligten das selbst tun. Dabei ist aber höchste Vorsicht angebracht: Die Praktikabilität für die Beteiligten ist nicht die gleiche wie die für die Beobachterin, Beraterin oder Helferin. Für unsere Überlegungen wird es eventuell sehr kompliziert, wenn wir solche »unpraktischen« Systemdefinitionen übernehmen. Das hängt ja davon ab, für welche Fragestellung wir unsere Systemabgrenzung brauchen. So hat die Abgrenzung einer Familie für die Familie vielleicht den Sinn, Konstanz zu erhalten, und ist sozusagen eine angestrebte Abgrenzung. Für uns könnte es aber sein, dass wir nach sich wiederholenden Mustern suchen, und die werden eventuell erst deutlich, wenn wir auch andere Personen einbeziehen, die nicht offiziell zur Familie gehören. Wenn die Wechselwirkungen zwischen dem so genannten System kompliziert werden, ist es besser, diese Abgrenzung nicht zu übernehmen. Darüber hinaus handelt es sich bei den Abgrenzungen, die sich die Beteiligten wünschen, häufig um Wunschdenken und nicht um die Realität: Man denke zum Beispiel an den Unterschied zwischen formeller, institutionell geregelter und informeller, das heißt inoffizieller und nicht regelbarer Interaktionsstruktur in einer Organisation oder an die von vielen Seiten betreute Klientenfamilie, wo der Förderlehrer mehr Kontakt mit dem Kind hat als der Vater. Welchen Sinn gibt es dann noch, die Familie allein zu betrachten? Vielleicht ist es viel nützlicher, wenn wir einen Kreis um das Kind ziehen und einen um die ganzen Leute, die an dem Kind herumzerren, und dann das Ge-

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schehen zwischen diesen beiden Subsystemen untersuchen? Wenn wir genauer werden wollen, können wir in diesem Fall wahrscheinlich noch eine sinnvolle Grenze einziehen um die Eltern einerseits und die Arbeitsstelle andererseits, um herauszufinden, dass die Eltern miteinander streiten, weil der Mann Ärger in der Arbeit hatte, weil er sich nicht konzentrieren kann, weil es dauernd Ärger gibt zu Hause, und das wiederum bringt das Kind durcheinander, deshalb lernt es schlecht, so dass der Förderlehrer eingesetzt wird, und der sagt der Mutter, was sie alles falsch macht, was wiederum die Mutter so ärgert, dass sie, wenn der Vater nach Hause kommt, nicht aushält, dass er grantig ist. Was ist das System? Übung 3 Denken sie sich irgendeinen Symptomträger aus: einen Häftling oder einen Drogenabhängigen oder … Und sammeln Sie alle, mit denen der Symptomträger zu tun hat. Dann gewichten Sie die Interaktionen: Wo läuft viel oder Intensives? Und für welche Interaktionen ist besondere Aufmerksamkeit oder besonderes emotionales Gewicht zu erwarten? Denken Sie daran, dass jeder Mensch für Vertrautes besonders aufmerksam ist, für Unvertrautes hingegen schwer zugänglich!

Dauerhaftigkeit von Systemen Wir haben schon einleitend festgestellt, dass Interaktionen normalerweise nicht von Dauer sind, weil sie sich nicht selbst reproduzieren. Die meisten Strukturen, die im Chaos der Wechselwirkungen entstehen, sind so flüchtig, dass sie von einem Moment zum anderen nicht wiedererkennbar sind – für unsere Begriffe also sich auflösen, bevor sie erkennbar werden. Und dann geschehen diese Zufälle, wo sich zwei oder mehrere Interaktionen unter bestimmten Umgebungsbedingungen gegenseitig bewirken, so dass sie miteinander zu einer greifbaren, erkennbaren Struktur zusammenfinden. Hier ist es für Menschen möglich, diese Struktur wahrzunehmen, sie abzugrenzen, sie System zu nennen. Wie lange so eine Struktur sich aufrechterhält, ist schwer voraussagbar. Schon innere minimale Abweichungen können sich aufschaukeln und nach kurzer oder langer Zeit in eine massive Veränderung münden bzw. in etwas, was wir Zerfall nennen, ebenso wie solche Aufschaukelungen zu neuen, dauerhaften Strukturen führen können. Und nicht nur innere Veränderungen können sich steigern und das gesamte System verändern, auch die Umgebungsbedingungen sind normalerweise nicht unveränderlich, so dass auch die übergeordnete Interaktion mit der Umgebung sich ändert, was wiederum Einfluss hat auf die innere Interaktion. Strukturen sind also als äußerst flüchtige Phänomene zu betrachten, wie Rauch und Wolken. Was ist nun nötig, um ein System aufrechtzuerhalten? Strukturen, die uns als Systeme erscheinen, haben als wesentliche Eigenschaft vor allem eines gemeinsam: Sie überdauern. Die Wechselwirkungen, die wir be-

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obachten, wiederholen sich. So wie Henne und Ei ist ein Teilphänomen immer in der Lage, das andere herzustellen, welches wieder das erste herstellt. Damit sich das System aufrechterhalten kann, muss es in der Lage sein, seine inneren Interaktionen immer wieder auf das Gewohnte zurückzuführen. Viele Dinge sprechen dafür, dass so etwas – auch bei menschlichen Interaktionssystemen – normalerweise nicht sehr lange durchführbar ist, da ja sowohl die Menschen, die dieses System ausmachen, sich verändern (sie werden älter, gewinnen neue Fähigkeiten etc.) als auch ständig neue Einflüsse von außen auf das System einwirken. Wie also ist es möglich, dass manche Systeme sich unabsehbar lange in derselben Form aufrechterhalten? Wenn wir die Wiederholung der Interaktionsmuster als das eigentliche System betrachten, dann können wir sowohl die Veränderung der Personen, die diese Interaktionen austauschen, als auch die Einwirkungen von außerhalb als potentiell verändernde Einflüsse betrachten. Dann ergibt sich, dass ein System umso länger überdauern kann, – je weniger die wesentlichen Aspekte der Interaktion von unterschiedlichen anderen Faktoren abhängig sind: Wir nehmen als Beispiel ein Paar, das seine Zusammengehörigkeit dadurch definiert, dass unter unterschiedlichsten Bedingungen immer der Weg zu einem offenen Austausch positiver Gefühle gesucht wird (»… in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet …«). Das ist eine Definition eines Systems, die unempfindlich ist gegen jegliche sonstige Veränderung, seien es biologische Entwicklungen der Partner, seien es neue Ideen, seien es Einflüsse von außen. Dieses System hat darüber hinaus eine unbegrenzte Lernfähigkeit und Flexibilität, die ihm die Möglichkeit gibt, sich jeder beliebigen Situation kreativ anzupassen. Die einzige Bedingung ist, dass beide Partner die genannte Definition als obersten Wert ansehen. – je mehr verschiedene Einwirkungen, je mehr unterschiedliche Geschehnisse es als Teile seiner Interaktion integrieren kann: Hier sei ein anderes Paar als Beispiel genannt, dessen Beziehung sich dadurch definiert, dass man sich gegen den anderen wehren muss. Jede Veränderung des anderen kann dann als neue Finte im Kampf verstanden werden, jeder Einfluss von außen kann betrachtet werden entweder als Hilfe gegen den anderen oder als Unterstützung für den anderen, gegen den wieder neue Gegenmittel entwickelt werden müssen. Jeder »Freund«, der Ratschläge gibt, ist entweder Mitkämpfer oder Mitgegner. Jeder finanzielle Engpass ist ein Mittel, um den anderen unter Druck zu setzen, jeder Erfolg eine Möglichkeit, darauf hinzuweisen, was alles noch nicht in Ordnung ist. Sollte einer der Partner krank werden, dann ist das entweder ein Versuch, den anderen unter Druck zu setzen, oder ein Beweis dafür, dass der andere ihn schlecht behandelt hat. Dieses System beschränkt seine Lernfähigkeit darauf, alles, was auf der Welt geschieht, umzudefinieren als Kampfmaßnahme, so dass darauf in gewohnter Weise reagiert werden kann.

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– je mehr Veränderungen es in seiner Umgebung wie auch in den ausführenden Personen verhindern oder rückgängig machen kann: Wenn ein System sich dadurch aufrechterhält, dass beide Teile der Meinung sind, die andere sei »böse«, dann hat diese Zuschreibung langfristig so gut wie immer den Effekt, dass die andere tatsächlich verärgert und damit böse ist. Das natürlich wird sie dann wiederum dem Ersten zuschreiben und damit diesen als böse definieren. Hier ist als einzige Flexibilität des Systems notwendig, dass die Beteiligten, wenn es nicht gleich klappt (wenn etwa jemand gerade nicht böse ist), solange mit ihrer Zuschreibung durchhalten, bis es gelungen ist, den »Noch-nichtBösen« ausreichend zu verärgern. Dann sind wieder Normalbedingungen geschaffen. Wenn ein Obdachloser eine Wohnung bekommt, und es gelingt ihm, sich so lange wie ein Obdachloser zu verhalten, bis er die Wohnung wieder verliert, dann ist – nach einiger Zeit – der gewohnte Interaktionsverlauf mit der Gesellschaft wiederhergestellt. Bietet man ihm wieder und wieder eine Wohnung an, so muss er solange durchhalten, bis er als »wohnunfähig« gilt und keine weiteren Anstrengungen zu seiner Domestizierung mehr vorgenommen werden. Das System erweist sich als veränderungsresistent gegenüber dieser Form von materieller Hilfe. – je mehr Einflüsse es ignorieren (für irrelevant erklären) kann: Kommt ein System mit einer Person in Kontakt, die sich so verhält, dass ihre Äußerungen nicht in einer der vorgenannten Weisen integrierbar ist, so kommt es häufig vor, dass die Systemmitglieder sie einfach nicht verstehen oder für unsinnig erklären und damit neutralisieren. In diesem Fall braucht das System keine Flexibilität oder Kreativität. Kommt nun eine neue Person – etwa eine Sozialarbeiterin – mit einem System in Kontakt, so führt das dann zu keinen Veränderungen, wenn einer der vorgenannten Punkte wirksam wird, das heißt, wenn dank mindestens einem der Punkte das gewohnte Spiel weitergeführt werden kann. Beispiel 1 Eine Familie hat einen Sohn, der in der Schule »verhaltensauffällig« geworden ist und sowohl vom schulpsychologischen Dienst als auch von einem Förderlehrer betreut wird. Natürlich haben auch die Eltern schon alles Mögliche versucht. Eine Besserung ist nicht eingetreten. Da alles nicht hilft, bemüht man auch noch die Sozialarbeiterin vom Jugendamt. Die spricht mit dem Kind, sucht nach weiteren Möglichkeiten, auf das Kind einzuwirken, und ist somit einzugliedern in das System, in dem auf einer Seite ein Kind steht, und »verhaltensauffällig« ist, auf der anderen Seite lauter Leute, die es ändern wollen (Abbildung 8). Beispiel 2 Ein Langzeitarbeitsloser. Er wohnt in einem Heim für Obdachlose, er trinkt, er macht Schulden. Alle Versuche, ihn zu reintegrieren, sind bisher gescheitert (Ab-

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Abbildung 8: Das überbetreute Kind

Abbildung 9: Ein überbetreuter Erwachsener

bildung 9). Jetzt versucht es die zuständige Sozialarbeiterin in einem Projekt für Langzeitarbeitslose.

Rigide Systeme Normalerweise ist von einer dauerhaften Struktur zu erwarten, dass sie durch Veränderungen in ihrer Umgebung oder in ihrem Inneren beeinflussbar ist – dass sie flexibel ist und mehrere Formen hat, die sie abwechselnd und situationsentsprechend annehmen kann. Menschen, die über eine gewisse Zeit zusammen sind, beschäftigen sich ja nicht durchgehend mit derselben Art von Auseinandersetzung: – Ein Mensch, der von seiner Kollegin eine Information bekommt und diese auch annehmen kann, kann meist auch Information geben. – Ein Paar, das sich ab und zu seiner Liebe versichert, kann auch miteinander Besucher empfangen, kann, wenn unterschiedliche Bedürfnisse vorhanden sind, streiten, es kann sich ein Partner von der anderen belehren lassen und umgekehrt etc. – Ein Mensch, der krank wird, kann sich von seiner Umwelt gesund pflegen lassen, kann nachher wieder für andere da sein. – Ein Mensch, der dazu tendiert, sich für seine Umwelt aufzuopfern, kann meist auch gegen andere für sich sorgen, wenn es nötig ist. Es gibt aber Bedingungen, unter denen eine Struktur ihre Flexibilität verliert, alles Augenmerk auf ein einziges Thema, auf einen einzigen Aspekt der Welt richtet und sich nur mehr mit diesem befasst: Dies tritt dann ein, wenn zwei (oder mehrere) Parteien miteinander in einen unlösbaren Konflikt eintreten und die Möglichkeit zu verzichten, ausgeschlossen wird. Dann wird die Aufmerksamkeit von diesem einen Aspekt gefesselt, alle Wahrnehmung ordnet sich diesem Aspekt unter, und alle Handlungen beziehen sich nur mehr auf diesen Aspekt. Nach und nach gelingt es, immer mehr Teile der Wirklichkeit in diesen Aspekt einzubeziehen, bis Mitteilungen, die diesen Aspekt nicht betreffen:

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– entweder so umgedeutet werden, dass eine Reaktion möglich wird, die zum »Thema« zurückführt, – oder solche Mitteilungen gar nicht mehr wahrgenommen werden. Das Thema verselbständigt sich und beherrscht die gesamte Kommunikation in dieser Struktur. Alle Einflüsse von außen werden entweder für das Thema verwendet oder ignoriert. Da in einem solchen Fall alle Beteiligten ihre Wahrnehmung und ihr Denkvermögen auf diesen einen Aspekt konzentrieren, wird ständig geübt, Einflüsse entsprechend zu deuten und entsprechend zu reagieren, so dass eine immer stärkere Einengung der Bedeutungsvielfalt stattfindet und die Beeinflussbarkeit des Systems sich immer weiter gegen null bewegt. Dann wird das System rigide und unbeeinflussbar. Jeder kennt etwa die Situation, in der zwei Personen miteinander streiten und wo jede Äußerung eines Dritten nur mehr verstanden wird als Parteinahme für die eine oder für den anderen. Nehmen wir als Beispiel eine dreiköpfige Familie. Wenn die Eltern sich damit beschäftigen, einander zu beweisen, dass der jeweils andere ein böser Mensch ist, so bestehen für das Kind, das sagt, dass es Hunger hat, folgende Möglichkeiten: – Ein Partner wirft dem anderen vor, dass er zu wenig für die Familie tut, und gibt dem Kind zu Essen, um zu beweisen, dass sie es besser macht. Was immerhin noch relativ gut für das Kind ist. – Ein Partner wirft der anderen vor, dass sie zu wenig für die Familie tut, und sagt, sie solle endlich das Kind versorgen. Damit ist die Versorgung des Kindes schon gefährdet. – Ein Partner glaubt, das Kind wolle ihm mitteilen, dass er es zu schlecht versorge: Es stehe auf der Seite des anderen. Dann wird das Kind direkt in die Reihe der Gegner eingeordnet und mit bekämpft. – Beide Partner glauben, das Kind wolle ihnen mitteilen, dass sie es schlecht versorgen und dass es auf der Seite des anderen stehe. Dann wird das Kind von beiden Seiten als Gegner mit bekämpft. Die Situation wird verrückt, ohne dass die Eltern es merken. – Das Kind wird gar nicht beachtet, weil seine Äußerungen nicht als für den Kampf verwertbar erscheinen. Es hat weiterhin Hunger. Ein anderes Beispiel: Was passiert mit einem Menschen, der seiner Umgebung mitteilen will, dass es ihm schlecht geht und dass er mehr Zuwendung braucht, wenn die Umgebung sich überlastet fühlt? Übung 4 Setzen Sie die Liste fort mit allem, was dazu dienen kann, zu zeigen, wie schlecht es mir geht.

Er bekommt als Antwort, er solle aufhören. Dadurch aber fühlt er sich zurückgestoßen, braucht mehr Zuwendung und fordert intensiver, woraufhin sich die

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Umgebung, die sich noch immer überfordert fühlt, sich überlegen muss, wie man diesen Störenfried abstellen kann, und somit noch mehr überfordert ist. Ab diesem Zeitpunkt wird alles, was an sonstigen Einflüssen auftaucht, daraufhin untersucht, ob es geeignet ist, Zuwendung von der Umgebung zu erlangen bzw. diesen lästigen Menschen abzustellen. Jedes Virus, jeder Unfall, jede Droge, jeder Exekutor ist ein Sieg für den Zuwendungsuchenden, jeder Arzt, jedes Krankenhaus, jede Entziehungskur ein Sieg.3 Übung 5 Und jetzt: eine Liste von allem, was geeignet ist, Leute, die »lästig« sind, umzuerziehen, abzustellen, zur Vernunft zu bringen oder wie immer Sie es nennen wollen.

Ein Dritter, der dazukommt und Lösungen anbietet, will den einen oder die andere von ihrem Kampf ablenken und damit schwächen. Wer dem Bedürftigen Alternativen anbietet, will ihn damit zum Verzicht überreden. Wer den Überforderten Hilfe anbietet, will sie damit zum Nachgeben überreden. Im Fernsehen sehen die Beteiligten nur mehr Filme, die dem Bedürftigen Recht geben, und Filme, die den Überforderten Recht geben. Und irrelevante Filme. Übung 6 Überlegen Sie, welche der von Ihnen in Übung 1 entwickelten Systeme sich wohl in welcher Umgebung so entwickeln könnten, dass sie alles, was geschieht, in ihren Bann ziehen.

Im Gegensatz zu normalen Strukturen sind solche Interaktionsmuster sehr rigide: Sie können keine anderen Aspekte als »den einen« wahrnehmen und ihre einzige Flexibilität besteht in der immer weiter anwachsenden Fähigkeit, Geschehnisse für ihre Zwecke umzudeuten. Jede, die jemals als Beraterin gearbeitet hat, kennt solche Systeme und weiß, wie schwer, ja oft unmöglich es ist, eine Position zu erlangen, die von beiden Seiten als hilfreich anerkannt wird: Was immer man tut, es wird untersucht auf »für mich« oder »gegen mich«.

Verselbständigung von Dysfunktionalitäten Ich möchte hier auf einen Aspekt aufmerksam machen, den zu übersehen speziell den Psychotherapeuten häufig vorgeworfen wird. Wir wissen zwar nicht, welche Symptome zufällig entstehen können – das heißt ohne eine bemerkenswerte interaktionelle Vorgeschichte – und welche als Sprache im Interaktionsgeschehen entstehen; sicher aber ist, dass zirkuläre Prozesse sich so weit verselbständigen 3 Das Gefängnis ist übrigens ein Sieg für beide …

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können, dass sie nicht mehr durch Eingriffe nur auf verbaler oder emotionaler Interaktionsebene gestoppt oder verändert werden können. Theoretisch ist das kein Problem: Watzlawick hat die analoge Kommunikation definiert als alles, was außer der verbalen (digitalen) Kommunikation auf Interaktionen Einfluss nimmt. Trotzdem wird häufig übersehen, dass zum Interaktionsgeschehen viel mehr gehört, als das traditionelle Verständnis wahrzunehmen pflegt. Das dürfte seine Ursache wohl – neben der grundsätzlich in unserer Gesellschaft üblichen dualistischen Betrachtungsweise – darin haben, dass die Psychotherapie, der wir ja die meiste Forschung und Literatur in diesem Bereich zu verdanken haben, sich im Wesentlichen auf eben diesen Bereich beschränkt. Dass dies nicht immer so sein muss, zeigen Beispiele aus der Arbeit von Milton H. Erickson (Haley 1978). Die klassische Form der systemischen Arbeit bewegt sich weitgehend im Bereich verbalen und gestischen Austauschs und mit Versuchen, darüber Veränderungen im System herbeizuführen. In der Sozialarbeit aber wird diese Vorstellung natürlich völlig obsolet, sind doch hier die Symptome (und überhaupt die analogen Mitteilungen) meist so sehr mit anderen Dingen verbunden, dass eine Isolierung dessen, was wir gemeinhin als psychische Vorgänge und Interaktionen bezeichnen, ganz unsinnig erscheint. Es ist wohl kaum vorstellbar, dass ein System, das sich um die schwere Verschuldung eines Obdachlosen rankt, sich wesentlich ändern kann, ohne dass auch in Form von Geld kommuniziert wird. Ebenso erscheint es auch gefährlich, jemandem, der einen Unfall gehabt hat und schwer verletzt ist, nur beratend zur Seite zu stehen, ohne medizinische Mittel mit hinzuziehen. In beiden Fällen hat sich ein Interaktionsgeschehen entwickelt, das sich von der üblichen Kommunikationsebene abgekoppelt und verselbständigt hat. Mag der Einstieg in eine solche Situation noch so sehr auf der Beziehungsebene stattgefunden haben, so lässt sich ein gebrochenes Bein doch nicht ohne manuelle Interaktion wieder einrenken, verschwinden riesige Schulden nicht ohne finanzielle Hilfen, wird der Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Armut, Ungepflegtheit und Wohnungslosigkeit nur schwer ohne Wohnung zu durchbrechen sein. Es ist mir daher ein besonderes Anliegen, darauf hinzuweisen, dass bei allen Überlegungen dieser Arbeit unter Kommunikation alles zu verstehen ist, was Menschen miteinander und mit Sachen tun können. Geldaushilfen, Krankenbehandlung, Weitergeben von Informationen, Vermittlung von Kontakten, Heimeinweisungen, ja auch das Anbieten einer Wasch- oder Rasiermöglichkeit sind als integrative Bestandteile von Kommunikation anzusehen und als solche zur Herstellung und Sicherung von funktionalen Beziehungen einzusetzen. Wenn wir mit einem Menschen zu tun haben, der auffällige Eigenschaften zeigt (seien es Verhaltensauffälligkeiten oder eine schwierige soziale Situation), dann müssen wir immer als Erstes diese als Kommunikationsformen, als Mitteilungen verstehen, um dann in Kombination mit der Reaktion der Umgebung ein sich selbst erhaltendes Interaktionsspiel erkennen zu können. Und nur in

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diesem Interaktionssystem können wir selbst wirksam werden. Versuche, das System oder gar den Menschen gewissermaßen von außen zu beeinflussen, widersprechen dem systemischen Gedanken, wie auch Kleve nach Luhmann ausführt, »dass autopoietische Systeme von außen nicht direkt und unmittelbar beeinflusst werden können« (2007, S. 77). Wie wir zeigen wollen, ist das aber auch nicht nötig, um Veränderungen herbeizuführen. Eine besondere Rolle nehmen Situationen ein, die – meist aufgrund eskalierender Entwicklungen – mit »Gefahr im Verzug« verbunden sind: Entwicklungen, bei denen abzusehen ist, dass, wenn nicht entsprechend eingegriffen wird, eine zukünftige Funktionalisierung wesentlich erschwert oder gar unmöglich werden wird. Die krassesten Beispiele sind hier sicherlich Suizid, schwere Verletzungen oder lebensbedrohliche Krankheiten; aber auch kriminelles Verhalten, Arbeitslosigkeit, Wohnungsverlust oder eben schwere Verschuldung können Situationen herbeiführen, die kaum mehr wieder in integrative, funktionale Bahnen zu lenken sind. Wenn solches Geschehen in allernächster Zeit droht, kann man meist nicht eine interessante Intervention setzen und warten, was dann geschieht. Es müssen Sofortmaßnahmen ergriffen werden. Der Helfer darf aber dann nicht übersehen, dass er vermutlich entsprechend einer Spielregel des Systems, in das er eingegriffen hat, gehandelt hat. Das bedeutet, dass er jetzt auch an der Fortführung des Interaktionsspieles beteiligt ist. Und es bedeutet, dass dieser Zusammenhang zu klären ist und Wege zu suchen sind, wie anschließend dieses soeben »gerettete« System doch durcheinandergebracht werden kann, damit es sich weiterentwickeln kann. Speziell auf die Sozialarbeit bezogen heißt das, dass Sozialarbeiterinnen alles, was die klassische Sozialarbeit an Mitteln und Methoden zur Verfügung hat, einzusetzen haben, und zwar sowohl um dysfunktionale Systeme zu funktionalisieren als auch um bei Gefahr im Verzug Katastrophen zu verhindern. Und weiters heißt es, dass auch systemische Sozialarbeit ohne die klassischen Methoden ein Hirngespinst bleibt.

Große soziale Systeme Ein großes soziales System definiere ich als Ansammlung von Personen, die – in Zusammenhang mit einer Abgrenzung bzw. Gegenüberstellung nach außen – miteinander in regelmäßigen, funktional definierten und sich wiederholenden Kontakten verbunden sind. Diese Verbindungen funktionieren so, dass Formen der Interaktion vorgegeben sind, die es den Mitgliedern nicht ermöglichen, alle stattfindenden Geschehnisse wahrzunehmen. Es finden auch nicht zwischen allen Personen direkte Kontakte statt. Im Allgemeinen wird zur Definition von sozialen Systemen auch noch das Kriterium der Größe, das heißt der großen Zahl der Mitglieder benützt. Dies ist nicht unbedingt haltbar, da ohne weiteres soziale Systeme von vier Personen aufwärts denkbar sind, in denen aufgrund interner Kommunikationsregeln nicht alle Mitglieder direkt miteinander kommunizieren können.

Die Entstehung von großen Systemen

Zurück zur Tanzfläche. Wir beobachten eine Interaktion zwischen zwei Personen, die jeweils Anhänger finden, so dass sie sich zu einer Interaktion zwischen zwei Parteien oder Subgruppen entwickelt. In weiterer Folge ist, wenn das Spiel nicht bald aufhört, zu erwarten, dass sich manche dieser Subgruppen dauerhaft organisieren: zum Volkstanz, zum Krieg oder was immer (Abbildung 10). Dauerhaft werden sie, indem sie eine Grenze aufrechterhalten, die zwischen dazugehörig und nicht dazugehörig unterscheidet. Das wiederum können sie genau dann, wenn sie eine innere Struktur entwickeln, die noch andere Funktionen sichert als Abgrenzung und Umgang mit der Außenwelt, wie etwa Nahrungsversorgung, Abfallentsorgung, Abbildung 10: Zwei große Systeme Koordination, Krankenpflege, Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Reproduktion der notwendigen Organe. Zu diesen notwendigen Organen gehören natürlich auch die Grenzelemente, die diese ursprüngliche Interaktion, die überhaupt zur Unterscheidung zwischen »wir« und »die anderen« geführt hat, aufrechterhalten. Abgrenzung ist eine Interaktionsform nach innen und nach außen. Die innere Struktur kann mehr oder weniger komplex sein, es sei aber auch hier wieder darauf hingewiesen, dass für die Entstehung solcher Strukturen ein vorher bestehender Plan nicht Voraussetzung ist: Von all den vielen Kombinationen, die sich entwickeln können, werden nur die zu dauerhafter Existenz finden, die solche Funktionen und deren Reproduktion in ausreichendem Maße enthalten. Das bedeutet auch hier wieder, dass sehr viele Systeme zwar im Ansatz entstehen können, aber sehr schnell wieder »aussterben«, weil sich die selbst erhaltenden und selbst reproduzierenden Funktionen nicht oder nicht in ausreichendem Maße entwickeln. Genau genommen muss man jedes System als ein solches vorübergehendes betrachten. Die Zeiträume allerdings, die ein System überdauert, können reichen von null bis unabsehbar: Das System »Galaxis« erscheint uns in seiner Dauerhaftigkeit unabsehbar, obwohl es keinen Beleg gibt, dass es nicht eines Tages in einem immer schneller werdenden Destrukturierungsprozess all seiner Regelhaftigkeit verlustig geht. Das System der irdischen biologischen Natur existiert zumindest erst wesentlich kürzer, über die Dauerhaftigkeit können wir auch hier keine Aussagen machen. Staatengebilde und Kulturen überdauern schon nur mehr historisch erfassbare Zeiträume, während die Lebensdauer eines biologischen Organismus gar menschliche Dimensionen hat. Familien und Paarbeziehungen bewegen sich in ähnlichen Dimensionen, Kriege sind zum Glück

Die Entstehung von großen Systemen

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meistens etwas kürzer. Wellen im Wasser sind eher vorübergehende Strukturbildungen, überleben aber ebenfalls durch interne Stabilisierungsmechanismen. Auch eine Flamme erhält sich selbst aufrecht und würde das auch sehr lange tun, wenn ihr nicht die notwendigen Umweltbedingungen entzogen würden. Wie viele Strukturen entstehen, aber so schnell wieder absterben, dass wir gar nicht in der Lage sind, sie wahrzunehmen, können wir natürlich nicht feststellen. SpencerBrown (1996) meint, dass uns Systeme umso eher erkennbar werden, je geringer ihre Veränderungsgeschwindigkeit im Vergleich zu unserer eigenen ist. Es ist denkbar, dass es – sowohl außerhalb als auch innerhalb dieser Strukturen – Individuen gibt, die sich über eben diese Struktur Gedanken machen. Für nichtmenschliche Systeme kann man das allerdings nicht voraussetzen. Trotzdem können sie offenbar funktionieren. Wenn es sich aber bei diesen großen Systemen um Zusammenschlüsse von Menschen handelt, so nennen wir sie soziale Systeme. Alle Systeme sind den gleichen grundsätzlichen Regeln der Selbstreproduktion unterworfen, wir können allerdings nur bei sozialen Systemen annehmen, dass ihre Bestandteile denken. Mir scheint zur Veranschaulichung das Bild einer biologischen Zelle sehr brauchbar: Meist sehr komplizierte Struktur, innerer Austausch, Grenzfläche und selektiver Austausch durch diese Grenze mit der Umgebung. Umwandlung von Stoffen, Energie und Information an der Grenzfläche und innerhalb. Kommunikation mit der Außenwelt ist – nach Maturana (Maturana und Varela 1987) – Perturbation (Ver-/Störung), die nach systemeigenen Regeln aufgenommen wird und auf die nach systemeigenen Regeln reagiert wird. Der Bogen der Reaktion spannt sich von Ignorieren bis zum Zerfall bzw. zur Explosion. Wenn das System flexibel ist (nicht rigide), dann sind unterschiedliche Grenzflächen und Grenzflächenreaktionen in verschiedene Richtungen möglich, orientiert auf verschiedene Außenbedingungen.

Die Rolle des Denkens in sozialen Systemen Die Rolle des denkenden oder bewussten Elements scheint mir näherer Betrachtung würdig. Wir wissen aus der Gruppendynamik, dass in so genannten reifen Gruppen die Menschen in der Lage sind, wahrzunehmen, welche Funktionen in der Gruppe gerade fehlen, und ihre je persönliche Funktion dahingehend modifizieren, dass die fehlenden Funktionen ausgeführt werden. Genau genommen kann der Begriff »reif« aber nur dadurch definiert werden: Andere Gruppen sind eben nicht »reif« und überleben höchstens, wenn sie durch einen mächtigen Außenstehenden am Zerfall gehindert werden. Tatsächlich setzt dieser Vorgang des Erkennens von Mängeln und deren sinnvoller Behebung nicht voraus, dass die Menschen denken, sie könnten es auch als Mangel spüren und unbewussterweise tun. Wir wissen ebenfalls – speziell aus der Untersuchung von Organisationen – dass denkende Individuen häufig nicht in der Lage sind, fehlende Funktionen

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richtig wahrzunehmen und zu ersetzen. Es gibt Firmenchefs, die ihre Firma zugrunde richten, weil sie das Notwendige nicht erkennen oder nicht ausführen, und es gibt sehr kluge Wissenschaftler, die vielleicht das Richtige erkennen, es aber nicht ausführen, sondern stattdessen Bücher schreiben. Auch ich selbst habe schon häufig erlebt, dass Familien, die mit einem »kranken« Familienmitglied, mit einem Symptomträger also, zu mir in Therapie kamen, nach einer »effektiven« Intervention von mir zwar keinen Symptomträger, keinen Kranken mehr hatten, aber zerfielen: lauter gesunde Leute, aber keine Familie mehr. Somit kann man den Faktor »Denken« als ein mögliches Element in Systemen betrachten wie viele andere auch, und wenn es – mit den anderen Elementen zusammen – zur Erhaltung beiträgt, dann wird das System überleben, andernfalls eben nicht. Sprache, Denken, Bewusstsein sind Dinge, die in Systemen vorkommen, und sind an der Erhaltung oder Zerstörung ebenso beteiligt wie Beine oder Telefone. Auch unsere eigenen Überlegungen sind nur ein Versuch und können nur dann nützlich sein, wenn wir die Funktionsweise sozialer Systeme »zufällig« so erfinden, dass die Folgerungen, die wir daraus ziehen, zur Erhaltung beitragen. Das einzige, was wir einigermaßen sicher sagen können, ist, dass eskalierende zirkuläre Prozesse Energie und Aufmerksamkeit an sich ziehen, so dass einigermaßen gesichert ist, dass diese Aufmerksamkeit und Energie nicht für die Erhaltung des Systems zur Verfügung stehen.

Leitdifferenzen: Der Unterschied zwischen großem und kleinem System Der unmenschliche Vater4 Ein Dachdecker steht auf dem Dach, irgendwo zwischen Himmel und Erde, neben ihm sein Sohn. Plötzlich wird dem Sohn schwindlig. Er verliert den Halt und klammert sich an den Fuß seines Vaters. Er schreit vor Angst. Unten auf der Straße versammeln sich die Leute und schauen. Der Vater hält sich fest, überlegt. Dann schüttelt er mit einer kräftigen Bewegung den Sohn ab – der fällt in die Tiefe und ist tot. Großes Entsetzen unten in der Menge: Wie kann ein Vater seinen eigenen Sohn in den Tod stürzen? Die Antwort liefert der Vater beim Prozess: Er hatte gemerkt, wie ihn allmählich die Kräfte verließen, und keine Möglichkeit gesehen, sie beide zu retten. Zu Hause aber hat er Frau und noch zwei Kinder, die auf ihren Ernährer angewiesen waren. So entschloss er sich, seinen Sohn zu opfern und sein Leben zu retten, um seine Familie nicht ins Unglück zu stürzen.

Die Sozialarbeit ist – per definitionem – angesiedelt an der Schnittstelle zwischen kleinen Systemen bzw. Individuen und großen Systemen. Sind nur kleine 4 Ich kann für diese Geschichte leider die Quelle nicht mehr eruieren.

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Systeme oder nur große Systeme miteinander in Konflikt, so gibt es dafür andere Fachleute. Daher ist es natürlich für Sozialarbeiterinnen von essentieller Bedeutung, zwischen großen und kleinen Systemen vermitteln zu können: Kann ein Sozialarbeiter das nicht, so hat er seinen Beruf verfehlt. Um aber Vermitteln zu können, – das haben wir schon mehrfach dargelegt –, muss man in der Lage sein, beide Seiten des Konfliktes zu achten und zu ehren. Diese Achtung stößt bei großen Systemen auf besondere Schwierigkeiten. Sozialsysteme sind keine Menschen. Luhmann (1984) definiert Personen als »Außenwelt« für soziale Systeme. Sicher ist, dass eine Zelle kein Baum ist, ein Elektron kein Atom, und eben ein Mensch kein soziales System. Diese Tatsache hat weitreichende Folgen. Es gibt keinen vernünftigen Anlass, anzunehmen, dass soziale Systeme so etwas tun wie das, was wir »fühlen« nennen. Es gibt keinen Anlass, anzunehmen, sie seien mit menschlichen Argumenten erreichbar. Die innere Organisation von sozialen Systemen hat ihre eigenen Leitdifferenzen und kann für Menschen nur verständlich werden, wenn es den Menschen gelingt, diese Leitdifferenzen zu erkennen und zu akzeptieren. Mitmenschlichkeit, wie wir sie Menschen unterstellen, kann von einem sozialen System nicht – bzw. höchstens als Ideologie, nicht aber als Gefühl – erwartet werden. Ein soziales System hat nicht die Geschichte eines Menschen und kann sich kaum mit einem Menschen identifizieren, so wie wir uns nicht mit einem Blutkörperchen oder mit einer Bakterie identifizieren können. So hat auch der Organismus kein Interesse an einem Überleben einer einzelnen Zelle: Die alles bestimmende Leitdifferenz des Organismus ist die Erhaltung der Struktur und damit auch die Erhaltung der dafür notwendigen Zellen. Wo das nicht gewährleistet ist, stirbt der Organismus. Der funktionierende Organismus kann kein Interesse daran haben, überflüssige oder gar dieser Leitdifferenz widersprechende, also als schädlich erscheinende Zellen am Leben zu erhalten. Ebenso kann ein soziales System kein primäres Interesse an der Erhaltung von überflüssigen oder gar als schädlich erscheinenden Menschen haben. Das bedeutet zwar nicht, dass jedes soziale System alle »überflüssigen« Menschen eliminieren muss: Auch ein Organismus eliminiert nicht alle »überflüssigen« Zellen (wie man z. B. leicht an Fettleibigkeit oder Schönheitsmalen erkennen kann), und auch »schädliche« Zellen werden nicht immer eliminiert (was dem Organismus allerdings nicht gut tut). Aber es bedeutet, dass wir ein soziales System nur verstehen können, wenn wir diese Leitdifferenz verstehen und nachvollziehen können. Es bedeutet, dass wir nur dann eine positive Beziehung zum sozialen System entwickeln können, wenn wir imstande sind, anzuerkennen, dass das soziale System seine Struktur aufrechterhalten muss und dass es an der Erhaltung von einzelnen Menschen nicht beliebig interessiert sein kann. Die Anerkennung dieses Faktors scheint der Schlüssel zur Möglichkeit, zwischen Individuen und Sozialsystemen, ja auch zwischen kleinen Systemen und großen Sozialsystemen, zu vermitteln. Und da wir Sozialarbeit definiert haben als die Vermittlung in Konflikten zwischen Individuen (bzw.

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kleinen sozialen Systemen) und großen Sozialsystemen und da wir weiters hoffentlich schon klargemacht haben, dass eine Vermittlerrolle die Anerkennung beider Seiten voraussetzt, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Sozialarbeiterin diesen Selbsterhaltungstrieb des sozialen Systems akzeptiert. Ein Mensch ist für ein soziales System wahrscheinlich nur ein Element, das brauchbar, unbrauchbar, schädlich oder irrelevant sein kann. Das klingt nicht sehr menschlich. Trotzdem werden wir ihm dieses zugestehen müssen. Denn würden wir diese Feststellung als Anlass nehmen, soziale Systeme abzuschaffen, so würden wir damit auch uns selbst unsere Lebensbasis entziehen: Die Aussage, ein soziales System sei unmenschlich, kann also sinnvoller weise kein Vorwurf sein! Nun ist die Gefahr, dass ich als Einzelner eine Gesellschaft abschaffen kann, nicht sehr groß. Sehr viel wesentlicher erscheint daher die Überlegung, dass, wenn wir diese Grundeigenschaft von sozialen Systemen, dass sie das Überleben der Gemeinschaft dem Überleben des Einzelnen vorziehen, bekämpfen, sich jedes funktionierende Sozialsystem wehren muss. Das wird, vorausgesetzt, das soziale System bringt uns nicht um, zu einer dysfunktionalen Beziehung zwischen mir und dem sozialen System führen, zu einem Kreislauf negativer Zuschreibungen, der gerade durch diese negativen Zuschreibungen sich am Leben erhält bzw. eskaliert. Darüber hinaus ist hier noch einmal auf die unterschiedlichen energetischen Verhältnisse und die unterschiedlichen Zeitbezüge zwischen großen Systemen einerseits und Individuen oder kleinen Systemen andererseits hinzuweisen. Eine solche dysfunktionale Beziehung kann auf Seiten des kleinen Systems alle Energien aufzehren, während das große System zwar auch mit der Geschichte befasst ist, es für dieses aber völlig ausreicht, ab und zu einen Polizisten loszuschicken. Es ist dadurch in seiner Selbsterhaltung kaum gefährdet. Auch der Zeitfaktor unterliegt einer ähnlichen Diskrepanz. Während ein Mensch in einer solchen dysfunktionalen Beziehung sein Leben verbringen kann, kann das große System getrost abwarten. Bevor es einmal »eingeatmet und wieder ausgeatmet« hat, ist der Mensch gestorben und alles ist wieder vergessen. Dabei bedeutet diese Überlegung nicht, dass jeder Versuch, gegen eine Systemstruktur vorzugehen, eine solche zu verändern, obsolet ist. Viele Veränderungen von Gesellschaftsstrukturen, die erkämpft wurden, sind historisch bekannt. Sie dauern allerdings meist länger als ein Menschenleben, und sehr viele Leute haben ihr Leben in die Waagschale werfen müssen, bis dadurch eine Änderung des Systems möglich wurde. Wer immer etwas über gesellschaftliche Umwälzungen gelesen hat, weiß das. Etwas billiger geben es Institutionen und Organisationen unter Umständen, aber meist ist der Aufwand auch hier sehr groß. Wir kommen darauf zurück. Außer der Leitdifferenz der Selbsterhaltung gibt es noch weitere Leitdifferenzen, die sich aus jener ableiten: Organisationen und Institutionen haben im Allgemeinen ein offizielles Ziel, das sie – zumindest offiziell – verfolgen müssen, um sich zu rechtfertigen. Darüber hinaus gibt es interne Mythen und Traditionen,

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die als Garanten für die Überlebenssicherheit gelten. Auch diese Faktoren sind Grundlagen für die Einschätzung von Geschehnissen. Besonders wichtig für die Sozialarbeit aber erscheint der »Graubereich«: Nicht alles, was geschieht, ist für die Leitdifferenzen des Sozialsystems relevant. Menschlichkeit etwa ist für das System im Allgemeinen zwar kein Faktor von Bedeutung, aber gerade aus diesem Grund auch nicht störend. Erst wenn bei Vorgängen, die Menschen als menschlich betrachten, die Leitdifferenzen des Systems in Frage stehen, wird das System abwehrend reagieren. Dadurch besteht zwar normalerweise nicht die Möglichkeit, ein System wesentlich in Bezug auf seine Leitdifferenzen zu verändern, wohl aber können Nischen und andere Veränderungen eingerichtet werden, die den Umgang mit Menschen verändern. Neuere Entwicklungen wie etwa die des Diversity-Management gehen sogar in die Richtung, Faktoren der Menschlichkeit mit denen der Effektivität zu verknüpfen. Und noch ein Faktor ist hier zu erwähnen: Jede Person, die in einem sozialen System eine Funktion innehat, hat eine eigene Einschätzung der Relationen und einen eigenen Handlungsspielraum. Kaum eine Funktion erfordert den ganzen Menschen für sich. Der restliche Mensch bleibt offen für seine persönlichen Interessen, und diese können wir auch persönlich ansprechen. An diesen Stellen zeigt sich, dass Menschlichkeit ein Faktor in großen Systemen ist, auf den diese nicht reagieren müssen, sofern die notwendigen Funktionen durch ihn nicht in Frage stehen. Oder anders ausgedrückt: Große soziale Systeme sind weder menschlich noch unmenschlich. Freilich ist hier zu beachten, dass der Spielraum, den eine Person in einer Position hat, nicht nur von ihrer Einschätzung abhängt, sondern auch von »realeren« Faktoren. Unter anderem ist die Bandbreite der Handlungen einer Person in einer Position zum Beispiel auch bestimmt von der Konkurrenz um die Position: Wer keine Konkurrenz hat, kann vieles möglich machen, ohne sich selbst wegzukatapultieren, wer viel Konkurrenz hat, kann sich nicht leisten, etwas anderes zu tun, als was seiner Sicherheit dient. Auch dies muss die Sozialarbeiterin akzeptieren können (ohne es unbedingt zu unterstützen!), um eine Kooperationsbasis herstellen zu können. Ich fasse zusammen: Soziale Systeme haben wohl sehr komplizierte Strukturen und befinden sich eine Organisationsebene über Individuen. Aber in interaktioneller Hinsicht kann man sie durchaus so betrachten, als ob sie sich wie Personen verhielten: Sie treten in dysfunktionale Rückkoppelungskreise ein, die sich aufschaukeln, benutzen einen Großteil ihrer Energien für die Veränderung oder Ausmerzung auszuschließender Elemente. Wie ich oben schon geschrieben habe, kann man das nicht in Frage stellen, ohne das System in Frage zu stellen. Umdeutungen sind aber natürlich möglich. Eine solche Umdeutung ist zum Beispiel, wenn ein Totschlag durch Aufklärung der Umstände zum Notwehrakt wird: Aus einem gefährlichen Mörder wird wieder ein normaler Bürger. Wie auch aus dem Beispiel ersichtlich, kann man so durchaus auch sinnvoll Beziehungen zwischen großen Systemen und Personen betrachten, wenn man dabei

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die Unterschiedlichkeiten der Leitdifferenzen und des Zeitfaktors berücksichtigt. Besonders deutlich wird das unter anderem bei Strukturaufstellungen, wo sowohl Personen als auch große Systeme positioniert werden können (siehe dazu etwa Sparrer und Varga von Kibéd 2001). Ich selbst arbeite sehr erfolgreich mit zirkulären Fragen, in denen Personen bezüglich der möglichen Sichtweisen und Reaktionen von Organisationen befragt werden.

Einführung von Veränderungen in großen sozialen Systemen Spezielle Beachtung hinsichtlich der Organisationsdynamik muss der Reaktion von sozialen Systemen auf Veränderungen gezollt werden. Wir werden versuchen, zunächst das Trägheitsprinzip von sozialen Systemen klarzumachen, um dann zu zeigen, welche Möglichkeiten der Handhabung es gibt. Wie schon oben beschrieben, verstehen wir ein großes soziales System als eine Ansammlung von Personen, die – in Zusammenhang mit einer Abgrenzung bzw. Gegenüberstellung nach außen – miteinander in regelmäßigen, sich wiederholenden Kontakten verbunden sind, und zwar so, dass Formen der Interaktion vorgegeben sind, innerhalb derer es den Mitgliedern nicht möglich ist, alle stattfindenden Geschehnisse wahrzunehmen, als auch so, dass nicht zwischen allen Personen direkte Kontakte stattfinden. Wenn eine einzelne Person ein Ziel verfolgt, so kann sie dies mit ihrer gesamten Energie tun, und jeweils anhand einer bestimmten Situation die günstigsten Möglichkeiten ergreifen. Wir alle wissen, dass schon das nicht wirklich stimmt: Auch der einzelne Mensch hat seine vorgegebenen Muster, von denen er nur schwer abzubringen ist, und kann sich daher in vielen Situationen nicht optimal verhalten. Wenn nun aber zwei Personen miteinander ein Ziel verfolgen sollen, so wird dies nur dann geschehen, wenn ein Teil der vorhandenen Energie für die Koordination und den Zusammenhalt verwendet wird. Und je mehr Personen an einer Aufgabe beteiligt sind, umso mehr Aufwand pro Person ist nötig, um das auf diese Weise entstehende System stabil zu halten – das heißt seinen Zerfall zu verhindern. Und nur solche Systeme können am Leben bleiben, die diesen Aufwand aufbringen, die in hohem Maße die Fähigkeit entwickeln, Veränderungen zu blockieren, Veränderungseinflüsse zu neutralisieren. Bildlich gesprochen, muss eine Art Netz aus Gummibändern entwickelt werden, das die Personen in koordiniertem Zusammenhang hält und Abweichungen automatisch korrigiert. Besonders zu beachten ist, dass dieses Gummibandnetz sich durchaus nicht unbedingt am formalen Ziel des Systems orientiert, sondern an einer impliziten Bedingung des Zusammenhalts. Es ist z. B. durchaus denkbar – und kommt häufig genug vor –, dass die sich entwickelnde stabile Struktur einer Organisation nichts mit dem formalen Ziel der Organisation zu tun hat, was häufig mit Verwunderung wahrgenommen, aber nicht als notwendige Entwicklung verstanden wird. Zweitens ist zu beachten, dass dieses Netz nicht bewusst und absichtlich hergestellt werden kann. Wir haben schon große Mühe, die Interaktionen zwischen

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zwei Menschen einigermaßen zu verstehen (es wäre nicht schwierig, anhand eines Videobandes ein mehrbändiges Werk über zwei Minuten eines Zweiergesprächs zu schreiben), die Steuerung der Interaktionen zwischen mehreren Personen über eine formale Organisationsstruktur hinaus ist dagegen ein völlig hoffnungsloses Unterfangen. Drittens ist zu verstehen, dass eben diese informelle Struktur, die ein Weiterbestehen des Systems sichert, nicht von einer Person hergestellt wird, sondern von allen gemeinsam in einem unbewussten Interaktionsspiel, das sich solange in ständiger Wandlung befindet, bis eben eine Form gefunden ist, die sich selbst reproduziert und dadurch stabil ist. All diese Fakten miteinander ergeben, dass in einer Organisation, die tatsächlich und über längere Zeit besteht, alle vorhandenen Kräfte, ohne sich dessen bewusst zu sein, in ihrem Zusammenspiel so funktionieren, dass Veränderungen verhindert bzw. Veränderungseinflüsse neutralisiert werden. Die meisten Personen sind auf ihre Weise damit beschäftigt, alles beim Alten zu halten. Ein einfaches Beispiel einer Zweierbeziehung möge dies verdeutlichen. Nehmen sie ein Paar, in dem beide Partner der Meinung sind, ihre Beziehung sei nicht optimal gestaltet, und die daher ständig versuchen, etwas an ihr zu ändern. Gerade diese ständigen Versuche der Änderung sind es, die die Beziehung dann ausmachen und die Stabilität erhalten. Jede Idee, was man tun könnte, ist Element dieses Spiels und erhält die alte Struktur. Wer sich nun fragt, ob denn dieses Paar wenigstens irgendwelche Entwicklungschancen hat, dem kann man antworten: Es gibt eine Möglichkeit, die aber eher paradox klingt. Sie wird später noch erwähnt. Das bedeutet nun insgesamt, dass jeder Versuch, in einem großen System plötzlich eine Veränderung herbeizuführen, auf massiven Widerstand stoßen muss, völlig unabhängig davon, ob die Veränderung sinnvoll erscheint oder nicht. Das mag auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, aber man bedenke, was passieren würde, wenn jedes Mitglied eines Systems jede Änderung, die ihm sinnvoll erscheint, auch tatsächlich durchführen könnte. Selbst wenn das nur dem Chef in einer Organisation gelingen würde, wäre ein unüberschaubares Chaos die Folge, da ja auch er nicht die informellen Strukturen, die das eigentliche Funktionieren ausmachen, überschauen und in Ordnung halten kann. Diese Tatsache ist eine häufige Ursache für das Entstehen von dysfunktionalen Konflikten. Wenn ein Mitglied z. B. einer Organisation auf die Idee kommt, dass man irgendetwas dort besser machen könnte, und seinen Verbesserungsvorschlag anbringt, so wird das übrige System diesen Vorschlag ignorieren, direkt mit Abwehr reagieren oder der Verbesserungsvorschlag wird belobigt, aber nicht durchgeführt. Sehr wahrscheinlich wird nun die Person, die den Vorschlag gemacht hat, verärgert sein und in irgendeiner Form dem System Vorwürfe machen. Große Systeme insgesamt scheinen – vermutlich aufgrund der durch die Größe bedingten paranoiden Struktur – wenig Mitgefühl zu entwickeln. Daher kann das System wieder nur mit Abwehr reagieren. Der Teufelskreis ist perfekt.

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Eine Sozialarbeiterin berichtete in der Supervision von einer solchen Entwicklung: Sie habe vor drei Jahren einen Vorschlag gemacht, wie man das Dokumentationswesen durch Veränderung von zwei Formularen wesentlich vereinfachen könnte. Es habe aber niemand reagiert. Sie habe immer wieder auf ihrem Vorschlag insistiert, aber die Folge war nur, dass man sie nicht mehr nur ignoriert habe, sondern die Vorgesetzten angefangen haben, unfreundlich zu werden, was sie natürlich immer mehr verärgert habe. Am meisten aber habe sie verärgert, dass dann – etwa zwei Jahre später – die Organisation eine Organisationsberatung in Anspruch genommen habe, und diese den gleichen Verbesserungsvorschlag gemacht habe. Dann sei er durchgeführt worden. In diesem Fall wird sehr deutlich, was ein dysfunktionales System ist: Der Inhalt des Vorschlages geht über dem Beziehungsaspekt völlig verloren. Die Sozialarbeiterin und das große System kämpfen darum, ob Vorschläge dann, wenn sie von ihr kommen, wert sind, durchgeführt zu werden oder nicht. Der Inhalt des Vorschlages selbst ist offensichtlich nicht mehr das Thema (von Seiten der Organisation: Er kann durchaus durchgeführt werden; von Seiten der Sozialarbeiterin: Dass der Vorschlag nun endlich durchgeführt wird, befriedigt diese in keiner Weise).

Ein spezieller Punkt, der den Widerstand gegen Veränderungen in großen sozialen Systemen noch weiter unterstützt, wäre zu erwähnen. Große soziale Systeme sind gerade durch die Anonymität der Beziehungen grundsätzlich ängstigend. Daher kann ein großes System im Allgemeinen nur gerade dadurch Sicherheit geben, dass es besonders feste formale Regeln zu geben und aufrechtzuerhalten imstande ist. Man sieht, dass jemand, der in einem großen System etwas Neues einführen will, enormen Widerständen entgegensieht. Was also ist zu tun? Die einfachste Variante ist die, so stark zu sein, dass man die gewünschte Änderung einfach einführt und stabilisiert. An der Illusion, stärker zu sein als ein großes System, sind schon viele gescheitert, und die wenigen, die es geschafft haben, mussten ihre ganze Energie und Zeit in die Aufrechterhaltung der Änderung gegen die »Elastizität« der Organisation investieren; wenn sie nachließen, war dann meist sehr bald wieder alles beim Alten. Dies ist nur vermeidbar, wenn die neu eingeführten Vorgänge durch formale Akte fixiert werden oder Rückkoppelungsmechanismen entstehen, die das Neue ständig reproduzieren. Dann ist eine Rückführung in die alten Strukturen erschwert. Die zweite Variante ist, ein neues System aufzubauen, das zunächst nicht in die Strukturen des alten eingreift. Hier besteht natürlich die Möglichkeit, von vornherein Strukturen zu entwickeln, die dem Arbeitsziel entsprechen. Eine solche Struktur kann natürlich – wenn sie entsprechend ausgebaut ist – auch einer anderen, älteren Paroli bieten und Veränderungen erzwingen. So hat es z. B. den Anschein, dass – zumindest im deutschsprachigen Raum – erst die Entwicklung der Selbsthilfegruppen und Patientinnenvereinigungen Änderungen im institutionalisierten Gesundheitswesen notwendig machten, die von Fachleuten lange vorher erfolglos vorgeschlagen worden waren.

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Die dritte Variante erfordert, ebenso wie die zweite, viel Geduld: Harry Merl (mündliche Mitteilung, 1979) nannte sie die »Methode der kleinen Nester«. Der Agent der Veränderung tritt hier gar nicht offen mit seinen Änderungswünschen in Erscheinung, sondern beobachtet den Entwicklungsprozess innerhalb des Systems und gibt dort Unterstützung, wo sich Veränderungen in der gewünschten Richtung ergeben. Für diese Methode ist es sehr wichtig, dass man viele Kontakte hat und möglichst gut über alle Vorgänge informiert ist. Natürlich kann es dabei passieren, dass den Ruhm ein anderer einheimst, der zum richtigen Zeitpunkt erkennt, was da im Entstehen ist und seinen Namen dahinter setzt. Dagegen kann meist nachträglich nichts mehr getan werden, wie viele der Leser aus eigener bitterer Erfahrung wissen dürften. Relativ einfach und wirkungsvoll ist die Methode, in einer schon laufenden Umstrukturierungsphase, in der sowieso keine Sicherheiten mehr vorhanden sind, greifbare Strukturen anzubieten. In dieser Situation besteht für Neueinführungen die Chance, dass sie als neue Sicherheit, an die man sich halten kann, aufgefasst werden, und man hat nur mehr mit einzelnen Personen zu konkurrieren, die Ähnliches oder anderes einführen wollen. Ein solcher Kampf kann gewonnen werden. Das einfachste Beispiel: Wir kennen einige Leute, die im Zuge des Neubaus einer Klinik zu besseren Räumlichkeiten gekommen sind, indem sie diese einfach bezogen haben. Man sollte nicht glauben, wie schwer es ist, jemanden aus einem Raum zu verdrängen, der seine Post schon dorthin geschickt bekommt. Ein Beispiel auf politischer Ebene wäre, dass sich totalitäre oder faschistische Regime vorzugsweise in Phasen großer Unsicherheit etablieren können. Natürlich ist diese Methode, ebenso wie die erste, gefährlich, weil man sich Feinde macht. Außerdem wird man eine geeignete Situation selten gerade dann vorfinden, wenn man sie braucht. Die letzte Methode, die wir hier erwähnen wollen, ist wohl die praktikabelste, wenn sie auch einige Ansprüche an den Agenten der Veränderung stellt. Sie besteht darin, nichts Bedeutendes zu verändern. Das kann heißen, nichts zu tun, es kann aber auch heißen, das ganze System auf den Kopf zu stellen. Wesentlich ist, dass es gelingt, den allgemeinen Eindruck zu erwecken, dass nichts Bedeutendes geschieht oder zumindest dass noch viel »Ärgeres« gerade noch vermieden werden konnte. Hierfür ein Beispiel aus organisationsdynamischer Beratungstätigkeit: In einer Firma werden – auf Auftrag des Chefs – umfangreiche Recherchen und Interviews von den Mitarbeitern einer Betriebsberaterfirma durchgeführt. Nach einiger Zeit der Unsicherheit wird eine Betriebsversammlung anberaumt, und die Berater der Firma stellen ihre Pläne in folgender Weise vor: »Wir haben uns sehr bemüht, die Einstellung der Mitarbeiter dieser Firma kennen zu lernen, und es hat uns mit großem Respekt erfüllt, wie sehr hier alles zusammenspielt und alle an der Aufrechterhaltung der gegebenen Ordnung mitarbeiten: Die Stabilität der Firma R. scheint ihnen allen ein großes Anliegen zu sein, und sie alle scheinen erkannt zu haben, dass jede Änderung eben diese Stabilität gefährden könnte. Wir haben uns auch überlegt, wie wir diese Bemühungen am besten unterstützen

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können. Wir sind mit ihrem Chef darin übereingekommen, dass unsere Aufgabe hier sein wird, zu überwachen, dass bei der Umstellung der Verwaltung auf EDV keine Unsicherheiten und Instabilitäten entstehen. Wir bitten nun hiermit auch Sie alle, uns bei diesem Auftrag zu unterstützen, damit die Gefahren eines Chaos vermieden werden können.« Die richtige Interventionstaktik in dieser Strategie erfordert natürlich sehr viel Geschick und oft auch einige Selbstüberwindung, da man ja nicht einfach mit seinen Absichten losziehen kann. Wesentlich ist, dass man herausfindet, welche Faktoren der Stabilität den Mitarbeitern des Systems wichtig erscheinen, und bei allen Interventionen deren Wichtigkeit betont. Um zu dem Beispiel des oben erwähnten Paares zurückzukehren, die ständig versuchen, ihre Beziehung zu optimieren. Eine Intervention, die dem System Unterstützung seiner Stabilität zusichert und gleichzeitig eine Änderung einführt, könnte etwa so lauten: »Wir haben gesehen, wie sehr Sie beide sich um eine Verbesserung ihrer Beziehung bemühen, und wie sehr sich gerade in diesen Bemühungen um Veränderung Ihr gegenseitiges Verantwortungsgefühl ausdrückt. Leider scheint es im Moment Schwierigkeiten in der Koordination dieser Bemühungen zu geben. Um nun effektiv helfen zu können und keine Dinge vorzuschlagen, die Sie selbst schon probiert haben, bitten wir Sie, in den vier Wochen bis zu unserem nächsten Treffen alle Ideen, die Sie haben, was an Ihrer Beziehung zu verändern sei, wie auch alle Ideen, wie dies geschehen könnte, zu notieren und diese Notizen dann mitzubringen. Danach können wir uns gemeinsam überlegen, wie wir Ihnen helfen können.« Der nichtverändernde Aspekt dieser Intervention ist offensichtlich; dennoch sind die beiden auf eine gemeinsame Aufgabe festgelegt und können darüber hinaus nur noch eigenständig handeln, indem sie die Aufgabe verweigern, das heißt ihre Beziehung unter anderen Aspekten betrachten. Das aber wäre die erwünschte Veränderung. Besonders wesentlich aber ist, die eigene Position im formellen und informellen Gefüge der Institution festzustellen und Interventionen so anzulegen, dass man damit nicht dieser Position widerspricht: Andernfalls wird binnen kürzester Zeit nur mehr um die Definition dieser Position gekämpft werden, während der Inhalt der gewünschten Änderung keinerlei Bedeutung mehr haben wird. Eine Variante dieser Strategie besteht darin, Interventionen so anzulegen, dass der Interventor gar nicht als Urheber oder nicht als Veränderung beabsichtigend gesehen wird.

Der Konflikt – ein System quer zum Sozialsystem Zurück zur Funktionsweise. Ein Faktor ist für solche Systeme auf jeden Fall konstituierend: die Unterscheidung »dazugehörig« oder »nicht dazugehörig«. Das gilt für Personen wie für Ideen, Werte und Handlungen. Es scheint nicht möglich, sich ein erkennbares und sich erhaltendes System vorzustellen, das dieses

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Element nicht enthält und aufrechterhält. Folgerung: Ein System muss auf bestimmte Elemente mit Ausschluss reagieren (z. B. auf Mord), um seine Existenz zu erhalten. Wie aber wird mit ausgeschlossenen Elementen umgegangen, wenn sie vorgefunden werden? Die Skala kann reichen von Ignorieren bis Umwandeln, von Hinausdrängen bis zu Zerstören. Außerdem ist noch die Anpassung des Systems und Veränderung bzw. Erweiterung der Selbstdefinition (Was gehört dazu und was ist ausgeschlossen?) denkbar. Wenn allerdings im Zuge solcher Erweiterung zu Vieles und vor allem strukturzerstörendes Destruktives zugelassen wird, geht das System kaputt. Ein soziales System ist kein soziales System mehr, wenn es nicht die Existenz von individuellem Leben sichert, wenn es nicht die Existenz der es konstituierenden Elemente sichert, und zwar sowohl gegen Eindringlinge von außen als auch gegen Schädlinge von innen. Jetzt habe ich eine Vereinfachung durchgeführt, eine Anthropomorphisierung: Die Begriffe »Eindringling« und »Schädling« klingen nach Individuen. Es sind aber grundsätzlich nicht die Individuen, die Teile, die Elemente, die schädlich sind, sondern immer nur ihre Wirkungen, ihre Mitteilungen (ich weise darauf hin, dass man Menschen nicht wahrnehmen kann: Man kann nur ihre Äußerungen, ihre Handlungen, ihre Mitteilungen wahrnehmen!). Es könnte allerdings passieren, dass ein System die Wirkungen, die Mitteilungen, die es wahrnimmt, mit Dingen, mit Individuen oder Ähnlichem identifiziert. Das bedeutet, dass die Aufmerksamkeit sich statt auf das störende Geschehen auf eine Person konzentriert, von der man annimmt, dass sie dieses Geschehen herbeiführt, verursacht. Es könnte sein, dass sich die Gewohnheit einschleift, für alles, was geschieht, eine Person oder Personengruppen verantwortlich zu machen. Kinder tun das oft auch bei Dingen (der »böse Baum«, an dem man sich angeschlagen hat), wir tun es bei jedem Autofahrer, der uns in die Quere kommt, ohne zu wissen, was ihn dahin gebracht hat. Das funktioniert auch bis zu einem bestimmten Grad ganz gut: Wenn Bleikugeln als »Mitteilungen« durch die Luft fliegen, dann hilft es tatsächlich – zumindest akut –, wenn man die Person, von der die Kugeln herkommen, beseitigt, zerstört, entfernt. Wir wissen allerdings aus verschiedensten Zusammenhängen, dass häufig bald nach Beseitigung dieser scheinbaren Ursache, dieser Person, schon wieder Kugeln fliegen. Die Annahme, die Person sei die Ursache, ist damit langfristig nicht zu halten. Unsere »entwickelte« Gesellschaft hat im Wesentlichen zwei Vorstellungen in ihrem Repertoire: Die identifizierte Person ist das Böse, dann wird sie eingesperrt oder zum Tode verurteilt; oder sie enthält das Böse, dann wird sie behandelt mit Teufelsaustreibung, Psychiatrie oder Erziehung. Die Variante, die wir einführen wollen, ist noch nicht sehr geläufig: Das »Böse« ist ein Austausch von Verhalten, der unter bestimmten Bedingungen und unter Benutzung von Menschen entsteht und sich selbst reproduziert. Ein interessantes Beispiel für so ein Durcheinanderkommen von Geschehnis und Ursache ist das Romeo-und-Julia-Phänomen (Abbildung 11): Zwei große

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Systeme – hier Sippen – befinden sich miteinander im Kriegszustand. Erlaubte Verhaltensweisen für den Umgang mit dem je anderen System sind für beide Systeme Kampf und Vermeidung. Je ein Mitglied der beiden Parteien verliebt sich in den anderen. Das heißt, sie wollen einander weder vermeiden noch bekämpfen. Sie brechen die Regeln beider Systeme, sind damit plötzlich Feind für beide Systeme. Und diese beiden großen Systeme bringen es fertig, gemeinsam in eine eskalierenden Entwicklung mit dem neu entAbbildung 11: Großes System gegen standenen kleinen System einzutreten und Elemente aus den eigenen Reihen gemeinsam für die Erhaltung der heiligen Ordnung – nämlich der Feindschaft – gegen die beiden zu kämpfen. Sie schließen sich im Kampf gegen die beiden zusammen, ohne dabei selbst ihre Gegnerschaft aufgeben zu müssen. Offenbar ist es für die beiden großen Systeme nicht nötig, miteinander anders umzugehen als vorher (nämlich mittels Kampf oder Vermeidung), um einen gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Womit wir allerdings rechnen können, ist, dass während dieser – jetzt alle Energie auf sich ziehenden – neuen Interaktion der Kampf zwischen den Sippen ruht. Für ihn ist keine Energie, keine Aufmerksamkeit übrig. Eine neue Systemstruktur ist entstanden: Ein Konfliktsystem, das sich sozusagen quer über die alten großen Sozialsysteme legt, von denen nur mehr ein Teil sich selbst auch jetzt so definiert. Die Interaktionen, die diese aufrechterhalten haben, ruhen allerdings oder treten in den Hintergrund: Sie finden nicht tatsächlich statt und werden zur reinen Ideologie, um derentwillen etwas ganz anderes geschieht. Die Beteiligten auf der Mehrheitsseite sehen sich noch als Teil der alten Systemstruktur, sehen diese als gefährdet und betrachten die Außenseiter als falsch, als Krankheit, als Fehler innerhalb der eigenen, von ihnen so definierten Grenzen, als Fremdkörper im eigenen Reich. Die Beseitigung des Übels wird als Selbstoperation betrachtet, als innere Angelegenheit. Die »Fremdkörper« haben auch – nach dieser Sicht – kein Recht mehr, sich an der Definition der Familien zu beteiligen. Genau das versuchen sie aber: Sie versuchen, ein Verhalten einzuführen, das die anderen als nicht passend ablehnen. Und die haben in diesem Fall die Tradition auf ihrer Seite. Für den Beobachter bzw. Helfer gibt es keinen Sinn mehr, seine Beobachtung nach der ursprünglichen Systemstruktur zu orientieren. Die alte Beschreibung verwirrt nur mehr. Wenn wir uns nach dem alten Bild orientieren, ist der Konflikt nicht einmal beschreibbar. Um eine Beschreibung möglich zu machen, müssen wir die Elemente neu zusammenfassen und die Systemgrenzen neu definieren: Es sind die beiden Parteien dieses neuen Kampfes. Diesmal ist es kein Krieg (ein Krieg setzt voraus, dass auf beiden Seiten große Systeme stehen), sondern

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eine Außenseiterentwicklung: Die Mehrheit kämpft für die Aufrechterhaltung der gewohnten Regeln (auch wenn diese heißen: »Wir bekämpfen einander!«), auf der anderen Seite stehen einige wenige, die diese Regeln nicht akzeptieren, die etwas tun wollen und tun, was diesen Regeln widerspricht. Dritte, die in diesen Kampf nicht eintreten, sich nicht darum kümmern, sind für den Kampf nicht wesentlich, spielen »keine Rolle«. Alles ist mit dem Konflikt großes System-Liebespaar beschäftigt. Erst als das »verbotene« Element auf beiden Seiten zerstört ist (nämlich die positive Beziehung zwischen zwei Individuen unterschiedlicher Systeme), wird realisiert, dass damit gleichzeitig Mitglieder der je eigenen Seite ebenfalls zerstört wurden, dass man gegen Teile des eigenen Systems gekämpft hat. Das allerdings könnte dann unterschiedliche Folgen haben: Entweder das Ereignis wird von beiden Seiten genutzt, um die alte Feindschaft wieder zu aktivieren (indem man der je anderen Seite die Schuld zuschreibt), oder es führt zu gemeinsamer Betroffenheit und könnte dann vielleicht sogar ein Ende des Kampfes herbeiführen, zu einer neuen Definition der Beziehung zwischen den beiden Systemen. Können wir daraus schließen, dass Systeme tatsächlich nur die ausgeschlossenen Handlungen bekämpfen und dass das Bekämpfen der Personen nur ein Nebeneffekt ist? Und hat das etwas damit zu tun, dass man Toten nichts Böses nachsagt? Die Vermutung ist nahe liegend, besonders wenn man sich bewusst macht, dass ja nicht Personen, sondern nur deren Verhalten, das also das, was sie zeigen, wahrgenommen werden kann. Und sie bestärkt uns in der systemischen Grundannahme, dass bei Störungen nicht die Menschen, sondern ihre Interaktionen und daher das Problem zu behandeln ist. Und in weiterer Folge scheint es damit sinnvoll, zu vermuten, wie sich Handlungen bzw. Mitteilungen gegenseitig bedingen können. Denn wenn wir eine Handlung nicht gutheißen, und wir können eine Idee darüber entwickeln, wie sie herzustellen ist oder gar vielleicht hergestellt wird, so gibt es doch eventuell auch die Möglichkeit, sie nicht herzustellen, indem wir etwas anderes tun. Bei Romeo und Julia bedingen sich zwei Handlungen (nehmen wir an …). Die beiden leben ihre Liebe heimlich. Die anderen verfolgen sie. Je mehr die einen ihre Liebe heimlich leben, desto mehr verfolgen die anderen sie – und umgekehrt. Zum Schluss ist alles so heimlich, dass Romeo und Julia selbst nicht mehr voneinander wissen, wer was tut. Was würden wir – als normale außenstehende Menschen – tun, wenn wir da zusehen müssen? Wenn wir die Werte einer der Sippen vertreten, würden wir natürlich an der Verfolgung teilnehmen. Wenn wir das humanistische Ideal vertreten, würden wir schreien: Haltet ein! Seht ihr nicht, was ihr tut? Wenn wir klassisch wohlmeinende Menschen wären, würden wir den Liebenden zureden, ihre selbstmörderische Romantik aufzugeben. All das passt ins System und wird keine Änderung bringen: Wir wären Partei und damit wirkungslos hinsichtlich Veränderungen. Was könnten wir – als Sozialarbeiterinnen – tun? Was fiele uns ein, wenn das große System ein Mensch wäre? Vielleicht würden wir diesem Menschen sagen,

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wie toll wir es finden, dass ihm Ordnung so wichtig sei; dass er sogar bereit sei, das Glück und das Leben seiner eigenen Familienmitglieder zugunsten der tradierten Ordnung aufzugeben. Es scheint riskant, wenn die beiden gerade dabei sind, sich umzubringen. Wenn ich könnte, würde ich alle zusammen zu einem Gespräch einladen und mit zirkulären Fragen interviewen. Oder wir sprechen davon, dass man für gute Theaterstücke Helden braucht, noch besser Märtyrer-Helden, und dass wir es als notwendig für diese MärtyrerHelden-Rolle betrachten, dass die beiden weiter verfolgt werden. Romeo und Julia sind unsterblich. Egal, wie lange sie tot sind. Um sinnvoll auf Konflikte einwirken zu können, müssen wir vielleicht auch in der Lage sein, Werte anzunehmen, die nicht so kleinmütig sind wie das Recht aller Menschen auf ein bequemes Leben. Ein Beispiel einer gelungenen Intervention in ein großes System scheint mir das folgende. Ein typischer Teufelskreis ist der zwischen gewalttätigen Menschen, Menschen, die sich schwer beherrschen können, und ihrer Umgebung. Diese werden, weil man schon weiß, dass sie gewalttätig sind, immer mit Misstrauen, Angst und damit auch mit Missachtung betrachtet und somit ständig gereizt in einer Weise, auf die man als normaler Mensch eigentlich nur entweder mit Selbstmord oder mit Gewalttätigkeit reagieren kann. Eine Intervention, die in einer Justizanstalt für »geistig abnorme« Rechtsbrecher einmal funktioniert hat, war die, klarzumachen, dass man den Häftling nicht entlassen könne, ohne ihn gründlich auszutesten, ob er das, was in der Außenwelt auf ihn zukommt, auch wirklich aushalten werde, und dass es deshalb notwendig sei, ihm mit der entsprechenden Missachtung entgegenzutreten – als Übung sozusagen. Eine typische Symptomverschreibung: Das, was schon passiert, wird erlaubt oder sogar aufgetragen. Das erleichterte die Wachebeamten. Der Häftling, der vorher seine Gewalttätigkeit häufig zeigte, zeigte sich seit der Intervention nur mehr lammfromm. Und das über mehrere Monate.

