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German Pages 278 Year 2019
Leon Gabriel, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.) Das Denken der Bühne
Theater | Band 109
Leon Gabriel (Dr. des.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. 2017 wurde er am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt mit der Arbeit »Bühnen der Altermundialität: Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis« promoviert. Nikolaus Müller-Schöll (Prof. Dr.) ist Professor für Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main und zugleich Leiter der Masterstudiengänge Dramaturgie sowie Comparative Dramaturgy and Performance Research. Er habilitierte an der Ruhr-Universität Bochum in Theaterwissenschaft und lehrte u.a. in Hamburg, Gießen, Florianopolis und Rom. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Spannungsfeld zwischen Theater, Literatur, Philosophie und Politik.
Leon Gabriel, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.)
Das Denken der Bühne Szenen zwischen Theater und Philosophie
Die Herausgeber danken folgenden Förderern und Kooperationspartnern: Der Goethe-Universität Frankfurt, der DFG, dem Verein der Freunde und Förderer der Goethe-Universität, der Stiftung zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Goethe-Universität, dem DAAD, dem Künstlerhaus Mousonturm, dem Department for Theatre Arts der Tel Aviv University und The Forsythe Company.
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Inhalt
Vorwort | 7
SHAKESPEARES THEATERDENKEN The Merchant of Venice (Auszug)
William Shakespeare | 23 „When mercy seasons justice“ Vorbemerkung zu einer Vorlesung Jacques Derridas
Nikolaus Müller-Schöll | 29 Was ist eine „relevante“ Übersetzung? (Auszug)
Jacques Derrida | 33
NACH BRECHT UND BENJAMIN Über Theater überhaupt und das Theater des Menschen Benjamin, Brecht, Derrida, Le Roy
Nikolaus Müller-Schöll | 59 Die Bühne mit der Bühne denken Zu Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor und Brechts Der Messingkauf
Lydia J. White | 81 Besessen vom Theater Der Dibbuk am Habima Theater Moskau (1922)
Freddie Rokem | 95 (Musik-)Dramaturgische Verfremdungen Zur Aktualität von Brechts Naturalismuskritik
Tore Vagn Lid | 117
SZENISCHE KONSTELLATIONEN Die Bühne des Denkens Über den Dialog von Manes und Empedokles in Hölderlins Empedokles auf dem Ätna
Jörn Etzold | 137 Zur Dekonstruktion der Bühne bei Antonin Artaud
Timo Ogrzal | 155 Heideggers Schweigen vom Theater
Marten Weise | 167 Konstellationen denken
Ulrike Haß | 181
ANDERE CHRONOTOPOGRAPHIEN „Hold your breath against time“ Zum Denken einer Widerständigkeit der Zeit bei William Kentridge
Julia Schade | 201 Was heißt: sich im Tanzen orientieren? Zwei verschiedene Denkweisen auf der Bühne
Leonie Otto | 215 Entzug und Bezug Das Theater der Affizierbarkeit in Walid Raads Scratching on Things I Could Disavow
Leon Gabriel | 229
CHORA UND TOPOS Die denkende Bühne
Samuel Weber | 249 Autorinnen und Autoren | 273
Vorwort
D ER D ENKENDE AUF DER B ÜHNE Einen ersten, zumindest einen ersten expliziten Auftritt auf der Bühne hat „DER DENKENDE“ in einem Stückprojekt Bertolt Brechts mit dem Titel „Aus nichts wird nichts“ aus den Jahren 1929/1930.1 Das einmal als „Lustspiel“ oder „Komödie“2 angekündigte Stück ist Fragment geblieben und worüber es hätte handeln sollen, lässt sich aus den überlieferten Notizen lediglich erahnen. Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann schrieb darüber, dass es „nicht die Geschichte eines produktiven Aufstiegs, sondern einer unproduktiven Karriere sein sollte“3, und aus den Szenenfragmenten und Kommentaren kann man schließen, dass der Aufstieg und Fall des Rinderhirten Bogderkhan erzählt werden sollte. Das zentrale Anliegen des Stückes scheint aber zu sein: den Einzelnen nicht länger anders als von der mit ihm zusammen erscheinenden Masse her zu begreifen, die ihn prägt und aus der er allererst seine Funktion erhält. „Ihr wißt, wie es mit Masken ist.“, schreibt Brecht an einer Stelle, an der er vermutlich einen Rollentext und möglicherweise einen für den „Denkenden“ formuliert, und fährt fort: Denkt euch, ihr spielt ein Spiel, in dem keiner die Maske kennt, die er aufhat. Wie soll er nun erkennen, wen er darstellt. Nur aus dem Verhalten der andern erkennt er, wer
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Brecht, Bertolt: „Aus nichts wird nichts“, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 10,1: Stücke 10. Stückfragmente und Stückprojekte. Teil 1. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1997, S. 679-718. (= Brecht, 1997a) Vgl. dazu auch den Herausgeberkommentar in: GBFA. Bd. 10,2: Stücke 10. Stückfragmente und Stückprojekte. Teil 2. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1997, S. 11911197. (= Brecht, 1997b)
2
Vgl. ebd., S. 1191.
3
Ebd., S. 1192.
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| Leon Gabriel & Nikolaus Müller-Schöll er ist. Zunächst passen seine Bewegungen zu ihm, aber nicht zu der Maske. Er selber aber ist nicht. Bald seht ihr seine Bewegungen so werden, daß sie zu der Maske passen. So entsteht er4
Was Brecht hier imaginiert bzw. einem Sprechenden in den Mund legt, könnte als Theater begriffen werden, das den Einzelnen radikal von jeder ontologischen Vorannahme getrennt zeigt, ohne Selbst und ohne Sein – „Er selber aber ist nicht“ – und seine Rolle erst aus dem Zusammenspiel mit anderen entstehen lässt. Es kehrt gleichsam die geläufige Vorstellung des Ausdrucks eines Inneren um und setzt so in Szene, wie Brecht sich den Übergang vom geläufigen Theater zu jenem radikal anderen Theater vorgestellt haben mag, an dem er unter dem Begriff des „Lehrstücks“ zu dieser Zeit arbeitet. Dieses soll seinen Platz, wie man an anderer Stelle des Fragments liest, in einer zukünftigen „Große[n] Pädagogik“ erhalten, die „die Rolle des Spielens vollständig“ verändert: „Sie hebt das System Spieler und Zuschauer auf. Sie kennt nur mehr Spieler, die zugleich Studierende sind.“5 Brechts so beschriebene Form des „Lehrstücks“ kann zunächst einmal als Variante eines „Theater[s] für sich“ betrachtet werden, wie man die avisierte Aufhebung der Trennung von Spielern und Zuschauern mit Nikolaj Evreinovs Formel paraphrasieren könnte.6 Mit dem, was in Brechts Gegenwart und bis heute auf den Bühnen der existierenden Theater sich abspielt, hat es wenig gemein. Es ist vielmehr ein radikal zukünftiges Theater, für eine Gesellschaft, die vorzustellen Brecht sich kategorisch verbot. „ich brauche die wirkliche reale revolution, kurz ich darf nur bis dahin denken, wo die revolution beginnt, ich muß die revolution aussparen in meinem denken“7, beschreibt er in der Tradition von Marx seine Position dazu in einer Diskussion mit Walter Benjamin und weiteren Freunden im Jahr 1931. Immerhin scheint für Brecht aber ausgemacht, dass im Theater der unbekannten Zukunft nach einer „wirkliche[n] reale[n] revolution“, für die er eine hier als „groß“, an anderem Ort als „klassenlos“8 bezeichnete „pä-
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Brecht, 1997a, S. 716. [Der Punkt fehlt im Original.] Die Passage kann zwar nicht zweifelsfrei dem Stück zugeordnet werden, wurde aber von den Herausgebern der GBFA dem Fragment aufgrund des Überlieferungszusammenhangs zugeordnet.
5
Vgl. ebd., S. 691.
6
Vgl. Evreinov, Nikolaj: Theater für sich. Hg. von Sylvia Sasse. Zürich/Berlin 2017.
7
Vgl. Dokumente zum Zeitschriftenprojekt „Krise und Kritik“, in: Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.M. 2004, S. 289-327, hier S. 292. (Benjamin-Archiv Ts 2492.)
8
Vgl. ebd., S. 293.
Vorwort
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dagogik“ ersinnt, „nur mehr Spieler, die zugleich Studierende“ sind, auftreten. So hält er nicht nur an der spätestens in der Aufklärung begründeten Nähe des Theaters zu Orten der bürgerlichen Öffentlichkeit fest – in diesem Fall zur Universität, an anderen Orten zu Parlament und Gericht –, sondern auch zur Tradition der Archive, Bibliotheken und Klöster, also der mittelalterlichen, barocken und frühneuzeitlichen Orte des Wissens. Es ist von daher wenig erstaunlich, dass Brecht inmitten der Notizen für ein Stück, das über alle bis dahin geschriebenen hinaus die Form des „Lehrstücks“ als eines rein relationalen Theaters, eines Theaters der reinen Mittelbarkeit, darstellen soll, einen „Denkenden“ auf der Bühne in Szene setzt. Er stellt eine Variante jener Figurationen des Denkenden dar, die Brecht zeitgleich in seinem „Fatzer“ erscheinen lässt, wo man etwa liest: „Um seine Gedanken zu ordnen, liest der Denkende ein Buch, das ihm bekannt ist. In der Schreibweise des Buches denkt er.“9 Als Utopie aus der Vergangenheit wie einer möglichen Zukunft kommt der Denkende im potentiellen Lustspiel „Aus nichts wird nichts“ allerdings zunächst einmal denkbar schlecht weg: Er „singt einen Song und stinkt damit ab“10, er „jongliert mit seinem Haar“11 und er will auch, wie es scheint, gar nicht auf die Bühne – so, wie sie ist, wird aber, wie man in zwei Varianten liest, „auf einem Stuhl“ dorthin geschleppt.12 Die Schauspieler begrüßen ihn, lassen durchblicken, dass Denkende „selten hierher“ 13 kommen und „gescheite Leute“ im Theater nicht denken: „Sie geben ihren Verstand mit dem Hut in der Garderobe ab.“14 Sie wollen gerne für ihn spielen, was immer er sich wünscht. Er will, dass sie „Menschen unter Menschen“ 15 spielen, das „Verhalten der Menschen gegeneinander“16, und im Übrigen will er seine Ruhe. Auch wenn ihm das Theater, wie es ist, nicht zu passen scheint, kann man ihn kaum als Theaterrevolutionär bezeichnen. Eher schon könnte man ihn einen Anhänger der Absorption nennen, denn vor allem soll ihn das Theater nicht beim Denken stören. Beschreibt Brecht die Szenen des Denkers, der auf dem Theater seinen Platz einnehmen soll, auch mit der ihm eigenen Komik, so ist das Thema ihm doch erkennbar ernst. Immer wieder wird er es später aufgreifen: Zunächst und zeit-
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Vgl. Brecht: „Fatzer“, in: GBFA. Bd. 10,1, S. 387-529, hier S. 517. (= Brecht, 1997c)
10 Brecht, 1997a, S. 687. 11 Ebd. 12 Vgl. ebd., S. 692 u. 698. 13 Ebd., S. 693. 14 Ebd., S. 698. 15 Ebd., S. 693. 16 Ebd., S. 698.
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gleich zu „Aus nichts wird nichts“ erscheint er in der Gestalt des Herrn Keuners, der seinen Auftritt im „Fatzer“-Fragment hat, wo er im Lauf des Schreibprozesses die Figur des Kochs ersetzt und die Akzente dabei verschiebt. Später wird er in den „Geschichten vom Herrn Keuner“ Berühmtheit erlangen, deren erste Exemplare Brecht im Jahr 1930 zusammen mit dem Lehrstück „Ozeanflug“, seiner „Radiotheorie“ und Auszügen aus dem „Fatzer“ im ersten Heft der Zeitschrift „Versuche“ veröffentlicht.17 Vor allem aber wird er in der Gestalt des ‚Philosophen‘ wiederkehren, der sieben Jahre später, als neue Variante des Denkenden von 1930, mit ähnlicher Intention wie er, doch mit deutlich größerer Rolle im Theater- und Theoriefragment Der Messingkauf erscheint.18
D AS D ENKEN DER B ÜHNE Das Denken der Bühne im dreifachen Sinne – das Denken der auf irgendeiner Bühne Auftretenden, aber auch das Nachdenken über die Bühne, das Wort dabei verstanden als Synekdoche für das Theater im engeren wie weiteren Sinne und schließlich das Denken, das man als das inhärente der Bühne bzw. dessen, was auf ihr geschieht, bezeichnen könnte –, diese von Brecht gleichermaßen komisch wie despektierlich inszenierte Praxis hat eine lange Vor- und Nachgeschichte. Sie ist der Gegenstand der in diesem Band versammelten Beiträge. Reicht die Vorgeschichte bis zum vielzitierten Topos der Ausweisung der Tragödiendichter aus dem vollkommenen Gemeinwesen bei Platon zurück, so kann die Nachgeschichte bis in gegenwärtige Praktiken des Theaters im engeren wie im weiteren Sinne weiterverfolgt werden, die auf die eine oder andere Weise die Frage anders neu verhandeln, wie sich Theater und Denken zueinander verhalten. Der hier vorgelegte Band geht auf einen konkreten Ausgangspunkt zurück: Er dokumentiert einige Beiträge, die zunächst im Zusammenhang eines internationalen und interdisziplinären Symposiums zum Thema „Thinking on/of the Stage“ vorgestellt wurden, das vom 26.-29. September 2013 im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt stattfand. Ausgangspunkt des Symposiums war das Verhältnis von Theater und Denken unter besonderer Berücksichtigung von drei historischen Konstellationen. Zum ersten von der Begegnung Walter Benjamins und Bertolt Brechts zu Beginn der 30er-Jahre, in deren Zusammenhang Brechts
17 Vgl. Brecht, Bertolt: Versuche 1-12. Heft 1. Berlin/Frankfurt a.M. 1959, S. 5-41. 18 Brecht, Bertolt: Der Messingkauf, in: ders.: GBFA Bd. 22,2: Schriften 2. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1993, S. 695-869.
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Vorstellung vom auf die Bühne gebrachten Denkenden ein erstes philosophisches Echo gefunden hat, und deren vielfach gebrochener Fortführung in Brechts Der Messingkauf. Zum zweiten von den einander korrespondierenden Redeweisen von Theater als einer Form des szenischen Denkens und von Philosophie als einer Form des Archi-Theaters.19 Und schließlich zum dritten ausgehend von einer wiederkehrenden Beschreibung gegenwärtiger Praktiken des Theaters, des Tanzes und der Choreographie als Denken auf der Bühne. Mit Blick auf die jüngere und jüngste internationale Forschung zum Verhältnis von Theater und Philosophie, die sich in zahlreichen Tagungen zum Thema, in der Gründung der internationalen Plattform Performance Philosophy und in der Rede von einem Philosophical Turn in der Theaterwissenschaft niedergeschlagen hat, wurde ausgehend von diesen drei konkreten Bezugspunkten das Verhältnis von Theater und Denken innerhalb des größeren Zusammenhangs der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theater bzw. Theorie und szenischer Praxis untersucht. Jahrzehnte nach der Annäherung von Theater und Theorie, für die geradezu paradigmatisch die ebenso enge wie konfliktreiche Zusammenarbeit von Brecht und Benjamin stehen kann, stellten sich die dabei aufgeworfenen Fragen auf andere Weise neu: Was heißt es, szenische Forschung als Denken zu begreifen? Und was folgt andererseits aus der speziell die Theorie in Frankreich und den USA bewegenden Frage nach dem jedem Denken eigenen Theater bzw. nach dessen Theatralität? Als Denken auf der Bühne begriff in den vergangenen drei Jahrzehnten eine ganze Reihe von Theatermachern aller Sparten die eigene Praxis. Zu nennen wären hier Choreograph*innen wie William Forsythe, Jerôme Bel, Xavier Le Roy, Wanda Golonka, Meg Stuart oder Laurent Chétouane, aber auch Theatermacher*innen wie René Pollesch, Jean Jourdheuil, Ruth Kanner,
19 Vgl. u.a. Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jean-Luc: „Dialog über den Dialog“, in: Gerstemier, Joachim/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Politik der Vorstellung. Theater und Theorie. Berlin 2006, S. 20-45; Lehmann, Hans-Thies: „Das Denken der Tragödie“, in: Böhler, Arno/Granzer, Susanne (Hg.): Ereignis Denken – TheatRealität, Performanz, Ereignis. Wien 2009, S. 33-46; Müller-Schöll, Nikolaus: „Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane“, in: Lenger, Hans-Joachim/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Mnema. Derrida zum Andenken. Bielefeld 2007, S. 187-208; Nancy, Jean-Luc: „Theaterkörper“, in: Müller-Schöll, Nikolaus/Schallenberg, André/Zimmermann, Mayte (Hg.): Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert. Berlin 2012, S. 158-171; Puchner, Martin: The Drama of Ideas: Platonic Provocations in Theater and Philosophy. Oxford 2010; Rokem, Freddie: TheaterDenken: Begegnungen und Konstellationen zwischen Philosophen und Theatermachern. Berlin 2017; Weber, Samuel: Benjamin’s -abilities. Harvard 2008.
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Boris Nikitin und Christoph Schlingensief oder Performance-Künstler*innen wie Walid Raad, Rabih Mroué, Jonathan Burrows, Ivana Müller und Jan Ritsema. 20 Was aber sollte die Rede von einem denkenden Theater genau ausdrücken? Handelte es sich dabei um eine bloße Metapher? Und wenn nicht: Wann wird dort gedacht? Wer denkt? Auf welche Weise? Kurz gefasst: Wie denkt Theater? Speziell der Philosoph Jacques Derrida hat immer wieder konstatiert, dass das Denken nicht ablösbar ist von einer Bühne, einem Theater des Denkens: Auf der Bühne zu denken bedeutet diesen unglaublichen Raum (zu denken), wo das Wissen sich kein Urteil darüber anmaßen kann, was das Gegenwärtige und was das Anwesende ist. Und kein Urteil darüber, was auf der Bühne unter ihrem Mantel der Sichtbarkeit präsent ist. […] Ich für meinen Teil würde eher für eine theatralische Dimension in der Philosophie plädieren, um die Gegensätzlichkeit zwischen Theater und Philosophie, und sei sie chiastisch, ein bißchen zu verwischen.21
Diese pars pro toto hier ausgewählte Äußerung findet ihr Echo in einer ganzen Reihe ähnlicher Äußerungen in anderen Texten Derridas. Kann man das Symposium des Jahres 2013 als wichtigen Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes bezeichnen, so reduziert sich dieser doch nicht darauf, deren Dokumentation zu sein. Vielmehr enthält er Beiträge aus dem engeren und zum Teil weiteren Umfeld der Frankfurter Theaterforschung, die man als Fortschreibung, Weiter- und Umdenken der Beiträge der Tagung begreifen kann, an der ein großer Teil der Autor*innen des vorliegenden Bandes in der einen oder anderen Form teilgenommen hat: Als Co-Organisator*innen, Respondent*innen, Beitragende oder Diskussionspartner*innen. So dokumentiert der Band in der jetzt vorgelegten Form zunächst einmal eine Art von Netzwerk derer, mit denen und von deren Arbeit aus in den vergangenen Jahren in Frankfurt darüber nachgedacht wurde, was ein Denken der Bühne sein könnte: Inspiriert und motiviert von einer Denktradition der Frankfurter Schule wie des selbst von der deutschen wie französischen phänomenologischen Tradition geprägten Denkens des Poststrukturalismus, verbindet die Beiträge das Interesse an einer Verknüpfung von
20 Vgl. u.a. Schulze, Janine/ Traub, Susanne (Hg.): Moving Thoughts – Tanz ist Denken. Berlin 2003; Siegmund, Gerald: William Forsythe: Denken in Bewegung. Berlin 2004; Müller-Schöll, Nikolaus: „Wie denkt Theater? Zur Politik der Darstellung nach dem Fall“, in: Pelka, Artur/Tigges, Stefan (Hg.): Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945. Bielefeld 2011, S. 357-372. 21 Derrida, Jacques: „Der Akt des Opferns“, in: schauspielfrankfurt. Zeitung 01, Spielzeit 02/03, S. 3-4, hier S. 4.
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Theorie und Theater, bei der weder das Theater zur bloßen Illustration von Theorie degradiert, noch die Theorie zur Aufwertung einer per se nicht genügend relevant erscheinenden Praxis herbeigezogen wird. Der Praxis des Theaters wird vielmehr bei aller Unterschiedlichkeit der hier versammelten Beiträge in jedem Fall eine Form der inhärenten Theorie zugeschrieben, die nicht in Begriffen formuliert, gleichwohl in Begriffe übersetzt werden kann – mit allen bei jeder Übersetzung auftretenden Problemen und Aporien. Nikolaus Müller-Schöll
S ZENEN ZWISCHEN T HEATER UND P HILOSOPHIE An Szenen, in denen Theater in der Philosophie eine prominente Rolle einnimmt und zur zentralen Metapher erhoben wird, mangelt es ebenso wenig wie an der Verhandlung von philosophischen Fragen im Theater, vor allem in dramatischen Texten. Was aber ist die Besonderheit eines szenischen Denkens? Wo lässt sich davon sprechen, dass eine Bühne einen Denkvorgang entwirft oder in diesen verwickelt ist? Der vorliegende Band geht diesen Fragen in unterschiedlichen Schlaglichtern nach und entwirft dabei zugleich eine Linie, die neben dem Bezug von Brecht-Benjamin zur Dekonstruktion und wiederum dieser Konstellation zum Theater auch das Verhältnis von Sprache, Denken und Bühne auslotet. Der Zusammenhang von Sprache und Denken, wie er in der oben eingeführten Thematik der Übersetzung erscheint, hat so den Forschungskontext der Frankfurter Theaterwissenschaft und diesen Band begleitet. In Benjamins handschriftlichen Notizen zu seinem Text „Kommentare zu Gedichten von Brecht“22 finden sich fünf Notizen zu den beiden Versionen von „Was ist das epische Theater“23. Über den Denkenden Keuner schreibt er hier: Herkunft von Herrn Keuner Sie hatten einen Lehrer, den einzigen, wie Brecht sagt, bei dem sie etwas gelernt haben, obwohl er ihnen garnichts [sic] beibrachte. Er war nämlich der Feind. Und so
22 Benjamin, Walter: „Nachtrag zu den Brecht Kommentaren“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VII,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 347-349. 23 Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1 und 2)“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 519-531
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| Leon Gabriel & Nikolaus Müller-Schöll hieß er auch. An ihm entwickelte die Klasse die Künste, die man später im Leben gegen die Widersacher so nötig braucht. Dieser Mann also vertauschte in der Aussprache regelmäßig die „eu-“ und „ei-“Laute. Über ihn lief der Spottsatz um „Die alten Germanen meusselten ihre Zeuchen in Steuneuchen.“ Nach dieser Redeweise wurde Keiner – denn „Keiner“ oντις ist bei Brecht ursprünglich der Name des Denkenden – zu Keuner. Dieser Name klingt nun merkwürdigerweise sehr an das griechische koin[ē] an – und das ist ja auch in der Ordnung, denn das Denken ist das Gemeinsame.24
Der Niemand Keuner (von Benjamin in Nähe zu Odysseus’ selbstgewähltem Pseudonym als oντις ‚No Man‘/‚Niemand‘ bei den Zyklopen gebracht) weist so auf die Gemeinsprache koinē hin. Für Benjamin treten Denken und Sprache in ein gemeinsames Verhältnis und erscheinen beide zunächst als „das Gemeinsame“. Doch dieses Gemeinsame ist nicht ein Gegebenes, sondern vielmehr ein Offenes, da weder Denken noch Sprache ein widerspruchsfreies oder unhinterfragbares Fundament bieten. Denken als Gemeinsames ist, folgt man der Logik von Benjamins Kommentar, wie die Sprache gemeinsam nur in der Teilung zwischen uns als das, was geteilt wird und was zugleich verbindet und trennt sowie die vermeintliche Einheit unterbricht. Das betrifft auch die vermeintliche Einheit der adaequatio intellectu et rei, denn Denken und Sprechen ist eine konstitutive Uneinholbarkeit gemein, die Sprechen und Denken mehr und anderes sein lassen als Aktivitäten eines sich darin nur mehr ausdrückenden Subjektes: Ein Offenes, ein Außen oder eine Verräumlichung, wie es sich bei Martin Heidegger, Jacques Derrida oder bei Michel Foucault findet. Aber auch Hannah Arendt beschreibt diese Unterscheidung, wenn sie die Doppelung einer zwar weltschaffenden und verwirklichenden Möglichkeit des Menschen in der Moderne dank der Naturwissenschaften betont, die aber davon eingeholt wird, daß die volle Ausnutzung gerade seines weltschaffenden Vermögens den Menschen in das Gefängnis seiner selbst, seines eigenen Denkvermögens verweist, ihn unerbittlich auf sich selbst zurückverwirft, ihn gleichsam in die Grenzen seiner selbstgeschaffenen Systeme sperrt.25
24 Benjamin, Walter: „Anmerkungen zu ‚Nachtrag zu den Brecht Kommentaren‘“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VII,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 654-660, hier S. 655. 25 Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München 2013, S. 365f.
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Die Durchsetzung eines Denkens, das sich in Form von Wissenschaft und Technik primär durch seinen herstellenden Charakter auszeichnet, wird so zu einem in sich geschlossenen System. Diesen „Zwängen des instrumentellen Denkens“ allerdings, so Werner Hamacher Adorno paraphrasierend, lässt sich nicht einfach entkommen, vielmehr gilt es, „die Bauten des Gedachten abzutragen, um aus ihren Konstruktionsprinzipien diejenigen Momente zu erschließen, die sich am hartnäckigsten einem anderen Denken widersetzen“.26 Im Anschluß an diese Überlegungen wäre Keuner als Figur einer, der in der Gewordenheit des Gedachten den Widerstand gegenüber einem anderen Denken, mithin auch dessen Schwierigkeiten verhandelt. Ähnlich heißt es bei Foucault in Abgrenzung vom Denken der Moderne, dessen Konstruktion des Menschen er auch als „empirisch-transzendentale[...] Dublette“27 bezeichnet: Das Denken des Denkens – eine ganze Tradition, die sich nicht auf die Philosophie beschränkt, hat es uns gelehrt – führt in die tiefste Innerlichkeit. Das Sprechen des Sprechens führt uns in die Literatur, aber vielleicht auch auf anderen Wegen, in jenes Außen, in dem das sprechende Subjekt verschwindet.28
Dem ‚Denken des Denkens‘ als Innerlichkeit und Zwangsfolgern wird so das Denken des Außen – oder wie sich auch sagen ließe: das Sprechen des Außen bzw. das Denken der Sprache – entgegengestellt. Szenische Spuren eines solchen Denkens des Außen, das nur allzu schnell allein unter dem Zeichen des Wahnsinns summiert wurde, ließen sich u.a. in Georg Büchners Texten finden, ebenso in denen Heinrich von Kleists, Gertrude Steins oder Elfriede Jelineks.
B ÜHNEN DES D ENKENS Wenn Denken also vielmehr sowohl im Offenen als auch im Zeichen seiner Bedingungen stattfindet, so stellt dies immer auch die Frage nach dem, was Teil dieses Denkens ist: Wie erscheint solches Denken auf seiner jeweiligen Bühne?
26 Vgl.: Hamacher, Werner: „REPARATIONEN (1984)“, in: Balke, Friedrich/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (Hg.): Mediengeschichte nach Friedrich Kittler. München 2013, S. 11-25. 27 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1974, S. 385. 28 Foucault, Michel: „Das Denken des Außen“, in: ders.: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a.M. 1987, S. 46-68, hier S. 48.
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Welche Ausschlüsse verhandelt es?29 Welches Material und welches Medium – kurz: welche Darstellung – ist unlösbar in dieses Denken verwickelt? Gegen ein Denken als logisches Folgern erörtert Foucault in einer seiner letzten Vorlesungen am Collège de France „die moderne anti-platonische und antiaristotelische Kunst“, durch „die jede aufgestellte, deduktiv oder induktiv abgeleitete, aus jeder der vorangehenden Handlungen erschlossene Regel unablässig durch die nachfolgende Handlung abgelehnt oder verworfen wird“. 30 In ihrer Praxis denkt Kunst sich und ihre Bedingungen jedesmal neu: „In jeder Form der Kunst gibt es eine Art von ständigem Kynismus gegenüber jeder etablierten Form.“31 Kynismus wiederum ist nach Foucault weniger eine Lehre, denn vielmehr eine „Haltung und Seinsweise“.32 Diese Überlegungen, von Foucault übrigens nur als vorläufig, unzureichend und skizzenhaft charakterisiert, verweisen auf den Zusammenhang von Theorie und Praxis, dort nämlich, wo sich Theorie nicht als reines Denken begreift, sondern Denken vielmehr selbst in Erscheinung tritt und als eine Praxis des „Miterscheinens“33 verstanden werden kann: „als Berührung von Theorie und Praxis im Modus der Teilung“, d.h. als das „wechselseitige Kontaminieren und Kommentieren“.34 Ohne ein auf Les- und Sichtbarkeit abzielendes telos und skopos heißt Denken dann nicht mehr (oder zumindest nicht mehr ausschließlich) „ins Schwarze treffen, den Punkt machen: zielen“35. Vielmehr verändern Bühnen des Denkens vermeintliche Zielsetzungen und Fixierungen, weil sie Denk- und Undenkbares ebenso wie Zeigen und Entzug, Sicht- und Unsichtbares verschränken.
29 Zu nennen sind hier neben Foucaults diversen Lektüren von Sophokles’ Ödipus besonders die Infragestellungen des Ungedachten und des Außen der politischen Erscheinungsräume in Judith Butlers Auseinandersetzung mit Antigone. Vgl. u.a. Foucault, Michel: Die Wahrheit und die juristischen Formen. Frankfurt a.M. 2003, S. 40-51; Butler, Judith: Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt a.M. 2001, v.a. S. 13ff u. 130f. 30 Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesungen am Collège de France 1983/83. Frankfurt a.M. 2010, S. 248. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 234. 33 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Singulär Plural Sein. Zürich/Berlin 2004, S. 112f. 34 Kruschkova, Krassimira: „Einige Manifeste weniger oder Der Widerstand gegen die Theorie“, in: Scores #10/2013, S. 1-2 (auch erschienen als Tanz-Insert in: Theater der Zeit 10/2013, S. 41-42) 35 Weber, Samuel: Gelegenheitsziele. Zur Militarisierung des Denkens. Zürich/Berlin 2006, S. 9.
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Erkenntniskritisch lässt sich anmerken, dass sich der hier verhandelte Begriff des Denkens vor allem an eine ganz bestimmte philosophische Richtung anschließt – nämlich diejenige der Dekonstruktion. Andere Ansätze, die im Zuge des bereits erwähnten philosophical turn in der Theater- und Tanzwissenschaft ebenso diskutiert werden, ließen sich im Anschluß an die Lektüre des Bandes auf ihre Nähe oder Differenz prüfen – zu nennen sind vor allem deleuzianische Positionen, aber z.B. auch jüngst Donna Haraways Vorschlag, tentakulär oder auch sympoietisch zu denken.36 Die hier vorgestellten sich gegenseitig berührenden Beiträge haben zwar einen gemeinsamen Bezugsrahmen, sind jedoch letztlich in ihrem jeweiligen Begriff des Denkens aufgrund ihres Gegenstandes auch verschieden, ebenso, wie es nicht die eine Bühne des Denkens gibt, sondern unreduzierbar viele. Leon Gabriel
Z U DEN B EITRÄGEN DIESES B ANDES Die Beiträge des vorliegenden Bandes korrespondieren mit den drei Konstellationen, die am Ausgangspunkt der Frankfurter Forschungsarbeit zum Denken auf der Bühne standen: Brechts und Benjamins Denken des Theaters bilden den Fluchtpunkt der vier Beiträge der ersten Sektion, in denen die Begegnung beider einerseits in Bezug zu Heidegger, Derrida und Xavier le Roy (Müller-Schöll), andererseits zu Pirandello (White), zur Entstehung eines hebräischen Theaters (Rokem) und zu heutigen politischen Debatten (Vagn Lid) gesetzt werden. Alle vier Beiträge verbindet, dass die Autor*innen ausgehend von Brechts Arbeit und ihrer Diskussion bei Benjamin größere Monographien vorgelegt haben, an die sie in der einen oder anderen Weise hier anknüpfen. Ausgehend von den vier Beiträgen der zweiten Sektion erscheint der Kontext des Bandes in einem weiteren philosophischen und politischen Zusammenhang, der von Hölderlins Arbeit an einem Brechts Ansätzen vergleichbar „unmöglichen Theater“ (Etzold) über die Metamorphosen der Dekonstruktion des abendländischen Theaters bei Artaud (Ogrzal) zu Heideggers auffälligem Schweigen vom Theater (Weise) und zu einem Panorama der verschiedenen Ansätze eines Denkens der Modernität in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (Haß) reicht. Die dritte Sektion des Bandes untersucht vor dem Hintergrund der neu aufgeflammten Diskussion über
36 Vgl. Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt a.M./New York 2018, v.a. S. 47-84.
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das Denken der Bühne, practice based research und künstlerische Forschung verschiedene künstlerische Praktiken, die speziell das Denken der Zeit in einer Installation von William Kentridge (Schade), des Raumes in einer Choregraphie von Laurent Chétouane (Otto) und der Affizierbarkeit in einer Performance von Walid Raad (Gabriel) betreffen. Eingerahmt werden diese Beiträge von den Übersetzungen zweier wegweisender Beiträge zum Thema, von Samuel Webers zunächst als Keynote gehaltenen Beitrag „The Thinking Stage“ und Jacques Derridas ursprünglich als Vorlesung über Shakespeares Der Kaufmann von Venedig entwickelten Ausführungen zu Shakespeares szenischem Nachdenken über Recht und Gnade. Am Zustandekommen des vorliegenden Bandes waren zahlreiche Institutionen und Einzelpersonen beteiligt, denen an dieser Stelle für ihre Unterstützung zu danken ist. Zunächst sind hier diejenigen zu nennen, die das an seinem Ausgangspunkt stehende Symposium ermöglicht haben: Für die finanzielle Unterstützung danken wir der DFG, dem Verein der Freunde und Förderer sowie der Stiftung zur Förderung der internationalen Beziehungen der Goethe-Universität. Herzlich danken möchten wir auch dem DAAD, der es nicht nur ermöglicht hat, dass eine Studiengruppe der Tel Aviv University gemeinsam mit einer Frankfurter Gruppe Studierender das Symposium besuchen konnte, sondern der auch die Gastprofessuren von Freddie Rokem und Tore Vagn Lid in Frankfurt ermöglicht hat. Unserem Kooperationspartner bei der Gestaltung des Symposiums, dem Künstlerhaus Mousonturm, namentlich seinem künstlerischen Leiter Matthias Pees sowie Martine Dennewald, Marcus Dross und Martina Leitner danken wir für die hervorragende Zusammenarbeit, genauso wie unseren weiteren beiden Kooperationspartnern: der Theaterwissenschaft der Tel Aviv University sowie The Forsythe Company. Planung und Durchführung des Symposiums wären nicht möglich gewesen ohne die außerordentliche Arbeit von Fanti Baum, Joschka Cesar, Stefan During, Matthias Dreyer, Olivia Ebert, Martina Groß, Melina Hepp, Christian Kettelhut, Juliane Kremberg, Mirco Liefke, Leonie Otto, Melusine Reimer, Julia Schade, Hannah Schreier, Julia Strasser, Christine Schwab, Marten Weise, Rosa Wernecke, Lydia White und Mayte Zimmermann. Viele von ihnen sind ein wichtiger Teil des Frankfurter Forschungszusammenhanges der vergangenen Jahre gewesen und haben in der einen oder anderen Weise in der Folge des Symposiums den vorliegenden Band mitgeprägt – ebenso wie unsere Studierenden, vor allem durch ihre regen Nachfragen und die dadurch ausgelösten Diskussionen. Der Band selbst wäre nicht realisierbar gewesen ohne die engagierte Mitarbeit von Jana Wilhelm. Insbesondere danken wir ihr für ihre Recherchen im Zu-
Vorwort
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sammenhang mit der deutschsprachigen Erstveröffentlichung von Derridas Vortrag zu Der Kaufmann von Venedig, für Lektorat und Korrektur sowie für die Kommunikation mit dem Verlag. Eike Dingler sei für die Gestaltung sowohl von Flyer und Plakat des Symposiums als auch darauf aufbauend des Umschlages der Publikation gedankt. Jennifer Niediek, Eileen Merkler und Kai Reinhardt vom transcript Verlag danken wir für die gute, verständnisvolle und geduldige Zusammenarbeit bei der Planung und Erstellung des Bandes.
Shakespeares Theaterdenken
The Merchant of Venice (Auszug) William Shakespeare
ACT IV Scene I Venice. A court of justice. […] DUKE Upon my power I may dismiss this court, Unless Bellario, a learned doctor, Whom I have sent for to determine this, Come here to-day. SALERIO My lord, here stays without A messenger with letters from the doctor, New come from Padua. DUKE Bring us the letters: call the messenger. […] Enter NERISSA, dressed like a lawyer’s clerk. DUKE Came you from Padua, from Bellario? NERISSA From both, my lord. Bellario greets your Grace. Presents a letter. […]
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DUKE This letter from Bellario doth commend A young and learned doctor to our court. Where is he? NERISSA He attendeth here hard by, To know your answer, whether you’ll admit him. DUKE With all my heart: some three or four of you Go give him courteous conduct to this place. Meantime, the court shall hear Bellario’s letter. CLERK Your Grace shall understand that at the receipt of your letter I am very sick; but in the instant that your messenger came, in loving visitation was with me a young doctor of Rome; his name is Balthazar. I acquainted him with the cause in controversy between the Jew and Antonio the merchant: we turned o’er many books together: he is furnished with my opinion; which, bettered with his own learning, – the greatness whereof I cannot enough commend – comes with him, at my importunity, to fill up your Grace’s request in my stead I beseech you, let his lack of years be no impediment to let him lack a reverend estimation, for I never knew so young a body with so old a head. I leave him to your gracious acceptance, whose trial shall better publish his commendation. DUKE You hear the learn’d Bellario, what he writes: And here, I take it, is the doctor come. Enter PORTIA, dressed like a doctor of laws. Give me your hand; come you from old Bellario? PORTIA I did, my lord.
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DUKE You are welcome: take your place. Are you acquainted with the difference That holds this present question in the court? PORTIA I am informed thoroughly of the cause. Which is the merchant here, and which the Jew? DUKE Antonio and old Shylock, both stand forth. PORTIA Is your name Shylock? SHYLOC Shylock is my name. PORTIA Of a strange nature is the suit you follow; Yet in such rule that the Venetian law Cannot impugn you as you do proceed. To ANTONIO You stand within his danger, do you not? ANTONIO Ay, so he says. PORTIA Do you confess the bond? ANTONIO I do. PORTIA Then must the Jew be merciful. SHYLOCK On what compulsion must I? tell me that. PORTIA The quality of mercy is not strain’d, It droppeth as the gentle rain from heaven Upon the place beneath: It is twice bless’d; It blesseth him that gives and him that takes: ’Tis mightiest in the mightiest; it becomes The throned monarch better than his crown; His sceptre shows the force of temporal power, The attribute to awe and majesty, Wherein doth sit the dread and fear of kings; But mercy is above this sceptred sway,
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It is enthroned in the hearts of kings, It is an attribute to God himself, And earthly power doth then show likest God’s When mercy seasons justice. Therefore, Jew, Though justice be thy plea, consider this, That in the course of justice none of us Should see salvation: we do pray for mercy, And that same prayer doth teach us all to render The deeds of mercy. I have spoke thus much To mitigate the justice of thy plea, Which if thou follow, this strict court of Venice Must needs give sentence ‘gainst the merchant there. SHYLOCK My deeds upon my head! I crave the law, The penalty and forfeit of my bond. PORTIA Is he not able to discharge the money? BASSANIO Yes, here I tender it for him in the court; Yea, twice the sum: if that will not suffice, I will be bound to pay it ten times o’er, On forfeit of my hands, my head, my heart. If this will not suffice, it must appear That malice bears down truth. And I beseech you, Wrest once the law to your authority: To do a great right, do a little wrong, And curb this cruel devil of his will. PORTIA It must not be. There is no power in Venice Can alter a decree established: ’Twill be recorded for a precedent, And many an error by the same example Will rush into the state. It cannot be. SHYLOCK A Daniel come to judgment! yea, a Daniel! O wise young judge, how I do honor thee! PORTIA I pray you, let me look upon the bond.