Aus System wird Chaos: Das Life-Event Ein Life-Event ist ein Ereignis, das es einem System unmöglich macht, nach den gewohnten Regeln weiter zu funktionieren. Es gibt erfreuliche Ereignisse, die diese Wirkung haben können (etwa die erwünschte Geburt eines Kindes oder der Abschluss einer Ausbildung und Eintritt ins Berufsleben) wie auch unerfreuliche (wie etwa der Tod eines Familienmitglieds oder Arbeitslosigkeit). Weiters gibt es voraussehbare (wieder die Geburt) und unvorhergesehene (wie z. B. die Schwangerschaft oder ein Unfall). Es gibt – durch irgendwelche Außenbedingungen – zeitlich feststehende Ereignisse (z. B. Geschlechtsreife oder Pensionierung eines Familienmitgliedes) wie auch zeitlich nicht feststehende (Beendigung eines Arbeitsverhältnisses, Abschluss einer Ausbildung, Eintritt einer Person ins Arbeitsleben etc.). Unabhängig von all diesen Unterscheidungen kann jedes Ereignis unter Umständen eines sein, das mit dem gewohnten Regelrepertoire eines Systems zu

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bewältigen ist. Das ist dann der Fall, wenn sich an der Verteilung der Funktionen und Rollen dadurch nichts ändern muss. Im Allgemeinen kann man außerdem annehmen, dass Ereignisse, die in einem System schon häufiger aufgetreten sind, auch bewältigbar sind. Von Life-Events sprechen wir nur dann, wenn neue Funktionen oder Rollen gebraucht werden, bisher vorhandene nicht mehr ausgefüllt werden können oder eine Umschichtung notwendig ist. So ist zum Beispiel kaum denkbar, dass ein Paar, das sein erstes Kind bekommt, für die entstehende Dreierbeziehung schon ein Regelsystem zur Verfügung hat, wohl aber könnte es sein, dass ein siebentes oder sechzehntes Kind im Rahmen der üblichen Mechanismen nicht viel ändert und ohne große Veränderungen eingegliedert wird. Wenn ein Familienerhalter arbeitslos wird, müssen die Rollen der Familie neu überdacht werden, wenn jemand chronisch erkrankt ebenfalls. Auch Veränderungen, die »nur« das Selbstbild einer Person betreffen, verursachen Krisen. Wenn das vorhandene Repertoire an Regeln, das in einem System schon eingespielt ist, nicht ausreicht, um mit einer Situation fertig zu werden, so heißt das, dass neue Regeln gefunden werden müssen. Man könnte nun denken, dass die neuen Regeln einfach besprochen und dann durchgeführt werden können. Das geht aber insofern nicht so ganz, weil auch das Miteinander-über-Regeln-Sprechen geregelt sein muss, so dass es schon hier zu Schwierigkeiten kommt. In einer Seminargruppe, die schon seit einem knappen Jahr miteinander einen Arbeitsraum und eine Ausbildung teilte, hatte ein Mitglied einen schweren Unfall und lag im Koma. Da die Gruppe etwa ein Jahr später den Eindruck hatte, dass irgendetwas am Umgang der Mitglieder miteinander, an der Stimmung in der Gruppe seit dem Unfall anders geworden sei als vorher, bemühte sie sich um eine Reflexion des Geschehens mit Hilfe eines Außenstehenden. Im Laufe der Gespräche wurden einige der Gedanken mitgeteilt, die Mitglieder der Gruppe während des Krankenhausaufenthaltes und nach dem Tod der Kollegin hatten: – Darf ich mich jetzt um die Kranke kümmern, mich für sie interessieren? Oder dürfen das nur die, die schon vorher mit ihr Kontakt gepflegt hatten? – Muss ich zum Begräbnis gehen? – Wieso kümmert sich der jetzt auf einmal, vorher war er ja auch nicht interessiert? – Was wird als Sensationslust ausgelegt, was als Interesse? – Darf man im Seminar noch blödeln, Witze machen etc.? – Darf man jetzt fragen, ob man darüber reden kann, was man darf? Der Verlauf der Kommunikation in der Seminargruppe lässt darauf schließen, dass all diese Fragen nicht so ganz geklärt wurden, sondern sich eine neue Regel, sozusagen eine Metaregel, eingespielt hatte, die da hieß: Kommen wir uns nicht mehr zu nahe, dann brauchen wir all diese Dinge nicht klären, das gäbe zuviel Wirbel.

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Eine Vergleichsstudie mit zwei anderen Seminargruppen, die bis auf den Todesfall praktisch unter identischen Bedingungen gearbeitet hatten (untersucht wurden Veränderungen bezüglich der Kommunikation im gleichen Zeitraum), zeigte signifikante Unterschiede in allen Bereichen, wo es um Distanzierung, Emotionalität, Sich-Einlassen, Konfrontation, Sachlichkeit der Auseinandersetzungen und ähnliche Fragen ging.

Man kann sich vorstellen, dass solche Regelsuche in jedem System auftritt, wenn etwas Wesentliches geschieht, das vorher noch nie da war. Man kann sich weiterhin vorstellen, dass während dieser Regelsuche die bisher gültigen Regeln in Frage stehen, was nichts anderes bedeutet, als dass keine gesicherten Regeln bestehen: Verhalten und Reaktionen werden, bis sich ein neues Regelsystem etabliert hat, unvorhersehbar. Das Chaos ist wieder da. Im Unterschied zu der »Ursuppe« (in der noch für niemanden Strukturen erkennbar sind) ist aber hier zumindest eine Vorgabe da: Es gibt viele Menschen, die noch bestimmte Strukturen, Regeln und vor allem Systemgrenzen erwarten bzw. sich in das de facto entstandene Chaos hineindenken. Eine Familie etwa, in der ein Todesfall stattfindet, wird weiterhin als abgeschlossene Einheit betrachtet (eben um ein Mitglied reduziert), sowohl von den Mitgliedern als auch von der Umgebung. Dass sich, sollen diese Grenzen aufrechterhalten werden, erst ein neues System etablieren muss, machen sich die meisten Menschen nicht klar. Und es ist auch nicht selbstverständlich, dass das gelingt. Einige Beispiele sollen zeigen, was alles in einem solchen Chaos zu bewältigen ist. So etwa beginnen viele der (zum Teil auch nur peripher) Beteiligten, sich in dem neu entstandenen undefinierten Handlungsraum nach einer neuen Rolle umzusehen, während andere sich bemühen, an der alten Rolle festzuhalten. Wer immer miterlebt hat, wer alles beginnt mitzumachen oder dreinzureden, wenn irgendwo ein Unglück passiert oder ein Kind auf die Welt kommt, weiß, wovon die Rede ist. Natürlich gibt es auch Personen, die dazu tendieren, die Grenzen des alten Systems von innen nach außen zu überschreiten, die sich zum Beispiel von der Familie trennen. Geht man davon aus, dass alle Menschen einige bevorzugte (weil eingelernte) Interaktionsmuster verfügbar haben und andere nicht, so wird man sich nicht wundern, wenn Mütter und Väter etwa bei der Geburt eines Enkelkindes versuchen, sich in einer solchen Weise zu beteiligen, dass die jungen Eltern sich in ihre Kindheit zurückversetzt fühlen. Denn jetzt besteht für die frischgebackenen Großeltern die Chance, eine altvertraute Rolle wiederzugewinnen. Ich brauche nicht extra darauf hinweisen, dass diese Rollensuche den Beteiligten meist nicht bewusst ist. Aber wer seine eigene Geschichte durchforstet, wird genügend Beispiele finden. Ein ähnliches Phänomen, das speziell bei Ausfall bestimmter Systemfunktionen (etwa durch Krankheit oder Alter) oder Systemmitglieder auftritt, ist, dass gesucht wird, wer die verloren gegangenen Funktionen übernimmt, damit das System möglichst gleich wie vorher weiter funktionieren kann.

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Eine Bekannte schilderte mir einmal, wie sie nach dem Tod Ihres Vaters überlegt hatte, wer jetzt wohl die »Aufsicht« im Hause haben würde, und da sie dies weder ihrer Mutter in ihrer Trauer zumuten wollte noch ihrem jüngeren Bruder zutraute, eines Tages beim Essen den Platz des Vaters übernommen hatte. Der Bruder machte einige Bemerkungen darüber, bekam aber keine Unterstützung von der Mutter und ließ es dann dabei bewenden. Stattdessen begann er, sich um die technischen Probleme des Haushaltes zu kümmern (was vorher ebenfalls Sache des Vaters gewesen war). Und die Mutter begann, sich mit Fragen, die sie vorher mit dem Vater besprochen hatte, an die Tochter zu wenden, während der Bruder an ihr mehr als an der Mutter seine pubertären Autoritätskonflikte abhandelte. Auf diese Weise erreichte die Familie, dass sie möglichst ähnlich wie vorher weiter funktionieren konnte. Es stellte sich allerdings ein neues Problem: Natürlich konnte diese Tochter die Familie nur sehr schwer verlassen, hatte sie doch die Verantwortung des Vaters für die Familie übernommen. Daraus ergaben sich dann Schwierigkeiten in Partnerbeziehungen.

Trotz aller dieser Spezialitäten von Life-Events, die vor allem darauf basieren, dass sie in bestehenden sozialen Systemen stattfinden, oder besser gesagt: in Strukturen, die von den Beteiligten und der Umwelt als abgegrenzte Subsysteme betrachtet werden, sind sie doch – durch die Unmöglichkeit, die gewohnte Ordnung weiterzuführen – Chaos-Situationen und haben damit ähnliche Entwicklungsmöglichkeiten, wie sie bei der Entstehung von Systemen beschrieben wurden. Natürlich ist auch ein Zerfall dieser Strukturen möglich, obwohl es den Anschein hat, dass das die Überwindung einer gewissen Hemmschwelle erfordert: Die Vertrautheit der bekannten Struktur wird weder von den Mitgliedern noch von der Umgebung gerne aufgegeben. Ein Aspekt scheint besonders berücksichtigungswürdig: Life-Events bedeuten, so erfreulich oder selbstverständlich sie auch manchmal sein mögen, immer auch einen Verlust. Einen Verlust der gewohnten Rolle, des Selbstbildes der beteiligten Personen. Möge sich ein Paar auch noch so sehr ein Kind gewünscht haben, wenn es da ist, können die beiden nicht mehr in der gleichen Weise miteinander umgehen wie bisher; es wird Bewegungsfreiheit verloren, es wird, was vorher nur phantasiert wurde, jetzt auszuführen sein etc. Mögen die Menschen in einem Arbeitsteam sich auch noch so gut verstehen, wenn einer von ihnen zum Chef wird, so hat er Dinge zu tun, die er bis jetzt nicht getan hat, müssen die anderen auf neue Weise auf ihn reagieren, prallen jetzt die verschiedenen Vorstellungen davon, was ein Chef ist, aufeinander und müssen abgehandelt werden, und Verlust der vertrauten kollegialen Beziehungen ist zu bewältigen.5

5 Ein wunderschönes Beispiel für dieses Thema findet sich bei Buchinger (1997, S. 23 ff.).

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Auch die Midlife-Crisis ist ein Life-Event, obwohl der Auslöser schleichend eintritt und im Allgemeinen nicht bewusst wird: Menschen denken und motivieren sich im Allgemeinen aufgrund von mehr oder weniger unbewussten Zukunftsvisionen und -träumen, die sich von dem gegenwärtigen Zustand unterscheiden. Ab einem gewissen Zeitpunkt aber wird die Zukunft absehbar, es ist nicht mehr zu erwarten, dass noch wesentlich anderes geschieht, als schon klar ist. Damit bricht der gesamte visionäre Anteil der Handlungen eines Menschen zusammen und sein bisheriges Tun verliert – zumindest teilweise – seinen Sinn.

Eindrücklich geschildert wird das Festhalten an den gewohnten Rollen, auch wenn die neuen eindeutig angenehmer wären, bei Jegge (1976, S. 158 ff.). Bei Eintritt eines Life-Events muss jede Person – ähnlich wie ein kleines Kind – ihr Verhaltensrepertoire neu organisieren. Ähnlich wie es ein kleines Kind tut, werden relativ ungezielt (mit der neuen Situation gibt es noch keine Erfahrungen) Verhaltensweisen erprobt. Denken Sie zurück an die Tanzfläche: Es entwickelt sich ein chaotischer Prozess, in dem manche Verhaltensweisen ohne Echo bleiben, manche zu einem einmaligen Echo führen, das aber nicht zur Fortführung führt, und einige wenige werden sich in Interaktionen stabilisieren. Jede der Personen in dem System ist an diesem Suchprozess beteiligt: Jede wird neue Rollen suchen. Ich möchte an dieser Stelle eine Unterscheidung einführen, die mir für das Verständnis von konflikthaften Entwicklungen eine entscheidende Rolle zu spielen scheint: Die Unterscheidung zwischen »akzeptierenden« und »ablehnenden« Mitteilungen. »Ablehnend« soll bedeuten, dass das Verhalten im jeweiligen kulturellen bzw. subkulturellen Kontext darauf abzielt, die Veränderung zu beseitigen, »akzeptierend«, dass genau dies nicht der Fall ist, sondern weiteres Verhalten auf der Gegebenheit der veränderten Situation aufbaut. Dies bedeutet sehr oft auch eine Änderung der Ziele. Wenn Sie etwa auf dem berühmten Weg nach Rom an eine Stelle gelangen, wo durch eine Überschwemmung die Straße unter Wasser liegt, könnten sie versuchen, einfach durchzufahren, wenn das nicht geht, könnten Sie versuchen, dem Wasser einen Abfluss zu verschaffen, Sie könnten sich auch beschweren, dass die Aufräumarbeiten so lange dauern. Sie könnten aber auch einen anderen Weg nach Rom nehmen oder Ihren Badeanzug auspacken und schwimmen gehen.

Eine Liste der »ablehnenden« Verhaltensmuster finden wir u. a. in Zusammenhang mit den Bewältigungsphasen bei Sterbenden, wie sie Kübler-Ross (1969) beschrieben hat: – Nicht-wahrhaben-Wollen und Ignorieren – Zorn – Verhandeln – Depression Ich bin nicht sicher, ob diese Liste als vollständig zu betrachten ist, aber sie macht deutlich, worum es sich handelt: Hier wird nicht auf eine mögliche Zukunft hin-

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gearbeitet, sondern sich ausschließlich mit dem Wiederherstellen der Vergangenheit befasst: mit der Abwehr von Veränderungen, die schon stattgefunden haben.6 Damit ist zu erwarten, dass solches Verhalten – bezieht es sich auf tatsächlich stattgefundene Veränderungen – häufig nicht erfolgreich sein wird. Wenn es völlig wirkungslos bleibt, wird es nach einer begrenzten Zeit aufgegeben. Es kann aber auch mit Reaktionen der Umwelt zusammentreffen, die zwar die Vergangenheit nicht wiederherstellen, die aber eine Wiederholung oder gar Verstärkung der immer gleichen Geschehnisse und abwehrenden Reaktionen herbeiführen. Die akzeptierenden Mitteilungen fasst Kübler-Ross zusammen in der Bewältigungsphase »Zustimmung«. Hier sei unserer Phantasie freier Lauf gelassen: Die Liste möglicher Verhaltensweisen, die sich nicht der Beseitigung von Gegebenheiten widmen, sondern auf einer »gegebenen« Situation aufbauen, ist wahrscheinlich unendlich. Sie sind immer auf eine Zukunft hin orientiert, die nicht der Bedingung unterworfen ist, dass zuerst die Vergangenheit wiederhergestellt werden muss, auf eine mögliche Zukunft also. Ich halte diese Unterscheidung der zeitlichen Orientierung von Verhalten für ganz wesentlich in der Sozialarbeit: Das Aufgeben des Verlorenen ist Voraussetzung für einen konstruktiven Umgang mit den aktuellen Gegebenheiten. Gleichzeitig stellt jeder Versuch des Beraters, Klientinnen von solchen »abwehrenden« Mustern abzubringen, einen Angriff auf ihre genuinen Interessen dar, der zwangsläufig abgewehrt werden muss. Je mehr ein Helfer versucht, Klientinnen zur »Vernunft« zu bringen, desto mehr müssen diese sich zur Wehr setzen und ihr Verhalten verstärken. Vielleicht ist es zum Verständnis auch wichtig, sich klar zu machen, dass die abwehrenden Verhaltensweisen durchaus eine wichtige Funktion haben: die Funktion der Überprüfung. Das hängt damit zusammen, dass »Realität« ja nicht eindeutig festgestellt werden kann: Niemand weiß, welche Zustände tatsächlich unveränderlich und unwiderruflich sind und welche vielleicht mit entsprechenden Aufwand behebbar sind. Und die abwehrenden Verhaltensweisen sind allesamt in bestimmter Weise darauf ausgerichtet, diese Behebbarkeit bzw. Nicht-Behebbarkeit festzustellen. Stellen Sie sich vor, es kommt jemand zu Ihnen und teilt Ihnen mit, dass Ihre Lebenspartnerin sich nach Brasilien abgesetzt habe. Natürlich werden Sie das nicht einfach glauben. Aber überprüfen können Sie es nur, indem Sie sich so verhalten, als wäre es nicht wahr, zum Beispiel, indem Sie sie anrufen (welch absurdes Verhalten, wenn man annimmt, dass es wahr wäre!). Erreichen Sie sie nicht, werden Sie nach Hause gehen und, wenn sie nicht da ist, auf sie warten (Würden Sie wohl zu der Zeit, zu der sie normalerweise kommt, einen Kaffe vorbereitet haben?). Leugnen ist also eine Form der Überprüfung, ob etwas tatsächlich der Fall ist. Sollte sie zum gegebenen Zeitpunkt tatsächlich nicht kommen, müssen Sie wohl annehmen, dass irgendetwas los ist. Aber was? Es ist nicht mehr sicher vor6 Zum Umgang mit solchen zeitlich eigenwilligen Lebensformen siehe Boscolo und Bertrando (1984, S. 187 ff.).

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aussagbar, ob und vor allem wann sie kommen wird. Gehen Sie nun andere Vereinbarungen ein, so könnten Sie unter Umständen nicht da sein, wenn sie wieder kommt. Wenn Sie sicher gehen wollen, sie nicht zu verpassen, müssen Sie jederzeit bereit sein und dürfen sich nicht anderweitig verpflichten. Sie müssen sich von der Welt zurückziehen. Wenn wir statt dem Wort »Zorn« das Wort »Aggression« verwenden, dann wird sofort klar, dass das etwas zu tun hat mit dem Versuch, einen Zustand zu beheben: Wüssten Sie, wer Ihre Partnerin festhält, so wäre es durchaus sinnvoll, gegen diesen vorzugehen. Da Sie leider nicht wissen, wer der Verursacher ist, wird die Aggression etwas ungezielt wirken, aber zumindest versuchen sollte man es doch, oder? Wüssten Sie, wieso jemand sie festhält oder wieso sie fernbleibt, dann könnten Sie natürlich auch sehen, ob Sie nicht etwas anzubieten haben, was sie wieder zurückbringt: Sie könnten um ihr Wiederkommen verhandeln (Wie wär’s mit Lösegeld?). Sollten Sie an dieser Stelle trotzig werden und meinen, wenn sie nicht bald käme, dann bräuchte sie gar nicht mehr zu kommen, dann ist das wohl eine Mischung aus Leugnen (sollte sie wirklich weg sein, dann wird ihr Ihre Reaktion ziemlich egal sein …) und Aggression. Depression und letzen Endes Trauer haben wohl etwas damit zu tun, dass all Ihre Versuche nicht fruchten: Sie ist Rückzug von Energie und Ausdruck von Hilflosigkeit und damit wohl ein Vorbote des Akzeptierens, des Zustimmens. Zurück zur Tanzfläche: Wir gehen aus von einem System, das einen regelhaften Verlauf hat. Durch das Life-Event bricht das Regelsystem zusammen. Ein chaotischer Prozess beginnt, in dem alle Beteiligten aufs Neue verschiedene Verhaltensmuster ausprobieren. Wenn ein Verhalten eines Mitglieds eine Reaktion in seiner Umgebung auslöst, die dafür sorgt, dass das Verhalten wiederholt bzw. fortgeführt wird, dann beginnt sich neue Regelhaftigkeit einzuspielen (Abbildung 12) – Regelhaftigkeit, die im gegenseitigen, sich wiederholenden Austausch von Verhaltensweisen besteht. Eine Verhaltensweise bedingt die andere und umgekehrt.

Abbildung 12: Bewältigung von Krisen

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Bitte machen Sie sich nun den Unterschied von akzeptierenden und ablehnenden Verhaltensweisen deutlich: Im einen Fall entsteht ein Regelkreis, der es ermöglicht, die neue Welt zu bewältigen. Im anderen Fall jedoch entsteht ein Regelkreis, der in dem dauernden Versuch besteht, die Gegebenheiten zu ändern. Gelingt dies, so wird der Kreis Abbildung 13: Ein dysfunktionales nicht von Dauer sein, er wird noch einmal System zu einer neuen Situation führen, und es muss noch einmal nach neuen Mustern gesucht werden. Wir können diesen Fall guten Gewissens der Übersichtlichkeit halber dem Bereich »Chaos« zuordnen: Die Suche beginnt von Neuem. Gelingt die Änderung der Gegebenheiten jedoch nicht, so entsteht ein System, dessen Unverändertheit und Stabilität darin besteht, dass die Beteiligten versuchen, es zu verändern. Jeder der Beteiligten versucht, seine Situation zu ändern, teilt auf irgendeine Weise mit, dass er so nicht einverstanden ist, versucht auf irgendeine Art, eine andere Beziehungsform einzuführen bzw. einen solchen Vorschlag abzuwehren. Natürlich bedeutet das meist, dass diese Aktivität die gesamte Aufmerksamkeit und Energie auf sich zieht: Ein dysfunktionales System ist entstanden (Abbildung 13 und 14). Dieses »So nicht!«-System hat meist erstaunliche Selbstreproduktionskraft und entwickelt eine beachtliche Rigidität. Es unterscheidet nur mehr in zwei Kategorien: »Hat Bedeutung für den Kampf« oder »Ist irrelevant«. Sehr häufig ist diese positive Rückkoppelung sogar stärker als die negativen Rückkoppelungsmechanismen, die das Geschehen in Grenzen halten können: Es steigert sich. Wir sprechen in so einem Fall von einer eskalierenden Entwicklung. Die Eskalation hat entscheidende Bedeutung für das Überleben des Systems: Wenn Ablehnung, Abwehr oder Änderungsversuch immer intensiver betrieben werden, so führt das im Allgemeinen zu einer Katastrophe. Aus schlimmen

Katastrophen

Abbildung 14: Ein dysfunktionales System

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Kinder werden »untragbare«, aus kleinen Bestrafungen durch die Eltern werden Gefängnisaufenthalte, aus Zurechtweisungen Psychiatrieaufenthalte, aus Streit Scheidung, aus kleinen Unstimmigkeiten werden Mobbing und Nervenzusammenbruch, aus Geldmangel schwere Verschuldung, aus Rückzug wird Depression und wieder Psychiatrieaufenthalt. Aus Verweigerung kann Krankheit werden oder ein Unfall, aus Protest Terrorismus, aus Ablehnung Gewalttätigkeit und Mord, aus Streit mit den Hausparteien Wohnungsverlust. Jede solche Katastrophe aber stellt ein neuerliches Life-Event dar: Der ChaosZirkus beginnt von neuem. Ungezieltes Verhalten der Beteiligten, dann meist nur mehr von Wut oder Verzweiflung gesteuert, führt dazu, dass sich nach einiger Zeit wieder eine Struktur einspielt, die mit viel Glück wieder stabiler ist als die vorige. Da aber Menschen, wie wir schon wissen, in diesem Herumprobieren bevorzugt solche Muster wahrnehmen und darauf reagieren, die ihnen schon vertraut sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wieder ein eskalierender, dysfunktionaler Prozess in Gang kommt mit ähnlichen Folgen. Eine kaskadenartige Folge von Life-Events führt zu immer schlimmeren Zuständen. Wenn auf der einen Seite der Entwicklung die Mächtigeren stehen, die Eltern etwa, die Schule, der Arbeitgeber oder gleich die Gesellschaft, auf der anderen Seite aber nur eine Person oder ein kleines System, dann bedeutet das, dass diese eine Person unter immer unerträglicheren Umständen sich immer ablehnender verhält und von der Umgebung immer massiver bekämpft wird. Dies ist eine ganz normale Außenseiterentwicklung, die, wenn sie nicht zur Zerstörung des Außenseiters führt, diesen irgendwann in die Hände der Sozialarbeit bringt. Und diese wird versuchen, den auf diese Weise entstandenen Klienten umzuerziehen, von seinem »falschen Verhalten« abzubringen: Sie wird ihm sagen: »So nicht!« Und damit in das gewohnte Spiel eintreten. Was nun? Es ist ganz einfach: Der Klient hat recht: Er wehrt sich mit Recht gegen die Forderung, normal zu funktionieren, solange der Verlust nicht bewältigt ist. Jede Intervention muss von diesem Wissen geprägt sein und von der Bereitschaft, dieses Recht des Klienten, diese Notwendigkeit nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar ihm klar zu machen, dass jeder Versuch, etwas »Vernünftiges« zu tun, scheitern muss, solange nicht alle ablehnenden Gefühle in ausreichendem Maß ausgelebt sind, weil diese sonst alles, was er tut, unbewusst boykottieren oder gar sabotieren werden. Für Leute, denen diese Erklärung nicht plausibel vorkommt, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass unsere Gesellschaft mit ihrem massiven Leistungs- und Erfolgsdruck viel zu wenig Zeit anbietet, um Verluste zu verarbeiten, dass sie darüber hinaus in den meisten Fällen Verluste bagatellisiert, so dass einem oft gar nicht mehr bewusst wird, was ein Verlust bedeutet. Und für diesen Hinweis wiederum ist es nützlich, zu wissen, dass in früheren Zeiten wesentlich mehr Rituale zur Bewältigung von Veränderung zur Verfügung standen als heute, und es ist nützlich, dafür gute Beispiele zu wissen. Wenn es gelingt, den Klientinnen an diese Gefühle heranzuführen, kann das ungeheuer schnelle Veränderungen in seinem Verhalten zur Folge haben: Nach –

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oft sehr kurzen – Phasen von Trauer, Wut und Schmerz werden Sie Anzeichen von Motivation bemerken, die Sie vorsichtig unterstützen können. An dieser Stelle kann der »normale« sozialarbeiterische Hilfsprozess einsetzen. Verhält sich der Klient zielorientiert, so kann man ihn unterstützen. Erscheint der Klient als orientierungslos, dann wird man mit ihm Beratungsgespräche führen, in denen er oder sie Ziele und Wege entwickeln kann. Nicht vergessen sollte man allerdings, auf zwei Dinge hinzuweisen: Man kann Verluste nie endgültig bewältigen, sie begleiten einen ein Leben lang. Daher muss auch für die Verlustgefühle immer wieder Zeit und Raum bereitgestellt werden. Das heißt auch: Es wird Rückfälle geben, und der Klient sollte sich auch dann dessen bewusst sein, um was es geht. Die Umwelt wird seinen Verlust nie ganz nachvollziehen können und daher auch nicht mit »Raum-Geben« reagieren. Damit dürfte die Motivation des Klienten oder der Klientin ausreichend abgesichert sein. In einer Gruppe klagte eine Teilnehmerin über Motivationslosigkeit. Sie habe sich vor eineinhalb Jahren von Ihrem langjährigen Freund getrennt, was sie als Erleichterung erlebt habe. Danach habe sie ein Jahr lang die neue Freiheit in vollen Zügen genossen. Nun aber bringe sie nicht die Energie auf, sich ernsthaft um eine Arbeit zu kümmern, obwohl sie der Meinung sei, dass es an der Zeit sei. Wir besprachen ihre Situation in einem reflektierenden Prozess unter den übrigen Gruppenmitgliedern. Da die Betroffene auch ein kleines Kind mit dem ehemaligen Freund hatte, kamen wir auch auf das Thema Familie zu sprechen und wie man sich wohl als Mutter fühle, wenn die eigenen Vorstellungen von Familie, wie man sie sich wohl ursprünglich gemacht hatte, zusammenbrechen. Auch wenn es eine Erleichterung sei, sich von einem Partner zu trennen, mit dem man sich nicht verstehe, habe sie doch sicher bis zur Trennung darum gekämpft, diese Vorstellungen zu verwirklichen. Mit der Trennung aber habe sie diese wohl aufgeben müssen. Was hier geschehen war, ist ein irreversibler Prozess der Tod einer Vision (wenn man die Möglichkeit, sich mit dem »Ehemaligen« wieder zusammen zu tun, außer Acht lässt). Als wir uns der Betroffenen wieder zuwandten, weinte sie und sagte, sie fühle sich irgendwie erleichtert, so, als wäre ein brüchiger Staudamm geöffnet worden. Sie hätte sich das alles nie so bewusst gemacht. Als die Gruppe einige Wochen später wieder zusammenkam, erzählte sie, sie habe noch am Heimweg und zu Hause einige Zeit sehr geweint, habe aber bald darauf mit großer Lust an ihrer ersten ernsthaften Bewerbung gearbeitet und sich unheimlich gefreut, als ihr während des Schreibens bewusst wurde, was sie alles an Fähigkeiten und Erfahrungen zu bieten habe. Auch zwei Jahre später war von der Energielosigkeit keine Spur mehr zu entdecken.

Die Entwicklung von Außenseiterrollen

Aus den systemischen Überlegungen ergibt sich ein Modell der Beziehung zwischen Außenseitern und übriger Gesellschaft, das beiden Seiten gerecht wird und Lösungsvorschläge weder auf Durchsetzung noch auf Ablehnung fußen lässt. Dazu müssen wir allerdings etwas weiter in die Grundlagen der Gruppendynamik, der Kommunikations- und Systemtheorie ausgreifen.

Kommunikation Ich benütze den Begriff der Kommunikation im Sinne von Watzlawick (Watzlawick et al. 1969, S. 55). Wenn auch Watzlawick vor allem mit seiner noch der Linearkausalität verhafteten Erklärung der Schizophrenie von den modernen Systemikern relativiert wird, so ist doch seine Unterscheidung zwischen Kommunikation und Metakommunikation ebenso unbestritten wie etwa die von Freud eingeführte Unterscheidung zwischen Bewusstem und Unbewusstem (siehe etwa Wyss 1972). Demnach ist Kommunikation inhaltlicher Austausch von Informationen, der zwangsläufig immer einen Zweck hat. Dieser Austausch erfordert, um richtig funktionieren zu können, Einigkeit darüber, wie die Information aufzufassen ist. So ist zum Beispiel die Frage »Wo sind meine Unterhosen?« eine rein inhaltliche Frage. Der Empfänger aber muss, um reagieren zu können, entscheiden, wie er diese Frage auffassen will. Die meisten von Ihnen werden sich den Unterschied klarmachen können, den es macht, ob diese Frage ein Ehemann an seine Frau stellt, eine Ehefrau an ihren Mann, eine Kundin in einer Wäscherei an die Wäschereiangestellte, ein Referent bei einem psychologischen Kongress an sein Auditorium oder eine Liebhaberin an ihren Liebhaber. Über den Inhalt der Frage hinaus definiert der Kontext, in dem sie gestellt wird, eine Beziehung und der Empfänger ist gezwungen, diese Beziehungsdefinition zu verstehen. Was passiert, wenn keine passende Beziehungsdefinition zur Verfügung steht, zeigt das Beispiel des Referenten im Auditorium. Der Beziehungstypus wird, wie Sie gesehen haben, durch verschiedenste Dinge bestimmt, die im Allgemeinen in analoger Form, das heißt durch alles andere als die inhaltliche Mitteilung, auftreten. Natürlich kann man auch über die Beziehung sprechen, etwa indem man sagt: »So geht das nicht weiter!«, oder: »Es ist schön mit dir!«, aber tatsächlich sind natürlich auch diese Mitteilungen nur brauchbar, wenn die dazugehörigen analogen Mitteilungen stimmen. Kommunikation nennt Watzlawick in diesem Sinne rein inhaltliche Mitteilung, Metakommunikation hingegen Kommunikation über die Beziehung. Meta-

Die Entwicklung von Außenseiterrollen

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kommunikation wird manchmal auch verbal, inhaltlich übermittelt, immer aber durch Dinge wie Tonfall, Gestik, Kleidung, Kontext, Zeitpunkt der Mitteilung, und – und das ist noch wichtig – durch Geschehnisse: z. B. Krankheit, ein Unfall, Unfähigkeiten und Ähnliches. Nach der Watzlawick’schen Definition ist das ganz eindeutig: Wenn Sie sich bei einem Unfall verletzen – egal, ob verschuldet oder unverschuldet –, so vermitteln Sie zwangsläufig, dass man mit Ihnen jetzt anders umgehen muss als sonst. Watzlawick nennt alle Kommunikationsmittel, die den Sender der Mitteilung von der Verantwortung, von der Absicht freisprechen, Symptom. Alle Symptome sind Mittel der Metakommunikation. Alkoholismus ist eine Mitteilung an andere (z. B.: »So halte ich es nicht aus!« oder »Mach dir Sorgen um mich!«). Bettnässen ist eine Mitteilung mit ähnlicher Bedeutung. Krebs zu haben ist eine Mitteilung (etwa: »Betrachtet mich als Märtyrer!«). Klarerweise kann die Interaktion in solchen Fällen nur verstanden werden, wenn man von Unterscheidungen wie absichtlich/unabsichtlich oder bewusst/unbewusst absieht.

Beziehungskämpfe Das Ganze ist natürlich keine einseitige Sache. Niemand kann etwas mitteilen, ohne dass es einen Empfänger seiner Mitteilung gibt. Und natürlich kann der Empfänger nicht nicht reagieren: Tut er nichts, so ist gerade das eine Reaktion, eine Antwort auf die empfangene Mitteilung und wird seine Auswirkung auf deren Urheber haben. Ein Beziehungssystem besteht immer aus mindestens zwei Partnern, deren Mitteilungen sich gegenseitig bedingen: ein endloser Ring von Beziehungsvorschlägen. Wenn diese übereinstimmen, ist alles klar, und man kann sich anderen Dingen zuwenden. Sind die Beziehungsvorschläge aber widersprüchlich, so beginnt ein Kampf um die Beziehung. Wenn eine Person krank wird und der Partner böse, so heißt das wohl in etwa: »Kümmere dich mehr um mich!« und »Das passt mir nicht!«. Nun kann die Kranke natürlich aufgeben und wieder gesund werden. Tut sie das aber nicht, sondern wird noch kränker, so heißt das wohl: »Kümmere dich mehr um mich!« und wenn das den anderen böse macht, so haben wir zweifellos ein Beziehungsmuster, das sich selbst reproduziert. Nun ist es ja klarerweise notwendig, dass sich solche Muster wiederholen, sich selbst reproduzieren: Was wäre eine Familie, wo sich nicht bestimmte Abläufe wiederholen, wie etwa dass man immer wieder sich gegenseitig der Zusammengehörigkeit versichert oder dass eine Geld verdient und einer es ausgibt, oder dass eine aufpasst, dass alles gut geht, und der andere sich dem einen unterordnet? Die Frage, die uns beschäftigen muss, ist eigentlich die, wie viel Energie für diese Auseinandersetzung über die Beziehung verbraucht wird und wie viel Energie für andere Ziele und Aufgaben verfügbar ist. In jeder Beziehung wird ein Teil der verfügbaren Energien für die Definition und Erhaltung der Beziehung aufgewendet. Wenn man davon ausgehen darf, dass eine Art von Idealzustand dann erreicht ist, wenn möglichst viele Energien frei

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verfügbar sind für die Verfolgung von Zielen, für Freude am Leben und für die Erhaltung unserer Versorgung, so kann man allerdings annehmen, dass die optimalen Beziehungen solche sind, die ein Minimum von Energie für die Beziehungsarbeit verbrauchen. Eine solche Beziehung nennen wir funktional. Dysfunktional nennen wir eine Beziehung dann, wenn der überwiegende Teil der Energien auf die Auseinandersetzung mit der Beziehung verwendet wird, auf einen Versuch, diese Beziehung zu ändern. Man muss wohl akzeptieren, dass bei jeder Änderung von Beziehungen, wie etwa beim Kennenlernen, bei Trennungen, beim Eintreten neuer Individuen in eine Beziehung, beim Erwachsenwerden von Kindern oder bei Veränderungen äußerer Umstände, die Beziehungsform unklar wird und daher vorübergehend intensiv an neuen, den veränderten Umständen angepassten Mustern gearbeitet wird. Von dysfunktionaler Beziehung kann man erst dann sprechen, wenn im Zuge einer solchen Entwicklung eine Beziehungsform auftritt, die einerseits sich selbst reproduziert, andererseits aber ständig in Frage steht: eine Beziehung also, die zu einem guten Teil aus einem endlosen Kampf um ihre Veränderung besteht. Um das etwas bildlicher zu machen: Eine Beziehung zwischen einem Kind, das klaut, weil es mehr beachtet werden will, und Eltern, die das Kind missachten, weil es klaut, kann wohl kaum noch jemand andere Dinge beachten als diesen Kampf um die Beachtung. Wir wollen uns nicht dazu versteigen, ein Maß für ein gesundes Verhältnis von Beziehungskampf und anderer Beschäftigung anzugeben – immerhin sollten ja auch Veränderungen in Beziehungen als sinnvoll akzeptierbar sein –, sicher aber ist, dass ein Zuviel an Beziehungskampf ein Zuwenig an Energien für die täglichen Lebensfunktionen bedeutet und daher als dysfunktional bezeichnet werden muss. Eine solche dysfunktionale Beziehung kann sich grundsätzlich nur anhand einer Veränderung entwickeln, und so wird in der systemischen Literatur häufig von »rigiden« Systemen als Problemsystemen gesprochen. Aus der rigiden Beziehung entwickelt sich die dysfunktionale, die durch den Versuch, unter veränderten Umständen bestimmte Faktoren konstant zu halten, dysfunktionale Muster entwickelt. Diese können sich stabilisieren auf irgendeinem Niveau (z. B. dauernde Krankheit als Lösung), können aber auch in einer ständigen Eskalation auf eine Katastrophe zuarbeiten. Die Geschichte vom klauenden Kind etwa könnte durchaus als Beispiel für eine eskalierende Beziehung gelten, die einer Katastrophe zusteuert, während ein Ehepaar, bei dem die Frau an Migräne leidet, der Mann dann vorübergehend rücksichtsvoller ist, worauf die Migräne nach einiger Zeit wieder nachlässt und der Mann sich wieder weniger um seine Frau kümmert, eher als stabile dysfunktionale Beziehung betrachtet werden könnte. Genau genommen heißt das, dass der Kampf um die Beziehung immer wieder unterbrochen wird, indem einer der beiden sich an die Vorstellungen der anderen anpasst. Beziehungen, wo dieser Kampf nie aufhört, sind immer eskalierend!

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Komplexe Beziehungen Als nächsten Schritt müssen wir uns die Komplexität interaktioneller Vernetzung von Individuen näher anschauen. Der Wissenschaftler, der versucht, diese Bezüge, die ja sozusagen die Person darstellen, rational zu erfassen, ist gezwungen, sie in hohem Maße zu vereinfachen. Unser bewusstes Erfassungsvermögen ist offenbar zumindest um Zehnerpotenzen geringer als unser unbewusstes Erfassungs- und Verarbeitungsvermögen. Solche Vereinfachung wird auch uns in unseren Überlegungen nicht erspart bleiben. Wir wollen aber davon ausgehen, dass wir zunächst einen unscharfen Raster über die undurchschaubare Komplexität werfen und versuchen, uns vorzustellen, dass eine einzelne Person im normalen Fall sehr viele verschiedene Beziehungen zu verschiedenen anderen Personen hat, die noch dazu, je nach Situation, auch bei denselben Personen verschieden sind. So wird z. B. ein Kind zu seiner Mutter häufig eine Beziehung haben, die sich in etwa darstellen lässt mit den Sätzen »Ich bin klein und schwach, und du musst mir helfen!« bzw. »Ich bin groß und stark und helfe dir!«. In anderen Situationen wird es heißen: »Spielen wir miteinander!« und »Ja, spielen wir miteinander!«, in wieder anderen »Ich will aber bestimmen, was geschieht!« und von der anderen Seite ebenso »Nein, ich!«, ja, manchmal sogar wird die Mutter fragen: »Wie macht man denn das?« und das Kind wird erklären. Das gleiche Kind wird noch zum Teil ähnliche, zum Teil andere Beziehungen zum Vater haben, zu Geschwistern, zu Onkel, Tante, Großmutter, Großvater, Kaufmann, Kindergärtner, Polizistin u. v. a. m. Wir bleiben also noch in dieser Unschärfe, indem wir uns vorstellen, dass das Individuum in ein sehr komplexes Netz von sehr verschiedenen Beziehungsmustern eingeflochten ist, das ich mir am liebsten wie eine Art Nebel vorstelle, scheinbar ungeordnet, aber doch durch jahrelanges Hin- und Herprobieren von allen Seiten in einen quasistabilen Zustand eingespielt. Dieser stabile Zustand entsteht übrigens nicht aus einer Begeisterung, die Systeme für Stabilität haben, sondern weil alle nichtstabilen Zustände sich wieder verändern, und zwar genau solange, bis eben ein Zustand sich einspielt, der sich stabilisiert, das heißt sich selbst erhält. Was ich jetzt dargestellt habe, ist eine Art Idealzustand, der viele verschiedene Beziehungsmuster zulässt und auf Veränderungen in sehr verschiedener Weise reagieren kann. Real ist aber, dass wir als Kinder nur ganz bestimmte Muster lernen, und zwar in der Zeit, da unsere Welt im Wesentlichen aus den Eltern besteht und vor allem diese die wichtigsten und machtvollsten Beziehungspartner sind. Das bedeutet, dass wir darauf konditioniert werden, ganz bestimmte Botschaften wahrzunehmen, andere nicht; und dass wir darauf konditioniert werden, in bestimmter Weise zu reagieren. Insgesamt heißt das: Wir sind von Kindheit an auf relativ wenige prägnante Beziehungsmuster eingestellt und können andere schwer bis gar nicht erfassen, andere Beziehungen kaum eingehen. Das vereinfacht zwar unsere Sichtweise ein wenig, aber auch damit bleiben wir noch im komplexen Nebel der Beziehungen, weil es sich doch um mehrere Mus-

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ter handelt, die später verschiedene Ausformungen entwickeln, wenn sie mit verschiedenen Personen ausprobiert werden. Man wird dann dieses Repertoire von Beziehungsmustern und ihren Ausformungen als den »Charakter« eines Menschen bezeichnen.

Die Isolierung des Außenseiters Es gibt aber einen Prozess der Vereinfachung – und diese Möglichkeit liegt in der Natur von Beziehungen –, dass nämlich die meisten Menschen binnen kürzester Zeit ein Beziehungsgeflecht spontan und unbewusst erkennen, sich entsprechend verhalten und damit die Vereinfachung ins Extrem treiben: Wenn nämlich ein Individuum im Zuge irgendwelcher Veränderungen seiner Bezüge ein Verhalten entwickelt, das zu einer Eskalation mit einem Partner führt, wenn dadurch die ganze Energie dieses Individuums in diese eine Beziehungsform fließt, wenn weiters diese Beziehung so angelegt ist, dass die Beziehungspartner andere Personen in die eskalierende Beziehung mit einbeziehen können und wenn dieser Prozess durch seine Intensität immer mehr Personen in ihren Bann zieht – dann gibt es Krieg. Dann werden im Zuge der Eskalation alle anderen Beziehungsformen überrollt, vergessen, überwältigt von der einen Definition, die da heißt: Die anderen sind unmöglich, böse, falsch, gefährlich oder was noch eben so Worte sind, die eine Beziehung im Negativen, im Eskalierenden halten können. Krieg ist eine einfache Sache, was die Beziehungsstruktur der beiden Parteien zueinander betrifft. Man kann sie darstellen als dyadische Beziehung mit der symmetrischen Definition »So wie du/ihr euch verhaltet, so darf man sich nicht verhalten!« auf beiden Seiten. Ich kann Ihnen, glaube ich, sehr leicht vor Augen führen, wie leicht – und schnell – das zu machen ist. Denken Sie an meine Frage nach meinen Unterhosen. Wenn ich diese Frage im Rahmen eines Vortrages ernsthaft an Sie stelle, so werden Sie ebenso ernsthaft an meinem Verstand zweifeln, mich unmöglich finden, und wenn ich nun aber wirklich wissen möchte, wo meine Unterhosen sind, so muss ich logischerweise Ihnen erklären, dass ich wissen möchte, wo meine Unterhosen sind, und nicht, ob ich verrückt bin, was Sie, wie ich befürchte, immer noch als verrückt betrachten würden. Der Krieg hat begonnen, bevor wir es erkennen konnten. Ich werde Ihnen verzweifelt erklären, dass ich doch nur meine Unterhosen wollte, und Sie werden mich in die Psychiatrie bringen. Ich werde dort erklären, dass ich doch nur meine Unterhosen wollte, und der Psychiater wird nach Zeichen von Erregtheit suchen. Er wird sie finden: Ich bin nicht nur erregt, ich bin sogar schon äußerst wütend. Am liebsten würde ich Sie alle liquidieren. Statt mir meine Unterhosen zu geben, bringen Sie mich zum Psychiater! Ich werde erklären, dass ich erregt bin, weil ich nur meine Unterhosen wollte und jetzt alle gegen mich sind, und der Psychiater, der ja natürlich überzeugt ist, dass er nicht gegen mich ist, wird eine gestörte Realitätsbeziehung diagnostizieren.

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Der Krieg interessiert uns aber hier nicht im Speziellen (obwohl es sicher wert wäre, sich darüber Gedanken zu machen), sondern eine etwas abgewandelte Art von Vereinfachung: Wirklichen Krieg gibt es ja nur, wenn ich auch auf meiner Seite Partner finde, wenn es Leute gibt, die finden, dass ich ein Recht auf meine Unterhosen habe, wenn mehrere gegen mehrere kämpfen. Wenn aber das betrachtete Individuum, z. B. dieser Referent mit seiner Definition (»Die anderen verstehen mich nicht«), alleine bleibt, wenn er um sich herum nur mehr Gegner sieht, die seine Wünsche, sein Verhalten ablehnen, die sich zusammenrotten gegen ihn, wenn er dann sich so in seine Reaktionen festfährt, dass er nicht mehr aufhören kann, gegen jeden um seine Rechte zu kämpfen, dann wird er auch weiterhin bei jedem anderen ähnliche Reaktionen auslösen und sich weiter so verhalten. Er wird zum Außenseiter, zum Delinquenten, zum Verhaltensgestörten, zum Verrückten, zum Schwererziehbaren usw. Und wenn jemand dann meint, ihn zu verstehen, was angesichts der allgemeinen Meinung und Darstellung schon unwahrscheinlich genug ist, so wird es dem Außenseiter äußerst schwer bis unmöglich sein, das wahrzunehmen, befindet er sich doch mitten im Pingpong der Beschuldigungen, der Entwertungen, und der Abwehr von solchen Aktionen. Spielen Sie mal Pingpong mit vollem Einsatz und unterhalten sich gleichzeitig mit irgendwem, der Ihnen eine Liebeserklärung macht! Der Außenseiter ist eine Person, die im Zuge von Beziehungsumstellungen in eine Interaktion mit irgendeinem Beziehungspartner geraten ist, die: – symmetrisch eskalierend ist, – definiert ist durch das »So nicht!« und – sich in ihren Ursprüngen so einseitig entwickelt, er späterhin nicht mehr in der Lage ist, anders zu reagieren als in Gegnerschaft und daher auch um sich herum alle in den Bann dieser gegenseitigen Entwertung zieht. Dadurch werden die anderen zu einer einzigen großen Partei, vereint in der Bekämpfung des Übels, sei es nun Kriminalität, Psychose oder sonst wie benannt, und sie werden – natürlich – alles Verhalten, das vom Außenseiter kommt, in der entsprechenden Weise deuten und »behandeln«. Womit der Außenseiter in seiner Reaktion wiederum natürlich Recht hat. In einem Experiment in Amerika hat einmal ein Psychologe sich und einige andere Freiwillige in psychiatrische Anstalten einliefern lassen, um die Rigidität dieser Interaktionsmuster zu untersuchen. Dass er sich dabei Notizen machte, wurde im Krankenbericht aufgenommen mit dem Satz: »Patient legt Schreibverhalten an den Tag.« Um eine entsprechende Diagnose brauchte er sich also nicht sehr bemühen. Die Außenseiterbeziehung ist eine dysfunktionale Beziehung zwischen einer Person – oder einer kleineren Subgruppe – und einer Mehrheit. Diese dysfunktionale Beziehung ist dadurch charakterisiert, dass beide Parteien – die »schwache« wie die »starke« – finden, dass die andere im Unrecht ist, und dadurch, dass die »starke« durch ihre Mehrheit sich als Besitzer der Definitionsmacht betrachtet. Nun ist das Beispiel mit den Unterhosen zwar recht anschaulich, um nicht zu sagen, fast ein bisschen zu deftig. Sie werden aber vielleicht gemeinsam mit unse-

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rem Psychiater finden, dass ich, wenn ich so etwas tue, ja schon vorher verrückt gewesen sein muss. Die Definitionsmacht, die Öffentlichkeit, haben in dem Fall wahrscheinlich Sie auf Ihrer Seite. Das Beispiel erklärt also vielleicht noch nicht, wie man denn überhaupt verrückt wird. Der Beginn einer solchen Entwicklung ist normalerweise etwas feiner und diffiziler, und es bedarf einiger Sensibilität, um ihn wahrzunehmen. Hier ein anderes Beispiel. Ich habe die Angewohnheit, wenn ich etwas vortrage und währenddessen den Eindruck habe, dass man mir nicht zuhört, zu unterbrechen und zu fragen, welche anderen Dinge hier aktuell seien. Wenn ich das bei meinen Studenten tue, die größtenteils frisch vom Abitur kommen, dann fühlen diese sich ertappt und angegriffen. Sie gehen in die Defensive und behaupten, dass sie zugehört hätten. Natürlich war das nicht meine Frage. Ich habe gesehen, dass sie sich anderweitig unterhalten haben, ich weiß nur nicht, worüber. Aber jetzt fühle ich mich angegriffen als jemand, mit dem man nicht offen reden kann. Und ich fühle mich behindert in meinem Versuch, studentenorientiert zu referieren. Ich versuche zu erklären. Die Studenten verteidigen sich intensiver. Ich werde ärgerlich und zuletzt aggressiv. Nun haben die Studenten Oberwasser: Sie haben ja gleich gewusst, dass ich böse bin. Wenn ich jetzt noch versuche, zu erklären, dass ich ärgerlich bin, weil man mit mir nicht redet, dann fühlen sich die Studenten angegriffen und sind sich weitgehend einig, dass ich ein unmöglicher Mensch sei. Und ich bin vice versa derselben Meinung von ihnen. Oder ein Beispiel aus der Entwicklungspsychologie: Eine Mutter möchte ihr Kind in den Arm nehmen. Dieses will das gerade aus irgendeinem Grund nicht. Die Mutter, überzeugt von ihrem guten Willen, findet, mit dem Kind müsse etwas nicht in Ordnung sein. Sie findet, es sei »seltsam«. Sie versucht, das Kind zu überzeugen, was natürlich das Kind schon als Bedrängung erlebt. Jetzt wehrt es sich. Mutter findet das Kind noch »seltsamer«. Sie beginnt, es zu beobachten. Das Kind reagiert verunsichert und verhält sich entsprechend anders als sonst. Abends kommt der Vater heim. Mutter erzählt ihm, das Kind sei so seltsam, es nehme keine Zärtlichkeit an und außerdem streiche es so komisch in der Gegend herum. Wenn das Kind Pech hat, stellt der Vater fest, dass das Kind tatsächlich versucht, sich möglichst unauffällig zu benehmen, was für dieses Kind ungewöhnlich ist. Nun ist die Mehrheit auf Seiten der Mutter. Das Kind ist weiter verunsichert und natürlich auch wütend. Und jetzt ist es endgültig klar, dass das Kind krank ist: denn es reagiert verstockt auf die Liebe und die Bemühungen der Eltern. Vor lauter Sorgen bringen die Eltern das Kind zum Arzt. Dort ist das Kind natürlich noch verstockter. Der Arzt aber ist ein sehr lieber Mensch, der es nicht gewohnt ist, dass Kinder ihm gegenüber verstockt sind. Das ist äußerst ungewöhnlich. Man muss das Kind untersuchen. Die Mehrheit der Gegner wächst. Nehmen wir an, der Arzt wundert sich nicht, dass das Kind verstockt ist. Dann hat das Kind noch Chancen. Möglicherweise aber werden die Eltern nicht zufrieden sein, wenn er meint, das gehe vorüber. Sie suchen einen Arzt, der die Krankheit nicht auf die leichte Schulter nimmt, einen verantwortungsvollen Arzt. Und sie werden ihn finden.

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Nehmen wir an, das Kind findet in seiner Not irgendeinen Weg, sich so zu verhalten, dass die Eltern sich wieder beruhigen. Dann wird sein weiterer Lebensweg geprägt sein von der Angst, als nicht normal diagnostiziert zu werden. Und niemand wird leugnen, dass das im Allgemeinen zu auffälligem Verhalten führt, zumindest in manchen Situationen. Das Gleichgewicht der Beziehungen kann nur mehr unter Mühe aufrechterhalten werden. Spätestens wenn das Kind in die Pubertät kommt, muss es entscheiden, ob es noch einmal solche Verwirrungen in Gang setzen will oder ob es lieber seine Selbständigkeit, sein Bedürfnis nach eigener Meinung leugnen will. Wenn vielleicht die Eltern dann noch Sorgen haben, warum denn das Kind nicht fortgehe, sich nicht durchsetze, nicht erwachsen werde oder Ähnliches, dann können sie ihr Kind schon wieder zum Arzt bringen und das Chaos ist perfekt.

Ausblick Jede Störung, jedes Außenseitertum bedeutet, dass zwei Parteien miteinander über Richtig und Falsch uneins sind. Wir wissen auch, dass dabei meist eine Partei stärker ist als die andere. Und wir wissen wohl auch, dass wir davon abhängig sind, dass die stärkere Partei uns leben lässt, uns als zugehörig betrachtet. Es würde auch nicht viel nützen, würden wir den Eltern sagen, dass das Kind in Ordnung sei, sie hingegen nicht. Denn das Kind ist nicht mehr in Ordnung als die Eltern. Alle habe ihr Bestes gegeben, jeder hat nur auf Umstände reagiert, nach bestem Wissen und Gewissen. Aber wenn das Kind inzwischen groß geworden ist und kriminell, dann verstehen wir – und ebenso das »Kind« selbst – nicht mehr, was es denn eigentlich war, was denn da nach bestem Wissen und Gewissen gelöst wird. Und unser Unverständnis wird dazu führen, dass wir versuchen, das »Kind« in Ordnung zu bringen. Und das heißt nichts anderes, als dass der Kampf weitergeht. Es wird also darum gehen: – zu verstehen, bevor wir ändern wollen; – keinen Versuch der Einflussnahme zu setzen, bevor wir die Handlungen aller Beteiligten als positives Bemühen bewerten können; – die Außenseiterposition als ein absolut zweiseitiges Missverständnis zu betrachten; – in den Interventionen sich jeder Parteinahme zu enthalten, sondern vielmehr beide Seiten in ihrem Bemühen zu unterstützen; – nicht die Symptome zu betrachten, sondern die Kommunikation der Symptome, die Metakommunikation so auf den Tisch zu legen, dass beide Parteien sich angenommen fühlen können (und nicht nur sollten). Machen Sie den einfachen Versuch, in einer Familie einmal von jedem Mitglied zu erfragen, wie es denn eine bestimmte Situation sieht, und dann die Verschiedenheit in der Darstellung als Missverständnis im Bemühen der Beteiligten zu interpretieren. Geben Sie dann diese Interpretation an die Familie weiter. Sie werden

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es nicht glauben, wie viel Auseinandersetzung sie damit auslösen, ohne irgendetwas anderes zu tun als eben nur dieses Missverständnis als behandlungswürdig zu erklären. Wenn das funktioniert, dann ergibt sich als Nächstes die Frage, wie wir solche Interpretationsangebote so setzen können, dass z. B. eine psychiatrische Anstalt und einer ihrer Patienten oder ein Gefängnis und eine seiner Insassinnen oder eine Schule und ein »verhaltensauffälliger« Schüler oder eine Gesellschaft und eine Randgruppe sich gleichzeitig angesprochen und verstanden fühlen können.

Über das Erlernen von Interaktionsmustern

Unsere Erfahrung zeigt, dass viele Menschen immer wieder ähnliche Beziehungen erleben, dass selbst dann, wenn Ausgangssituationen sehr unterschiedlich scheinen, sich ähnliche Interaktionen um sie herum entwickeln. Auch wenn wir nicht in Menschen hineinschauen können, lässt diese Erfahrung sich kaum anders erklären als mit der Annahme, dass sie lernfähig sind. Wir verstehen hier – ganz nach Pawlow (1972) – unter Lernen folgendes: Ein Mensch befindet sich in einer bestimmten Situation. Damit ist alles gemeint, was an Sinnesreizen auf den Organismus auftrifft (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Spüren) oder innerhalb desselben entsteht (Hunger, Durst, Sattheit, Schmerzen und alle anderen Leibgefühle). Der Mensch reagiert auf diese Situation: Er bewegt sich, handelt oder/und spricht. Wenn nun innerhalb einer begrenzten Zeitspanne eine wesentliche Änderung seiner Situation stattfindet, so dass andere Reize in den Vordergrund treten, wird eine Verknüpfung bzw. Verstärkung der Verbindung zwischen dieser ursprünglichen Reizsituation und dieser bestimmten Reaktion auftreten. Die Bereitschaft, eine vergleichbare Situation wahrzunehmen, und die Wahrscheinlichkeit und Geschwindigkeit, mit der die Person auf eine solche Situation ähnlich reagiert, werden größer. Durch Assoziationsvorgänge tritt ein Generalisierungseffekt auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Situation als der gelernten Situation ähnlich betrachtet wird und die vergleichbaren Aspekte besonders wahrgenommen werden, wird ebenfalls größer. Gleichzeitig wird die Wahrscheinlichkeit, Situationen als von der gelernten Situation unterschiedlich zu erleben, geringer bzw. werden Situationen, in denen diese Aspekte nicht auffindbar sind, entsprechend weniger als reaktionswürdig wahrgenommen. Dies bewirkt in weiterer Folge eine fortwährende Weiterentwicklung und Differenzierung auf dem ursprünglich gelernten Gebiet, während andere Aspekte immer weniger Chancen haben, Einfluss auf das Lerngeschehen zu nehmen. Um den Effekt dieses Lerngeschehens aufzuzeigen, möchte ich einen zirkulären Wiederherstellungsprozess darstellen. Das heißt, ich werde zeigen, dass – unter dieser Annahme – eine Entwicklung stattfindet, die nach einiger Zeit die Ausgangssituation wiederherstellt. Als Ausgangspunkt nehmen wir einen erwachsenen Menschen. Er hat für bestimmte Situationen eine besondere Sensibilität und Übung darin, auf diese Situation in einer bestimmten Weise zu reagieren. Ich zeichne für diesen Menschen nun ein Diagramm (Abbildung 15). Auf der horizontalen Achse sind alle Interaktionsmuster, also alle Verknüpfungen von irgendwelchen Reizsituationen mit irgendwelchen Reaktionen dargestellt (diese Liste ist natürlich unendlich lang). Jeder Teilstrich steht für eine solche Verknüpfung.

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Abbildung 15: Eine »Persönlichkeitsstruktur«

Auf der vertikalen Achse zeichne ich die Intensität, die »Gelerntheit« dieser Verknüpfung auf; das heißt, wie schnell und wie sehr der Mensch dazu tendiert, ein Erleben als solche Situation wahrzunehmen, und wie stark seine Tendenz ist, in dieser bestimmten Weise zu reagieren. Die Kurve charakterisiert nun diesen Menschen in der Weise, dass wir sagen können, auf welche Situationen ein Mensch mit welcher Wahrscheinlichkeit bzw. Intensität mit welchem Verhalten reagieren wird. Als Nächstes rolle ich dieses Diagramm ein zu einem Polardiagramm (Abbildung 16). Ich rolle die horizontale Achse ein auf einen Punkt. Dann erscheinen die Muster nicht mehr nebeneinander, sondern in verschiedenem Winkel von diesem Punkt ausgehend. Die Intensität stellt sich dar als der Abstand der Kurve von diesem Mittelpunkt. Die Persönlichkeit stellt sich uns in einem amöbenähnlichen Bild dar. Da dieser Mensch nicht alleine auf der Welt lebt, werden wir nun überlegen, was geschieht, wenn er auf einen anderen (Abbildung 17) trifft. Wenn zum Beispiel Herr Eins bei dem Abbildung 16: Das Polardiagramm Muster »Jemand lächelt mich an und ich lächle zurück« eine sehr geringe Intensität aufweist und Frau Zwei dieses Muster ausprobiert, so wird Herr Eins wahrscheinlich nicht reagieren und Frau Zwei wird vielleicht nach ein, zwei Versuchen wieder ihrer Wege gehen. Oder wenn Herr Eins bei dem Muster »Jemand stößt mich und ich wehre mich« eine geringe Intensität aufweist und Herr Zwei ihn stößt, so wird er vielleicht ausweichen. Wenn nun Herr Zwei auf »Jemand weicht mir aus« keine Reaktion parat hat, so wird er auch seiner Wege gehen. Abbildung 17: Die Zweite In beiden Fällen ist »nichts« passiert.

Über das Erlernen von Interaktionsmustern

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Abbildung 18: Ein sich selbst erhaltendes System

Wenn aber Herr Zwei auf »Jemand weicht mir aus« sensibel ist und darauf mit »Ich stoße nach« reagiert, dann werden die beiden sich kennen lernen: Herr Zwei wird Herrn Eins über die ganze Tanzfläche rempeln – solange, bis Herr Eins des Musters »Auf Rempeln ausweichen« müde wird und vielleicht das Muster »Auf Rempeln schreien« aktiv wird. In diesem Fall wird sich sicher in der Umgebung jemand finden, der auf »Geschrei« mit »Hinschauen« oder sogar mit »Helfen« reagiert. Und das bedeutet, dass sich noch mehr Menschen kennen lernen. Noch eine andere Situation (Abbildung 18): Herr Zwei, der Rempler, stößt beim Tanz auf Frau Drei. Frau Drei pflegt auf Dinge, die sie stören, mit »Vorwurfsvoll schauen« zu reagieren. Herr Zwei reagiert hingegen auf »Eine Frau schaut mich vorwurfsvoll an« mit »Unschuld beteuern«. Das ist Frau Drei lästig: Sie schaut weiter vorwurfsvoll. Das heißt, dass Herr Zwei sich mehr bemühen muss, seine Unschuld zu beteuern. Die beiden werden einander den ganzen Abend nicht mehr los. Wenn es sein muss, wird Herr Zwei Frau Drei verfolgen, bis sie sich von ihm – immer noch vorwurfsvoll schauend – zum Abendessen einladen lässt und später mit zu ihm geht. Der Volksmund hat zu der Frage, wie Menschen zusammenfinden, zwei Sprichworte anzubieten: »Gleich und Gleich gesellt sich gern« wird ebenso häufig angeführt wie »Gegensätze ziehen sich an«. Wenn solch widersprüchlichen Aussagen als allgemeingültig betrachtet werden, so kann das nur zwei Ursachen haben: Entweder sie sind nicht so allgemeingültig, sondern jede von beiden gilt unter anderen Bedingungen. Im vorliegenden Fall ist es bisher nicht gelungen, die Situationen zu unterscheiden, in denen das eine oder das andere gilt. Oder die Aussagen erfassen Kategorien, die die Folgerung einfach nicht zulassen. Wenn ich sagen kann: »Entweder Gleich und Gleich gesellt sich gern oder Gegensätze ziehen sich an«, dann stellt sich heraus, dass die Kategorie »gleich« versus »gegensätzlich« nicht geeignet ist, etwas über die gesuchte Folgerung (nämlich wer sich gern gesellt bzw. anzieht) auszusagen. Ich schlage daher aufgrund obiger Überlegung ein neues Sprichwort vor: »Komplementär gesellt sich gern«. Watzlawick (Watzlawick et al. 1969, S. 69 ff.) unterteilte Beziehungen in symmetrische und komplementäre: solche, wo die beiden Partner um dieselbe Position konkurrieren, und solche, wo sie einander ergänzende Positionen einneh-

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men wie etwa Helfer und Geholfener, Befehlender und Ausführender und so weiter. Ich schlage weitergehend vor, symmetrische Beziehungen als Sonderfall der komplementären zu betrachten: Die Komplementarität bleibt insofern erhalten, als das Verhalten des einen das Verhalten der anderen auszulösen in der Lage ist, nur dass in diesem Sonderfall die beiden Verhalten, die sich da gegenseitig auslösen, gleich sind, wie etwa bei obigen »Raufern«. Immer wenn dies nicht der Fall ist, wenn die Reaktionen, die sich gegenseitig auslösen, unterschiedlich sind, wie bei dem »Traumpaar«, handelt es sich um eine Komplementarität auch im Watzlawick’schen Sinne. Das heißt, dass sowohl ein »Gleich und Gleich gesellt sich gern« wie auch ein »Gegensätze ziehen sich an« möglich ist. Wenn auf Davonlaufen mit Nachlaufen oder auf Erzählen mit Zuhören reagiert wird, auf Sich-hilflos-Zeigen mit Helfen oder mit Schimpfen, dann ist das Zweite der Fall, wenn hingegen auf Lächeln mit Lächeln reagiert wird oder auf Rempeln mit Gegenrempeln, dann ist das Erste der Fall. Herr Zwei und Frau Drei haben sich »erkannt«. Aus dem etwas später stattfindenden Teil entsteht vielleicht ein Kind. Wir wissen nicht, wie viel und was Kinder via Gene von Geburt an mitbekommen, aber wir nehmen an, dass sie doch einiges im Laufe ihres Lebens lernen. Es wird im Zuge seiner körperlichen Entwicklung sowohl seinen Wahrnehmungsbereich erweitern als auch alle Bewegungen, Schreie, Blicke, Worte und so weiter ausprobieren, die sein körperlicher Zustand zulässt. Nun nehmen wir unsere Lernprinzipien: Das Kind wird in verschiedensten Situationen verschiedenstes Verhalten ausprobieren. Auf das meiste werden die Eltern gar nicht reagieren, weil sie keine Antenne dafür haben. Wenn aber in irgendeiner Situation die Eltern reagieren, so wird »gelernt«: In Zukunft wird in ähnlichen Situationen ähnliches Verhalten häufiger auftreten. Wussten Sie z. B., dass blinde Kinder im selben Alter wie sehende das erste Mal lächeln? Da aber die Reaktion, das Zurücklächeln der Eltern, für das Kind nicht erkennbar ist, hören diese Versuche bald wieder auf. Oder dass eine Katze, wenn man ihr nach der Geburt ein Auge abdeckt, für dieses Auge nicht einmal Nervenleitungen entwickelt?

So entwickelt sich das Kind zu einer »Amöbe« wie die Eltern; allerdings nicht einfach so, dass die gleichen Muster wie die der Eltern entwickelt werden, sondern jeweils passende Muster: Die können – bei symmetrischen Interaktionen – ähnlich sein, bei komplementären hingegen sind es ergänzende Muster. Ähnlichkeiten mit den Eltern werden aber insofern auftreten, als ja die Eltern sich aufgrund des Zusammenpassens ihrer Muster gefunden haben und das Kind auch passende Muster entwickelt: Interaktionen mit der Mutter werden daher zu Mustern führen, die denen des Vaters ähneln, Interaktionen mit dem Vater solche, die denen der Mutter ähneln. Übrigens: Da für die Eltern manche Muster mit dem Geschlecht verbunden sind (wie etwa Flirten, Boxen etc.), sehen diese Lernvorgänge

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in derselben Familie bei Mädchen meist anders aus als bei Jungen! Und ein Erstgeborenes ist in einer anderen Situation als ein Zweitgeborenes: Auch dieses wird andere Muster lernen als jenes. Damit schließt sich der Kreis: Das neue Wesen wird in die Welt geschickt und wählt nach bestem Können seine Interaktionspartner und dessen passende Muster aus, um diese weiter zu üben und zu entwickeln. Und es wird ziemlich schwer werden, es auf Muster anzusprechen, die es nie gelernt hat. Wohl aber wird es ihm gelingen, seine vertrauten Geschichten wiederzufinden, wenn der Partner auch nur ein bisschen auf solche Geschichten ansprechbar ist. Oder haben Sie es noch nicht erlebt, dass Ihnen immer wieder die gleichen Dinge in Beziehungen mit anderen passieren, auch wenn diese anderen zunächst sehr verschieden zu sein scheinen? Später, wenn die Muster schon ausgebildet sind, wird es sehr schwer, neue Muster einzuführen bzw. zu lernen, obwohl das prinzipiell möglich ist. Die Logik ist einleuchtend. Es ist, als hätte man eine Atrophie der Muskeln des rechten Beines: Man benützt das linke und unterstützt so dessen Vormachtstellung. Will man umlernen, so muss bewusst das starke Bein gehindert werden, bis das schwache ausreichend trainiert ist. Die oben genannte Katze schaut auch, wenn man die Augenabdeckung wieder abnimmt, nur mit dem ausgebildeten Auge, die Nerven des zweiten bilden sich nicht nach. Will man erreichen, dass es das doch tut, so muss man das ausgebildete Auge abdecken. Dann entwickeln sich die Leitungen nach. Aus demselben Grund muss einem schielenden Kind nach einer Operation ein Auge abgedeckt werden: Wegen der unterschiedlichen Bilder hat ein Auge aufgehört, zu schauen und wird erst wieder anfangen, wenn das andere nicht schauen kann.

Die sicherste Möglichkeit, neue Muster zu lernen, besteht also darin, dass die vertrauten nicht mehr funktionieren. Dann allerdings scheint das im Allgemeinen schneller zu gehen, als zur normalen Zeit gelernt worden wäre. Bei den Hopi-Indianern pflegen die Mütter die Kinder bis zum dritten Lebensjahr auf ein Brett gebunden auf dem Rücken zu tragen. Die Kinder haben bis zu diesem Zeitpunkt keine Gelegenheit, laufen zu lernen. Dann, wenn sie »freigelassen« werden, lernen sie es in kürzester Zeit. Darüber hinaus ist auch bekannt, dass Kinder, die erst mit zehn Jahren lesen und schreiben lernen, dies in wesentlich kürzerer Zeit tun, als solche, die schon mit sechs in die Schule kamen.

Wir können also erwarten, dass, wenn es uns gelingt, das geläufige Muster effektiv zu behindern, sehr schnell andere Muster gelernt werden, in die dann auch die in Zusammenhang mit dem alten Muster gelernten Fähigkeiten integriert werden. Natürlich können auch jetzt wieder nur Muster gelernt werden, für die sich Mitspieler finden. Aber: Wenn keine Fixierung stattfindet, dann sind Veränderung und Entwicklung die natürlichen Prozesse und im Wissen um diese Tatsache liegt das Potential (siehe dazu etwa Herwig-Lempp 2007).

Systemische Definition der Sozialarbeit

Im Wirrwarr systemischer Vernetzungen, in dem wir leben, erscheint es eigentlich eher verwunderlich, wenn irgendetwas überhaupt funktioniert. Die Unmengen von familiären, privaten, beruflichen, versorgungsmäßigen, bürokratischen und überwachenden Beziehungen, die jede einzelne Person in unserer Gesellschaft einbinden, türmen sich zu unüberschaubaren Netzen, wenn man berücksichtigt, dass jede Beziehung, die eine Person hat, zu einer anderen Person führt, die wiederum ebenso viele Beziehungen hat, und so weiter. Wollte man ein solches Netz bewusst in Ordnung halten, wäre man hoffnungslos verloren: Die Aufgabe des berühmten Tausendfüßlers, der nicht mehr gehen kann, weil ihn jemand gefragt hat, wie er denn seine Beine koordiniere, erscheint dagegen fast lächerlich banal und einfach (siehe dazu Willke 1993). Trotzdem scheint es irgendwie zu gehen. Offenbar lernen wir schon von kleinstem Alter an, uns in einer relativ funktionsfähigen Art in ein sich allmählich ins Unermessliche steigerndes und sich ständig veränderndes Netz von Bezügen einzuordnen. Es gibt sehr viele Kämpfe um die Definition von geistiger Gesundheit bzw. Krankheit, von Normalität und Abweichung oder Störung, und die Systemtheorie hat es uns zunächst nicht leichter gemacht, indem sie zeigte, dass es nicht um gestörte Personen geht, die durch irgendeinen Zufall an den Rand gedrängt sind, sondern um gestörte Beziehungen innerhalb des Gesellschaftssystems, die sich in einer bestimmten Weise aufrechterhalten. Diese Feststellung scheint uns essentiell, weil hier ein wesentlicher Unterschied zur neueren deutschen, zum großen Teil auf Luhmann bezogenen Literatur zur Systemischen Sozialarbeit wie etwa bei Kleve (2007) oder Hosemann (2006) besteht. Dort werden Erkenntnisse über Systeme umgelegt auf den Versuch, Personen oder Familien zu helfen. Wir beschreiben Störungen als Kommunikationsform in einem System, an dem wir selbst (als Sozialarbeiterinnen) beteiligt sind. Nun ist damit zwar das Individuum entlastet, weil die Störung immer etwas ist, was beide Seiten, die störende und die gestörte, miteinander machen, aber was »in Ordnung« ist und was nicht, ist damit nicht gesagt. Wir wollen hier versuchen, eine Definition von Störung im Sinne von »Sozialfall« oder »Fall für die Sozialarbeit« anzubieten, was sich sehr grundsätzlich etwa von einer Definition für Familientherapie oder allgemein Psychotherapie unterscheidet. Es kann sich dabei nicht um eine Beschreibung der Problemlage von indizierten Klienten handeln, die zu beheben wäre, wie es Eugster (2000) Hosemann (2006) oder Ritscher (2005) versuchen, auch nicht um deren »Lebenswelt«, wie es Kraus (2000) anbietet, sondern eben interaktionistisch-systemisch gesehen: um die Lösung von Beziehungskonflikten. Wir müssen zu diesem Zweck im Gegenteil

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versuchen, das, was gemeinhin als problematische Eigenschaften von indizierten Klienten einerseits oder als ungünstige Lebensbedingungen für indizierte Klienten andererseits betrachtet wird, umzuformulieren als Kommunikationsformen, als Teil einer Kette oder besser einen Kreislauf von wechselseitigen Mitteilungen. Und auf diese Kette oder diesen Kreislauf von Mitteilungen beziehen sich unsere sozialarbeiterischen Überlegungen. In jedem solchen Kreislauf von Mitteilungen, in jeder Beziehung also, wird ein Teil der verfügbaren Energien für die Definition und Erhaltung der Beziehung aufgewendet. Das gilt ebenso für die Beziehung zwischen zwei oder mehreren Menschen wie für die Beziehung zwischen einer Person und einer Institution wie auch zwischen einer Person und ihrer Umgebung insgesamt (Welche Mitteilungen werden ausgetauscht?). Wenn man davon ausgehen darf, dass eine Art Idealzustand dann erreicht ist, wenn möglichst viele Energien frei verfügbar sind für die Verfolgung von Zielen, für Freude am Leben und die Erhaltung unserer Versorgung, so kann man annehmen, dass die optimalen Beziehungen solche sind, die ein Minimum von Energie für die Beziehungsarbeit verbrauchen. Damit wäre eine dysfunktionale Beziehung definiert als eine Beziehung, in der der überwiegende Anteil der Energien für die Auseinandersetzung mit der Beziehung verbraucht wird. Man muss natürlich akzeptieren, dass bei jeder Änderung von Beziehungen, wie etwa beim Kennenlernen, bei Trennungen, beim Eintreten neuer Individuen in eine Beziehung oder allgemein bei Veränderung äußerer Umstände, die Beziehungsform unklar wird und daher vorübergehend eine intensive Arbeit an neuen, den veränderten Bedingungen entsprechenden Beziehungsformen notwendig wird. Von dysfunktionaler Beziehung kann man erst dann sprechen, wenn im Zuge einer solchen Entwicklung eine Beziehungsform auftritt, die einerseits stabil ist, andererseits aber ständig in Frage steht, das heißt eine Beziehung, die zu einem guten Teil aus einem endlosen Kampf um ihre Veränderung besteht. Natürlich kann man nicht einfach festlegen, wie viel Definitionskampf in einer Beziehung noch als gesund akzeptiert werden soll – immerhin sollten ja auch Veränderungen in Beziehungen als sinnvoll akzeptierbar sein –, sicher aber ist, dass ein Zuviel an Beziehungskampf ein Zuwenig an Energien für die täglichen Lebensfunktionen bedeutet und daher als dysfunktional bezeichnet werden kann. Wir kommen später noch auf den Beziehungskampf zurück. Zunächst aber haben wir durch systemische Überlegungen eine Möglichkeit gefunden, eine Werthaltung gegenüber Gesundheit bzw. Krankheit einzunehmen, die sich anhand greifbarer Kriterien überprüfen lässt. Diese Definition hat neben ihrer logischen Einsichtigkeit einige Vorteile, die man gar nicht hoch genug schätzen kann: – Eine Beziehung kann als dysfunktional bezeichnet werden, ohne dass einer der Beziehungspartner als krank, schuldig oder sonst wie falsch bezeichnet werden muss.

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– Die Definition lässt die Frage, was geändert werden soll, offen für Überlegungen der Durchführbarkeit: Lösungen sind nicht mehr von vornherein gebunden an die Normen der bestehenden Gesellschaft und können trotzdem für die Gesellschaft akzeptierbar sein. – Die Frage, ob ein Sozialarbeiter dort, wo er angesprochen wird, auch eingreifen soll, ist eindeutig gelöst: Wann immer irgendjemand zum Sozialarbeiter kommt mit irgendeiner Art von Beschwerde, so heißt das, dass die Person sich in einem Beziehungskampf befindet und jetzt den Sozialarbeiter als Mitstreiter sucht. Damit ist klar, dass der Sozialarbeiter in Kontakt mit einem dysfunktionalen System getreten ist. (Natürlich kann es trotzdem sein, dass es sinnvoll ist, seine Zuständigkeit zu verneinen. Das ist aber dann eine Intervention!) – Auch die Aufgabe der Sozialarbeiterin ist leicht zu definieren. Man kann ja annehmen, dass sie nur dort angesprochen wird, wo die inneren Energien eines Subsystems nicht als ausreichend erlebt werden, um eine befriedigende Beziehungsdefinition zu erreichen. Ihre Aufgabe kann daher wohl nur darin bestehen, in das Subsystem einzutreten und ein wenig an den Beziehungen herumzubasteln, bis ein Zustand erreicht ist, der nach ihrem Abgang eine funktionalere Beziehung gewährleistet, die nicht mehr wesentlich vom Beziehungskampf bestimmt wird. Aufgrund dieses Gedankenganges lässt sich vielleicht sogar grundsätzlich die Rolle der Sozialarbeit in der Gesellschaft definieren. Was meinem Eindruck nach bisher eher als eine vage, gefühlsmäßige Definition schon da war, kann nun formuliert werden: Wo immer Beziehungskonflikte, das heißt dysfunktionale Beziehungen, zwischen Gesellschaft einerseits und Individuen bzw. kleinen, privaten Subsystemen andererseits sich stabilisieren oder eskalieren, funktionalisierend einzugreifen oder wo solche Stabilisierungen oder Eskalationen von Beziehungskämpfen zu erwarten sind, präventiv aktiv zu werden – das ist das Feld der Sozialarbeit. Soweit ich das bis jetzt absehen kann, ist diese Definition einerseits eindeutig nur der Sozialarbeiterin zuschreibbar (so fällt etwa Psychotherapie höchstens dann darunter, wenn ein Bedürfnis nach Therapie nicht in einem anderen Rahmen erfüllbar ist; der Konkurrenzkampf zweier Organisationen nur insoweit, als unakzeptierbare Probleme für Personen zu erwarten sind), andererseits beschreibt sie tatsächlich alle mir bekannten Funktionen von Sozialarbeiterinnen. Es soll hier allerdings darauf hingewiesen werden, dass ein solcher Eingriff dann nicht von außen stattfinden kann, weil der Sozialarbeiter spätestens in dem Moment, wo er denkt, für das System eine Rolle zu spielen, daran denken muss, dass er Teil des Systems ist und für die Planung seiner Interventionen ein Bild von einem System braucht, das ihn und seine Reaktionen beinhaltet. Das ist einerseits schwierig, andererseits erspart es einem Überlegungen, wie sie etwa Kleve anstellt, wie man ein nicht instruierbares und daher nicht steuerbares System doch steuern kann (siehe Kleve 2007, S. 74 ff.). Wir kommen im methodischern Teil darauf zurück.

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Vielleicht ist es interessant, aufgrund dieser Definition der Rolle des Sozialarbeiters zum Beispiel zu überlegen, wie ein sozialarbeiterischer Eingriff in eine Familie zu rechtfertigen ist. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass Subsysteme ihre inneren Probleme selbst lösen sollten. Wenn sie dabei Hilfe in Anspruch nehmen wollen, so ist die Familienberatung oder Familientherapie angesprochen. Lässt sich aber erwarten, dass das Subsystem eine Lösung findet, die zu späteren dauerhaften Konflikten zwischen dem Subsystem oder Mitgliedern des Subsystems und der Gesellschaft führt, dann – und nur dann – hat die Sozialarbeit ein Tätigkeitsfeld gefunden. So ist es einfach, den Zuständigkeitsbereich der Sozialarbeit abzugrenzen und damit die Definition festzulegen. Es ist nur noch zu entscheiden, wie es gelingen kann, hier Raum für die Entwicklung einer funktionalen Beziehung zu schaffen: ob, was des Systemtheoretikers liebste Lösung ist, dies durch eine Umdefinition der Situation geschehen kann, ob man besser präventiv in das Subsystem eingreift oder besser Veränderungen in der Gesellschaft veranlasst, die bewirken, dass der zu erwartende Konflikt in begrenzter Zeit gelöst wird. Da die Intervention auf jeden Fall zum Ziel hat, eine für beide Seiten akzeptierbare Beziehung zu ermöglichen, ist diese Entscheidung ethisch relativ ungefährlich7 und es lässt sich aus ökonomischen Überlegungen und den Ressourcen der Sozialarbeiterin ableiten, welchen Weg sie beschreiten soll.

Der Beziehungskampf: Kommunikation und Metakommunikation Aber wie sind dysfunktionale Beziehungen zu erkennen? Eine Möglichkeit ist schon genannt worden: Wenn der Sozialarbeiter angesprochen wird, kann man mit Sicherheit damit rechnen, dass die Person, die ihn anspricht, ein Beziehungsproblem hat, das sie ohne die Hilfe des Sozialarbeiters nicht bewältigen kann oder will. Somit ist sie mit Sicherheit in einem Beziehungskonflikt. Selbst dann, wenn es sich um einen Arbeitslosen handelt, der nicht arbeiten will, denn das will ja die Gesellschaft nicht, damit ist der Konflikt schon da und es muss überlegt werden, was zu tun ist. Da aber sicher nicht alle konflikthaften Beziehungen zwischen Gesellschaft und Individuen bzw. Kleinsystemen an die Sozialarbeiterin herangetragen werden und wir außerdem die Tätigkeit der Sozialarbeiterin auch als präventiv beschrieben haben, können wir uns nicht damit begnügen, nur über die Dinge nachzudenken, die von selbst bis zur Sozialarbeiterin gelangen, sondern müssen etwas allgemeiner über die Erkennbarkeit von Dysfunktionalität sprechen. Dazu möchte ich noch einmal auf eine der Wurzeln der Systemtheorie in der Sozialpsychologie zurückkommen: die Kommunikationstheorie, die vor allem auf Watzlawick und sein Team (Watzlawick et al. 1969) zurückgeht. 7 Ausnahme: wenn einer der Beziehungsteilnehmer in irgendeiner Form einfach mundtot gemacht wird.

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Demnach ist also Kommunikation inhaltlicher Austausch von Informationen, der zwangsläufig immer einen Zweck hat. Dieser Austausch erfordert, um richtig funktionieren zu können, Einigkeit darüber, wie die Information aufzufassen ist. So ist zum Beispiel die Frage »Wo sind meine Manschettenknöpfe?« eine rein inhaltliche Aussage und der Empfänger muss, um auf die Frage passend reagieren zu können, auf irgendeine Weise wissen, ob sie gemeint ist als Vorwurf (weil die Knöpfe längst da sein sollten bzw. nicht am Platz sind), als reine Informationsfrage oder als Scherz über den Wirrwarr, den die äußerst aktive Tätigkeit der letzten Stunde in den Kleidungssektor der Kommunikationspartner gebracht hat. Das hängt sehr stark von der Art der Beziehungsform der Partner ab: Ob sie etwa eine komplementäre Beziehung haben, in der der eine verantwortlich ist für die Manschettenknöpfe, während der andere schimpfen darf, dass sie nicht da sind, oder einen symmetrischen Beziehungskampf, in dem um solche Verantwortlichkeiten ständig gestritten wird, oder eine harmonische Beziehung, in der dieses Thema gar nicht zur Beziehungsdefinition gebraucht wird. Der Beziehungstypus wird durch die verschiedensten Dinge bestimmt, die im Allgemeinen in »analoger« Form, das heißt durch alles außer den inhaltlichen Mitteilungen ausgetauscht werden: Tonfall, Zeitpunkt einer Mitteilung, Ohrfeigen oder der Ort, an dem eine Mitteilung gemacht wird, sind nur eine kleine Auswahl, wie Austausch über Beziehungsformen stattfindet. Diesen Austausch, der Beziehungen definiert und damit auch definiert, wie Kommunikation aufzufassen ist, nennt man Metakommunikation (siehe Watzlawick et al. 1969, S. 55). Kommunikation ist also rein inhaltliche Mitteilung, Metakommunikation hingegen Kommunikation über die Beziehung. Ist die Beziehung in ihrer gerade stattfindenden Form von allen Kommunikationspartnern akzeptiert, so ist sie unproblematisch, es wird wenig Energie auf ihre Veränderung angewandt, die Metakommunikation hält sich in Grenzen. Die dadurch verfügbare Energie kann für verschiedenste Projekte eingesetzt werden, wie etwa für eine Urlaubsreise, für Überlegungen zur Erhaltung der ökologischen Voraussetzungen des Überlebens oder für den Ackerbau. Sind allerdings ein oder mehrere Partner nicht einverstanden mit der Beziehungsform, so werden diese natürlich versuchen, sie zu ändern. Wenn die übrigen Partner eine Änderung akzeptieren, so ist ein neuer Beziehungstypus entstanden, und man kann doch noch in Urlaub fahren oder die Welt retten, vielleicht mit einer veränderten Rollenverteilung. Akzeptieren jedoch die anderen Partner die Veränderung nicht und beginnen ihrerseits an der Beziehung zu basteln, so ist ebenfalls ein neuer Beziehungstypus entstanden, der sich allerdings durch diese ständige Arbeit an der Beziehung definiert (wo also mehr oder weniger ständig und nur Metakommunikation betrieben wird), und man kann sich vorstellen, dass je nach Intensität der Bemühungen sehr wenig Zeit für andere Dinge bleibt. Nicht nur die Beziehung stagniert, sondern es ist auch nicht mehr möglich, gemeinsam Ziele zu verfolgen, da ja jede gemeinsame Aktion schon wieder Bedeutung in diesem Beziehungsspiel, somit also metakommunikative Bedeutung hat.

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Ich denke, es ist einsichtig, solche Beziehungen als dysfunktional zu bezeichnen, in denen der größte Teil der Energie auf die Auseinandersetzung mit der Beziehung selbst angewendet wird, wo also die Metakommunikation überhand nimmt. Wenn z. B. ein Staat sehr viele Polizisten beschäftigt (die ja offensichtlich die Einzelpersonen davon abhalten sollen, den von ihnen gewünschten Beziehungstypus in die Tat umzusetzen) und in Zusammenhang damit die Einzelnen sich damit beschäftigen, die Überwachung zu umgehen oder zu verhindern, so ist ganz klar, dass hier eine dysfunktionale Beziehung vorliegt, die dazu führt, dass Staat und Personen ob der Beschäftigung mit Metakommunikation nicht mehr gemeinsame Ziele verfolgen können, selbst wenn es ums Überleben geht. Wenn eine Person regelmäßig oder dauerhaft krank wird, um sich einer drohenden Überforderung durch ihre Umwelt zu entziehen, und diese mit weiteren Forderungen reagiert (spätestens wenn die Person wieder gesund wird), so wird die Person ihre Energien in die Krankheit, die Umwelt hingegen die ihre in die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit investieren. Vor lauter Metakommunikation ist dann von sonstiger Arbeit keine Rede mehr. Wenn eine Schülerin in der Schule durch auffälliges Verhalten auf etwas aufmerksam machen will – was immer das sei –, der Lehrer hingegen versucht, dieses Aufmerksammachen zu beseitigen, so kann das Grund genug sein, die Bemühungen um Aufmerksamkeit zu intensivieren und Lehren oder Lernen kann nur mehr als fernes Traumziel phantasiert werden. Die beiden sind in eine metakommunikative Auseinandersetzung verstrickt. Interessanterweise ist sogar ein Liebespaar, das nicht von der Bemühung loskommt, die Intensität der Liebesbeziehung zu steigern, in ein dysfunktionales System verstrickt. Man stelle sich vor, dass jeder ständig nur versucht, die Beziehung noch inniger zu gestalten. Wenn das nicht irgendwann wieder aufhört, werden die beiden ineinander verschmelzen, ohne je einen Happen gegessen zu haben, und verhungern. Zum Glück kommt das eher selten vor. Wer aber je die große Verliebtheit kennen gelernt hat, weiß, dass die Versuchung groß ist – er oder sie weiß aber auch, dass in dieser Zeit tatsächlich so gut wie ausschließlich Metakommunikation betrieben wird. In Rede wie in Handlung hat man nur die Intensivierung der Beziehung im Auge. So schön das ist – als Dauerzustand ist es zweifellos dysfunktional. Das Beispiel zeigt einen äußerst wichtigen Aspekt des Begriffs »dysfunktional«: Nicht jede dysfunktionale Beziehung ist unangenehm, die Wertung der Dysfunktionalität ist also doch eine ideologische. Man kann schließlich auch an einem symmetrischen Beziehungskampf Spaß haben, und doch ist er als dysfunktional zu bezeichnen, wenn er so weit geht, dass die Wahrnehmung von Zusammenhängen, die über die Beziehung hinaus greifen, dauerhaft verloren geht. Fassen wir zusammen: Eine Beziehung ist dysfunktional, wenn die Metakommunikation zur Dauerbeschäftigung wird, so dass sonst nichts bzw. fast nichts mehr getan werden kann. Die Beispiele haben auch schon gezeigt, dass Metakommunikation auf verschiedenste Weise betrieben werden kann: Gesprochene Metakommunikation

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äußert sich in ständiger Auseinandersetzung über die Beziehung, über die Art, miteinander umzugehen, über das Verhalten der Beziehungspartner, wie das z. B. meist in der Politik üblich ist. Da in diesem Beispiel aber nicht die Beziehung zwischen Gesellschaft und Einzelpersonen das Thema ist, ist dies auch kein Fall für die Sozialarbeit. Ein weiterer Bereich der Metakommunikation äußert sich in Handlungen, die das Verhalten zumindest eines der Beziehungspartner steuern, wie zum Beispiel die Kündigung von einigen Mitarbeitern in einer Firma wesentlichen Einfluss auf das Verhalten der verbliebenen hat. Wichtig ist, zu beachten, dass die Absicht, Verhalten zu steuern, nicht deklariert, auch nicht bewusst, ja nicht einmal vorhanden sein muss. Wenn die Wirkung da ist, handelt es sich um eine Form von Metakommunikation und muss metakommunikative Reaktionen ergeben: Akzeptanz oder Ablehnung der dadurch eingeführten Beziehungsform. Der dritte Bereich ist eigentlich, so wie auch der erste, ein Teilbereich des zweiten: die Symptome.

Symptome Symptome sind – nach der Definition von Watzlawick (Watzlawick et al. 1969, S. 77) oder Haley (1987) – Handlungen, die geeignet sind, den Kommunikationspartner in seinem Verhalten zu beeinflussen und gleichzeitig den Symptomträger von der Verantwortung für die Beeinflussung freizusprechen (siehe dazu Haley 1987). So ist zum Beispiel die Unfähigkeit einer Familie, mit Geld umzugehen, als Symptom anzusprechen, insofern sie geeignet erscheint, die Gesellschaft über das soziale Netz zu Hilfsaktionen zu veranlassen, und die zuständige Sozialarbeiterin wird gut daran tun, nicht nur zu helfen, sondern – vor allem bei Wiederholungen – auch einen Blick auf den Beziehungskampf zwischen der Familie und der Gesellschaft zu riskieren. Ebenso ist natürlich auch wiederholte Straffälligkeit als Symptom zu werten. Hier wird darum gekämpft, ob jemand durch angepasste Tätigkeiten und eigenes Organisationstalent sein Überleben sichert oder in der totalen Institution (siehe Goffman 1973) seine Versorgung durch den Staat gewährleistet wird. Pikanterweise wird ja von totalen Institutionen wie Strafanstalten oder psychiatrischen Krankenhäusern tatsächlich die Verantwortung für das Überleben übernommen: Suizid ist dort sicher schwieriger zu begehen als in der freien Wildbahn. Natürlich sind auch Krankheiten, Unfälle, Alkoholismus und andere Drogenabhängigkeit, Obdachlosigkeit etc. als Symptome zu betrachten. Um systemisch denken zu können, ist es von enormer Bedeutsamkeit, die Frage, ob jemand seine Symptome absichtlich, unabsichtlich oder überhaupt nicht herbeigeführt hat, zu unterlassen! Wesentlich ist nur, welche Wirkung sie im Interaktionsspiel hat. Selbst wenn jemandem der berühmte Dachziegel auf den Kopf fällt, muss beachtet werden, ob und wie dieses Geschehen in einem Interaktionszyklus Bedeutung haben kann: Sind vorher schon Dinge geschehen, die etwas mit Selbst-

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schädigung oder Unfällen zu tun haben, und welche Reaktionen werden in der Umgebung ausgelöst? Der Sozialarbeiter wird bei jedem metakommunikativen Ereignis, das mit relativ hohem Energielevel auftritt, das heißt, in irgendeiner Form spektakulär oder emotional intensiv ist, die Ohren spitzen. Tritt das Ereignis zum ersten Mal auf, so kann er sich notfalls mit dem Ohrenspitzen – und einer konventionellen Hilfsaktion – begnügen. Wenn sich allerdings in einer Beziehung bedeutungsmäßig vergleichbare Ereignisse wiederholen, so steht eindeutig fest, dass hier Dysfunktionalität im Gange ist, und die Hilfsaktion kann sich nicht mehr auf die Krisenintervention beschränken, ohne dass damit zu rechnen ist, dass die dysfunktionale Beziehung unverändert bestehen bleibt. Es gibt allerdings Symptome, die so gefährlich sind, dass schon beim ersten Kontakt mit dem Symptom unbedingt herausgefunden werden muss, ob eine permanente Beziehungskrise im Gange ist. Wenn jemand zum Beispiel einen Suizidversuch begeht, so erscheint es ziemlich gefährlich, Wiederholungen abzuwarten; ebenso auch bei unbeabsichtigt erscheinenden Selbstschädigungen wie Unfällen und Krankheiten, bei Mordversuchen oder sonstigen Gewalttätigkeiten. Um festzustellen, ob eine Krise Ausdruck einer permanenten Störung ist, gibt es in etwa die folgenden Möglichkeiten: – Im Allgemeinen eignet sich recht gut eine Anamnese des Symptomträgers, in deren Verlauf nach abgeschwächten und unauffälligeren ähnlichen Abläufen gesucht wird. – Ebenfalls aus der Anamnese kann nach einem Grund für das Anstreben der durch das Symptom erreichbaren Beziehungsform gesucht werden. Hier ist allerdings darauf zu achten, dass als Grund auch Dinge in Frage kommen, die dem Normalsterblichen als eher mickrig im Vergleich zu den Unannehmlichkeiten vorkommen, die der Symptomträger auf sich nimmt. – Die dritte Möglichkeit setzt voraus, dass man annimmt, dass jedes System eine Art Gedächtnis für Beziehungsstrukturen hat und daher mit verschiedenen Beziehungspartnern versucht, ähnliche Beziehungsmuster herzustellen. Dann nämlich kann die Sozialarbeiterin auch die Beziehungsstruktur, zu der sie sich vom Symptomträger veranlasst fühlt, als Wiederholung ansehen und etwa bei jemandem, der ihr lächerlich vorkommt mit seinem »blöden Suizidversuch«, schon mal vorsichtig vermuten, dass der vielleicht mit seinem »blöden Suizidversuch« (und eventuellen weiteren) gegen die Entwertung ankämpft, die er sich als Rückkoppelung dafür einhandelt. Und dann wird es schon ernsthafter. Diese dritte Möglichkeit ist meist die informativste. Man kann sich, auch als Sozialarbeiterin, weitgehend darauf verlassen, dass man mit seinen Spontanreaktionen nicht so weit von der Norm abweicht, dass die Reaktionen, die der Symptomträger bei einem auslöst, untypisch sind. Daher hat man im Allgemeinen im Gesprächsraum schon ein Abbild der gestörten Beziehungsstruktur in Kleinformat und muss es nur noch sehen können. Leider kann man das Kleinbild nur

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erkennen, wenn man ein bisschen heraustreten kann, um die eigenen Gefühle und Reaktionen mit dem Verhalten des Symptomträgers zu einem Puzzle zusammenzusetzen. Das ist aber mit einiger Übung machbar. Ich habe sogar schon auf der Sozialakademie, wo die Übungsmöglichkeiten zeitlich und emotional begrenzt sind, merkliche Erfolge erlebt. Natürlich gelten diese Möglichkeiten auch dann, wenn schon Wiederholungen unter den Auspizien des Sozialarbeiters aufgetreten sind und eine permanente Krise als gesichert angenommen werden kann.

Lösungen: Kalibrierung und Neukalibrierung Nun haben wir auf systemischer Basis entwickelt, was die Leistung von Sozialarbeitern ist, was als Störung zu betrachten ist und wie man sie erkennt. Leider ist das noch zuwenig, denn wir haben ja die Tätigkeit der Sozialarbeiterin dahingehend definiert, dass sie auch eingreift. Und auch das Eingreifen sollte irgendwie definierbar sein. Dazu muss noch ein systemischer Begriff eingeführt werden: die Kalibrierung (siehe dazu Watzlawick et al. 1974). Man nennt ein System dann kalibriert, wenn es einen stabilen Zustand eingenommen hat, das heißt, wenn sich die Abläufe im System wiederholen, ohne dass sich etwas Wesentliches ändert. So hat der Sozialarbeiter im Wesentlichen mit zwei Arten von Systemen zu tun: mit dysfunktional kalibrierten Systemen und mit dysfunktional eskalierenden Systemen. Ein dysfunktionales kalibriertes System ist etwa die Beziehung der Gesellschaft mit einem Obdachlosen, der immer wieder – alkoholisiert oder auch nüchtern – aufgegriffen wird, eine Nacht in der Zelle verbringt, durch die Hilfe des Sozialarbeiters scheinbar eingegliedert und nach einiger Zeit eben wieder als Obdachloser aufgegriffen wird. Es ist offensichtlich, dass dieses System stabil ist, das heißt, dass sich die Abläufe wiederholen, ohne dass sich etwas Wesentliches ändert, und ebenso offensichtlich, dass es dysfunktional ist, das heißt, dass der Obdachlose und die Gesellschaft sich nicht darüber einig sind, wie mit seinem Dasein umgegangen werden soll. Ein dysfunktionales eskalierendes System wäre z. B. die Beziehung der Gesellschaft mit einem eher aggressiven Trunkenbold, der jedes Mal, wenn er etwas anstellt in seiner Trunkenheit, bestraft wird, eingesperrt wird, sich dadurch noch weiter gedemütigt fühlt und im nächsten – schon zwangsläufig folgenden – Rausch, etwas noch Böseres anstellt, was natürlich – schon wegen der Wiederholung – zu einer höheren Strafe und damit zu einer stärkeren Demütigung führt. Die Dysfunktionalität ist auch hier eindeutig erkennbar: Umgebung und Symptomträger sind sich in keiner Weise einig über die Art, miteinander umzugehen, und gehen gerade deswegen immer in der gleichen Weise miteinander um. Was die Eskalation angeht, so bedeutet das nichts anderes, als dass die Beziehung nicht stabil ist, sondern einen wesentlichen Parameter ständig steigert. Auf Dauer gesehen muss man damit rechnen, dass der Trunkenbold zum Totschläger wird bzw.

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irgendwann lebenslänglich auf Art der Gesellschaft versorgt wird: entweder in der Strafanstalt oder in einer psychiatrischen Anstalt. Dann allerdings ist das System wieder stabil und kalibriert. Nun ist die Unterscheidung von stabilen und eskalierenden Systemen für die Sozialarbeiterin nur insofern von Bedeutung, als bei eskalierenden Systemen eine Intervention dringender ist als bei stabilen. In beiden Fällen aber geht es darum, eine stabile Beziehungsform einzuführen, die nicht durch den Beziehungskampf definiert ist. Was der Begriff »Neukalibrierung« besagt, ist jetzt wohl ohne weiteres verständlich: Neukalibrierung ist die Herstellung eines neuen stabilen Zustandes eines Systems, und das Ziel sozialarbeiterischer Intervention ist, eine Neukalibrierung in einem funktionalen, stabilen Zustand zu ermöglichen. Welche Möglichkeiten einer Neukalibrierung für ein dysfunktionales System bestehen im sozialarbeiterischen Bereich? Die erste, schönste und zugleich schwierigste ist eine Umformulierung der Beziehung so, dass sie sich ohne weiteren Einsatz des sozialen Hilfsnetzes funktionaler als vorher stabilisiert: wenn z. B. der Trunkenbold einen Weg findet, seine Selbstsicherheit in akzeptierteren Aktionen als der alkoholisierten Gewalttätigkeiten zu suchen und aufgrund dessen nicht mehr eingesperrt wird, sondern einen Orden für besondere Verdienste um die Republik erhält, oder wenn die Gesellschaft lernt, seine Untaten als Ausdruck seiner Ängste zu verstehen und beginnt, ihm schonender und verständnisvoller entgegenzutreten, was wiederum seinen Taten ein Ende setzen könnte. Die zweite Möglichkeit besteht darin, den Symptomträger in das soziale Hilfsnetz einzubinden, wie das etwa bei alten, allein stehenden Leuten sinnvoll erscheint, die sich nicht mehr selbst versorgen können, oder bei unheilbar Kranken bzw. Behinderten. In diesen Bereich wären aber auch etwa die Vermittlung psychotherapeutischer Hilfestellung oder gerichtlicher Erziehungshilfe einzuordnen, die ja beide in der Durchführung nicht Aufgabe der Sozialarbeiterin sind. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass die Sozialarbeiterin gegebenenfalls auch die Gesellschaft zur Installierung von entsprechenden Einrichtungen bzw. deren Anpassung an die Notwendigkeiten des Symptomträgers (Alter ist auch ein Symptom!) veranlassen wird. Die dritte Möglichkeit ist, dass der Sozialarbeiter selbst die Rolle des sozialen Hilfsnetzes dauerhaft übernimmt, indem er eine stabile Beziehung zum Symptomträger aufrechterhält und durch seinen dauernden Einfluss eine funktionale Beziehung zwischen diesem und der Gesellschaft ermöglicht. Diese Möglichkeit ist mit Vorsicht zu genießen, weil der Sozialarbeiter dadurch langfristig beansprucht wird und die aufgewendete Zeit und Energie für andere Interventionen verloren geht. Die vierte und vorläufig letzte Möglichkeit ist etwas verwaschener: Wenn die Sozialarbeiterin wohl auf eine Lösung im Sinne der erstgenannten Möglichkeit hofft, sich aber außerstande sieht, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Kenntnissen eine solche Lösung in absehbarer Zeit zu erreichen, so kann sie ein Mittelding zwischen erster und dritter Möglichkeit wählen, indem sie einer-

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seits selbst eine relativ stabile Beziehung zum Symptomträger aufbaut, andererseits aber die verfügbaren Mittel dafür einsetzt, dass eine funktionalisierende Entwicklung eher möglich erscheint, und dann eben geduldig hofft, dass mit der Zeit eine Umwandlung in Fall eins oder zwei stattfinden kann. Dies ist wahrscheinlich der häufigste Fall, obwohl auch dieser nicht als optimale Nutzung des sozialarbeiterischen Potentials gesehen werden kann.

Begründung der Sozialarbeit Auf die Frage, was sie meinen, wieso es in unserer Gesellschaft wohl Sozialarbeit gebe, antworten die meisten Leute: Weil es so vielen Menschen schlecht geht und weil es notwendig ist, diesen zu helfen. Ich halte dies nicht für den Grund. Es gibt sehr viele »notwendige« Dinge in unserer Gesellschaft, die nicht passieren, und es gibt auch viele Menschen, die nicht unbedingt solche guten Taten vertreten. Geschichtlich lässt sich die Sozialarbeit aus verschiedenen Richtungen ableiten, angefangen von persönlicher und kirchlicher Barmherzigkeit über das »pädagogische« Anliegen, Menschen zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsprinzipien und/oder zur Lohnarbeit zu motivieren (Müller 1991), bis letzten Endes zu einer verwaschenen Kombination aus beidem, als der – damals noch autoritäre – Staat diese Funktionen weitgehend übernahm. Diese Tradition wurde im Demokratisierungsprozess weitergeführt und ausgebaut und hat den karitativ-pädagogischen Mythos weitgehend aufrechterhalten. Selbst (post-)moderne, konstruktivistische Autoren wie Kleve (1996) vertreten noch einen Ansatz, der Sozialarbeit definiert als ein »Helfen, wo nicht geholfen wird«, also eine eher karitative Auffassung. Diese Auffassung ist allerdings in einer Demokratie unsinnig, setzt sie doch voraus, dass hier eine Klasse der »Normalen« darüber zu entscheiden hat, wie mit den Außenseitern, die dieser Klasse nicht als zugehörig betrachtet werden, umgegangen werden soll. Wir müssen in einem demokratischen Staat eine Definition finden, die der Tatsache gerecht wird, dass der Gesetzgeber von allen Stimmberechtigten gemeinsam gewählt wird und sich daher auch als Vertreter aller Stimmberechtigten – vor Ansehen von Unterschieden – zu verstehen hat. Die Sozialgesetzgebung kann in einer Demokratie nur eine Antwort auf die Frage sein: Wie wollen wir miteinander umgehen, wenn es einem von uns schlecht geht?8 Tatsächlich besteht die Tendenz – und in manchen Sozialstaaten auch die Realität –, soziale Grundrechte, die dem Einzelnen ein Recht auf ein menschenwürdiges Dasein garantieren, in der Verfassung zu verankern. Deutschland ist per Verfassung ein Sozialstaat, daher kann sich der Einzelne auf diese Grundrechte berufen und auch darauf aufbauende Gesetzesinitiativen sind – zumindest theoretisch – durchsetzbar. 8 Siehe dazu auch die Ausführungen über Demokratie in: Maturana und Verden-Zöller (1994, S. 72 ff.).

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Auch in Österreich finden sich zahlreiche einfach-gesetzliche Regelungen, die dem Bürger einen Rechtsanspruch gegenüber dem Staat und damit gegenüber der Gemeinschaft auf soziale Absicherung garantieren. Dazu gehören etwa die verschiedenen Sozialhilfegesetze oder die Pflegegeldgesetze, die eindeutig die Umverteilung von finanziellen Ressourcen an Menschen mit ungewöhnlich großen Belastungen (z. B. Behinderungen, fehlender Zugang zum Arbeitsmarkt etc.) vorschreiben. Auch diese Gesetze sind Folge eines politischen Grundgedankens der gegenseitigen Absicherung eines menschenwürdigen Daseins der einzelnen Mitglieder unserer Gesellschaft. Als Staatsbürger sind wir in diesen »Vertrag« hineingeboren, und auch wenn wir nicht selbst entscheiden konnten, ob wir ihn unterschreiben, so sind wir doch alle Vertragspartner: Einzelne können aus diesem politischen System nicht aussteigen, sie könnten höchstens im Rahmen demokratiepolitischer Willensbildung eine Veränderung versuchen. Die soziale Absicherung aller Mitglieder unserer Gesellschaft ist also Gesetz. Die Mitgliedschaft in unserer Gesellschaft beinhaltet damit eine Art Versicherung: Wir garantieren uns gegenseitig, dass, wenn einer von uns Gefahr läuft, dieses menschenwürdige Dasein nicht mehr führen zu können, wir etwas dagegen unternehmen werden. (Es sei dahingestellt, ob wir nun alle mit diesem »Vertrag« einverstanden sind.) Oder mit Kleve: »Nach diesem Ideal sollen alle Bürgerinnen und Bürger so gleich und frei sein, dass sie potentiell an allen Systemen der Gesellschaft partizipieren können […] Wenn diese Partizipation, die man soziologisch auch als Inklusion bezeichnen kann […], gefährdet oder bereits unmöglich ist, dann tritt Soziale Arbeit auf den Plan« (2007, S. 32 f.). Diese Gefährdung der Partizipation betrachten wir in unserem Ansatz nicht als zufällig entstehendes Faktum, das, wenn einmal entstanden, so bleibt, sondern als ein interaktionelles Phänomen, das sich ständig in der Wechselwirkung der Beteiligten auf beiden Seiten aufrechterhält. Die Exekution dieser Garantie der sozialen Möglichkeiten stößt immer dann auf Schwierigkeiten, wenn – gerade in dysfunktionalen, eskalierenden Beziehungen – das Ausleben einer Gegnerschaft alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Konfliktpartner vergessen dann diese gemeinsame Vereinbarung, ignorieren sie in der Hitze des Gefechts oder fühlen sich unfähig, sie zu erfüllen. Handelt es sich dabei um Einzelpersonen oder kleine Gruppen auf beiden Seiten des Konfliktes, so treten andere Gesetze in Kraft, läuft aber jemand dabei Gefahr, von der Gesellschaft als »Ganzes« abgedrängt zu werden – das heißt, handelt es sich um eine Außenseiterentwicklung –, so ist die Sozialgesetzgebung dafür zuständig, diese Garantie zu realisieren. In einer hoch entwickelten Gesellschaft mit hoch spezialisierter Funktionsteilung erscheint es nun durchaus sinnvoll, für die Lösung solcher Konflikte, in denen das Grundrecht auf menschenwürdiges Dasein Einzelner oder kleiner Subgruppen gefährdet ist, Fachleute auszubilden und im Rahmen entsprechender Institutionen einzusetzen. Diese Fachleute sind die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.

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Der Auftrag der Gesellschaft an die Sozialarbeit heißt: »Wenn wir in sozialen Auseinandersetzungen Personen oder Personengruppen, die unserer Gesellschaft angehören, zu sehr an den Rand drängen, dann sorge du dafür, dass diese Auseinandersetzungen wieder in humane Bahnen geraten!« Dies ist die – unserer Meinung nach einzig sinnvolle – Definition von Sozialarbeit in einer Gesellschaft, in der formal gesehen alle Beteiligten gleiche Rechte und Pflichten haben. Die Gleichheit gilt vor Ansehen der faktischen Unterschiede, die Sozialarbeit hat bei Entstehen zu großer Unterschiede bzw. eskalierender Außenseiterentwicklungen einzugreifen. Herwig-Lempp hat in seinem Artikel »Von der Familientherapie zur Systemischen Sozialarbeit« (2002) die Erweiterung des Blickwinkels von der Einzelpsychotherapie bis hin zur Familientherapie gezeigt. Sein Schritt zur sozialen Arbeit – »Der Unterschied zwischen Therapie und Sozialarbeit ist allerdings, dass es die Soziale Arbeit letztlich häufig nicht nur mit mehr beteiligten Personen, sondern auch noch mit weiteren Professionen und Institutionen und ihren jeweiligen Sichtweisen, also Konzepten und Theorien zu hat« (Herwig-Lempp 2002, S. 78) – ist aber ein anderer als unserer: Wir haben schon 1988 das Interaktionssystem, das die Familientherapeuten vom Einzelnen über die Familie bis zum »Problemsystem« erweitert hatten, noch einmal erweitert. Wir nehmen nun also die gesellschaftliche Struktur um die »indizierten Klienten« herum (inklusiver dieser selbst) als Klientensystem, dem wir die Zirkularität und die autopoietische Selbsterhaltung zuschreiben und mit dem wir arbeiten. Natürlich sind dann auch die Helfer Teil des Systems sowie die von Herwig-Lempp genannten weiteren Professionen. Der Auftraggeber muss folglich grundsätzlich die Gesellschaft sein, über welche Umwege auch immer der Auftrag realisiert wird. Es erscheint mir nicht nützlich, sondern eher verschleiernd, den Begriff »Auftraggeber« für Fallbringer, indizierte Klienten oder sonst jemanden noch einmal zu vergeben, wie dies etwa bei Ritscher (2005, S. 183 f.) der Fall ist. Ist es doch Sache der Sozialarbeiterin, zu entscheiden, ob eine Situation ein Eingreifen erfordert und in welche Richtung der Eingriff am sinnvollsten, das heißt am erfolgversprechendsten ist. Dies kann sie nur im Auftrag der Gemeinschaft tun, denn andernfalls wäre sie automatisch Vertreterin irgendeiner Partei des Konfliktes. Es ist denn auch die Gemeinschaft, die sinnvollerweise die Sozialarbeit finanziert, wenn auch die Politik und die Verwaltung als notwendige Steuerungsmechanismen zwischengeschaltet sind. Und natürlich ist es – wenn dieser »Vertrag« gilt – Sache aller am Gesellschaftsvertrag Beteiligten, die Ausbildung solcher Spezialisten und ihren Einsatz in ausreichendem Maße zu gewährleisten. Das heißt, diese Ausbildung und dieser Einsatz sind von Steuergeldern zu bezahlen, soweit die Sicherung des Gesellschaftsvertrages nicht auf andere Weise gewährleistet ist. Darüber hinaus ist, wie es auch bei Herwig-Lempp (2005) zu finden ist, davon auszugehen, dass diese Fachleute für soziale Probleme tatsächlich Fachleute sind und daher auch die Autoritäten auf diesem Gebiet. Kein Jurist, kein Arzt und kein Psychotherapeut, ja, auch kein Politiker oder Verwaltungsbeamter, kann ihnen

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Anweisungen geben, wie soziale Probleme zu lösen sind. Diese alle können, selbst wenn sie Vorgesetzte sind, den Fachleuten nur die anstehenden Probleme vorlegen. Die Lösungen hat die Sozialarbeit zu entwickeln. Es erscheint mir wesentlich, darauf hinzuweisen, dass dadurch zumindest kommunale Sozialarbeit nichts mit Almosen zu tun hat und auch nichts mit Parteinahme für die Schwachen. Es ist die Realisierung eines Vertrages zwischen allen Beteiligten, der immer schon – vor Ansehen einer Kräfteverteilung und unabhängig von dieser – geschlossen ist. Im realen Konfliktfall gibt es dabei eine starke und eine schwache Seite, aufgrund des Vertrages haben aber dabei beide Seiten gleich starkes Recht auf Lösung und Mitbestimmung bei der Art der Lösung des Konfliktes. Zunächst davon abzugrenzen ist daher die karitative Hilfe wie die von kirchlichen Einrichtungen und privaten bzw. aus Spendengeldern finanzierten Hilfsaktionen. Wie weit aus karitativem Bereich heraus eine systemisch sinnvolle Sozialarbeit verwirklichbar ist, wäre eigens zu diskutieren. Denkbar wäre natürlich, dass solche Hilfe sich selbst freiwillig der Integration verpflichtet. Das ist aber nur möglich, wenn auch sie sich nicht den »Armen«, sondern dem dahinterstehenden Konflikt widmet. Die Sozialarbeit braucht keine zusätzliche Rechtfertigung. Sie müsste, sollte dieses Recht auf menschenwürdiges Dasein für alle abgeschafft werden, völlig neu definiert werden. Der Mythos, dass die »Armen« eine eigene Kategorie bilden, die nicht den gleichen Rechten unterliegt wie die »Nicht-Armen«, und dass zweitere daher nur aus Edelmut helfen, ist in einer demokratischen Gesellschaft mit humanistischer Ideologie nicht haltbar. Natürlich kann das nicht heißen, dass eine Stärkung und Unterstützung der jeweils »Schwachen«, wie es etwa bei der oftmals einseitig unterstützenden Frauenarbeit oder in der politisch aktivierenden Entwicklungshilfe geschieht, grundsätzlich falsch ist. Ein Konflikt kann seine Qualität und damit seine Lösbarkeit durchaus auch ändern, wenn das Kräfteverhältnis sich ändert. Das ändert aber nichts daran, dass es aus professioneller Sicht wesentlich ist, dass die Beraterin das Ganze – das heißt in dem Fall den Konflikt – im Auge behält. Insbesondere hat der systemtheoretische Ansatz für die Soziologie von Niklas Luhmann (1984) einen weiten Kreis von Versuchen hervorgebracht, diesen auch auf die Sozialarbeit anzuwenden (siehe dazu etwa Lüssi 1991, Kleve 1996, Hosemann und Geiling 2005). Diese Modelle haben aber einen Nachteil. Das Prinzip der Autopoiese, das durchaus auch von mir vertreten wird, führt in ernsthafte Schwierigkeiten, wenn Systeme so definiert werden, dass die Sozialarbeiterin gezielt von außen in fremde Systeme eingreifen muss. Wird etwa bei Kleve Sozialarbeit eindeutig so definiert, dass Personen oder Familien geholfen werden muss, ebenso wie auch Eugster (2000) Sozialarbeit definiert als »Helfen, wo nicht geholfen wird«, so ergibt sich aus unserer Definition des Sozialfalles als dysfunktionale Konfliktbeziehung, dass die Sozialarbeit nur mit dieser Beziehung zu tun hat, ja, dass sie selbst zum Mitspieler in dieser Beziehung wird und Handlungsanleitungen zur Veränderung der Dysfunktionalität ergeben sich aus dieser Sichtweise.

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In dieser Hinsicht unterscheidet sich das systemische Denkmodell für soziale Berufe von anderen: – Soziale Schwierigkeiten werden grundsätzlich als dysfunktionale Muster zwischen kleinen sozialen Einheiten und ihrem Umfeld aufgefasst. – Die Bewältigung eines sozialen Problems ist immer die Lösung eines solchen dysfunktionalen Musters. – Die Sozialarbeit(erin) kann immer nur als Teilnehmer des zu bewältigenden dysfunktionalen Musters handeln. Alle Überlegungen in diesem Buch gehen von diesem Basismodell aus bzw. sind unter diesem Gesichtspunkt zu verstehen. Die »Beschreibung des Gegenstandes der Sozialarbeit« von Ritscher (2005, S. 160 ff.) ist eine gute Auflistung der betroffenen Handlungsbereiche.

Methodik

Wenn auch für die Sozialarbeit ebenso wie für andere Bereiche der systemische Grundsatz der Autopoiese gilt, nämlich, dass in autopoietische Systeme nicht gezielt eingegriffen werden kann (siehe dazu vor allem Kleve 2007, S. 77 ff.), so darf nicht übersehen werden, dass in der bisherigen Beschreibung von sozialen Problemsituationen die Entstehung und Aufrechterhaltung von dysfunktionalen Beziehungen dargestellt wurden, die sich durchaus in relativ vorhersagbarer Weise und – im Sinne von Foersters (von Foerster und Pörksen 1998) – ziemlich trivial verhalten. Nicht möglich ist die Steuerung des Ergebnisses einer Intervention, wohl aber die Unterscheidung, welche Interventionen Änderungen in ein dysfunktionales System einführen können und welche eher eine Fortführung des dysfunktionalen Ablaufes bewirken werden. Der Unterschied zu Kleves Auffassung liegt hier im Wesentlichen darin, dass er davon spricht, dass etwa das Verhalten psychischer Systeme nicht gesteuert werden kann, ich aber diesen Versuch gar nicht erst ins Auge fasse, sondern das eigene Verhalten als Teil des Systems verstehe, dessen Änderung somit als Veränderung im System betrachtet wird. Anders ausgedrückt: Wir versuchen nicht, auf das Verhalten anderer Einfluss zu nehmen, sondern wir zeigen selbst verändertes Verhalten und stellen damit selbst die Veränderung des Systems dar, was normalerweise zu weiteren Systemveränderungen führt.

Die Haltung des Sozialarbeiters

»Meine Diagnose einer Familie in Not ist – so komplex ihr Vorliegen klingen mag – eine Verkrüppelung des Zugangs zu ihrer potentiellen Komplexität. Das heißt, sie sind in ihrem eigenen zu engen stabilen Eigen-Verhalten gefangen und suchen verzweifelt einen Ausweg: sie leiden unter einer psychischen Klaustrophobie. Mein therapeutischer Vorschlag ist daher nicht Reduktion, sondern Expansion der Komplexität. Als Medikation verschreibe ich daher eine Pille, die ich schon früher einmal verschrieben hatte. Ich nannte sie damals den ethischen Imperativ: ›Handle stets so, daß Du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst!‹« (von Foerster in: Simon 1988, S. 33). Über dieses wunderschöne Zitat hinaus möchte ich noch einmal an den Gedanken erinnern, den schon Bateson (1985) deutlich gemacht hat: dass Verhalten, das von einem Standpunkt als sinnlos, skurill, unfähig, unpassend oder eingeschränkt erscheint, von einem anderen Standpunkt aus Sinn hat: Dann nämlich, wenn man den Zusammenhang, die Wechselwirkungen, versteht, innerhalb derer es stattfindet. Man wird also die oben zitierte »Familie in Not«, nicht als unfähig sehen können, sondern höchstens als verwickelt in ein Interaktionssystem, das bestimmte Verhaltensweisen notwendig macht. Da wir in der systemischen Arbeit keine Regeln für Gesprächsführung geben können – es geht ja nicht darum, Regeln einzuhalten, sondern darum, wirksam zu sein –, kommt der systemischen Haltung und Weltanschauung besondere Bedeutung zu. Es wird sich zeigen, dass die vielzitierten sieben Grundsätze Biesteks (1968/1977, S. 28) kaum in Frage stehen. Ich werde allerdings einige neue Aspekte der Wirksamkeit deutlich machen.

Die systemische Werthaltung Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass dysfunktionale Beziehungen Aufmerksamkeit und Energien an sich ziehen, die dadurch anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Das hat zur Folge, dass das System für den offenen Umgang mit Mängeln, die seine Aufrechterhaltung behindern, wenig, ja im Extremfall keine Reserven zur Verfügung hat. Soll die Aufmerksamkeit für Notwendiges und neue Möglichkeiten verfügbar sein, so dürfen Beziehungskämpfe nicht dauerhaft werden. Daher ist die Basis der systemischen Werthaltung: Dauerhafte Beziehungskämpfe, das heißt, dysfunktionale Beziehungen sind schädlich. Egal, ob wir sie zwischen einzelnen Klientinnen vorfinden, zwischen Klientensystemen und der übrigen Gesellschaft oder

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zwischen Klientensystem und uns selbst – sie verhindern den Blick auf den Rest des Daseins. Übung 7 Suchen Sie sich einen Partner. Drücken Sie Ihre Faust gegen seine. Jetzt versuchen Sie beide, sich durchzusetzen. Versuchen Sie, gleichzeitig offen zu sein für die Dinge, die um Sie herum geschehen. Wenn Sie die Aufgabe, sich durchzusetzen, ernst nehmen, ist es unmöglich, sich noch um irgendetwas anderes zu kümmern. Nehmen Sie bitte auch wahr, wie fast selbstverständlich wir beginnen, gegen die andere Faust zu drücken.

Parteilichkeit, wie sie unter anderem von Pfeifer-Schaupp (2002, S. 24) gefordert wird, scheint uns hingegen nur in Ausnahmefällen sinnvoll, dann nämlich, wenn auf diese Weise Teufelskreise zu durchbrechen sind. Parteilichkeit kann ebenso in bestimmten Fällen zur Verfestigung von dysfunktionalen Mustern beitragen wie jedes andere Verhalten. Allerdings wird sich in den meisten Fällen, die PfeiferSchaupp als Beispiele für die Notwendigkeit von Parteilichkeit zitiert, ein Teufelskreis finden lassen, der die nicht mehr akzeptable Ungleichheit verursacht und daher auch in unserem Sinne behandlungswürdig ist.

Die negative Zuschreibung Dysfunktionale Beziehungen bestehen darin, dass beide Parteien mit der vom anderen vorgeschlagenen Beziehungsdefinition nicht einverstanden sind. Sie leben davon, dass von beiden Seiten gesagt wird: »So nicht!« (Abbildung 19). Das bedeutet jeweils eine Abwertung, eine Verurteilung, eine Ablehnung der Haltung des anderen. Anders ausgedrückt: Dem jeweils anderen wird eine negative Zuschreibung vermittelt. Wo diese Ablehnung nicht S o nicht! stattfindet, kann keine dysfunktionale Beziehung entstehen: Dysfunktionale Beziehungen bestehen immer in gegenseitiger negativer Zuschreibung. Und diese dysfunktionalen Beziehungen sind das, was das Leben schwer, über das normale Maß Abbildung 19: Die dysfunktionale hinaus leidvoll und gefährlich macht. Beziehung

B

A

S o nich t!

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Die Paradoxie der Bekämpfung dysfunktionaler Beziehungen Sollen wir nun also dysfunktionale Beziehungen bekämpfen? Das ist Variante 1: Wir könnten ja einfach sagen: »Hört auf!«. Dann könnten die beiden Parteien aufhören und unsere Aufgabe wäre erledigt.

Übung 8 Bitten Sie eine Partnerin, einen Stift in die Hand zu nehmen und sich hinter Sie zu stellen. Dann stellen Sie sich vor, dieser Stift dürfe Sie auf keinen Fall berühren. Ihr Leben hänge davon ab, dass Sie nicht mit dem Stift in Kontakt kommen. Beobachten Sie, was mit Ihrer Aufmerksamkeit geschieht: Es gibt keine Möglichkeit mehr, sich mit etwas anderem als mit dem Stift zu beschäftigen!

In manchen Fällen funktioniert das auch. Dann ist es die Methode der Wahl. Leider ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir als Sozialarbeiterinnen mit dysfunktionalen Systemen konfrontiert werden, die man mit diesem schönen Satz beeinflussen kann: Systeme, die auf diese Weise zu verstören sind, brauchen keinen Sozialarbeiter, denn »Hört auf!« sagen viele Leute. Wenn das »Hört auf!« funktioniert, landen die Menschen normalerweise nicht bei der Sozialarbeiterin. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass ein »Hört auf!«, wenn es nicht sehr differenziert verstanden wird, eine Verengung des Handlungsspielraumes bedeutet. Es gibt dann kein Angebot, was man noch tun könnte, sondern eine Einschränkung, es bedeutet: »Tut auch dies nicht!«. Es bedeutet eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten, ja, eventuell sogar eine Fixierung der Aufmerksamkeit auf den Konflikt: Er soll aufhören! Darüber hinaus enthält natürlich das »Hört auf!« wiederum eine negative Zuschreibung, lässt sich also als »So nicht!« verstehen. Wenn die Kampfpartner der Meinung sind, dass ihr Anliegen gefährdet ist, wenn sie aufhören, dann werden sie natürlich nicht aufhören wollen bzw. können. Damit würden wir selbst einen neuen, zusätzlichen Teufelskreis schaffen (Abbildung 20). Wir sind in einer »pragmatischen Paradoxie« gefangen: n ich t! ß uns! Wollen wir die dysfunktioLa So nale Beziehung nicht ändern, besteht sie weiter. Wollen wir die dysfunktionale Beziehung ändern, so besteht sie erst recht weiter, ja, wir schaffen sogar noch eine zusätzliche. Abbildung 20: Der »Hört-auf!«-Helfer

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r a uf!

A

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n i ch t !

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Die Lösung: Umbewertung Eines Abends, als Shichiri Kojun dabei war, Sutras zu rezitieren, drang ein Dieb mit einem scharfen Schwert bei ihm ein und forderte Geld oder Leben. Shichiri sagte zu ihm: »Störe mich nicht. Du kannst das Geld in dieser Lade finden.« Dann fuhr er mit seiner Rezitation fort. Kurz darauf unterbrach er sich und rief: »Nimm nicht alles. Ich brauche noch etwas, um morgen Rechnungen zu bezahlen.« Der Eindringling nahm den größten Teil des Geldes an sich und wandte sich zum Gehen. »Bedanke dich, wenn du ein Geschenk erhältst«, sagte Shichiri. Der Mann dankte ihm und machte sich davon. Einige Tage später wurde der Bursche gefangen genommen und gestand unter anderem den Überfall auf Shichiri. Als Shichiri in den Zeugenstand gerufen wurde, sagte er: »Dieser Mann hat nichts gestohlen, wenigstens mir nicht. Ich gab ihm das Geld, und er bedankte sich dafür.« Nachdem der Mann die Strafe im Gefängnis abgesessen hatte, ging er zu Shichiri und wurde sein Schüler (Reps 1976, S. 60 f.).

Nun gilt es also, eine Lösung für unser eigenes Problem zu finden. Das erscheint mir schon als ein wesentlicher Fortschritt. Es ist uns gelungen, den Blick von der Schlange abzuwenden. Und dann ist es vielleicht auch nicht mehr so schwierig. Wir müssen den Rahmen sprengen. Wir haben eine dysfunktionale Beziehung entdeckt. Wir werden etwas damit machen. Alle Leute bisher haben entweder Partei ergriffen oder gesagt: »Hört auf!«. Was könnten wir tun, das weder das eine noch das andere ist? Wie wäre es wohl, wenn wir sagen: »Macht weiter!« und: »Es ist ganz wichtig, dass dieser Zweikampf entschieden wird!« oder: »Nur durch einen Zweikampf ist es möglich, zu einer Entscheidung zu kommen, wer von euch beiden recht hat!« Das wäre Variante 2. Auch das funktioniert in manchen Fällen. Einen Versuch ist es wert. Aber es klingt sehr nach Arena: Wir sind Zuschauer bei einem Fußballspiel. Da geht es auch nicht nur darum, wer gewinnt, sondern auch darum, dass uns ein schönes Schauspiel geboten wird. Wenn Kampfsysteme durch diese Intervention beendet werden, ist es gut. Aber es gibt viele Menschen, die gerne bei Zweikämpfen zusehen, und die Kämpfe hören deshalb nicht auf. Es gibt viele Kampfsysteme, die auf Anfeuern mit Weitermachen reagieren. Neue Möglichkeiten werden damit noch nicht eingeführt, und wenn sie nicht von den Parteien von selbst gesehen werden, sind sie eben nicht vorhanden. Mein Vorschlag daher für all die Fälle, wo weder Variante 1 noch Variante 2 funktioniert: Wir begeben uns aus dem Rahmen. Wir haben den Konflikt erkannt. Wir halten sozusagen an dem Raum fest, wo er stattfindet, beschäftigen uns aber nicht mehr mit der Frage: »Dysfunktionale Beziehung oder nicht?«, sondern mit etwas anderem. Das wäre Variante 3: Es muss andere Dinge zu lösen geben als Konflikt oder Nicht-Konflikt: »Mit der systemischen Beobachtungstheorie ist sichtbar geworden, dass Systeme sich

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in ihrer Umwelt orientieren über ein eigenes Modell der System-Umwelt-Differenz. Dieses Modell kann zur Veränderung angeregt werden durch Unterschiede in der Umwelt eines jeweiligen Systems« (Kleve 2007, S. 89). Was könnte das sein? Jede Situationsbeschreibung ist nützlich, die nicht ins Schema passt: Die kein – offenes oder verstecktes – »So nicht!« enthält, kein »Hört auf!«, keine Abwertung. Jede Lösung ist erlaubt, die kompromisslos aufwertet, und zwar alle Beteiligten. Die Via regia ist die Umbewertung. Finden Sie den Standpunkt, von dem aus alle Handlungen, die stattfinden, ehrbar sind, vernünftig und wichtig. Entfliehen Sie Ihrem Wertsystem, wandern Sie durch fremde Welten, in denen ganz andere Zusammenhänge gelten, in denen anderes »angesehen« ist als bei uns, suchen Sie nach Bedingungen, unter denen das Getane getan werden musste. Die Beteiligten benehmen sich unmöglich? Warum nehmen sie es – als liebevolle, ehrbare, vernünftige und entscheidungsfähige Wesen – auf sich, »unmöglich« zu erscheinen? Das muss doch einen Grund haben! Kein Mensch macht sich ohne guten Grund mehr Schwierigkeiten als notwendig. Die »Sozialdebilität« (Lüssi 1991) ist keine Krankheit, sie ist ein Missverständnis, ein Etikett, das diejenigen verleihen, die nicht verstehen. Menschen kämpfen für ihre Ehre, für ihr Selbstbild, für die Ehre der Familie, um ihre Lieben zu retten, und weiß Gott was noch alles. Finden Sie eine Antwort auf die Frage: Unter welchen Bedingungen könnte ein vernünftiger, ehrenwerter, liebevoller und entscheidungsfähiger Mensch sich entscheiden, auf sein Image in der Öffentlichkeit zu verzichten, in Kauf zu nehmen, dass er abgelehnt, verurteilt, nicht ernst genommen, entwertet wird? Wenn die Personen, mit denen Sie zu arbeiten haben, Ihnen auf die Nerven gehen, Sie aggressiv oder wütend machen: Nehmen Sie an, sie könnten auch anders (sonst sind sie nämlich psychisch krank, und das ist auch eine Entwertung). Dann bleibt nur noch die Frage, ob ihnen das Spaß macht (dann sind sie böse, und das ist auch eine Entwertung) oder ob sie ein Anliegen haben, eine Notwendigkeit, ein Problem, das nur auf diese Weise lösbar scheint. Und nur die Entscheidung zu dieser Hypothese erkennt den Menschen an, respektiert ihn und mutet ihm die Fähigkeit zur Selbstverantwortung zu. Denken Sie auch daran, wie es jemandem geht, der immer wieder erlebt, dass er den anderen nur auf die Nerven geht, dass man auf ihn immer wieder nur aggressiv oder wütend reagiert, und wie Sie an seiner Stelle sich verhalten würden. Und wenn Sie keine Erklärung finden, die dieser Hypothese entspricht, dann haben Sie sie eben noch nicht gefunden. Manchmal fehlt Zeit, fehlen Informationen, kommen wir aus unserer eigenen Befangenheit nicht heraus. Dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir (noch) nicht mit dem Klientensystem kooperieren können. Das liegt aber nicht daran, dass dort jemand »falsch« ist, sondern daran, dass wir noch nicht »verstanden« haben. Wenn wir aber eine solche Beschreibung finden, und es uns auch noch gelingt, sie zu vermitteln, dann sind wir aus dem Teufelskreis heraus: Die Entwertung zieht nicht mehr, niemand kann sich mehr in Frage gestellt fühlen und neue Möglichkeiten können gesucht werden. Sie werden sehen: Eine neue Welt hat sich

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aufgetan, und Ihr Ärger ist zumindest stark gedämpft. Vielleicht wird sogar Respekt daraus? Was ist der Effekt dieser Haltung, wenn sie gelingt? Es gibt keine Möglichkeit mehr, nicht mit Ihnen zu kooperieren, keine Möglichkeit mehr des Widerstandes gegen Sie. Alle Betroffenen können nur mehr Dinge tun, die Sie gutheißen, können sich nicht mehr als unfähig betrachten, außer in einer fähigen, eigenverantwortlichen Entscheidung: Dann ist es eine kluge Strategie, sich als unfähig zu betrachten. Eine Klientin von mir erschien mir lange Zeit als nicht bereit, wirklich an ihren Problemen zu arbeiten. Es gelang mir immer wieder nur vorübergehend und mit Mühe, sie dazu zu bringen, ein Ziel zu definieren oder Zusammenhänge mit mir anders zu verstehen. Trotzdem konnte ich immerhin erfahren, dass sie schon als Kind Menschen auf sich aufmerksam gemacht hatte in einer Weise, die in ihrer Intensität und Absurdität dazu führten, dass alle versuchten, sie davon abzubringen. Sie war nicht so unklug, sich meinen Bemühungen gänzlich zu verweigern. Aber schon im übernächsten Moment war sie wieder bei ihrem »hysterischen« Jammern. Darüber hinaus diskutierte sie mit mir in jeder Stunde, ob sie nicht öfter zu mir kommen könne (normalerweise arbeite ich in Abständen von ca. 4 Wochen mit meinen Klienten). Nachdem sie das nicht erreichte, begann sie mir zwischendurch häufig zu schreiben. Es dauerte einige Zeit, bis ich meinen Fehler erkannt hatte: Das, was ich ihr anbot, war nicht das, was sie für notwendig hielt. Ich war für sie eigentlich genauso borniert und abwehrend wie alle, mit denen sie in früheren Zeiten versucht hatte zu reden. Dabei hatte ich noch nicht einmal ihr Anliegen verstanden. Es fiel mir nicht leicht, meinen Weg umzukehren und die Steuerung ihr zu übergeben, damit sie einen Ansatzpunkt finden könnte, um mir zu vermitteln, worum es ihr ging. Aber nach einiger Zeit wurden die Gespräche konstruktiver und ich begann zu verstehen, was sie beschäftigte.