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SHYLOCK Here ’tis, most reverend doctor; here it is. PORTIA Shylock, there’s thrice thy money offer’d thee. SHYLOCK An oath, an oath, I have an oath in heaven: Shall I lay perjury upon my soul? No, not for Venice. PORTIA Why, this bond is forfeit; And lawfully by this the Jew may claim A pound of flesh, to be by him cut off Nearest the merchant’s heart. Be merciful: Take thrice thy money; bid me tear the bond. SHYLOCK When it is paid according to the tenour. It doth appear you are a worthy judge; You know the law, your exposition Hath been most sound: I charge you by the law, Whereof you are a well-deserving pillar, Proceed to judgment: by my soul I swear There is no power in the tongue of man To alter me. I stay here on my bond.1
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[Anm. d. Hg.] Die Version der Szene wird hier nach der First Folio zitiert, da sie weniger Eingriffe in den Originaltext zu enthalten scheint. Es sei darauf hingewiesen, dass Jacques Derrida wahrscheinlich nach der englisch-französischen Ausgabe, die 1980 bei Aubier-Montaigne erschien, zitiert hat. Diese enthält die Übersetzung von Jean Gillibert. Eine Ausgabe befindet sich in der Privatbibliothek Derridas, was diese Annahme stützt. Dass Derrida nach einer Quarto-Ausgabe zitiert hat, ist im Hinblick auf die französische Übersetzung von Hugo, die er seiner eigenen zugrundelegt, auszuschließen. Siehe: Shakespeare, William: The Merchant of Venice, in: ders.: Sämtliche Werke 1. Die Theaterstücke im englischen Original nach der First Folio von 1623 und in der klassischen Schlegel/Tieck-Übersetzung. Frankfurt a.M. 2010, S. 581584.
„When mercy seasons justice“ Vorbemerkung zu einer Vorlesung Jacques Derridas Nikolaus Müller-Schöll
Eine Passage aus „Der Kaufmann von Venedig“, so eröffnete Jacques Derrida am 26. November 1997 seinen Hörerinnen und Hörern im großen Saal der École des hautes études en sciences sociales am Boulevard Raspail, werde der Gegenstand der zweiten Sitzung seines Seminars sein. Dieses hatte im Studienjahr 1997/98 zwei Begriffe zum Thema: „Parjure“ und „Pardon“, also Meineid und Vergebung, ein Begriffspaar, das durch seine gemeinsame Vorsilbe Par- verbunden, doch durch die Silben -jure und -don getrennt ist, die in den romanischen Sprachen an die Sphären des Rechts und der Gabe erinnern. Es sollte dabei, wie Derrida zu Beginn dieser zweiten Sitzung ankündigte, nicht zuletzt um die Frage gehen, ob mit „le pardon“, mit der Vergebung, der Verzeihung oder auch der Gnade, die ökonomische Erfahrung eines Tauschs oder einer Rückerstattung verbunden ist oder vielmehr eine solche, die mit jeder Ökonomie bricht. Spreche für die erste Möglichkeit, dass die religiösen Traditionen des Abendlandes – die jüdische, die christliche wie auch die islamische – Vergebung als Teil eines gerechten Tauschs begriffen, so für die zweite, dass mit der Erinnerung an den Komplex der Gabe auf eine die Ökonomie sprengende an-ökonomische Eröffnung verwiesen werde, die gleichzeitige Voraussetzung wie auch Aussetzung des Tausches, also auf das, was, wie Derrida an anderer Stelle erläutert hatte, jedes Kalkül sprengt. Es war nicht das erste Mal, dass Derrida Shakespeare heranzog, um einen neuen Gedanken zunächst einmal auf dem Weg eines Kommentars zu entwickeln, der das in dessen szenischem Schreiben angelegte Denken begrifflich zu entfalten versucht, um also die im Theaterdenken angelegte philosophische Denkfigur herauszuarbeiten, das heißt: anders neu zu formulieren. Im Jahr 1993 hatte der Philosoph dem ersten Kapitel seines buchlangen Essays Marx’ Gespenster die Geisterszene aus dem Hamlet vorangestellt. Sie diente ihm gewis-
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sermaßen als Motto, erinnerte zugleich an das wiederkehrende Motiv des Gespenstes in den Schriften von Marx und an dessen Rückbezug auf Shakespeare. Sie enthielt, was Derrida über die Logik der An- und Abwesenheit entwickeln sollte, doch sie blieb in seinem Text zugleich auf eine Weise unkommentiert, wurde nicht in ihrer Eigenlogik diskutiert. Dagegen sollte ihn dieses Mal eine ganze Sitzung seines als Vorlesung gestalteten Seminars lang nichts anderes beschäftigen als die oben zitierte Passage Shakespeares, in deren – gleichwohl skizzenhaft bleibender – Auslegung Derrida in nuce das zum Vorschein brachte, was ihn ein Studienjahr lang beschäftigen sollte: Die primordialen Voraussetzungen des Denkens, die Axiomatik der Wissenschaft, das also, worauf alles Weitere aufbaut und vermeintlich ruht. Und was er dabei eher beiläufig zu erkennen gab, war hier wie im früheren Marx-Buch nicht weniger als dies: Dass zu dem, was primordial allem Erscheinenden vorausgeht, auch das Theater gehört, Theater als das, was sich jedem Ruhen widersetzt. Denn es ist eine Mise en abyme, Theater im Theater, was Derrida beschäftigt, wenn er Shakespeare liest. Shakespeare setzt in seinem Stück The Merchant of Venice eine Gerichtsverhandlung in Szene, in deren Verlauf er Shylock, dem Juden, der auf seinem Recht besteht, dem säumigen Schuldner Antonio ein Pfund Fleisch aus den Rippen zu schneiden, und zwar dort, wo das Herz sitzt, vor Augen führen lässt, was dem geschieht, der sich dem Grundsatz, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, verweigert. Nachdem Shylock zunächst das Recht erhält, das Fleisch einzufordern, das Antonio ihm aufgrund der verlorenen Wette schuldet, wird er anschließend alles verlieren, was ihm von Wert ist, d.h. sein Vermögen und seine Religion, man könnte abstrakter sagen: seine bürgerliche Existenz und seine Lebensform. Doch diese Lehre ist keine, bei der sich der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchsetzt. Sie wird Shylock nicht in einer Gerichtsverhandlung zuteil, vielmehr in einer Szene des Gerichts, die ihm von Komplizinnen seiner Widersacher gegeben und an der mitzuspielen er vom Dogen gezwungen wird. Shakespeare führt Gericht wie Urteilsfindung als Theater vor: Der Rechtsgelehrte, der vor den Augen aller am Prozess Beteiligten wie auch derer spricht, die von ihnen lesen oder ihrer Inszenierung in den Theatern zusehen, ist eine Schauspielerin. Ihm bzw. ihr kommt im Spiel keiner auf die Schliche, denn Portia, die als der Rechtsgelehrte Balthazar Shylock eine Lehre erteilen wird, tritt in Verkleidung auf, „dressed like a doctor of laws“. Sie erhält ihre Autorität – und Derrida lässt sich eigenartigerweise diese Pointe entgehen – durch einen clerk, einen Schreiber, den ihre Begleiterin Nerrisa spielt. Er liest vor, was ein anderer Schreiber, ein Rechtsgelehrter namens Bellario – angeblich oder tatsächlich, das bleibt im Unklaren – über Balthazar zu Papier gebracht hat. Er soll ihn, der sich entschuldigen lässt, vertreten und ist dafür ausersehen, weil er, wie
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es heißt, nicht nur mit dem abwesenden Gelehrten die Bücher gewälzt, sondern das daraus entnommene mit eigenem Lernen noch verbessert hat. Balthazar alias Portia wird so von Beginn an von Shakespeare als zweifelhafter Bote eingeführt, denn sein bzw. ihr Text macht unzweideutig klar, dass der vermeintliche junge Rechtsgelehrte tatsächlich die reiche Erbin Portia ist und folglich der abwesende Bellario – oder wer immer in seinem Namen die Empfehlung verfasst hat – uns bereits auf der Ebene der Vorstellung seines Vertreters bzw. seiner Vertreterin betrogen hat. Was der bzw. die Rechtsgelehrte im Weiteren vorführt, ist deshalb von Beginn an weniger und mehr als bloße, die Argumente abwägende Rechtsprechung oder bloßes, reine Fiktion oder reine Nachahmung gebendes Theater: Die Rechtsprechung ist Inszenierung, vom Interesse geleitet, Antonio von seiner (Wett-)Schuld zu befreien. Weil das Gericht Theater ist, wird das in ihm Erscheinende, von ihm beglaubigte Recht von Beginn an suspendiert, seiner Geltung beraubt, eingeklammert, ausgestellt, zitiert. Doch obwohl es sich um Theater handelt, zeitigt das Urteil des Gerichts in Shakespeares Szene Konsequenzen. Theater, so führt uns Shakespeare über das Gezeigte, aber damit rückwirkend auch das zeigende Spiel auf der Bühne seines Texts wie eines Theaters vor, ist Spiel, doch das Spiel kann ernste Folgen haben. Nicht zuletzt daraus, so scheint es, resultiert die markante Verdoppelung der Szene: Indem sie den Spielcharakter des Gezeigten vor Augen führt, lässt sie, was dem Juden Shylock im Stück vorgespielt wird, als von (Ab-)Grund auf veränderbar erscheinen. Das Denken von Shakespeares Theater, anders gesagt, liegt exakt darin, die Möglichkeit eines anderen Denkens zu bedenken, eines Denkens anderer Möglichkeiten als der gezeigten, die ihrerseits eine Kultur und deren Voraussetzungen auf eine Weise vor Augen führt und so zur Diskussion stellt. Es ist diese Einladung zu einem anderen Denken, die Derrida annehmen wird. In seiner Vorlesung kündigte Derrida die Passage Shakespeares als theologisch-politische Abhandlung über die Vergebung an, doch zugleich auch als Stück über Schwur und Meineid. Er deutete damit an, dass die von ihm im Weiteren verfolgte Frage diejenige nach der Grenze von Politik und Theologie sein würde, nach einer dem Menschlichen selbst inhärenten Entgrenzung des Menschlichen. Inspiriert wurde Derrida dabei von einem Aufsatz Danièle Aubriots, in dem die Shakespeare-Passage zitiert, aber nicht weiter kommentiert wurde.1 Während der Vorlesungstext Derridas vorläufig noch im Archiv verbleiben muss und erst im Kontext der posthumen Herausgabe von Derridas Vorlesungen einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden wird, sind große Teile
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Aubriot, Danièle: „Quelque réflexions sur le pardon en Grèce ancienne“, in: Perrin, Michel (Hg.): Le Pardon. Paris 1987, S. 11-27.
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dieses Texts von Derrida in einen Vortrag und dessen Verschriftlichung übernommen worden, die unter dem Titel „Qu’est-ce qu’une traduction ‚relevante’?“ bzw. „What Is a ‚Relevant‘ Translation?“ zunächst in französischer Sprache, dann auch in englischer Übersetzung veröffentlicht wurde.2 Wie sich in der Übertragung des Textes dessen Thema verschiebt und wie Derrida dabei seine eigene frühere Fassung umschreibt und übersetzt, um sie in die vom Kontext einer Konferenz bestimmten Diskussionszusammenhänge einzupassen, wäre an anderer Stelle, im Zusammenhang einer Übersetzung und Lektüre des gesamten Textes, genauer zu untersuchen. Hier wird dagegen lediglich der Teil des Aufsatzes veröffentlicht, in dem Derrida große Teile seiner Vorlesung erstmals einem Leser*innenpublikum zugänglich gemacht hat. Er verdeutlicht, dass Derrida Shakespeares Text als Schauplatz des Denkens begreift und im Theater – als der auf keine Weise begrenzbaren, das Gezeigte verabgründenden und insofern primordialen Voraussetzung wie Aussetzung des Erscheinens – einen Verweis auf die ebenso unaufhaltbare wie immer neu zu entfaltende Veränderbarkeit dessen erkennt, was erscheint. Das Denken der Bühne, ganz gleich, ob es auf Textseiten oder in einem wie immer gearteten Bühnenraum sich entfaltet, so wird implizit verdeutlicht, erlaubt es zugleich und macht es erforderlich, was immer fixiert oder geschrieben und insofern in einer Weise in Szene gesetzt ist, neuerlich in Bewegung zu bringen, umzuschreiben und ergo neu zu inszenieren oder, mit Derridas Worten: zu übersetzen.
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Derrida, Jacques: „Qu’est-ce qu’une traduction ‚relevante‘?“, in: Mallet, MarieLouise/Michaud, Ginette (Hg.): L’Herne Derrida. Cahier de L’Herne n°83. Paris 2004, S. 561-576; ders.: „What is a ‚Relevant‘ Translation?“, übers. von Lawrence Venuti, in: Critical Inquiry, Jg. 27, No. 2, Winter (2001), S. 174-200. Eine erste Fassung des Textes erschien 1999 in Arles, enthält aber einige Ergänzungen nicht, sodass die folgende Übersetzung sich nicht auf diese Version bezieht. [Anm. d. Hg.] Derrida, Jacques: „Qu’est-ce qu’une traduction ‚relevante‘?“, in: Ernoult, Claude/Volkovitch, Michel (Hg.): Quinzièmes Assises de la Traduction Littéraire (Arles 1998). Arles 1999, S. 21-48.
Was ist eine „relevante“ Übersetzung? (Auszug)1 Jacques Derrida
„Then must the Jew be merciful.“ Ich lasse diesen Satz Portias aus Der Kaufmann von Venedig unübersetzt stehen. Portia wird auch sagen: „When mercy seasons justice…“, wofür ich später als Übersetzung vorschlagen werde: „Wenn Vergebung das Gesetz aufhebt…“ [„Quand le pardon relève la justice…“]. […] Wie kann ich versuchen, die Gründe dafür zu rechtfertigen, sie Ihnen jedenfalls zur Diskussion zu unterbreiten, dass ich es mit einem Intervall von dreißig Jahren wiederholt als relevant beurteilt habe, mich ein und desselben Verbs, relever, zu bedienen, um erst ein deutsches, dann ein englisches Wort zu übersetzen? Fangen wir mit dem Ende an, so findet sich das englische Wort also in Der Kaufmann von Venedig. Daß ich dieses Stück von Shakespeare hier privilegiert behandle, liegt nicht nur an der Anwesenheit jenes zu übersetzenden Wortes. Darüber hinaus nämlich kann unter dem Signum der Konnotation alles im Stück in den Code der Übersetzung und als Übersetzungsproblem rückübersetzt werden; und zwar in dem dreifachen Sinne, den Jakobson unterscheidet: zwischen-
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[Anm. d. Hg.] Für die Genehmigung des Abdrucks von Auszügen aus Jacques Derridas Aufsatz „Qu’est-ce qu’une traduction ‚relevante‘?“ danken wir Jean Derrida. Auslassungen werden im Text durch eckige Klammern markiert. Eine vollständige Übersetzung des Aufsatzes wird zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen eines von Caroline Sauter und Esther von der Osten herausgegebenen Bandes zu Fragen der Übersetzung erscheinen.
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sprachlich, innersprachlich, intersemiotisch – wie beispielsweise zwischen einem Pfund Fleisch und einer Geldsumme. Die Übersetzung ist dabei in jedem Augenblick so notwendig wie unmöglich. Sie ist das Gesetz, sie spricht sogar die Sprache des Gesetzes jenseits des Gesetzes, des unmöglichen Gesetzes, repräsentiert von einer Frau, die verkleidet, transfiguriert, konvertiert, travestiert ist, übersetzen Sie: übersetzt ist in einen Mann des Gesetzes. Als ob das Thema dieses Stücks alles in Allem die Aufgabe des Übersetzers sei, seine unmögliche Aufgabe, seine Pflicht, seine so unumstößliche wie unbezahlbare Schuld. Aus mindestens vier Gründen: 1. Es gibt zunächst einen Eid (oath), ein unhaltbares Engagement, mit dem Risiko des Meineids, eine Schuld [dette] und eine Pflicht [devoir]. Aus eben diesen speist sich die Intrige, der „plot“ und der Komplott. Nun ließe sich leicht zeigen (was ich anderswo versucht hatte), dass jede Übersetzung diese unlösbare Verschuldung und diesen Treueeid gegenüber einem gegebenen Original impliziert – mit allen Paradoxa eines solchen Gesetzes und eines solchen Engagements, dieses Bandes (bond) und dieses Vertrags, dieses im Übrigen unmöglichen und dissymetrischen Engagements mit Übertragung und Gegenübertragung, wie ein Eid, der dem Verrat und dem Meineid geweiht ist. 2. Dann gibt es das Thema der Ökonomie, des Kalküls, des Kapitals und des Zinses [intérêt], die an Shylock unbezahlbare Schuld: was ich soeben zur Einheit des Wortes sagte, machte sehr wohl aus einer gewissen Ökonomie das Gesetz der Übersetzung. 3. Es gibt weiterhin, genau im Herzen der Pflicht oder der Schuld, in Der Kaufmann von Venedig wie in jeder Übersetzung jene unkalkulierbare Äquivalenz, jene unmögliche, aber ständig behauptete Entsprechung zwischen dem Pfund Fleisch und dem Geld, die geforderte, aber unpraktizierbare Übersetzung zwischen der einzigartigen Buchstäblichkeit eines Leibes und dem Arbiträren eines monetären oder fiduziären allgemeinen Zeichens. 4. Diese unmögliche Übersetzung, diese Konversion (und jede Übersetzung ist eine Konversion: vertere, transvertere, convertere, sagte Cicero) zwischen dem buchstäblichen, originalen Fleisch und dem monetären Zeichen, ist durchaus nicht ohne Bezug zur Zwangskonversion des Juden Shylock zum Christentum, denn die traditionelle Figur des Juden wird, oft und konventionellerweise, auf der Seite des Körpers und des Buchstabens (der fleischlichen Beschneidung oder des Pharisäertums, des rituellen Gehorsams gegenüber der buchstäblichen Äußerlichkeit) situiert, während seit Paulus sich der Christ auf der Seite des Geistes oder des Sinns, der Innerlichkeit, der geistigen Beschneidung befände. Dieser Bezug des Buchstabens zum Geist, des Körpers der Buchstäblichkeit zur idealen Innerlichkeit des Sinns ist auch der Ort des Übergangs der Übersetzung,
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dieser Konversion, die man Übersetzung nennt. Als wäre die Angelegenheit [affaire] der Übersetzung als erstes eine abrahamitische Angelegenheit, zwischen dem Juden, dem Christen und dem Muslim. Und die Aufhebung, la relève, als eben die Relevanz, von der ich nun gleich zu Ihnen sprechen will, wird das sein, was just dem Fleisch des Textes, dem Körper, dem gesprochenen Körper und dem übersetzten Körper widerfährt – wenn man den Buchstaben betrauert, um den Sinn zu retten. Shylock erinnert daran, dass er unter Eid (under oath) versprochen hat, den Originaltext des Vertrages, der Schuldanerkenntnis zu respektieren. Was ihm geschuldet ist, bezieht sich buchstäblich auf das Pfund Fleisch [livre de chair]. Dieser Eid bindet ihn an den Himmel, so ruft er in Erinnerung, er kann ihn nicht brechen, ohne meineidig zu werden, das heißt ohne ihn zu verraten, wenn er dessen Elemente in monetäre Zeichen übersetzt. Im Namen des Buchstabens des Vertrags verweigert Shylock die Übersetzung oder den Vergleich, die Transaktion (die Übersetzung ist eine Transaktion). Portia hat ihm soeben das Dreifache der Geldsumme, die ihm geschuldet ist, im Austausch gegen das Pfund Fleisch (pound of flesh) geboten. Wenn du das Pfund Fleisch in Geld übersetzt, so schlägt sie ihm summa summarum vor, bekommst du dreimal die geschuldete Summe. Da ruft Shylock aus: „An oath, an oath, I have an oath in heaven: / shall I lay perjury upon my soul? / No, not for Venice“.2 („Ein Eid, ein Eid, ich habe einen Eid im Himmel; soll ich einen Meineid auf meine Seele legen? Nein, nicht um Venedig.“3) Portia täuscht vor, diese Weigerung zu Protokoll zu nehmen und anzuerkennen, dass „dieser Schuldschein verfallen“ ist („This bond is forfeit“). Da dieser Vertrag, dieses Band, dieser Schuldschein fällig ist, hat der Jude das Recht, ein Pfund Fleisch zu fordern, das nächst dem Herzen des Kaufmanns buchstäblich
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Diese abstrakte Arithmetik, die anscheinend arbiträre Ökonomie der Multiplizierung mit drei – dreimal mehr monetäre Zeichen – würde uns zur Szene der drei Freier Portias und zur ganzen Problematik der drei Kästchen lenken, vom Kaufmann von Venedig zum König Lear. Über einen mobilisierten und befragten Freud wäre das noch eine weitere große Szene von Übertragung, Metapher und Übersetzung.