Diagnostik und Fallanalyse

Der Systemiker kann – als Konstruktivist – natürlich nicht sagen, was in irgendeiner Situation »wirklich« der Fall ist. Wir behaupten sogar, dass das gar nicht nötig ist. Alles was wir brauchen, ist eine Beschreibung, die »passt« und eine »Türe« hat (de Shazer 1989a). »Passen« muss die Beschreibung insofern, als die mit der Beschreibung Befassten sie auf die Situation beziehen können müssen. Eine analytische Deutung der Herkunft eines Problems kann ebenso auf eine Situation bezogen werden wie die Erzählung einer Geschichte, die ich mit meiner Großtante erlebt habe, eine graphische Darstellung der Interaktionen oder ein Vergleich der Situation mit der Pflege eines Autos. Der Begriff »Türe« steht hier für den möglichen Ausweg. Eine Beschreibung, die beinhaltet, dass keine Änderung möglich ist, zementiert eine Situation, während eine Beschreibung mit impliziten oder expliziten Änderungsmöglichkeiten diese Möglichkeiten auch in das System einführt. Die »Wahrheit« gibt es nicht, wir werfen unser Netz aus Annahmen aus, und wenn wir etwas damit fangen, dann war es ein gutes Netz. Ein solches Netz allgemeiner Art haben wir mit dem systemischen Paradigma der zirkulären Prozesse eingeführt. Als beste Hilfe, um ein Verhalten oder eine Sichtweise einzuführen, die nicht in den zirkulären Prozess der Selbsterhaltung eines Problems passt, erweist sich die Reduktion dieses Prozesses auf wesentliche Elemente: Wir suchen einen Kreislauf, in dem sich zwei Verhaltensweisen bzw. analoge Aussagen gegenseitig bewirken. Wenn wir selbst immer Mitbeteiligte am System sind und damit mitwirkend am Aufrechterhalten des Problems, dann gibt es natürlich immer auch einen solchen Kreislauf zwischen uns und dem beratenen System, solange keine Bewegung in Richtung Änderung eintritt. Wir versuchen, Änderung einzuführen, das beratene System hingegen stagniert oder entwickelt sich jedenfalls nicht in Richtung Problemlösung. Es sagt uns also: Deine Versuche sind nicht die richtigen (Abbildung 21). Wenn wir uns in einer solchen Position befinden, dann brauchen wir uns nur noch »ungewöhnlich« verhalten und das System wird sich ändern. Diese Beschreibung ist also praktisch für uns als Helferinnen. Sie eicht noch nicht! Es r ist sogar sehr praktisch, weil Klientensie beinhaltet, dass, wenn es Helfer System nicht klappt, wir nur nicht an der richtigen Stelle ungewöhnlich waren und einfach Abbildung 21: Die ungeklärte Helferbeziehung weiter versuchen können. Ich

bem ühe mich!

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So ist etwa auch die (dem Klientensystem plausibel gemachte) Behauptung, eine Situation sei im Moment nicht änderbar, solch ein »ungewöhnliches« Verhalten: Sie kann entweder als Herausforderung aufgefasst werden (dann ist sie eine »passende« Beschreibung mit einer versteckten »Türe«), oder sie bewirkt, dass die Beteiligten ihre ständigen Versuche aufgeben, etwas auf ihre Art zu ändern, was sehr oft eine wesentliche Änderung im System darstellt (natürlich nur, wenn bisher versucht worden war, etwas zu ändern), ist also auch eine »passende« Beschreibung mit einer versteckten »Türe«. Auf jeden Fall kann sie nicht in ein System passen, das uns sagen will: Ändere etwas! Sehr erfolgreich haben sich hier zwei Formen erwiesen, die noch genauer erklärt werden: – Der Nachweis, dass ein Konflikt zwischen den Beteiligten auf bestimmte Rahmenbedingungen zurückzuführen ist und es nicht in der Macht der Beteiligten steht, das zu ändern. Sie können nur lernen, sich damit abzufinden. Der Effekt ist meist, dass die Personen den Konflikt nicht mehr als persönlichen Angriff auffassen und daher auch nicht mehr aggressiv reagieren, so dass sie die wirklich vorhandenen Konfliktstoffe miteinander bewältigen können. – Die Rückführung einer Unfähigkeit auf eine unbewältigte Verlustsituation: Wer einen Verlust noch nicht bewältigt hat, braucht erst Zeit für diese Bewältigung und kann daher keine Energie für sonstige Dinge haben. Hier wird gleichzeitig implizit sowohl die Unfähigkeit der Betroffenen in Frage gestellt als auch der Druck, man müsse sofort eine Lösung finden (oder gar schon gefunden haben), beseitigt. Häufig löst man durch diese Beschreibung Reaktionen von Trauer und Wut über den Verlust aus, die später in neue, zielführende Aktivitäten der Betroffenen münden.

Das Erkennen von Mustern

Wenn wir unsere Arbeit – wie vorgeschlagen – auf das Durchbrechen von dysfunktionalen Interaktionsmustern konzentrieren, das heißt: – wenn wir davon ausgehen, dass ein soziales System genau dann befriedigend funktioniert, wenn nicht der größte Teil der Aufmerksamkeit und Energie auf einen Konflikt konzentriert ist, in dem sich zwei (oder mehrere) »So-Nicht«Mitteilungen gegenseitig bedingen; – wenn wir weiters davon ausgehen, dass es möglich ist, solche sich selbst erhaltenden Konflikte gerade aufgrund ihrer Regelhaftigkeit zu durchbrechen, dann erscheint es sinnvoll, solche Konfliktmuster aufzuspüren und deren Regeln zu erkennen. Das ist im Prinzip einfach. Da die Konflikte Aufmerksamkeit und Energie auf sich konzentrieren, sind sie leicht zu erkennen. Es gibt nur zwei Dinge, die uns Schwierigkeiten machen können: – Das »Rauschen«, das heißt, der Überschuss an zusätzlicher Information, die nicht direkt an dem Muster beteiligt ist: Es ist häufig schwierig, auf einer Tanzfläche, die voll von Menschen ist, soviel Überblick zu bewahren, dass wir den Punkt finden, an dem die Konfliktpartner ihre Auseinandersetzung austragen. Es gibt hier eine Bewegung, die unsere Aufmerksamkeit beansprucht, und dort jemanden, der uns anspricht. – Unsere eigene Verwicklung. Da wir auch Menschen sind, geraten auch wir – aufgrund unserer Vorlieben, Werte und Bedürfnisse – leicht in solche Konflikte, die uns dann dazu veranlassen, unsere Aufmerksamkeit auf einen »Gegner« zu konzentrieren, auf etwas, das unbedingt behoben werden muss. In diesem Moment verwechseln wir unseren Kampfgeist mit unserer Arbeit. Diese beiden Störfaktoren herauszufiltern, erfordert Sensibilität, offene Aufmerksamkeit und Übung. Die folgenden Regeln können dabei vielleicht eine Hilfe sein. Woran erkennt man Interaktionsmuster? Machen wir uns noch einmal klar, was der Begriff bedeutet. Es geht – um Wiederholungen eines Interaktionsablaufs. »Wiederholungen« bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass alles Beobachtbare sich wiederholt, sondern nur bestimmte Verhaltenselemente, die anhand verschiedener Inhalte auftreten können, die sich steigern können oder gleich bleiben; – darum, dass zwei oder mehrere Handlungen sich gegenseitig verursachen, sich gegenseitig aufschaukeln, dass die eine auf die andere folgt wie die andere auf die eine; – darum, dass Interaktionsspiele stattfinden, deren Regeln man feststellen kann; – um Vorhersagbarkeit von Verhalten bzw. Interaktionen.

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Wir verwenden in unserem Lehrgang für Systemische Sozialarbeit gerne ein Rollenspiel, um dieses Prinzip deutlich zu machen: Eine Familie (Mutter, Vater und Tochter) sitzt beim Tisch und bespricht irgendein Thema, z. B. den nächsten Sommerurlaub, wann die Tochter heute Abend zu Hause sein muss oder Ähnliches. Außer diesem Thema gibt es nur die folgenden Rollenanweisungen: An den Vater: Sie lassen nicht zu, dass Ihre Tochter sich nicht benimmt. An die Mutter: Sie lassen nicht zu, dass Ihr Mann an der Tochter herumnörgelt. An die Tochter: Sie lassen nicht zu, dass die Eltern streiten. Wenn diese Anweisungen eingehalten werden, so kommt es fast unweigerlich früher oder später zu einem heftigen Streit zwischen den Dreien, der ein Ergebnis der Besprechung unmöglich macht. Denn sobald eine der drei Personen auch nur den geringsten Anlass gibt, greift die nächste ein und aktiviert damit die dritte, was den Kreis schließt. Es ist dabei egal, wer die erste Bewegung macht: Sobald die Tochter sich gegen irgendetwas wehrt, muss der Vater eingreifen. Sobald der Vater etwas gegen die Tochter sagt, muss die Mutter eingreifen. Sobald die Mutter den Vater kritisiert, muss die Tochter eingreifen.

Es gibt zwei Kategorien solcher Wiederholungen: Die Vorhersagbarkeit kann sich beziehen auf einen Ablauf, der ununterbrochen stattfindet, wie im beschriebenen Rollenspiel, sie kann sich aber auch darauf beziehen, dass ein bestimmter Ablauf anlassbezogen immer wieder ähnlich stattfindet. Zur Analyse von Interaktionsmustern bieten sich drei Hauptwege an: 1. Der klassische Vorläufer der Beobachtung von Wiederholungen findet sich in Freuds Modell von Übertragung und Gegenübertragung. Wenn der Analysand auf die Analytikerin in einer solchen Weise reagiert (z. B. aggressiv), dass die Analytikerin in einer Weise reagiert (z. B. belehrend), dass wieder der Analysand so reagiert (aggressiver wird), dann ist die Analyse festgefahren und die Analytikerin braucht Supervision. Diese Supervision hat den Zweck, dass die Gegenübertragung aufgelöst wird, so dass die Analytikerin eine andere Reaktion zeigt als vorher. Damit wäre die Wiederholung durchbrochen. Ich schlage nun einen verkürzten Weg vor: Von jeder Reaktion, die der Klient (oder das Klientensystem) bei mir auslöst, kann ich annehmen, dass er eine solche auch bei anderen Menschen auslösen kann. Für diese Annahme brauche ich nur davon ausgehen, dass ich im Prinzip ähnlich funktioniere wie andere Menschen auch. Als Nächstes versuche ich, einen Rückkoppelungskreis zu konstruieren: Was ist das für ein Interaktionsmuster? Ist es vorSeine Reaktion stellbar, dass man bei einem SA Klient Menschen (einem Subsystem) durch mein Verhalten Meine Reaktion so ein Verhalten wie seines Abbildung 22: Das Spiel Helfer – Klientin auslöst? Welche Bedingun-

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gen müssten vielleicht sonst noch gegeben sein, damit ich genauso reagieren würde wie er (es)? Um Weiteres zu erfahren, kann ich nun nach solchen Bedingungen fragen. Und ich kann versuchen zu erfahren, ob der Klient (das Klientensystem) öfter in solche Situationen kommt, in denen auf ihn (es) so reagiert wird, wie ich es gerade tun wollte oder getan habe. Wenn das der Fall ist, dann habe ich mit einiger Wahrscheinlichkeit etwas gefunden, was für die Interaktionen zwischen dem Klienten(-system) und seiner Umwelt Bedeutung hat (Abbildung 22). Übung 9 Erstellen sie eine Liste von möglichst vielen Verhaltensweisen, die Menschen in die Finger der Sozialarbeit bringen könnten. Dann überlegen sie sich, unter welchen Bedingungen Sie diese Verhaltensweisen an den Tag legen würden. Scheuen Sie aber nicht davor zurück, einzubeziehen, dass vielleicht Ihre Eltern oder Kinder oder die ganze Menschheit in Lebensgefahr sind, oder dass Sie erkannt haben, dass der Mensch, den Sie am meisten lieben, schon durch Ihr Vorhandensein in seiner Existenz gefährdet ist. Je mehr Phantasie Sie hier entwickeln, desto größer sind Ihre Chancen, eine Klientin zu verstehen – auch wenn sie etwas tut, was als solches »überhaupt nicht in Frage kommt«. Eine gute Hilfe bei dieser Übung sind Kindheitsbilder: Aufwachsen unter schwierigen Bedingungen. Seien Sie aber vorsichtig: Vieles, was einem da einfallen kann, kann so schlimm sein, dass Ihnen alleine die Vorstellung davon Angst machen könnte!

Wenn Sie sich dringend veranlasst fühlen, zu helfen oder sonst wie einzugreifen, dann ist auch das ein Anlass, sich entsprechende Gedanken zu machen: Wie würde ein normaler Mensch reagieren, wenn ständig irgendjemand in sein Leben eingreift und ihm alle Initiative entreißt? (Natürlich bedeutet das nicht, dass Sie bei Gefahr im Verzug nicht eingreifen sollen, sondern dass Sie so bald wie möglich nach Beseitigung der Gefahr eine Systemanalyse machen sollten.) Oder auch: Wenn Ihnen eine Klientin unsympathisch ist und sie sich überlegen, wie Sie sie loswerden könnten, dann ist das ein Anlass, zu überlegen, wie ein Mensch wohl darauf reagieren würde, wenn man ihn ständig loszuwerden versucht: Vielleicht erscheint Ihnen dann ihr Verhalten auf einmal logisch und nachvollziehbar. Oder: Wenn Sie bei jemandem die Vermutung haben, dass sie vieles verheimlicht bzw. Sie anlügt: Wie würden wohl Sie reagieren, wenn Sie Eltern hätten, die Ihnen nichts glauben und immer annähmen, Sie verheimlichten ihnen etwas? Hat das Verhalten des Klienten Ähnlichkeiten damit? 2. Wenn Sie sich zu keinen besonderen Reaktionen veranlasst sehen, dann kann man annehmen, dass Sie in Beraterposition sind und das Spiel, das Sie mit dem Klienten (dem Klientensystem) spielen, heißt: »Fachmann und Beratene«. Dieses Spiel kann man getrost gutheißen (wenn es sich nicht in einem über den konventionellerweise üblichen Rahmen hinausgehenden Ausmaß wiederholt) und aus der Beraterposition eine andere Form der Situationsanalyse einsetzen. Erinnern Sie sich an die Tanzfläche: Wir definieren ein System anhand von sich wiederholen-

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den Auffälligkeiten in der Interaktion, die Energie und Aufmerksamkeit auf sich konzentrieren. Wir beobachten also das System im Hinblick auf solche sich wiederholenden Auffälligkeiten: auf Interaktionen, die regelhaft und damit voraussagbar sind. Diese nennen wir, falls es sich um Änderungsversuche handelt, das Problem. Alles Weitere verläuft wie unter Punkt 1. 3. Ein drittes Instrument zum Auffinden von Wiederholungen ist die Anamnese bzw. alles, was uns eine Klientin (ein Klientensystem) oder andere Personen erzählen. Hier ist Vorsicht angebracht: Es muss unterschieden werden zwischen dem Inhalt der »Erzählung«, ihrem Bedeutungsgehalt für die Klientin (das Klientensystem) und ihrer Funktion: Der Inhalt erzählt eine Geschichte, wie sie eben aus der Sicht des Erzählers abgelaufen ist. Vielleicht erzählt Ihnen jemand einfach, was ihm passiert ist, ja vielleicht sogar, was ihm immer wieder passiert ist. Der Bedeutungsgehalt: Es kommt durchaus vor, dass Sie Dinge erzählt bekommen, die bei Ihnen andere Gefühlsreaktionen auslösen als beim Klienten(-system): stärkere, schwächere oder überhaupt ganz andere. Dann kann es Ihnen passieren, dass Sie auffälliges Geschehen sehen an Stellen, die dem Klienten(-system) bedeutungslos sind, was, wenn Sie dies weiterverfolgen, dazu führt, dass Sie ein Problem bearbeiten, das der Klient (das Klientensystem) gar nicht hat (womit wahrscheinlich ein neues Problem entsteht, und zwar zwischen Ihnen und dem Klienten(-system), oder aber, dass Sie nicht erkennen, wieso jemand sich so verhält, wie er es eben tut, und Sie die Problemsituation überhaupt nicht verstehen. Natürlich kann es auch geschehen, dass jemand eine Sache so erzählt, dass man den Eindruck hat, sie sei bedeutungslos, während der Außenstehende sich wundert, wie der Betroffene die Situation überhaupt aushält. Auch eine solche Diskrepanz ist zu wahrzunehmen und besonders auf ihre Funktion hin zu beachten. Die Funktion der Erzählung zu guter Letzt bringt Sie wieder zurück zum ersten Weg der Systemanalyse: Wenn Sie auf die Erzählung spontan reagieren würden, wie würde diese Reaktion aussehen und könnte diese Reaktion auch als Ursache für eine Wiederholung ähnlicher Erzählungen sein? Und wenn ja, in welchem Kontext?

Fallanalysen

Die Welt ist alles, was der Fall ist. Ludwig Wittgenstein (1963)

Beziehungsgeschehen stellt sich dar wie ein Vexierbild. Die Kunst der Fallanalyse besteht vor allem darin, aus einem komplexen Bild die Dinge auszuwählen, die ein neues, einfacheres Bild ergeben, mit dem man sinnvoll arbeiten kann. Gleichzeitig muss man aber auch mögliche zusätzliche Dinge phantasieren, die das neue Bild zu einem Ganzen machen könnten. Ich gehe, wenn ich mit meinem Katamaran unterwegs bin, oft in einer Ankerbucht am Ufer entlang durch das flache Wasser und suche Angelköder: Schnecken, Muscheln, Krabben. Ich weiß nie vorher, was ich finden werde. Meist gibt es viele Steine, und ich brauche lange, bis ich eine Struktur erkenne, die kein Stein ist: einen Köder. Danach aber geht es viel schneller. Ich weiß jetzt, was ich hier finden kann, weiß, wie die neue Struktur aussieht, die ich suche. Mit einiger Übung finde ich auch die Köder, die halb verdeckt sind. Ich kann die Struktur auch aus unvollständigen Informationen erkennen. Nicht selten allerdings ergibt sich, wenn ich glaube, etwas gefunden zu haben, bei näherem Hinsehen oder Hingreifen, dass ich mich geirrt habe. Dann lasse ich das Stück liegen bzw. lege es wieder hin und schaue weiter. Auch das passiert nach einiger Übung immer seltener. Wir suchen im Wesentlichen mit zwei Fragen: – Kann dieses Verhalten jenes bedingen? – Und, wenn ja, kann jenes Verhalten dieses bedingen? Bei den folgenden Fallbeschreibungen sind nur die Informationen zusammengestellt, die in einen solchen Bedingungszyklus passen. Schauen Sie sich die Muscheln genau an, damit sie deren Verwandte zwischen den Steinen besser erkennen können! Erwin D. Erwin ist 15 Jahre und hat eine 12-jährige Schwester. Er ist regelmäßiger Besucher eines Jugendzentrums. Die Eltern sind sehr froh, dass er dort betreut wird, weil »er sich zu Hause mit etwas weggenom mir me der kleinen Schwester daua bt n! h r ernd streitet«. Er war zuIh nächst sehr beliebt bei den Umgebung Erwin Betreuern, macht aber in letzter Zeit mehr und mehr Schwierigkeiten, seit eine neue Gruppe von jüngeren, Abbildung 23: Erwin D. B en

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dich ordentl

ich!

Methodik

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ausländischen Kindern mit einem eigenen Förderprogramm betreut werden, und beginnt, ausländerfeindliche Äußerungen zu machen, was dazu führt, dass er immer öfter zurechtgewiesen wird. Der Fall: Das Problem besteht darin, dass zwei Äußerungen sich gegenseitig bedingen: Die Auffälligkeit von Erwin und die ablehnende Reaktion seiner Umgebung (Abbildung 23). Erwin ist zuerst akzeptiert (in der Familie vor der Geburt der Schwester / im Jugendzentrum vor der Betreuung der jüngeren ausländischen Kinder), als aber jüngere Mitglieder (der Familie / des Jugendzentrums) mehr Aufmerksamkeit bekommen, protestiert er und erhält als Antwort Zurechtweisung und Ablehnung. An dieser Stelle beginnt der eskalierende Kreislauf: Es ist anzunehmen, dass Erwin bei den Eltern zuerst nur ein bisschen protestiert hat, aufgrund der Reaktion der Eltern aber dann stärker, woraufhin die Eltern auch stärker reagierten. Ähnliches findet auch im Jugendzentrum statt (»macht mehr und mehr Schwierigkeiten«). Diese ablehnende Interaktion findet zuerst im Rahmen der Familie statt, dann schon über die Familie hinaus im Jugendzentrum. Als Nächstes wird wahrscheinlich der Kreis seiner Gegner noch größer, wenn er seine Aktivitäten über das Jugendzentrum hinaus in die Öffentlichkeit trägt. Die Zahl der in den Kampf um Zuwendung/Ablehnung verwickelten wird immer größer. Die Aufgabe für die Sozialarbeit: Als weitere Entwicklung ist zu befürchten: a) dass er sich im Jugendzentrum immer auffälliger verhält und immer mehr ablehnende Reaktion bekommt (dies ist in diesen Zeiten gerade bei Ausländerfeindlichkeit sehr leicht möglich); b) dass er, wenn die Interaktion weiter eskaliert, aus dem Jugendzentrum ausgeschlossen wird oder selbst geht, und – wahrscheinlich gemeinsam mit anderen – auch außerhalb des Jugendzentrums in ähnlicher Weise aktiv wird, so dass sich – auf der nächsten Ebene – die gleiche Interaktion zwischen ihm und der Polizei entwickelt. Sollte sich ein Betreuer im Jugendzentrum anders verhalten, so wird dieser es nicht leicht haben, da Erwin schon gelernt hat, vor allem die negative Reaktion zu sehen, sobald dieses Muster angefangen hat. Frau S. Eine Sozialarbeiterin eines Nachbarschaftshilfezentrums wird von einer schwangeren Frau (Frau S.) angerufen, die eine einmalige Geldaushilfe bekommen möchte. Zur Überprüfung der Anspruchskriterien (Bedürftigkeit) macht sie einen Hausbesuch. Sie findet Frau B it t e h il f m ir! S., deren Partner sowie deren Mutter vor. Im Laufe des Ihr Gesprächs zwischen der SoGegenFrau S. über zialarbeiterin und Frau S. kommt die Mutter mehrmals vorbei und weist die Tochter zurecht bzw. sagt ihr was Abbildung 24: Frau S. M

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Fallanalysen

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sie tun oder sagen soll. Das führt jedes Mal zu einem Streit. Der Partner, der im Übrigen behauptet, nicht der Vater zu sein, beschwert sich über die lautstarken Auseinandersetzungen, weil er ungestört fernsehen will. Diese Familiensituation beschäftigt die Sozialarbeiterin sehr und sie überlegt, was da zu tun sei. Auch in einer Teambesprechung wird zunächst über die Familieninteraktionen gesprochen, bis jemand auf die Abweichung aufmerksam macht (Die Aufgabe der Sozialarbeiterin ist, den finanziellen Unterstützungsbedarf zu prüfen.) Was ist hier los? Es scheint sinnvoll, von der Interaktion zwischen der Sozialarbeiterin und der Familie auszugehen, weil die Sozialarbeiterin merkt, dass sie von ihrer Aufgabe abweicht. Es gibt also eine Sequenz, die etwa so abläuft, dass Frau S. um etwas bittet und die Gefragte, statt sich mit der Bitte zu beschäftigen, etwas zum Kritisieren findet (Abbildung 24). Es ist leicht vorstellbar, dass das die Hilfsbedürftigkeit von Frau S. nicht behebt, sondern sie eher verunsichert, so dass sie hilfsbedürftiger wird. Wir fragen uns als Nächstes, ob unsere Reaktion auf diese Frau und damit die Interaktion, die hier in Gang kommt, typisch für die Familie sein könnte. Da wir Menschen sind wie andere auch, könnte das leicht sein. Darüber hinaus wissen wir, dass unser Sozialsystem einen starken Hang zur Bevormundung von Klientinnen hat. Das stärkt die Hypothese. Und als Nächstes fällt auf, dass die Mutter damit beschäftigt ist, Frau S. zurechtzuweisen. Das stärkt die Hypothese noch mehr: Wir vermuten jetzt, dass Frau S. von Kind an ein Muster gelernt hat, das dem obigen Ansatz entspricht. Für das weitere Vorgehen ergibt sich natürlich als einfachste Lösung, dass wir die beiden Geschichten trennen, wie es bei professioneller Arbeit sowieso üblich wäre: Die Sozialarbeiterin entscheidet über die Geldaushilfe und zahlt sie gegebenenfalls aus. Falls sie darüber hinaus der Familie oder der Frau etwas anbieten möchte, kann sie Frau S. danach etwas von ihren Ideen erzählen und sie fragen, ob sie sich damit weiter beschäftigen möchte; Frau S. hat nicht nach einer Hilfe für ihr Beziehungsgeschehen gefragt. Wenn diese daran interessiert ist, gilt es, zunächst die hypothetische Diagnose weiter zu überprüfen. Frau N. Frau N. hat ihr Leben seit der Scheidung ihrer Eltern (als sie 2 Jahre alt war) in Heimen verbracht. Sie kann kaum lesen und schreiben und wird als verwahrlost beschrieben. Zuletzt lebte fi n d e Au s w e g e sie in einer Behinderten-Wohnge! Ich meinschaft, hat dort auch als WäIhre scherin gearbeitet. Dann lernte sie Frau N. Umgebung einen Mann kennen, der 10 Jahre älter ist als sie. Die beiden heirateten und haben zwei Kinder (1,5 und 2,5 Jahre). Als sie schwanger Abbildung 25: Frau N. Du

b is t u n f ä hi g !

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wurde, organisierte sie für sich, ihren Mann und das Kind einen Platz in einem Mutter-Kind-Heim. Jetzt hat sie auch eine sehr günstige, unterstützte Wohnung gefunden. Sie hat weiterhin Kontakt mit den Betreuerinnen der Behinderten-Wohngemeinschaft. Der Mann war bereits geschieden, arbeitet als Nachtwächter, ist sehr wenig zu Hause und kümmert sich um die Erziehung überhaupt nicht. Angeblich geht er häufig fremd. Er hat drei Kinder, die zwei kleineren sind in Heimen untergebracht, der größte, Markus, ist 11 Jahre alt und lebt bei den beiden. Frau N. führt ihren Haushalt sehr nachlässig und fühlt sich oft überfordert. Häufig übernehmen zwei der Betreuerinnen des Wohnheims die Kinder zur Beaufsichtigung, damit Frau N. sich »erholen« kann. Auch die Sozialarbeiterin des Jugendamts hält Frau N. für überfordert und möchte ihre Kinder in ein Heim überstellen, wogegen sie sich bis jetzt erfolgreich wehrt. Frau N. möchte sich von ihrem Mann scheiden lassen, ist auch schon mehrmals ausgezogen, hat mit den Kindern Platz bekommen in einem Frauenhaus, kam aber jedes Mal wieder zurück nach Hause, weil sie Angst hat, dass, wenn sie sich scheiden lässt, ihr die Kinder tatsächlich abgenommen werden. Der Fall: Frau N. wird von allen Seiten als unfähig betrachtet und behandelt und sucht ständig nach Auswegen, wie sie trotz ihrer »Unfähigkeit« zu dem kommt, was sie braucht. Das allerdings kann sie unglaublich gut: Es ist sehr ungewöhnlich, dass man in einem Mutter-Kind-Heim Platz mit einem Mann findet, es gibt extrem wenige unterstützte Wohnungen, man kommt kaum in ein Frauenhaus, wenn man nicht vom Mann geschlagen wird, und nur wenige Leute finden »fremde« Menschen, die sich regelmäßig um ihre Kinder kümmern. Was sie sich so unglaublich gut organisiert, zeigt sich aber nicht als Beweis, dass sie lebenstüchtig sei, eher im Gegenteil, daher wird sie weiter als lebensuntüchtig und verwahrlost betrachtet (Abbildung 25). Wir wissen nicht, warum Frau N. gar nicht auf die Idee kommt, dass sie vielleicht gar nicht so untüchtig ist, wie man ihr unterstellt, und ihre Geschicklichkeit in »angepasster« Weise verwendet. Die Auswege, die sie findet, gelten alle als Beweis von Lebensuntüchtigkeit, so dass der Kreis wieder geschlossen wird und ihre Fähigkeiten in Frage stehen. Herr U. Herr U. ist 36 Jahre, geschieden, ist seit einem Unfall, den er vor drei Jahren hatte, querschnittgelähmt. Nach dem Unfall war die jetzt 58-jährige Mutter zu ihnen gezogen, um zu helfen. Ein Jahr später ließ sich seine Frau scheiden. Seither wohnt er bei seiner Mutbi n s o hilflo s! Ich ter, deren Mann vor 5 Jahren gestorben ist. Diese hat sich, Seine um den Sohn besser versorgen Herr U. Mutter zu können, pensionieren lassen. Herr U. fühlt sich von seinen früheren Freunden verlassen und geht auch immer weniger unter Abbildung 26: Herr U. Ich

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Fallanalysen

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Abbildung 27: Familie und Helferin

Menschen; er geniert sich. Auf Rehabilitationsvorschläge reagiert er eher abwehrend. Der Fall: Ein typischer Fall von eskalierender Liebesbeziehung (Abbildung 26). Hätte Herr U. seinen Unfall nicht gehabt, so müsste seine Mutter jetzt alleine leben. So aber können die beiden immer mehr miteinander verschmelzen. Wer sich da einmischt, wird Schwierigkeiten bekommen: Die Sozialarbeiterin, die mit dem Fall zu tun hatte, schlug Herrn U. vor, an einem Rehabilitationsprogramm teilzunehmen, das ihm einen Wiedereinstieg ins Arbeitsleben ermöglichen sollte, und stieß auf Ablehnung (Abbildung 27).

Häufig hat man wie hier den Eindruck, dass die zirkulären Ketten komplizierter sind. Dann hilft es oft, Subsystemgrenzen einzuführen. Herr und Frau G. Das Ehepaar G. wendet sich an das Jugendamt wegen ihrer 5-jährigen Tochter, die, obwohl schon mit 2 Jahren sauber, seit einigen Monaten immer öfter wieder einnässt. Während sie von der Tochter berichten, kommen sie in lautstarke Auseinandersetzungen, während derer Frau G. droht, sich scheiden zu lassen, falls sich ihr Partner weiterhin so »unreif« benimmt. Die Mutter sagt, Karin sei ein erwünschtes Kind gewesen, und sie sorge sich so um sie wegen der ständigen lautstarken Szenen zu Hause. Bis vor einem halben Jahr sei alles normal gewesen.



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Abbildung 28: Familie G.

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Die Eltern sind beide ganztags berufstätig und Frau G. meint, sie wolle die wenige verbleibende Zeit ihrem Kind widmen und nicht ständig mit ihrem Mann streiten. Um Streitereien und Szenen aus dem Weg zu gehen, komme Herr G. häufig spät nach Hause. Wenn er rechtzeitig kommt, beklagt sie, wirke er trotzig wie ein Jugendlicher und wolle nur verwöhnt werden. Dieses Verhalten werde ärger, wenn sie mit der Tochter beschäftigt sei. Sie macht ihm Vorwürfe, dass er sie in der Erziehung völlig allein lasse. Der Fall: Das Problem besteht darin, dass Frau G. will, dass Herr G. sich um sie und ihr Kind kümmert, während Herr G. will, dass Frau G. sich um ihn kümmert. Die Verhaltensmuster (analoge Vorwürfe von beiden Seiten) bedingen sich gegenseitig. Gleichzeitig besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Symptom der Tochter und dem Streit der Eltern (Abbildung 28). Warum der Konflikt vor einem halben Jahr begann, ist noch unklar. Möglicherweise hat die Frau damals wieder zu arbeiten begonnen. Herr M. Der Häftling Herr M. befindet sich in einer Justizanstalt für »geistig abnorme« Rechtsbrecher. Er wird häufig unkontrolliert gewalttätig. Das Gefängnispersonal spaltet sich in zwei Lager: Die einen (hier vor allem durch die Wachebeamten repräsentiert), die ihn mit der »normalen« Routine behandeln und keinen Grund sehen, sich ihm gegenüber besonders entgegenkommend zu verhalten, und die anderen (Sozialarbeiterinnen, Psychiater und Krankenpfleger), die meinen, ihm eine Chance geben zu müssen, indem sie ihn besonders schonend und liebevoll behandeln. In diesem Fall zeigte erst die weitere Entwicklung nach einer Intervention, dass Herr M. offenbar auf den Streit reagierte: Nachdem der Konflikt im Team bereinigt war, wurde Herr M. »lammfromm«. Um die Vermutung abzusichern, dass das Wechselspiel so aussieht, wie wir es vermuten, wäre es nützlich, etwas über die Beziehung der Eltern zu wissen: Wenn die Analyse stimmt, dann müssten die Eltern sich in einem ähnlichen Konflikt bezüglich Erziehungsproblemen befunden haben.

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Abbildung 29: Herr M.

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Wir vermuten, dass solche Strukturen, in denen auf einer Seite eines Rückkoppelungskreises noch ein Rückkoppelungskreis als Subsystem zu finden ist, häufig sind, und raten, die entsprechende Hypothese immer zu prüfen! Trotzdem würde hier auch als Erklärung genügen, dass jede für das System bedeutsame Veränderung eine Veränderung bewirkt. Gerti A. Greti, 15 Jahre, kommt zum Jugendamt. Sie will von zu Hause ausziehen, weil ihr Vater sie schlägt. Bei einem Hausbesuch erfährt die sie Folgendes: Der Vater, Herr A. stammt aus Jugoslawien. Er hat eine um 5 Jahre jüngere Schwester. Sein Vater war gestorben, als er 7 Jahre alt war. Da die Mutter sich von dem Tod ihres Mannes nie wirklich erholte und keine Verwandten helfen konnten, brachte Herr M. schon als Kind seine Familie mit kleinen Gelegenheitsarbeiten durch. Mit 19 kam er nach Österreich, arbeitete hier und heiratete bald eine Österreicherin. Er schickte all seine Ersparnisse nach Hause, um seine Mutter und seine Schwester zu ernähren. Bei den bald beginnenden Streitereien mit seiner Frau kam es öfters zu Gewalttätigkeiten seinerseits. Seit vor einem Jahr seine Frau bei einem Unfall gestorben war, schlägt er auch seine Tochter. Er hat eine kleine Wohnung mit einem Garten. Bei dem Hausbesuch ist die Wohnung absolut pedantisch sauber und gepflegt, mit gestickten Deckchen auf den Tischen und Schutzdecken auf den Polstermöbeln. Auch der Garten ist mit geometrischer Genauigkeit gepflegt und geschnitten. Er sagt, dass er seine Tochter sehr liebe und dass er sehr bemüht sei, alles für sie zu tun. Es rutsche ihm halt nur manchmal die Hand aus, weil sie ihm ständig Schwierigkeiten mache. Der Fall: Wir können annehmen, dass Herr A. gelernt hat, dass man eine Familie nur mit eiserner Selbstdisziplin in Ordnung halten kann und dass gerade diese Ordnung und Selbstdisziplin für das Überleben existentiell wichtig ist. Leider hatte er das Problem, dass seine Frau seiner Ordnung nicht wirklich entsprechen konnte und seine Tochter, noch dazu in der Pubertät, noch weniger. Wir können annehmen, dass er in ziemliche Panik gerät anhand dieser Erfahrung, so dass er, wenn er anders nicht mehr weiterweiß, versucht, die notwendige Ordnung mit Gewalt herzustellen. Hier scheint es angebracht, eine Interaktion mit der ganzen Welt als Bild zu sehen, in der er, je mehr er sich bemüht, die Welt in Ordnung zu halten, die Welt ihm umso mehr Prügel vor die Füße wirft. Wenn die Tochter jetzt noch ausziehen würde, geriete seine Welt natürlich endgültig aus den Fugen. Die Rolle der Sozialarbeit: Jeder Versuch, Gerti in ihrem Wunsch zu unterstützen, muss die Panik des Vaters um die Welt verstärken und ihn zu massiveren Handlungen treiben. Jeder Versuch, ihn von seiner Pedanterie abzubringen, ebenfalls. Jeder Eingriff ist zu verstehen in Bezug darauf, dass Herr A. die Aufgabe übernommen hat, die Welt zu retten – mit seinen bescheidenen Mitteln. Und Herr A. hat keinen vernünftigeren Grund, seine Aufgabe aufzugeben, als wir die unsere. Genau genommen befinden wir uns in Konkurrenz mit ihm um das gleiche Ziel. Nur über die Methoden herrscht Uneinigkeit. Wenn wir uns auf diese Konkurrenz

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einlassen, werden wir an einem dysfunktionalen eskalierenden System mitarbeiten, bei dem das Ziel im Kampf um die Methoden untergehen wird.

Bis hierher haben wir bei der Beschreibung alles weggefiltert, was uns zu sehr von unserer Arbeitshypothese ablenken könnte. Im Folgenden wollen wir einige Beispiele bringen, wie sie häufig als Sammlung der wichtigsten Daten auftreten, um das Suchbild-Prinzip zu verdeutlichen: Es gilt, herauszufinden, welche Aspekte uns weiterhelfen, einen Teufelskreis zu finden. Familie L. Die Familie wohnt in einem kleinen Ort, wo es zwei Lebensmittelgeschäfte gibt. Herr L. ist Alleinerzieher von Kurt (14 J.) und Peter (17 J.). Seine Frau ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Bei der 20-jährigen Tochter wurde ihm nachgesagt, dass er sie sexuell missbraucht hätte – es kam nie zur Anzeige, aber ihr Verhalten war in dieser Richtung auffällig. Herr L. wurde wegen Misshandlung an Peter vor einigen Jahren angezeigt. Peter streitet die Misshandlung energisch ab, das Gerichtsverfahren ist noch offen. Herr L. gilt als regelmäßiger Wirtshausbesucher und Alkoholkonsument. Seine Meinung: Er gehe arbeiten und nach der Arbeit dürfe er wohl eine Kleinigkeit essen und ein Achtel trinken. Kurt und Peter sind im Ort sehr verschrien – es gab schon öfter berechtigte Anzeigen wegen Diebstahls. Herr L. meint, dass seine Kinder nur von den anderen angestiftet worden seien. Bei Gesprächen zeigt sich Herr L. sehr Mitleid heischend: Er selbst sei ein Heimkind und als solches schon immer schlecht behandelt worden, der Tod seiner Frau belaste sie alle schwer, alle um ihn herum seien gegen ihn, auch der Pfarrer, das Sozialamt, die Polizei etc. Der Fall: Die einfachste Hypothese scheint mir, dass hier eine Familie sich verzweifelt wehrt gegen eine überwältigende Menge von Anschuldigungen, ihre Auswege aber wieder zu den gleichen oder verstärkten Anschuldigungen führen. Nimmt man diese Anschuldigungen als gegeben an, so werden die Verhaltensweisen der Familienmitglieder verständlich. Ebenso verständlich ist aber auch die Reaktion der Umwelt, die solches Verhalten nicht tolerieren kann. Wir vermuten, dass Herr L. schon seit seiner Kindheit in solche Teufelskreise von Beschuldigung und unangepasstem Ausweichverhalten verwickelt ist und nun seine Kinder – durch Sippenhaftung einerseits und Loyalität andererseits – mit einbezogen sind. Frau M. Sie ist 87 Jahre alt, seit 7 Jahren verwitwet und wohnt alleine. Sie hat keine Kinder. Mit ihrer Schwester, die sich ihr gegenüber nicht korrekt verhalten habe, hat sie keinen Kontakt. Frau M. ist geistig rege, am Alltagsgeschehen sehr interessiert und versteht es gut, sich »Helfer« zu organisieren. Sie ist eine sehr resolute Person und hat strikte

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Wertvorstellungen. Dazu gehört auch die Erwartung von Hilfeleistungen von Personen, denen sie einmal geholfen hat. Giovanni, der Mann ihrer schon lange gestorbenen Nichte, mit dem sie vorher sehr engen Kontakt gehabt hatte, habe sich nicht entsprechend verhalten, daher hat Frau M. den Kontakt kurzerhand abgebrochen und macht ihn für ihren Gesundheitszustand mitverantwortlich. Dafür kommt ihre Nachbarin sie mehrmals wöchentlich besuchen und übernimmt auch fallweise Besorgungen. Ein anderer Bekannter holt sie immer sonntags zum Friedhofsbesuch ab, noch eine andere Bekannte kocht einmal wöchentlich für sie und erledigt Bank- und Postwege. Zu ihrem Hausarzt hat sie eine sehr enge Beziehung, er kommt täglich, in Krisensituationen auch am Wochenende. In ihrer Wohnung im 3. Stock kann sich Frau M. nur sehr mühsam bewegen, meist braucht sie dazu persönliche Hilfestellung. Verlassen kann sie die Wohnung schon lange nicht mehr ohne fremde Hilfe. Sie ist Diabetikerin, hat offene Beine und leidet an übermäßiger Wasseransammlung im Körper. Das Herz ist insuffizient und die Nierenfunktion beeinträchtigt. Derzeit ist sie im Krankenhaus zur Entwässerung. Ihr Gesundheitszustand hat sich sehr verschlechtert – sie braucht rund um die Uhr Pflege. Jetzt ist sie verzweifelt; ihre Angst, in ein Pflegeheim zu kommen, führt zu einer Verleugnung ihres Zustandes, sie verweigert teilweise die Medikamenteneinnahme. Sie will um jeden Preis zu Hause wohnen bleiben. Der Fall: Neben medizinischen und organisatorischen Fragen ist hier zu beachten, dass Frau M. in ein Wechselspiel verwickelt ist, das einerseits aus ihren sehr rigiden Wertvorstellungen und den damit verbundenen Vorwürfen besteht und andererseits aus den Versuchen, sich ihren Verwandten zu entziehen. Es scheint, dass sie zur Durchsetzung ihrer Ziele auch selbstschädigende Handlungen setzt und damit Druck macht. Ein möglicher Zugang zu diesem Teufelskreis wäre vielleicht eine Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, in der das Thema »ungerechtfertigt im Stich gelassen werden« gesucht werden könnte und die dazugehörigen Gefühle ermuntert werden sollten (Vielleicht: »Das tat weh!« statt: »So etwas lasse ich mir nicht bieten!«). Natürlich kann man nicht den biologisch bedingten Alterungsprozess durch systemische Interventionen aufhalten, aber es wäre doch schon ein enormer Gewinn, wenn es gelänge, die erschwerenden und destruktiven Begleiterscheinungen, die sich aus dem Beziehungskonflikt ergeben, zu mildern. Schließlich gibt es doch auch Beispiele dafür, dass Menschen friedlich und in Frieden mit ihrer Umwelt alt werden.

Spezielle systemische Interventionsformen

Wie schon in der Einleitung dargelegt, macht das systemische Denken keine der schon vorher bekannten Interventionsformen oder Methoden obsolet, wie der systemische Ansatz auch keinen grundsätzlichen methodischen Anspruch stellt. Dennoch gibt es einige Formen der Intervention, die aus der Arbeit der Systemiker erwachsen sind. Als Grundprinzip sei daran erinnert, dass alles als wirksam zu betrachten ist, was dazu geeignet erscheint, stabilisierte oder eskalierende Systeme zu »lösen«, das heißt, aus ihrer Festgefahrenheit wieder in neue Bewegung zu bringen. Im Gegensatz dazu stehen Reaktionen bzw. Verhaltensweisen, die das System ignorieren kann, und solche, die das System eingliedern kann, ohne seine Muster wesentlich zu verändern. Wenn wir die Helferin als Beteiligte im System betrachten, so heißt das, sie muss sich in einer Weise verhalten, die – nicht als Teil der eingefahrenen Interaktionen aufgefasst werden kann, – Blickwinkel der Beteiligten erweitert oder verändert, – es unmöglich oder schwierig macht, die von ihr eingebrachten Mitteilungen zu entwerten. Die im Folgenden genannten Möglichkeiten sind natürlich nicht als vollständig zu betrachten. Die Kreativität meiner Kolleginnen und Ausbildungskandidaten zeigt sich unter anderem darin, dass wir immer wieder neue Möglichkeiten entdecken. Außerdem gibt es keine scharfe Abgrenzung zwischen diesen verschiedenen Formen, weil jede einzelne verschiedene Aspekte enthält. Trotzdem sei hier ein Überblick versucht. Weitere Interventionsformen finden sich ausführlich beschrieben etwa bei Ritscher (2005, S. 272 ff.), der allerdings die Unterscheidung zwischen Therapie und Sozialarbeit nur im Arbeitsbereich sieht und nicht wie unser Modell in der gesellschaftlich-systemischen Verwicklung. Entsprechend sind die bei ihm beschriebenen Techniken gedanklich anzupassen.

Veränderungen einführen aus einer Berater-Perspektive Viele Interventionen werden so eingesetzt, als ob die Helferin eine außenstehende Beraterin wäre. Sie sind dazu gedacht, dass, wenn sie gelingen, die Personen, mit denen die Helferin spricht, neue Wege in ihrem Denken finden, die – entsprechend unserer Grundauffassung – weitere Änderungen zur Folge haben. Durch die Vorstellung, dass die Beraterin tatsächlich Außenstehende wäre, werden gerade hier häufig aus dem konstruktivistischen Gedanken hergeleitete

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Probleme gesehen, denen eine breite Auseinandersetzung zum Thema der Uninstruierbarkeit von Systemen und möglichen Lösungen gewidmet wurde, wie etwa bei Kleve (2007) oder Kraus (2000). Bei dem hier dargestellten Modell geht man aber auch bei der BeraterinnenIntervention davon aus, dass die Beraterin Teil des Interaktionssystems ist. Dabei wird vorausgesetzt, dass das komplementäre Muster »Beraterin-Beratene« funktioniert und die Veränderung, die bei den Beratenen stattfindet, als Änderung für das dysfunktionale Muster relevant sind. Funktioniert diese komplementäre Beziehung nicht oder wird sie zum Teil des problematischen dysfunktionalen Musters, dann wirkt die Intervention nicht. Die Sozialarbeiterin wird dann, bleibt sie in der Beraterrolle, entweder merken, dass sie sich immer stärker fruchtlos bemüht, oder sie wird negative Zuschreibungen für die Beratenen finden oder beides. Ein weiteres Kriterium dafür, diese Rolle misszuverstehen, ist, wenn die Beraterin glaubt, erreichen zu müssen, dass die Beratenen etwas Bestimmtes verstehen oder tun.

Umdeutungen und Umbewertungen Zu den Umbewertungen sind wohl auch die Gespräche zu zählen, in denen der/ die Beraterin auf Themen, die normalerweise als verrückt oder unsinnig abgetan werden, interessiert und sachlich eingeht, genauer nachfragt und mit dem Klientin oder der Klientin gemeinsam Folgerungen überlegt. Auch die von Klemens Fraunbaum in diesem Buch beschriebene »Blöd-Seins-Theorie« (siehe S. 166 ff.) stellt ein Beispiel für eine Umbewertung dar. Von Imber-Black (1990) stammt das Fallbeispiel, in dem einer Familie mit einem »verhaltensgestörten« Kind der Vorschlag gemacht wird: »Wie wäre es, wenn Sie ihren Sohn einmal eine Zeitlang versuchsweise so behandeln würden, als wäre er nicht verhaltensgestört, sondern ein ganz normales, ein bisschen schlimmes Kind?« Wichtig scheint hier, dass der neue Aspekt nur als »Versuch« definiert wird, so dass die Familie nicht in ihrer Überzeugung in Frage gestellt wird. Nichtsdestoweniger wird es Verhaltensänderungen seitens der Eltern geben und in Folge auch seitens des Kindes. Ein anderes Beispiel stellt Frau R. dar: Frau R. kam in die Beratung, weil sie ihren Job verloren hatte und sich unfähig fühlte, einen neuen zu finden. Sie sei unfähig und ungeschickt und sie halte überhaupt keine Konflikte aus. Das Gespräch ergab, dass ihr Mann, seit sie ihn kennt, Alkoholiker ist und aufgrund dessen in Frühpension mit minimaler Rente. Sie hat immer gearbeitet und gleichzeitig ihre beiden Kinder mehr oder weniger alleine aufgezogen, während der Mann meist betrunken und eher zusätzliches Problem als Hilfe war. Jetzt allerdings waren die Kinder mit ihren Ausbildungen fertig und auch das zweite seit kurzem berufstätig. Beide Kinder scheinen die schwierigen familiären Verhältnisse gut überstanden zu haben.

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Ich wies daraufhin, dass es unmöglich sei, dass sie so unfähig sei, wenn sie zwei Kinder großziehe und einen Alkoholiker erhalte. Es erschiene mir allerdings nahe liegend, dass sie, wenn ihre Lebensaufgabe (den Kinder allen Widrigkeiten zum Trotz eine gute Entwicklung zu ermöglichen) beendet sei, etwas durcheinander komme und ihr nicht mehr klar sei, wozu sie so viele Schwierigkeiten auf sich nehmen solle. Frau R. nahm diese für sie neue Interpretation erfreut an und begann bald, an Plänen für ihr weiteres Leben zu arbeiten. Auch eine neue Arbeit fand sich bald, die sie sehr aktiv in Angriff nahm. Das Problem, dass sie in vielen Situationen dazu tendierte, in erster Linie sich selbst in Frage zu stellen, musste allerdings noch weiter bearbeitet werden.

Verschiebung des Problems und Umlenken der Aufmerksamkeit In der Fallgeschichte von Georg Kanitsar (siehe S. 177 ff.) wird zuerst das Problem vom Kind auf die Eltern verschoben und zeigt sich dort als ein ganz anderes Problem. Wenn die Beteiligten an einem Konflikt mit der »Schuld« befasst sind, wenn sie sich selbst oder anderen Vorwürfe machen, ist es häufig nützlich, eine Beschreibung für das Problem zu finden, die die Beteiligten entlastet. Das kann geschehen, – indem man den Konflikt für unausweichlich erklärt (etwa, weil er institutionell oder gesellschaftlich bedingt ist) oder – indem man ihn erklärt aus den Bemühungen aller Beteiligten um das gleiche Ziel, so dass der Konflikt sich nur auf die Vorgangsweise bezieht. Solche Interventionen führen eine neue Sichtweise ein und damit meist zu verändertem, flexiblerem Verhalten. Eine Methode, die ich anwende, wenn es um Probleme geht, die in irgendeiner Weise als »Lebensuntüchtigkeit« beschreibbar sind (wenn also mangelnde Motivation, Unfähigkeit, Inkonsequenz oder Ähnliches im Spiel ist), und bei Problemen, die etwas mit Aggression zu tun haben, ist, im Gespräch über das Problem zu erfragen, wann es begonnen hat, und nach einem Life-Event (siehe S. 58 ff.) zu suchen. Habe ich dieses gefunden, so versuche ich klarzumachen, dass hier ein ernsthafter Verlust vorliegt, und bringe den Betroffenen die dazugehörigen Gefühle von Schmerz, Trauer und Wut nahe. Weiters erkläre ich ihnen, dass ich es für ausgeschlossen halte, ein Problem zu lösen, wenn diese Gefühle nur unzureichend ausgelebt sind: Das Durchleben ist Voraussetzung für den Abschied von der früheren Situation. Ungezielter Input von Sichtweisen (reflektierender Prozess) Von Tom Andersen (1990) und seinen Mitarbeitern stammt die Idee, dass mehrere Beraterinnen miteinander vor den Betroffenen als Zuhörenden darüber diskutieren, was ihnen alles zu der Problemsituation einfällt, und völlig offen lassen,

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was die Zuhörenden sich davon als brauchbar herausnehmen. Diese Idee lässt sich in verschiedensten Formen variieren. Es hat sich sehr bewährt, wenn mehrere Betroffene anwesend sind, vor allen Beteiligten Einzelinterviews mit jedem Einzelnen zu führen. Dadurch, dass die Übrigen als Zuhörer definiert sind und nicht eingreifen dürfen, sind sie sehr viel offener, Dinge zu erfahren, die in der Hitze des Gefechts meist gar nicht wahrgenommen werden, und erhalten dadurch oft ein völlig verändertes Bild der Situation. Darüber hinaus wird jeder Interviewte, einer nach dem anderen, während des Interviews als Fachmann definiert, dessen Aussagen ernst genommen werden. Dieses Modell bewährt sich sehr bei Helferkonferenzen, bei denen es sich als vorteilhaft erweist, wenn die an der als problematisch definierten Situation beteiligten Personen – die Klientinnen – mit einbezogen werden (siehe Imber-Black 1990). Am Abend des vorletzten Tages eines Ausbildungswochenendes, an dem ich systemische Vorgangsweisen anhand aktueller Themen der Teilnehmer demonstrierte, brachte eine Teilnehmerin ein, dass sie mit einem der anderen Teilnehmer einen Dauerkonflikt habe (der auch mir schon aufgefallen war). Beide erklärten sich einverstanden, dass wir uns diesen Konflikt näher betrachten würden. Nachdem beide ihre Sicht der Dinge erzählt hatten, fragte ich sie, ob sie wohl hören wollten, was die anderen zu ihrer Beziehung denken. Auch damit waren sie einverstanden. Ich bat sie also, entspannt zuzuhören, während ich mit den anderen sprach, und nicht einzugreifen. Dann wandte ich mich den anderen zu, und jeder brachte seine Einfälle ein. Zuletzt bat ich, dass jeder eine Phantasie entwickeln möge, wie die Beziehung der beiden miteinander und mit der übrigen Gruppe aussehen würde, wenn der Konflikt gelöst sei, und wann das passieren werde. Dann wandte ich mich wieder den beiden zu, um zu erfahren, ob etwas von dem Gesagten sie angesprochen hätte. Einer der Teilnehmer schlug zuletzt vor, ich solle den beiden dieselbe Frage ebenfalls stellen, was ich auch tat. Beide sagten eine Vorstellung, die beiden Bilder passten allerdings nicht zusammen. Als Abschluss erklärte ich, dass bei diesem Verfahren nicht voraussehbar wäre, wann eine Änderung eintreten werde, und dass ich es schade fände, dass ich die Lösung nicht miterleben würde (ich war nur ein Wochenende mit der Gruppe zusammen, die aber noch längere Zeit miteinander in Ausbildung sein würde). Damit schloss ich die Sitzung für den Tag. Am nächsten Morgen, bei der Tagesreflexion, berichteten die beiden, dass sie noch am selben Abend zusammen gesessen seien und sich eine Lösung ausgedacht hätten, die beiden gangbar erschien. Leider weiß ich nichts über die weitere Entwicklung, aber an diesem Tag war von Konflikt nichts mehr zu merken.

Zu beachten ist bei Verwendung reflektierender Prozesse, dass hier die Möglichkeit des Handelns (bezüglich der aktuellen Auseinandersetzung) unterbrochen

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wird. Man darf dabei die Geduld der Zuhörer wie der interviewten Person nicht überstrapazieren und muss immer auf die emotionale Befindlichkeit aller Anwesenden achten. Wird jemandes Geduld überstrapaziert, so wird er oder sie weder in der Lage sein, noch etwas aufzunehmen noch beim Interview wirklich auf die Fragen einzugehen: Er oder sie wird statt seiner Situationsbeschreibung mehr oder weniger verdeckte Aufforderungen an seine Gegenüber aussenden. Denn wenn ein Mensch Handlungsbedarf verspürt, so werden seine Handlungen – und damit auch seine Worte – von dem Handlungsbedarf bestimmt. Bei Einsatz von reflektierenden Prozessen ist zu beachten, dass jeweils die Zuhörenden nicht angesprochen werden, sondern nur über sie gesprochen wird. Andernfalls ist die Versuchung zu reagieren so groß, dass ein offenes Zuhören fast unmöglich wird! Zirkuläres Fragen Unsere Sprach- und Denkgewohnheiten sind geprägt von einer Geschichte, die sich mit dem zirkulären Charakter von Geschehnissen lange Zeit »erfolgreich« nicht auseinandergesetzt hat. Prozesse wurden verdinglicht, Rückwirkungen ignoriert, Verhaltensweisen als Eigenschaften betrachtet und Ähnliches. All dies stand im Dienst einer möglichst einfach handhabbaren, stabilen Beschreibung der Welt. Nun ist aber die Aufgabe helfender Berufe, festgefahrene oder sich festfahrende Prozesse wieder in Bewegung zu bringen, das heißt hier gegenzusteuern. Eine der Methoden, die hierzu in sozialen Systemen eingesetzt wird, ist eine Fragetechnik, die »zirkuläres Fragen« genannt wird. Die Beraterin stellt im System Fragen, die aus bestimmten Formen der Blockierungen herausführen, um in den Köpfen der Systemmitglieder ein dynamisches, zirkuläres, prozess- und verhaltensorientiertes Bild zu erzeugen. Es wird angenommen, dass damit auch wieder Bewegungen im System möglich werden. Pfeifer-Schaupp nennt als Ziele der zirkulären Fragen das »Aufweichen von Problem-Mustern«, die »Verflüssigung von Eigenschaften«, das Erzeugen von »Doppelbeschreibungen« und von »Außenperspektiven« (2002, S. 22). Eine ausführliche Beschreibung findet sich bei Selvini Palazzoli et al. (1981), und bei Simon und Rech-Simon (1999), die ein ganzes Buch über zirkuläres Fragen geschrieben haben. Auch für diese Technik ist es nicht nötig, mit dem ganzen System im Gespräch zu sein, jeder beliebige Teil, jede Person, kann als Zugang zum System verstanden werden. Die zirkulären Fragen können eingeteilt werden nach der Art des Blockierungsmechanismus, der durch sie in Frage gestellt wird: – Fragen, die generell den Gedanken auf die Möglichkeit des Andersseins lenken: »Gibt es Zeiten, wo Sie mit ihrem Geld sparsamer umgehen als sonst?« »Wie haben Sie gelebt, bevor Sie zu trinken begonnen haben?«

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»Sollten Sie einmal eine konstante Arbeit haben, was würde da alles anders sein als jetzt?« »Woran merken Sie, wenn Sie nicht depressiv sind?« »Sollte dieses Problem einmal erledigt sein, was würden Sie gerne so beibehalten, wie es jetzt ist? Fragen, die verschiedene Beschreibungen oder Erklärungen desselben Vorgangs möglich machen: »Wie, glauben Sie, würde Ihr Arbeitgeber die Situation beschreiben?« »Was würde ein Außenstehender sehen, wenn er bei dieser Auseinandersetzung zusehen würde?« »Wie erklärt dein Vater sich, dass er manchmal so wütend wird? Glaubst du, die Mutter sieht es genauso?« »Wann hast du begonnen, die Situation so zu beschreiben? Wie wurde sie vorher beschrieben?« Fragen, die aus Eigenschaften Verhaltensweisen machen: »Wie muss der Vater sich verhalten, damit seine Frau ihn als aggressiv erlebt?« »Wie geht das genau, wenn Ihre Sucht Sie beherrscht? Was machen Sie da?« Fragen, die die Kontextabhängigkeit von Verhaltensweisen einführen: »In welchen Situationen neigen Sie eher dazu, Geld auszugeben, in welchen weniger?« »Wie reagiert ihr Mann, wenn Sie über das Kind zu schimpfen beginnen?« »Wer reagiert zuerst, wenn du in die Hose machst, der Vater oder die Mutter?« Fragen, die die gegenseitige Bedingtheit von Verhalten einführen: »Nehmen wir an, Sie wollten erreichen, dass Ihr Mann ins Wirtshaus geht und sich betrinkt: Wie müssten Sie sich verhalten?« »Wenn Sie wollten, dass Ihr Kind sich in der Schule auffällig benimmt, was müssten Sie dazu tun?« »Wenn Sie diesen Job bald wieder verlieren wollten, wie müssten Sie sich verhalten?« (Ich möchte darauf hinweisen, dass nach unserer Erfahrung die Leute auf diese Frage das zur Antwort geben, was sie normalerweise tun, um sich in Schwierigkeiten zu bringen!) Fragen, die eine zeitliche Dimension ins Geschehen einführen: »Wann hat die Mutter begonnen, ihre Fähigkeit, Frustrationen auszuhalten, nicht mehr einzusetzen?« »Wie lange, denken Sie, werden Sie brauchen, um ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen?« Fragen, die aktive Alternativen für »Krankheit«, »Störung«, »Verwahrlosung« oder ähnliche Begriffe einführen: »Angenommen, Sie wollten der Welt zeigen, dass Sie sich nichts vorschreiben lassen, könnten Sie das zeigen, indem Sie wirres Zeug reden?« »Angenommen, Sie wollten ihren Eltern zeigen, dass sie sich weiter mit Ihnen auseinandersetzen müssen, könnten Sie das erreichen, indem Sie Mopeds klauen?«

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Zirkuläres Fragen ist auch eine ausgezeichnete Methode zur Auseinandersetzung mit Institutionen und Organisationen. Wenn eine Person sich mit einer Institution oder Organisation in Konflikt befindet oder Änderungswünsche bezüglich ihrer Position bezüglich der Institution oder Organisation hat, kann sie befragt werden, so, als ob die Institution/Organisation eine Person wäre: – »Wie meinen Sie, dass Ihre Organisation es erlebt, wenn Sie …?« – »Wie meinen Sie, würde die Institution reagieren, wenn Sie …?« – »Was glauben Sie, denkt die Organisation über Sie?« – »Glauben Sie, Sie könnten die Institution ärgern, indem Sie …?« – »Wie viel mehr Aufmerksamkeit könnten Sie wohl erhalten, wenn Sie …?« Oft ist es dabei hilfreich, wenn die Interviewte Person der Institution/Organisation zuerst einen Namen gibt, mit dem man diese im Gespräch benennen kann. Das kann ein Vorname sein oder auch ein Phantasiename. Vorschlagen »ungewöhnlichen« Verhaltens Wenn Bankei seine Meditationswochen in der Zurückgezogenheit abhielt, kamen Schüler aus vielen Teilen Japans, um daran teilzunehmen. Während eines dieser Treffen wurde ein Schüler beim Stehlen ertappt. Man trug die Sache Bankei vor, mit der Bitte, der Täter möge davongejagt werden. Bankei ignorierte den Fall. Etwas später wurde der Schüler bei der gleichen Tat ertappt und wieder übersah Bankei die Angelegenheit. Dies ärgerte die anderen Schüler, und sie schrieben ein Gesuch, in dem sie die Entlassung des Diebes forderten und erklärten, dass sie andernfalls alle zusammen fortgehen würden. Als Bankei das Gesuch gelesen hatte, rief er alle zu sich. »Ihr seid weise Brüder«, sagte er zu ihnen. »Ihr wisst, was recht und was nicht recht ist. Geht woanders hin, um zu studieren, wenn ihr wollt, aber dieser arme Bruder kann nicht einmal zwischen recht und unrecht unterscheiden. Wer wird ihn unterrichten, wenn ich es nicht tue? Ich werde ihn hier behalten, selbst wenn ihr alle anderen geht« (Reps 1976, S. 61 f.).

Die Frage: »Was würde die Umgebung am meisten überraschen, wenn Sie es tun würden?« führt im Allgemeinen zu Verhaltensweisen, die, wiederum nur experimentell ausgeführt, nicht in die gewöhnliche Interaktionsstruktur passen und daher zu Veränderungen führen. Frau U. berichtete, dass ihr Mann seit der Geburt ihres Kindes immer mehr arbeite, später heimkomme und dann nur vor dem Fernseher sitzen wolle, obwohl sie ihm immer wieder sage, wie wichtig ihr sei, dass sie miteinander mehr reden. Sie wisse sich gar nicht mehr zu helfen. Ich fragte sie, was sie wohl glaube, was sie tun könne, was ihren Mann am meisten verblüffen würde. Nach einigen Einfällen, die wir zwar sehr komisch fanden, die sie aber für undurchführbar hielt, schlug ich vor, sie solle dafür sorgen,

Spezielle systemische Interventionsformen

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dass, wenn er heimkomme, sie vor dem Fernseher sitze. Die Klientin hielt das für eine Möglichkeit. Was sie dann durchführte, hatte sie sich selbst noch ausgedacht: Sie beschloss, dass es an der Zeit sei, dass ihr Mann wieder Gelegenheit habe, sie zu verführen, statt dass sie ihm ständig von selbst entgegengehe. Das tat dieser auch und Frau U. hatte den Eindruck, dass er von da an wieder mehr Zeit und Aufmerksamkeit für sie habe.

Manchmal ist es hier sinnvoll, mit dem Gesprächspartner zu verhandeln, was ihm machbar erscheint, wenn er seine erste Idee nicht ausführen möchte. Es ist dann häufig möglich, etwas Ähnliches, aber weniger gefährlich oder verrückt erscheinendes zu finden, das tatsächlich getan werden kann. Manchmal führen Klientinnen aber auch sehr witzige Aktionen durch. Die Suche nach kleinen, möglichen Veränderungen Häufig sind die Schritte, die als Lösung erscheinen, zu groß, um gemacht zu werden, oder es erscheinen überhaupt alle Schritte in dieser Richtung unmöglich. Dann kann es nützlich sein, kleinste Schritte, ja sogar Schritte, die überhaupt keinen Zusammenhang mit dem »Problem« zu haben scheinen, zu suchen. Über die Durchführbarkeit kann man auch hier mit den Beteiligten verhandeln. Vater und Sohn im Ablösungsprozess Herr P. – Teilnehmer an einem Trainingsprogramm für Langzeitarbeitslose – kann sich an keiner Arbeitsstelle halten, weil er immer mit Kolleginnen und Vorgesetzten in unauflösbare Konflikte gerät. Aber auch mit seinem Vater gerät er regelmäßig heftig in Streit. Er erzählt der Sozialarbeiterin ein Beispiel, das fast täglich passiert: Beide sitzen abends beim Fernseher und rauchen. Nach geraumer Zeit bemerkt der Sohn, dass kein Aschenbecher am Tisch steht; er steht auf und holt einen. Nach kürzester Zeit nimmt der Vater diesen Aschenbecher zu sich. Da der Sohn nun den Aschenbecher nur mehr schwer oder gar nicht mehr erreichen kann, entsteht regelmäßig heftiger Streit, in dem sich beide nichts schenken. Die Sozialarbeiterin gibt dem ratlosen Sohn, der diese täglichen Streitereien »satt hat« und unter diesen Eskalationen leidet, den Rat, er könne doch beim nächsten Mal, wenn er aufsteht, um einen Aschenbecher zu holen, gleich zwei mitnehmen. Der erste Versuch ist bereits erfolgreich: Der Vater nimmt das veränderte Verhalten des Sohnes – vielleicht auch nur aus Verwunderung oder Überraschung – schweigend zur Kenntnis. Die übliche Eskalation bleibt von da an aus und der Sohn beginnt, sich selbst Lösungen für Konflikte auszudenken.

Warum das funktioniert, ist leicht erklärt: Wir wissen, dass jede Veränderung in einem System zu weiteren Veränderungen führt, sofern sie überhaupt einen »Un-

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terschied« macht. Diese weiteren Veränderungen können wir vertrauensvoll dem System überlassen. Zu dieser Technik der kleinen Schritte gibt es besonders gute Hilfsmittel vom lösungsorientierten Ansatz, wie ihn unter anderen Jong und Berg (1998) beschreiben: die Skalenfrage und die Suche nach in der Vergangenheit schon stattgefundenen positiven Veränderungen. Die Verknüpfung von Problemen mit zusätzlichen Unannehmlichkeiten Diese Strategie kann häufig als Nebeneffekt erscheinen. Verschreiben Sie z. B. Ihren Klientinnen, sie sollen täglich über das Ausmaß ihres Problems Buch führen, sie sollen genau aufschreiben, wie oft, wie stark und in welcher Form es aufgetreten ist. Diese Aufgabe ist nützlich, wenn sie ausgeführt wird, weil sie Unterschiede erkennbar macht und man daraus ableiten kann, was zu tun ist, damit das Problem seltener oder weniger stark auftritt (siehe dazu die zirkulären Fragen S. 124 ff.). Ich habe aber in mehreren Fällen erlebt, dass lieber eine neue Interaktionsstruktur gewählt wurde, vermutlich weil die Betroffenen keine Lust hatten, soviel zu schreiben. Zur Supervision meldete sich ein Leiter einer Abteilung einer Sozialeinrichtung mit einem seiner Mitarbeiter an. Die beiden hatten sich, als sie noch auf gleicher Ebene im Team zusammenarbeiteten, sehr gut verstanden, ja, sie hatten sogar ein freundschaftliches Verhältnis gehabt. Sie verstünden nun beide nicht, wieso der jeweils andere sich seit der Beförderung des einen zum Abteilungsleiter so verändert habe: Der Chef sei äußerst ungeduldig und aggressiv, halte Informationen zurück, die für die Arbeit wichtig seien, und sei kaum mehr zu Gesprächen bereit. Dieser hingegen fand, sein Mitarbeiter informiere ihn nicht über die laufenden Vorgänge und werfe ihm laufend Prügel vor die Füße. Wir besprachen zunächst die Veränderungen, die durch die veränderte Position notwendig seien, und dass man nach einer solchen Veränderung nicht die gleiche Beziehung wie vorher weiterführen könne. Wir besprachen auch, dass dies einen Beziehungsverlust darstelle und dass es logisch sei, wenn darauf beide Seiten mit Enttäuschung und entsprechend aggressivem Verhalten reagierten. Dies alles bestätigten die beiden. Wir besprachen noch, wie sich die beiden einen Zustand nach der Lösung des Konfliktes vorstellten, und fanden sehr viel Übereinstimmung, so dass ich zuversichtlich war, dass die beiden es nun schaffen würden. Bis zur nächsten Sitzung – vier Wochen später – war aber keine Änderung eingetreten. Nachdem die beiden erzählt hatten, dass sie sich bemüht hätten, aber immer wieder an den Reaktionen des anderen gescheitert seien, versuchte ich eine andere Strategie: Da sie beide sich sehr bemüht hätten und sich in den Zielen einig seien, könne das Problem nicht an ihnen liegen. Nun gäbe es ja oft verdeckte Widersprüche in Organisationen, die an ganz anderen Stellen Konflikte verursachen als dort, wo der eigentliche Konfliktherd liegt. Da wir aber darüber

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noch nichts wüssten, sollten die beiden bis zum nächsten Mal nicht versuchen, etwas an ihrem Konflikt zu ändern, sondern nur jeden Abend je alleine den Tagesverlauf hinsichtlich der Spannung zwischen ihnen dokumentieren und alles aufschreiben, was um die Zeitpunkte herum, zu denen sich die Spannung veränderte, geschah. Mit dieser Aufgabe entließ ich die beiden. Beim nächsten Treffen erklärten die beiden etwas verlegen, sie hätten die Aufgabe nicht ausgeführt, beschrieben aber eine wesentliche Verbesserung ihrer Kommunikation und waren zuversichtlich hinsichtlich einer weiteren Verbesserung, obwohl der erreichte Zustand schon als akzeptabel eingeschätzt wurde.

Aufstellungen/Sculpting Eine Methode, die sich in den letzten Jahren sehr weit verbreitet hat (und manchmal auch sinnlos eingesetzt wird), ist, auf verschiedenen Wegen stilllebenartige Darstellungen einer Situation zu verwenden, wie es schon im Psychodrama üblich war (siehe Moreno 1959). Die darstellenden Personen, die im Allgemeinen von der Person, die sich mit einer Situation befassen wollen, gestellt werden, bringen Aspekte und Blickwinkel ein, die für die »Fallbringerin« neu sein können und meist sehr authentisch und glaubwürdig wirken, so dass tatsächlich mit Veränderungen im System zu rechnen ist. Zu diesem Thema gibt es inzwischen reichhaltige Literatur, wie etwa von Sparrer und Varga von Kibéd (2001) oder Weber (2001). Meine Kolleginnen und ich setzen in der Gruppen- und Teamsupervision sowie in der Ausbildung sehr häufig eine weiterentwickelte Form des von Merl und Korosa (1981) beschriebenen »Sessel-Sculptings«9 ein, bei dem die Positionen einer zu untersuchenden Situation von der Fallbringerin in Form von Stühlen im Raum aufgestellt werden. Die übrigen Gruppenmitglieder setzen sich dann auf diese Stühle, ohne etwas über die Fallgeschichte zu wissen, und beschreiben, wie sie die Situation erleben. Daraus ergeben sich für die Fallbringerin eindrucksvolle Aspekte, die neue Haltungen und Vorgangsweisen möglich machen. In einem zweiten Schritt kann auch mit einer Veränderung der Position des Stuhls der Fallbringerin experimentiert werden. Andere Änderungen wären illusionär, weil die Fallbringerin die Einzige ist, die in Bezug auf den Fall etwas tun kann. Dann werden noch einmal die Eindrücke der Positionen abgefragt.

Veränderungen einführen als Beteiligter im System Hier wird von vorneherein davon ausgegangen, dass das Verhalten des Sozialarbeiters sich verändert, um weitere Änderungen in Gang zu setzen. Der Sozialarbeiter setzt die Vorstellung ein, dass er selbst Mitglied des Systems ist, und führt 9 Das Wort »Sessel« wird im Österreichischen synonym mit »Stuhl« verwendet.

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Veränderung ein, indem er selbst sich in einer »neuen« Weise verhält. Wenn diese Änderung im Verhalten des Sozialarbeiters für das System relevant ist, ist damit zu rechnen, dass im System weitere Änderungen folgen. Die Möglichkeiten dieser Interventionen gehen weit über die klassischer Beratung hinaus und können auch wirksam sein, wenn keine oder eine schlechte Beobachtungsbasis gegeben ist. Beispiele hiezu finden sich im Praxisteil in diesem Buch. Insbesondere der Beitrag von Renate Fischer (S. 192 ff.) zeigt, wie das kreative Spiel mit der Beraterinnen-Position neue Möglichkeiten schafft. Die Symptomverschreibung Als Symptomverschreibung kann jede Handlung verstanden werden, die dazu geeignet ist, an der Interaktion Beteiligten die Möglichkeit zu nehmen, das bisher »ungewollte« Verhalten weiterhin »ungewollt« zu zeigen. Da Symptome ja als etwas zu Beseitigendes betrachtet werden, ist das erwartete Verhalten des Helfers, dass er sich um die Beseitigung bemüht. Zu den Symptomverschreibungen gehören: – Verschreibungen von Ritualen Als Rituale bezeichnet die Systemtheorie regelmäßig zu wiederholende Verhaltensweisen. Ein Paar kam in die Beratung, weil es sich ständig in Konflikte verwickelte. Nachdem die Gefühle der beiden in Bezug auf diese Konflikte erörtert und als akzeptierbar verständlich gemacht waren, erhielt das Paar den Auftrag, dass jeder der Partner je einmal täglich einen Streit vom Zaun zu brechen habe. Am Abend hätten die beiden sich zusammenzusetzen und zu raten, welcher Streit absichtlich vom Zaun gebrochen worden war. Die Wirkung dieses Rituals ist mehrfach: Keiner der Beteiligten weiß mehr, wann es dem anderen Ernst ist. Da der Auftrag besteht, einen Streit vom Zaun zu brechen, kann man es nicht mehr eigenständig tun. Durch das Ratespiel wird eine Art Humor in die Situation eingebracht. Durch das Ratespiel wird eine Situation geschaffen, in der Konflikte erklärt werden können: Schon allein dadurch, dass klar wird, dass einem die übrigen Konflikte ernst waren. Beim nächsten Treffen erklärten die beiden, sie seien sich so lächerlich vorgekommen, dass sie keinen Streit mehr vom Zaun brechen konnten: nicht den beauftragten Streit, aber auch sonst keinen mehr.

– Aufgaben, die beinhalten, dass das Verhalten weitergeführt wird. Fast immer glaubwürdig und damit wirkungsvoll sind Aufträge, die gegeben werden mit dem Argument, dass das Problem noch genauer untersucht werden muss und dass daher versucht werden soll, das Problem einige Male herbeizuführen und gleichzeitig genau zu beobachten.

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Hier ist die Wirkung wohl im Wesentlichen darin zu sehen, dass ein spontanes und »unbeauftragtes« In-das-Problem-Rutschen unmöglich wird. Darüber hinaus wird das Problem zu etwas Erwünschtem gemacht, das heißt in seiner Bedeutung wesentlich verändert. – Der Auftrag, über einen bestimmten Zeitraum nichts zu verändern. Auch dieser Auftrag kann gegeben werden mit dem Argument der genaueren Untersuchung des Problems. Es ist aber auch möglich, Veränderungen im Moment (z. B. bis Alternativen gefunden sind) als gefährlich zu definieren. Auch hier wird das Problem implizit umdefiniert zu etwas, das – zumindest vorläufig – wichtig und nützlich ist. Eine Familie wird zum Jugendamt gebeten wegen einer Schulbeschwerde: Der 7-jährige Sohn werde in der Schule immer aggressiver und sei ununterbrochen in Raufereien verwickelt. Im Gespräch mit den Eltern stellt sich heraus, dass die beiden sich scheinbar immer einig seien über den Umgang mit dem Kind, der Vater aber erlebe, dass seine Frau im Endeffekt nie das tue, was sie beide miteinander besprochen hätten. Er erlebe das zwar als verletzend, gehe aber darüber hinweg, um keinen unnötigen Konflikt heraufzubeschwören. Die Frau meint auch, sie mache das nicht absichtlich, eigentlich sei sie ja der gleichen Meinung wie ihr Mann. Die Sozialarbeiterin stellt fest, dass die beiden sich wohl sehr lieben müssen, wenn sie so sehr bemüht seien, Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen. Andere Familien seien meist nicht so rücksichtsvoll und erlebten sehr oft Uneinigkeiten bezüglich der Erziehung. Die Frage sei, ob es wohl noch andere Möglichkeiten gäbe, sich seiner Liebe zu versichern, als immer einig zu sein. Sie wisse nicht, ob sie den Eltern dabei helfen könne, aber solange die beiden sich aber darüber nicht sicher seien, sei es angebracht, diese Einigkeit aufrechtzuerhalten. Dass das Kind darauf etwas aggressiv in der Schule sei, müsse man wohl bis zu diesem Zeitpunkt in Kauf nehmen. Beim nächsten Besuch der Eltern gibt es Streit und Versöhnung, und einige Monate später, bei einer Rückfrage der Sozialarbeiterin in der Schule, erfährt sie, das Kind sei unauffällig geworden.

Die klare Funktionsdefinition In vielen Problemsystemen – und speziell in mit Sozialhilfen verknüpften Systemen – ist es üblich, dass die beamteten »Helferinnen« nebenbei einen erzieherischen Anspruch stellen und damit die Eigenverantwortlichkeit der Hilfeempfänger in Frage stellen. Das äußert sich dann so, als würde die Helferin Bedingungen stellen bzw. diese womöglich nicht einmal klar definieren. In solchen Fällen ist oft eine Änderungen eingetreten, wenn die Helferin klar definierte, dass sie ausführendes Organ sei und die Bedingungen festgelegte Kriterien, nach denen sie selbst sich zu richten habe. Natürlich kann sie trotzdem zusätzlich anbieten, den Betroffenen bei der Erfüllung der Kriterien zu helfen, wenn diese es wünschen. Damit

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ist die Verantwortlichkeit zurückgegeben und die Betroffenen können aus einer veränderten Position heraus handeln. Der Helfer erklärt sich für inkompetent Diese Intervention stellt offenbar in vielen Situationen eine Herausforderung an die Klientinnen dar, das Problem selbst zu lösen. Sie weist darauf hin, dass der Helfer gar keinen wirklichen Zugang zur Lösung hat: Die Klientin wird diese selbst finden. Ich wende diese Form an: – in Zusammenhang mit der Feststellung, dass es für eine Motivation zur Änderung keine ausreichend positive Zukunftsvision gibt; – in Zusammenhang mit einem Ziel, das ich als wichtig, aber unerreichbar erkläre; – in Zusammenhang mit wertvollen Aufgaben, die die Klientinnen übernommen haben, die aber zwangsläufig mit Leid verbunden sind: »Ich fühle mich in dieser Situation überfordert: Ich kann Sie nicht darin unterstützen, ein schlechterer Mensch zu werden, obwohl sie damit sicher ein leichteres Leben hätten. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann!«; – in Zusammenhang mit Situationen, wo ich den Eindruck habe, dass schon viele Helfer Vorschläge gemacht haben und damit gescheitert sind; – in Zusammenhang mit Lebenssituationen, wo ich den Eindruck habe, dass sich die Klientinnen gegen Unvermeidbares zur Wehr setzen, und sich gerade damit in weitere Schwierigkeiten bringen. Der Wechsel der Seite Ein Seitenwechsel ist immer dann angebracht, wenn die Beraterin sich mit dem Klientensystem in eine Auseinandersetzung hineinarbeitet, in der sie zur Vertreterin der Veränderung wird, während das Klientensystem an dem Problem festhält. Hilfreich zur Erklärung des Prinzips ist das Bild von einem Boot (Abbildung 30): Wenn Sie sich auf einer Seite hinauslehnen, muss sich Ihr Gegenüber auf der anderen Seite hinauslehnen, um das Gleichgewicht zu halten. Erst wenn sie »nachgeben«, bekommt der andere wieder Bewegungsfreiheit.

Abbildung 30: Das Gleichgewicht halten

Herr X. ist ein junger Mann, der dem Sozialarbeiter bei der Individualhilfe schon einige Zeit bekannt ist. Sein Leben war bisher nicht mit viel Erfolg und Glück erfüllt. An einem Freitag kam er wieder zum Sozialarbeiter und berichtete von einem weiteren Schicksalsschlag. Er erzählte weinend, dass seine Mutter vermisst sei

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Übung 10 Wenn Sie gerade kein Boot, aber vielleicht einen zweiten Menschen zur Verfügung haben, dann versuchen Sie doch einmal folgendes Spiel: Stellen sie sich beide so nebeneinander, dass ihr linker Fuß den rechten Ihres Partners mit der Außenseite berührt. Dann grätschen Sie beide die Beine, so dass beide den anderen Fuß einen guten halben Meter weiter außen hinstellen. Nun nehmen sie sich bei der Hand (ihre linke nimmt die rechte Hand ihres Partners) und ziehen. Sie sehen: Je mehr Sie ziehen, desto mehr zieht automatisch der andere in die andere Richtung. Je weiter Sie Ihr Gewicht nach außen verlagern, desto mehr tut der andere das auch. Nun verlagern Sie Ihr Gewicht vorsichtig zum anderen hin (so, dass keiner umfällt) und schauen Sie, was der andere tut. Es scheint, dass die Auseinandersetzung so viel weniger Kräfte raubend ist, nicht wahr?

und er nun schon seit Tagen nichts von ihr gehört habe. Er hat sich für sie immer sehr verantwortlich gefühlt, weil sie schon seit langem psychisch krank war und zur Organisation ihres täglichen Lebens einen Sachwalter und eben seine Hilfe brauchte. Es wurde vor einigen Tagen eine längst notwendig gewordene Entrümpelung in der Wohnung seiner Mutter durchgeführt. Sie hat den Beginn der Aktion am Anfang nicht mitbekommen, weil sie vorher die Wohnung verlassen hat, kam aber mittendrin wieder zurück, fühlte sich beraubt, tobte und lief anschließend davon. Seither gab es von ihr kein Lebenszeichen mehr. Herr X. quälte sich nun mit den Gedanken, ob sie überhaupt noch lebte und wenn, dann müsse sie jetzt fürchterlich frieren und hungern. Er war von den quälenden Gedanken und vor allem von der Ungewissheit gefangen. Er meinte, wenn er seine Mutter nun auch verloren habe, dann habe alles andere auch keinen Sinn mehr. Der Sozialarbeiter versuchte, die Hoffnung, dass seine Mutter durchaus am Leben sein könne, hervorzuheben. Das interessierte ihn aber überhaupt nicht und konnte seinen Druck in keiner Weise mindern. Im Gegenteil, je mehr der Sozialarbeiter ihm gut zuredete, desto hoffnungsloser zeigte er sich (Abbildung 31). In dieser Situation äußerte er das erste Mal, seit der Sozialarbeiter ihn kannte, Suizidgedanken. Dann wurde dem Sozialarbeiter klar, dass er überhaupt keinen Druck nehmen konnte, denn er konnte nichts von den Ereignissen ungeschehen machen und auch nicht die Ungewissheit in Gewissheit verwandeln. Daher blieb t so schrecklich ! Es is ihm nichts anderes übrig, als anzuerkennen, dass Herr X. SozialHerr X. jetzt furchtbar leiden müsse. arbeiter Nach diesem ehrlichen Anerkenntnis beruhigte der Klient sich deutlich. Der Sozialarbeiter versuchte noch Abbildung 31: Wer ist stärker? Da

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zu klären, ob Herr X. Anlaufstellen für Hilfe am Wochenende wissen möchte. Das wollte er nicht. Es war ihm nur danach, nach Hause zu gehen und sich auszuheulen. Von Suizid sprach er nicht mehr. Zu seiner Sicherheit bat der Sozialarbeiter Herrn X. um das Versprechen, dass sie sich am Montag darauf wieder zu einem Gespräch sehen würden. Dieses Versprechen bekam er und der Termin wurde auch eingehalten.

Praxis

Die folgenden Geschichten stammen aus Abschlussarbeiten von Teilnehmern und Teilnehmerinnen an Fortbildungslehrgängen in Systemischer Sozialarbeit. Sie zeigen, wie sich systemisches Denken in der Praxis umsetzen lässt. Besonderes Augenmerk findet dabei meist die Tatsache, dass die Helferinnen im Zuge ihrer Interventionen eine Änderung einführen, die für das System und für die am System Beteiligten tatsächlich einen Unterschied macht. Es ist nicht eine bestimmte Methode, sondern der Blick darauf, was sich wiederholt oder bei »normaler« Vorgangsweise wiederholen würde, was den Ausgangspunkt für systemische Interventionen ausmacht. Ist demgemäß ein Teufelskreis identifiziert und geklärt, wie die Sozialarbeiterin an der Aufrechterhaltung mitwirken würde, wenn …, dann kann die Veränderung eingeführt werden, indem von ihr Verhalten gesetzt wird, das einerseits nicht ignoriert oder entwertet werden kann, andererseits das System ausreichend verstört, um eine Veränderung herbeizuführen. In einigen Geschichten ist dann auch deutlich zu sehen, dass die weiteren Veränderungen von Klientenseite her kommen und dass die Steuerung nicht in der Hand der Sozialarbeiterin liegt. Trotzdem: Wenn der Teufelskreis durchbrochen ist, können sich die produktiven Kräfte des Systems wieder entwickeln.

Praxisbeispiel Bewährungshilfe: Ein Hund kam in die Küche … Renate Pokorny Renate Pokorny · Praxisbeispiel Bewährungshilfe

»Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei, da nahm der Koch ein Messer und schlug den Hund entzwei, da kamen viele Hunde, und gruben ihm ein Grab, und setzten einen Grabstein, auf dem geschrieben stand: Ein Hund kam in die Küche …« Was soll dieses Lied mit Sozialarbeit zu tun haben? Nun, offensichtlich findet dieses Lied kein Ende. Es ist ein Kreislauf, der sich, einmal begonnen, ständig wiederholt. Das kommt einem Sozialarbeiter doch schon bekannter vor: Da läuft etwas ab, das sich ständig wiederholt. Wie bei einem Klienten, der ständig dasselbe Verhalten zeigt und darauf ständig dieselbe Reaktion erfährt, worauf er wieder das gleiche Verhalten zeigt … Weiß man (um den Vergleich weiter zu strapazieren), dass man der Hund in dem Lied ist, der Koch, das Ei, das Messer etc.? Wohl kaum – schließlich ist das Lied ein Kunstprodukt und existiert nur, wenn es jemand singt. Und man kann davon ausgehen, dass es – obwohl kein offenkundiger Schluss auszumachen ist – einmal enden wird, weil es dem Sänger zu langweilig wird, oder es hört ihm keiner mehr zu, die Zuhörer sind eingeschlafen … Auch könnte der Sänger natürlich das Lied modifizieren, der Koch könnte Hugo heißen, er könnte ohne Eier kochen … Absurd? Weit hergeholt? Nur dann, wenn man ein Kunstprodukt wie etwa ein Lied, eine Geschichte oder Ähnliches als Analogie ausschließt. Was aber ist systemische Theorie anderes als ein Kunstprodukt? Ich möchte behaupten, dass systemische Theorie ein sehr nützliches Kunstprodukt ist, um sinn- und lustvolle Sozialarbeit zu betreiben, und das in den folgenden Abschnitten näher erläutern.

Aufgabe und Rahmenbedingungen der Bewährungshilfe Rahmenbedingungen In der Regel wird Bewährungshilfe vom Gericht angeordnet, begleitend zu einer offenen Probezeit, entweder nach einer bedingten Verurteilung oder nach einer bedingten Entlassung. Die Probezeit und damit auch die Betreuung der Bewährungshilfe dauert in den meisten Fällen 3 Jahre. Nur in geringem Ausmaß ist auch eine freiwillige Betreuung ohne richterliche Anordnung möglich. Die Kontakte zwischen Bewährungshelfer und Klient1 finden an verschiedenen Orten (Ge1 Da die meisten meiner Klienten männlichen Geschlechts sind und der Einfachheit halber möchte ich weiterhin bei der männlichen Form bleiben.

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schäftsstelle, Wohnung des Klienten, Gaststätten, Besuchszimmer der Gefängnisse etc.) statt. Das zeitliche Ausmaß ist flexibel, der Durchschnitt ist ein ca. 2- bis 3-wöchiger Abstand zwischen den Kontakten. Aufgabe der Bewährungshilfe Aufgabe der Bewährungshilfe ist es, durch sozialarbeiterisches Handeln eine weitere Straffälligkeit des Klienten während der Probezeit, und möglichst auch darüber hinaus, zu verhindern. Neben dieser juristisch festgelegten Zielsetzung wird auch eine allgemeine Verbesserung der psychosozialen Situation als Ziel angesehen. Diese Zielsetzungen natürlich nicht immer beide zu erreichen. Es kann z. B. trotz einer neuerlichen Straftat die Entwicklung des Klienten voranschreiten, es kann sich aber auch seine Situation insgesamt sehr verschlechtern, ohne dass er eine neuerliche Straftat setzt.

Wie kann man in der Bewährungshilfe systemisch arbeiten? Sobald die Bewährungshelferin mit dem Klienten Kontakt aufnimmt, beide agieren und eine Beziehung entsteht, stellt sich die Frage, wie sie die Interaktionen mit ihrem Klienten gestaltet und reflektiert. Die folgende Darstellung ist mein persönlicher Versuch, Systemische Sozialarbeit in meiner Profession als Bewährungshelferin umzusetzen. Dabei folge ich diesen Fragen: – War alles Bisherige falsch? Wie kann man die systemische Betrachtungsweise mit anderen Vorstellungen von Sozialarbeit verbinden? Beispiel »Soziale Einzelfallhilfe«. – Wie mache ich mir ein Bild? Wie kann ich Interaktionen systemisch betrachten, welche Methoden können hier hilfreich sein? Sculpting und andere »Brillen«. – Wie und was tun? Kommunikation und Handeln als Arbeitsmittel. – Welche Methoden nützen? Vom Fragen und Antworten und dem Segen der positiven Konnotation. – Systemisches Denken – ein psychohygienisches Mittel? Verantwortlichkeit und deren Grenzen systemisch betrachtet – ein Seufzer der Erleichterung. – Humor und spontanes Handeln? Darf das denn sein? Mordpläne und andere Paradoxien.

War alles Bisherige falsch? Grundlage der Arbeit in der Bewährungshilfe ist die Beziehung zwischen Klient und Sozialarbeiter. Durch diese Beziehung soll sich die Situation des Klienten verbessern. Das bedeutet, dass der Klient nicht mehr straffällig werden und sich in eine positive Richtung weiterentwickeln soll. Zur Beschreibung der Arbeitsweise

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der Bewährungshilfe möchte ich mich nun auf die »7 Grundsätze in der Sozialen Einzelfallhilfe« beziehen, wie sie Felix Biestek (1968) aufführt, und daher diese kurz auflisten: – Individualisieren – der Klient soll als Individuum behandelt werden. – Bewusster Ausdruck von Gefühlen – Gefühle dürfen und sollen ausgedrückt werden. – Kontrollierte gefühlsmäßige Anteilnahme – wohlwollendes Verständnis für den Klienten soll gefunden und ausgedrückt werden. – Annahme des anderen – der Klient soll als Person mit eigenem Wert angenommen und respektiert werden. – Nichtrichtende Haltung – trotz ungünstigem und negativem Verhalten soll der Klient nicht verurteilt werden. – Selbstbestimmung des Klienten – Entscheidungen trifft der Klient selbst. – Verschwiegenheit – diskreter Umgang mit den erhaltenen Informationen. Wie stellt sich nun die Beziehung Sozialarbeiterin – Klient aus systemischer Sicht dar und wie lassen sich diese Sichtweisen zusammenfügen?

Abbildung 32: Beziehung Klient-Sozialarbeiter aus systemischer Sicht

In der Betreuung des einzelnen Klienten, die ja gerade in der Bewährungshilfe genau definiert ist – durch die richterliche Anordnung oder indem er freiwillig um Bewährungshilfe ersucht –, steht die Einzelbeziehung Sozialarbeiterin-Klient zunächst besonders im Vordergrund. Wie wichtig diese Beziehung jedoch für den Klienten wird, ist sehr unterschiedlich. Eine systemische Betrachtungsweise (siehe Abbildung 32) erleichtert es, den Einfluss anderer Beziehungen des Klienten zu erkennen, einzuschätzen und in das Gespräch mit dem Klienten einzubeziehen. Auch die Sozialarbeiterin ist in ihrer Beziehung zum Klienten von vielen anderen Systemen mitbestimmt (sowohl private Beziehungen als auch Geschäftsstellenleiter, Kollegen, Gericht, andere Institutionen, mit denen sie zusammenarbeiten muss, etc.) – eine Tatsache, die ohne systemische Betrachtungsweise oft übersehen wird.

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Individualisieren bedeutet also aus systemischer Sicht nicht nur die Einzelperson des Klienten wahrzunehmen, sondern auch seine sozialen Bezüge als Rückkoppelungsprozesse zu sehen, die auf dieses Einzelsystem Klient Einfluss haben. Das bedeutet nicht zwangsläufig, mit allen diesen Bezugspersonen arbeiten zu müssen, sondern sich deren Bedeutung bewusst zu werden und im Gespräch mit dem Klienten diese Bezugsperson als Gesprächsthema hereinzuholen. Innerhalb der Betreuungsbeziehung sind der bewusste Ausdruck von Gefühlen, die kontrollierte gefühlsmäßige Anteilnahme und die Annahme des Klienten als Person – als grundsätzlicher Respekt vor dem anderen – Teil der wechselseitigen Interaktion zwischen Sozialarbeiterin und Klient. Gerade indem ich durch Einbeziehung des Umfeldes den Klienten besser verstehen kann, gelingt es leichter, den Klienten anzunehmen und bewusst auch seine positiven – und meist zu wenig beachteten – Anteile zu betonen und ihn in seiner Gesamtheit als Mensch in seinen speziellen Lebensumständen zu respektieren. Daraus ergibt sich auch ganz selbstverständlich eine nichtrichtende Haltung. Wenn ich den Klienten in seinen Bezügen zu begreifen versuche, zeigt sich, sozusagen automatisch, dass er sich – wie jeder Mensch – bemüht, sein Leben – so gut er kann – zu gestalten. Dies schließt schließlich Irrtümer und für andere oder auch ihn selbst ungünstiges Verhalten nicht aus. Ohne die Selbstverantwortung des Klienten zu negieren, kann ich so als Sozialarbeiterin auf moralisierende Herabsetzung verzichten und eine sinnvollere Arbeitshaltung einnehmen. Hier wird eine fiktive, aber häufige Konstellation dargestellt (Abbildung 33): die Sozialarbeiterin kennt nur den Klienten, ein wenig auch dessen Mutter, die sie bei Hausbesuchen sieht, aber viele andere für den Klienten sehr wichtige Personen kennt sie nicht persönlich, nur durch die Erzählung des Klienten. Wie wichtig gerade die Selbstbestimmung des Klienten ist, wird an diesem Modell deutlich – hier wird dargestellt, wie der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Klienten sicher nicht die Sozialarbeiterin-Klient-Beziehung ist, sondern seine anderen Beziehungen – zu den Eltern, Freundin, Kollegen. Rückt man nun nicht wie in Abbildung 32 die Beziehung zwischen Sozialarbeiterin und Klient in den Mittelpunkt, sondern den Klienten selbst, so wird deutlich, wie notwendig es ist, dass der Klient selbst als eigenständig verantwortlich in seinen Beziehungen und in seinem Handeln gesehen wird. Die Betreuungsbeziehung ist nur ein kleiner Teil seines Lebens, der sich zwar auf die anderen Teile dieses Systems auswirken wird und soll, aber nur im Agieren und Reagieren des Klienten, gerade in der Betreuung einer Einzelperson, wie es in der Bewährungshilfe zumeist der Fall ist. Der Grundsatz der Verschwiegenheit Abbildung 33: Beziehungsmodell verändert sich nicht durch eine syste-

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mische Betrachtung – wenn er nicht beachtet wird, wird es wohl eine ungünstige Veränderung des Systems Bewährungshelferin-Klient bedeuten; statt der erhofften Entwicklungsrichtung, Vertrauen aufzubauen, wird es einen Kreislauf des Misstrauens entstehen lassen, wo es nicht leicht ist, wieder auszusteigen. Wie wirkt Bewährungshilfe? Wenn man versucht, die Wirkungsweise kausal darzustellen, käme man zu etwa folgendem Ergebnis: Die Sozialarbeiterin wirkt ein auf den Klienten und der Klient ändert sein Verhalten gegenüber anderen Personen. Die Nachteile eines solchen Modells sind leicht zu erklären: Einerseits wird hier das Hauptaugenmerk auf ein »fehlerhaftes Verhalten« des Klienten gelegt, welches »verbessert« werden soll. Das impliziert, dass es leicht geschehen kann, dass nicht die ganze Person des Klienten wichtig ist, schon gar nicht seine Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten, sondern Symptome, Kriminalität, abweichendes Verhalten von der Norm als Negativum etc. Andererseits obliegt die alleinige Last der Veränderung der Sozialarbeiterin, die gegenseitige Interaktion zwischen Sozialarbeiterin und Klient (wenn man schon der Einfachheit halber sonstiges Umfeld ausblendet) wird gänzlich außer Acht gelassen. Auch die Prozesshaftigkeit der Entwicklung der Betreuungsbeziehung wird in keiner Weise deutlich. Abbildung 34 ist ein Versuch, darzustellen, wie sich – in gegenseitiger Beeinflussung – im Laufe der Zeit die Beziehung aus systemischer Sicht entwickeln könnte. Was die Sozialarbeiterin hier durch ihre Betreuung zu bewirken versucht, ist, dass durch ihr Verhalten bzw. ihr Interagieren mit dem Klienten sich die Beziehung – mit der Zeit – in eine bestimmte Richtung entwickelt, die für den Klienten (und damit auch für die Sozialarbeiterin) günstig ist. War nun allerhand falsch an der bisherigen Sozialarbeit und der Art, sie zu betrachten und darzustellen? Die Frage kann man wohl nicht in einem »Nein« oder »Ja« beantworten, sondern in einem umfassenderen Anspruch auf einer Metaebene. Offensichtlich lassen sich die wichtigen Grundhaltungen traditioneller Sozialarbeit durchaus mit einem systemischen Ansatz vereinen. Es zeigt sich nur, dass die systemische Sichtweise einem reinen Betrachten von Kausalzusammenhängen für Reflexion und Praxis des Handelns vorzuziehen ist. Sie ermöglicht, über bisherige Grenzen hinauszugehen, die Komplexität des Geschehens besser zu erfassen, mehr mit den positiven Anteilen zu arbeiten und die Sozialarbeiterin in ihrer Verantwortlichkeit zu de- Abbildung 34: Prozesshafte Entwicklung der Betreuungsbeziehung finieren, aber auch zu entlasten.

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Wie mache ich mir ein Bild? Dazu ist nun schon einiges gesagt worden (siehe Abbildungen 32 bis 35). Das heißt, ich sehe mich, den Klienten, andere Personen und Institutionen, die als wichtig für den Klienten erkannt werden, als Systeme, die miteinander interagieren. Dadurch entsteht ein momentanes Standortbild, welches sich im Laufe der Beziehung verändert. Als Beispiel möchte ich die Veränderung im Spannungsfeld Gericht-Bewährungshilfe-Klient anführen, die zumindest in der Anfangphase einer vom Gericht verordneten Betreuungsbeziehung oft zu beobachten ist. Entwickelt sich die Betreuung günstig, erfolgt eine Verschiebung. Zu Beginn der Betreuung sieht der Klient meist die Systeme Gericht – Bewährungshilfe als sehr eng verbundene. Die Bewährungshelferin wird als »Kontrolleurin« erlebt, es besteht ein gesundes Misstrauen, beim Kontakt zur Bewährungshelferin ist das Gericht als »Auftraggeber« sehr präsent für den Klienten. Gelingt es nun, im fortlaufenden Kontakt mit dem Klienten dieses Misstrauen abzubauen, einen guten Beziehungskontakt zwischen Bewährungshelfer und Klient aufzubauen, verschiebt sich das Erleben des Betreuten und des Betreuers, die Beziehung zwischen diesen beiden wird gewichtiger, die Beziehung zum Gericht tritt in den Hintergrund. Entwickelt sich diese Verschiebung nicht, wird es dem Bewährungshelfer schwerfallen, mit dem Klienten so zu arbeiten, dass er dies selber als sinnvoll und befriedigend erlebt. Sicher gilt es, diese Haltung des Klienten zuerst zu respektieren und auch den positiven Aspekt daran – Schutz vor Bevormundung, Schutz der Privatsphäre etc. – positiv zu konnotieren, das heißt, die positiven Anteile daran zu erkennen und dies dem Klienten gegenüber auch auszudrücken. Dieses paradoxe Reagieren auf die Abwehr und Vorsicht des Klienten bringt bereits den ersten Schritt in die erwünschte Richtung. Hier kann z. B. die Definition von de Shazer in »Der Dreh« (1989a) als Reflexionshilfe nützlich sein. Er teilt in diesem Buch die Klienten, die zu ihm in Therapie kommen – zum Teil nicht »rein freiwillig«, sondern von anderen Institutionen geschickt –, in Besucher, Klagende und Kunden

Abbildung 35: Gericht – Bewährungshelfer – Klient

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ein, und richtet danach sein Verhalten und die Aufgaben, die er ihnen zum Abschluss des Gesprächs mitgibt. – Besucher ist jemand der kein Anliegen oder Problem formuliert, an dem er etwas ändern will. – Klagender hat ein Anliegen, sieht aber selber keine Ansätze, wie er daran etwas ändern könnte. – Kunde ist jemand, der sowohl ein Anliegen, einen Veränderungswunsch formuliert, aber auch schon bereit ist, selbst an einer Veränderung mitzuarbeiten. Legt man diesen Gedankengang nun auf die Bewährungshilfe um, zeigt sich, dass die meisten Klienten (da die meisten Betreuungen vom Gericht angeordnet werden) hier zu Beginn als Besucher zu bezeichnen wären. Typische Äußerungen sind z. B.: »Ich stelle eh nichts mehr an, eigentlich brauche ich keine Bewährungshilfe«, »So was ist mir ja nur einmal passiert, und bei mir ist sonst ja alles in Ordnung« und Ähnliches. Wichtig erscheint es mir hier, nicht dem Klienten die Wünsche des Sozialarbeiters überzustülpen, sondern offen zu bleiben, was vom Klienten kommt, und dort mit dem Gespräch weiterzumachen, etwa auf solche Äußerungen positiv zu reagieren: »Es freut mich zu hören, dass Sie selber schon Möglichkeiten gefunden haben, damit Ihnen in Zukunft solche Unannehmlichkeiten erspart bleiben. Da haben wir eigentlich viele Möglichkeiten, die Betreuung so zu gestalten, wie es Ihnen angenehm ist. Treffen müssen wir uns, aber ich bin sehr für Vorschläge von Ihnen offen, wann und wo wir uns treffen und worüber wir sprechen könnten …« Oft genügt es völlig, beim ersten Gespräch den Rahmen der Betreuung zum Thema zu haben, denn daran ist der Klient meist interessiert. Es ist manchmal zu Beginn die erste und einzige Aufgabe, die der Bewährungshelfer und der Klient gemeinsam haben. Es kann reichen, neue Besuchstermine auszumachen. Da die Bewährungshilfe eine relativ langfristige Beziehungsarbeit ist – in den meisten Fällen ca. 3 Jahre –, ist es besonders wichtig, nicht bei einer einmaligen Situation hängenzubleiben, sondern die laufenden Veränderungen zu bemerken und zu reflektieren, sowohl allein als auch im Team. Wie und was tun? Schon aus dem vorigen Abschnitt ergibt sich, dass im System BewährungshelferKlient das Arbeiten mit den positiven Anteilen und Ressourcen des Klienten die Grundlage bildet. Meist kommt ja der Klient deshalb nicht besser zurecht, weil er immer wieder negativ verstärkt wird. Wenn jemand in seinen wichtigen Beziehungen immer wieder erfährt und bestätigt wird, dass er nichts zustande bringt, dass sein Verhalten negativ ist, dass er ein Versager ist etc., wird das sein internes System als Person stark bestimmen. Es fehlt ihm dann an inneren Bildern, wie ihm etwas gelingen könnte, wie sein Verhalten von anderen Menschen positiv bewertet wird.

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Selbst wenn ihm etwas gelingt, wenn er Anerkennung bekommt usw., kann er es oft nicht mehr wahrnehmen, weil seine bisherige Erfahrung ihm anderes gelehrt hat, weil er sich seiner selbst in diesem Sinne nicht bewusst ist. Es fehlt ihm dafür die »passende Brille«, das innere Bild. Hier versucht nun die Bewährungshilfe im Kontakt mit dem Klienten immer wieder solche Bilder in ihm zu wecken und zu verstärken. Auch die spontan als negativ erlebten Verhaltensweisen des Klienten haben immer eine positive Kehrseite, wirken sich irgendwo auch günstig aus, dienen einem sinnvollen Zweck für den Klienten, haben zumindest diesbezüglich eine positive Intention. Spontan erscheint es z. B. nur negativ, dass ein Klient nicht arbeiten gehen will. Wenn der Bewährungshelfer aber auch die positiven Anteile der Situation wahrnehmen kann – z. B. dass der Klient dadurch seine alte Großmutter, bei der er lebt, nicht alleine lässt oder dass er sich z. B. damit vor Misserfolgen in der Arbeitswelt, etwa bei Vorstellungsgesprächen, schützen will –, kann er sie dem Klienten mitteilen. Sogar unabhängig davon, ob der Klient sich dieser Sichtweise des Bewährungshelfers anschließen kann, wird ihm ein Bild vermittelt, dass er im Rahmen seiner derzeitigen Situation sinnvoll handelt, anstatt dass er nur auf negative Bewertung stößt – eine Erfahrung, die er bisher reichlich gemacht hat. Dieses positive Konnotieren ist also eine ganz wesentliche Grundlage im Kontakt mit dem Klienten. Wenn er sich durch positive Verstärkung selbst besser akzeptieren kann, wird es ihm auch leichter möglich, andere Lösungsmöglichkeiten für seine Probleme bzw. Bedürfnisse zu finden. Oft erscheinen dem Klienten solche positiven Konnotationen zuerst verwirrend, können ihm aber helfen, ein anderes, oft auch ganzheitlicheres Bild von sich selbst entstehen zu lassen. Wesentlich dabei ist, dass die Bewährungshelferin in ihren Aussagen authentisch ist, dass sie von dem, was sie sagt, auch selbst überzeugt ist. Sie muss soviel Verständnis für das Verhalten des Klienten entwickeln, dass sie diese positiven Seiten sehen und ansprechen kann. Wenn dies der Fall ist, werden solche Äußerungen auch beim Klienten positiv ankommen. Dasselbe gilt auch für andere Kontakte, die man als Bewährungshelferin im Laufe der Betreuung hat, z. B. mit Ämtern und Behörden. Immer wieder kommt es vor, dass man als Bewährungshelferin mit der Situation konfrontiert wird, dass Klienten angeben, darunter zu leiden, von der Polizei unkorrekt behandelt zu werden (Ähnliches passiert auch manchmal bei Vorsprachen auf Sozialämtern bzw. anderen Behörden). Im Fall der Polizei ist dies besonders unangenehm, weil unsere Klienten – da sie ja »Täter« sind – meist von vornherein kein besonders gutes oder entspanntes Verhältnis zur Polizei haben. Beispiel: Intervention bei der Polizei Meine Klientin D. wurde bei Besuchen der Polizei ziemlich überrumpelt und eingeschüchtert. In der Folge suchte ich den betreffenden Polizeipostenkommandanten auf, um mit ihm über die Angelegenheit zu sprechen, in der Absicht, meiner Klientin für kommende Polizeikontakte (die zu erwarten waren, da Ermittlungen liefen) eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen (zusätzlich habe ich sie

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über ihre rechtliche Situation aufgeklärt und mit ihr erarbeitet, wie sie diese besser einfordern kann). Gleich nach der Begrüßung und nachdem ich mich vorgestellt hatte, versicherte ich dem Polizeikommandanten, dass ich überzeugt sei, dass er eine sehr schwierige Aufgabe zu erfüllen habe. Von dieser Tatsache bin ich auch wirklich überzeugt. Obwohl ich natürlich wegen meiner Klientin hier sei, denke ich doch, schloss ich an, dass wir insofern ein gemeinsames und wichtiges Ziel mit unserer Arbeit verfolgen, als wir beide – im staatlichen Auftrag – daran interessiert seien, Kriminalität zu verhindern – er durch deren Bekämpfung und ich durch meine Betreuung. Dann ging ich auf das Problem meiner Klientin ein, die offensichtlich mit der Art, wie die letzte Einvernahme ablief, sehr überfordert gewesen sei, und dies ja auch für die Ermittlungen nicht günstig sei. Da ich mit großer Höflichkeit und Überzeugung auftreten konnte, war auch der Postenkommandant sehr höflich zu mir, obwohl er sich über meinen Besuch sicher nicht freute und da ich aber seine berufliche Kompetenz so direkt und positiv ansprach, stellte er auch die meinige nicht in Frage. Jedenfalls konnten wir uns auf ein weiteres Vorgehen einigen, das zu einer besseren Situation beitrug – für meine Klientin D., für mich und auch für die Polizei. Bei der nächsten Einvernahme meiner Klientin durfte ich anwesend sein, das trug für sie dazu bei, sich etwas weniger ausgeliefert zu fühlen, ich hatte die Sicherheit, dass alles korrekt zuging, und der einvernehmende Polizist war sehr sachlich und höflich, ja er bewies zunehmend Verständnis für ihre Lage (es passieren ihr immer wieder »zwanghafte« Diebstähle), und außerdem ersparte sich der Postenkommandant, extra eine weibliche Kollegin von auswärts hinzuzuziehen, wie dies sonst vorgeschrieben gewesen wäre. Abseits meiner Intervention war sie in der Folge noch wichtige Zeugin bei einem Verkehrsunfall und hat inzwischen ein ungewöhnlich entspanntes Verhältnis zur Polizei – sie kennt dort schon alle, auch sie ist dort bekannt, nun auch noch in einer positiven Rolle.

Die Betreuung im ländlichen Gebiet findet auf Hausbesuchsbasis statt oder kann in Lokalen erfolgen. Die Bewährungshelferin kann hier oft das Setting, in dem der Kontakt stattfindet, nur teilweise bestimmen. Sie ist vor Überraschungen nicht sicher, sie weiß vorher nicht, wen sie bei einem Hausbesuch alles antrifft. Man muss dann abwägen, ob es sich in der Situation lohnt oder ob es sogar notwendig ist, die Gesprächsumstände zu verändern, oder ob man mit der gegebenen Situation etwas Nützliches anfangen kann. Hier kann man keinesfalls generalisieren. Es ist nötig, ein sehr flexibles Setting zu akzeptieren. Abgesehen von den räumlichen Gegebenheiten fühlen sich auch viele Klienten sicherer, wenn sie nicht zum Bewährungshelfer in dessen Büro kommen müssen, sondern zu Hause in der eigenen Umgebung besucht werden. Auch bei Lokalbesuchen ist man zwar nicht sicher, wer sich dort auch noch aufhält; gerade jüngere Klienten möchten es jedoch oft gern, dass man ein Lokal aufsucht, wo sich Freunde und Bekannte von ihnen aufhalten. Die Palette reicht also von stigmatisierender Wirkung bis zur Aufwertung des Klienten: Er kann in der Beistellung einer Bewährungshelferin ein Plus für sein Image z. B. im Freundeskreis sehen. Oft haben auch Freunde

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einen Bewährungshelfer, was gut für die Position innerhalb des Freundeskreises ist. Wenn es der Bewährungshelferin gelingt, flexibel zu bleiben und verschiedene Gegebenheiten als Ressource zu nützen braucht sie sich auch selbst nicht allzu sehr vor überraschenden Situationen zu schützen. Beispiel: Klient M. Herr M. hatte Alkoholprobleme und war gerade zur stationären Therapie im Landeskrankenhaus, als ich zu seiner Bewährungshelferin bestellt wurde. Er hatte im volltrunkenen Zustand jemanden, zu dem er eigentlich ein positives Verhältnis hatte, schwer verletzt. Die ersten Monate der Betreuung suchte er mich immer in der Geschäftsstelle auf, wenn er auf seinem Weg vom Krankenhaus nach Hause war, was ca. alle 2 bis 3 Wochen der Fall war. In der ganzen Zeit war er sehr aufgeschlossen, zumal er selber eine Betreuung begleitend zur Probezeit gewünscht hatte. Das Bild, das ich mir von ihm machte, war dennoch sehr diffus. Viele Dinge, die er mir über seine Familie, seine sozialen Bezüge erzählte, blieben mir unverständlich. Nach seiner endgültigen Entlassung aus der Therapie besuchte ich ihn das erste Mal zu Hause, weil er mich dazu eingeladen hatte. Er war der Sohn einer Gastwirtin, in einem kleinen Dorf auf dem Land. Nachdem sich unser Kontakt bislang auf Zweiergespräche beschränkt hatte, fühlte ich mich selbst mit der Situation überfordert. Das »Wohnzimmer« der Familie war eigentlich die Gaststube, wo auch immer mindestens 2 bis 3 Stammgäste anwesend waren. Vom Klienten wurde nicht nur die anwesende Familie teilweise oder ganz in die Gespräche einbezogen, sondern auch für die Stammgästen war es selbstverständlich, am Gespräch teilzunehmen. Erstens konnte man sich gar nicht so leise unterhalten, dass sie nicht alles mithörten, zweitens war es dem Klienten nicht unlieb, wenn alle Anwesenden – Mutter, Bruder, Schwägerin, Stammgäste – auch ihre Gesprächsbeiträge lieferten. Nachdem ich zunächst ernsthaft verunsichert war und es noch zwei-, dreimal mit Gesprächen in einem anderen Lokal versuchte, überlegte ich mir die Situation und ließ mich darauf ein, das vom Klienten bevorzugte »Setting« zu akzeptieren. Es stellte sich in der Folge heraus, dass der Klient dies sehr zu schätzen wusste. Mein Erscheinen im mütterlichen Gasthaus brachte für ihn einen großen Prestigezuwachs und machte allen deutlich, dass er sich wirklich »bessern« wollte. Es gab auch während der 2 Jahre, die ich ihn betreute, nur einen einzigen Rückfall, wo er Alkohol zu sich nahm. Gelegentlich wurde ich auch von den anderen Anwesenden (Gäste, Familie) um Informationen gebeten, z. B. bei amtlichen Schreiben, Auskünfte über Erbrecht und ähnliche Dinge. Der Klient war auch durchaus interessiert, mit mir gelegentlich alleine zu sprechen, dann besuchten wir sein Pferd auf der Koppel oder gingen ein wenig spazieren. Mit der Zeit entwickelte ich auch die passende Sprache, um provokante Äußerungen der Gäste zu stoppen (z. B. wenn der Klient mit mir eine Ratenzahlung besprach und sich ein Gast einmischte: »Du wirst doch nicht so blöd sein und das zahlen«, erwiderte ich, dass es eh viel besser wäre, der betreffende Gast würde das für ihn

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bezahlen, u. ä. Repliken). Insgesamt zeigte sich in der insgesamt zweijährigen Betreuung eine sehr positive Entwicklung des Probanden, er wurde eigenverantwortlicher und selbständiger und hatte seine Alkoholprobleme ziemlich gut im Griff, und zu mir hatte er eine auch für mich sehr angenehme, vertrauensvolle Beziehung, wir konnten gemeinsam für anfallende Probleme gute Lösungen finden. Es ergeben sich immer wieder im Laufe einer Betreuung Situationen, mit denen man nicht gerechnet hat. Hier ist die grundsätzliche Bereitschaft, sich auf das veränderte System einzulassen, oft ein Gewinn. Im Folgenden ein Beispiel, bei dem außer der überraschenden Änderung der Situation auch die Rolle der Gesprächstechnik des zirkulären Fragens beleuchtet wird. Beispiel: Klient M. und dessen Mutter haben einen Konflikt Während ich mit Herrn M., einem Klienten Anfang 20, in dessen Zimmer redete, kam die Mutter sehr aufgebracht herein um sich über verschiedene Verhaltensweisen von Herrn M. zu beschweren. Herr M. hatte im Gespräch mit mir auch schon angedeutet, dass es momentan »dicke Luft« zu Hause gebe. Nach kurzer Frage an Herrn M., ob es ihm recht sei, wenn wir jetzt gemeinsam über die Angelegenheit reden, war dieser einverstanden. Die Mutter von Herrn M. beklagte sich, dass er schon wieder nicht arbeite, Geld aus ihrer Geldbörse entnommen habe, abends in seinem Zimmer (zu dem es einen eigenen Eingang gab) Freunde empfing und so laut sei, dass sich die Nachbarn beschwerten; sie müsse ihn jetzt hinausschmeißen, wenn das so weitergehe. Herr M. war zunächst recht still, wie das überhaupt seine Art ist. In der Folge fragte ich beide, Herrn M. und seine Mutter, wie sie glauben, dass es dem jeweils anderen gehe, wie sie glauben, dass der jeweils andere glaubt, dass es ihm selber geht, und beide zeigten sich recht interessiert, diese Fragen zu beantworten. Es stellte sich heraus, dass beide eigentlich eine recht passende Vorstellung über den anderen und dessen Befinden hatten und dass sich der Konflikt aufgeschaukelt hatte, weil sie nur in Form von Vorwürfen miteinander kommunizieren konnten, weil jeder auf den anderen wütend war – die Mutter wegen der angegebenen Dinge, Herr M., weil er annahm, dass die Mutter ihn nicht versteht und nicht mag und weil ihm bei manchen Sachen gar nicht klar war, wie sehr sie die Mutter wirklich störten. Ich stellte dann beiden die Frage, ob sie glauben, dass der jeweils andere sie mag, Frau M. glaubte dies schon, ihr Sohn war sich nicht so sicher, obwohl Frau M. eigentlich überzeugt gewesen war, dass ihr Sohn eh weiß dass sie ihn gerne hat. Daraufhin konnten sie sich gegenseitig versichern, dass sie sich – trotz aller derzeitigen Konflikte – gerne mögen. Die Mutter nahm die Drohung des Hinausschmeißens aus der Wohnung zurück und konnte mit dem Sohn aushandeln, welche Dinge geändert werden müssen, damit es für sie beide wieder ein angenehmes Zusammenleben gibt: Der Klient M. versprach, abends leiser zu sein und sich wieder nach Arbeit umzusehen. Seine Mutter schenkte ihm daraufhin das Geld, das er ihrer Börse entnommen hatte, und konnte ihm auch mitteilen, welche Sorgen sie für seine Zukunft habe, wenn er keine Arbeit sucht.

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Nachdem es zuerst zwei Fronten gegeben hatte, einerseits die der Mutter, die verschiedene Verhaltensweisen kritisierte und mit Rausschmiss drohte, andererseits die des Klienten, der eine sture Lass-mich-doch-in-Ruh-Haltung einnahm, konnte durch diese Fragetechnik die dahinter verborgene Gefühlsebene hereingeholt werden. Nachdem es auf dieser Gefühlsebene zu einer Klärung gekommen war (ich mag dich – du magst mich), konnten die rein sachlichen Aspekte ganz mühelos geklärt werden. Günstig hat sich hier getroffen, dass ich einerseits als Bewährungshelferin flexibel mit der Situation umgehen und mich darauf einlassen konnte, andererseits, dass sowohl Herr M. als auch seine Mutter zu mir schon so viel Vertrauen hatten, dass sie auf meine Vermittlung und auf meine Fragen eingegangen sind. Das zirkuläre Fragen ist aber auch dann sinnvoll einzusetzen, wenn man nur zu zweit mit dem Klienten spricht, damit kann man abwesende Familienmitglieder (oder andere wichtige Bezugspersonen) hereinholen: – »Was könnte sich da der Vater denken, wenn Sie dies oder jenes zu Ihrer Mutter sagen?« – »Wie, glauben Sie, ginge es Ihrer Freundin, wenn sie wüsste, dass ihre Mutter von dieser Sache weiß?« – »Was, glauben Sie, hätten Sie für einen Eindruck, wenn Sie jetzt der Richter bei dieser Gerichtsverhandlung wären und der Angeklagte (also Sie) würde dieses und jenes sagen, würde sich so und so verhalten?« Wenn ein Klient noch nicht auf allzu persönliche Themen eingehen will oder sich im Laufe der langen Betreuung gerade kein akutes Thema ergibt, kann es hilfreich sein, zunächst oberflächlich erscheinende Themen zu besprechen. Diese Themen können genützt werden, um »analoge Gespräche« zu führen. Man kann davon ausgehen, dass alles, was der Klient erzählt, mit ihm etwas zu tun hat, auch kann er sich bei solchen Gesprächen leichter in Symbolen ausdrücken, es kann auch dadurch gelingen, das Befinden und die Bilder des Klienten für ihn und den Bewährungshelfer deutlich zu machen. Als Thema kann vieles genommen werden, am Besten etwas, was den Klienten interessiert, was seinem Lebensbereich entstammt. Ich möchte das am Beispiel Auto verdeutlichen, weil dieses Thema für viele Klienten interessant und wenig mit Ängsten verbunden ist: – Welches Auto würden Sie sich kaufen, welche Farbe, welche Marke, welche Leistung? Warum gerade diese Farbe? Was ist da anders als bei einem anderen Auto? – Was würden Sie mit dem Auto unternehmen, wen würden Sie gerne zu einer Spritztour mit dem neuen Auto einladen? – Welche Autos fahren ihre Freunde, Verwandten? Einerseits ist es durchaus eine Möglichkeit den Klienten nach tieferen Bedeutungen für ihn zu fragen, z. B.: »Was verbinden Sie mit dieser Farbe? Wieso ist es wichtig, dass Sie ein großes Auto haben?« Andererseits ist es aber nicht unbedingt

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nötig. Der Effekt, dass der Klient etwas über seine Person ausdrücken kann, dabei Interesse und Anerkennung bekommt, ist an sich schon eine positive Interaktion. Hier muss man abwägen, was man sich und dem Klienten zumuten kann. Auch »Zukunftsfragen« oder »Wunderfragen« können ein Gesprächsthema bilden und Entwicklungsperspektiven aufzeigen. Wunderfragen könnten etwa sein: – Was wären Ihre Wünsche, wenn Märchen wahr würden und Sie hätten drei Wünsche frei? – Was würden Sie machen, wenn Sie sechs Richtige im Lotto hätten? – Wenn Sie jetzt wie durch Zauberei Ihr Problem los wären (Alkohol, Beziehungsprobleme, Krankheit, …), was wäre dann anders? Zukunftsfragen könnten lauten: – Wo glauben Sie, könnten Sie in 10 Jahren etwa wohnen? – Wie glauben Sie, wird Ihr Leben mit 30, 40, … Jahren sein? Was ist dann anders als jetzt? Mit wem werden Sie dann zusammenleben? Werden Sie Kinder haben? Was werden Sie dann beruflich machen? – Was wird Ihnen dann Freude bereiten? Solche Zukunftsfragen können weitergesponnen werden, wenn der Klient darauf eingehen mag: »Wie war dasjenige, wie es jetzt ist, früher? Wie wird es sich ändern, dass es in 10 Jahren anders ist? Wer wird was tun, damit es anders wird?« Aber auch ein Urlaub, ein Arbeitsplatzwechsel etc. können solche Punkte in der Zukunft sein, wo sich die Phantasie entfalten kann. Das wesentliche an solchen Fragen scheint mir zu sein, dass die Sozialarbeiterin auf Ressourcen des Klienten achtet, die in solchen Bildern auftauchen. Dann kann es gelingen, mit dem Klienten gemeinsam die Brücke zwischen Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zu schließen. Hier können Fragen helfen, wie: »Wo gibt es jetzt schon etwas, dass Ihnen so gut gefällt wie …? Was davon können Sie auch mit anderen Methoden erreichen, als mit einem Lotto-Sechser, mit welchen …? Wie könnten Sie es anstellen, eine Freundin zu finden, was hat sich bisher bewährt, wenn Sie jemanden kennen lernen wollten?« Erfahrungsgemäß kann so ein gemeinsames Phantasieren für alle Beteiligten recht lustvoll sein und bringt dennoch den Klienten mehr in Kontakt zu seinem eigenen System und zur umgebenden Realität. Wenn der Sozialarbeiter eine passende Idee hat, kann sich z. B. bei sehr eingefahrenen Beziehungsmustern eine Symptomverschreibung lohnen. Natürlich bedarf dies einer gewissen Kenntnis des Klienten und seiner Lebensumstände, damit er – falls er sie wirklich befolgt – nicht noch schlechter dran ist. Beispiel: Klient H. »Bewusst genießen« Herr H. hatte nach seiner Pflichtschulzeit eine Lehre begonnen, abgebrochen, einige kürzere Arbeitsverhältnisse gehabt und war nun schon über ein Jahr arbeitslos, wohnte bei seiner Mutter und beteuerte mir immer wieder, er wolle ja so

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gerne arbeiten gehen, aber es finde sich nichts. Beim Arbeitsamt war er nicht gemeldet, obwohl er eventuell sogar Anspruch auf Arbeitslosengeld gehabt hätte. Im Laufe einiger Gespräche kamen wird darauf, dass arbeiten gehen für ihn mit der Phantasie verbunden war, dann müsse er von seiner Mutter wegziehen und selbständig werden. Diese Vorstellung ängstigte ihn, die Nähe und Geborgenheit, die es ihm vermittelte, bei seiner Mutter zu wohnen, wollte er nicht vermissen. Er war der älteste Sohn seiner Mutter, welche inzwischen 4 Kinder aus 3 Ehen hatte, und war offenbar in seinem Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung der Mutter zu kurz gekommen, zumindest was Anerkennung und Liebe ohne dafür erbrachte Leistung betraf. Er konnte diesen Wunsch bei sich erkennen und ausdrücken. Ich empfahl ihm, für die nächsten 2 Monate seine halbherzigen Versuche, Arbeit zu finden, zu unterlassen, und sich jedes Mal, wenn er überlegen würde, auf Arbeitssuche zu gehen, dies bewusst zu unterlassen. Er sollte vor allem darauf achten, dieses Gefühl des Versorgt-Werdens richtig auszukosten. Eigentlich konnte also nichts weiter passieren, als er bislang schon tat: dass er weiterhin keine Arbeit suchte. Er hielt allerdings nur 3 Wochen durch. Dann brauchte er Geld und kam sich auch, wie er mir sagte, »blöd vor«, so absichtlich daheim herumzusitzen. Einen anhaltenden Effekt für die Betreuungsbeziehung hatte es außerdem: Er versuchte mir gegenüber nicht mehr vorzutäuschen, arbeiten gehen zu wollen, wenn er lieber zu Hause blieb. Wir konnten also zu anderen Themen übergehen, denn damit war auch klar, dass er selbst Arbeit finden konnte, wenn er dies wollte.

Eine noch verblüffendere Wirkung hatte ein ähnliches paradoxes Verhalten bei einem anderen Klienten. Beispiel: Klient N. übernimmt Verantwortung Herr N., 19 Jahre alt, lebte zu Hause. Er und seine Mutter waren beim ersten Hausbesuch meinerseits anwesend. Als Thema wurden vom Klienten und seiner Mutter sofort die fehlende Arbeit für Herrn N. angesprochen. Sie erklärten mir beide, was er bisher gemacht hatte und dass es so schwer sei, Arbeit zu finden, beide hätten so gern, dass Herr N. Arbeit finden würde. Gleichzeitig erwähnten sie aber, dass Herr N. schon lange nicht einmal irgendetwas versucht habe, um Arbeit zu finden, außer, dass er seine Freunde fragte, ob sie etwas für ihn wüssten, und selbst wenn dem so war, fand er immer irgendeinen Grund – Arbeitszeit, Arbeitsort, Bezahlung, langweilige Tätigkeit etc. –, warum er gerade diese Arbeit nicht annehmen konnte. Außerdem habe er eben keine rechte Ausbildung, darum bekomme er keinen interessanteren oder besser bezahlten Job etc. Im Laufe dieses Gesprächs informierte ich Herrn N. und seine Mutter, welche Möglichkeiten es noch gäbe: Arbeitsamt, Zeitung, Berufsinformationszentren, Umschulungskurse etc. Nichts davon erschien ihnen aber besonders interessant. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass der Mutter von Herrn N. sehr wohl klar war, dass er eigentlich mehr unternehmen könnte, und sie war auch wesentlich interessierter, zumindest den Anschein zu wahren, dass ihr Sohn arbeitswillig

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sei. Irgendwie gab es eine stillschweigende Übereinkunft, dass eine offizielle Version präsentiert werden sollte, dass es an äußeren Hindernissen liege, dass Herr N. arbeitslos war, während es eine verborgene Übereinkunft zu geben schien, die es für Herrn N. und seine Mutter zu einer befriedigenden Tatsache machte, wenn er zu Hause und arbeitslos blieb. Nachdem wir dieses Thema einige Zeit besprochen hatten, teilte ich dem Klienten und seiner Mutter mit, dass ich sehe, das Thema Arbeit sei wichtig für sie. Es sei aber offensichtlich so, dass es für sie beide auch sehr positiv sei, wenn Herr N. nicht arbeiten ginge, denn sonst würde er es ja tun. Diese Tatsache könne ich natürlich nicht übergehen, denn wie käme ich dazu, mich derart einzumischen, ich würde sehr wohl respektieren, dass für beide (Mutter und Sohn) der derzeitige Zustand zwar mit Nachteilen verbunden, aber doch anscheinend vorzuziehen sei. Außerdem habe mich meine Erfahrung gelehrt, dass, wenn jemand arbeiten gehen wolle, er dies auch tue. Ich hätte vor allem den Eindruck, dass Herr N. und auch seine Mutter gescheit und informiert genug wären, um die nötigen Schritte in Richtung Arbeit zu tun, sollten sie sich dazu entschließen. Daher sei es nur logisch, dass ich unnötigen Aufwand vermiede und in diesem Punkt nichts für Herrn N. unternehmen würde, es sei denn, er hätte einen ganz konkreten Wunsch an mich. Beide – vor allem die Mutter – waren sehr verblüfft, da sie anscheinend erwartet hatten, dass ich nunmehr mit Herrn N. Pläne schmieden würde, wie er zu Arbeit kommt und wie ich ihm dabei helfen würde. Sie konnten aber dem positiven Anteil meiner Aussage, dass sie gescheit und informiert seien und ihr Recht auf Selbstbestimmung zu beachten sei, nicht widersprechen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Herr N. auch bei meinem nächsten Hausbesuch – 14 Tage später – noch arbeitslos sein würde. Überraschenderweise hatte er jedoch eine Arbeit gefunden. Es erschien mir zumindest nicht auszuschließen, dass meine Intervention zu dieser Veränderung beigetragen hat, da sich sonst keine Umstände in seiner Lebenssituation verändert hatten. Meine Vermutung ist, dass »nicht arbeiten gehen« als »bewusster und offensichtlicher Entschluss« für Mutter und/oder Sohn nicht mehr durchzuhalten war. Beispiel: Klient O. und sein Entschluss zum Alkoholentzug Herr O. konsumierte viel und täglich Alkohol, hatte schon seine Wohnung, seine Arbeit und eine Freundin verloren, war aber immer noch der Meinung, von selbst jederzeit aufhören zu können, und in Bälde würde er sein Leben wieder in Ordnung gebracht haben. Betreut wurde er von mir schon einige Monate wegen kleinerer Delikte, die er stets in alkoholisiertem Zustand beging. Es gelang ihm immer wieder, mir kleinere Geldbeträge und andere Hilfestellungen abzuschwatzen. Meinem Vorschlag, einen Alkoholentzug mit anschließender Therapie zu machen, konnte er nichts abgewinnen. Als ich endlich erkannte, wie wenig sinnvoll meine Hilfestellungen waren, weil sie es Herrn O. nur erleichterten, sich »zu Tode zu saufen« – wozu er meiner Einschätzung nach auf dem schnellsten Weg war, da er auch schon massive gesund-

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heitliche Probleme hatte –, teilte ich ihm bei einem unserer Treffen (die entsprechend sporadisch waren, da er zu viel trank, um Termine einhalten zu können) meine Überlegungen mit. Ich sagte ihm auch, wie leid es mir um ihn tut, wenn er diesen Weg beschreitet, da er mir durchaus sympathisch sei und ich auch sehen könne, wie viele Fähigkeiten und nette Seiten er hätte, wenn er nicht so arg trinken würde, und dass ich es enorm fände, wie er sich – trotz den massiven Alkoholmissbrauchs – noch immer bemühe, äußerlich gepflegt zu wirken. Nachdem ich das alles für mich bedacht hätte, sei ich zu dem Schluss gekommen, dass eine weitere Betreuung in diesem Stil sinnlos, wenn nicht sogar schädlich für ihn sei, und darum würde ich alle weiteren Tätigkeiten für ihn einstellen. Wenn er wolle, könne er – falls er nicht zu arg alkoholisiert sei – zu mir in die Sprechstunde kommen, aber tun würde ich nichts mehr für ihn. Herr O. war recht überrascht und meinte: »Das können Sie doch nicht tun, Sie sind ja meine Bewährungshelferin!« Er ließ sich auch wirklich 3 Monate nicht mehr bei mir blicken und ich fragte mich schon, was ich wohl im nächsten Bericht an das Gericht schreiben solle, um ihm wenigstens nicht zu schaden, als er in der Sprechstunde aufkreuzte und mir mitteilte, er habe sein jetziges Leben satt, er wolle so bald als möglich einen Alkoholentzug mit anschließender Therapie machen, damit er einen neuen Anfang machen könne. Er telefonierte bei mir im Büro mit dem entsprechenden Arzt und zwei Tage später wurde er aufgenommen. Auch wenn man dazu erwähnen muss, dass er es anschließend an die Therapie nicht zu lange schaffte, trocken zu bleiben, war ich doch recht erfreut über diese Entwicklung. In der Folge lösten sich kurze Zeiten der Trockenheit mit längeren des Alkoholmissbrauchs ab, dazwischen hat es einen zweiten Entzug gegeben und derzeit hoffe ich, dass er es bald wieder probiert mit dem dritten Entzug – aber zumindest weiß er jetzt einen Weg, wie er es schaffen kann, wenn auch nicht beim ersten Anlauf.

Humor und spontanes Handeln Immer wieder hatte ich im Laufe meiner Arbeit den Eindruck, dass es verdächtig wirkt, wenn bei der so ernsthaften Arbeit der Bewährungshilfe gelacht wird. Wenn man z. B. einen Häftling im Gefangenenhaus besucht und mit diesem gemeinsam lacht, kommt man schnell – besonders als Frau – in ein schiefes Licht. Und erst vor sehr kurzer Zeit wurde bei einer Teambesprechung der ehrenamtlichen Mitarbeiter recht viel gelacht; im Anschluss fragte mich eine Kollegin, was denn heute bei uns los gewesen sei. Diese Beispiele zeigen wohl, wie tief verwurzelt das Vorurteil ist, dass, wo gelacht wird, keine ernsthafte Arbeit geleistet wird. Am schlimmsten sind diese Befürchtungen nach meiner Erfahrung bei sehr »ernsthaften« Amtspersonen, da sie das Machtgefälle zwischen sich und den anderen dadurch festigen, dass sie ein sehr ernstes und strenges Benehmen an den Tag legen. Ich möchte nun hier das Gegenteil behaupten, denn meiner Meinung nach schafft Humor oft erst die nötige Distanz und Leichtigkeit gegenüber der Schwere

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des Problems. Man begibt sich auf eine Metaebene, steigt aus eingefahrenen Denkschienen aus und setzt eine andere Brille auf. Ein Klient, der über sein Verhalten lachen kann, ist auf dem besten Weg, einen Schritt zu einer Veränderung zu tun. Selbst wenn es sich um Galgenhumor handelt, kann es helfen, den Klienten anzunehmen, und ein Beitrag zur Verarbeitung einer schwierigen Situation sein, der durch Worte nicht zu ersetzen ist. Beispiel: Der Mordplan des Klienten L. … über den wir alle herzlich lachen konnten. Herr L., den ich schon über 2 Jahre betreute, hatte immer wieder Schwierigkeiten mit seinen Alimenten. An sich war alles geregelt, aber jede Änderung brachte seine alten Aggressionen gegen seine frühere Ehefrau wieder zu Tage. Er hatte auch schon eine Vorstrafe, weil der den jetzigen Lebensgefährten der Exgattin bedroht hatte. Bei einem Hausbesuch, wo unter anderem die Neuregelung der Alimentationszahlung zu besprechen war, die deswegen zustande kam, weil seine Exfrau nicht rechtzeitig den Lehrvertrag des Kindes vorgelegt hat, so dass es zu Verzögerungen in der Auszahlung des Kindervorschusses kam, brachte die Angelegenheit Herrn L. wieder einmal in Rage: Jetzt habe er endgültig, genug, ihm sei das alles schon zu blöd, er sehe sie ja eh öfters und wisse, wo sie wohnt, gleich morgen gehe er hin und nehme sein Brecheisen mit, das er ihr über den Kopf schlagen werde, bis sie tot sei. Bei Herrn L.s Vergangenheit und seinem Temperament war das ein durchaus vorstellbares Vorhaben: Muss man ihn etwa anzeigen, wie kann man ihn abbringen, soll man die Exgattin warnen? Da ich jedoch von Herrn L. schon des Öfteren ähnliche Äußerungen gehört hatte und deren Stellenwert kannte, konnte ich mich nicht beherrschen und musste einfach lachen. Herr L. und seine Lebensgefährtin, die auch anwesend war, blickten kurz verdutzt und stimmten dann lauthals in mein Lachen ein. Damit war nämlich alles klar: Diese vordergründige gefährliche Drohung war nichts anderes als ein Ventil für Herrn L., seinen Emotionen Luft zu machen, und ein gutes Mittel, tatsächlichen Aggressionshandlungen vorzubeugen, ein Verhalten, das ihm, seiner Lebensgefährtin und mir schon reichlich bekannt war. Da es ihm mit seinen »Morddrohungen« nie ernst war, war er auch nicht gekränkt, die Spannung war gemildert, und er konnte sich auch von mir angenommen und nicht etwa ausgelacht fühlen. Das Gespräch nahm dann eine sehr positive Wendung, Herr L. wurde von mir als »sehr temperamentvoller Mensch« bezeichnet und wir konnten über seine Wut reden und in der Folge auch das praktische Problem ganz entspannt lösen.