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[Anm. d. Ü.] William Shakespeare, The Merchant of Venice/Der Kaufmann von Venedig. Englisch-deutsche Studienausgabe. Deutsche Prosafassung, Anmerkungen, Einleitung und Kommentar von Ingeborg Heine-Harabasz, Bern/München 1982, S. 180. Wegen ihrer Nähe zum Original in den hier zitierten Passagen des Stücks wird diese (anstatt einer bekannteren) Übersetzung zitiert, beziehungsweise der deutschen Übersetzung der von Jacques Derrida modifizierten französischen Übersetzung François-Victor Hugos zugrunde gelegt.
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von ihm herausgeschnitten werden muss („Why, this bond is forfeit; / And lawfully by this Jew may claim / A pound of flesh, to be by him cut off / Nearest the merchant’s heart“). Portia wird Shylock ein letztes Mal gedrängt haben zu vergeben, indem er die Schuld annulliert, sie erlässt, erspart, indem er Gnade walten lässt: „Be merciful“, bittet sie, nimm dreimal dein Geld und heiß mich diesen Schein, diesen Vertrag zerreißen, „bid me tear the bond“. Shylock lehnt wieder ab; er schwört in Wahrheit bei seiner Seele, dass er nicht meineidig werden und seinen Eid zurücknehmen kann. Seinen Glaubensakt gegenzeichnend, bei dem schwörend, was er bereits geschworen hat, bezieht er sich dann auf die Sprache, auf eine Menschensprache. Diese vermag es nicht, in ihrer relativen Ökonomie, in der vorgeschlagenen gütlichen Einigung oder Übersetzung, in der vorgeschlagenen Transaktion oder traduction, sich am absoluten Eid zu messen, der unbedingt, vor Gott, seine Seele bindet: „by my soul I swear / There is no power in the tongue of man / To alter me. I stay here on my bond“ („Bei meiner Seele schwöre ich: / Keine Menschenzunge hat die Macht, / [mich zu erschüttern, mich umzustimmen] mich zu ändern. Ich halte mich an den Vertrag, der mich bindet.“). Der Eid ist also, in der menschlichen Sprache, eine bindende Zusage, welche die menschliche Sprache dennoch von selbst nicht auflösen, beherrschen, auslöschen, sich unterwerfen kann, indem sie sie entbindet. Ein Eid ist eine Bindung in der menschlichen Sprache, welche die menschliche Sprache als solche, als menschliche, nicht entbinden kann. Er ist in der menschlichen Sprache eine Bindung (bond), die stärker ist als die menschliche Sprache, usw. Mehr als der Mensch im Menschen. Es ist in der menschlichen Sprache (Element der Übersetzung) ein unumstößliches Gesetz, das die Transaktionsübersetzung untersagt, zugleich aber befiehlt, die Buchstäblichkeit des Originals oder das gegebene Wort zu achten. Es ist ein Gesetz, das der Übersetzung vorsteht, während es ihr doch den absoluten Respekt, ohne Transaktion, vor dem gegebenen Wort in seinem Originalwortlaut [lettre originale] befiehlt. Der Eid, die zugeschworene Worttreue [la foi jurée], der Akt des Schwörens ist die Transzendenz selbst, die Erfahrung des über den Menschen Hinausgehens, der Ursprung des Göttlichen oder, wenn man lieber will, der göttliche Ursprung des Eides. Dies scheint für das Gesetz der Übersetzung im Allgemeinen zu gelten. Keine Sünde wiegt schwerer als der Meineid. Shylock wiederholt schwörend, dass er nicht eidbrüchig werden kann; er bestätigt also mit einem zweiten Schwur den ersten, in der Zeit einer Wiederholung. Man nennt das Treue, und die ist das Wesen selbst des Eides, zu ihr ist er berufen: Wenn ich schwöre, schwöre ich in der Sprache, dass keine menschliche Sprache die Macht hat, mich zum Abschwören, mich ins Wanken, sprich, mich zum Meineid zu bringen. Der Eidschwur geht durch die
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Sprache, aber er geht über die menschliche Sprache hinaus – und da läge die Wahrheit der Übersetzung. In dieser sagenhaften Geschichte von Eid, von vertraglicher Bindung (bond), handelt es sich also um eine Verschuldung, in der die Tauschwerte inkommensurabel und somit ineinander unübersetzbar sind (Geld und Pfund Fleisch: money/pound of flesh). In der 1. Szene des 4. Aktes wendet sich die als Anwalt verkleidete Portia zunächst an Antonio und fordert ihn auf, seine unbezahlte oder unbezahlbare Schuld einzugestehen, zu bekennen: „Do you confess the bond?“ fragt sie ihn. Bekennst du, erkennst du den Vertrag, die bindende Zusage, die Bindung an? „Erkennst du diesen Schein an?“ [„Reconnais-tu ce billet?“] übersetzt platt François-Victor Hugo, dessen Übersetzung ich folge und stellenweise ändere. Erkennst du die Schuldanerkenntnis an? Bestätigst du das unterzeichnete Engagement, die Bindung, was du schuldest, wodurch du in Schuld stehst oder im Unrecht, ja, rechtswidrig (daher das Wort „confess“) bist? Antwort von Antonio: „I do“ (Performativ). Ja, ich bekenne, ich gestehe ein, ich erkenne an, ich bekräftige und unterzeichne oder zeichne gegen. I do. Ein Satz, so außergewöhnlich wie ein „Ja“. Ökonomie und Kürze der Antwort: so einfach und karg wie möglich gehalten, impliziert die Aussage nicht nur das „ich“, als ein „ich“, das tut, was es sagt, indem es es sagt, bestätigend, dass es selbst dasselbe ist wie dasjenige, das den Sinn der gestellten Frage bereits in Gänze gehört, begriffen, im Gedächtnis aufgenommen hat, während wiederum die Frage in die Antwort integriert ist, die die Identität zwischen dem ich, das gehört hat, und dem ich, das das „ja“ oder das „I do“ spricht, signiert. Sondern in diesem Verhältnis [intelligence] und dem Gedächtnis der Frage ist das „ich“ auch dasselbe wie dasjenige, das die Frage stellt: Indem ich sage ja, I do, antworte ich genau auf das, was du sagen willst, wenn du mich dies bittest oder mir diese Frage stellst. Wir denken und meinen dasselbe (innersprachliche Übersetzung), in dieser Hinsicht sind wir derselbe im Spiegel. Diese Einstimmigkeit im Spiegel, oder aufeinander durchscheinend, diese ideale Übersetzung ist unterstelltermaßen in jedem Performativ vom Typ „ich vergebe“ am Werk. Nach diesem Eingeständnis Antonios fällt die Antwort wie ein Urteilsspruch. „Then must the Jew be merciful.“ Sechs kurze Worte nennen in ein und demselben Atemzug Jew and Mercy, den Juden und die Vergebung. Dieser kleine Satz signiert zugleich Shakespeares Ökonomie und sein unvergleichliches Genie. Der Satz verdient [mérite], sich als unermessliche Allegorie über diesen Text zu erheben; er bringt vielleicht die gesamte Geschichte der Vergebung, die gesamte Geschichte zwischen dem Juden und dem Christen, die gesamte Geschichte der
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Ökonomie (merces, Markt, Ware, merci4, Söldnertum [mercenariat], Lohn, buchstäbliche oder sublime Vergütung) auf den Punkt als Geschichte der Übersetzung: „Then must the Jew be merciful.“ „Also [dann, folglich, deshalb, Igitur] muss der Jude „merciful“ sein.“ Er muss milde, nachsichtig sein, sagen manche Übersetzungen. Selbstverständlich heißt das hier: „Also, igitur, then“, weil du die Schuld oder das Vergehen eingestehst, muss also der Jude (dieser Jude hier, Shylock in genau diesem Kontext) dich davon befreien. Die elliptische Kraft des Urteilsspruchs jedoch nimmt tendenziell einen gigantischen metonymischen und symbolischen Wert an, der sich am Maß aller Zeiten bemisst: „the Jew“ repräsentiert auch jeden Juden, den Juden im Allgemeinen in seinem Widerstreit [différend] mit dem christlichen Partner, der christlichen Macht, dem christlichen Staat: „der Jude muss vergeben“. Erlauben Sie mir hier eine Parenthese: Als ich diesen außerordentlichen Urteilsspruch wieder las, dessen List wir gleich analysieren werden, diesen Satz, der sagt: „also muss der Jude vergeben“, was unterschwellig zu verstehen gibt: „es ist der Jude, der vergeben muss“, „am Juden im Allgemeinen ist es, zu vergeben“, konnte ich mich nicht nicht an jenen außerordentlichen Seufzer des Papstes dieses zweiten Jahrtausendendes erinnern. Vor einigen Monaten fragte man ihn, als er gerade zu einer seiner Transkontinentalreisen ins Flugzeug stieg, was er von der Erklärung der Reue der französischen Bischöfe halte. Und seufzend, sich also ein wenig beklagend, ein wenig die Christenheit oder den Katholizismus beklagend, hat der Papst gesagt: „Ich bemerke, dass es immer wir sind, die um Vergebung bitten.“ Eh! Unterschwellig ist zu verstehen: die Juden um Vergebung bitten (wenngleich manche legitimerweise auch an gewisse Indianer und an etliche andere Opfer der Inquisition denken, die seither der Papst auf das Programm einer anderen Vergangenheitsaufarbeitung [devoir de memoire], wie man sagt, einer anderen Pflicht des Gedenkens oder der Reue gesetzt hat). Es sind immer wir, die Christen oder die Katholiken, die um Vergebung bitten, aber warum denn? Ja, warum? Ist es, weil die Vergebung etwas Christliches ist und die Christen ein Beispiel geben müssen, weil die Passion Christi darin bestanden hat, am Kreuz die Sünde auf sich zu nehmen? Oder weil es sich nun einmal so trifft, dass eine gewisse Kirche, wenn nicht die Christenheit, sich stets viel vorzuwerfen gehabt haben wird, wenn sie um Vergebung bittet, und zuerst den Juden, gegenüber dem man (Antonio) seine Schuld anerkennt, den Juden, der also um Freispruch und Vergebung gebeten wird und darum, seinerseits merciful zu sein? „Then must the Jew be merciful.“
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[Anm. d. Ü.] Das französische merci, von lat. merces („Lohn“, später auch „Gunst“ und „Gnade“) bedeutet nicht nur „Dank“, sondern auch „Gnade“, „Erbarmen“.
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Portia wendet sich so an Antonio, ihren Komplizen, und mit ihrer Nennung des Juden als Dritten meint [entend] sie, dass der Jude verstehen soll [entende]: Vor deiner Anerkennung, deinem Eingeständnis, deinem Bekenntnis muss also der Jude merciful sein, muss Erbarmen, Nachsicht üben, vergeben können, deine Strafe oder deine Zahlung erlassen, die Schuld ausstreichen können usw. Nun begreift aber der Jude Portias Deduktion nicht, er weigert sich, an dieser Logik irgendetwas zu begreifen. Man möchte, dass er Vergebung gewährt und die Schuld auflöst, bloß weil sie anerkannt wird. Da empört sich der Jude: Kraft welcher Verpflichtung, welchen Zwangs, welchen Gesetzes sollte ich „merciful“ sein? Das Wort, das man mit „Verpflichtung“ oder „Zwang“ oder „Gesetz“ übersetzt, ist interessant, es ist „compulsion“ – es bedeutet „Kompulsion“ im Sinne von Druck, unwiderstehlichem Trieb oder Drang, zwingender Macht. Kraft welcher „compulsion“ sollte ich mich „merciful“ zeigen? Sagen Sie es mir: „On what compulsion must I? Tell me that.“ Als Antwort auf diese Frage [demande]5 des Juden hält Portia ein großes Lob auf die Macht [pouvoir] zu vergeben. Diese superbe Rede definiert „mercy“, le pardon, die Vergebung, als die höchste Macht. Ohne Zwang, ohne Verpflichtung, gratis, anmutig-gütig-gnädig [gracieux], Macht über der Macht, Souveränität über der Souveränität, superlative Mächtigkeit [puissance], machtvoller als die Mächtigkeit, insofern es eine Mächtigkeit ohne Mächtigkeit ist, ein Bruch innerhalb der Mächtigkeit, diese transzendente Mächtigkeit der „mercy“ erhebt sich über die Mächtigkeit, über die Ökonomie der Mächtigkeit und also die Sanktion wie die Transaktion. Deshalb ist sie das Attribut des Königs, das Gnadenrecht, das absolute Privileg des Monarchen, hier des Dogen. Aber – unendliches Überbieten, weitere Windung oder anderer Handel im unendlichen Hochschrauben – ebenso wie jene Macht über der Macht ist, eine Mächtigkeit, machtvoller als die Mächtigkeit, ebenso ist dieses Attribut des Monarchen zugleich über ihm und seinem Szepter. Diese Mächtigkeit geht durch die Menschheit hindurch über die Menschheit hinaus, wie die Sprache, von der wir vorhin sprachen: Sie kommt nur Gott zu. Die Gnade ist göttlich, sie ruft in der irdischen Macht das in Erinnerung, was der göttlichen Macht am meisten ähnelt, sie ist im Menschen das Übermenschliche. Die beiden Reden sind einander hier Echo oder Spiegel, die von Shylock dem Juden und die von Portia der Christin oder des Christen im Gewand des Rechts. Die eine und die andere setzen etwas (den Eid, die Vergebung) über der menschlichen Sprache in die menschliche Sprache, jenseits der menschlichen Ordnung in die menschliche
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[Anm. d. Ü.] Der Bedeutungshorizont von demande ist weit und umfasst unter anderem: Bitte, Wunsch, Forderung, Nachfrage, Anfrage, Antrag, Klageantrag, Klage.
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Ordnung, jenseits der Rechte und Pflichten des Menschen in das Gesetz des Menschen. Die Kraft der Vergebung, so werden wir Portia hören, ist mehr als gerecht, gerechter als die Gerechtigkeit6 oder das Recht, sie erhebt sich über das Recht oder über das, was in der Gerechtigkeit nur Recht ist; sie ist, jenseits des Rechts der Menschen, eben das, was das Gebet anruft. Und was alles in Allem eine Rede über die (mögliche: unmögliche) Übersetzung ist, das ist auch eine Rede als Gebet über das Gebet. Die Vergebung ist Gebet; sie gehört zur Ordnung des Segens und des Gebets; von beiden Seiten, von dem her, der um sie bittet [demande], und von dem her, der sie gewährt. Das Wesen des Gebets ist Sache der Vergebung und nicht der Macht und des Rechts. Zwischen der Erhebung des Gebets oder des Segens – über die menschliche Macht, selbst über die königliche Macht, insofern sie menschlich ist, über das Recht, das Strafrecht 7 – und der Erhebung der Vergebung über die menschliche Macht, die königliche Macht und das Recht gäbe es eine Art Wesensverwandtschaft. Gebet und Vergebung haben dieselbe Herkunft und dasselbe Wesen, dieselbe Höhe, die höher als die Höhe ist, die Höhe des Allerhöchsten. Shylock ist entsetzt über diese exorbitante Aufforderung, jenseits des Rechts zu vergeben, auf sein Recht und das ihm Geschuldete zu verzichten. Man verlangt von ihm mehr als er gewähren kann und mehr als er überhaupt das Recht hat zu gewähren, da es den „bond“ (den *Bund8, wäre man versucht zu sagen) gibt, der ihn über jedes menschliche Band hinaus verpflichtet. Shylock ahnt auch, dass man dabei ist, ihn reinzulegen […]. Er, den man als eine Figur des Teufels präsentiert hat, „the devil […] in the likeness of a Jew“ (Akt III, Szene 1), er ahnt, dass man dabei ist, ihn zum Narren zu halten, im Namen der erhabenen Transzendenz der Gnade auf diabolische Weise Besitz von ihm zu ergreifen. Man täuscht vor, ihn mit dieser Geschichte von göttlicher und erhabener Vergebung über alles zu erheben. Aber es ist bloß eine List, um ihm die Taschen auszuleeren, indem man ihn ablenkt, um ihn vergessen zu machen, was man ihm schuldet, und ihn grausam zu strafen. Er protestiert also, er beklagt sich, erhebt Anklage, er ruft das Gesetz, das Recht, die Gesetzlichkeit und Rechtmäßigkeit,
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[Anm. d. Ü.] La justice bezeichnet auch die Justiz, vgl. die letzte Anmerkung dieses Textes.
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[Anm. d. Ü.] Dieser Einschub lässt sich auch als Erläuterung des Segens lesen, wie ein Relativsatz. In diesem Falle müsste übersetzt werden: „der Segen – [der] über der menschlichen Macht, selbst über der königlichen [...] [ist]“.
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[Anm. d. Hg.] Der Asterisk vor einem kursiv gesetzten Begriff markiert hier und im Folgenden, dass es sich im Originaltext ebenso um einen deutschen Begriff handelt.
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die Strafe an. Er täuscht sich jedenfalls nicht. Im Namen dieses erhabenen Lobes der Vergebung bahnt sich eine ökonomische List an, ein Kalkül, die Intrige einer Strategie, die darauf hinausläuft (es ist die Herausforderung, das Fleisch herauszuschneiden, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen), dass in dieser transaktionellen Übersetzung Shylock alles verliert. Er wird die monetären Zeichen seines Geldes und das buchstäbliche Pfund des geschuldeten Fleischs verlieren – und selbst noch seine Religion, denn als sich das Blatt auf seine Kosten gewendet hat, wird er sogar zum Christentum konvertieren müssen, sich in einen Christen, in christliche Sprache übersetzen (convertere) müssen, nachdem er seinerseits durch eine skandalöse Umkehrung, er, der angefleht war, „mercyful“ zu sein, auf Knien die Gnade des Dogen erflehen musste („Down therefore“, wird Portia ihm später sagen, „and beg mercy of the duke“). Der Doge wird vortäuschen, ihm diese Vergebung zu gewähren, um ihm zu zeigen, wie weit seine Großzügigkeit als Christ und Monarch derjenigen des Juden überlegen ist: „Damit du siehst, wie verschieden unsere Geister sind, lasse ich Gnade an deinem Leben walten, ehe du darum gebeten hast.“ („That thou shallt see the difference of our spirits, / I pardon thee thy life before thou ask it. / For half thy wealth, it is Antonio’s; / The other half comes to the general state, / Which humbleness may drive in to a fine“. In der, wie man sagt, leicht veränderten Übersetzung von FrançoisVictor Hugo wird daraus: „Damit du siehst, wie sehr unsere Einstellungen [unsere Geister] sich unterscheiden, lasse ich Gnade an deinem Leben walten, ehe du darum gebeten hast. Die eine Hälfte deines Vermögens gehört Antonio; die andere Hälfte kommt dem Staat zu; doch deine Reue kann die Beschlagnahmung noch in eine Geldbuße umwandeln.“ Die Souveränität des Dogen mimt in der listigen Art, wie sie bekundet wird, die absolute Vergebung, die Gnade, die da selbst gewährt wird, wo nicht um sie gebeten wird, aber es ist die Gnade des Lebens. Was den gesamten Rest angeht, wird Shylock völlig enteignet, die Hälfte zugunsten eines privaten Subjekts, Antonio, die andere Hälfte zugunsten des Staates. Und da stellt der Doge, noch eine List der Ökonomie, eine Bedingung, damit die Strafe erlassen und diese totale Beschlagnahmung vermieden wird, und zwar die „Reue“ (mit „Reue“, „repentir“ übersetzt François-Victor Hugo „humbleness“: wenn du Demut bezeugst, indem du bereust, wird deine Strafe erlassen und du bekommst nur ein Bußgeld anstelle einer Totalenteignung). Die absolute Gnade aber, über die besitzt der Doge eine so souveräne Macht, dass er androhen wird, sie zu widerrufen („He shall do this or else I do recant / The pardon that I late pronounced here“). Portia hatte protestiert gegen das Versprechen, unter der Bedingung der Reue die totale Beschlagnahmung in ein Bußgeld abzumildern. Sie sagt „Ay, for the state; not for Antonio“ (dass man ihm die Strafe der Beschlagnahmung dessen
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erlässt, was er dem Staat schulde, aber nicht dessen, was er Antonio schulde). Da lehnt Shylock sich auf und lehnt die Vergebung ab. Er lehnt ab zu vergeben, gewiss, „merciful“ zu sein, aber er lehnt umgekehrt auch ab, dass ihm um diesen Preis vergeben wird. Er lehnt demnach sowohl ab, Vergebung zu gewähren, als auch, um sie zu bitten. Fremd sei ihm, sagt er letztlich, diese ganze „Logik“ oder diese „Ökonomie“ der Vergebung, diese phantasmatische Geschichte, diese ganze krankhafte Intrige der Vergebung, dieses ganze christliche und theologischpolitische Gepredige, das ein X für ein U vormachen will. Er will lieber sterben, als dass ihm um diesen Preis vergeben wird, denn er hat begriffen oder jedenfalls geahnt, dass er die absolute und gnädige Vergebung tatsächlich sehr teuer bezahlen müsste, und dass sich stets eine kalkulierte Rentabilität hinter diesem Theater der absoluten Gnade versteckt. So sagt Shylock in einer Art Gegenkalkül: Nun, dann behaltet eure Vergebung, nehmt mein Leben, tötet mich also; denn wenn ihr mir alles nehmt, was ich habe, und alles, was ich bin, tötet ihr mich ohnehin: „Nay, take my life and all; pardon not that: / You take my house when you take the prop / That doth sustain my house; you take my life / When you do take the means whereby I live.“ („Nein, nehmt mir das Leben und alles; erlasst mir nichts (vergebt mir nicht). Ihr nehmt mir mein Haus, wenn Ihr die Stütze nehmt, die mein Haus trägt. Ihr nehmt mir das Leben, wenn Ihr mir die Mittel nehmt, von denen ich lebe.“) Man weiß, wie die Dinge enden: das außerordentliche Geschäft [commerce] der Ringe und Schwüre. Ob in einen solchen Austausch verwickelt oder nicht, am Ende verliert Shylock alles. Als der Doge droht, seine Gnade zu widerrufen, muss er einwilligen, einen totalen Schuldenerlass und eine Zwangskonversion zum Christentum zu unterzeichnen. „Bei der Taufe“, sagt ihm Gratiano, „wirst du zwei Paten haben. – Wäre ich der Richter gewesen, hättest du noch zehn weitere haben sollen, – um dich an den Galgen zu bringen, nicht zum Taufbecken“, exit Shylock („In christ’ning shalt thou have two godfathers. / Hath I been judge, thou shouldst have ten more – To bring thee to the gallows, not the font“). Als Shylock alles verloren und den Schauplatz der Geschichte verlassen hat (kein Jude mehr auf dem Schauplatz, kein Jude mehr in der Geschichte), teilt man sich den Gewinn und der Doge bittet inständig, befleht, beschwört (wie man „entreat“ übersetzt) Portia, zum Essen zu ihm zu kommen. Sie lehnt ab, demütig um Vergebung bittend: „I humbly do desire your Grace of pardon“ (die Tatsache, dass man die Großen oft Euer Gnaden nennt, Eure gnädigliche Hoheit, bezeichnet durchaus die Macht, von der wir sprechen). Sie bittet Seiner Gnaden um Vergebung, denn sie hat in der Stadt zu tun. Der Doge verlangt, dass man sie oder ihn honoriert (gratify), dass man sie/ihn für seine Dienste bezahlt oder be-
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lohnt („Antonio, gratify this gentleman, / For in my mind you are much bound to him“). Diese Gratifikation, diese Belohnung ist ein Lohn. Portia weiß es, sie erkennt es an, sie weiß und sagt, dass sie dafür bezahlt worden ist, dass sie gut mit einer Szene von Gnade und Vergebung gespielt hat, wie ein geschickter und durchtriebener Gesetzesmann; sie gesteht ein, diese Frau als Mann, dass sie gut bezahlt worden ist als Söldner des merci, oder der mercy, in gewisser Weise: „He is well paid that is well satisfied; / And I, delivering you, am satisfied, / And therein do account myself well paid: / My mind was never yet more mercenary“ („Der ist gut bezahlt, der gut zufriedengestellt ist, und ich bin dadurch, dass ich Euch befreite, zufriedengestellt und betrachte mich damit als gut bezahlt; mein Sinn war noch nie gewinnsüchtiger...“). Niemand könnte besser die „Gewinnsucht“ („mercenariat“) des „merci“ in jedem Sinne dieses Wortes zur Sprache bringen. Und im Übrigen kann sie niemand besser zur Sprache bringen als Shakespeare, den man des Antisemitismus angeklagt hat für ein Stück, das mit einer Kraft ohnegleichen alle großen Motive des christlichen Antijudaismus inszeniert. Schließlich antwortet, noch immer in derselben Szene, Bassanio auf Portia Folgendes, das wiederum eine Logik der Vergebung anspricht: „Nehmt irgendein Andenken an uns, als Tribut, nicht als Lohn“, „Take some remembrance of us, as a tribute, / Not as a fee. Grant me two things, I pray you, / Not to deny me, and to pardon me“ („Gewährt mir bitte zwei Dinge: es mir nicht abzuschlagen und mir zu vergeben“). Das ist der Kontext, in dem Portia die Redekunst entfaltet haben wird, für die sie bezahlt worden sein wird, wie ein gewinnsüchtiger Gesetzesmann. Es ist angerichtet, hier nun le plat de résistance. Ich habe seinen gehobeneren, feineren Geschmack für das Ende aufgehoben. Just nachdem sie/er gesagt hat „Then must the Jew be merciful“, und nachdem Shylock mit der Frage protestiert hat: „On what compulsion must I? Tell me that.“, ergreift Portia wieder das Wort. Ich zitiere sie auf Englisch, dann übersetze ich – paraphrasiere vielmehr – Etappe für Etappe das, was einer bewundernswert rhythmisierten Überbietung gleicht: Erste Etappe: The quality of mercy is not strained, It droppeth as the gentle rain from Heaven Upon the place beneath: it is twice bless’d; It blesseth him that gives and him that takes.
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Übersetzung oder Paraphrase: die Qualität der Vergebung ist nicht erzwungen: Vergebung lässt sich nicht befehlen, sie ist frei, gratis; die Gnade ist gratis. Die Gnade fällt, vom Himmel fällt sie wie ein sanfter Regen. Sie ist nicht programmierbar, kalkulierbar, sie kommt oder kommt nicht, niemand entscheidet darüber, auch kein menschliches Gesetz; so wie der Regen, es kommt oder kommt nicht; aber es ist ein guter Regen, ein sanfter Regen; die Vergebung lässt sich nicht befehlen, sie lässt sich nicht kalkulieren, sie ist dem Kalkül, der Ökonomie, der Transaktion und dem Gesetz fremd, aber sie ist gut, wie die Gabe, denn die Gnade gibt, indem sie vergibt, und sie befruchtet; sie ist gut, sie ist wohltuend, wohlwollend, wohltätig wie eine Wohltat gegen eine Missetat, eine Güte gegen eine Gemeinheit. Sie fällt, wie der Regen, von oben nach unten („it droppeth [...] upon the place beneath“): der Vergebende ist, wie die Vergebung selbst, oben, sehr hoch, über dem, der um Vergebung bittet oder sie erhält; da gibt es eine Hierarchie, und deshalb ist der Regen nicht nur die Metapher für ein Phänomen, das man nicht befiehlt, sondern auch für eine absteigende vertikale Bewegung: die Vergebung wird von oben nach unten gegeben. „Sie ist zweimal gesegnet; sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt“, „it is twice bless’d; it blesseth him that gives and him that takes“; es gibt da also bereits ein Teilen des Guten, des getanen Guten, ein Teilen des Segens [benediction], performatives Ereignis, und eine Spiegelbildlichkeit zwischen zweierlei Gewinn [benefices] und zweien, denen der Segen zugutekommt, eine Wechselseitigkeit im Tausch, eine Übersetzung zwischen Geben und Nehmen. Zweite Etappe: ‘Tis mightiest in the mightiest; it becomes The throned monarch better than his crown; His sceptre shows the force of temporal power, The attribute to awe and majesty, Wherein doth sit the dread and fear of kings; But mercy is above this sceptred sway, It is enthroned in the heart of kings, It is an attribute to God himself, And earthly power doth then show likest God’s When mercy seasons justice...
Sie, die vergebende Gnade, sie ist das Mächtigste oder das Allmächtige im Allmächtigen: „‘Tis mightiest in the mightiest“, die Allmächtigkeit der Allmächtigkeit, die Allmächtigkeit in der Allmächtigkeit oder das Allmächtige unter allen Allmächtigen, die absolute Größe, die absolute Höhe, die absolute Mächtigkeit
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in der absoluten Mächtigkeit, der hyperbolische Superlativ der Mächtigkeit. Die Allmächtigkeit der Allmächtigkeit ist zugleich das Wesen der Macht [pouvoir], das Wesen der Mächtigkeit [puissance], das Wesen des Möglichen, aber auch das, was als Wesen und Superlativ der Mächtigkeit zugleich das Höchste der Mächtigkeit und mehr als die Mächtigkeit ist, jenseits der Allmächtigkeit. Diese Grenze der Macht, der Mächtigkeit und des Möglichen verpflichtet uns dazu, uns zu fragen, ob die Erfahrung der Vergebung eine Erfahrung des „Könnens“ [pouvoir] ist, des „Vergeben-Könnens“, die Affirmation der Macht und des Könnens durch die Vergebung, usw., am Angelpunkt aller Ordnungen des „ich kann“, und nicht nur der politischen Macht, oder aber das Jenseits aller Macht und allen Könnens. Hier handelt es sich immer um das wiederum schwierig zu übersetzende plus im Sinne von das Meiste [comme le plus] und im Sinne von mehr als [comme plus que], das Mächtigere/Mächtigste [le plus puissant] im Sinne von mächtiger als – und im Sinne von mehr als mächtig, und also einer anderen Ordnung zugehörig als die Mächtigkeit, die Macht oder das Mögliche: das Unmögliche, mehr als unmöglich und also möglich.9 Und genauso, wenn die Vergebung, wenn „the mercy, the quality of mercy“ „the mightiest in the mightiest“ ist, dann situiert dies zugleich den Gipfel der
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Die Struktur ist analog zu dem, was Angelus Silesius im Cherubinischen Wandersmann (den ich in Sauf le nom S. 33 zitiere und analysiere [dt. Außer dem Namen, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, in: ders.: Über den Namen, Wien 2000, S. 63-121, hier S. 74]) das „*überunmöglichste“ nennt, wovon er sagt, dass es möglich ist – und das ist Gott: „*das überunmöglichste ist möglich“, sagt er; und je nachdem, wie man das über versteht, kann man übersetzen: „das Unmöglichste, das absolute Unmögliche, das Unmögliche par excellence ist möglich“ oder: „das Mehr-alsUnmögliche, das Jenseits des Unmöglichen ist möglich“; was zugleich sehr unterschiedlich ist und auf dasselbe hinausläuft, denn in beiden Fällen (der eine komparativ, der andere superlativ) läuft es darauf hinaus zu sagen, dass der Gipfel, die Spitze des Gipfels (der Scheitelpunkt) von einer anderen Ordnung ist als das, dessen Gipfel er ist; das Höchste ist also das Gegenteil oder anders als das, was es so übersteigt: es ist, auf souveräne Weise, höher als die Höhe des Höchsten; das Unmöglichste und das Mehr als Unmögliche sind von einer anderen Ordnung als das Unmögliche im Allgemeinen und können also möglich sein. Der Sinn des „Möglichen“, die Tragweite des Möglichkeitsbegriffs, werden im Intervall, an der Spitze und an der Grenze des UnMöglichen, wenn ich so sagen kann, einen Wandel durchlaufen haben – und dieser Wandel steht in unserer Reflexion über die unmögliche Möglichkeit der Übersetzung auf dem Spiel: zwischen möglich und unmöglich gibt es, sobald sie zwei heterogenen Ordnungen angehören, keinen möglichen Widerspruch mehr.
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Allmächtigkeit und etwas, das mehr und anders ist als die Souveränität der absoluten Macht. Wir könnten dem nachgehen, welche Folgen das Beben dieser Grenze nimmt, die zwischen der absoluten souveränen Macht und der absoluten Unmacht verläuft, der Unmacht oder dem absoluten Unmöglichen als grenzenloser Macht. Alle Paradoxa der absoluten Souveränität entfalten sich in dieser Hyperbel des Superlativs. Das ist nicht ohne Bezug zum un-möglichen Möglichen der Übersetzung. Diese Souveränität der Vergebung ziemt dem Monarchen auf dem Thron, sagt also Portia, sie steht ihm besser noch als seine Krone. Sie ist höher als die Krone auf dem Kopf, sie steht dem Monarchen, sie ziemt ihm, aber sie geht höher als der Kopf und das Haupt, als das Attribut oder als das Zeichen von Macht, das die Königskrone ist. Wie das Zepter, so bekundet die Krone die zeitliche Macht, während die Vergebung eine überzeitliche, spirituelle Macht ist. Oberhalb der Autorität des Zepters thront sie im Herzen der Könige. Diese Allmächtigkeit ist anders als die zeitliche Mächtigkeit, und um anders sein zu können als die zeitliche, also irdische und politische Mächtigkeit, muss sie innerlich, geistig, ideal sein: im Herzen des Königs und nicht in seinen äußeren Attributen. Das Überschreiten jener Grenze folgt offenkundig dieser Bahn einer Verinnerlichung. Letztere geht vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, indem sie zur Sache des Herzens wird: die Vergebung als Barmherzigkeit [miséricorde], die Empfänglichkeit des Herzens für das Unglück des Schuldigen, was der Vergebung ihre Bewegung gibt. Diese innere Barmherzigkeit ist göttlichen Wesens, sie sagt aber auch etwas über das Wesen der Übersetzung. Portia spricht offenkundig als Christin, sie versucht bereits zu konvertieren, versucht einen Konvertiten zu konvertieren oder vorzutäuschen ihm zu predigen10. Indem sie versucht, Shylock davon zu überzeugen, dass er vergeben soll, strebt sie bereits danach, ihn zum Christentum zu bekehren; indem sie vortäuscht, dass sie ihn bereits für einen Christen hält, der also vernehmen wird, was sie sagen will. Sie wendet ihn mit ihrer Logik und ihrer Rhetorik dem Christentum zu. Sie prädisponiert ihn zum Christentum, wie Pascal gesagt hätte, sie prä-konvertiert ihn, sie konvertiert ihn innerlich, eine Konversion, die er bald darauf genötigt sein wird, körperlich zu vollziehen, unter Zwang. Sie versucht ihn zum Christentum zu bekehren, indem sie ihn von dieser als christlich geltenden Auslegung überzeugt, die darin besteht zu verinnerlichen, zu vergeistigen, zu idealisieren, was bei den Juden (sagt man zumindest oft, das ist ein sehr machtvolles Stereotyp) körperlich, äu-
10 [Anm. d. Ü.] Die hier wörtlich übersetzte Redewendung prêcher un converti, einem Konvertiten predigen, bedeutet soviel wie „jemanden überzeugen, der bereits überzeugt ist“.