Wie bei allen provokanten Interventionen ist hier die Grundlage eine positive Emotion und ein grundsätzlicher Respekt dem Klienten gegenüber, dann kann er auch seine witzigen Seiten integrieren.

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Systemisches Denken – ein psychohygienisches Mittel? Wenn man das systemische Denken – sowohl die Interaktionen als Rückkoppelungsprozesse zu sehen als auch ressourcenorientiert zu arbeiten – nicht kennt, ist es oft sehr schwierig, sich in all den komplexen Zusammenhängen ein praktikables Bild von der eigenen Position zu machen. Auch kann es einem leicht passieren, sich von der Fülle der Schwierigkeiten schier erdrückt zu fühlen, wenn man nicht in erster Linie Ressourcen und Möglichkeiten zu erkennen und wahrzunehmen versucht. Man läuft Gefahr, sich als »hilfloser Helfer« zu erleben, der »zwischen den Stühlen sitzt« und den vielfältigen Anforderungen mit zunehmender Hilflosigkeit gegenübersteht. Wie das? Denkt man linear, schaut das etwa so aus: Gericht, Gesellschaft, Leitung und Kollegen haben gewisse Erwartungen an die Bewährungshelferin, wie sie sich verhalten soll und was durch ihre Arbeit erreicht werden soll. Es besteht die Gefahr, dass die Bewährungshelferin alte Muster wiederholt, wenn sie ihre Position nicht bestimmen kann. Wie Abbildung 36 zeigt, könnte sie sich z. B. in einer Hierarchie gefangen fühlen und den Druck von oben (Gericht, Chef, Kollegen, Gesellschaft) nach unten (Klient und dessen Umfeld) weitergeben. Abgesehen von der nötigen Supervision, deren Nutzen hier ebenfalls bestätigt wird, gelingt es der Sozialarbeiterin in der Bewährungshilfe leichter, ihren Standort zu bestimmen, sich adäquat und kreativ zu verhalten, je besser sie ihre Grenzen und Möglichkeiten einschätzen kann. Dazu ist der systemische Denkansatz meiner Meinung nach wie kein anderer geeignet. Kann die Bewährungshelferin ihren momentanen Standort im System bestimmen und auch die Veränderungen, die das System mit der Zeit durchläuft, so kann sie auch nach außen hin ihre Arbeit besser vertreten. Ein abgeschlossener Anfang oder ein angefangener Abschluss oder ein abgeschlossener Anfang oder ein … Der künstliche Brückenschlag, die Anwendung systemischer Theorie in meiner praktischen Arbeit als Bewährungshelferin darzustellen muss nun einmal künstlich beendet werden. Der »Hund« soll ja schließlich nicht ewig »in die Küche kommen«. Dabei geht es sicher weiter – und ich hoffe, dass ich viele weitere neue, spannende und interessante Inputs bekommen werde, um meine Outputs als Inputs in die Sozialarbeit sinn- und lustvoll gestalten zu können. Abbildung 36: Lineare Beziehungen

Praxisbeispiel Berufsfindungskurse: Auf dem Weg in die systemischen Landschaften Ines Strasser Ines Strasser · Praxisbeispiel Berufsfindungskurse

Vorbemerkungen Meine erste Berührung mit der systemischen Sicht- und Arbeitsweise fand bereits während meiner Ausbildung zur diplomierten Sozialarbeiterin auf der Akademie für Sozialarbeit in Graz statt. Zur Thematik wurde ein Einführungsseminar als Wahlfach angeboten, das ich neugierig belegte. Damals schon entwickelte ich eine Begeisterung für den systemischen Ansatz, so dass ich gleich im folgenden Semester das Fortsetzungsseminar besuchte. Insbesondere die so genannten zirkulären Fragen weckten mein Interesse, und im Rahmen meines Langzeitpraktikums in der Sigmund-Freud-Klinik in Graz wagte ich erste Schritte zur Umsetzung. Während meiner beruflichen Tätigkeit als diplomierte Sozialarbeiterin erfuhr ich vom Lehrgang »Systemische Sozialarbeit« und entschloss mich, diesen zu absolvieren. Doch bis kurz vor Ende der Ausbildung war ich nicht wirklich davon überzeugt gewesen, von diesem Lehrgang für das konkrete Tun in der sozialarbeiterischen Praxis profitiert zu haben. Ich hatte den Eindruck, dass mich dieser Ansatz nicht durch und durch erfasst, sondern nur sanft berührt hatte. Dann aber ermöglichte mir eine supervisorische Einheit mit systemische Fragestellungen zu erkennen, dass ich systemische Ansätze bereits so weit in mein sozialarbeiterisches Agieren integriert hatte, dass ich es separiert nicht mehr wahrnahm. Damit hatte sich die Anwendung von »entweder klassische Casework-Methoden oder systemische Interventionstechniken« in eine »sowohl als auch«-Anwendung der beiden Ansätze entwickelt, was bereits einen wichtigen Grundsatz in der Systemtheorie aufzeigt. Ab diesem Zeitpunkt begann ich mich genauer zu beobachten und merkte, wie intensiv die systemische Denkweise in mein Leben eingedrungen war. Ich dachte und intervenierte nicht nur bei der Arbeit mit Klienten systemisch, sondern ich verwendete die Strategien auch in Zusammenhang mit organisatorischen Strukturen, und vor allem reifte ich persönlich daran. Im Laufe der Ausbildung trafen mich sozusagen systemische Geistesblitze, die mich entweder theoretisch Gehörtes endlich praktisch verstehen ließen oder mich selbst kreativ werden ließen. Dieser Artikel zeigt meinen Lernprozess im Rahmen der Einzelfallarbeit, auf der Organisationsebene und in meiner Entwicklung in Form von Fallbeispielen.

Hauptteil Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich in Anwendungsfelder, in denen ich systemisch gearbeitet habe, nämlich:

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– die Arbeit mit Klientinnen, – organisatorische Strukturen, – meine eigene Person. Systemische Interventionen in der Einzelfallarbeit Die folgende Fallgeschichte ereignete sich in meiner Arbeitsstelle. Es handelt sich dabei um einen Berufsfindungskurs für längerfristig erwerbslose Frauen und Männer mit dem Ziel, den Kursteilnehmenden im Zeitraum von sechs Monaten Arbeitstraining und berufliche Orientierung anzubieten. Es ist ein niederschwelliges Angebot, was bedeutet, dass die Beraterinnen des Arbeitsmarktservices all diejenigen dorthin vermitteln, die weder am ersten Arbeitsmarkt noch bei anderen, höherschwelligen Maßnahmen den Wiedereinstieg schafften. Oftmals handelt es sich dabei um Personen mit Multiproblematik, was neben dem Vermittlungsauftrag die sozialpädagogische Begleitung einen großen Stellenwert einnehmen lässt. Herr H.: Vom Alkoholiker zum Pflegehelfer Zu dem Zeitpunkt, als Herr H. erstmals Kontakt zum Berufsfindungskurs hatte, war er 37 Jahre alt, geschieden und hatte eine 16-jährige Tochter, zu der er seit der Scheidung kaum Kontakt pflegte. Darüber hinaus hatte er bis auf die letzten drei Jahre einen lückenlosen Lebenslauf als Fleischer mit Lehrabschlussprüfung vorzuweisen. Zum Zeitpunkt der Bewerbung um einen Kursplatz war er Alkoholiker, obdachlos und hatte ein dementsprechend vernachlässigtes äußeres Erscheinungsbild. Er erzählte, dass er bis vor seiner Scheidung vor drei Jahren ein geregeltes Leben mit Arbeit, gutem Verdienst und glücklichem Familienleben geführt hatte. Doch aufgrund der Scheidung und seiner darauf folgenden Alkoholkrankheit sowie seiner Selbstaufgabe war er auf der Straße gelandet. Er schien hinsichtlich eines Kurseinstieges sehr motiviert zu sein und zeigte Interesse für die berufliche Orientierung in der Altenhilfe und im Metallbereich. Aufgrund seines Alkoholproblems schloss ich die Perspektive in der Pflege fürs Erste aus, ließ ihm allerdings die Option offen, bei Veränderung seiner gesundheitlichen Situation ein Praktikum in diesem Bereich absolvieren zu können. Er sah in einem baldigen Kurseinstieg eine Unterstützung hinsichtlich eines geringeren Alkoholkonsums. Abstinenz war für ihn zu diesem Zeitpunkt kein Ziel, weil auch eine dreiwöchige stationäre Entwöhnung nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte. Nach Kursbeginn schaffte er es eine Zeitlang, relativ nüchtern zu erscheinen, und zeigte auch im Arbeitsbereich gute Leistungen sowie wichtige Arbeitshaltungen wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Lernbereitschaft und Ausdauer. Hinsichtlich seiner Wohnsituation hatte sich noch keine Lösung ergeben. Ich hatte ihm Unterstützung bei der finanziellen Absicherung zugesagt, sofern er ein konkretes Angebot vorlegen konnte. Insgeheim traute ich ihm aber nicht zu, dass er sich selbst eine Wohnung organisierte. Auch sein Alkoholkonsum nahm wie-

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der derart zu, dass ich ihn einige Male » nach Hause schicken musste, was zur « Folge hatte, dass er für diese Tage kein Geld erhielt. Ich versuchte ihm in mehreren Gesprächen aufzuzeigen, dass er seine Sucht nicht allein in den Griff bekommen würde. Doch meine Botschaf»Dann trinke ich eben weiter!« ten schienen nicht anzukommen, und ich nahm einen wachsenden Ärger an Abbildung 37 mir wahr, der nach außen hin merkbar wurde. Er hielt zwar alle vereinbarten Gesprächstermine bei mir verlässlich ein, doch ich nahm war, dass er nicht gern zu mir kam und er spürte, dass ich ihm nichts zutraute. Eines Tages hatte ich ein Schlüsselerlebnis, das mir klarmachte, warum sich keine Veränderung einstellte. Ich erhielt einen Anruf von der Schwester von Herrn H., die bei mir vergeblich Einkünfte über seine Arbeitsleistungen und seine Einkommenssituation zu eruieren versuchte. Des Weiteren meinte sie, dass meine Arbeit sinnlos sei, weil ihr Bruder es ohnehin nicht schaffen werde, und schilderte mir ausführlich, was er alles nicht tat, was notwendig sei, um ein »normales Leben« zu führen (Abbildung 37). Herr H. bewegte sich also in einem System – in diesem Fall in einem Familiensystem –, das sich genaue Regeln aufgestellt hatte, was unter dem so bezeichneten »normalen« Leben zu verstehen war. Herr H. nahm somit eine Außenseiterposition in diesem System ein, weil er dem nicht entsprach, und war stets mit enormer Ablehnung sowie mangelndem Zutrauen konfrontiert. Ich war in dasselbe Verhaltensmuster gefallen, das er schon kannte, was wiederum erklärte, warum keine Veränderung passieren konnte. Durch meine Haltung wurde für ihn klar, dass er es wieder einmal nicht beweisen konnte, es doch zu schaffen. Zur besseren Illustration zeige ich den Kommunikationskreislauf zwischen ihm und mir auf: Ich musste den Kreislauf durchbrechen, indem ich anfing, mein eigenes Verhalten zu ändern. Nur so bekam Herr H. die Chance, auch anders reagieren zu können. Bei meinem nächsten Gespräch mit Herrn H. legte ich deswegen vor allem darauf Wert, nach Ansatzpunkten zu suchen, um ihm Komplimente dafür zu machen, was ihm bisher alles gelungen war. Dazu zählte der Kurseinstieg, seine konstante Arbeitsleistung, die Tage, an denen er es geschafft hatte, nüchtern in die Arbeit zu kommen, das verlässliche Einhalten von Gesprächsterminen mit mir sowie der Umstand, dass er trotz seiner Rückfälle nicht wieder ganz und gar zu trinken begonnen hatte. Zum Abschluss des Gesprächs wünschte ich ihm für seine Wohnungssuche noch viel Erfolg und teilte ihm mein Interesse an etwaigen Angeboten mit. Bereits eine Woche später hatte Herr H. eine Wohnung gefunden und mit seinem Monatseinkommen die erste Miete eingezahlt, anstatt das Geld zu vertrinken. Zwei Wochen lang schaffte er es auch, nüchtern zu kommen. Doch dann fing

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er wieder an auszufallen und vermehrt zu trinken. Er informierte mich allerdings telefonisch darüber und bat mich trotz Krankenstandes um einen Termin. Zu diesem Termin erschien Herr H. relativ nüchtern und meinte, nicht mehr weiter zu wissen und dass er auch nicht mehr daran glaubte, ohne Alkohol leben zu können. In diesem Zusammenhang fragte ich bewusst nicht nach der Ursache des Rückfalls, weil dieser nicht relevant für die Problemlösung war, sondern ich versuchte gemäß Zukunfts-, Ressourcen- und Lösungsorientierung nach Ausnahmesituationen zu suchen, in denen er es geschafft hatte, nichts zu trinken, und ließ mir diese Situationen im Detail beschreiben. Herr H. erzählte mir davon, dass er es einmal über ein halbes Jahr geschafft hatte, nüchtern zu bleiben. Er trieb damals viel Sport, hatte Freunde, die ihn dabei unterstützten, und ging auch einer Arbeit nach, die ihm Spaß machte. Ich ließ mir diese Punkte im Detail schildern und fragte anschließend, ob er im Moment eine Unterstützung zur Abstinenz darin sah, diese erfolgreichen Strategien wieder anzuwenden. Da er sich das vorstellen konnte, wünschte ich ihm für sein Gelingen viel Glück und vereinbarte einen neuen Termin in zwei Wochen. Beim folgenden Gespräch berichtete er mir mit strahlendem Gesicht seine Erfolge, und ich fragte erneut detailliert nach seinen Strategien, um ihm eine weitere Vertiefung zu ermöglichen. Ich konnotierte seine Erfolge positiv und gab ihm zum Abschluss des Gesprächs noch den Auftrag, von dem, was ihn bisher bei der Abstinenz unterstützt hatte, mehr zu tun.

Diesem Auftrag liegt einer der drei Grundgedanken des lösungsorientierten Ansatzes zugrunde. 1. Wenn etwas nicht kaputt ist, mache es nicht ganz! 2. Wenn du einmal weißt, was funktioniert, mache mehr vom selben! 3. Wenn es nicht funktioniert, lass es sein, mache etwas anderes!« (Berg und Miller 2000, S. 33). Herr H. war ab diesem Zeitpunkt nicht gänzlich abstinent, die Abstände seiner Rückfälle wurden jedoch immer größer und auch der Rückfall dauerte nur mehr etwa einen Tag. Auch in diesem Zusammenhang waren keine Vorwürfe oder Unverständnis von mir zu spüren, sondern ich machte ihm Komplimente dafür, dass er es schaffte, aus dem Rückfall so schnell wieder herauszukommen, und erarbeitete immer wieder Ausnahmesituationen in seinem Handeln, wobei er seine Strategien immer mehr erweitern konnte. Darüber hinaus erzählte er mir jedes Mal ehrlich von seinem Rückfall und schob keine »andere Krankheit« vor, was auf eine kooperative sowie vertrauensvolle Beziehung schließen ließ. Des Weiteren hieß das für mich, dass ich es geschafft hatte, aus dem ihm so bekannten Muster auszusteigen, was ihm wiederum ermöglicht hatte, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und somit andere als die bisher destruktiv erlebten Reaktionen ihm gegenüber zu erleben. Überdies achtete er in größerem Ausmaß auf sein Äußeres und legte besonderen Wert auf Hygiene.

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Nach einer weiteren Zeit kam Herr H. von sich aus auf die Perspektive der Altenhilfe zu sprechen. Er fühlte sich nun körperlich und psychisch bereit, sich einem vierwöchigen Praktikum zu stellen. Ich zeigte mich dieser Perspektive gegenüber prinzipiell aufgeschlossen und erarbeitete mit ihm Befürchtungen, Erwartungen und die Motivation zur Absolvierung einer Ausbildung, die in diesem Bereich unumgänglich ist. Herr. H. vereinbarte für die kommende Woche einen Vorstellungstermin für ein Praktikum im Altenheim der Caritas. Nach seinem Termin erschien er im Berufsfindungskurs, und ich erkannte ihn kaum wieder. Sein äußeres Erscheinungsbild hatte sich derart verändert – er hatte einen neuen Haarschnitt und trug saubere, elegante Kleidung. Eine Woche später begann er sein Praktikum, im Rahmen dessen wir wöchentlich Gespräche vereinbarten. Er schien mit jedem Tag mehr aufzublühen, und auch die Rückmeldung von meinen Kolleginnen war durchaus positiv. Das führte soweit, dass sein Kurs verlängert wurde, damit er die Aufnahmeprüfung für die Ausbildung machen konnte. Die Zeit bis dahin arbeitete er weiter im Altersheim mit. Unsere Gespräche verlagerten sich immer mehr auf die Reflexion der pflegenden Tätigkeiten und die Vorbereitung auf die Prüfung. Herr H. war seit dem Praktikum nicht mehr rückfällig geworden, und auch meine Kolleginnen hatten keinen Alkoholkonsum wahrgenommen. Herrn H. gelang es trotz enormen Drucks nüchtern zur Aufnahmeprüfung zu gehen. Eine Woche später erhielt er eine positive Entscheidung und begann mit der Ausbildung.

System und Organisation Vorweg sei erwähnt, dass jede Organisation auch als System zu betrachten ist und somit dieselben Abläufe und Regeln wie in einer Gruppe von zwei Personen zu finden sind. »Unter Organisation ist der Zusammenschluss von Menschen in so großer Zahl zu verstehen, in dem keine Face-to-face-Kommunikation mehr möglich ist und in dem die Kommunikationskanäle formal festgelegt sind sowie einen offiziellen Zweck haben« (Milowiz, Ausbildungsblock 11.3.2002). Die Organisation wiederum gliedert sich in Teams, die als soziale und autopoetische Systeme verstanden werden, innerhalb derer eine bestimmte Organisationslogik vorherrscht. Teams entstehen in der Regel nicht spontan, sondern werden aufgrund einer organisationalen Entscheidung etabliert. Zudem sind Teams als spezifische Kommunikationsmuster innerhalb eines organisationalen Zusammenhangs zu verstehen (vgl. Vogt-Hillman et al. 2000, S. 111–113). Ich beschreibe nun ein Fallbeispiel, das mich persönlich mit dem System Organisation in Berührung kommen ließ. Der alt eingesessene Leiter und die frisch diplomierte Sozialarbeiterin Bei meinem Berufseinstieg begann ich in der Caritas in einem Projekt zu arbeiten, das schon viele Jahre bestand. Auch die Mitarbeiterinnen machten ihren Job dort schon seit über zehn Jahren, was für den Sozialbereich eher unüblich ist. Nach

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einer längeren Beobachtungszeit durch die »kritische Brille« hatte ich bereits einige Punkte zusammengetragen, die ich als nicht so pädagogisch wertvoll und professionell erachtete. Ich begann die Kritik sanft und vorsichtig zu äußern, doch als ich bemerkte, dass keine VerAbbildung 38 änderungen passierten, fühlte ich mich nicht gehört sowie ernst genommen und reagierte heftiger. Im Gegensatz zu meinen gleichgültig auftretenden Kolleginnen blockte mein Chef gänzlich ab. Alles, was ich einbrachte, wurde abgelehnt. Je vehementer ich agierte, desto mehr zeigte er Widerstand. Ich spürte eine Mauer zwischen uns wachsen, die die Kluft immer größer werden ließ. Die Situation spitzte sich zu, so dass jeder von uns noch heftiger in seinem Muster reagierte. Ich erkannte eine Fixierung, fand jedoch keine Lösung für diese Situation. Unter Fixierung verstehe ich hier mit Milowiz (siehe dazu den Theorieteil dieses Buches) dysfunktionale Beziehungen, die dadurch entstehen, dass die Kommunikations- bzw. Interaktionspartner sich gegenseitig negative Zuschreibungen geben. Daraus entsteht ein Beziehungskampf, der ein immanentes Muster bis hin zu einem Teufelskreis entstehen lässt, aus dem es nur mehr schwer oder nicht mehr gelingt auszusteigen (Abbildung 38). Was in meinem beruflichen Kontext noch hinzukam, war der Umstand, dass ich immer öfter Kontrollaufgaben übernahm, die eindeutig in die Zuständigkeit meines Chefs fielen, weil er ihnen meiner Meinung nach selbst nicht nachgegangen war. So veränderten sich auch unsere Rollen in der Einrichtung: Ich wurde zur »strengen« Sozialarbeiterin und er zum »lieben« Leiter, was meine Arbeit mit den Klienten in Folge erschwerte. Auch für meine Kolleginnen sprang ich ein, wenn sie selbst einen Konflikt mit dem Leiter nicht thematisieren oder austragen wollten. Die Fronten zwischen meinem Chef und mir verhärteten sich so sehr, dass wir unsere Kommunikation auf das Wesentliche beschränkten. Mir ging es mit diesem Zustand nicht gut. Gerade zu diesem Zeitpunkt fand der Block »Theorie und Praxis der Organisation« meiner systemischen Ausbildung statt, im Rahmen dessen ich dieses Fallbeispiel einbrachte. Ich hatte einen wichtigen Grundsatz nicht eingehalten: Veränderung ist erst möglich, wenn das Alte ausreichend geprüft, gewürdigt und wertgeschätzt wurde. Der Ansatz der Veränderung soll darauf fokussieren, was bisher gut funktioniert hat. So wird man dem lösungsorientierten Ansatz gerecht und kann darauf aufbauend innovative Ideen einbringen, die von der Gesamtorganisation getragen werden bzw. werden wollen. Solange ich meinen Chef nicht in seiner Rolle und Autorität respektierte, hatte er keine andere Wahl, als sich zu verteidigen. Wenn er meine Vorschläge angenommen hätte, hätte er sich damit selbst für inkompetent erklärt. Solange ich das System erhielt, also für ihn und meine Kolleginnen einsprang und ihre Rol-

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len übernahm, würde sich nichts an der bestehenden Situation ändern. Erst durch mein Nicht-Tun wären sie dazu gezwungen, wieder Verantwortung zu übernehmen und ihren Aufgaben nachzukommen. Darüber hinaus brachte der Ausbildungsleiter eine für mich neue Sichtweise des Verhaltens meines Chefs ein: Ich sollte sein Nicht-Handeln nicht als ein NichtWollen, sondern als ein Nicht-Können sehen. Ergänzend dazu erhielt ich im Rahmen eines Reflecting Teams von meinen Ausbildungskolleginnen den Impuls, bei meinem Chef den Blick verstärkt auf das zu richten, was er gut kann. Bei dieser Intervention handelte es sich um eine Umbewertung des Problems, wobei jede Beschreibung erlaubt ist, solange sie aufwertet und vernünftig bzw. wichtig erscheint. Diese Umbewertung veränderte mein Befinden und meine Verhaltensweisen gänzlich. Wie von selbst verschwanden die Aggressionen meinem Chef gegenüber. Ich wurde milder in meiner Bewertung und schaffte es tatsächlich, wieder Kompetenzen an ihm zu entdecken, die ich schätzte. Ich war sogar dazu in der Lage, ihm diesbezüglich ein ehrlich gemeintes Kompliment zu machen. Darüber hinaus achtete ich sehr genau darauf, lediglich meine Aufgaben zu erfüllen. Ich stieg somit aus dem bekannten Muster aus, was unweigerlich dazu führte, dass auch mein Chef ein anderes Verhalten an den Tag legte. Er verwandelte sich nicht in einen anderen Menschen, aber die Kommunikation zwischen uns lief wieder fruchtbar ab, und er legte mehr und mehr Wert auf meine Meinung bei wichtigen Entscheidungen. Ich nahm deutlich wahr, wie entspannend auch er die veränderte Situation erlebte. Nach einer Weile thematisierte ich diesen Wandel in einem persönlichen Gespräch mit ihm und agierte unbewusst systemisch: Ich gab ihm eine Rückmeldung hinsichtlich meines Wohlbefindens und beschrieb die veränderte Situation als ein gemeinsames erfolgreiches Projekt. Ich bedankte mich für seinen Beitrag. Ich erkundigte mich genauer nach seinem Befinden und Veränderungen aus seiner Sicht, indem ich fragte, in welchen Situationen er unsere Kommunikation als gelungen erlebt hatte. Darüber hinaus bekräftige ich, an diesem »Projekt« weiter arbeiten zu wollen, und fragte nach, was wir tun müssten, um diese erfolgreiche Kommunikation beizubehalten, und woran er das erkennen würde.

Damit konnotierte ich sein Verhalten positiv, deklarierte unser Verhalten als gegenseitig bedingt, was eine Schuldzuweisung gar nicht erst möglich machte, und sprach ihm gegenüber Anerkennung aus. Des Weiteren ließ ich ihn bewusst nach Ausnahmesituationen der ursprünglichen Fixierung suchen. Dabei folgte ich dem Grundsatz, nicht in der Vergangenheit beim eskalierenden Verhalten zu verharren, sondern einen zukunfts- und lösungsorientierten Blick einzunehmen, der einerseits motiviert und andererseits mögliche Strategien in Erinnerung ruft. Am Ende baute ich noch auf den Fortschritt und ließ weitere Visionen und Ausnahmen entwickeln, um den Weg in die richtige Richtung noch weiter zu bestärken.

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Systemische Sichtweisen und persönliche Weiterentwicklung Der systemische Ansatz hat nicht nur mein professionelles Tun um Strategien erweitert, sondern verhalf mir auch zu einer persönlichen Weiterentwicklung, die durch folgende Beispiele verdeutlicht wird. Die »Besucher« Zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit im Berufsfindungskurs der Caritas nahm ich den Vermittlungsauftrag des Arbeitsmarktservices sehr ernst und setzte mich damit unter Druck. Ich hatte das große Ziel, so viele Klientinnen und Klienten wie nur möglich zu vermitteln. Meine Ansprüche an mich und die anderen waren sehr hoch und lasteten auf mir. Erschwerend kam hinzu, dass ich sehr oft mit so genannten »Besuchern« zu arbeiten hatte. Darunter werden Klienten verstanden, die entweder kein Problembewusstsein haben oder der Meinung sind, dass andere ein Problem haben (vgl. Berg und Miller 2000, S. 43 f.). Diese Kliententypen sind nicht kooperativ, sondern entwickeln Widerstand gegenüber der von außen gestellten Anforderung. Und gerade diesen Widerstand hatte ich nicht ernst genommen, ich wollte ihn übergehen und sogleich der Auftragserfüllung nachgehen. Doch die Besucher verhielten sich nicht gemäß meinen Vorstellungen, sondern der Widerstand nahm zu. Ich bemerkte erst mit der Zeit, dass ich mich so verhielt, wie es die Klienten seitens ihres Umfeldes gewohnt waren. Eine Veränderung in ihrem Verhalten konnte ich erreichen, als ich ihre eigentliche Beschwerde anerkannte und ansprach – nämlich den Zwangsbesuch unseres Kurses. Mit Hilfe folgender positiven Konnotation und zirkulären Fragen konnte ich den Klienten einen Reflexionsrahmen bieten: Ich habe den Eindruck, dass Sie ein sehr pflichtbewusster Mensch sind. Sie sind heute zu mir gekommen, obwohl Sie kein Interesse an einem Kurseinstieg haben. Es freut mich, dass Sie trotz Ihrer sicheren Gewissheit, nicht an unserem Kurs teilnehmen zu wollen, den vereinbarten Termin eingehalten haben. Welche Befürchtungen haben Sie in Zusammenhang mit einem Kurseinstieg? Was ist das Schlimmste, das Ihnen im Kurs widerfahren könnte? Was denken Sie, warum Ihre Arbeitsmarktberaterin Sie zu uns geschickt hat? Nehmen wir an, Ihre Arbeitsmarktberaterin möchte das Beste für Sie erreichen. Nennen Sie einen Grund, warum sie Sie gerade zu uns geschickt hat? Was denkt Ihre Familie über einen möglichen Kurseinstieg? Was würde sich durch einen Kurseinsteig in Ihrem Leben drastisch verändern? Erst durch das Auseinandersetzen mit der eigenen Situation und der Thematisierung des eigentlichen Problems fühlten sich die Klienten bzw. Besucherinnen angenommen und waren auch bereit, ihre Situation sowie ihre Entscheidung neu zu überdenken. In den meisten Fällen konnte bereits im Laufe des ersten Kursmonats eine kooperative Beziehung hergestellt werden, woraufhin realistische und für die Klienten bedeutsame Ziele ausgehandelt wurden.

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Ich selbst bemerkte Erleichterung dadurch, dass ich die Verantwortung wieder dorthin zurück gegeben hatte, wo sie hingehörte – nämlich zum Klienten. Ich hatte keine Angst mehr vor schwierigen Klientinnen, sondern begann genauer hinzuhören. Und gerade das stellt den roten Faden in der Arbeit mit Klientinnen dar.

Die gefährliche Kreativität Generell traute ich mir im Laufe der Ausbildung immer mehr zu, Strategien auszuprobieren und teilweise selbst kreativ zu werden. Entgegen meiner Befürchtung, ich könnte damit bisherige Betreuungserfolge zunichte machen oder sogar die kooperative Klient-Sozialarbeiterin-Beziehung aufs Spiel setzen, nahm ich wahr, wie sich Türen öffneten und Inhalte zum Vorschein kamen, von denen ich nie zu hoffen gewagt hatte, sie zu erfahren. Doch darüber hinaus machte ich eine noch viel wichtigere Erfahrung. Selbst wenn die Inter ventionsversuche nicht zu dem gewünschten Erfolg führten, gab es keine negativen Folgen. Das Schlimmste, was sich ereignete, war, dass die Klienten auf meine Fragen nicht eingingen oder Aufgaben nicht ausführten. Das änderte jedoch weder etwas an meiner Beziehung zu den Klienten, noch gingen bisherige Zielerreichungen verloren. Die Skalierung Eine weitere Erleichterung brachte mir die so genannte Skalierungsfrage im Abschätzen von zukünftigen Verhaltensweisen, Abklären von Motivation und im Rahmen der Erfolgskontrolle. Oft neigte ich dazu zu denken, ich müsste Einschätzungen über meine Klienten vornehmen und ihnen diese rückmelden. Diese Vorgehensweise setzte mich enorm unter Stress und verursachte einen Druck hinsichtlich einer »richtigen« im Sinne von gerechten Einschätzung. Als ich die Methode der Skalierungsfrage kennen lernte, gelang es mir besser, die Verantwortung den Klientinnen überlassen. Mittels einer Skala (z. B. von 0 bis 10) sollten sie sich positionieren und mit mir gemeinsam überlegen, warum sie sich so einschätzten. Ein weiterer Schritt war es, einen Vergleich zu einem früheren Zeitpunkt, zu dem sie sich meistens schlechter eingeschätzt hatten, herzustellen, um die Strategien des Fortschritts explizit zu machen. Der darauf folgende Schritt richtete sich auf die Einschätzung, um wie viele Punkte sich die Person realistischerweise noch verbessern könnte. Auch in diesem Zusammenhang wurden Strategien für die Zielerreichung erarbeitet. Der Vorteil dieser Methode liegt in ihrer Transparenz, ihrer prozessbegleitenden Anwendungsmöglichkeit und hochgradigen Motivationswirkung. Die gute Fee spielen Bei Klienten, die trotz zahlreicher Versuche mittels zirkulärer Fragen und Suchen nach Ausnahmen von der Problemsituation keine Erfolge wahrnehmen bzw. deklarieren konnten, tat ich mir sehr schwer, weitere Strategien zu minimalen

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Lösungsschritten zu finden. Im Laufe des Lehrgangs erlernte ich die so genannte Wunderfrage einzusetzen, die tatsächlich oft ihrer Bezeichnung gerecht wird. Die Klienten werden dazu aufgefordert, sich vorzustellen, dass über Nacht, ohne dass sie es bemerkten, ein Wunder geschehen war, das ihre Probleme gelöst hatte. Sie sollen dann genau beschreiben, woran sie das erkennen würden, was sie dann anders machen würden, wie sie sich fühlen würden, was die anderen merken würden, wie sie darauf reagieren würden und was das wiederum für die Klienten bedeuten würde. Als nächsten Schritt erfolgt das Annähern an die Realität, indem auf bereits ähnliche Situationen Bezug genommen wird oder diese Vision als eine mögliche Handlungsalternative in den Raum gestellt und auf Umsetzbarkeit hin überprüft wird. Der Vorteil dieser Methode ist, dass ein direktes Kommunizieren über das Problem in ein indirektes übergeht. Darüber hinaus macht Phantasieren meistens Spaß, und der Blick wird auf mögliche Handlungsansätze gelenkt, die zuvor nicht gesehen wurden. Wichtig bei der Methode der Wunderfrage ist, dass detailliert nachgefragt wird und die Klienten dazu aufgefordert werden, produktive Lösungen zu beschreiben. Durch das Aussprechen der erfolgreichen Strategien bekommen sie immer mehr Realität. Im Grunde genommen ist das Einsetzen der Wunderfrage das schönste Geschenk, das eine diplomierte Sozialarbeiterin ihren Klientinnen machen kann, weil es vom Leid wegführt und neue Lebenskraft gibt (vgl. Berg und Miller 2000, S. 94–100). Inkompetenz als Intervention In manchen Fällen hilft nicht einmal mehr die Wunderfrage dabei, Strategien für eine Problemlösung zu entwickeln. In diesem Fall neigte ich oft dazu, die Verantwortung für diese Situation zu übernehmen, anstatt den Ball an die Klientinnen zurückzugeben. Eine Erleichterung brachte mir das bewusste Einsetzen meiner Befindlichkeit und meiner Gedanken – nämlich des Umstandes, dass ich der Klientin im Moment nicht helfen konnte. Es kam zu überraschenden und spannenden Reaktionen der jeweiligen Klientinnen darauf. Sie sahen das nicht als Zurückweisung oder Gelegenheit, sich endgültig aufzugeben, sondern es wurden auf einmal Energien freigesetzt, die ich zuvor nicht erwartet hätte. Es ist allerdings darauf zu achten, dass die Inkompetenzerklärung wertschätzend der Klientin und ihrer Problemsituation gegenüber erfolgt. Denn die Klientinnen sollen nicht als Person, sondern nur in ihrem konkreten Tun eine Absage erhalten. Dieses spezielle Verhalten … Als schwierig erlebte ich vor allem die Klientinnen, die mit einem »speziellen« Verhalten meine Geduld immer wieder aufs Neue auf die Probe stellten. Mir war zwar bewusst, dass sie sich allen gegenüber so verhielten und das Verhalten nicht

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mit mir persönlich zu tun hatte, doch es erschwerte, eine positive Klient-Sozialarbeiterin-Beziehung herzustellen. Dies leichter auszuhalten und damit besser umgehen zu können, ermöglichte mir folgender systemischer Kernpunkt: »Es wird bedingungslos vermutet, dass jeder Mensch in jeder Situation nachvollziehbar und ehrenwert handelt und dass gegebenenfalls zum Verständnis der Handlung immer nur Informationen über die Situation der/des KlientIn fehlen« (Berg und Miller 2000, S. 94). Das bedeutet, dass es für jedes Verhalten einen Grund gibt, den es zu erfahren gilt. Das Gefühl der Anspannung und Gereiztheit wurde bei mir von einem Spürsinn abgelöst, und ich begab mich neugierig auf die Suche nach den jeweiligen Gründen eines speziellen Verhaltens. Systemisches Denken und Handeln haben nicht nur meine fachliche Kompetenz, sondern auch meine persönliche Entwicklung begünstigt. Ich fing an, eine Haltung einzunehmen, die mir nicht so leicht fällt – nämlich die der Leichtigkeit und Kreativität bei gleichzeitiger Professionalität und wertschätzender Verantwortlichkeit. Damit setzt die systemische Denk- und Interventionsweise das klassische Methodenrepertoire von Sozialarbeiterinnen in einen neuen Rahmen, in dem die Sozialarbeiterin und ihr Handeln immer als Teil des Systems gesehen werden.

Praxisbeispiel berufliche Rehabilitation: Die »Blöd-Seins-Theorie« Klemens Fraunbaum Klemens Fraunbaum · Praxisbeispiel berufliche Rehabilitation

Vorbemerkungen Ein Arbeitstrainingszentrum ist eine berufliche Rehabilitationseinrichtung für Menschen, die aufgrund psychischer oder psychosozialer Probleme aus dem Berufsleben herausgefallen sind bzw. nicht in der Lage waren, darin Fuß zu fassen. Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen in der Kursdauer von 15 Monaten dabei behilflich zu sein, sich möglichst gut auf einen Wiedereinstieg ins Berufsleben vorzubereiten. Das umfasst neben einer individuellen Betreuung am eigentlichen Arbeitstrainingsplatz auch Gruppen- und Einzelgespräche mit dem Ziel, den Klientinnen dabei behilflich zu sein, Lösungsmöglichkeiten und Wege zu suchen und zu finden, ihr (Berufs-)Leben besser in den Griff zu bekommen. Ich beschreibe einige Passagen aus der Betreuungsarbeit mit dem Klienten Herrn K. Der gelegentliche Wechsel von der Ich- in die Wir-Form (und umgekehrt) erklärt sich daraus, dass Klientengespräche meistens, aber nicht immer, von zwei Betreuern gemeinsam geführt werden.

Betreuungsarbeit mit Herrn K. Die 1. Sitzung Wie immer fragte ich auch dieses Mal Herrn K., bevor wir uns mit dem eigentlich vereinbarten Thema auseinandersetzen wollten, nach seinem gegenwärtigen Befinden, nicht zuletzt, weil mir schon am Morgen desselben Tages (ein Montag nach einem verlängerten Wochenende) aufgefallen war, dass Herr K. sehr gedämpft wirkte. Ich hatte meine Frage kaum ausgesprochen, da antwortete Herr K. zuerst mit einem tiefen Seufzer, es gehe ihm sehr schlecht und der Grund dafür sei, dass er am Wochenende eine bitterliche Niederlage einstecken musste. Er schien sichtlich erleichtert, als er das angebracht hatte. Ich fragte nach, ob er diese Situation und sein damit zusammenhängendes schlechtes Befinden dem eigentlich vereinbarten Thema vorziehen und in dieser Sitzung besprechen wolle, was er sofort bestätigte. Ich vermutete, dass dieser Wechsel des ursprünglichen Themas mehrere Funktionen für Herrn K. hatte. Mir schossen viele Gedanken durch den Kopf. Neben der Einsicht, dass Probleme, akute Schwierigkeiten und eben das, was dem Klienten aktuell am wichtigsten erscheint, mit Vorrang zu behandeln seien, fragte ich mich auch, welchen Zusammenhang oder Gegensatz es zwischen dem vereinbarten und dem akuten Thema geben konnte, oder anders formuliert: Was bewegte Herrn K. dazu, das eigentlich vereinbarte Thema, das sich mit seinen Nahzielen im Arbeitstraining

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für die nächsten Wochen auseinandersetzen sollte, gegen ein Thema, bei dem er in bemitleidenswerter Opferrolle Rat und Hilfe brauchte, zu tauschen? Ein kurzer gedanklichen Ausflug ins Reich der Sichtweisen und »Brillen« – speziell der Vorteil-Nachteil-Brille – lieferte mir z. B. folgende Stichworte: Mit dem Thema »Ziel« ist eine aktive Auseinandersetzung unerlässlich, das heißt Nachdenken, Bemühung, Offenheit und auch die vereinbarte Vorbereitung auf das Gespräch stellen schon einen ernstlichen Aufwand an Zeit und Energie dar. Eine bemitleidenswerte Situation hingegen verlangt üblicherweise zuerst einmal Verständnis, Zuhören und Hilfsangebote des Sozialarbeiters. Ein Thema, in dem es um Ziele geht, kann den oft mühsamen, steinigen Weg zur Erreichung derselben nicht außer Acht lassen, es entsteht daraus ein Auftrag zur Aktivität. Eine bedauernswerte Situation andererseits bringt oft eine gewisse Schonung, Rücksicht, Abnehmen von Aufgaben und Verantwortung etc. mit sich. Die Aktivität – um es nicht Zugzwang zu nennen – ist im Fall einer Zielorientierung klar vom Klienten verlangt, in einer Notsituation wird Aktivität normalerweise zuerst vom Sozialarbeiter, Berater etc. erwartet. Diese und andere Stichworte wurden durch den Themenwechsel in mir geweckt und beeinflussten unweigerlich mein weiteres Verhalten in dieser Situation. Das Bewusstsein darüber, dass es nur Phantasien, ja möglicherweise Vorurteile waren, steigerte jedenfalls die Möglichkeit, dem Klienten objektiver und offener gegenüberzustehen. Und so bat ich ihn, zu erzählen, was den vorgefallen sei, was er auch tat: Er hätte am vergangenen Wochenende eine so bitterliche Niederlage einstecken müssen, die nun dazu geführt hatte, dass er – nach eigenen Worten – »schwer depressiv« sei, weil er »zu blöd zu allem« und ein furchtbarer »Dodel« [Idiot] wäre. Alle Menschen um ihn würden diese Unfähigkeit bemerken und ihn auch wie einen »Dodel« behandeln. Eine Konsequenz auf diese furchtbare Situation sei auch, dass er sich mit Suizidgedanken trage. Ich war beeindruckt, dass er gleich am Anfang seiner Schilderung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, auch mit so scharfen Geschützen wie Suiziddrohungen, auffuhr. Einerseits signalisierte es mir den Ernst der Lage, andererseits konnte es (zusätzlich noch) eine plausible Rechtfertigung für den vorgenommenen Themenwechsel sein. Auffallend jedoch war für mich die bereits schon mehrmals in vorherigen Gesprächen erfolgte Betonung seiner Unfähigkeit, seines »Zu-Blöd-zuallem-Seins«. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich ein Ansprechen dieser Auffälligkeit allerdings für unpassend und verfrüht. Ich bat ihn darum, seine Erlebnisse, die zu seiner »Krise« geführt hatten, zu schildern. So erzählte er: Am vergangenen Wochenende sei er in Wien gewesen, habe dort einen Freund besucht. Diesen Freund kenne er, ein eingefleischter Fan von Ostbahn-Kurti (ein österreichischer Musiker), eben von Ostbahn-Kurti-Konzerten. Sie träfen sich auch in erster Linie bei Konzerten oder gingen gemeinsam »saufen«. Oft ließen sich auch diese beiden Hobbys miteinander verbinden. Ohne dass ich ihn danach gefragt hätte, charakterisierte er seinen Freund als gleichgültigen Typen, Säufer, eh kein »richtiger« Freund, der mit Geld nicht umgehen kann und deshalb trotz seines guten Gehalts hohe Schulden habe.

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Wie schon öfter, fuhr Herr K. also auch dieses Mal zum verlängerten Wochenende nach Wien. Sie besuchten gemeinsam eine der Stammkneipen des Freundes. Just an diesem Tag feierte die Wirtin selbst ihren Geburtstag, und zwar zusammen mit ihren Stammgästen. Zur Feier des Tages gab es für die Gäste ein Abendessen. Beim Austeilen der Gedecke bestätigte sich Herrn K.s schon länger gehegtes Gefühl, in dieser Kneipe nicht willkommen zu sein, denn für alle Gäste wurde aufgedeckt, nur für ihn nicht. Als er seinen Freund darauf ansprach, organisierte dieser ein Gedeck für ihn. Herr K. war in seiner Ehre tief gekränkt, seinen Freund dürfte dieser Zwischenfall weniger berührt haben. Es wurde anschließend das Festessen verzehrt und munter weiter getrunken. Nach geraumer Zeit dachte Herr K., es wäre günstig, einmal eine Zwischenabrechnung für die Zeche zu machen, um nicht den Überblick zu verlieren. Beim Vorlegen der Rechnung jedoch erschrak Herr K. nicht schlecht, denn gemäß den angeführten Preisen wäre der verrechnete Betrag mehr als das Doppelte der richtigen Summe! Herr K. meldete beim Kellner seine Zweifel über die Richtigkeit dieser Abrechnung an. Der Kellner habe ihn daraufhin »verarscht«, vor den anderen Gästen blamiert und gesagt, dass das so schon in Ordnung sei und er für diese Summe auch konsumiert habe und dass er – falls ihm irgendetwas nicht passen sollte – ja ruhig gehen könne. Sein Freund habe zu dieser ganzen Szene nur geschwiegen und sich weiter betrunken, erzählt Herr K. Aus einem gewissen »Trotz« heraus jedoch habe er es vorgezogen, das Lokal nicht zu verlassen, sondern blieb weiterhin sitzen. Nach einem weiteren Zusammenstoß mit dem Kellner und schließlich mit dem Chef des Hauses wurde er aus dem Lokal verwiesen und mit Lokalverbot belegt. Vor dem Wirtshaus stehend versuchte er noch über andere Gäste, seinen Freund, der nach wie vor im Wirtshaus saß, dazu zu bewegen, mit ihm woandershin zu gehen, wenn er sich schon nicht für ihn beim Wirt einsetzte. Der Freund ließ ihm nur ausrichten, dass er mit ihm – Herrn K. – nichts mehr zu tun haben wolle. Nun stand er da – mitten in der Nacht allein auf der Straße in der großen Stadt, in der er sich nicht auskannte, und vor allem konnte er ohne seinen Freund nicht, wie bisher üblich, in dessen Wohnung übernachten. Er beschloss trotzdem, zur Wohnung des Freundes zu gehen, einerseits, weil das der einzige Weg war, den er kannte, andererseits, weil er insgeheim hoffte, sein Freund würde es sich doch noch anders überlegen, nachkommen und ihn nicht allein lassen. Doch er hatte sich getäuscht, der Freund kam bis zum Morgen nicht. So blieb ihm nichts anderes übrig, als nach einer durchwachten Nacht im Freien mit dem ersten Zug wieder zu sich nach Hause zu fahren.

Überlegungen Viele Dinge waren mir während seiner Schilderung durch den Kopf gegangen. Ich wollte ihn jedoch nicht unterbrechen, weil es ihm sichtlich gut tat, diese Geschichte loszuwerden und mit ihr auch etwas von der Wut über seinen Freund und sich selbst. Das zwiespältige Verhältnis zu seinem Freund war mir von Anfang rätselhaft: einerseits einen Menschen als Freund zu bezeichnen, den er eigentlich kaum

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kannte, den er meistens nur in betrunkenem Zustand traf und den er selbst nur negativ beschrieb, auch mehrmals als »Vollkoffer« betitelt, andererseits trotzdem mit ihm zu tun haben zu wollen, ja sogar nachdem ihn dieser mehrmals kläglich im Stich gelassen und ihm sogar mitgeteilt hatte, dass er nichts mehr von ihm wissen wolle. Zu allererst fiel mir ein, dass ich einen derartigen Menschen niemals mit dem Wort »Freund« bezeichnen würde. Doch ich hatte auch den Eindruck, dass es ihm wichtig war, zumindest irgendjemanden als seinen Freund zu bezeichnen, um nicht gänzlich als Einzelgänger dazustehen. Diese Angst, nämlich zu glauben, ein Außenseiter, ein Einzelgänger und komisch zu sein, hatte er schon mehrmals erwähnt. Er schaffte es auch bei mir wieder, dass ich mir spätestens bei der Passage, wo er in der Stammkneipe seines Freundes offensichtlich beim Bezahlen betrogen wird, sein Freund jedoch, der den »Hausbrauch« und vor allem die Kellner und Chefleute kennt, ihm mit keinem einzigen Wort zu Hilfe eilt, dachte: »So etwas lasse ich mir von einem Menschen, der sich mein Freund nennt, sicher nicht gefallen. So blöd kann man doch nicht sein.« Herr K. vermittelte mir genau das Gleiche wie wahrscheinlich schon vielen Menschen, die vor mir mit ihm zu tun hatten. Die logische Reaktion dieser Menschen war vermutlich zu sagen »Du spinnst, wenn du dir so etwas gefallen lässt.« und somit hat sich sicher schon oft folgender Kreislauf geschlossen: Er hat zu wenig Selbstvertrauen, zweifelt an sich selbst, ist unsicher und wird angeblich von den Menschen um ihn aufgrund seines Verhaltens für »blöd« gehalten. Während er einerseits darüber klagt, dass man ihn für »blöd anschaut« und ihn auch so behandelt, bestätigt er in Worten und Taten genau das, eben »blöd« zu sein, und sagt es auch dezidiert, um sich später wieder darüber unter dem Motto »die Welt ist so grausam zu mir« zu beschweren und selbst zu bemitleiden. Soviel ich auch über diese Geschichte des Herrn K. nachdachte, sie blieb voller Ungereimtheiten. Mir schien die vorrangige Funktion der Erzählung zu sein, (einmal mehr) Herrn K.s »Blöd-Seins-Theorie«, die damit verbundene Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit und auch den Wunsch nach Akzeptanz dieser Strategie mit größter Deutlichkeit und Nachdruck (Selbstmordgedanken) anzubringen. So versuchte ich in erster Linie, diese Theorie meinen weiteren Überlegungen und Interventionen zugrunde zu legen. Ich wollte ja, wenn möglich, nicht in dieselbe Kerbe schlagen wie wahrscheinlich die meisten Menschen, die bisher mit Herrn K. und seiner Theorie konfrontiert waren und es offensichtlich nicht geschafft hatten, diesem derzeit noch stabilen, aber vielleicht schon auf dem Weg zur Eskalation befindlichen System einen Impuls zu geben, der eine positive Veränderung und damit vielleicht eine Unterbrechung des beschriebenen Kreislaufs zur Folge gehabt hätte. Nachdem so viele Dinge für mich noch nicht klar waren, fragte ich Herrn K., ob er einverstanden wäre, wenn ich ihm die ganze Geschichte in Kurzfassung noch einmal erzählte, um sicher zu gehen, dass ich zumindest die wichtigsten Punkte richtig verstanden hätte. Herr K. war einverstanden. So fasste ich seine Erzählung kurz zusammen: Es gebe da einen Freund, den er von Konzerten und Saufereien kennt. Dieser Freund hätte sich schon oft nicht

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gerade als würdiger Freund erwiesen, trotzdem trage ihm Herr K. sein Versagen nicht lange nach und versuche es immer wieder mit ihm, lässt ihn nicht fallen und steht nach vielen Enttäuschungen noch immer zu ihm, er hat eben Verständnis für Menschen, die viele Schwierigkeiten haben. Er habe sich eben mit diesem Freund getroffen und sei zusammen mit ihm in ein Gasthaus gegangen. Dort habe die Chefin Geburtstag gehabt und deshalb alle Gäste zum Essen eingeladen. Er selbst sei jedoch nicht willkommen gewesen, das habe man ihn von Anfang an spüren lassen, und deshalb wollte man ihm erst nach Intervention seines Freundes auch etwas zu essen geben. So war er schon wieder – wie immer – der »Blöde«. Diese Erfahrung – als der »Blöde« erkannt und behandelt zu werden – kenne er aus seinem ganzen Leben nur schon zu gut. Als er bezahlen wollte, hat man ihn betrogen, weil man gemerkt hat, dass man das mit ihm schon machen könnte, ja dass er es vielleicht nicht einmal merken würde. Auch sein Freund kann es sich leisten, mit ihm umzuspringen, wie es ihm gerade passt; und er – Herr K. – lässt es sich gefallen, weil er eben so »blöd« ist. Ja, er kann ja gar nicht anders! Nur: Er leidet eben furchtbar darunter. Das Hauptproblem seien also nicht ein paar hundert Schilling, die er zu viel bezahlt habe oder Ähnliches, sondern der für ihn unerträgliche Zustand, immer als »Trottel« behandelt zu werden. Herr K. bestätigte meine Sicht der Situation vollkommen. Ja, er verstärkte sie sogar noch, indem er erwähnte, dass die Menschen einfach derart grausam sind und Leute, die es aufgrund ihrer schlechten Voraussetzungen ohnehin schon schwer genug hätten – so wie er – ausnützen und wie einen Trottel behandeln. Darunter leide er.

Ich war noch unsicher, hatte aber den Eindruck, er sei weder blöd oder unfähig, noch wird er ungleich öfter als andere Menschen wie ein »Trottel« behandelt, er habe jedoch mit seinem Symptom der Unfähigkeit ein stichhaltiges Alibi für alle Angelegenheiten und Tätigkeiten, die er nicht machen will, die zu anstrengend, zu riskant, zu mühsam, zu verantwortungsvoll, zu unangenehm sind. Dummheit entbindet ihn jeglicher Verantwortung für Worte und Taten, die seinen »Intelligenzhorizont« überschreiten; er kann ja nichts dafür! Ich hatte noch nie wahrgenommen, dass er »blöd« sei. Er konnte sich sehr wohl ungeschickt oder schwerfällig bei der Arbeit anstellen. Bei uns rief jedoch dieses Verhalten viel eher Assoziationen wie Unwillen, Fehlen von Motivation und (Denk-)Bereitschaft hervor. Und es wäre eher verwunderlich, wenn er bei uns völlig andere Reaktion auslöste als bei allen anderen Menschen, mit denen er zu tun hat. Natürlich wäre es auch möglich, dass die Reaktionen seiner Umwelt auf »Unwillen« oder aber auf »Unfähigkeit« für ihn nicht unterscheidbar waren. All dies würde seiner »Unintelligenz« widersprechen, denn ein nichtintelligenter Mensch könnte sich keine so intelligente (Über-)Lebensstrategie ausdenken. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass er akut suizidgefährdet sei, zumal er einerseits eher wütend als verzweifelt wirkte, andererseits das Erlebnis, das ihn zum Ausklinken bzw. zum Suizid als Affekthandlung bewegen hätte können, schon wieder

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einige Tage her und die damit zusammenhängende Aktualität und Emotionalität schon etwas abgeklungen war. Ich vermutete hinter seiner Suiziddrohung Rache an den Menschen, die ihn wie einen »Dodel« behandeln. Um dies abzuklären, fragte ich ihn vorsichtig, was sich denn durch seinen Suizid an der bisherigen Situation verändern würde. Als Antwort bekam ich, er könnte auf diese Weise den vielen Menschen, die ihm täglich das Leben schwer machen, ein schlechtes Gewissen machen, ihnen ihr grausames Verhalten heimzahlen. Ich fragte nach, welchen Wert denn sein Leben für ihn habe, wenn er es wegschmeißt, um ein paar Menschen, die er sowieso geringachtet, ein schlechtes Gewissen zu machen, und woher er die Sicherheit nehme, auf diese Weise sein Ziel zu erreichen. Er dachte lange nach und teilte mir dann mit, dass ich eigentlich recht hätte: Diese Menschen seien es nicht wert, sich ihretwegen umzubringen, und außerdem sei er ohnehin zu feige dazu. Ich war froh um diese beruhigende Information und fragte ihn zum Schluss der Sitzung noch, mit welchem der beiden Punkte wir uns gemeinsam in den nächsten Gesprächen zuerst auseinandersetzen sollten: mit der Tatsache, dass er einfach blöd und unintelligent sei, oder mit der, dass die Menschen um ihn herum so grausam und gemein reagieren. Er antwortete mit leidgeprüfter Miene, dass er froh wäre, wenn’s denn nur um das Zweite ginge; tatsächlich sei er davon überzeugt, wirklich so blöd zu sein. Das sei für ihn die Problematik. Diese ohnehin schon schwierige Situation werde daher noch erschwert, dass »Unintelligenz« etwas sei, was man nicht verändern, verbessern oder reparieren könne, wie das bei vielen andersgearteten Problemen gehen würde. Er würde sich liebend gern bemühen, seine üble Situation zu verändern, aber Intelligenz könne man eben nicht vermehren. So sei er zur Passivität und zum Ertragen dieses bedauernswerten Zustandes verurteilt. Ich bemühte mich, ihm zum Abschied noch mein Mitgefühl für sein schweres Los auszudrücken, bestätigte seine Aussagen über die Irreparabilität solcher Defizite und bat ihn auch darum, sich auf keinen Fall dazu hinreißen zu lassen, sich trotz der Aussichtslosigkeit seiner Situation damit zu beschäftigen, ob und wie man nicht doch noch etwas machen könnte. Er solle sich vielmehr darum bemühen, diesen Zustand bis zum nächsten Termin in zwei Wochen auf keinen Fall zu verändern; das sei unbedingt notwendig für die weitere gemeinsame Arbeit an diesem Problem. Noch in der Tür stehend, beteuerte er, dass ihm das äußerst schwerfallen würde, weil er eben so gerne eine positive Veränderung herbeiführen wollte. Schlussendlich versprach er, sich schweren Herzens an diese Auflage zu halten.

Die Nachbesprechung mit meiner Kollegin ergab folgendes Bild: Nach unseren bisherigen Erfahrungen mit Herrn K. stuften wir ihn beide nicht als »blöd« oder unintelligent ein. Vielmehr empfanden wir diese »Blöd-Seins-Theorie« als sehr intelligente Erklärung dafür, dass er – nach eigenen Worten – mit den Anforderungen des täglichen Lebens nicht zurechtkam. Wir hatten kaum jemals eine

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stichhaltigere und lückenlosere Rechtfertigung für eine von der Gesellschaft nicht akzeptierte Lebensform – das heißt z. B., nicht im Berufsleben Fuß gefasst zu haben, trotz erwachsenen Alters finanziell von öffentlicher Hand bzw. von den Eltern abhängig zu sein und vieles mehr – gehört. Dabei war es uns wichtig, uns zu vergegenwärtigen, dass jede Auffälligkeit, Schwierigkeit, Unfähigkeit, Krankheit etc. eine meist für den Betreffenden sehr wichtige Funktion erfüllt. Durch die Lösung (= Wegnahme) des Problems entsteht die Notwendigkeit, diese wichtige Funktion zu ersetzen. Andernfalls hinterlässt das weggenommene (= gelöste) Problem eine unerfüllte Funktion, das heißt, wenn der Klient keine Möglichkeit findet, die für ihn so wichtige Funktion (z. B. Zuneigung und Mitleid für Leidende, Abnahme von Verantwortung für »Schwache«) zu ersetzen oder aufzugeben, ist ein Rückfall in die alte »Auffälligkeit« oder das Entstehen einer neuen programmiert. Herr K. ist in der unglücklichen Lage, ein Problem zu haben, jedoch in der glücklichen, dass er die Ursache zu kennen meint und in der noch glücklicheren, dass diese Ursache (= Unintelligenz) nach üblicher Ansicht eine unbehebbare ist. Und für ein unlösbares Problem braucht man keine Lösungen zu suchen. Dies wäre sogar unklug, ja »unintelligent«. Zusätzlich würde es eine völlige Energievergeudung bedeuten, etwas zu suchen, was es nicht gibt. Das ist aber erst der erste Teil der »Ersparnis«. Der zweite und viel größere Teil des Aufwandes an Zeit, Energie, Risikobereitschaft, Mühe, Arbeit an sich selbst, Rückschläge verkraften zu müssen, Verzicht etc. bleibt einem erspart, wenn sich der nächste, schwierige Schritt der »Umsetzung in die Praxis« erübrigt. Die 2. Sitzung Wir zweifelten keinesfalls daran, dass das von Herrn K. gelebte System schon lange Zeit gut funktionierte, dass ihm die meisten Menschen, mit denen er zu tun hatte, seine Theorie bestätigt hatten. Unklar war uns jedoch, welche Rolle wir nun in diesem System spielten, aus der Sicht von Herrn K. spielen sollten oder selbst spielen wollten. Wir gingen auf jeden Fall davon aus, dass wir eine Rolle spielten, denn schon allein dadurch, dass wir mit Herrn K. zu tun hatten, waren wir unvermeidlich in sein System mit hineingezogen. So überlegten wir einen Weg, der Herrn K. die Möglichkeit geben sollte, sich einerseits seiner Taktik bewusst zu werden und auf längere Sicht eine Änderung zu ermöglichen, zumal er ja bestätigte, darunter zu leiden und etwas verändern zu wollen. Diesen Wunsch wollten wir ernst nehmen. Die tatsächliche Ernsthaftigkeit dieses Wunsches jedoch würde sich für uns erst durch die sichtbaren Bemühungen zur Veränderung bestätigen. Wir beschlossen, ihn einmal konsequent so zu behandeln, wie er sich selbst beschrieb, nämlich wie einen »Volldodel«. So vereinbarten wir bereits vor dem folgenden Gespräch, ihm alles mehrfach und aufs Primitivste zu erklären, regelmäßig zu betonen, dass er viele Sachen ja nicht merken oder tun könnte, weil er eben

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zu blöd dazu sei, ihn immer wieder dafür zu entschuldigen, dass er keine verantwortungsvollen und schwierigen Aufgaben übernehmen könnte, und vieles mehr. Wenn es sich ergebe, wollten wir auch hin und wieder dezent durchklingen lassen, dass und welche Vorteile und Erleichterungen diese Tatsache – eben »blöd« zu sein – mit sich bringe und was einem Betroffenen dadurch erspart bleibe. Am Anfang der Sitzung stieg Herr K. voll auf unseren oben beschriebenen Umgang mit ihm ein. Er bestätigte uns unsere mitleidsvollen Zugeständnisse seiner Unfähigkeit, ja verstärkte sie sogar manchmal. Er hielt also sehr lange konsequent seine Linie durch und wurde erst nach längerem Gesprächsverlauf merklich nervöser, vor allem dann, als wir seine Unfähigkeit in Angelegenheiten ansprachen, von denen er offensichtlich überzeugt war oder wusste, dass er diese sehr wohl bewältigen könne. Immer stärker konnte man beobachten, dass er mit sich kämpfte, er ließ sich jedoch nicht dazu verleiten, sich zu verteidigen, zu sagen: »Das stimmt nicht, so blöd bin ich auch wieder nicht, ich kann auch etwas.« Es regte sich bestenfalls innerer Widerstand. Mit diesem für uns zufriedenstellenden Ergebnis – dass er seine ganze Theorie in einem Gespräch in Frage stellt oder gar über den Haufen wirft, hatten wir uns ohnehin nicht erwartet, das wäre in anderer Richtung besorgniserregend gewesen – brachen wir das Gespräch ab, mit der Aussicht, uns bis zum nächsten Termin zu überlegen, wie er mit dieser Tatsache – seiner Unfähigkeit, von der wir ebenso wie er überzeugt seien – (über)leben könnte. Aber nicht er sollte sich bis zum nächsten Mal den Kopf über mögliche Lösungen zerbrechen, er könnte es vermutlich auch nicht. Wir würden nun das tun, was er sich schon länger von uns gewünscht hatte, nämlich an seiner Statt nach einer Lösung für sein Problem suchen. Wir teilten ihm den nächsten Termin zwar pro forma mit, versprachen ihm jedoch, ihn im Büro abzuholen, um ihn nicht mit derartig schwierigen Aufgaben zu überlasten.

Am Ende dieses Gesprächs waren wir am Ende unserer »Schauspielkunst«, mit der wir versucht hatten, unser Vorhaben ernst und überzeugend auszuführen, und ziemlich fassungslos über die Konsequenz und Ausdauer von Herrn K. Sein System stellte sich als überaus beständig heraus. Doch es war uns klar, dass ein System, das sich vermutlich bereits viele Jahre eingefahren und bewährt hatte, nicht bei den ersten Angriffen, Verunsicherungen oder Zweifel in sich zusammenbrechen würde, zumal es ja eine sehr wichtige Funktion zu erfüllen hatte, für die es offensichtlich (noch) keinen Ersatz gab. Wir hatten eine Irritation einführen können, auf die es wohl eine Reaktion geben würde. Die 3. Sitzung Herr K. kam, obwohl wir vereinbart hatten, dass wir ihn zum nächsten Gespräch im Büro abholen würden, schon ein paar Minuten vor dem ausgemachten Zeitpunkt. Wir zeigten uns darüber übertrieben überrascht, als hätten wir es ihm nicht zugetraut. Er grinste etwas verlegen und teilte uns mit, dass so etwas – eben einen

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Termin zu merken und einzuhalten – nun wirklich (auch) für ihn kein Problem sei. Wir sahen dies als Reaktion und Mitteilung an uns, die einerseits das Ausmaß seiner »Unfähigkeit«, das wir beim letzten Gespräch als Grundlage genommen hatten, relativierte und andererseits eine vorsichtige Bewegung in seinem System signalisierte. Wir fragten Herrn K., was wir in der nächsten Stunde machen sollten. Er erzählte uns, dass ihn ein weiteres Erlebnis abermals sehr verunsichert habe. Es gebe da einen jungen Menschen, etwa seines Alters, mit dem er einige Zeit in der gleichen Firma gearbeitet hatte. Dieser Mann habe schon damals das gleiche Problem wie er – Herr K. – gehabt, sei der »Firmendepp« gewesen. Die vermutete Ursache dieser »Unintelligenz« seines Kollegen sei, dass er in stark alkoholisiertem Zustand gezeugt worden sei – eben ein so genanntes »Rauschkind« sei. Aufgrund einer vor allem dadurch verursachten Lebensunfähigkeit sei dieser ehemalige Kollege mittlerweile in einer Langzeitstation eines psychiatrischen Krankenhauses gelandet. So die Kurzfassung dieser Geschichte. Warum ihn dies so beunruhigte, begründete Herr K. damit, dass er sich selbst eigentlich als diesem Menschen sehr ähnlich wahrnehme. Er sei bei der Arbeit ebenfalls ein unfähiger »Dodel« gewesen (dazu sei vermerkt: Herr K. hat sowohl Volks- und Hauptschule, Polytechnischen Lehrgang und eine anschließende Lehre als auch Speditionskaufmann samt dazugehöriger Berufsschule und Lehrabschlussprüfung erfolgreich und ohne Verzögerung absolviert) und sein Vater habe ebenfalls immer sehr gern und viel Alkohol getrunken, warum also nicht auch zum Zeitpunkt seiner Zeugung? Diese Theorie und auch die Information über seinen Bekannten habe er von seiner Tante übernommen. Diese Tante beschrieb er sehr abfällig, weil sie über andere nur schlecht reden könne und mit ihrem eigenen Leben nicht zurechtkomme. Nachweise für den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte hatte er zwar keine, und doch brachte er seine Angst davor zum Ausdruck, auch demselben »schlimmen Ende« entgegenzusteuern.

Wir deuteten diesen neuerlichen Anlauf, sein offensichtlich aus dem Gleichgewicht geratenes System mit plausiblen Vergleichen und »wahren Gegebenheiten aus dem Leben« zu untermauern, uns von seiner angeblichen Unfähigkeit und »Unintelligenz« doch noch zu überzeugen. Wir wollten nicht wieder darauf einsteigen, sondern hatten uns vorgenommen, ihm ein solches System, wie wir es glaubten bei ihm zu beobachten, mit all seinen Vor- und Nachteilen beispielhaft (also nicht von ihm persönlich ausgehend, sondern rein theoretisch) vor Augen zu führen. Vor allem wollten wir die unumstritten vorhandenen Vorteile, Energieersparnisse etc. besonders hervorheben, jedoch im positiven Sinne, als Qualität und nicht als Schwäche. Wir hatten die Hoffnung, ihm dadurch ein In-FrageStellen seines Systems etwas zu erleichtern. Zur Geschichte seines Exkollegen brachte ich nur meine Verblüffung zum Ausdruck, dass er eine Erzählung, von der er keinesfalls überzeugt war, dass sie überhaupt stimmte, noch dazu von einer Tante, die er als »Tratschweib«, die selbst mit

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ihren Problemen nicht zurechtkomme, aburteilte, überhaupt ernst nahm. Herr K. distanzierte sich daraufhin abermals von dieser Tante und bestätigte meine Zweifel über den Wahrheitsgehalt der Story. Er meinte auch, dass ich möglicherweise recht hätte und er dieser Geschichte eben wirklich nicht allzu viel Wichtigkeit beimessen sollte, er sei eben so furchtbar unsicher und habe sich deswegen von der besagten Erzählung ziemlich aus dem Häuschen bringen lassen. Während dieser kurzen Diskussion entstand meiner Beobachtung nach – nicht zuletzt durch seinen merkbaren Schwenk von der bisher sturen Verteidigung seiner Idee zu einer etwas offeneren Haltung – recht schnell ein ungewöhnlich sachliches und freundliches Gesprächsklima, das ich dazu nützte, ihm unsere Ideen und Gedanken über seine »Blöd-Seins-Theorie« kurz zu beschreiben. Besonders hoben wir hervor, dass prinzipiell jeder Mensch gewisse Talente und Qualitäten, Kräfte und Lebensbewältigungsstrategien habe (sonst würde er ja nicht mehr leben!). Der Beschreibung der Theorie legten wir die Annahme zugrunde, dass der oder die Betroffene nicht wirklich unintelligent sei, sondern dass negative Lebenserfahrungen, große Selbstzweifel, fehlendes Selbstvertrauen und vermutlich viele Enttäuschungen dazu geführt hätten, dass die Angst sehr groß sei, trotz Bemühung, Einsatz seiner Kräfte und Gedanken doch wieder eine Enttäuschung erleben zu müssen. Da kein Mensch gerne Enttäuschungen erlebe, erleichtere das Herabschrauben von eigenen Erwartungen das Erreichen der vorgenommenen (leicht erreichbaren) Ziele. Die immer weitere Fortsetzung dieser Spirale führe zur Erwartungslosigkeit sich selbst gegenüber und damit aber auch zur Unmöglichkeit, enttäuscht zu werden. Das beeinträchtige zweifelsohne die Lebensfreude, erleichtere jedoch mit der Zeit das Bewältigen des Alltags: Eigenverantwortung, selbständiges Denken, schwierige Aufgaben und sehr vieles mehr würden einem abgenommen. Andererseits ist man sich selbst klar darüber, kein »Depp« zu sein, also Reserven in punkto Energie, Intelligenz, Leistungsfähigkeit, Selbständigkeit etc. für den Fall zu haben, dass man diese Reserven in einer schwierigen Situation, die einem ausnahmsweise niemand abnehmen kann oder will, zur Verfügung hat. Was natürlich völlig auf der Strecke bleibt, sind Erfolgserlebnisse und damit verbunden Selbstvertrauen und Sicherheit. Das aber ist der Preis, den es sich offensichtlich lohnt zu zahlen. Jeder Versuch, seine Intelligenz zu zeigen, ist mit dem großen Risiko verbunden, entweder damit Erfolg zu haben und dadurch die Reserve zu vergrößern oder trotzdem eine Enttäuschung zu erleben, Fehler zu machen. Das wiederum würde an der sicheren Reserve nagen und könnte sie verkleinern oder sogar zerstören. Diesem Risiko könnte man mit besagter Strategie ausweichen – um den Preis des Fehlens von Anerkennung und Erfolg. Die Gewöhnung an diese Situation könnte jedoch nur eine Frage der Zeit sein. Wir hatten den Eindruck, dass der Teil der Schilderung, in dem es um Erleben von vielen Enttäuschungen und dadurch um Angst vor weiterem Versagen und damit verbunden um Kraft-, Intelligenz- und Energierückzug ging, Herrn K. sehr traf. In Worten reagierte er kaum, aber das hatten wir auch nicht erwartet.

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Eine der nächsten Sitzungen Aufgrund der Vereinbarungen mit den Kostenträgern unserer Einrichtung sind wir verpflichtet, in gewissen Abständen Berichte über die Klienten, ihr Arbeitsverhalten, eventuelle Fortschritte und Zukunftspläne etc. abzufassen. Zu diesem Zweck besprachen wir die Situation mit Herrn K. Wie üblich fragten wir ihn, wie es ihm gehe, was ihm Schwierigkeiten mache und ob er Fortschritte oder Veränderungen bei sich selbst bemerkt hätte. Er erzählte mitten im Gespräch, dass er das Gefühl habe, sein Selbstvertrauen und seine Sicherheit seien merkbar gestiegen und dadurch könne er auch besser arbeiten. Auch uns war die merkbare Verbesserung im Arbeitsverhalten aufgefallen. Was die Veränderung verursacht hatte, werden wir nie genau wissen; wir hofften jedoch, dass es auch eine Folge unserer Arbeit mit Herrn K. gewesen sein könnte. Das Thema »Unfähigkeit/Unintelligenz« tauchte nach wie vor gelegentlich auf. Der Umgang damit veränderte sich jedoch insofern, dass beispielsweise Herr K. und ich, wenn er mir gerade erklären wollte, dass er irgendetwas, was er sehr wohl vermochte, nicht könne oder ihm zu einer seiner Aufgaben keine Lösungsmöglichkeit einfiele etc., uns oft nur anschauten, er grinste dann und erledigte seine Aufgaben daraufhin ordentlich. Manchmal, wenn er trotz intensiven Nachdenkens keine Lösung fand, betonte er, dass er sich jetzt »wirklich« nicht mehr auskenne …

Praxisbeispiel Familienintensivbetreuung: Die einfachste Lösung Georg Kanitsar Georg Kanitsar · Praxisbeispiel Familienintensivbetreuung

Vorbemerkungen Familienintensivbetreuung ist ein Instrument des Amtes für Jugend und Familie der Gemeinde Wien. Die Betreuung wird von den zuständigen Sprengelsozialarbeitern der Familie angeboten. Die Familie, die Sprengelsozialarbeiterin und der Familienintensivbetreuer (FIB) vereinbaren gemeinsam einen Arbeitsvertrag, bei dem eine Problemeingrenzung vorgenommen wird. Die Betreuung der Familie erfolgt in ihrer Wohnung, erfordert die Freiwilligkeit der Familie und ist gratis. Der Hausbesuch erweist sich oft als wesentlich lebendigere Beratungssituation, denn auch im Beisein des Beraters nimmt man kein Blatt vor den Mund. Diese spontane Möglichkeit erfordert jedoch große Konzentration beim Betreuer. Die Familie F. wurde mir vor acht Monaten, vorerst in unserem Besprechungsraum, vorgestellt. Neben dem Ehepaar F., Frau Martha F. (34 Jahre), Herrn Alois F. (37 Jahre), gibt es drei Kinder: Roswitha (15 Jahre), Alois jun. (7 Jahre) und Paul (5 Jahre). Zum Erstgespräch erschienen Frau Martha und Herr Alois F. und die zuständige Sprengelsozialarbeiterin. Anlass war das vehemente Drängen von Alois’ Schule, sein Problem des gelegentlichen Einkotens zu behandeln.

Problemstellung Die Familie F. ist seit Jahren dem zuständigen Bezirksamt für Jugend und Familie bekannt. Frau F. ist im Haushalt tätig, Roswitha und Alois jun. besuchen die Schule und für Paul beginnt demnächst die Schulpflicht. Die Arbeitsbereitschaft von Herrn F. wird als nicht sehr ausgeprägt bezeichnet. Die Familie lebt fast hauptsächlich von der Unterstützung der Arbeitslosenversicherung. Der Problemträger der Familie ist der Sohn Alois. Er kotet fast ständig ein, bzw. ist er eigentlich nie sauber geworden. Als die Situation mit seinem Schuleintritt unerträglich wurde, erlebte die Familie einen permanenten Druck von der Schulbehörde und auch vom Amt für Jugend und Familie, mit ihrem Sohn »etwas« zu unternehmen. Der Bub wurde vor 14 Monaten zur stationären Beobachtung in der Heilpädagogischen Station des Allgemeinen Krankenhauses aufgenommen. Da Alois sehr unter der Trennung von seiner Familie litt, wurde ein spezielles Arrangement getroffen. Er wurde täglich am Morgen von seinem Vater zur Klinik gebracht und am Abend wieder abgeholt. Nach einem Monat wurde der Aufenthalt ohne nennenswertes Ergebnis beendet.

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Ein weiteres Angebot, Hilfe bei einer sozialpädagogischen Beratungsstelle zu finden, wurde zwar zunächst angenommen, aber sowohl von Alois jun. (alle reden immer über mich) als auch seinem Vater (mangelnde Problemeinsicht und Enttäuschung über seinen Sohn, der trotz seiner Bemühungen nicht dankbar ist) vorerst zu ernst und in Folge immer weniger ernst genommen und schließlich nach einigen Terminen von der Familie abgesetzt.

Betreuungsziel Sowohl von der Familie als auch von der zuständigen Sozialarbeiterin wurde primär Hilfe für Alois jun. erwünscht. Dadurch erhofften sich die Eltern, nicht mehr von der Schule mit der Schuldzuweisung für Alois’ »Krankheit« konfrontiert zu werden. Die Sozialarbeiterin, die Alois jun. als den Symptomträger eines dysfunktionalen Familiensystems sah, ersuchte mich, das Interaktionsmodell der Familie F. zu beobachten und wenn möglich zu verändern. Wie erwähnt fand unser erstes Gespräch unter Anwesenheit des Ehepaars F. und der Sprengelsozialarbeiterin statt. Frau F. erzählte offen und sehr spontan, Herr F. eher distanziert, von ihrem Problem mit Sohn Alois. Dabei erwähnten sie, dass sie von der Schule einerseits recht unter »Druck« gesetzt werden (gleich einer Produkthaftung: Eltern haften für ihre Kinder), aber andererseits Alois mit seinem »Leiden« auf viel Verständnis bei seiner Klassenlehrerin und bei seiner Beratungslehrerin stößt. Auch mit seinen Klassenkameraden gibt es keine Probleme. Nebenbei erzählten sie, dass Alois im Gegensatz zu daheim in der Schule kaum einkotet. Die Eltern erleben Sozialarbeiterin als sehr hilfreich. Von ihr hatten sie bereits zwei Betreuungsangebote bekommen, die leider nicht den erwünschten Erfolg erzielten. Auf meine Frage, wo sie noch »Druck« verspüren, erwähnte Herr F. Probleme mit der Nachbarschaft, fügte aber gleich hinzu, dass ihm das egal sei: »Die« sehen uns als Gesindel, also sollten sie auch sehen, wie sich Gesindel benehme. Frau F. fühlte sich mit der Erziehung der Kinder und der Haushaltsführung zeitweise überfordert und hat kaum Zeit für eigene Interessen. Von Pauls bevorstehendem Schuleintritt erhofft sie sich, ihren Außenkontakt über die Grenzen der Wohnhausanlage zu erweitern. Das Nachbarschaftsproblem wurde von ihr als nicht vorrangig dargestellt. Durch Frau F.s Außeneinschätzung vermutete ich vorerst, dass sich Herr F. angesichts kommender Hausbesuche für die nicht gerade luxuriöse Wohnsituation der Familie schämte. Offensichtlich für mich war, dass bereits zwei Versuche, die Alois jun. ins Zentrum der Gespräche stellten, fehlgeschlagen waren. Hier griff ich die Befürchtung von Frau F. auf, dass Alois große Angst davor hat, neuerlich in den Mittelpunkt der Beachtung gerückt zu werden. Ich schlug den Eltern vor, bei unseren folgenden Gesprächen, bei dem auch die Kinder anwesend sein sollen, Alois und sein

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»Leiden« vorerst auszuklammern. Zum einander Kennenlernen schlug ich als Inhalt des ersten gemeinsamen Gesprächs mit der ganzen Familie das Thema Erziehungsberatung vor. Die Eltern akzeptierten dieses Angebot und das weiterer Gespräche mit dem nebulösen Thema Erziehungsberatung und verließen erleichtert mein Büro. Eines hatten wir gemeinsam: Weder die Familie F. noch ich hatten eine konkrete Vorstellung, was unsere Zieldefinition bedeuten soll.

Beobachtungsphase Ein Vorteil meiner Arbeit ist es, Zeit zu haben, das Interaktionsmuster und die Kommunikation der Familienmitglieder untereinander im Lebensbereich der Familie zu beobachten. Dazu verwende ich im Durchschnitt drei Monate. Folgende Interaktionsmuster habe ich in der Familie F. beobachtet. Frau Martha F.: Als vermutliche Initiatorin meiner Betreuung bzw. Anwesenheit hatte sie dafür zu sorgen, dass ich nicht unbedingt den Kern, zumindest jedoch von der Hülle der Familienprobleme erfahre. Da vereinbart ist, nicht über Sohn Alois zu sprechen, thematisiert sie Roswithas Problem mit ihrem Klassenvorstand. Herr Alois F.: Herr F. präsentiert sich als Oberhaupt der Familie und ist bei jedem Gespräch anwesend. Er bringt sich meist erst am Ende der vorgegebenen Zeit ein und zeigt sein Misstrauen an der amtlichen Betreuung durch seine Körpersprache. Roswitha F.: Da, vermutlich zu ihrer Überraschung, ihr Bruder Alois nicht der Mittelpunkt der Gespräche ist, freut sie sich ganz besonders über die Gelegenheit, auch einmal ein Problem zu haben. Das geht so: Da ihr offensichtlich die Rolle des Gesindels vom Gemeindebau nicht gefällt, sieht sie in mir eine Chance, die Eltern davon zu überzeugen, dass sie trotz wenig zufriedenstellender Noten für die Laufbahn einer höheren Schule geeignet ist. Alois F.: Sohn Alois fühlte sich, mehr als sein Vater, durch meine Anwesenheit bedroht. Schon wieder einer, den es interessiert, wie oft ich in die Hosen scheiße. Misstrauisch saß er bei jedem Gespräch, bis er nach einigen Wochen einsah, dass er nicht mehr so wichtig war. In dieser Zeit bemühte er sich recht erfolgreich, in Körperhaltung, Aussehen und Sprache seinen Vater zu imitieren. Paul F.: »Eigentlich gibt es ihn auch noch.« Er nässt nicht ein, er erfüllt die Wohnung nicht mit dem Aroma einer angeschissenen Hose. Ganz im Gegenteil, er ist das heimliche Genie der Familie. Er kann bereits rechnen und schöner schreiben als sein Bruder. Mit allen heimlichen Genies dieser Welt hat er ein gemeinsames Schicksal: Er wird weder von seiner Familie, noch von der Umwelt wahrgenommen. Zu diesem Zeitpunkt der Betreuung waren die Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder gegenläufig.

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Die ersten Informationen und meine Überlegungen Langsam aber sicher kristallisierte sich heraus, dass Frau F. in der Familie »die Hosen anhat«. Die Familie bewohnt eine Wohnung, in der Frau F. selbst aufwuchs. Herr F. wuchs im gleichen »Bau« auf. Seine Familie war im Gegensatz zur Familie der Frau F. schon seit jeher »belastet«. Die Eltern waren (un-)geduldete Alkoholiker; die Schwester fand ihren Reichtum in der Karriere einer Prostituierten. Der Wiener »Gemeindebau« ist ein System mit Bewohnern, die sehr an ihrer unmittelbaren Umwelt interessiert sind. Die Realität der Familie F. weicht vom Klischee nicht ab: Die Gemeinschaft weiß bald, dass die arme Martha bei Alois F. kein Glück finden wird. Selbst Marthas Familie, die von dieser Ehe schon gar nicht begeistert war, merkt bald, dass Alois genau ihre Erwartungen erfüllt. Er arbeitet nur gelegentlich, kann seine Frau nicht unterhalten und zeugt noch dazu Kinder mit ihr: Eine neue Problemfamilie wurde geboren.

Die Veränderung in den ersten drei Monaten Zu Beginn meiner Besuche hatte es den Anschein, als würde Herr F. nur zur Wahrung des häuslichen Friedens dem Drängen seiner Frau nachgegeben haben und Hilfe wünschen. Bald zeigte er, zuerst in seiner Körpersprache, zusehends Interesse an seiner Beteiligung an den Gesprächen. Alois jun. hingegen war vorerst ständig anwesend und beobachtete genau, ob wir tatsächlich nicht von ihm und seinen vollen Hosen sprachen. Erst nach zirka zwei Monaten schafft er es, uns gelegentlich zu verlassen, um sich mit seinem Bruder Paul im Nebenzimmer zu raufen. Kurze Zeit später wurde ich als total ungefährlich eingestuft. Heute empfängt er mich mit einem lauten »Hallo« und ist froh, dass seine Eltern durch mich beschäftigt sind. Nachdem Roswithas sozialer Aufstieg zu einer »höheren« Tochter durch eine misslungene Aufnahmeprüfung beendet wurde, zog sie sich auf ihr altes Vorrecht (Roswitha besitzt als einziges Familienmitglied ein eigenes Zimmer) zurück. Vermutlich ist es das Schicksal von Roswitha, dass niemand sonderlich enttäuscht war, dass sie die Aufnahmsprüfung nicht geschafft hat. Paul freute sich, dass er mit seinem Bruder wieder so spielen konnte, wie er es vor meinem Erscheinen gewohnt war. Da die Kinder ihr Interesse an unseren Gesprächen verloren, konnte ich von der Familienebene auf die Elternebene übergehen. Sohn Alois war wieder zu einem gemeinsamen Thema geworden. Auf meine Frage, wann denn Alois einkotet, konnten weder Herr noch Frau F. eine Antwort finden. Es fiel ihnen wesentlich leichter zu beantworten, wann er denn nicht oder kaum einkotet: in der Schule, beim Spiel im Hof, bei Verwandtenbesuchen etc. Meine nächste Frage war, ob sie Situationen bemerkt haben, wo es zu häufigem Einkoten kommt. Nach einigen Zögern erzählten Frau und Herr F., dass es eigentlich schon immer, in letzter Zeit häufiger zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen kommt. Auslöser sind die finanziellen Schwierigkeiten. Bis jetzt haben sie es noch im-

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mer geschafft, über die Runden zu kommen. Natürlich gab es auch manchmal Streit. Damit war auch Alois jun. aus den Gesprächen ausgeschieden. Die Elternebene reduzierte sich auf die Paarebene. Auf meine Frage, was sie sich von ihrer Zukunft erhoffen, ergab sich für mich folgendes Bild. Frau F. wünscht sich: Trotz der finanziell schlechten Bedingungen und widrigen Umständen muss die Fassade der funktionierenden Familie aufrechtgehalten werden. Als bekannte und »liebe Martha« mag sie vor den Bewohnern des Gemeindebaus nicht versagen. »An den Streitereien im Bau ist mein Mann nicht unschuldig. Ich möchte, dass er sich zurückhält.« Herr F. wünscht sich: Ich will endlich von dem Image meiner Eltern wegkommen. Es ist richtig, dass ich zurzeit arbeitslos bin, trotzdem will ich von meiner Umwelt (Gemeindebau, AJF, Schule) nicht wegen meines Versagens (Arbeitslosigkeit) verurteilt werden. Ich will, dass man mich und meine Familie achtet. Das Ehepaar war sich bewusst, dass die häufigen finanziellen Engpässe zum Streit führten. Die Sorge, Miete und Energie zu bezahlen, verband sie miteinander, wechselte jedoch ab mit fürchterlichen Szenen, wenn es um Versandhausrechnungen ging. Der kleine Alois erlebte bei solchen Szenen, wie das Image seines Vorbilds von der Mutter demontiert wurde. Mit Genuss verfolgte der Gemeindebau diese Auseinandersetzungen. Der Gesprächsstoff war für den nächsten Tag gesichert.

Meine Arbeitshypothese Für mich hatte diese dysfunktionale Beziehung der Familie ihren Ursprung weder in den Schulden noch in Herrn F.s. barschen Umgang mit den Hausparteien. Nach Herrn F.s Erfahrung hat ein Mann die Familie zu versorgen. Nach dem ihr bekannten Schema hat Frau F. dafür zu sorgen, dass der Haushalt, inklusive der Erziehung der Kinder, funktioniert. Die Anliegen der »braven Martha« und des »barschen Alois« hatten einen gemeinsamen Nenner. Beide wollten in der Wohnhausanlage, also in der Öffentlichkeit, einfach Achtung und Ansehen, um ihr Selbstwertgefühl zu steigern. Ihre Wünsche waren in diesem Punkt deckungsgleich.

Meine Intervention Mein Vorschlag, einfach die Rollen innerhalb der Familie zu tauschen, stieß vorerst auf Erstaunen des Ehepaars. Die »moderne« Sichtweise, dass ein Hausmann eine verantwortungsvolle Rolle innerhalb der Familie übernimmt und es nicht ungewöhnlich ist, dass der weibliche Ehepartner die Versorgung der Familie übernimmt, war ihnen bis jetzt nur von den Medien (hauptsächlich vom Fernsehen) bekannt. Nach langem Abwägen der Meinungen, die nun ihre Umwelt und die Fa-

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milie von Frau F. von ihnen haben würde, erklärten sie sich zu diesem Schritt bereit.

Die bisherigen Folgen der Intervention Frau F. fand relativ rasch eine Anstellung als Serviererin in einem Kaffeehaus. Sie hatte schneller, als sie erhoffte hatte, den Schritt über ihre bisherigen Umweltgrenzen erreicht. Die Kinder akzeptierten, dass sie nach einem Spätdienst am Morgen länger schlief. Die aktive Haltung ihres Gatten im Familiengeschehen erfreute sie. Als angenehmen Nebeneffekt erlebte sie, dass durch ihr Gehalt die finanzielle Misere der Familie zwar noch lange nicht bereinigt, aber wesentlich entspannter war. Wahrscheinlich hatte ich bei Herrn F. ohnehin offene Türen eingerannt. Seine bisherige Haltung (»Es gibt nichts Moralischeres, als unnütz zu sein«) hatte ihm vermutlich nie sonderlich behagt. Allmählich kam er ins Schwärmen über seine neue Rolle. Da er nun auch »offiziell« im Familienleben eingebunden war, fühlte er sich durch seine Aufgabe aufgewertet. Tatsächlich entwickelte er tadellose hausmännische Fähigkeiten. Voll Stolz bezeichnete er seine Frau als geborene Kellnerin. Sie könne nämlich besser mit fremden Menschen umgehen. Die familiäre Streitsituation hatte sich entspannt. Laut Angaben seiner Eltern kotete Sohn Alois deutlich weniger ein.

Praxisbeispiel allgemeine Sozialhilfe: Umdefinitionen Alexander Josef Weber Alexander Josef Weber · Praxisbeispiel allgemeine Sozialhilfe

Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles! Wer das erkennt, wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick … Fjodor M. Dostojewski, zitiert nach Watzlawick (1985, S. 128)

Vorbemerkungen Sowohl Klienten wie auch Sozialarbeiterinnen belegen gewissermaßen Außenseiterpositionen in unserer Gesellschaft: Klienten sowieso durch ihr Anderssein, das sie zu Klienten macht; und Sozialarbeiterinnen kommen durch ihre Arbeit mit solchen Personen in die Position, Belastung und Entlastung gleichermaßen zu repräsentieren. Seit den sozialpolitisch goldenen Siebziger Jahren werden Sozialarbeiterinnen auf verschiedenen Ebenen eingesetzt, um die Außenseiter wieder »in die Gesellschaft zu integrieren«. Was heißt das konkret? Sozialarbeiterinnen treten in Beziehung mit Klienten, versuchen zu bewirken, dass diese ihr symptomatisches Verhalten aufgeben und ohne Hilfe zur Zufriedenheit aller weiterleben können. Wie machen Sozialarbeiterinnen das? Wie kann das funktionieren? Funktioniert das, weil sie freundlicher sind als andere Menschen? Weil sie gut zuhören und den Klienten die nötigen Ressourcen verschaffen können oder weil sie die besseren Ideen haben? Was bedeutet die Systemtheorie für die Arbeit des Sozialarbeiters mit Klienten, und wann wird er tätig? Handlungsfelder für Sozialarbeit sind dysfunktionale Beziehungsmuster: einerseits innerhalb von Familien oder anderen privaten Beziehungen, wenn die Metakommunikation (Kommunikation über die Beziehung) zur Dauerbeschäftigung geworden ist, und andererseits Außenseiterbeziehungen, worunter eine Beziehung zwischen einer Person oder einer kleineren Subgruppe und einer Mehrheit (Gesellschaft) zu verstehen ist, die sich dadurch auszeichnet, dass beide Parteien finden, dass die jeweils andere im Unrecht ist. Ich möchte nun anhand einiger Fallbeispiele meine ersten praktischen Erfahrungen und Interventionen beschreiben.

Fallbeispiele Herr B., der »Außergewöhnliche« Herr B., 53 Jahre, ist seit ca. 10 Jahren in Betreuung. Früher war er bei einem anderen Kollegen, seit einigen Jahren kommt er einmal monatlich zu einem Gespräch

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zu mir. Außerdem nehme ich auch seine Sozialhilfeanträge auf. Herr B. kommt aus kleinbürgerlicher Familie mit einem starken Vater (Beamter) und einem Bruder, der ähnlich wie der Vater »etwas geworden ist«. Die Mutter, stets im Schatten des Vaters, der schon einige Jahre tot ist, unterstützt Herrn B. immer wieder finanziell (»Sponsor«). Herr B. machte eine Tischlerlehre und arbeitete dann bei verschiedenen Transportunternehmen als Chauffeur. Er fuhr mit großen LKWs auch im Ausland. Herr B. hatte Familie – die Scheidung war Ende der 1970er Jahre – mit drei Kindern, die jetzt erwachsen sind; er hat kaum Kontakt zu Kindern und Enkeln. Ende der 1970er Jahre kam er in Kontakt mit Buddhismus, verbrachte ein Jahr in Amsterdam in einem buddhistischen Zentrum. Nach der Rückkehr nach Wien und dem Ausstieg aus der vollkommenen Hinwendung zur buddhistischen Lehre, hatte er keine Ansprüche mehr auf Arbeitslosengeld, bekam immer größere Probleme mit Alkohol und Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Herr B. hatte alle Angebote (Alkoholentzug, Kursmaßnahmen bezüglich Arbeit), die eine Änderung seiner Situation hätten herbeiführen können, nicht wahrgenommen. Als Begründung gab er an, er könne wegen der Alkoholprobleme nicht arbeiten. Der Alkohol beherrsche ihn, er habe keinen Einfluss darauf. Manchmal schaffe er es, eine Zeitlang nichts zu trinken, dann wieder nicht, aber er könne nicht sagen, warum. Auch ohne Alkoholprobleme wäre es sinnlos, da er wegen seines Alters und mangels einer Berufsausbildung nicht viel mehr als »Sozialhilfenhöhe« verdienen könne, wenn überhaupt. Durch die Beschäftigung mit dem Buddhismus habe er sich als Mensch weiterentwickelt. Er fühle sich aber sehr deplatziert in dieser immer verrückter werdenden Welt und leide immer mehr darunter, nicht gebraucht zu werden. In den letzten Monaten stellte sich die Situation für mich so dar: Herr B. fühlt sich immer schlechter, und er leidet immer mehr. »Einmal muss das Leiden ein Ende haben.« – »Ich habe Angst!« – »Ich kann nichts dagegen tun!« – »Ich war so hoch oben (Anmerkung: in der Zeit der intensiven Hinwendung zum Buddhismus), wahrscheinlich muss ich ebenso tief hinunter.« – »Das Leiden sollte wenigstens einen Sinn haben, nicht unbedingt nur für mich, dann wäre es zu ertragen.« – »Ich weiß, das klingt alles, als wäre ich größenwahnsinnig.«

Dazu meine Sichtweise als Sozialarbeiter: Herr B. sieht sich in seiner Außenseiterposition ständig von der Gesellschaft entwertet, er versteht sich als guter Mensch, der sich mit gesellschaftlichen Problemen, Philosophie, Ethik etc. beschäftigt, der sensibel ist, wahrheitsliebend und ein Menschenfreund, aber die Gesellschaft erkennt das nicht an. Da ist er nur der Sozialschmarotzer, der Alkoholiker, der »gescheit redet«. Intervention: »Herr B., ich glaube, da müssen Sie durch. Sie müssen das Leiden zu Ende führen. Ich glaube, Sie werden es schaffen.« Herr B.: »Ich möchte weiterkommen, Mensch werden. Ich würde auch gerne ein normales Leben führen können und mir nicht so viele Gedanken machen müssen. Ich habe kein Zuhause, ich gehöre nirgends dazu.«

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Bereits eine Woche später erzählt Herr B. am Telefon, er hatte eine Frau kennengelernt, die sich in einer ähnlichen Situation befindet (Sucht, Sensibilität, Tiefe). Sie hatten auch über einen gemeinsamen Entzug gesprochen. Allerdings hat diese Frau nun die Beziehung abgebrochen. Herr B. sagt, dass er das Leiden nicht mehr aushalte und keine Kraft mehr habe. Wieder bestätigte ich seine Sichtweise: »Herr B., ich bewundere Sie. Es erstaunt mich, wie weit Sie mit Ihrem Leiden gehen können, und ich bin gespannt, wo Ihre Grenzen sind. Ich glaube, Sie nehmen sehr viel auf sich. Ich bin froh, dass Sie mich angerufen haben, denn ich habe starkes Interesse daran, zu wissen, wie es weitergeht und wie Sie es schaffen werden.« Herr B. bedankt sich bei mir. Wieder eine Woche später kam ein Anruf von Herrn B. aus dem Psychiatrischen Krankenhaus; er beginnt einen Alkoholentzug. Frau P., »die man steuert« Frau P., 47 Jahre, ist seit 5 Jahren in Betreuung. Früher war sie bei einer anderen Kollegin, seit 2 Jahren kommt sie regelmäßig zu Gesprächen zu mir. Frau P. war nach der Scheidung (ein erwachsener Sohn) und einem Alkoholentzug im Genesungsheim Kalksburg erstmals wegen »Überforderung bei Behördenwegen« in die Betreuungseinrichtung gekommen. Später gab es andere Schwerpunkte. Die Symptome waren Depressionen, somatische Beschwerden oder Auftauchen von paranoiden Vorstellungen. Zuletzt stellt sich die Situation so dar: Frau P. holt ihren Exmann aus finanziellen Gründen in die Wohnung zurück, da sie mit der Unterhaltszahlung, die sie bekommt, wenn sie getrennt leben, nicht auskommt. Andererseits hält sie aber auch das Leben mit ihm nicht aus und wirft ihn nach einiger Zeit wieder hinaus. Abgesehen von den finanziellen Problemen hat sie auch sonst Schwierigkeiten, alleine zu leben, und versucht krampfhaft, einen Mann zu finden, der sie beschützt und unterstützt. Arbeit zu suchen, um finanziell unabhängiger zu sein, kann sie sich nicht vorstellen. Sie traut es sich nicht zu. Frau P. hatte nur zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr eine angelernte Tätigkeit ausgeübt, dann wurde sie schwanger und heiratete. Für die Fehlversuche mit anderen Männern macht sie Menschen aus ihrer Umgebung verantwortlich, die das alles »steuern« bzw. auch sie selber »steuern«. Sie könne nichts dagegen tun. Frau P. beschreibt ihre Reaktion selbst so: »Ich habe schon wieder psychosomatische Beschwerden, Depressionen …« Daraufhin holt sie wieder ihren Exmann zurück. Diese Abläufe wiederholen sich immer wieder. Vom Sozialarbeiter erhofft sie sich Hilfe, Ratschläge und Erleichterung.

Über die letzten Gespräche gibt es mit Einwilligung der Klientin Tonbandmitschnitte (die Gespräche fanden in ca. 14-tägigen Abständen statt). Ich bediente mich der Methode des zirkulären Fragens (Fragen, die Unterschiede machen, Merkmale deutlich machen, Kontext einbeziehen, andere Sichtweisen einbringen, Einführen neuer Zusammenhänge, zukunftsorientierte Fragen). Intervention (I): Frau P., was hat sich geändert seit unserem letzten Gespräch? Frau P. (P): Woraufhin bin ich so krank geworden? Ich habe zwei Tage erbrochen, jeden Schluck Wasser, Obst, Bananen, alles. Aber mir war gar nicht schlecht.

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I: Was hatte sich geändert zu dem Zeitpunkt, als Sie zum Erbrechen angefangen haben? P: Was sich da verändert hat, ja, das möchte ich auch wissen. I: War Ihr geschiedener Mann zu diesem Zeitpunkt da, oder war er ausgezogen? P: Ja, der war da. Nein, der war nicht da. Da hatte ich ihn in der Nacht angerufen und ihn gefragt, ob er kommen kann. I: Er war also ausgezogen, vorher? P: Ja, ja. I: Ist das nicht eine Veränderung gewesen für Sie? Wann haben Sie das letzte Mal dieses Problem gehabt? War er damals da oder nicht? P: Damals war er da. I: In welcher Phase war das damals? War es, als es Ihnen gut gegangen ist, oder war es, als es Ihnen schlecht gegangen ist? P: Da ist es mir schlecht gegangen. Ja, ja. Da war ich unglücklich. I: Wie sehen das die anderen? Der Exmann zum Beispiel? P: Der denkt nicht darüber nach, was das sein könnte. Darüber zerbricht der sich nicht den Kopf. Es ist ja schon wieder dasselbe, er sitzt zehn Minuten bei mir beim Frühstück, und ich fang schon an aufs WC rennen, Durchfall, Räuspern. Er ist weg, und das ist auch weg. I: Heißt das, es sind die gleichen Symptome, obwohl Sie nicht allein sind? P: Nur nicht so arg. Ich weiß nicht, aber in meinem Unterbewusstsein vermute ich da ganz etwas anderes. Ich bin erstens sehr, sehr feinfühlend und noch was: Das habe ich schon in einer Vision Wochen vorher gesehen. I: Wie war denn das, können Sie das beschreiben? Wo haben Sie diese Vision gehabt? P: Ich hab nur gesehen, ich werde dauernd erbrechen. Da bin ich gelegen so vor dem Einschlafen. Da habe ich das schon vorhergesehen. Da dachte ich mir, so ein Blödsinn, warum sollte ich erbrechen? I: Können Sie die Gefühle beschreiben, die Sie gehabt haben, als Sie die Vision hatten? Wie entsteht denn so eine Vision? Ich kann mir das nicht so vorstellen. P: Ich habe mir nur gedacht, dass ich, wenn ich im Café bin, zu erbrechen anfangen werde. I: Haben Sie Angst davor gehabt? P: Nein, ich habe mir nur gedacht, wieso, warum muss ich erbrechen? Ist irgendetwas mit mir? Stimmt etwas nicht? I: Ich will Ihnen einmal sagen, was ich bis jetzt verstanden habe. Wenn Sie alleine sind und sich einsam fühlen, dann reagieren Sie körperlich. Wenn der Exmann da ist, reagieren Sie auch so, aber nicht so stark. Gibt es Situationen, wo es Ihnen absolut gut geht? P: Ja, wenn ich zum Beispiel mit dem Bekannten telefoniere, der mich zwar vertröstet, aber da geht es mir gut. Einmal haben wir telefoniert miteinander, da hat er gesagt: »Einmal werden wir es probieren.« Da ist es mir auch gut gegangen. Ist ja auch ein Hoffnungsschimmer.

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I: Was ist jetzt Ihr Problem? Was führt Sie heute zu mir? P: Weil, so kann es nicht weitergehen. Und noch was, mit meinem Geld komme ich nicht aus. I: (Abklärung der Rechtslage mit dem Schluss daraus, dass das Geld nicht mehr wird als die Sozialhilferichtsatzhöhe). P: Also, so kann es nicht weitergehen. Finanziell schaffe ich es nicht alleine, und auch so kann es nicht weitergehen mit meinem Exmann. Ich finde mich nicht mehr zurecht. Ich glaube, so geht es nämlich allen, die in der gleichen Situation waren wie ich, dass sich die erst fangen, wenn sie den richtigen Partner gefunden haben. I: Das ist ja nicht neu, die Situation jetzt. Seit ich Sie kenne, war das ja schon ein paar Mal. Einmal mit, einmal ohne Ihren Exmann. P: Nur, wie tue ich weiter? I: Wenn Sie es sich ausdenken könnten, …? P (unterbricht): Ja, mit einer Tätigkeit. Ich will doch, wenn ich es schaffe überhaupt, dann etwas, was mir Spaß macht. Ich schaffe das überhaupt nicht, mich macht das Einkaufen so müde, ich zittere und habe weiche Knie. I: Das Erbrechen und der Durchfall, das kostet Kraft. P: Ja, das hat sehr viel Kraft gekostet, sehr viel Substanz. I: Glauben Sie, wenn es Ihnen gut geht, dass Sie die Kraft wieder bekommen werden? P: Ja, wie soll es mir gut gehen? Das ist ja wie ein Teufelskreis. Da funktioniert das nicht, dann funktioniert das nicht. Da geht ja eins ins andere. I: An welchem Punkt gibt es, glauben Sie, die Möglichkeit, dass Sie einmal anfangen könnten? P: Wenn ich Arbeit hätte?? I: Würden Sie noch etwas dazu brauchen? P: Einen Mann (lachend), den ich mag. Ja, das fehlt mir. Was mache ich jetzt weiter? Ich habe mir schon gedacht, vielleicht sollte ich zu einem Arzt, zu einem anderen Psychiater gehen. Meine Seele ist ja krank! Und ich spüre, dass es immer ärger wird. I: Glauben Sie, kann Ihnen irgendwer helfen, den Mann zu finden, den Sie gerne hätten? P (lachend): Wer sollte mir denn helfen? Ich habe nur gemerkt, dass sie im Café sehr boshaft sind, ob Männlein oder Weiblein. Ich spüre, dass die dagegen arbeiten. I: Mir würde das vielleicht auch gefallen, wenn ich immer ein Schauspiel geboten bekäme im Lokal. Sie sind dort wahrscheinlich bekannt wie »das falsche Geld« und bieten denen wahrscheinlich immer etwas. P: Ein Schauspiel, ja ja, richtig. Ja ja, und da gibt es Männlein oder Weiblein, die da wieder ein Schäuflein nachlegen, aber was kann ich dagegen machen? I: Ich denke mir, Sie werden etwas davon haben, wenn Sie dorthin gehen. Ich denke mir auch, Sie werden auch etwas davon haben, wenn Sie zu mir herkommen, auch wenn Sie anscheinend nichts davon haben. Weil das, was Sie eigent-

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lich wollen, das kann ich Ihnen ja nicht geben. Ich denke mir, dass es da Parallelen gibt, wo Sie ein Forum nützen. Jetzt könnten wir darüber nachdenken, was es Ihnen eigentlich gibt, was Sie von mir haben und was Sie vom Café haben. P: Ins Café gehe ich, dass ich unter Menschen bin, weil ich mich sonst ganz zurückziehe. Zu Ihnen fahre ich, da kann ich reden. Psychiater habe ich keinen zum Reden. I: Ist es üblich in unserer Gesellschaft, dass sich die Menschen jemanden halten zum Reden? P: Ich glaube, dass ich jemanden brauche, weil ich jahrelang zu einem Psychiater gefahren bin, und der hat immer entschieden für mich, was ich machen soll. Ich glaube, dass ich jetzt so bin, dass ich wenig entscheiden kann. I: Fühlen Sie sich, wenn Sie zu mir kommen, auch in der Rolle, dass ich Entscheidungen treffe, und Sie gehen dann erleichtert wieder weg? P: Weiß ich jetzt nicht. Haben Sie welche getroffen? Noch etwas möchte ich Sie jetzt fragen. Was bezweckt jemand damit, wenn er immer sagt: »Ruf du an!«? Wenn er mich immer anrufen lässt, was bezweckt er damit? I: Ist es bei Ihnen auch schon vorgekommen, dass Sie zu jemandem sagten: »Mach du das!«? Ich beziehe mich jetzt nicht nur aufs Telefonieren. P: Immer wieder? Nein, eigentlich nicht. Ist das vielleicht, weil sich da einer keine Niederlage einhandeln will? Wenn ich den anderen immer kommen lasse, dann handle ich mir keine Niederlage ein, stimmt’s? I: Ja, ist denkbar. P: Wenn ich so bin, habe ich eigentlich Angst vor einer Niederlage oder Absage. I: Was heißt das übersetzt? Wer übernimmt da die Verantwortung? P: Wissen Sie, was ich herausgefunden habe? Dass ich das sogar brauche, die Verantwortung. I: Wenn es anders wäre, wie würden Sie dann reagieren? P: Na ja, ich würde mich schon freuen, wenn hin und wieder was retour kommen würde. I: Ich meine, wenn es umgekehrt wäre, wenn die Verantwortung immer der Mann übernehmen würde? P: Das wäre mir nicht so recht. Ich glaube, es sollte aufgeteilt sein. Es kommt natürlich auch darauf an, wie zwei Menschen sind. I: Wie wäre es Ihnen lieber? P: Mir wäre es am liebsten aufgeteilt. So würde ich mich am wohlsten fühlen. Nur kommt es darauf an, wenn es nicht geht, aufgeteilt, übernehme ich sie. I: Ich finde diesen Umgang mit der Verantwortung durchaus normal. Und wie sieht es aus in anderen Lebensbereichen, wenn es nicht um Beziehungen geht? Wie viel Verantwortung übernehmen Sie da, wenn Sie Ihr Leben so anschauen? P: Ich würde sagen, dass ich das eigentlich auch brauchen würde, auch voll die Verantwortung zu übernehmen. Das würde irgendwie alles ausfüllen bei mir, die ganzen leeren Löcher. I: Das würden Sie sich auch wünschen?

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P: Ja, das würde ich brauchen. So würde ich das brauchen, ja. (Ende des Gesprächs.) Beim nächsten Gespräch beginnt Frau P. damit, dass sie sich Sorgen mache, dass sie etwas sage, was gar nicht wahr ist. P: Warum sage ich das? Das ist dasselbe, als würden wir uns einen Termin ausmachen, und ich würde sagen: »Da habe ich keine Zeit«, und es wäre gar nicht wahr. I: Wen würde das stören? P: Mich. Das würde mich interessieren, wieso ich das sage. I: Wieso glauben Sie, dass ich Ihnen da helfen kann? P: Weil Sie besser geschult sind und ich nicht. I: Frau P., beim letzten Gespräch haben Sie ein Thema angesprochen, das mich interessiert, und ich glaube, dass das etwas wäre, worüber wir weiter reden könnten. Um Verantwortung-Übernehmen ist es da gegangen. P: Ja ja, genau. I: Da haben Sie für mich etwas ganz Interessantes gesagt. P: Was habe ich gesagt? Ja ja, das fällt mir auch nicht mehr ein, das ist weg. So geht es mir öfters, weiß ich nicht mehr. Mir fällt nur auf, dass ich Sachen sage, die ich vielleicht gar nicht sagen will, oder ich habe es vergessen. I: Das heißt, Sie wollen keine Verantwortung übernehmen für das, was Sie sagen. P: Glauben Sie, warum nicht? I: Wenn Sie sagen: »Eigentlich will ich das alles gar nicht sagen«, aber ES sagt es, irgendetwas in Ihnen, so ein »Werkl«, das wie mit Batterie läuft, redet etwas heraus. Aber hinter dem können Sie nicht stehen. Das heißt dann, Sie wären eigentlich ein ganz anderer Mensch, aber irgendetwas sagt da etwas. Das ist wie bei einer Spieldose aus Blech mit so einem »Werkl« innen. P (lachend): Ja, so ist es. I: Dazu fällt mir unser letztes Gespräch ein. Da sind Sie anscheinend einmal persönlich aus der Spieldose herausgekommen und haben gesagt, dass Sie glauben Sie sollten mehr Verantwortung übernehmen. Da konnten Sie zur Verantwortung stehen. Mir fällt auf, dass das heute wieder weg ist. Heute schieben Sie wieder die »Spieldosenfrau P.« zu mir her und lassen es herausplappern. Dann gehen wir beide wieder zufrieden nach Hause. Wenn es auf einen Punkt zugeht, wo Sie wirklich die Verantwortung übernehmen für das, was Sie sagen, dort wo wir eigentlich ansetzen könnten, da verlässt Sie der Mut. P: Ja das stimmt, der Mut. I: Was will ich Ihnen jetzt sagen? Ich will eigentlich nicht mehr über irgendwelche »Geschichten aus der Spieldose« reden. Ich will Ihnen keine direkten Anweisungen geben, das kann ich nicht. Sie kennen Ihr Leben besser als ich. Wenn es Sie interessiert, können wir über die Dinge weiterreden, wo es unangenehm wird, wenn Sie sich trauen. Zum Beispiel über den Punkt Eigenverantwortung, die jeder hat sich selbst gegenüber, über alles, was er sagt, und über alles, was er tut. Wenn Sie etwas ändern wollen in Zukunft in der Richtung »Was kann ich anfan-

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gen, selbst zu machen?«, dann können wir zusammen weiter arbeiten. Oder Sie kommen zu dem Schluss »Es geht nicht. Ich schaffe es nicht. Ich will es nicht«, dann brauchen wir auch nicht mehr so zu tun, als wäre es ein Wunsch, sondern dann ersparen wir uns die Gespräche hier auch. P: Ja. Ich muss dazu sagen, ich möchte es schaffen. (Ende des Gesprächs.) Beim nächsten Gespräch beginnt Frau P. damit, dass Sie sich entschlossen habe, für eine Kosmetikfirma zu arbeiten. Im Verlauf des Gesprächs entwickelt sich dann noch eine Alternative dazu, nämlich die Möglichkeit des Besuchs eines Motivationskurses für Langzeitarbeitslose, um allgemein Vorstellungen zu entwickeln, welche Möglichkeiten und Fähigkeiten vorhanden sind. Frau Sch., die »voller Angst ist« Frau Sch., 49 Jahre, ist seit Jahren von ihrem Mann geschieden und lebt alleine in einer abgewohnten Gemeindewohnung. Sie hatte sehr unter dieser Ehe mit einem Alkoholiker gelitten. Sie war für die Versorgung der Familie zuständig, hatte drei Kinder, für die sie alleine die Verantwortung übernehmen musste, und ihr Mann quälte sie, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Zuletzt fuhr sie Taxi, auch in der Nacht, um Geld für die Familie zu verdienen. Seit der Scheidung ist sie ohne Arbeitseinkommen. Sie lebt von Arbeitslosengeld, zuerst noch mit dem jüngsten Kind (Sohn, Jugendamtsbetreuung) und seit ein paar Jahren alleine. Weil das Arbeitslosengeld zu gering ist, bekommt sie auch noch Geld vom Sozialamt. Seitdem sie geschieden ist, erlebt Frau Sch. immer wieder psychische Zusammenbrüche, zuletzt wieder vor einigen Monaten. In diesen Phasen besucht sie jedes Mal den PSD (Psychosozialer Dienst). Sie fühlt sich von den Bezugspersonen dort aber im Stich gelassen, und die medikamentöse Behandlung hat auch nichts verändert. Sie hat Panikattacken, die am Morgen ganz stark sind. Je später die Tageszeit, desto erträglicher wird es. Sie ist nicht in der Lage, die Wohnung alleine zu verlassen, obgleich sie es dort nicht aushält. Seitdem die Jugendamtsbetreuung durch das Erwachsenwerden des Sohnes ausgelaufen ist, ist sie in Betreuung des Sozialamtes. Frau Sch. findet es schlimm, dass die Ärzte des PSD und »das Sozialamt« sie zu Hause aufsuchen müssen, weil sie die Wohnung nicht verlassen kann. Welche Art der Kommunikation findet hier statt? Die Gesellschaft verlangt: »Du musst funktionieren«, Frau Sch. sagt: »Ich will, aber ich kann nicht, weil ich solche Angst habe.« Ich versuche Interventionen, die sie entlasten sollen: »Wie wäre es, wenn Sie sich einmal fallen lassen würden, nicht mehr gegen die Angst ankämpfen würden, was würde dann passieren?« Frau Sch. kann darauf keine Antwort geben. Wenn es ihr ein wenig besser geht (vorwiegend am Abend), versucht sie immer wieder aus dem Haus zu gehen und sich unter den Bäumen vor dem Haus auf eine Bank zu setzen, was ihr aber nur sehr selten gelingt. Zuletzt hat sie nichts mehr versucht, um sich vor Misserfolgen zu schützen. Ich versuche, den Kreislauf zu durchbrechen durch die Anweisung, nichts zu verändern: »Es gibt keine Möglichkeiten für Sie, etwas zu verändern. Es bleibt Ihnen eigentlich nichts anderes übrig, als so weiter zu leben. Es wäre sinnlos, weiter dagegen an-

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zukämpfen, das würde Sie nur Ihre Kraft kosten.« Beim vorerst letzen Hausbesuch erzählt Frau Sch., dass sie die Hormontabletten genommen hat, die ihr nach der Gebärmutterextraktion im vorigen Jahr gegeben worden waren. Sie wollte sie bisher nicht nehmen, weil ihr gesagt worden war, dass sie daraufhin ein wenig zunehmen werde. Seit Einnahme der Hormontabletten fühle sie sich besser. Sie war auch schon ein paar Mal außer Haus und auch das Arbeitslosengeld hat sie sich diesmal selbst vom Postamt abgeholt.

Was geschieht da eigentlich? Diese drei beschriebenen Fallbeispiele zeigen jeweils graduell unterschiedliche Veränderungen. Da weder genau festgestellt werden kann, was letztendlich Veränderung bewirkt, noch die Qualität der Veränderung im Augenblick beurteilt werden kann, gibt sich der Systemiker damit zufrieden, dass Veränderung stattfindet. Umdeutungen sehen wir als Chance, festgefahrene Kommunikationsstrukturen aufzubrechen und so Raum für Veränderung – welcher Art auch immer – zu schaffen.

Praxisbeispiel Wohnungslosenhilfe: Es gibt noch vieles hier zu sehen … Überlebensstrategien für Sozialarbeiter Renate Fischer Renate Fischer · Praxisbeispiel Wohnungslosenhilfe

es gibt noch vieles hier zu sehen manche unberührte stelle es gibt noch vieles zu verstehen aus deinem himmel, deiner hölle in der mitte deiner zweifel hast du gelernt, doch wieder aufzustehen, wenn du fällst worauf wartest du Laith Al-Deen; Liedtext

Vorspann Dies ist einer von diesen Träumen, die der Wirklichkeit manchmal so trügerisch nahe kommen – bei dem die Grenzen so leicht verwischen – selbst im Nachhinein betrachtet. Ein Film. Offenbar sitze ich in einem Kino. Vor mir auf der Leinwand ein Büro, eine Frau an ihrem Schreibtisch. Ein seltsam vertrautes Bild – vertraute Umgebung, vertraute Haltung, vertraute Hintergrundgeräusche … Ringsherum das Handwerkszeug, das professionelle Hilfe ja erst wirklich professionell macht: das Telefon, der Bildschirm links von ihr, Infomappen, Broschüren, Adressverzeichnisse daneben. Kameraschwenk nach rechts: Aktenberge – wohl viel zu viele für einen Arbeitstag. Allein der Anblick lässt schlagartig ein vertrautes Gefühl von Stress und Überarbeitung aufkommen. Welch zuverlässiger Auslöser vorhersehbarer Gefühle! Hinter dem Schreibtisch der Aktenschrank mit erledigten und in Evidenz gehaltenen Akten. Dinge also, die die Hauptdarstellerin zumindest eine Zeitlang hinter sich gebracht zu haben scheint. Daneben ein Kasten mit jeder Menge Formulare, wahrscheinlich für jede Menge Gelegenheiten und Problemlagen. Am Schreibtisch liegend ein Statistikblatt, das offenbar daran erinnern soll, alles in der richtigen Art und Weise festzuhalten, um Sinnhaftigkeit und Effizienz und was auch immer statistisch auswerten zu können. In ihrer Hand befindet sich einer dieser blauen Bic-Kugelschreiber, wie sie auch bei mir im Büro so hilfreich zur Verfügung gestellt werden. Die, die immer so leicht in fremden Schubladen verschwinden – nie wieder als die eigenen identifizierbar. Und die dann überraschenderweise und scheinbar nach eigenen Gesetzmäßigkeiten oft um ein Vielfaches vermehrt den Weg in den heimatlichen Schreibtisch zurückfinden. Wer kennt das nicht!

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Vor der Frau auf der Schreibtischunterlage liegt ein Blatt Papier – fast noch leer. Nur ein Name und eine Adresse sind darauf geschrieben. Und fast schmissig steht da ein Betrag: 1800,– Euro! Mit Rufzeichen dahinter! Das Ganze muss wohl einen Zusammenhang haben mit dem Mann, der ihr da schräg gegenüber sitzt. Zumindest hält er auch ein Blatt Papier in der Hand – sieht aus wie ein amtliches Schreiben –, auf dem derselbe Name, dieselbe Adresse steht. Ein seltsamer Film ist das. Noch ist kein Wort gesprochen, die Szene scheint förmlich eingefroren, ein Standbild vielleicht? Im Gegensatz zu ihrer aufrechten, leicht vorgeneigten Haltung wirkt der Mann etwas in sich zusammengesunken. Hängende Schultern, ernster Blick. Und da erfasse ich plötzlich die Zusammenhänge: Sie ist Sozialarbeiterin, er ist ihr Klient. Das Büro ist Teil des Sozialamtes Wien. Die Haltung der beiden und der Zettel mit Name, Adresse, Eurobetrag und Rufzeichen deuten darauf hin, dass hier ein Beratungsgespräch mit Schwerpunkt Delogierungsprävention1 startet. Ich muss es ja wissen, schließlich arbeite ich selbst seit Jahren im Sozialamt. Wie oft hab ich solche Gespräche wohl schon geführt? Hunderte Male? Ich könnte so was bereits im Schlaf erledigen! Was für ein fader Film! Welch unorigineller Traum sucht mich hier heim! Doch nun, um die Banalität dieses Traumes noch zu steigern, schlüpfe ich auch noch aus meiner Beobachterrolle heraus und mitten hinein in diese Szene, hinein in die Rolle der Hauptdarstellerin. Kam mir doch gleich alles so vertraut vor! Das bin ich! Das ist mein Büro! Der Mann vor mir ist mein Klient, der offenbar aufgrund eines Mietrückstandes (Höhe: 1800,– Euro) akut davon bedroht ist, die Wohnung zu verlieren. Und schon kommt Leben in die Szene. Los geht’s! Film ab!

Ein gelungenes Erstgespräch »Was führt Sie zu mir?«, höre ich mich fragen und lausche dem, was mein Klient zu erzählen hat. Ab und zu mache ich mir Notizen, frage nach, wo Dinge unklar sind, und versuche mir ein Bild zu machen von der Situation, in der er sich befindet. Wie lebt er, wie wohnt er, wer gehört zu seinem sozialen Umfeld? Wie sieht sein beruflicher Werdegang aus, wie seine finanzielle Situation? Was sind seine weiteren Wunschträume und natürlich und vor allem: Mit welchen Erwartungen kommt er heute zu mir? Was will er verändert haben in seinem Leben? Wie viel davon ist er bereit, selbst zu tun, und was hat er bisher schon dafür unternommen? Ist er – nach Insoo Kim Bergs Einteilung im Buch »Lösungen (er-)finden« (Jong und Berg 1998) – hier als »Besucher«, geschickt von irgend jemanden und nicht wirklich bereit, Problem und Lösung in irgendeinen Zusammenhang mit seiner eigenen Person zu bringen? Oder kommt er als »Klagender«: »Die Welt 1 Delogierung = Zwangsräumung.

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ist so grausam! Man will mich delogieren und ich kann gar nichts dafür! Tun Sie was!« Vielleicht ist er sogar ein »Kunde«, bereit, ein Problem mit dem Miete-Zahlen zu erkennen, und willens, etwas dagegen zu unternehmen. Wenn diese Dinge klar sind und ich mich vergewissert habe, dass ich ihn mit meiner Einschätzung seiner Situation und seines Anliegens richtig verstanden habe, erfährt er von mir, ob er hier bei uns richtig ist und unter welchen Voraussetzungen das Sozialamt ihm helfen wird können. Ich erkläre ihm den weiteren Ablauf, bereite ihn vor auf die nun folgende Bürokratie, erhebe seine genauen Personaldaten, kopiere alle möglichen Unterlagen und gebe tausende Daten in den Computer ein (im Traum steigern sich manche Dinge ja schier ins Unermessliche). Dann lasse ich ihn vielleicht noch ein bisschen im Wartezimmer Platz nehmen, um ihm und mir Gelegenheit zu geben, die gesammelten Eindrücke zu verarbeiten, und Raum zu lassen für auftauchende Unklarheiten und Fragen. In Zusammenarbeit mit allen Beteiligten – sprich Klient, Vorgesetzten, »Wiener Wohnen« … – lege ich schlussendlich die weitere Vorgangsweise fest. Im Laufe dieses Beratungsgesprächs würde es dem Beobachter, der ich ja nun aber nicht mehr bin, leicht fallen, einige Veränderungen in Körperhaltung, Stimmung und Tonfall an beiden Gesprächspartnern wahrzunehmen. Meine Aktivitäten steigen, der Klient wirkt zunehmend gelöster, lehnt sich zurück, ist entspannt. Er hat seine Sache sichtlich gut gemacht, die richtige Geschichte erzählt, die Notlage gut aufbereitet. Eine Zahlungszusage seitens des Sozialamtes wurde gemacht. Auch ich hab anscheinend meine Sache gut gemacht. Der Klient ist bereit, Verantwortung zu übernehmen, wird die nächsten Monate versuchen, seine Zahlungsmodalitäten anders als bisher anzugehen, was – so hoffen wir beide – letztendlich zu anderen Ergebnissen führen und dadurch dem präventiven Ansatz des Wiener Sozialhilfegesetzes gerecht werden wird. Auch meine Körperhaltung ist gelöst. Der Tonfall sachlich und freundlich. Zum Abschied noch ein paar gute Worte. That’s it. Ein gelungenes Gespräch, eine hilfreiche Intervention. Zeit zum Aufwachen!

Beginnende Eskalation Nur, dass sich Träume eben nicht so wirklich steuern lassen. So wache ich nun nämlich nicht wie angenommen auf, sondern befinde mich wie doch bereits zuvor wieder an meinem Schreibtisch. Um mich das nötige Handwerkszeug – Sie wissen das ja nun bereits –, vor mir das Blatt Papier mit Namen und Adresse und schnell hingeschrieben ein Eurobetrag (mit Rufzeichen), schräg vis a vis ein Klient mit hängenden Schultern und ernstem Blick. Also beginnt das ganze Verfahren nochmals von vorn, diesmal vielleicht mit einer Nuance weniger Engagement und Interesse meinerseits und einem Deut mehr Beharrlichkeit und Forderung seitens der Kundschaft – aber immer noch letztlich mit einwandfreiem Endergebnis.

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So weit, so gut. Und während ich danach meine Gedanken zu ordnen versuche, sehe ich mich doch tatsächlich schon wieder vor besagtem Blatt Papier und beschriebenem Klienten sitzen (ist es derselbe, der gleiche oder auch nur ein ähnlicher Fall, was spielt das hier schon für eine Rolle?) und höre mich nach den persönlichen Daten und Hintergründen fragen. Meine innere Stimme beginnt sich zu beschweren. Nicht schon wieder! So was könnt ihr doch mit mir nicht machen! Aber es folgt keine Änderung seitens der Traumregie. Also gut, einmal noch, aber dann ist Schluss! Mein Versuch, das Ganze etwas zu straffen, verändert das Gespräch nicht unbedingt zum Vorteil. Ich werde ungeduldiger, voreiliger, der Klient ausführlicher, unwilliger. Das Ergebnis lässt sich bei weitem nicht mehr mit dem anfänglichen Ergebnis vergleichen. Und Sie ahnen vielleicht schon, was kommt: ein neuer Klient, ein neuer Beginn. Schreckensvisionen schier endloser Wiederholungen tun sich vor meinem geistigen Auge auf. Dies ist ein Alptraum! Denn es ist nicht so, dass die gleiche Ausgangssituation immer das gleiche Ergebnis bringt. Es ist nicht so, dass allein das Problem des Klienten den weiteren Verlauf bestimmt. Weit gefehlt. Im Laufe der Gespräche schleicht sich bei mir zunehmend mehr Zynismus ein. (Motto: »Na, warum hamma denn die Miete net einzahlt …?«) Wenig später droht die Sache bereits zu eskalieren. Ein vernünftiges Gespräch ist nicht mehr möglich. Und das nicht etwa, weil sich die Probleme klientenseitig verändert haben, sondern weil schlicht und einfach mein Geduldsfaden gerissen ist. Ich kann die Geschichte nicht mehr hören. Was gehen denn mich die Probleme all dieser Leute an? Alles Gesagte nehme ich persönlich. Keine Spur mehr von Anteil nehmender Haltung und sachlich-freundlichem Tonfall. Von erfolgreicher Gesprächsführung bin ich meilenweit entfernt. Verdammt, wie konnte es bloß soweit kommen?

Systemische Betrachtungsweise Eigentlich eine interessante Frage! Am besten wir unterbrechen hier mal den Traum und sehen uns diese Entwicklung von außen an! Versuchen wir es mit einer systemischen Betrachtungsweise. Ganz wie mein Traum ist ja auch der systemische Ansatz eine Erfindung; eine Möglichkeit, um Zusammenhänge leichter erfassen zu können. Man nennt etwas »System« um es in dieser Form besser abgrenzen und handhaben zu können. In meinem Traum haben wir es mit zwei Personen zu tun: dem Klienten und der Sozialarbeiterin, zwei Personen also, die miteinander in Interaktion stehen. Betrachten wir die beiden als kleines System. Ein Teil dieses Systems – der Klient – kommt mit einem klaren Wunsch: Er will finanzielle Unterstützung, um seine Mietschulden begleichen zu können und somit seine Wohnung nicht zu verlieren. Zusammengefasst könnte seine Botschaft in etwa lauten: »Ich brau-

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che Geld!«. Der andere Teil des Systems – die Sozialarbeiterin – soll im Rahmen der Delogierungsprävention wie der Name schon sagt, präventiv der Delogierung vorbeugen und hat – soweit dies für die künftige Situation sinnvoll erscheint – dafür gewisse Geldmittel zur Verfügung. Ihre Botschaft: »Ich will helfen!« Das passt gut zusammen. Kein Wunder, dass das erste Gespräch gut verläuft und letztendlich zu einem für beide Teile guten Ergebnis führt. Nun ändert sich im weiteren Verlauf die Ausgangsposition der Sozialarbeiterin. Der hehre Gedanke des Helfen-Wollens nützt sich bei zunehmender Beanspruchung ab und weicht in Richtung »Zahlen Sie gefälligst Ihre Miete!« oder »Was geht denn mich Ihr Problem an!« bzw. »Wer stört schon wieder?« Betrachtet man die Ausgangsposition des Klienten »Ich brauche Geld!« versus »Wer stört schon wieder?«, so kann einer Eskalation eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Beide Parteien sind in einer scheinbar ausweglosen Situation gefangen. Für den Klienten bedeutet ein Abgehen von seinem Standpunkt einen existentiellen Verlust, für die Sozialarbeiterin scheint es – zumindest im Traum – auch kein Entrinnen zu geben. Die Dynamik ist ja mittlerweile bekannt: Ist dieser Klient weg, steht auch schon der nächste in der Tür. Und auch wenn es sich hier nur um einen Traum handelt, kommt mir das Ganze doch sehr bekannt vor. Warum wohl?

Traum und Wirklichkeit Machen wir noch einen Schritt zurück und vergleichen wir diese Traumsequenz doch mal mit dem wirklichen Leben. Das Sozialamt Wien bietet derzeit jede Menge Möglichkeiten, sich in einem ähnlichen Zustand wiederzufinden. Allein die Statistiken erklären einiges: Bezogen im Januar 2000 noch rund 25.900 Personen Sozialhilfe, so waren es im Januar 2004 bereits 45.600 Personen. Dies entspricht einem Anstieg von 76 %. Vergleicht man die Zahlen von Jänner 2003 mit den Zahlen von Januar 2004, so beträgt der Anstieg der Sozialhilfebezieherinnen rund 12 %. Im Rahmen der seit 1999 laufenden Reform der Sozialhilfe in Wien versucht man diesem Ansturm notgedrungener Weise bei nahezu gleichem Personalstand Herr zu werden. Für die Sozialarbeit bedeutet dies seit der Schaffung der Sozialzentren, wo Verwaltung und Sozialarbeit nun unter einem Dach angeboten werden, eine nahezu ausschließliche Fokussierung der Problemlagen auf materielle Grundsicherung (inklusive Delogierungsprävention für Mieter von Gemeindewohnungen), eine stark erhöhte Fallzahl und somit methodisch eine Schwerpunktsetzung auf Clearinggespräche und Kurzberatungen. Für längerfristiges Unterstützungsmanagement und damit die Chance auf eine variantenreichere Betreuungsarbeit als nur das ständige Absichern der Grundbedürfnisse des Hilfesuchenden, bleibt hier kaum Zeit. Die Sozialarbeit wurde ganz bewusst an den »Eingang« des Systems gesetzt. Das bedeutet, dass jeder nicht bereits anderswo betreute Erwachsene (ohne min-

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derjährige Kinder im Haushalt), der zum ersten Mal im Zentrum vorspricht, zuerst ein Gespräch mit einer Sozialarbeiterin erhält. Im Durchschnitt führen Sozialarbeiterinnen ca. 30 Erstgespräche pro Monat, pro Jahr sind das pro Sozialarbeiter ca. 360 neue Klienten, die fast ausnahmslos aufgrund eines finanziellen Problems vorsprechen. Man kann davon ausgehen, dass ein Großteil der Klienten erst nach einer mehr oder weniger langen Reihe gescheiterter Lösungsversuche den Weg zum Sozialamt einschlägt. Die Ausgangsposition gleicht sich, die Leute kommen meist unter großem Druck – vorwiegend mit der Intention »Ich brauche Geld!«. Fallen nun mehrere Erstgespräche auf einen Tag, so entsteht sehr schnell der Eindruck, ständig die gleiche Geschichte zu hören. Der stete Kontakt mit in Not geratenen, verschuldeten, oft psychisch oder physisch beeinträchtigten Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, geht nicht unbedingt spurlos an einem vorüber. Man läuft Gefahr, sich so wie ich hier im Traum langsam aber sicher ein sehr einseitiges Weltbild zu kreieren. Und plötzlich bekomme ich Verständnis für manchen allzu barschen »Amtston«, erlebe ja eben selbst hautnah und am eigenen Leib die Entstehung von Vorurteilen, sitze nun praktisch an der Quelle des »Einbahn«-Denkens. »Schon wieder so ein Mietrückständler«, denke ich, »der soll doch gefälligst seine Miete einzahlen und mich in Ruhe lassen!«

Rigide Interaktionsmuster Sehen Sie nur, welch wunderbarer Nährboden sich hier aufgetan hat! Eine einfache Grundhaltung »Wer stört schon wieder?« und alles, was mein Klient jetzt noch weiter vorbringt, interpretiere ich als Kampfansage. Ein »rigides Interaktionsmuster« nennt Milowiz so was. Seine einzige Flexibilität besteht in der immer weiter anwachsenden Fähigkeit, Geschehnisse für seine Zwecke umzudeuten. Was auch immer mein Klient macht, mit meiner Haltung kann ich alles integrieren, kann meine These aufrechterhalten und Nicht-Passendes ganz einfach ignorieren. Meist wird dieses Verhaltensmuster in der Literatur klientenseitig beschrieben. Scheinbar uneinsichtige Hilfesuchende, mit denen im beratenden Gespräch kaum eine Veränderung zu erzielen ist. Aber wie wir sehen, klappt das Ganze umgekehrt natürlich genauso. Ich kann das auch! Unter geeigneten Bedingungen werde ich genauso rigide wie jeder andere. So betrachtet wäre es gar nicht so falsch, den Spieß einmal umzudrehen. Vielleicht ist es günstig, die Hilfesuchenden systemisch zu schulen, um den diversen Teufelskreisen zu entgehen? Stellen wir uns doch mal vor, endlich käme ein Klient und stellte dem Berater die Wunderfrage (siehe dazu Jong und Berg 1998, S. 111), die im Übrigen eine der klassischen Interventionstechniken der systemischen Therapie und Sozialarbeit ist: »Was wäre, wenn Sie morgen früh aufwachen und ohne Ihr Wissen wäre über Nacht ein Wunder geschehen. Woran würden Sie

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als Erstes merken, dass etwas anders ist?« Der Klient könnte auch eine paradoxe Intervention starten, indem er zwei divergierende Aufforderungen gibt und mir zum Beispiel mitteilt, dass er sich eigentlich eine andere Hilfe erwartet hätte, ich aber ruhig so weitermachen könne wie bisher. Von einem Amt erwarte er sich sowieso nichts anderes als diesen barschen Umgangston und so hätte er wenigstens Gelegenheit, damit umgehen zu lernen. Oder er könnte sich um ernst gemeinte Komplimente bemühen, die mich überraschen und mir neuen Auftrieb geben würden. Es ist nicht so, dass es dies nicht durchaus schon gibt, aber meist passieren Überraschungen und paradoxe Handlungen seitens des Klienten doch reichlich ungeschult und für uns auch nicht leicht als solche erkennbar. Ein ungeahntes Potential täte sich hier auf. Ich bin sicher, systemisch geschulte Klienten wären in der Verwirklichung ihrer Ziele um einiges effektiver! Aber diesen Gedankengang weiterzuführen, wäre wohl eine eigene Arbeit wert. Kehren wir deshalb zurück zu meinem Traum. Dieser – mein Klient – stellt mir keine Wunderfrage, er verhält sich meiner Botschaft entsprechend ungehalten und reagiert auf mein »Wer stört schon wieder?« mit verstärktem »Ich brauche Geld!« Hier im Traum habe ich nicht mal die Chance, an diesem »wunderbar rigiden System« festzuhalten: Es wiederholt sich zu oft. Ich kann nicht mal zwischenzeitlich auf Urlaub gehen und mich erholen. Mein Dienstschluss rückt nicht näher und ich kann meine Energiequellen nicht zu Hause auftanken, um am nächsten Tag erneut auf der Stelle zu treten. Kein Mensch hält so etwas ohne Pausen durch! Selbst ohne Supervision, die im wahren Leben oft ein guter Rettungsanker gegen das Burn-out-Syndrom ist, erkenne ich nun, dass diese Form der Sozialarbeiter-Klienten-Beziehung mich auf Dauer zu viel Energien kosten wird.

Ausweglosigkeit Wie kann’s also weitergehen? Was soll ich tun, um aus diesem Kreislauf heraus zu kommen? Ich werde kündigen, werde einfach aufstehen und gehen. Ich mache das, doch es löst das Problem nicht. Wie sollte es auch, denn erstens würde mein Text dann zu kurz werden, zweitens würden wir uns um eine Reihe weiterer lohnender Gedanken bringen und drittens ist es ja auch im Leben so, dass man sich mit starren Vorannahmen in allen möglichen Situationen die gleiche Wirklichkeit konstruieren kann. Was würde mir ein Wechsel bringen? Möglicherweise käme ich im nächsten Job wieder an genau diesen Punkt! Es ist also klar, so schnell gibt’s noch kein Aufwachen. Sie kennen vielleicht den Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«. Dort geht’s ähnlich zu. Ein Mann, der ständig den gleichen Tag wiedererleben muss. Was auch immer er tagsüber macht, am nächsten Morgen läutet der Wecker den eben erlebten Tag ein. Selbst dann noch, als er zu so drastischen Mitteln wie Suizid greift, findet er sich gleich darauf erneut am Beginn des selben Tages wieder …

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In meinem Traum hier ist es genauso. Eine Kündigung zieht kein Aufwachen nach sich, sondern bringt mich nur umso schneller in die Ausgangssituation zurück. In diesem vorgegebenen Rahmen habe ich völlige Handlungsfreiheit, lebe alle Eskalationen voll aus, verlasse mitten im Gespräch den Raum, werfe dem Chef mein Kündigungsschreiben vor die Füße, lasse mich auf Wortgefechte und Schreiduelle ein, provoziere Handgreiflichkeiten, aus denen ich einmal als Gewinnerin, dann wieder als Verliererin hervorgehe, und lege sogar Feuer an meine Aktenberge. Im nächsten Moment sitze ich doch wieder an meinem Schreibtisch, vor mir ein neuer Klient. Vielleicht sollte ich mit meiner Traumregie verhandeln? Ich werde mich loskaufen: »Okay, ich reiße mich jetzt zusammen und werde noch einmal ein absolut mustergültiges Gespräch führen, aber dann darf ich bitte dafür aufwachen!« Wir wissen, es klappt nicht! Und so falle ich nach Aufbegehren und fruchtlosem Verhandeln mit meiner Traumregie in Apathie. Des Klienten Geschichte ist mir mittlerweile völlig egal. Hauptsache, er geht bald wieder. Weit entfernt von jeglicher Anspruchsprüfung gewähre ich Hilfe, nur um den Klienten wieder loszuwerden. Was natürlich angesichts des Traumschemas völlig sinnlos ist, da damit der Drehtüreffekt ja nur noch verstärkt wird und noch mehr Gespräche in noch kürzerer Zeit absolviert werden müssen.