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ßerlich, buchstäblich, der Achtung des Wortlauts, des Buchstabens verschrieben bliebe. Wie beim Unterschied der Beschneidung des Fleisches und der paulinischen Beschneidung des Herzens – im Übrigen wäre da gewiss nach einer Übersetzung, im weiteren Sinne, in Hinsicht auf diese Problematik der Beschneidung zu suchen (buchstäbliche Beschneidung des Fleisches oder ideale und innerliche Beschneidung des Herzens, jüdische Beschneidung und christliche Beschneidung, Debatte um Paulus): Was geschieht da im Grunde zwischen dem Juden Shylock und der Gesetzgebung des christlichen Staates in diesem Einsatz eines Pfundes Fleisch vor dem Gesetz, dem Eid, der geschworenen Treue, der Frage der Buchstäblichkeit usw.? Wenn die Vergebung im Innern des Herzens des Königs wohnt und nicht in seinem Zepter, seiner Krone oder seinem Thron, in den zeitlichen, irdischen, sichtbaren und politischen Attributen seiner Macht, ist ein Schritt gen Gott getan. Die Macht zu begnadigen, die im Menschen, in der menschlichen Macht, in der königlichen Macht als menschlicher Macht verinnerlicht ist, wird von Portia göttlich genannt: sie sei gleichsam göttlich. Dieses „gleichsam“, diese Analogie oder diese Ähnlichkeit, stützt eine Logik, vielmehr eine Analogik der theologisch-politischen Übersetzung, der Übersetzung des Theologischen in Politisches: „It is enthroned in the hearts of kings, / It is an attribute to God himself, / An earthly power doth then show likest God’s / When mercy seasons justice“: „Sie thront im Herzen der Könige, sie ist ein Attribut Gottes selbst“, und die irdische Macht, die Gott am meisten ähnelt, ist diejenige, die „seasons justice“, die die Gerechtigkeit durch die Vergebung „mildert“ [„tempère“]; „wenn die Vergebung die Gerechtigkeit mildert“, „when mercy seasons justice“. „Tempère“ ist die Übersetzung von François-Victor Hugo, für „seasons“. Das ist keine Fehlinterpretation, es bedeutet sehr wohl „assaisonner“, abschmecken, abstimmen, mischen, abwandeln, verändern, mildern, anpassen, und zwar eine Nahrung oder ein Klima, eine Geschmacks- oder eine Qualitätsempfindung; vergessen wir nicht, dass diese Rede mit dem Versuch angefangen hat, „the quality of mercy“ zu beschreiben. Aber ich wäre versucht, diese Übersetzung von François-Victor Hugo („tempère“), die nicht schlecht und weder untreu noch irrelevant ist, durch eine andere zu ersetzen. Es wird keine „echte“ Übersetzung sein, vor allem keine relevante, das betone ich nachdrücklich. Sie wird nicht auf den Namen „Übersetzung“ antworten. Sie wird nicht wiedergeben, sie wird nicht begleichen, sie wird nicht alles zurückerstatten, sie wird nicht ihre ganze Schuld bezahlen und zuallererst nicht an einen vorausgesetzten Begriff, an eine angebliche Bedeutungsidentität des Wortes „Übersetzung“. Sie wird folglich nicht dem zugehören [relever], ich wiederhole es, was man üblicherweise eine Übersetzung nennt, eine re-
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levante Übersetzung. Die relevanteste Übersetzung (diejenige, die sich als Transport des intakten Signifikats in irgendeinen indifferenten Vehikelsignifikanten präsentiert) ist die am wenigsten relevante überhaupt, doch davon einmal abgesehen wird diese mir vielleicht erlauben, zumindest drei Gesten auf einmal, drei Rechtfertigungen zu versuchen und zwischen ihnen, in derselben Ökonomie, drei Notwendigkeiten zu knüpfen, die alle an die Geschichte eines Übersetzungsversuchs gebunden sein werden, den ich vor etwa dreißig Jahren ein wenig verwegen in die Wege geleitet hatte und der jetzt im Französischen öffentlich besiegelt ist – während er natürlich seinerseits unübersetzbar in eine andere Sprache bleibt. Ich werde also „seasons“ mit „relève“ übersetzen: „when mercy seasons justice“, „quand le pardon relève la justice (ou le droit)“, „wenn Vergebung die Gerechtigkeit (oder das Recht) aufhebt“. 1. Erste Rechtfertigung, unmittelbare Bürgin im Spiel des Idioms. Relever hat zunächst die hier konnotierte Bedeutung der Küche, wie assaisonner. Es geht darum, Geschmack zu geben, einen anderen Geschmack, der sich mit dem ersten verlorenen Geschmack vermählt, der derselbe bleibt, während er ihn zugleich verändert [altérant], ihn abwandelt, ihm vermutlich etwas von seinem nativen Geschmack, seinem ursprünglichen, idiomatischen Geschmack fortnimmt, ihm aber auch und eben dadurch mehr Geschmack verleiht, seinen natürlichen Geschmack herausbildet [cultive], ihm noch mehr den Geschmack seines Geschmacks gibt; seiner eigenen, natürlichen Würze; das ist, was man in der französischen Küche „relever“ nennt, „würzen“, „fein abstimmen“. Und eben das sagt Portia: le pardon relève la justice, die Vergebung hebt die Gerechtigkeit hervor, die Qualität der Vergebung hebt den Geschmack der Gerechtigkeit hervor. Die Vergebung wahrt den Geschmack der Gerechtigkeit, während sie ihn zugleich affiziert, ihn verfeinert, kultiviert; sie ähnelt ihm, aber sie kommt von anderswo, sie gehört einer anderen Ordnung an, gleichzeitig verändert sie ihn, sie mildert ihn ab und verstärkt ihn zugleich, wandelt ihn, ohne ihn zu wandeln, konvertiert ihn, ohne ihn zu konvertieren, ihn jedoch verbessernd, ihn hebend. Das ist ein erster Grund, um „seasons“ mit „relève“ zu übersetzen, das gut den Geschmackscode und die kulinarische Referenz von to season, „assaisonner“ wahrt: to season with spice heißt würzen. A seasoned dish ist, so übersetzt Robert, ein „plat relevé“, ein gewürztes, fein abgestimmtes Gericht.11 Die Gerech-
11 Der reiche Artikel des Oxford English Dictionary führt großartige Beispiele für Bedeutungen an, die so verschieden sind wie „to render more palatable by the addition of some savoury ingredient“, „to adapt“, „to accomodate to a particular taste“, „to moderate, to alleviate, to temper, to embalm; to ripen, to fortify“. Ein seltenerer
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tigkeit bewahrt ihren Eigengeschmack, ihre eigene Bedeutung, aber dieser selbe Geschmack ist besser, wenn er „seasoned“ ist, durch Vergebung fein abgestimmt. Ohne mitzurechnen, dass die Vergebung (pardon, mercy) auf diese Weise den Gerechten erlösen, befreien, erleichtern, entschädigen, ja sogar heilen kann (es ist die Kette heal, *heilen, holy, *heilig), der solcherweise erleichert, entlastet, befreit (relieved), sich in Hinblick auf das sakro-sankte Heil freikauft. 2. Zweite Rechtfertigung: „relever“ sagt durchaus die Erhebung. Die Vergebung hebt die Gerechtigkeit, sie zieht sie von oben her an, zieht sie hinauf, in eine Höhe, die höher ist als die Krone, das Zepter und die königliche, menschliche, irdische usw. Macht. Sublimierung, Erhebung, Exaltation, Aufstieg in die himmlische Höhe, zum Höchsten oder Allerhöchsten, höher als die Höhe. Dank der Vergebung, dank der Gnade [grâce à la grâce] ist die Gerechtigkeit noch gerechter, gerechter als das Recht, sie transzendiert sich, sie vergeistigt sich, indem sie sich erhebt und indem sie sich so selbst über sich selbst hinaus (hin)aufhebt. Die Gnade sublimiert die Gerechtigkeit. 3. Schließlich gäbe es eine dritte Rechtfertigung des Verbes „relever“. Das Wort Rechtfertigung, justification, benutze ich absichtlich, um das, was diese Übersetzung relevant machen würde, in Zusammenklang zu bringen mit dem damit verbundenen Motiv der Gerechtigkeit („Mercy seasons justice“) und der Richtigkeit, mit dem, was das rechte Wort sein soll, das möglichst, das meistmöglich richtige und gerechte, gerechter als das rechte Wort. Diese letzte Rechtfertigung gäbe nun also dieser Ökonomie, dieser Akkumulierung, dieser Kapitalisierung guter Gründe ihre philosophische Bedeutung und Kohärenz. 1967 galt es, aus dem Deutschen ein Wort Hegels (*Aufheben, *Aufhebung) mit kapitaler Bedeutung und Doppelsinn zu übersetzen, das zugleich auslöschen und erheben bedeutet, ein Wort, von dem Hegel sagt, es stelle eine spekulative Chance der deutschen Sprache dar, ein Wort, das bisher jeder in allgemeinem Übereinstimmen unübersetzbar fand – oder wenn Sie es bevorzugen, ein Wort, bei dem niemand auf der Welt sich auf irgendwen einstimmte, um es in irgendeine Sprache auf stabile und zufriedenstellende Weise zu übersetzen, und ich hatte den Namen „relève“ oder das Verb „relever“ vorgeschlagen. Das würde erlauben, sie in ein einziges Wort zusammenfügend, das Doppelmotiv der Erhebung und der Ersetzung zu wahren, das aufbewahrt, was es negiert oder zerstört, bewahrend [gardant], was es verschwinden lässt, so wie ganz genau, schönes Beispiel, in dem, was man in der Armee, beispielsweise in der Marine, la relève de la garde, die
und älterer Gebrauch (XVI. Jahrhundert): to impregnate, to copulate: „when a male hath once seasoned the female, he never after touches her“.
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Wachablösung nennt. Dieser letzte Gebrauch ist übrigens im englischen „to relieve“ möglich.12 War meine Operation eine Übersetzung?13 Nein, ich bin nicht sicher, dass sie diesen Namen, in seiner herrschenden und herkömmlichen Bedeutung, verdient. Tatsache ist, dass sie jetzt unersetzlich geworden und nahezu besiegelt ist, selbst in der Universität, manchmal in anderen Sprachen, wo man das französische Wort dann wie eine zitierte Übersetzung verwendet und selbst da, wo man nicht mehr weiß, woher sie kommt, und selbst wenn man den Ort, von dem sie kommt, nicht mag, ich meine „mich“, selbst wenn man seinen Geschmack nicht mag. Wir begeben uns hier nicht in die Tiefen der Einsätze hinein, aber ich muss zumindest daran erinnern, dass diese Bewegung der *Aufhebung, dieser relevante, aufhebende Prozess bei Hegel, stets eine dialektische Bewegung der Verinnerlichung, der *Erinnerung und der sublimierenden Vergeistigung ist. Es ist auch eine Übersetzung. Und es handelt sich durchaus um eine solche *Aufhebung, hier, in Portias Mund: Die Vergebung hebt auf, sie erhebt, ersetzt und verinnerlicht die Gerechtigkeit, die sie würzt. Vor allem würden wir diese selbe Notwendigkeit der *Aufhebung genau im Herzen der hegelschen Deutung der Vergebung wiederfinden, namentlich in der Phänomenologie des Geistes: Die Bewegung zur Philosophie und zum absoluten Wissen als Wahrheit der christlichen Religion geht durch die Erfahrung der Vergebung, beziehungsweise der Verzeihung.14 Die Vergebung ist eine Aufhebung, sie ist ihrem Wesen nach
12 Ich habe eben auf die Marine angespielt. Nun, Joseph Conrad schreibt beispielsweise in The Secret-Sharer (Erstpublikation in: Harper’s Magazine, August 1910, Part I, S.349-359): „I would get the second mate to relieve me at that hour“ (S. 350), dann „I [...] returned on deck for my relief“ (S. 354). 13 Das erste Mal, als das Wort „relève“ sich mir aufdrängte, um das Wort *Aufhebung zu übersetzen (ohne zu übersetzen), handelte es sich sonderbarerweise um eine Analyse des Zeichens. (Vgl. „Der Schacht und die Pyramide. Einführung in Hegels Semiologie“ („Introduction à la sémiologie de Hegel“), Vortrag im Collège de France im Seminar von Jean Hyppolite im Januar 1968, wiederaufgenommen in: Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie, übers. von Gerhard Ahrens, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 85–119, hier S. 90). Die meisten „unentscheidbar“ genannten Wörter, die mich seither interessiert haben, sind nicht zufällig auch unübersetzbar in ein einziges Wort (pharmakon, supplément, différance, hymen, usw.) und ihre Liste ist per Definition nicht abschließbar. 14 Die Phänomenologie des Geistes, am Ende von Die offenbare Religion, genau vor Das absolute Wissen, also am Übergang zwischen absoluter Religion und absolutem
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*Aufhebung. Und auch Übersetzung. In den Horizont der Sühne, der Erlösung, der Versöhnung und des Heils. Über dem Zepter, sagt Portia, und da, wo sie auf ihrem inneren Thron im Herzen des Königs sitzt, ist die Gnade ein Attribut Gottes selbst, und als irdische Macht, sagt sie weiterhin, ähnelt somit die Vergebung in dem Moment, wo sie die justice15 (hören Sie hier das Recht) aufhebt, einer göttlichen Macht. Was darin hier zählt, ist die Ähnlichkeit, die Analogie, die Figuration, die maximale Analogie, eine Art menschliche Übersetzung der Göttlichkeit: Die Vergebung ist in der menschlichen Macht das, was am ähnlichsten, was am meisten so ist wie und sich am meisten offenbart als eine göttliche Macht („then show likest God’s“). But mercy is above this sceptred sway, It is enthroned in the hearts of kings, It is an attribute to God himself, And earthly power doth then show likest God’s When mercy seasons justice...
Das bedeutet nicht notwendig, dass die Vergebung allein von einer Person kommt, da oben, die man Gott nennt, von einem barmherzigen Vater, der seine Vergebung auf uns herniedersinken lässt. Nein, damit kann auch gemeint sein, dass man, sobald es Vergebung gibt, wenn es welche gibt, in der menschlich genannten Erfahrung eine Zone von Göttlichkeit betritt: Die Gnade ist die Genese des Göttlichen, des Heiligen oder des Sakralen usw., aber auch der Ort der reinen Übersetzung. (Eine gewagte Deutung. Sie könnte, sagen wir es allzu schnell, die Notwendigkeit der Einzelperson auslöschen, der vergebenden oder vergebenen Person, des „wer“, das irreduzibel auf die Wesensqualität einer Gottheit ist, usw.) Diese Analogie („then show likest God’s“) ist der Ort selbst des TheologischPolitischen, der Bindestrich oder Übersetzungsstrich zwischen dem Theologi-
Wissen – als Wahrheit der Religion. ([Anm. d. Ü.] Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1973, S. 492. Obwohl dort von Verzeihung die Rede ist, nicht von Vergebung, übersetzen wir pardon hier durchgehend mit Vergebung so wie Markus Sedlaczek in seiner Übersetzung von: Derrida, Jacques: Vergeben. Das Nichtvergebbare und das Unverjährbare, Wien 2017. Vgl. auch die Anmerkung Sedlaczeks: Ebd., S. 73-86.) 15 [Anm. d. Ü.] Das Bedeutungsspektrum von la justice im Französischen umfasst sowohl die Gerechtigkeit als auch die Justiz, das Rechtswesen.
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schen und dem Politischen. Es ist auch das, was die politische Souveränität, die christliche Inkarnation des Körpers Gottes (oder Christi) im Körper des Königs, die zwei Körper des Königs gewährleistet. Diese analogische – und christliche – Artikulation zwischen den beiden Mächten (göttlicher und königlicher, himmlischer und irdischer Macht) verläuft hier über die Souveränität der Vergebung und des Gnadenrechts. Sie ist damit auch die erhabene Größe, die alle Listen und alle Niederträchtigkeiten autorisiert oder auf die diese sich berufen [s’autorisent], die dem Anwalt Portia, dem Sprecher aller christlichen Gegner Shylocks, vom Kaufmann Antonio bis zum Dogen, erlauben werden, ihn zu überwältigen und ihn alles verlieren zu lassen, sein Pfund Fleisch, sein Geld und sogar seine Religion. Wenn ich alles Schlechte sage, das man von der christlichen List als Diskurs der Vergebung denken kann, halte ich damit durchaus keine Lobrede auf Shylock, wenn er auf sein Recht pocht, sein Pfund Fleisch fordert und verlangt, dass man der Buchstäblichkeit des „bond“ stattgebe. Ich analysiere lediglich, wie in dieser Situation historisch und allegorisch die Karten gemischt sind. Ich schlage eine Analyse der diskursiven, logischen, theologischen, politischen, ökonomischen Ressourcen dieses Vergebungsbegriffs, der Erbschaft, die die unsere ist, dieser Semantik der Vergebung vor – da, wo sie von einer gewissen europäischen Auslegung der Übersetzung nicht zu trennen ist. Indem ich somit drei Rechtfertigungen meiner Quasi-Übersetzung sowohl von „seasons“ als auch von „*Aufhebung“ mit „relève“ (Verb und Nomen) angeboten habe, habe ich allzu viele Gründe akkumuliert, um das Wesentliche zu verbergen, dass nämlich meine Wahl auf die bestmögliche Transaktion bedacht war, auf diejenige, die am ökonomischsten wäre, weil sie erlauben würde, so viele Wörter, sogar Sprachen, so viele Denotationen und Konnotationen in ein einziges Wort zu übersetzen. Ich bin nicht sicher, dass diese Transaktion, und sei sie die meistmöglich ökonomische, des Namens Übersetzung, des Namens traduction würdig ist, im strengen, reinen Sinne dieses Wortes, falls es den gibt. Es wäre eher eine dieser anderen Sachen auf tr., eine Transaktion, eine Transformation, eine Arbeit, ein travail, ein travel – und eine trouvaille, ein Fundstück (denn wenn diese Erfindung auch eine Herausforderung anzunehmen schien, relever un défi, wie man im Französischen auch sagt, so bestand sie doch nur darin zu entdecken, was in der Sprache wartete, oder zu wecken, was darin schlief). Das Fundstück bringt Arbeit, es lässt zuerst die Sprachen arbeiten, ohne Adäquation noch Transparenz, und zwar affiziert es hier mit einem neuen performativen oder poetischen Schreiben oder Wiederschreiben genauso das Französische, zu dem auf einmal ein neuer Gebrauch des Wortes hinzukommt, wie das Deutsche und das Englische. Diese Operation hat vielleicht noch an jener
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Arbeit des Negativen teil, in der Hegel eine Aufhebung sah. Wenn ich also annähme, dass die Quasi-Übersetzung, die Transaktion des Wortes „relève“ „relevant“ ist (ein englisches Wort, das im Begriff ist, zu einem französischen zu werden), so würde das vielleicht die Wirksamkeit [efficacité] dieser Arbeit beschreiben sowie ihr angenommenes Recht, legitimiert, akkreditiert, mit einem amtlichen Kurs notiert zu werden. Das Hauptinteresse16 dieses Fundstücks aber, wenn es denn eines hat, wenn ich es in Begriffen von usure, von Abnutzung/Wucher und Markt bewerten kann, läge darin, dass es etwas über die Ökonomie jeder zwischensprachlichen Übersetzung sagt, dieses Mal im reinen, strengen Sinne dieses Wortes. Kein Zweifel, eine Herausforderung annehmend [en relevant un défi] fügt man somit ein Wort aus der französischen Sprache hinzu, ein Wort in einem Wort – und der Gebrauch, den ich soeben, „eine Herausforderung annehmend“, von dem Wort „relever“ gemacht habe, „en relevant un défi“, wird ebenfalls zu einer Herausforderung, einer weiteren Herausforderung für jede Übersetzung, die in einer anderen Sprache alle Konnotationen aufnehmen wollte, die sich in diesem Wort soeben akkumuliert haben. Dieses bleibt in sich selbst zahllos, vielleicht unnennbar: mehr als ein Wort in einem Wort, mehr als eine Sprache in einer einzigen Sprache, jenseits jeder möglichen Buchführung und Zählbarkeit der Homonyme. Was diese Übersetzung mit dem Wort „relevante“ auch zeigen würde, das wäre, exemplarisch, dass jede Übersetzung von ihrer Berufung her relevante sein, und das hieße auch aufheben, müsste. Sie würde so das Überleben des Körpers des Originals gewährleisten. Verstehen wir hier das Überlebendsein [survivance] dieses Überlebens im doppelten Sinne, den ihm Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers gibt: *fortleben und *überleben: fortgesetztes Leben, weitergeführtes Leben, living on, aber auch Leben jenseits des Todes. Ist es nicht das, was eine Übersetzung macht? Stellt sie nicht diese beiden Überleben sicher, indem sie im Verlauf einer Umtauschoperation17 das Fleisch verliert? Indem sie den Signifikanten zu seiner Bedeutung oder seinem Wert hin erhebt, aber zugleich das trauernde und verschuldete Gedächtnis des singulären Körpers wahrt, des ersten Körpers, des einzigartigen Körpers, den sie auf diese Weise erhebt und rettet und aufhebt? Da es sich um eine Arbeit handelt, ja, wie gesagt, sogar um eine Arbeit des Negativen, ist diese Relevanz eine Trauerarbeit, im rätselhaftesten Sinne dieses Wortes. Der verdiente hier noch einmal ausgearbeitet zu werden, was ich anderswo versucht habe, hier muss ich jedoch darauf
16 [Anm. d. Ü.] Das französische „intérêt“ bedeutet auch „Zins“ und im juristischen Bereich „Nutzen“. 17 [Anm. d. Ü.] Eine opération de change ist auch ein Devisengeschäft.