Ein Problem Noch mehr Klienten mit noch mehr Mietrückständen! Ich gebe zu, ich bin verzweifelt. Ich habe ein ernsthaftes Problem! Was auch immer ich tue, es bewirkt kein Aufhören, sondern eine weitere Wiederholung des Ganzen. Ich fühle mich ohnmächtig; unfähig, aus eigener Kraft eine Veränderung zu bewirken, und kann bei all dem Energieaufwand, den ich da aufbringe, absolut keine Fortschritte erkennen. Meine erstklassige Gesprächsführung zu Traumbeginn war für mich nicht unendlich reproduzierbar, weder Zynismus noch Laisser-faire haben mich weitergebracht. Was nun? Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung! Ich habe keinen Schimmer, wie diese Geschichte weitergehen soll. Genau genommen muss ich zugeben, dass ich weder im Traum noch in Wirklichkeit – hier und jetzt, während ich schreibe – weiß, wie das Ganze enden könnte. Wie bin ich bloß in ein so verworrenes Gedankenkonstrukt hineingeraten? Und was, um Himmels willen soll ich hier noch weiter schreiben? Ich kann doch nicht ständig weitere Varianten dieses Erstgesprächs aufzählen! Meine Leser würden das Ganze gelangweilt zur Seite legen. Aber nein, keine Sorge, diese Arbeit wird sowieso niemand zu lesen bekommen, denn offenbar habe ich mich mit dieser Story dazu verdammt, bis in alle Ewigkeiten weiter zu schreiben! Panik! Das kann doch nicht wahr sein! Was für eine schwachsinnige Idee! Gibt’s denn hier keinen Ausweg? Was ist mit all den

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angekündigten weiteren lohnenden Gedanken? Wo sind sie denn nun? Was ist, wenn ich einfach aufhöre zu schreiben? Wenn ich einfach nicht weitermache? Schließlich kann ich ja auch so aus dem Ganzen aussteigen! Sei’s drum, ich beende meine Arbeit eben einfach mittendrin! Ich höre auf! Was soll’s? Tut mir leid für meine Leser, aber manches im Leben muss man eben einfach akzeptieren!

Ende So, meine werten Leser: Hier endet mein Werk! Es ist hier aus, weil mir schlicht und einfach nichts mehr dazu einfällt. Und wenn ich ehrlich bin, hat das natürlich auch sein Gutes! Endlich kann ich meine Zeit wieder meiner Familie widmen, meine Kinder begehren sowieso schon auf bei soviel mütterlich-geistiger Abwesenheit. Ich kann endlich das mittlerweile angewachsene Haushaltschaos beseitigen. Eine Vorstellung, die zwar keine großen Begeisterungsstürme bei mir auslöst, aber bitte. Und ich kann mich wieder meinem Job zuwenden, der – ich gebe es zu – zurzeit etwas öde ist. Immer das Gleiche halt. Wer so wie ich schon länger an der gleichen Stelle arbeitet, kennt das vielleicht: immer die gleichen Geschichten … Aber egal. Als Erstes werde ich mir jetzt mal ein Buch nehmen und ein bisschen lesen. Zeit dafür hab ich ja nun wieder. Wie wär’s zum Beispiel mit folgender Geschichte aus dem Buch über »Respektlosigkeit« von Gianfranco Cecchin et al. (1993), das mir erst kürzlich in die Hände gefallen ist? Beginnen wir auf Seite 19, dritter Absatz, ein übrigens äußerst passender Einstieg, wie Sie gleich sehen werden …

Delphingeschichte »Wie so oft, wenn wir uns dermaßen demoralisiert fühlten, waren uns Gregory Batesons Geschichten eine große Hilfe. In den sechziger Jahren lebte Bateson in Hawaii, wo er sich mit der Erforschung des kommunikativen Verhaltens der Delphine beschäftigte. Er arbeitete mit einer Gruppe junger Forscher zusammen, die auch daran interessiert waren, das Verhalten der Delphine zu studieren. Sie hatten allerdings sehr wenig Geld zur Unterstützung der Forschung. Also erarbeiteten sie ein Programm, in dem sie den Delphinen Kunststücke beibrachten, und luden die Öffentlichkeit für einen geringen Eintritt zu Vorführungen ein. Da sie sehr ethisch waren, weigerte sich die Gruppe, die Delphine immer wieder dieselben Kunststücke wiederholen zu lassen, denn sie hatten die Idee, den Zuschauern zu zeigen, wie die Trainer ihnen neue Kunststücke beibrachten. Es wird erzählt, dass sie eines Tages mit einem neuen Delphin arbeiteten. Der Trainer hielt einen Fisch hoch, der Delphin sprang hoch und bekam einen Fisch. Später kamen neue Zuschauer, der Delphin kam und führte dasselbe Kunststück aus, bekam jedoch keinen Fisch als Belohnung, da es darum ging, ein neues Kunststück vorzuführen. Er wiederholte ständig dasselbe Verhalten, und nach etlichen

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missglückten Versuchen, einen Fisch zu erhalten, legte der Delphin schließlich ein neues Verhalten an den Tag, einen Salto rückwärts, und bekam einen Fisch als Belohnung für das neue Verhalten. Als der Delphin dieses Verhalten wiederholte, erhielt er wieder keine Belohnung, obwohl er das neue Kunststück einige Male wiederholte. Unmittelbar vor der sechsten Vorstellung schauten die Trainer in das Rückhaltebecken und stellten fest, dass dieser Delphin einen unglaublichen Lärm machte und mächtig planschte. Der Delphin hatte sechs neue, noch nie vorher festgehaltene Verhaltensweisen gezeigt. Nach Batesons Beschreibung der Situation lag das daran, dass der Delphin durch den langen, frustrierenden Prozess des Wiederholens desselben Verhaltens in der Hoffnung auf eine Belohnung, die dann frustriert wurde, schließlich begriffen hatte, dass es sich hier um eine Situation handelte, in der neues Verhalten gezeigt werden musste, um eine Belohnung zu bekommen. Der Delphin hatte gelernt zu lernen« (Cecchin, Lane und Ray 1993, S. 19).

Anfang Es ist natürlich so, dass ich das nicht wirklich auf mir sitzen lassen kann. Ich meine: Was der Delphin kann, kann ich natürlich auch. Die Aussagekraft dieser Geschichte ist ja mehr als deutlich. Ziel ist es, das Lernen zu lernen. Und das ganze Buch weist mir hier den Weg. Es lädt ein zum Spielen »und dazu, das Spiel ernst zu nehmen, um damit ernsthafte Beiträge zum Leben des Klienten zu leisten«. Könnte es sein, dass durch mein Traumkonstrukt ernsthafte Beiträge für meine Arbeit mit Klienten entstehen? Im Buch wird man aufgefordert zur Respektlosigkeit – vor allem den eigenen Hypothesen und Theorien gegenüber – und angeleitet, flexibel zu sein und auch den eigenen Sinn für Humor nicht zu vergessen. Nun gut, ich gehe nochmals zurück zu meinem Traum. Ich träume weiter und akzeptiere, dass es nicht mehr ums Aufwachen geht. Gleich den Sterbephasen, die Elisabeth Kübler-Ross (1969) in ihren Büchern beschreibt, habe ich alle Phasen durchwandert, bin vom Nicht-wahr-haben-Wollen zu Zorn und Auflehnung gekommen und nach dem Suchen nach Auswegen in depressionsähnliche Zustände verfallen und akzeptiere nun doch noch die Vorgaben, die mein Traum mir gibt. Wie bei einer Lebenskrise, einem Life-Event, wie Walter Milowiz es nennt (siehe S. 58 ff.), ist es mir nicht möglich, hier nach den gewohnten Regeln weiterzudenken. Ich werde nach neuen Regeln Ausschau halten und begebe mich mit dieser Einsicht wieder an den Anfang. Zu lange habe ich schon gesucht, nun ist es an der Zeit, das Finden zu lernen. Also los:

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Zurück an den Start Ich sitze an meinem Schreibtisch, vor mir ein Mann mit ernstem Blick und hängenden Schultern, ein Blatt Papier in seiner Hand, ein amtliches Schreiben, das besagt, dass er in Gefahr ist, seine Wohnung zu verlieren. 1800 Euro Mietrückstand, welche Überraschung! Während er zu erzählen beginnt, blicke ich mich in meinem Zimmer um. Mein Blick fällt auf die Zimmerpflanzen, an denen die endlosen Gesprächswiederholungen auch nicht spurlos vorübergegangen sind. Genau wie ich lechzen sie nach Energie, dürsten nach Wasser. »Beginnen Sie ruhig schon einmal damit, mir ihre Situation zu schildern. Keine Sorge, ich höre Ihnen zu, werde nur rasch nebenbei meine Blumen gießen!« Und siehe da, das reicht bereits, um eine kleine Interaktionsänderung zu bewirken. Nun dreht sich die erste Gesprächssequenz nicht mehr nur ums Geld. Das Blumenthema wird vom Klienten aufgegriffen. Er ist Blumenliebhaber und gibt mir Tipps. Nun sitzt er nicht mehr da wie ein Bittsteller. Er ist ein Experte in Sachen Blumen und daran erinnert, wirkt er nun selbstbewusster, zuversichtlicher, eigenverantwortlicher. Eine gute Ausgangsbasis für das weitere Gespräch, das gut und reibungslos und in gelöster Atmosphäre zu einem Ende gebracht werden kann. Angespornt durch meinen Erfolg gieße ich zu Beginn des nächsten Gesprächs wieder meine Blumen. Doch dieser Klient kann mit Pflanzen nicht umgehen. So ähnlich sind sich diese Klienten also gar nicht! Macht aber nichts. Welch wunderbarer Boden tut sich da auf für einen Vergleich mit dem drohenden Wohnungsverlust. Um schöne Pflanzen zu haben, muss man sie gießen, um eine eigene Wohnung zu haben, muss man Miete zahlen. Auch dieses Gespräch nimmt einen entspannteren Verlauf. Zum Schluss gebe ich meinem Klienten noch einen Ableger mit, quasi als Erinnerung ans Mietezahlen. Allerdings ist das Gießen kein alleiniges Erfolgsrezept. Es bringt nichts, nun bei jedem Gespräch meine Pflanzen zu ersäufen. Langfristig (zielorientiert!) gesehen ist der Schaden an meinem Grünpflanzenbestand zu groß. Ich werde wohl noch etwas anderes ausprobieren. Und da nach so viel Gerede auch ich durstig bin, hole ich mir während des folgenden Gesprächs eine Tasse Kaffee und bringe – nun ja bereits wieder besser gelaunt – auch meinem Klienten einen Kaffee mit. Was setze ich damit wohl für Signale? Vom »Amt« zum »Kaffeehaus«? Vielleicht nicht durchzuhalten auf Dauer, aber für den Moment ganz brauchbar. Und wer weiß, vielleicht ist’s ja für meinen Klienten der letzte Kaffee. Schließlich steht er im Begriff, die Wohnung zu verlieren. Wo wird er dann seinen Kaffee kochen? Und woran sonst liegt ihm noch was? Was möchte er auf jeden Fall behalten? Und wieweit ist er bereit, dafür zu kämpfen? Während des nächsten Gesprächs bestelle ich mir eine Pizza. Es täte mir leid, wenn dies unhöflich wirkte. Aber bei diesen endlosen Gesprächen bekomme ich einfach Hunger. Und eine Beratung mit einer hungrigen Sozialarbeiterin ist auch

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nicht unbedingt zum Vorteil des Klienten. Und da ich es ja sowieso nie schaffe, eine ganze Pizza alleine aufzuessen (nicht mal im Traum), gebe ich dem Klienten ein Stück davon ab. Ja, genau, ich bestelle mir eine Pizza mit viel scharfer Peperoni, das wird uns beiden die Tränen in die Augen treiben. Vielleicht ist ja auch das Empathie – wir weinen gemeinsam, jeder über sein eigenes Los? Und dann? Direkt vor meinem Fenster ist ein Park. Wie wäre das, einen Teil des Gesprächs im Gehen oder auf der Parkbank sitzend zu führen? Schließlich: Delogierung und Parkbank … das liegt thematisch nicht mal soweit auseinander, finden Sie nicht? Noch besser würde es mir gefallen, ab und zu mal eine Exkursion zur nächsten Obdachlosenherberge zu starten. Vielleicht als Sammeltrip für all die Hilfesuchenden, die bereits zum wiederholten Male vor einer drohenden Zwangsräumung stehen? Auf manch einen wirkt vielleicht der tatsächliche Blick in eine mögliche Zukunft beeindruckender als meine mahnenden Worte. Viele Dinge fallen mir plötzlich ein. Ich werde meine Büromöbel umgruppieren: Computer nach rechts, zu erledigende Aktenberge auf jeden Fall aus dem Blickfeld. Die Pinnwand könnte ich neu gestalten, indem ich sie mit sinnvollen Sprüchen (z. B. »Wünschen Sie sich nicht leichtere Situationen, sondern mehr Fähigkeiten«) oder – noch interessanter – mit scheinbar sinnlosen Sprüchen (»Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht«) spicke. Ich werde das leidige Statistikblatt in die Lade verschwinden lassen – oder aber, dem Ganzen neuen Sinn gebend, könnte ich es um einiges vergrößern. Ich könnte ganz groß und für die Klienten gut sichtbar eine anonyme Statistik an die Wand pinnen. Vielleicht lässt sich im Gespräch darauf eingehen. »Sehen Sie, so viele Leute haben die gleichen Probleme wie Sie.« Oder: »Was meinen Sie, zu welcher Gruppe werde ich Sie wohl zählen können? Zu denen, die sich nach einem Jahr wieder in der gleichen Situation befinden, oder zu denen, die dauerhaft eine Lösung ihres Problems finden konnten?«

Grundbedürfnisse Wir sehen, es bedarf diesmal nur weniger Gespräche und ich fühle mich erheblich besser. Nicht mehr durstig, satt gegessen, die Beine vertreten, frische Luft getankt, eine Reihe neuer Ideen entwickelt – interessanterweise hat nichts davon meinen Gesprächen geschadet. Man möchte doch meinen, die Beraterin sollte die eigenen Bedürfnisse für sich behalten und sich ganz auf den Klienten konzentrieren, um wahrhaft adäquate Hilfe leisten zu können. Aber vielleicht muss man manchmal auch dieser Theorie respektlos gegenübertreten. Hungrig, durstig, müde, vom vielen Sitzen verspannt … wie soll so ein ordentliches Gespräch zustande kommen? Der Klient hat eben auch das Recht auf eine Beraterin in Topform. Wer bin ich denn, ihm das einfach vorzuenthalten! Und in meinem Fall, wo ich sowieso dazu verdammt bin, Gespräche ohne Unterlass zu führen, muss ich diese Dinge wohl in meine Beratung integrieren. Wie sich zeigt, ist es nicht mal schwierig, beim

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Thema zu bleiben. Egal ob Blumen gießen, Kaffee trinken, Pizza essen oder auf der Parkbank hocken – eine Überleitung lässt sich fast immer finden. Wie ist das möglich und was ist passiert, dass mir plötzlich so viele neue Möglichkeiten einfallen?

Kreativität Es gibt ein Buch, das dafür eine ganz gute Erklärung bietet: »Know-how für Träumer – Strategien der Kreativität« (Dilts et al. 1994) heißt es und ist ja allein schon aufgrund des Titels bestens für meinen speziellen Fall hier geeignet: Know-how für Träumer – was will ich mehr? Die Autoren erklären, dass es allein mit Hilfe der Physiologie möglich sei, sich Zugang zu den unterschiedlichsten Bewusstseinszuständen zu verschaffen, die man gewöhnlich zur Förderung der Kreativität nicht nützt. Im Prinzip reiche es, dass man »über etwas in einer anderen Art nachdenkt«. Man kann sich klarmachen, wie man an eine Sache gewohnheitsmäßig herangeht, und das Ganze dann einfach einmal abändern – zum Beispiel mit der anderen Hand die Tür öffnen oder den Telefonhörer abheben. »Wenn Sie das Gefühl haben, in eine Sackgasse geraten zu sein, wie viele von Ihnen würden sich dann auf dem Boden herumwälzen? Würden Sie ein wenig umherkriechen, so würde sich dadurch die Art verändern, wie Sie über etwas nachdenken. Stellen Sie sich vor, Sie denken über ein Problem auf die gewohnte Weise nach, während Sie auf einem mit Gras bewachsenen Hügel herumspringen und sich anschließend bis zum Fuß des Hügels hinabrollen lassen. Würden Sie dann immer noch so über das Problem denken wie vorher?« (Dilts et al., S. 137). Wenn ich ein Problem nicht lösen kann, indem ich vor meinem Schreibtisch sitzend darüber nachdenke, kann ich das genauso Blumen gießend oder im Park spazierend machen. Es regt also die Kreativität an, Dinge anders anzugehen. Ähnliches sagt auch die systemische Sichtweise, deren Grundsatz lautet: Nur eine Änderung bewirkt eine Veränderung! (Milowiz, mündliche Mitteilung, 2003). Und da kein System statisch ist, passieren Veränderungen ständig. Selbst in scheinbar starren, rigiden Systemen kann man bei genauer Beobachtung zumindest kleine Schwankungen erkennen. Oft reicht schon die Bereitschaft, genauer hinzusehen, aus, um weitere Veränderungen möglich werden zu lassen.

Unterschiede Gestatte ich mir, meinen Blickwinkel zu erweitern und nicht ausschließlich das Problem des Klienten zu fokussieren, so erkenne ich mehr Unterschiede als zuvor (einer ist Blumenliebhaber, der andere nicht …). Indem ich dafür sorge, dass ich mich wieder wohler fühle, mache ich mich offenbar bereit dafür, kreativer zu

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handeln. Indem ich die Dinge anders angehe als gewohnt, beginnt der Ideenfluss zu fließen. Und um diesen Fluss zu speisen, mache ich mich auf die Suche nach weiteren Anregungen: Ich höre dem Klienten zu. Ich bin neugierig darauf, welche Erfahrungen und Werte er mit sich bringt. Manchmal muss ich all meine eigenen Erfahrungen, Interpretationen und Vorurteile, all meine »Brillen«, durch die ich die Welt sehe, ablegen, um zu verstehen, warum die Klienten das tun, was sie tun. Negativ wirkende, scheinbar verrückte und destruktive Handlungsweisen haben oftmals sehr edle Beweggründe. Meiner Erfahrung nach sind es oft schlicht und einfach Versuche, das Leben wieder in den Griff zu bekommen. Manchmal ziehen allerdings diese Anpassungsversuche unplanmäßig noch schlimmere Folgen nach sich, so dass die ursprünglichen Motive in Vergessenheit geraten. Mein Abgleiten in die Rigidität im ersten Teil meines Traumes zum Beispiel war sowohl für den Klienten als auch für mich destruktiv. Es verwickelte uns in unfruchtbare Beziehungskämpfe und doch war mein ursprüngliches Motiv ein durchaus verständliches, wie mir scheint: Ich wollte die alte Ordnung wiederherstellen. Geht man davon aus, dass die Forderung der Klienten »Ich brauche Geld!« einen Versuch darstellt, um das Leben in den Griff zu bekommen, so bedeutet das also noch lange nicht, dass die Ausgangssituation bei allen die gleiche ist. Es kommen nicht alle Leute mit dem gleichen Problem zu mir, sondern all jene Leute, die das Sozialamt als Lösungsstrategie für ihr Anliegen erwählt haben. Was genau sie damit in den Griff bekommen wollen, ist somit noch lange nicht klar. Lediglich der Lösungsversuch ähnelt sich hier. Vielleicht verhindert ja zum Beispiel Loyalität der Herkunftsfamilie gegenüber, dass der Klient erfolgreich sein kann. Vielleicht ist er das schwarze Schaf in der Familie und ein erfolgreiches Leben würde das ganze Beziehungsgeflecht der Familie durcheinanderwerfen. Die Rollen müssten neu verteilt werden, es müsste jemand anders als warnendes Beispiel für die Nachkommen herhalten, die »Erfolgreichen« könnten ihren Erfolg nicht mehr an seinem Scheitern messen, die »helfenden Hände« könnten ihre Barmherzigkeit nicht mehr an ihm ausleben. Ist es so gesehen nicht eine heroische Tat äußerster Selbstaufopferung für meinen Klienten, das eigene Leben der Aufrechterhaltung des Misserfolgs zu widmen? Vielleicht lenkt aber auch der Mietrückstand von einem ganz anderen Problem ab. Vielleicht schützt er davor, sich dem noch viel bedrohlicheren Problem der Alkoholabhängigkeit zu stellen? Vielleicht dient gerade dieses »sich Sorgen machen« als gesellschaftlich akzeptierter Grund für den übermäßigen Alkoholkonsum? Vielleicht schafft man es nur so, nicht völlig zusammenzubrechen oder nicht gesellschaftlich geächtet zu werden? Mag auch sein, dass ein erfolgreicheres Leben im sozialen Umfeld Probleme nach sich ziehen würde. Was, wenn alle Freunde in einer ähnlichen Situation sind? Stellen wir uns vor, der ganze Bekanntenkreis trifft sich jeden Vormittag im Wirtshaus. Das kostet Zeit und Geld und erfordert oft eine großes Anpassungsvermögen an die Lebenssituation der anderen. Das wenige Geld für die Miete zu sparen, würde hier unter Umständen den Verlust mancher sozialer Kontakte nach sich ziehen. Ein hoher Preis für ein doch völlig ungewisses neues Leben!

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Vielleicht ist die Delogierung auch die Folge einer ganz anderen Krise, einer schweren Krankheit zum Beispiel, die den Verlust der Arbeit und somit des gewohnten Einkommens nach sich zieht, oder des Verlusts des Partners, der bis zu seinem Tod die Erledigung der Finanzen innehatte. Und durch die drohende Delogierung mobilisiert, können neue Verhaltensweisen im Umgang mit Geld bzw. im Umgang mit weniger Geld als gewohnt gefunden und angenommen werden. Wir wissen ja, manchmal braucht es einige Zeit und einiges an Leidensdruck, um sich für neue Ideen und gravierende Änderungen im Leben öffnen zu können. In diesem Fall wäre die drohende Delogierung bereits ein absolut positiver erster Schritt in Sachen Lösung des Problems und dem Klienten wäre aus tiefster Überzeugung zu gratulieren für soviel Geduld und Weitsicht und vor allem für soviel Mut, die Sache bis an die Spitze zu treiben, um seine Bereitschaft zur Veränderung zu aktivieren. Hinter die augenscheinlichen Dinge zu blicken, Unbewusstes ans Licht zu holen und ursprüngliche Motive zu entdecken – das könnte die Arbeit durchaus spannend machen. Wäre hier nicht immer noch das Problem mit der Zeit. Denn solche Strukturen zeigen sich nicht immer gleich in dem ersten Gespräch. Oft muss hier die Vermutung genügen, dass jeder Mensch in jeder Situation nachvollziehbar und ehrenwert handelt, und es muss davon ausgegangen werden, dass zum Verständnis der Situation des Klienten noch Informationen fehlen – ein weiterer Kernpunkt der systemischen Sichtweise. Schon allein mit dieser Annahme und dem nun erworbenen Wissen über das Entstehen der Kreativität lässt sich für meinen Traum schon jede Menge anfangen. Denn wenn mein Ideenreichtum so in die Gänge kommen kann, gilt wohl für den Klienten Ähnliches. Aber wie setze ich dieses Wissen gezielter ein? Soll ich meinen Klienten bitten, hüpfend mein Zimmer zu betreten, über die jeweiligen Probleme am Boden liegend nachzudenken oder mit der anderen Hand zu unterschreiben? Sicher, ich denke, mit der nötigen Überzeugung vorgebracht, würde auch das zu ganz neuen Sichtweisen führen. Bei manchen Klienten zumindest. Aber ich muss hier nicht unbedingt das Rad neu erfinden. Es gibt einige systemische Interventionstechniken, die genau das bezwecken: seine eigene Situation auf eine neue Art zu betrachten. Auch in meinem unendlichen Traum komme ich irgendwann zu dieser Erkenntnis. Sehen wir uns mal an, wie das läuft.

Interventionstechniken2 Ein neuer Klient, ein neuer Mietrückstand. Im Laufe des Gesprächs erinnere ich mich an meine systemische Ausbildung. Da waren doch einige Interventionstechniken, die sehr erfolgreich und auch lustvoll anzuwenden waren. An was erinnere 2 Die folgenden Interventionstechniken sind teilweise aus Jong und Berg (1998) entnommen, teilweise finden sie sich im Methodik-Teil dieses Buches.

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ich mich denn noch? Wie war das mit dem »Wechsel der Seite«? Eine Sache, die immer dann angebracht schien, wenn mein Anspruch auf eine Veränderung der Situation beim Klienten mehr und mehr das Festhalten an dem Problem bewirkt. Das ließe sich doch sicher auch hier bei Bedarf einbauen. Und so höre ich mir die Geschichte des Klienten an und beschließe den Wechsel der Seite mal wortwörtlich zu nehmen! Ich erkläre ihm, nach welchen Gesichtspunkten ich zu entscheiden habe und dass es mein Auftrag ist, mit den vorhandenen Sozialhilfemitteln sinnvoll und präventiv umzugehen, und bitte ihn dann, mit mir Platz zu tauschen. Welchen Rat würde er sich nun an meiner Stelle geben, welche Bedingungen stellen und mit welcher Begründung bei meinem Vorgesetzten um eine finanzielle Unterstützung bitten? Interessante Überlegung, nicht wahr? Genauso gut kann die Symptomverschreibung zum Überdenken des eigenen Standpunktes anregen. Unter Symptomverschreibung wird alles verstanden, was es unmöglich macht, das bisherige »ungewollte« Verhalten weiterhin als »ungewollt« zu zeigen. Dem nächsten Klienten erkläre ich, dass es gesellschaftlich absolut okay ist, einen Mietrückstand zu haben. Einerseits ist das gut für meine Statistik, denn ohne Delogierungsprophylaxe wäre mein Arbeitsplatz unnötig, zweitens verdient »Wiener Wohnen« an den Mahnspesen und Gerichtskosten; drittens leben auch jede Menge anderer Leute nur aus diesem Grund ganz gut, man denke hier nur an die Richter am Bezirksgericht, an die Gerichtsvollzieher, an die Möbeltransporter und die Möbellager, in denen all die Habseligkeiten der Delogierten gelagert werden, sollte die Wohnung nicht ordnungsgemäß geräumt und zurückgegeben worden sein. Auch die ganze Wohnungslosenhilfe mit ihren Tageszentren, Wohnheimen, Streetworkern, Ausspeisungslokalen usw. würde sich ad absurdum führen. Es ist also ganz okay, was der Klient hier mache, sei gesellschaftlich eigentlich eine beachtliche Leistung und verdiene demgemäß meine höchste Anerkennung. Weiter so! Vor allem bei Menschen, die als »Besucher« ins Zentrum kommen, also den eigenen Anteil am Problem weit von sich weisen, bringt so ein Standpunkt oft das nötige Öl ins steckengebliebene Getriebe. Nehme ich mir im Traum die Zeit, um weiter in die Tiefe zu gehen, so könnte auch eine Umdeutung helfen: den Mietrückstand zum Beispiel als eine Möglichkeit zu sehen, um fehlende Spannung ins Leben zu bringen. Und wenn dem so ist, wie könnte dann sonst noch Spannung ins Leben gebracht werden? Oder ich stelle die Frage nach Ausnahmen! Was waren denn die schönsten Zeiten im Leben? Was war da anders? Was gibt Kraft, um die derzeitige Situation durchzuhalten? Die Zukunftsprognosen kläre ich versuchsweise mal durch Skalierungsfragen ab: »Auf einer Skala von 1 bis 10, wo stehen Sie jetzt und wo würden Sie im nächsten Jahr gerne sein? Was werden Sie wohl brauchen, um sich innerhalb dieser Zeit von hier nach dort zu bewegen? Woran werden Sie erkennen können, dass Sie es geschafft haben? Und wie realistisch schätzen Sie die Erreichung Ihres Zieles ein – 50 Prozent? Oder mehr?«

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Die Strategie der Verknüpfung von Problemen mit zusätzlichen Unannehmlichkeiten überlege ich auch kurz. Aber diese Intervention habe ich vielleicht schon ungewollt im ersten Teil dieser Arbeit angewendet als Nebeneffekt meiner Haltung »Wer stört schon wieder?«. Gut vorstellbar, dass die Situation damals für den Klienten dermaßen unerfreulich war, dass es leichter für ihn sein wird, künftig selbst die Miete zu zahlen oder andere Geldgeber für seinen Mietrückstand aufzustellen, als jemals wieder einen Fuß in dieses Amt zu setzen.

Innere Welten Andere Ansätze lassen sich auch integrieren. Unter Zuhilfenahme der Theorie des Neurolinguistischen Programmierens in Richard Bandlers Buch »Veränderung des subjektiven Erlebens« (Bandler 1987) bemühe ich mich versuchsweise einmal, verstärkt auf die »inneren Welten« des Klienten einzugehen. Manch einer spricht so auffallend in Bildern (»Ich sehe schwarz.« – »Habe keinen Durchblick!« – »Es ist, als falle ich in einen tiefen Abgrund und sehe den Boden unter meinen Füßen nicht!«), dass es sich geradezu aufdrängt, in Metaphern zu arbeiten. Ich bitte den Klienten, das »schwarz« ein bisserl heller zu machen. Was käme denn dann zum Vorschein? Was erscheint, wenn er die Möglichkeit hätte, einfach Licht anzuknipsen? Was ist, wenn der Sturz in den Abgrund gestoppt werden könnte, wenn er plötzlich aufgefangen würde oder vielleicht sogar rechtzeitig den Fallschirm am eigenen Rücken entdeckt? Oder ich nütze das abstrakte Denken des Klienten, um die derzeitige Situation oder auch die vereinbarten Ziele zeichnerisch zu veranschaulichen. Bei meinem Zeichentalent eine gewagte Sache, aber wahrscheinlich ist mir zumindest ein Lacherfolg sicher, was ja wohl auch schon als Erfolg zu werten wäre, oder? Apropos Zielvereinbarungen: Als Hilfestellung dafür gibt’s in meiner Dienststelle einen Computerausdruck, auf dem in maximal 10 Zeilen alle Vereinbarungen niedergeschrieben und vom Klienten und vom Sozialarbeiter unterschrieben werden können. Es spräche aber wohl auch nichts dagegen, dieses Repertoire etwas zu erweitern. In meinem Traum habe ich dafür tolle Einfälle. Ich lasse die Leute auf die Bibel schwören, lasse mir bei ihrer Ehre oder dem Leben ihrer Mutter versichern, dass sie künftig die Miete einzahlen werden, und organisiere Pauken und Trompeten, um diese Vereinbarung akustisch zu untermauern. Im wirklichen Leben tut’s vielleicht auch ein einfacher Handschlag oder eine kleine Zeichnung für all jene, die mit dem geschriebenen Wort nicht auf Tuchfühlung sind. »Innere Welten« könnte ich auch akustisch oder auf der Gefühlsebene (kinästhetisch) verändern. Was, wenn der Klient die Erinnerung an schwere Zeiten gedanklich mit Zirkusmusik unterlegt, wenn er versucht, die Lasten der Vergangenheit ein bisschen leichter zu machen, wenn er Erinnertes in schwarz-weiße Standbilder verwandelt, einen goldenen Rahmen darum herum denkt? Der Rucksack, den die Leute im Leben so mit sich schleppen, ist oft voll mit schweren Erin-

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nerungen, die besser in ein Fotoalbum eingeordnet und ins Regal gestellt werden sollten, als dass sie einem ständig im Nacken sitzen.

Humor Eine meiner liebsten Interventionen ist aber die Sache mit dem Humor. Ungeübt nicht immer ganz einfach anzuwenden, ist es wunderbar, wenn sie gelingt. Ich übertreibe dabei die Problematik des Klienten behutsam, aber doch kräftig genug, so dass er sie eindeutig als Scherz erkennen kann. Ich versuche, dem Klienten die Opferrolle zu vermiesen, die ja weit verbreitet ist – weil bequem und risikolos –, indem ich das Absurde humorvoll verzerrt in den Mittelpunkt rücke. »Hiermit verleihe ich Ihnen den Orden für die vertrackteste Situation, die ich seit langem gehört habe!«, sage ich zum Beispiel oder »Das Schicksal ist absolut hart und ungerecht zu Ihnen. Wie kann man nur auf die Idee kommen, Sie zu delogieren, lediglich weil Sie für fast ein Jahr die Miete nicht bezahlt und sich um nichts gekümmert haben?« oder »Sie haben recht, es ist doch wohl nicht zuviel verlangt, dass sich ein unbekannter Wohltäter auftut, der mit Freuden regelmäßig die Mieten für Sie einzahlt, nicht wahr?« Kann der Klient über seine Situation, über seine eigenen Argumente lachen, so erhält er dadurch auch wieder die nötige Distanz, um Auswege aus seinen mentalen Sackgassen zu entdecken. Die provokative Therapie nach Frank Farrelly (Farelly und Brandsma 1986) hat eine Erklärung dafür: Bei Druck und Bedrohung schaltet das Großhirn sich aus und das Zwischenhirn übernimmt mit Kampf-, Flucht- und Totstellreflexen das Kommando. Die Folge: Man handelt emotional aktiviert, aber blind. Das Lachen gibt da die Eigenverantwortung wieder zurück.

Das Team Mindestens so wichtig und wahrscheinlich viel einfacher einzusetzen als im Klientengespräch, ist diese Form des Humors im Gespräch mit Kolleginnen. Ich beginne, mir den Ärger von der Seele zu reden, erzähle von den neuesten Kuriositäten, beginne, gewisse Eigenschaften übertrieben darzustellen, und wir überlegen gemeinsam, wie man noch hätte reagieren können oder auch wie man reagiert hätte, könnte man so, wie man wolle … Der Dialog mit Kollegen hilft mir immer wieder, mich vor meiner eigenen Rigidität zu schützen, eingefahrene Muster und Haltungen zu erkennen und die eigenen Theorien wieder in Frage zu stellen. Genau wie in diesem Traum schaffe ich es im »wirklichen« Leben mit Hilfe meiner Kolleginnen, Distanz zu gewinnen. Wo sonst der Verstand Einhalt gebietet (man kann sich doch z. B. nicht einfach mitten im Beratungsgespräch eine Pizza bestellen!), verwischen hier die Zwänge und die Kreativität lernt ungestraft fliegen.

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Eine unserer Lieblingsvisionen ist zum Beispiel die Vorstellung, bei Bedarf ein belastendes Gespräch kurz zu unterbrechen, sich im Nebenraum umzuziehen und als Zorro oder Robin Hood verkleidet erneut ins Zimmer zu stürzen, sichtbar und unmissverständlich erkennbar auf der Seite der Klienten: als Retterin der Witwen und Waisen, als Rächerin der Unterdrückten. Allein die Vorstellung versetzt uns jedes Mal in Lachen und Heiterkeit und vertreibt die Schwere manches Gesprächs. Aber apropos Kolleginnen: Kommt irgendjemand von ihnen eigentlich in meinem Traum vor? Wo sind sie denn alle hingeraten? Gefangen in einem neuerlichen Erstgespräch entschuldige ich mich kurz beim Klienten und mache mich auf die Suche. Ist hier noch jemand? Jemand, der vielleicht ebenfalls diesen verrückten Traum träumt? Und siehe da, zu meiner großen Freude gibt’s da tatsächlich noch andere außer mir und zu meinem großen Erstaunen scheint jeder von ihnen gefangen zu sein in seinem eigenen Traum – manche noch ganz in der Anfangsphase, manche im akuten Stadium des Zynismus, manche apathisch hinterm Schreibtisch hängend, manche über all diesen Dingen stehend, manche, so wie ich gerade, strotzend vor neuen Ideen. Ich beschließe, sie mir zur Hilfe zu holen, wenn ich sie brauche. Vielleicht tut’s meinem Klienten ja gut, noch eine zweite, dritte Meinung zu hören. Wie wär’s, wenn ich meine Fallbesprechungen künftig im Beisein des Klienten führe? Kann es schaden, wenn er sieht, wie schwer es manchmal fällt, zu einer Entscheidung zu kommen? Wenn er erkennt, welche Überlegungen einer Zahlungszusage oder -ablehnung vorausgegangen sind? Wenn er erfährt, wie andere über seine Situation denken, welche Vermutungen sie anstellen, welche Ideen sie noch haben? Wir können ein Reflecting Team bilden: mehrere Personen, die sich die Situation des Klienten anhören, um dann, während der Klient still zuhört, ihre Meinungen dazu austauschen. So kann sich der Klient nehmen, was für ihn von Nutzen ist, und verwerfen, was ihn nicht anspricht. Und schon wieder sprudeln neue Ideen aus meinem Kopf. Mit jeder gedachten Interventionsmöglichkeit macht mir mein Traum mehr Spaß. Mein erklärtes Ziel ist schon lange nicht mehr, aufzuwachen, sondern meinen Ideenreichtum zu vergrößern. Meine Gespräche machen mir Spaß. Eigentlich ist es ein Traum, so zu arbeiten – es ist wirklich ein Traum – ein Traum …

Am Ziel Und nun wache ich doch tatsächlich auf! Jetzt, wo ich grad so schön und lustvoll geträumt habe. Wo ich noch einige Dinge ausprobieren wollte! Aber auch das kann ich nicht ändern. Will ich weitermachen, werde ich wohl oder übel aufstehen müssen. Ich werde mich anziehen müssen, werde frühstücken und mich fertig machen für den Weg zur Arbeit, zum Sozialamt, wo ich heute

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noch einige Gespräche führen werde. Und ich bin sicher, mir wird mein Traum einfallen, gerade dann, wenn ich dem Klienten gegenübersitze … an meinem Schreibtisch, vertraute Umgebung, vertraute Haltung, vertraute Hintergrundgeräusche … Rings um mich das Handwerkszeug, das professionelle Hilfe ja erst wirklich professionell macht …

Epilog Viele Situationen aus meiner beruflichen Praxis sind maßgeblich beteiligt am Gelingen dieser Arbeit. Nicht alle der beschriebenen Ideen habe ich auch selbst ausprobiert. Einiges haben Kolleginnen von mir getestet, einiges harrt auch noch der Verwirklichung und doch bin ich überrascht, wie viel aus meiner bisherigen Arbeit hier bereits eingeflossen ist. Hier einige Fallbeispiele. Der Blumenliebhaber Herr M. war ca. 50 Jahre alt, als ich ihn kennen lernte. Geschieden und von seinen Mitmenschen und dem Leben generell enttäuscht, lebte er seit Jahren alleine. Obwohl er eine gute Allgemeinbildung hatte, war er bereits viele Monate arbeitslos. Zu mir kam er, weil er sich mit seinen Zahlungen nicht mehr zurechtfand. Trotz seines geringen Einkommens schienen seine Schwierigkeiten aber nicht durch Armut oder größere Verschuldung verursacht. Vielmehr hatte Herr M. Probleme mit seinem Umfeld. Er schaffte es kaum, ein Amt auch nur zu betreten, dazu bedurfte es der Absolvierung vielfältiger Rituale seinerseits. Beim Verlassen eines Gebäudes war es nahezu das Gleiche. Denn war er endlich mal drinnen, so brachte er sein Anliegen sehr umständlich vor und fand kaum ein Ende. Durch sein kompliziertes Verhalten kam es immer wieder zu Missverständnissen im Umgang mit Behörden und daraus wiederum resultierten zu spät eingezahlte Rechnungen und vieles mehr. Lange Zeit drehte sich unser Gespräch um all die Dinge, die ihm Schwierigkeiten bereiteten. Und nichts schien diesen Kreislauf durchbrechen zu können – bis sein Blick auf eine Vase mit Rosen fiel, die in meinem Zimmer stand. Zugegeben, diese Rosen sahen wirklich schon sehr jämmerlich aus. Herr M. schüttelte den Kopf und erklärte mir, wie Schnittblumen zu behandeln seien, insbesondere Rosen. Damit kannte er sich aus. Eindeutig, Blumen waren ein Spezialgebiet von ihm. Er erzählte mir wie es dazu gekommen war und nach nur wenigen Minuten stellte sich heraus, dass er noch eine – für seine momentane Problematik höchst wertvolle – Gabe besaß: Er konnte Geschichten erzählen. Spannende, amüsante, interessante, lehrreiche Geschichten aus seinem Leben. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, wie spannend ich seine Erzählungen fand, fielen ihm in relativ kurzer Zeit einige Begebenheiten ein, bei denen er es geschafft hatte, so mit seiner Umwelt leichter in Kontakt zu treten – trotz seiner schwierigen, neurotischen Art. Auf diese Weise gelang es ihm, nicht zu vereinsamen. Und vielleicht würde

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er sich diese Fähigkeit künftig auch für den Umgang mit Ämtern und Behörden zu Nutzen machen können. Wie es mit Herrn M. weitergegangen ist, weiß ich nicht. Unser Gespräch liegt schon einige Jahre zurück. Wir führten es zu einer Zeit, als ich noch keine Ahnung von systemischen Interventionstechniken hatte. In Erinnerung geblieben ist mir aber deutlich die Wende, die unser Gespräch damals nahm, meine Freude und offene Bewunderung für seine Art, Geschichten zu erzählen, und die Tatsache, dass er danach nie mehr für lange Zeit ins alte Fahrwasser langwieriger Schilderungen all seiner Probleme zurückfiel, was unsere Zusammenarbeit sehr erleichterte. Edle Beweggründe oder »das schwarze Schaf« Frau H., 40 Jahre, schien geistig behindert zu sein. Seit ihrer Geburt lebte sie bei der Mutter. Als diese schwer erkrankte, wurde die Hausärztin auf die Tochter aufmerksam. Der Tod der Mutter stand zu befürchten, und sie machte sich Sorgen, wie die Tochter wohl dann alleine zurechtkommen würde. Also wurde das Sozialamt um eine Kontaktaufnahme gebeten. Beim Erstgespräch mit Frau H. erschien die halbe Verwandtschaft und außer Begrüßung und Verabschiedung sprach Frau H. bei diesem Termin kein Wort. Egal, welche Frage ich ihr stellte, immer war es die Mutter, einer der Brüder, die Schwägerin …, die für sie antworteten. Seit jeher schien sie das »schwarze Schaf« oder vielmehr das »Sorgenkind« der Familie zu sein. Als Einziges der sechs Kinder hatte sie »nur« eine Sonderschule besucht, hatte die Schule noch dazu vorzeitig abgebrochen, einige wenige Arbeitsversuche waren kläglich gescheitert. Frau H. hatte weder lesen noch schreiben gelernt und war zu Hause bei der Mutter geblieben, während alle anderen ihrer Wege gingen. Auch ich hatte den Eindruck, Frau H. müsse geistig behindert sein, und schlug daher die Kontaktaufnahme zu Behinderteneinrichtungen vor, um ihr die Chance zu geben, ein Stück selbständiger zu werden. Die Familie wies dieses Angebot jedoch vehement von sich. Man habe bereits beschlossen, dass Frau H. weiterhin in der Wohnung der Mutter leben würde, unterstützende Hilfe durch eine Behinderteneinrichtung sei nicht nötig, eine Beschäftigungstherapie würde Frau H. mit Sicherheit nicht durchhalten und überhaupt brauche sie keine neuen Ansprechpersonen. Wenn die Mutter stürbe, würde die Familie sich um sie kümmern, alles würde weiterlaufen wie bisher und Hilfe von außen sei nicht erwünscht. Mir blieb nichts übrig, als Frau H. zu ihrer großen, so Anteil nehmenden Familie zu gratulieren, ihr alles Gute zu wünschen und ihr meine Visitkarte in die Hand zu drücken – für den Fall, dass sie noch irgendwelche Fragen hätte. Vier Wochen später war die Mutter tot. Eine weitere Woche später meldete sich plötzlich Frau H. telefonisch bei mir und bat um ein Gespräch. Diesmal kam sie allein. Vom Tod der Mutter noch sehr mitgenommen, ersuchte sie mich um Unterstützung für die nun kommenden Formalitäten. Die Familie hatte sich bereits um die Beerdigung gekümmert und den Kontakt zum Notar aufgenommen. Man hatte auch begonnen, Frau H.s Leben neu zu regeln. Mehr und mehr war Frau

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H. jedoch diese Bevormundung durch die Geschwister auf die Nerven gegangen. Sie wolle nicht länger wie ein Kleinkind behandeln werden, sagte sie. Und so besann sie sich darauf, ja nie entmündigt worden zu sein, und erhob Anspruch auf ein Mitspracherecht. Den ältesten Bruder und die Schwägerin hatte sie durch dieses aufmüpfige Verhalten sehr rasch vergrämt. Man habe ihr gesagt, wenn sie sich nicht helfen lassen wolle, wie es für sie am besten sei, dann müsse sie eben selbst sehen, wie sie zurechtkomme. Und da habe sie sich an meine Visitkarte erinnert und wolle nun sich und den anderen beweisen, dass sie auf die Familie nicht angewiesen sei. Zu meiner Überraschung schien ihre Situation nicht so chancenlos zu ein, wie von mir angenommen. Auch wenn sie nicht lesen und schreiben konnte, so hatte Frau H. doch in der letzten Zeit, als die Mutter schon schwer krank war, ganz alleine den Haushalt geführt, eingekauft, gekocht und die fälligen Einzahlungsscheine zur Post gebracht. Sie hatte einiges an Lebensweisheit dazu gewonnen und konnte fast alle nötigen Wege ohne Hilfe erledigen. Und sie hatte einen erstaunlich guten Überblick über ihre finanzielle Situation. Ein Jahr und eine Reihe von Gesprächen später lebte Frau H. immer noch alleine in ihrer Wohnung. Mittlerweile hatte sie einen Lese-Schreib-Kurs absolviert, besuchte tagsüber eine Beschäftigungstherapie und hatte sich einen eigenen Freundeskreis aufgebaut, mit dem sie ihre Freizeit verbrachte, Kurse besuchte, in Urlaub fuhr usw. Noch immer hatte sie wenig Kontakt zum ältesten Bruder. Die Rolle des »Sorgenkindes« der Familie hatte sie jedoch abgegeben. In dem Maß, indem sie selbstbewusster und engagierter wurde, war die schon seit längerem bestehende Situation des zweiten Bruders von Frau H. auffällig geworden. Alkoholabhängig und ständig in finanziellen Schwierigkeiten war er vom Rest der Familie offenbar zum neuen »schwarzen Schaf« erkoren worden. Probleme im sozialen Umfeld oder »die guten Freunde« Herr A., 30 Jahre alt, hatte sehr lange zugewartet, bis er sich dazu entschloss, einen Beratungstermin beim Sozialamt zu vereinbaren. Er hatte wiederholt keine Miete bezahlt und stand nun knapp vor der Delogierung. Warum er in diese Situation gekommen war, schien ihm selbst nicht so ganz klar zu sein. Irgendwie sei in den letzten Monaten halt nie genug Geld übrig geblieben, um die Miete zu bezahlen, meinte er. Wir besprachen die Prioritäten beim Zahlen laufender Fixkosten. Das löste kein großes Aha-Erlebnis bei ihm aus. Er schien genau zu wissen, was er zuerst zahlen sollte. Und war auch sichtlich betrübt, dass ihm dies nicht gelingen wollte. Das Leben sei einfach zu hart für ihn. Wie er es denn überhaupt aushalte, so ein schweres Leben zu leben, war meine nächste Frage. Was gäbe ihm denn die Kraft, noch immer irgendwie durchzuhalten? Und da schilderte er mir, was er in der Freizeit so unternahm. Er hatte einen großen Bekanntenkreis und es schien sehr wichtig für ihn zu sein dazuzugehören. Dazuzugehören zu einer Gruppe von Menschen, von der keiner einer geregelten Arbeit nachging. Ein Freundeskreis, der sich Tag für Tag im Gasthaus traf und das wenige Geld dem Wirt opferte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass diese

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Treffen mit Freunden wohl wichtig für ihn seien und dass sie es offenbar auch wert seien, die Mietzahlungen hintanzustellen, um mit den anderen mithalten zu können. Herr A. erkannte daraufhin einen Zusammenhang zwischen Freizeitgestaltung und Mietzahlung. Und obwohl er meinte, nichts an seiner Freizeitgestaltung ändern zu wollen, hatte er sich bis zum nächsten Termin bei mir einen alten Fernseher und einen gebrauchten Kühlschrank angeschafft. Ab da blieb er ein paar Mal die Woche zu Hause und trank sein Bier aus dem eigenen Kühlschrank und berichtete mir immer wieder mal stolz, wie viel er sich dadurch nun schon erspart hätte. Er fand auch wieder mehr Kontakt zu seiner Familie, begann seine Dokumente zu ordnen, sich Überblick über seine Schulden zu verschaffen und steckt derzeit in einem Kurs des Arbeitsmarktservice, in dem er seine beruflichen Kenntnisse verbessert und neue Leute kennenlernt. Symptomverschreibung oder »schöne Aussichten« Herr K., Herr M., Frau T. … alle diese Gespräche fallen mir ein, wenn ich an meine Versuche denke, ein bisschen Öl ins Getriebe zu bringen. Alle drei waren jung, gerade 20 Jahre alt. Unabhängig voneinander hatte jeder von ihnen eine Reihe von Schulden angehäuft. Dass die Miete zu zahlen ist, wenn man in eine eigene Wohnung zieht, schien ihnen fremd zu sein. Jeder hatte seine eigenen Schwierigkeiten damit. Immer waren Eltern im Hintergrund, die letztendlich die Termine beim Sozialamt für die Kinder vereinbart hatten. Und in jedem dieser Fälle schienen die Eltern um einiges mehr Motivation an den Tag zu legen als ihre Kinder. Ich fand dies auch verständlich. So ist das eben mit dem Erwachsenwerden: Die Eltern müssen lernen, sich zurückzunehmen und den Kindern nicht ständig dreinzureden. Und die Kinder treffen ihre eigenen Entscheidungen und lernen dann, mit deren Konsequenzen zurechtzukommen. Das ist manchmal ganz schön schwer zu lernen. »Ich finde es sehr vernünftig, dass Sie sich bei so einem gravierenden Problem die Eltern als Unterstützung mitgenommen haben«, betonte ich. »Dennoch sind Sie volljährig und Ihre Unabhängigkeit ist zu respektieren. Da Sie sich nun aber offenbar dazu entschieden haben, sich noch nicht selbst um die regelmäßige Mietenzahlung zu kümmern und somit die eigene Wohnung voraussichtlich verlieren werden, bieten sich ja immer noch eine Reihe von anderen Möglichkeiten. Im Obdachlosenbereich wird heutzutage relativ viel Hilfe angeboten. Es gibt Tageszentren, wo man sich tagsüber aufhalten kann, Wohnheime für Obdachlose oder auch betreute Wohnungen. Mit ein bisschen Verhandlungsgeschick schaffen Sie es vielleicht sogar, die Delogierung solange hinauszuschieben, bis ein Platz in einer betreuten Wohnung frei wird …« Mit diesen Alternativen konfrontiert kam Herrn K. auf die Idee, dass er sich seine Wohnung doch für einige Zeit mit seinem Bruder teilen könnte. Der wolle sowieso auch von zu Hause ausziehen und zu zweit würden sie sich die Wohnung eher leisten können. Auch die Mutter schien dieser Lösung nicht abgeneigt zu sein und erklärte sich nach längerem Überlegen dazu bereit, die beiden in diesem Fall finanziell zu unterstützen.

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Herr M. wiederum war doch noch motiviert genug, sich eine Ratenvereinbarung mit »Wiener Wohnen« auszuhandeln, und erschien zu den nächsten Terminen bei mir mit bezahltem Mietbeleg und ohne seine Eltern. Und auch Frau T. beschloss, die nächsten Monate ihre Miete selbst einzuzahlen, ließ aber zu, dass die Mutter ihr dabei noch einige Zeit über die Schultern schaute, um zu gewährleisten, dass sie auch alles richtig mache. Umdeutung oder »Die Wagemutige« Frau L. zeigte mir ganz andere Beweggründe für einen Mietrückstand. Sie kam mehrmals zu mir, jeweils im Abstand von ca. einem Jahr. Jedes Mal mit nahezu identischem Problem: drohender Wohnungsverlust. Und – was besonders auffiel – jedes Mal waren es nur wenige Tage bis zur tatsächlichen Delogierung. Beim ersten Mal erklärte sie mir, dass sie bereits zweimal mit Hilfe von Freunden und Bekannten eine Delogierung abgewendet habe, diesmal aber nicht mehr weiter wisse. Sie erhielt finanzielle Unterstützung und konnte ihre Wohnung behalten. Beim zweiten Mal war die Ausgangslage die Gleiche, sie hatte nichts verändert an ihrer Zahlungsmoral, hatte trotz relativ regelmäßigen Einkommens die Mietzahlungen hintangestellt. Diesmal wurde nach neuen Strategien gesucht, sie brachte unter großem Zeitdruck einen Teil des Geldes selbst auf und erhielt vom Sozialamt nur eine geringe Unterstützung. Im Jahr darauf – gleiche Ausgangslage – wurde sie mit ihrer Bitte um finanzielle Hilfe abgewiesen. Doch während ich die Delogierung diesmal als unausweichlich sah, fand sie trotz allem einen Weg, dieses Schicksal abzuwenden. Sie schaffte es, das Geld auszuborgen und »Wiener Wohnen« zu überzeugen, ihr nochmals eine Chance zu geben. Ein Jahr später war sie wieder bei mir. Diesmal hatte sie einige Fragen im Bezug auf ihren laufenden Pensionsantrag und so quasi nebenbei wurde klar, dass sie wieder mal wenige Tage vor der Delogierung stand. Natürlich sei sie nervös, meinte sie. Aber sie sei sich doch sicher, das Ganze noch im Griff zu haben. Sie werde diesmal mit ihrer Bank sprechen und danach mit »Wiener Wohnen«. Es werde schon eine Lösung geben. Das Sozialamt brauche sie nicht mehr dazu. Beeindruckt von ihrer Haltung, erklärte ich ihr, dass sie die einzige Person sei, die ich kenne, die in so einer Situation bereits zum wiederholten Male solch eine Gelassenheit zeige. Sie fühlte sich geschmeichelt. Es stellte sich heraus, dass solche Ungewissheiten ihr zwar durchaus schlaflose Nächte bereiteten, sie dadurch andererseits aber ziemliche Energien mobilisieren konnte und dann über ein erstaunliches Verhandlungsgeschick verfügte. Es hatte ganz den Anschein, als liebe sie diese Aufregung in ihrem Leben und als sei die Tatsache, ein Unglück im letzten Moment abwenden zu können, für sie eine große Selbstbestätigung. Da sie an ihrer Situation nichts verändern wollte, wünschte ich ihr – trotz meiner offen geäußerten Bedenken – alles Gute. Sie wisse ja bereits, worauf sie sich einlasse. Anlass zur Sorge sei durchaus berechtigt. Schließlich sei ihre Zahlungsmoral eine ziemliche Gratwanderung. Und es sei nicht auszuschließen, dass »Wiener Wohnen« sich dazu entschließe, keinen weiteren Delogierungsaufschub zu gewähren. Sollte ihr der ganze Stress daher doch noch zuviel werden, könne sie sich gerne an mich wenden, um eine

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neue Zahlungsstrategie zu überlegen oder schlimmstenfalls einige Informationen über Hilfsangebote bei Obdachlosigkeit einzuholen. Bis dahin aber wünsche ich ihr viel Kraft und Energie. Mit dieser meiner abschließenden Rede war sie höchst zufrieden und es bleibt abzuwarten, wie sie sich im nächsten Jahr entscheiden wird. Frage nach Ausnahmen oder »Der Parade-Vater« Ein anderer Mietrückstand, eine anderer Ausschnitt einer Lebensgeschichte: Herr W., 39 Jahre alt, eine schreckliche Kindheit hinter sich, vorbestraft, geschieden, mit einem Einkommen, dass aufgrund seiner Alimentationsverpflichtungen weit unter dem Existenzminimum lag. Er war mit seiner Erzählung gerade am Tiefpunkt seines Lebens angekommen, als ich ihn danach fragte, wie er so eine Situation nur aushalten könne und wie es gekommen sei, dass er sich nicht schon längst von der nächsten Brücke gestürzt habe. Einigermaßen überrascht und aus dem Konzept gebracht, begann er nachzudenken, und plötzlich wurden seine Gesichtszüge weich und ihm fiel seine kleine uneheliche Tochter ein. Ihr wollte er ein guter Vater sein. Sie sollte es einmal besser haben. Für sie würde er auch in Zukunft weiterkämpfen und war bereit, alles daran zu setzen, um ein Vorbild für sie zu werden und ihr zu zeigen, dass man niemals aufzugeben brauche. Wir überlegten gemeinsam, wie wohl so ein Parade-Vater aussehen sollte und welche der positiven Seiten wohl realistisch gesehen von ihm verwirklicht werden könnten. Mittlerweile hat Herr W. seine Mietzahlungen großteils wieder im Griff, ist dabei, eine Ausbildung nachzuholen und sein Leben in neue Bahnen zu lenken. Ab und zu gibt’s einen »Rückfall«, seine finanzielle Situation ist immer noch schlecht, die Fixkosten immer noch fast so hoch wie sein Notstandshilfenbezug3 und trotz Wechsel in eine günstigere Wohnung und Verzicht auf jeglichen »Luxus« wie Telefon, Kabelfernsehen, neue Kleidung usw. wird sich ohne einen gut bezahlten Job nichts dran ändern. Und doch scheinen seine Alarmglocken nun früher zu läuten, so dass er größere Katastrophen immer noch rechtzeitig abwenden kann. Sein Ziel hat er auch ein Jahr nach unserem ersten Gespräch noch vor Augen, der Kontakt zur Tochter ist gut und scheint ihm nach wie vor Kraft und genug Motivation zu geben, seinen Weg weiterzugehen. Wahrscheinlich gäbe es noch eine Reihe anderer Begebenheiten, die hier aufzuzählen wären. Geglückte und auch missglückte Begebenheiten, die den Arbeitsalltag abwechslungsreich und spannend gestaltet haben und dazu beigetragen haben, die eigenen Interventionstechniken zu verfeinern und zu erweitern. Und so geht die Suche nach neuen Ideen immer weiter. Es gibt eben noch vieles hier zu sehen …

3 Ähnlich der Sozialhilfe in Deutschland.

Zusammenfassung

Abschließend möchten wir noch einmal den von uns verwendeten Systembegriff sowie die Kernpunkte unseres Verständnisses von Systemischer Sozialarbeit umreißen in der Hoffnung, dass deren Anwendbarkeit in der Verbindung mit Methoden und Anwendungsmöglichkeiten für unsere Leser greifbar geworden sind. Im zusammenfassenden Rückbezug auf die grundlegende Theorie wollen wir verdeutlichen, dass Handeln ohne Theorie nicht möglich ist (und professionelles Handeln nicht ohne reflektierte Theorie) und Theorie bezugslos bleibt ohne jene logische Stringenz, die ihre handlungsleitende Nutzbarkeit erst ermöglicht. Unser Systembegriff orientiert sich an: – dem konstruktivistischen Paradigma, dass »Existenz« verstanden wird als sich selbst aufrechterhaltende rekursive Schleife zwischen der Erfindung einer Welt und deren Funktionieren für die, die sie erfunden hat. Eine existenzfähige »Wirklichkeit« ist in sich schlüssig, nicht aber beweisbar. – der zirkulären Selbstherstellung und Selbsterhaltung von Prozessen: Die Aufrechterhaltung von Phänomenen – also die Erzeugung von Dauer – ist eine Frage der Wechselwirkung zwischen dem Phänomen und seiner Umwelt, also eine dynamische Angelegenheit. – einem Verständnis von »System«, das sich ausschließlich auf eine erkennbare Struktur bezieht (siehe Tanzflächen-Beispiel, S. 28 ff.). Logisch betrachtet ist eine erkennbare Struktur natürlich ein Ausnahmefall gegenüber den viel häufigeren »Nichtbegegnungen«. Trotzdem erscheint dem Menschen dieser Fall als der normale, weil eine solche sich selbst am Leben erhaltende Struktur von dem Moment an, in dem sie entsteht, sich ununterbrochen selbst reproduziert. Das heißt, sie ist beobachtbar und beschreibbar. Ein System nennen wir dementsprechend eine Abgrenzung, die situativ funktional praktisch ist: Praktisch heißt, dass es für Untersuchung und Handhabung nützlich erscheint, die Interaktionen innerhalb des Systems von denen mit der Umwelt zu unterscheiden. – in klarem Gegensatz zu Schulen Luhmann’scher Prägung und damit zu weiten Teilen der deutschen Literatur zur Systemischen Sozialarbeit weisen wir jede Definition von »System« aufgrund inhaltlicher Kriterien zurück. Für uns ist »System« ein definitorisches Konstrukt, das eine erkennbare Struktur in einer den Wahrnehmenden nützlich erscheinenden Weise zusammenfasst und das jeweils für bestimmte Zwecke definiert wird. – einer Vorstellung von Beobachtung, die den Beobachter und Intervenierenden selbst als Teil des Systems betrachtet und nicht als reflektierenden Außenstehenden: Der Beobachter ist selbst immer schon Mitspieler und muss seine In-

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Zusammenfassung

terventionen ganz darauf abstimmen, dass er mitbestimmendes Mitglied des Systems ist. – einer Vorstellung von sozialem »Problem«, die – der Vorstellung von Existenz entsprechend – bedeutet, dass sich ein Interaktionsmuster eingespielt und fixiert hat, das den Austausch von negativer Bewertung beinhaltet. – einem Verständnis von Intervention, das auf relevante Veränderungen in solchen Interaktionsmustern rekurriert. Wenn man an einem Phänomen oder seiner Umwelt relevante Veränderungen vornimmt, verändern sich alle Teile. Eine gezielte Steuerung ist zwar nicht möglich: Aufgrund der inneren Struktur des Systems entwickelt sich das System nach seinen eigenen, inneren Möglichkeiten und »experimentiert« so lange, bis sich wieder ein homöostatischer Zustand einspielt, ein Zustand also, wo sich uns Erkennbares als konstant zeigt. Trotzdem ist es möglich, »ungezielte« Änderungen einzuführen, was für eine sozialarbeiterische Tätigkeit als ausreichend erscheint, weil es die Fixierung des bisherigen Ablaufes durchbricht (Hilfe zur Selbsthilfe). – einem Verständnis von Intervention, das die Trennung zwischen »unbeteiligten« Beobachtern (Helfern) und beobachteten (zu verändernden) Systemen aufhebt. Die Beobachterin (Helferin) ist immer auch Mitgestaltende der »Wirklichkeiten«, die sie beobachtet, beschreibt und behandelt. Kernpunkte unserer Ausrichtung der Systemischen Sozialarbeit sind: – Sozialarbeiterisches Handeln orientiert sich an den Prinzipien von Zirkularität und Selbstreproduktion, das heißt, wenn eine besondere Form der Kommunikation – nämlich die mit dem Helfer – dazu führen kann, dass das »Problem« vergeht, dann kann das nichts anderes bedeuten, als dass die bis dahin stattgefundene »gewöhnliche« Kommunikation entscheidend daran beteiligt war, das »Problem« aufrechtzuerhalten. Daher liegt ein besonderer Fokus auf der Frage, wie Helfende mithelfen, Probleme zu erhalten bzw. was sie anders machen können. – Das Feld der Sozialarbeit sehen wir als Intervention bei dysfunktionalen Beziehungen zwischen kleinen und großen Systemen – Beziehungen also, in denen der überwiegende Anteil der Energien für die Auseinandersetzung mit der Beziehung verbraucht wird und die zu einem guten Teil aus einem endlosen Kampf um ihre Veränderung bestehen. – Hier wird der systemische Ansatz für Sozialarbeit deutlich: Das Ziel – um es allgemein zu fassen – liegt darin, für Beziehungsmuster, die als problematisch empfunden werden, Veränderung zu ermöglichen. – Folgerichtig verwerfen wir jede pädagogische oder karitative Begründung von Sozialarbeit. Sozialarbeit bedarf vielmehr des gesellschaftlichen Grundkonsenses der Sozialstaatlichkeit, das heißt dem Anspruch aller Staatsbürger und Staatsbürgerinnen auf soziale Absicherung. Die Verwirklichung dieses Anspruchs ist in dysfunktionalen, eskalierenden Konflikten jedes Mal gefährdet. In einer Gesellschaft mit hochspezialisierter Funktionsteilung erscheint es nun durchaus sinnvoll, für die Lösung solcher Konflikte, in denen das Grundrecht

Zusammenfassung

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auf menschenwürdiges Dasein Einzelner oder kleiner Subgruppen gefährdet ist, Fachleute auszubilden und im Rahmen entsprechender Institutionen einzusetzen. Diese Fachleute sind die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen. Dieses Buch beschreibt unsere Theorie anhand des Anwendungsfeldes Sozialarbeit. Es dürfte aber bereits deutlich geworden sein, dass unser handlungsleitendes systemtheoretisches Konzept grundlegender Natur ist. Folgerichtig entwickelt sich der Ansatz bereits seit einigen Jahren über das Feld der Sozialarbeit hinaus und findet Niederschlag in systemischer Beratung und Supervision sowie in Konzepten des systemischen Managing Diversity1. Wie jede brauchbare Theorie muss auch das Wiener Modell der Systemischen Sozialarbeit seine wissenschaftliche Stringenz in den Wirrungen und Widersprüchen diverser Praxisfelder beweisen. Es sind die Sozialarbeiter und Beraterinnen, die die handlungsleitende Kohärenz der Theorie immer wieder in ihrer Arbeit überprüfen. Wenn sie das vorliegende Buch für die reflexive Überprüfung ihrer alltäglichen (Arbeits-)Erfahrungen nützen können, hat es seinen Zweck erfüllt.

1 Siehe dazu etwa Judy (2005).

Dank

Ich danke allen, die mir geholfen haben: Anneli Arnold, mit der gemeinsam ich die Ausbildung für Systemische Sozialarbeit aufgebaut habe, Bernhard Lehr und Ursula Mayer, mit denen gemeinsam ich den Verein für Systemische Sozialarbeit, Beratung und Supervision gründen konnte, Johannes Herwig-Lempp, der fand, dass eine weitere Auflage dieses Buches gebraucht werde, Günter Presting, der mich zu einer gründlichen Überarbeitung zwang, und meine Frau und Kollegin Michaela Judy, die mich moralisch, stilistisch und inhaltlich durch die ganze Überarbeitung »getragen« hat. Außerdem vielen Klientinnen, Supervisandinnen und Kolleginnen, von und mit denen ich gelernt habe.

Literatur

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Psychosozial und systemisch Johannes Herwig-Lempp Ressourcenorientierte Teamarbeit

Wolf Ritscher Soziale Arbeit: systemisch

Systemische Praxis der kollegialen Beratung. Ein Lern- und Übungsbuch

Ein Konzept und seine Anwendung

2., durchgesehene Auflage 2009. 253 Seiten mit 10 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-46197-6

»Selten ein Buch, in dem alle im Titel vorkommenden Schlüsselbegriffe so brauchbar und alltagstauglich umgesetzt sind wie in diesem konsequent ressourcenorientierten Buch zur kollegialen Teamberatung.« Systhema

Sigrid Haselmann Psychosoziale Arbeit in der Psychiatrie – systemisch oder subjektorientiert? Ein Lehrbuch 2008. 399 Seiten mit 6 Abb. und 20 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-49138-6

Sigrid Haselmann stellt innovative Modelle psychiatrisch-psychosozialer Arbeit vor und schafft damit einen praxisnahen Orientierungsrahmen, der Maßstäbe setzt.

Peter Bünder / Annegret SirringhausBünder / Angela Helfer Lehrbuch der Marte-Meo-Methode Entwicklungsförderung mit Videounterstützung Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe. 2009. 410 Seiten mit 21 Abb. und 14 Tab. sowie einer DVD, gebunden ISBN 978-3-525-40206-1

Wie und wo funktioniert Marte-Meo?

Unter Mitarbeit von Jürgen Armbruster, Elsbeth Lay und Gabriele Rein. 2007. 180 Seiten mit 22 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-49101-0

Das Buch bietet eine Verknüpfung von Theorien, Handlungskonzepten, Methoden und Praxisbeispielen und ist somit eine Orientierungshilfe für Sozialarbeiter und andere im psychosozialen Feld. »Dieses Buch ist ein Muss für alle Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen, die sich systemisch fort- oder weiterbilden wollen und sich nicht therapeutisch vereinnahmen lassen möchten. Ein längst überfälliges Werk.« Detlef Rüsch, Sozialmagazin

Herbert Eberhart / Paolo J. Knill Lösungskunst Lehrbuch der kunst- und ressourcenorientierten Arbeit Mit einem Vorwort von Jürgen Kriz. 2009. 267 Seiten mit 1 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40159-0

Ressourcen- und lösungsorientiertes Arbeiten und künstlerische Verfahren lassen sich gut unter systemischen Gesichtspunkten kombinieren. Die Methode des Dezentrierens ist Kern dieses erstmals umfassend präsentierten Ansatzes.