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verzichten. Das Maß der Aufhebung, der relève oder der Relevanz, der Preis einer Übersetzung, ist stets das, was man den Sinn nennt, ja den Wert, die Warte oder das Wahren [la garde], die Wahrheit als garde (*Wahrheit, *bewahren) oder den Wert des Sinns, nämlich das, was sich vom Körper befreit und sich über ihn erhebt, ihn verinnerlicht, ihn vergeistigt, ihn im Gedächtnis wahrt. Treues, trauerndes Gedächtnis. Man braucht nicht einmal zu sagen, dass die Übersetzung den Wert des Sinns wahrt oder den Körper darin aufheben muss: Das Konzept selbst, der Wert des Sinns, der Sinn des Sinns, der Wert des gewahrten Werts entsteht aus der trauernden Erfahrung der Übersetzung, aus ihrer Möglichkeit selbst. Im Widerstand gegen diese Transkription, gegen diese Transaktion, die eine Übersetzung ist, gegen diese relève/gegen diese Aufhebung, hat Shylock, dem die Hände gebunden sind, sich dem Coup der christlichen Strategie ausgeliefert. (Coût, Kosten einer Wette zwischen Judentum und Christentum, Coup gegen Coup: sie übersetzen sich, ohne sich ineinander zu übersetzen.) Ich insistiere auf der christlichen Dimension. Das Christentum (und namentlich der Protestantismus) hat in der Geschichte der Übersetzung und des normativen Übersetzungsbegriffs seine Spuren hinterlassen, und die relève, die *Aufhebung Hegels (der, woran man immer erinnern muss, ein sehr lutheranischer Denker war, wie Heidegger zweifelsohne) ist explizit eine Aufhebung der Passion und des spekulativen Karfreitags im absoluten Wissen. Über diese Spuren und diese Aufhebung hinaus aber beschreibt die Trauerarbeit auch, durch die Passion, durch das vom verlorenen, aber im Innern seines Grabes bewahrten Körper heimgesuchte Gedächtnis hindurch, die Auferstehung des Gespensts oder des verklärten Leibes, der sich erhebt, wieder aufsteht [se relève] – und geht. Ohne Hegels Phantom Kummer bereiten zu wollen, verzichte ich auf das dritte Moment18, das ich in Portias Rede angekündigt hatte (es hätte die Übersetzung als Gebet und Segen betroffen).
18 Es würde sich, ohne weiter vom Dogen und vom Staat zu sprechen, darum handeln, die justice einerseits, das Heil andererseits zu vergleichen und ins Gleichgewicht zu bringen. Unter justice ist hier das Recht, die kalkulierbare und enforced Justiz zu verstehen, angewendet, anwendbar, und nicht die justice als Gerechtigkeit, die ich andernorts vom Recht unterscheide; hier bedeutet justice: das Juridische, das Judiziare, das positive Recht, ja das Strafrecht. Um die justice einerseits und das Heil andererseits zu vergleichen und ins Gleichgewicht zu setzen, ist es, als müsse man zwischen dem einen und dem anderen wählen, und als müsse man auf ein Recht verzichten, um Zugang zum Heil zu erlangen. Es wird sich im selben Zuge darum handeln, dem Wort und dem Wert von prière, Gebet, Bitte, eine wesentliche Würde zu verleihen; das Ge-
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Merci, danke für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben, pardon, mercy, Pardon für die Zeit, die ich Ihnen genommen habe. Aus dem Französischen von Esther von der Osten
bet wäre das, was erlaubt, das Recht auf das Heil oder auf die Heilserwartung hin zu überschreiten; es gehörte zur Ordnung der Vergebung, wie der Segen, von dem anfangs die Rede war (die Vergebung ist ein doppelter Segen: für den, der sie gewährt, und für den, der sie empfängt, für den Gebenden und für den Nehmenden). Wenn nun das Gebet zur Ordnung der (erbetenen oder gewährten) Vergebung gehört, hat es keinerlei Platz im Recht. Auch nicht in der Philosophie (in der Onto-theologie, sagt Heidegger). Aber ehe ich nahelege, dass ein Kalkül und eine Ökonomie sich auch noch in dieser Logik verbergen, lese ich zunächst diese letzten Verse von Portias Rede; sie hat soeben gesagt: „when mercy seasons justice“, „wenn die Vergebung das Recht aufhebt“ und sie (oder er) fährt fort: Therefore, Jew, Though justice be the plea, consider this, That in the course of justice non of us Should see salvation: we do pray for mercy, And that same prayer doth teach us all to render The deeds of mercy. I have thus spoke thus much To mitigate the justice of thy plea, Which if thou follow, this strict court of Venice Must needs give sentence ‘gainst the merchant there. Paraphrase: „Und so, Jude, obwohl justice (das gute Recht) dein Argument ist (plea: deine Einlassung, was du geltend machst, das, in dessen Namen du plädierst, dein Anliegen, aber auch deine Entschuldigung), bedenke dies: dass mit dem schlichten Gang des Rechts (der schlichten Rechtsprozedur) niemand von uns das Heil sähe: Wir beten in Wahrheit um Vergebung (Barmherzigkeit, la miséricorde) („we do pray for mercy“) und das ist das Gebet, dieses Gebet, dieses selbe Gebet („the same prayer“), das uns alle lehrt, Barmherzigkeit zu üben (zu vergeben). Alles, was ich gerade gesagt habe, ist, um die justice deines Anliegens abzumildern; wenn du beharrst, wenn du fortfährst, dieses Anliegen zu verfolgen, dann wird das strenge Gericht von Venedig notwendig sein Urteil gegen den hier anwesenden Kaufmann sprechen müssen.“
Nach Brecht und Benjamin
Über Theater überhaupt und das Theater des Menschen Benjamin, Brecht, Derrida, Le Roy Nikolaus Müller-Schöll
[…] es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.1
„Überhaupt“: eine Mehrheit von Gegenständen zusammenfassend, ungezählt, ungewogen, en bloc, in vollem Umfange, im allgemeinen, hergeleitet vom ganz wörtlichen mittelhochdeutschen „über houbet“, „über haupt“ – über sich, häuptlings, obenhin.2 Das Erbe, das Walter Benjamin und Bertolt Brecht in ihrer fragmentarisch gebliebenen Theatertheorie dem Denken der Bühne hinterlassen haben, so die Hypothese meines Beitrags, besteht nicht zuletzt in der Annahme einer Differenz zwischen dem Theater „überhaupt“ und dem Theater des Menschen. Mit dieser Annahme stellen sie radikal die Frage nach der Geschichtlichkeit des ihnen bekannten und mehr noch jedes existierenden Theaters. Dadurch aber zeichnet sich das von ihnen entworfene Theater nicht nur als ein Theater aus, das im Sinne einer von Jacques Derrida vorgeschlagenen Definition denkt, sondern darüber hinaus auch als Entwurf eines Theaters, das ähnlich wie die zeitgleich entwickelte Philosophie Heideggers eine im Wortsinn radikale Auseinandersetzung mit dem abendländischen Denken der Repräsentation bzw. der
1
Vgl. Celan, Paul: „Fadensonnen“, in: ders.: Atemwende, Tübinger Ausgabe. Frankfurt a.M. 2000, S. 37.
2
Vgl. zu den hier angeführten Synonymen und Beschreibungen: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 23. München 1984, S. 302f.; Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23. Auflage. Berlin/New York 1983, S. 844; Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch. Berlin/München/Wien 1975, S. 3776.
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Vorstellung ermöglicht und dadurch den Weg für eine andere, nicht länger vom Mittelpunkt des „Menschen“ geprägte Bühnenpraxis bahnt.
B ENJAMINS T HEATER DER „M ITTELBARKEIT “ 3 „Oberste Aufgabe einer epischen Regie“, so Walter Benjamin in seinem „Was ist das epische Theater?“ übertitelten ersten großen Aufsatz über Brecht, „ist, das Verhältnis der aufgeführten Handlung zu derjenigen, die im Aufführen überhaupt gegeben ist, zum Ausdruck zu bringen.“ 4 Auf den ersten Blick beschreibt dieser Satz lediglich Brechts heute allzu bekannte Technik der ‚Verfremdung‘. Er verweist auf Brechts Anweisungen an die Schauspieler, den Wiederholungsoder Zitatcharakter des Gezeigten, seine Gebundenheit an das Hier und Jetzt einer theatralen Darstellung bzw. Bühnensituation, nicht vergessen zu lassen. Und er kann insofern aus heutiger Sicht als Aufforderung gelesen werden, sich mit dem eigenen „Dispositiv“ auseinanderzusetzen.5 Benjamin präzisiert dabei Brecht in einer für ihn charakteristischen Weise. In der Unterscheidung zwischen aufgeführter Handlung und Handlung des Aufführens „überhaupt“ geht es ihm weder um diese noch um jene Handlung – in heutiger Terminologie gesprochen: weder um die referentielle, noch um die performative Funktion der Aufführung, sondern vielmehr um nichts als den Ausdruck der Differenz zwischen beiden, den Ausdruck ihres „Verhältnisses“. Dieses zum Ausdruck zu bringende „Ver-
3
Das folgende Unterkapitel resümiert in grober Verkürzung Aspekte des ersten Teils meiner 1998 abgeschlossenen Dissertationsschrift: Das Theater des ‚konstruktiven Defaitismus‘. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt a.M./Basel 2002, S. 13-184.
4
Vgl. Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1)“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 519-531, hier S. 529. Die „Gesammelten Schriften“ Benjamins werden nachfolgend im Text zitiert, wobei die römische Ziffer den Band, die zweite, arabische Ziffer den Teilband und die dritte Ziffer die Seitenzahl bezeichnet (II, 2, 529).
5
Vgl. zu solchen Auseinandersetzungen: Müller-Schöll, Nikolaus: „Theater außer sich“, in: Kurzenberger, Hajo/Matzke, Annemarie (Hg.): TheorieTheaterPraxis. Berlin 2004, S. 342-352; vgl. auch: ders.: „Raum-zeitliche Kippfiguren. Endende Räume in Theater und Performance der Gegenwart“, in: Eke, Norbert Otto/Haß, Ulrike/Kaldrack, Irina (Hg.): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn 2014, S. 227-249.
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hältnis“ ist eines in beständiger Bewegung, das Prinzip der Veränderbarkeit selbst. Im Kontext von Benjamins Schriften spielt dieser Satz – wie der Titel meines Beitrags – über die Ausführung und Inszenierung von Brechts Anliegen hinaus in Gestalt des kleinen Wörtchens „überhaupt“ auf eine denkwürdige Unterscheidung an, die sich bereits im Titel eines Aufsatzes aus dem Jahr 1916 findet, auf diejenige zwischen der „Sprache überhaupt“ und der „Sprache des Menschen“.6 So wenig Sprache für Benjamin ein bloß menschliches, dem Menschen unterworfenes, für ihn restlos verfügbares Vermögen ist, so wenig ist es das Theatralische. Die Spaltung zwischen „Bühnenverhalten“ und „Bühnenvorgang“ (II, 2, 529) korrespondiert derjenigen zwischen dem bloßen Sprachvermögen und dem Sprechen in Benjamins Sprachtheorie seit dem frühen Sprachaufsatz von 1916. Diesem zufolge hatte die Sprache „nach dem Fall“ sich als eine in sich gespaltene entwickelt: Jede sprachliche Mitteilung setzt ein Vermögen der Mitteilung voraus, ein Material der Sprache, das selbst nicht oder anders spricht, und gleichsam der Träger der Mitteilung ist. Dieses Vermögen lässt sich entsprechend des Sprachaufsatzes als „Mitteilbarkeit“ (II, 1, 145; 154) bezeichnen. Ihm entspricht in späteren Aufsätzen Benjamins die „Übersetzbarkeit“ (IV, 1, 10) als Vermögen der Übersetzung, die „Reproduzierbarkeit“ (VII, 1, 350ff.) als Vermögen der Reproduktion und im Zusammenhang der Arbeiten zur Bühne das „mimetische Vermögen“ (II, 1, 210), das Benjamin später als „Nachahmbarkeit“ bezeichnen wird: Es ist dasjenige, was die Elemente der Mitteilung, Übersetzung, Reproduktion und eben der Nachahmung oder allgemeiner Darstellung zugleich anordnet und verbindet, wie auch in dieser Anordnung bereits wieder gegeneinander setzt und voneinander trennt. Dieses Vermögen wird lediglich nachträglich und modo negativo erkennbar. Im Zusammenbruch von Kalkulationen auf allen Ebenen – inhaltlich, formal, im Raum des Theaters – und dem dabei sichtbar werdenden Rest, der in keiner Konzeption, sei sie künstlerischer, sei sie politischer Natur, aufgeht. Ausgehend von der im Hervortreten des Rests gemachten Grenzerfahrung korrigiert Benjamin in der fragmentarischen Theatertheorie seines Essays den traditionellen Begriff des Autors wie auch die Begriffe des Werks und der Geschichte. Erscheint am Autor hier wie im ungefähr gleichzeitigen Essay über Paul Valery als die letzte Tugend des methodischen Prozesses, dass er „den Forschenden über sich selbst hinauszuführen“ (II, 1, 390) in der Lage ist, so wird damit gleichzeitig auch der Werkbegriff entgrenzt: Das Über-sich-selbst-
6
Benjamin, Walter: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ (II, 1, 140-157).
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Hinausführen deutet im konstruktiven Prozess auf dasjenige, was sich, obwohl es unverzichtbare Voraussetzung der Darstellung ist, dieser fortwährend entzieht. Beide Korrekturen treten in Erscheinung, wo Benjamin Brechts „Erwägung“ referiert, schon bekannte Ereignisse darzustellen, um die Bühne ihrer stofflichen Sensationen zu berauben, etwa „geschichtliche Vorgänge“ (II, 2, 525). Hier fällt er überraschend aus der Rolle des Kritikers in die eines die Theorie korrigierenden und fortschreibenden Co-Autors, indem er anmerkt: Auch hier aber wären gewisse Freiheiten im Verlauf unumgänglich, Akzente nicht auf die großen Entscheidungen, die in den Fluchtlinien der Erwartung liegen, sondern aufs Inkommensurable, Einzelne zu legen. ‚Es kann so kommen, aber es kann auch ganz anders kommen‘ – das ist die Grundhaltung dessen, der für das epische Theater schreibt. (II, 2, 525)
Geschichte wird so ihrer konservativen Begründungsfunktion entledigt, erscheint als eine von mehreren möglichen Geschichten bzw. Deutungen der Vergangenheit. Freigelegt wird, was Voraussetzung des Kampfes „für die unterdrückte Vergangenheit“ (I, 2, 703) ist: Der Blick auf deren abgeschnittene Möglichkeiten (I, 2, 697).
„T HEATERMACHEN ÜBERHAUPT “ – DAS I NTERESSE VON B RECHTS „P HILOSOPHEN “ Man könnte mit gutem Grund sagen, dass Brecht erst in einer der großen Krisen seines Schaffens, Ende der 30er Jahre, Benjamins Theorie in der Gestalt seiner eigenen, sehr spezifischen Theorie einholt, im großen Theater- und Theoriefragment Der Messingkauf.7 Während das Theater Brechts, auf das sich Ben-
7
Brecht, Bertolt: Der Messingkauf, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22,2: Schriften 2. Hg. von Werner Hecht u.a. Frankfurt a.M. 1993, S. 695-869. Das Fragment wird nachfolgend nach dieser Ausgabe im Text als GBFA 22 mit Seitenangabe zitiert. Da diese Ausgabe allerdings in Teilen nicht nachvollziehbare Umstellungen und Eingriffe an Brechts Textkonvolut vornimmt und speziell durch die Einführung von Großschreibung zum Teil den Sinn verändert, wird zugleich auf die im Archiv liegenden Manuskripte (BBA mit Archivnummer) verwiesen, deren Schreibweise ich folge. Ausführlicher entwickle ich, was hier zum Messingkauf lediglich knapp skizziert wird in: Müller-Schöll, Nikolaus: „Bruchstücke eines (immer noch) kommenden Theaters (ohne Zuschauer). Brechts inkommensurable Fragmente
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jamins Aufsatz von 1931 bezieht, in Erwartung eines kommenden, auch das Theater fundamental verändernden Aufstands konzipiert worden sein dürfte, der, auch wenn er in der Theorie nicht vorweggenommen werden durfte, doch Spekulationen über ein gänzlich anderes Theater nährte – über eine Stätte, die der von Marx avisierten freien Assoziation freier Individuen8 entsprechend die Hierarchien auf allen Ebenen aufheben würde – ist Der Messingkauf von einer doppelten Geste gekennzeichnet, die am prägnantesten im wiederkehrenden Wort „Abbau“ zum Vorschein kommt. Vergleichbar dem derridaschen und deManschen Begriff der „Dekonstruktion“9 bezeichnet es zugleich die Auflösung des überkommenen Theaters (des Bürgers bzw. Menschen) wie auch eine Bejahung des Theaters, wenngleich in seiner denkbar allgemeinsten Form, des Theaters überhaupt. Nicht von ungefähr taucht der Begriff Abbau dreimal in der imaginierten Eingangsszene des Gesprächs auf, die auf einer Bühne spielt, „DEREN DEKORATION VON EINEM BÜHNENARBEITER LANGSAM ABGEBAUT WIRD“, der vom Dramaturgen gebeten wird, die Kulissen „nicht allzu rasch abzubauen, da sonst zuviel staub aufgewirbelt wird“ und darauf antwortet: „ich baue ganz gemächlich ab. Aber weg müssen die dinger, denn morgen wird etwas neues probiert.“ (BBA 126/13, GBFA 22, 773, Hervorhebung NMS) Im Begriff des „Abbaus“ klingt an, dass hier eine in knapp zweihundert Jahren aufgebaute Ideologie wieder abgebaut, der „vormarsch [...] zurück zur vernunft!“ (BBA 127/48, GBFA 22, 803) angetreten werden soll. Doch nur, wo etwas aufgebaut worden ist, kann abgebaut werden, jede mögliche Verwendung des Theaters, so könnte man die dem Messingkauf eigene Einsicht beschreiben, selbst noch seine Zertrümmerung oder Verkehrung, hat von einem gegebenen Theater und dessen Abbau auszugehen. Wobei eben die Einsicht in die Gebautheit des je gegebenen Theaters es ist, die seinen Abbau erlaubt. Die Bejahung, die dem Abbau vorausgeht, kommt zur Sprache, wenn der Philosoph in der vom Abbau der Bühne eingeleiteten Szene des Fragments von den auf der Bühne eines leeren Theaters versammelten Teilnehmern des Gesprächs – vielleicht in Anspielung auf Benjamins Sprachaufsatz, in jedem Fall
Fatzer und Messingkauf“, in: The creative spectator. The Brecht Yearbook. Volume 39, Bowling Green 2014, S. 30-54. 8
Vgl. Engels, Friedrich/Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. Grundsätze des Kommunismus. Stuttgart 1969, S. 47.
9
Vgl. ausführlicher zu diesem Begriff im Kontext: Müller-Schöll, Nikolaus: „Dekonstruktion“, in: Schnell, Ralf (Hg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Stuttgart/Weimar 2000, S. 92-93.
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aber in Affinität zu dessen Unterscheidung – gefragt wird, „was ihn am theatermachen über haupt [sic!] interessiert“ (BBA 126, 13, vgl. GBFA 22, 773, [Hervorhebung NMS]. Antwortet der Philosoph hier wie in vielen Fragmenten, dass ihn am Theatermachen interessiere, „dass ihr mit eurem apparat und eurer kunst vorgänge nachahmt, welche unter den menschen stattfinden“ (ebd.), so könnte dies zunächst noch recht traditionell als Interesse an der Abbildfunktion des Theaters begriffen werden. Umso mehr muss dann allerdings verwundern, dass keine einzige Notiz des Fragments ein Beispiel von solchen Abbildern gibt. Die Vermutung liegt nahe, dass, wenn nicht der Philosoph, so doch zumindest Brecht wie schon Benjamin in seinem Essay von 1931, weniger die Abbildung, die konkrete Nachahmung, als vielmehr deren bloßes Vermögen, die „Nachahmbarkeit“ interessiert haben dürfte, das Darstellen als solches, als reines Mittel: „die schauspielkunst“, so führt der Philosoph dementsprechend an anderer Stelle aus, „kann nur als eine elementare menschliche äusserung betrachtet werden, die ihren zweck in sich hat. sie […] gehört zu den elementaren gesellschaftlichen kräften, sie beruht auf einem unmittelbaren gesellschaftlichen vermögen, einer lust der menschen in gesellschaft, sie ist wie die sprache selber, sie ist eine sprache für sich.“ (BBA 124/23, vgl. GBFA 22, 754) Über die je historische Ausformung des Theaters und speziell über diejenige hinaus, die in Der Messingkauf zum Zweck des Abbaus portraitiert wird – ein auf den Markt angewiesenes, bürgerliches Theater, das sich vom BoulevardTheater ebenso absetzt wie von den aristokratischen Vorläufern – insistiert der Philosoph so auf Theater als einem mit der Erfahrung des Seins in Gesellschaft verbundenen Vermögen, einem Sprachvermögen, einer Sprechfähigkeit, die, insofern sie ihren „zweck in sich hat“, unabhängig ist von allem, was gesprochen wird, und die als „unmittelbar gesellschaftliche[s] vermögen“ kein subjektives Vermögen ist, sondern vielmehr ein primordiales, das Subjekt erst hervorbringendes und zugleich entsubjektivierendes. Dieses Interesse an Theater überhaupt und zugleich am Abbau dessen, was man als Theater des Menschen bezeichnen könnte, das Verhältnis von Bejahung und „Abbau“, wird von Brecht mit einer bewundernswerten Differenziertheit in jener Anekdote auf den Punkt gebracht, die dem „Fragment“ seinen Namen gibt. Der Philosoph gibt an, er komme sich vor wie ein mensch […], der, sagen wir, als messinghändler zu einer musikkapelle kommt und nicht etwa eine trompete, sondern bloss messing kaufen möchte. die trompete des trompeters besteht aus messing, aber er wird sie kaum als messing verkaufen wollen, nach dem wert des messings, als so und so viele pfund messing (BBA 126, 16, GBFA 22, S. 778)
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Der Vergleich führt vor Augen, dass der Philosoph zwar am Material des Theaters interessiert ist, es aber, wie der Messinghändler das Messing der Blasinstrumente, anders verwenden will. Doch was ist dieses „Material“? Lexika zufolge hat man es hier mit einer Legierung aus Kupfer und Zink sowie gegebenenfalls weiteren Zusätzen zu tun. Mithilfe dieses schon im vierten Jahrtausend vor Christus verwendeten Materials lässt sich, zumal mit dem beim Bau von Blechblasinstrumenten verwendeten „Goldmessing“, Gold simulieren. Messing ist, anders gesagt, Theatergold. Und der Messingkäufer ist insofern nicht etwa ein Gold- oder Eisenhändler, der die Dinge auf ihren Materialwert reduziert und einzig am Rohstoff interessiert ist, er erfüllt vielmehr die im Sinne Benjamins „oberste Aufgabe“ eines Regisseurs, sein Interesse gilt dem Verhältnis zwischen Darstellendem und Dargestellten, einem Material, das sich dadurch auszeichnet, dass es für Anderes steht, dass es verweist. Messing ist für die Funktionen, in denen es eingesetzt wird, die Illusion des Goldes etwa, notwendig und doch zugleich eine Form der (Augen-)Täuschung, des Betrugs, es ist eine Materialisierung dessen, was man mit dem frühen Marx als Ideologie bezeichnen könnte, kurz: es steht für das Theaterhafte am Theater. Sein ‚Sein‘ und seine elementare ‚Kraft‘ liegen im Stehen für immer Anderes, in einer unerschöpflichen Potentialität, im bloßen Verweis.
D ENKEN DER (G ESCHICHTE DER ) K ÜNSTE (D ERRIDA , H EIDEGGER ) Inwiefern hat aber das von Benjamin und Brecht als „oberste Aufgabe“ eines Regisseurs bzw. Charakteristikum der Kunst begriffene Ausstellen der Differenz zwischen einem Theater „überhaupt“ und einem Theater „des Menschen“ mit der Frage zu tun, wie Theater denkt? Inwiefern lässt sich Brechts Theaterarbeit von hier aus als ein Denken begreifen? Wir wissen, nicht zuletzt aus Benjamins Text, um die Bedeutung, die es für Brecht hatte, den Denkenden zum Dasein auf der Bühne zu bewegen,10 doch was heißt es ganz allgemein, Theater als Denken zu begreifen? Ist dies eine unscharfe Formulierung, eine bloße Metapher? Und
10 Vgl. Benjamin, 1977, S. 523. Benjamin dürfte hier auf die im Vorwort ausführlicher erwähnte Szene „Öffentliche Begrüssung des Denkenden durch die Schauspieler“ hinweisen, die sich im Stückfragment „Aus nichts wird nichts“ findet. (GBFA 10,1, S. 692f.), außerdem auf das ebenfalls dort zu findende „Vorspiel“ (GBFA 10,1, S. 698f.). Brecht greift exakt dieses Motiv in seinem Messingkauf wieder auf, wenn er dort in den Szenen A1 und A2 die Ankunft des Philosophen im Theater beschreibt. (Vgl. GBFA 22, 695f.)
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wenn nicht: Wann wird dort gedacht? Wer denkt? Auf welche Weise? Und wovon auf der anderen Seite sprechen wir, wenn wir von der „theatralischen Dimension in der Philosophie“ sprechen? Wie inszeniert Philosophie? Glaubte man seinem Biographen Benoît Peeters, so wäre Jacques Derrida einer der letzten, von denen man sich auf diese Fragen Auskunft erwarten dürfte. In seiner Biographie Derridas berichtet er, dass Derrida „vom Theater eher gelangweilt“ gewesen sei, „von Shakespeare abgesehen“.11 Mag diese Bemerkung auch äußerlich bleiben, so enthält sie doch einen Hinweis auf das, was Derridas Beziehung zum Theater ausmacht: Es ist – seiner bedeutenden Aufsätze zu Artaud,12 seinen Ausführungen zum „Kaufmann von Venedig“,13 zum „Hamlet“,14 ja selbst seinem Interesse an den Arbeiten von Hélène Cixous, Heiner Müller, William Forsythe oder Daniel Mesguich 15 und einigen Zeitgenossen mehr zum Trotz – weniger das Interesse am existierenden Theater als vielmehr an Theater überhaupt. In einer ganzen Reihe ähnlich lautender Äußerungen spricht er davon, dass für ihn, wenn er etwas schreibe, „sogar, wenn es sich dabei um einen sehr klassischen Text der Philosophie“ handle, „das Wichtigste nicht der Inhalt“ sei, „die Lehre, sondern vielmehr die Inszenierung, die Verräumlichung“.16 An einer Stelle begründet er seine Annahme einer theatralischen Dimension in der Philosophie damit, dass es „coups de théâtre“ in der Philosophie gebe, Augenblicke, die dem ähneln, was Kierkegaard beschrieb als er sagte: „Der Moment der Entscheidung ist eine Verrücktheit.“17 Es handle sich hier um
11 Peeters, Benoît: Jacques Derrida. Eine Biographie. Berlin 2013, S. 619. 12 Derrida, Jacques: „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation“, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché. Frankfurt a.M. 1989, S. 351-379; ders.: „Die soufflierte Rede“, in: ebd., S. 259-301; ders.: „Die Stimmen Artauds (die Kraft, die Form, die Furche)“, in: Gerstmeier, Joachim/Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Politik der Vorstellung. Theater und Theorie. Berlin 2006, S. 12-17. 13 Vgl. den Beitrag Derridas in diesem Band. 14 Vgl. Derrida, Jacques: Marx‘ Gespenster, übers. von Susanne Lüdemann. Frankfurt a.M. 1995; ders.: Marx & Sons, übers. von Jürgen Schröder. Frankfurt a.M. 2004; ders.: Marx en jeu. Paris 1997. 15 Vgl. Derrida, Jacques: „Der Akt des Opferns“, in: Schauspielfrankfurt. Zeitung 01, Spielzeit 02/03, 2002, S. 3f. 16 Vgl. Grossman, Evelyne: „Artaud, oui.... Entretien avec Jacques Derrida“, in: europe 873-874 (2002), S. 23-38, hier S. 38. 17 Derrida, 2002, S. 4.
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Augenblicke, die untrennbar zu Theater und Philosophie gehörten, zur Philosophie im Theater und zum Theater in der Philosophie. Die Annahme einer Untrennbarkeit oder Verwischung von Theater und Philosophie oder die Rede davon, dass er bei welchem Thema auch immer das ImTheater-Sein voraussetze, ist nun aber Derridas Denken nicht äußerlich. Es handelt sich bei solchen Äußerungen nicht um eine von jenen unter Philosophen verbreiteten eher gönnerhaften oder von schwärmerischer Begeisterung getragenen Elogen aufs Theater. Vielmehr ist darin einerseits, mit seinen Worten gesprochen, eine Form der Dekonstruktion der „hegemonialen Geste“18 der Philosophie zu sehen, andererseits ein Verweis auf sein Verständnis der „Geschichte des Abendlands“ als eines „wirkungsvollen Widerhalls“ 19 der auf Platon zurückgehenden Trennung von Theater und Philosophie. In einem Interview zu den räumlichen Künsten postuliert er in gleichzeitiger Referenz auf und Verkehrung von Heideggers Unterscheidung von Philosophie und Denken, dass Denken keinesfalls auf die Philosophie und auf das begriffliche Denken begrenzt sei, diese vielmehr nur eine Art des Denkens sei. Er hebt an den raumbildenden Künsten hervor, dass sie sich dem „philosophischen Logozentrismus“20 widersetzten, den philosophischen Diskurs überschritten und die Philosophie infrage stellten. Die Werke könnten Träger von etwas werden, was die Philosophie nicht meistern könnte. Was er dabei als Denken bezeichnet, macht er am Fortschritt in den Künsten fest, an Ereignissen wie dem Aufkommen einer neuen Schule oder eines neuen Stils. „It involves thought in the sense of the memory of the history and tradition of the work, or of art in general.“21 Dabei müsse der Künstler keineswegs die Geschichte kennen, vielmehr lasse die Tatsache, dass er etwas mache, was so zwanzig Jahre zuvor noch nicht möglich gewesen wäre, die Annahme zu, dass in seinem Werk das Gedächtnis der Ge-
18 Vgl. Derrida, Jacques: „The Spatial Arts: An Interview with Jacques Derrida“, in: Brunette, Peter/Wills, David (Hg.): Deconstruction and the Visual Arts: Art, Media, Architecture. Cambridge/New York/Oakleigh 1994, S. 9-32, hier S. 24. Das Interview wurde zwar in französischer Sprache geführt, liegt jedoch nur in der englischen Übersetzung vor, die ihrerseits später ins Französische rückübersetzt wurde und der deutschen Übersetzung zugrundelag. Deshalb wird hier nachfolgend aus dem englischen Text zitiert. Vgl. aber auch ders.: „Die Künste des Raumes. Gespräch mit Peter Brunette und David Wills“, in: ders.: Denken, nicht zu sehen, übers. Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek. Berlin 2017, S. 7-40. 19 Derrida, 2002, S. 3. 20 Derrida, 1994, S. 24. 21 Ebd.
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schichte der eigenen Kunst aufgenommen, dass sie insofern interpretiert worden sei, durchdacht. Mit Blick auf das Denken des Theaters in allen seinen Formen stellt dies aber mehrere Fragen in den Raum: In welcher Weise stellt das Theater, wenn man es denn als eine raumbildende Kunst bezeichnen möchte, den Logozentrismus der abendländischen Metaphysik in Frage? Und vermag dies jedes oder nur ein bestimmtes Theater? Vor allem aber: Wie versteht Derrida an Stellen wie diesen „Geschichte“? Wie lässt sich jene Geschichte des Theaters begreifen, die ein denkendes Theater zu interpretieren hätte? Dass die „Geschichte“, deren Gedächtnis eine denkende Theaterarbeit mit sich tragen müsste, wie auch der „Fortschritt“, von dem Derrida spricht, nicht im Sinne des naheliegenden Verständnisses von „Geschichte“ begriffen werden können, das heißt im Sinne einer hegelianischen, archäo-teleologisch aufgefassten Geschichte, dies legt nicht zuletzt ein von Derrida unter dem Titel „Envoi“22 veröffentlichter Debattenbeitrag zu einem Philosophenkongress nahe, dessen Thema die „représentation“ ist. Er referiert dort Heideggers in „Die Zeit des Weltbildes“23 entwickelte Unterscheidungen zwischen den unterschiedlichen Weisen des ‚Seinsgeschicks‘ in Antike, Mittelalter und Neuzeit, und konstatiert, dass die von Heidegger als „Geschick“, als „Schicken“ und „Geschichte“ bezeichneten Weisen des „Envoi“ – der Schickung bzw. Sendung24 – nicht solche des „vorstellenden Typs“ bzw. einer teleologischen Geschichte im Sinne Hegels seien. „Die Geschichtlichkeit, die sie konstitutieren, ist kein repräsentativer oder repräsentierbarer Prozeß: Um sie zu denken, braucht es eine Geschichte des Seins, der Schickung (envoi) des Seins, die nicht mehr mittels Repräsentation geregelt oder auf sie zentriert wäre.“25 Man kann aus dem Kontext dieses Aufsatzes den Schluss ziehen, dass auch die im Kunstwerk zu interpretierende Geschichte,
22 Derrida, Jacques: „Envoi“, in: ders.: Psyché. Inventions de l’autre. Paris 1997-1998, S. 109-144; ders.: „Sendung“, in: Psyché. Erfindungen des Anderen I, übers. von Markus Sedlaczek. Wien 2012, S. 95-142. 23 Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“, in: ders.: Holzwege. GA Bd. 5. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1977, S. 73-110. 24 Envoi ist in Derridas Text gleichermaßen die Übersetzung des heideggerschen Schickens wie auch ein von Derrida hier und an anderer Stelle gebrauchter Begriff für eine Sendung im Sinne der Briefsendung. Von daher entscheidet sich der deutsche Übersetzer in seinem Text zurecht uneinheitlich manchmal für die (Rück-)Übersetzung in Heideggers Begrifflichkeit, manchmal, so im Titel, für die alltagssprachliche Übersetzung, die sich von dieser löst und dadurch zugleich die Veränderung markiert, die sich zwischen Heidegger und Derrida ereignet hat. 25 Vgl. Derrida, 2012, S. 115f.
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von der Derrida mit Blick auf die Frage spricht, was es heißt, wenn man davon spricht, dass ein Kunstwerk denke, nicht eine Geschichte im Sinne Hegels sein kann, auch wenn deren Muster untergründig die noch immer verbreiteten Kunst-, Theater- und Literaturgeschichten prägt, sondern vielmehr eine, die nur aus einer Geschichte des Seins bzw. des Seinsgeschicks im Sinne Heideggers – in ihrer derridaschen Modifikation – heraus gedacht werden kann. Heideggers „Die Zeit des Weltbildes“, in einer ersten Version geschrieben ungefähr zur gleichen Zeit wie Brechts erste Notizen zu Der Messingkauf, im Jahr 1938, und mehr noch seine Rekapitulation und Diskussion durch Derrida lässt den weiteren Horizont der Fragen deutlich werden, die Benjamin und Brecht in der Einführung der Unterscheidung zwischen einem Theater überhaupt und einem Theater des Menschen aufwerfen und erlaubt es in der Zusammenschau, diese Fragen als die geschichtlichen einer Epoche zu begreifen – Fragen, die „geschichtlich“ zu nennen sind, weil sie nicht im Rahmen einer gegebenen Geschichtsvorstellung gestellt werden, sondern noch diese selbst betreffen.26 Ausgehend von der Frage, was es mit der vielbeschworenen Ablehnung der représentation (Vorstellung, Darstellung, Stellvertretung) auf sich habe, bezieht sich Derrida auf Heideggers Unterscheidung zwischen dem Denken der Griechen, die zu dem, was da ist, keine Beziehung in der Art des Vorstellens bzw. des Bildes hatten, und der Moderne nach der Cartesianischen Wende, in der das Seiende als Objekt vor und für ein Subjekt in der Form der repraesentatio bzw. des Vorstellens bestimmt wird. „Vorstellen bedeutet hier, das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden zu beziehen und in diesen zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen“ 27, so Heidegger. Das Ich, das menschliche Subjekt, wird hier zum maßgebenden Bereich der Objekte als Repräsentationen. Ihre Vergegenwärtigung wird dabei zur Wiederholung, die sie dem eigenen Anspruch des Re-prä-sentierens bzw. Vorstellens entsprechend mithilfe einer Ersetzung wiederherstellt. Charakteristisch für die Moderne ist dabei die Autorität und die Allgemeinheit der Vorstellung, mit der die beständige Frage nach ihrer Wahrheit einhergeht, die im Sinne der
26 Eine ausführlichere vergleichende Untersuchung der sich parallel, jedoch weitgehend ohne wechselseitige Kenntnisnahme entwickelnden Stränge der Phänomenologie und des sich aus ihr heraus entwickelnden Denkens von Heidegger, das den Ausgangspunkt der französischen Nachkriegsphilosophie bildet, auf der einen Seite, der Theatertheorie und -praktiken Brechts sowie der Sprach- und Geschichtsphilosophie Benjamins auf der anderen gehört zu den Desidarata, die sich aus der Brecht- und Benjamin-Forschung der vergangenen Jahrzehnte heraus ergeben haben. 27 Heidegger, 1977, S. 89.
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Adäquatheit mit dem Vorgestellten (adequatio intellectu et rei) begriffen wird. Derrida stimmt mit Heidegger darin überein, dass das moderne vorstellende Denken weder ein Unfall, noch ein Missgeschick sei. Die moderne Ankunft der Repräsentation ist vorbereitet durch den Platonismus in der Bestimmung des Seins des Seienden als eidos, aus dem sich eines Tages das Vorstellung-Werden der Welt heraus entwickelt. Von hier aus kündigt sich die Bestimmung der Welt als Bild an. Ihr korrespondiert der „Mensch“, der sich als die Szene setzt, „in der das Seiende fortan sich vor-stellen, präsentieren, d.h. Bild sein muß“.28 Diese neuzeitliche Verkürzung, in welcher der als Subjekt begriffene Mensch austauschbar und ersetzbar wird, wird von Derrida in der buchstäblich fragwürdigsten Passage seines Textes mit Blick auf ihre Konsequenzen für das Repräsentationsdenken des politischen Systems, für Zeichentheorie sowie Informations- und Kommunikationstechnologie kommentiert. Mit Heidegger begreift er diese Phänomene als Kette, die auf den Platonismus zurückgehe. Zu dieser Kette gehört für ihn aber neben anderem auch die theatrale Darstellung. Ich zitiere den Kommentar in extenso: Auf diese Weise würde man sehen, wie sich die konsequente Kette wiederherstellt, die von der Repräsentation als Idee oder objektiven Realität der Idee (Objektbezug) auf die Repräsentation als – gegebenenfalls politische – Delegation, also als gegenseitige Substitution identifizierbarer Subjekte verweist (renvoie), die umso ersetzbarer sind, je objektivierbarer sie sind (hier haben wir die Kehrseite der demokratischen und parlamentarischen Ethik der Stellvertretung , das heißt den Schrecken berechenbarer, unzähliger, aber zählbarer, abzählbarer Subjektivitäten, die Massen in den Lagern29 oder in den Rechnern der Polizei – seien sie staatlich oder nicht-
28 Ebd.; vgl. Derrida: 1997-1998, S. 127; 2012, S. 119. 29 Peter Caws englische Übersetzung Derridas spitzt das im französischen Text zu findende Wort „camps“ durch die Übersetzung „concentration camps“ deutlich zu. Dies stellt zwar eine forcierte Übersetzung dar, dürfte aber ganz dem entsprechen, was Derrida an dieser Stelle hinsichtlich der Logik der objektivierenden Stellvertretung zu denken gibt. Vgl. Derrida, Jacques: „Sending. On Representation“, in: Social Research Vol. 49, No. 2, Current French Philosophy (SUMMER 1982), S. 294-326. Mit Blick auf die von Derrida genutzte Folie, Heideggers Aufsatz, stellt dies eine gleichzeitige Beziehung auf und Absetzung von Heidegger dar, in der man eine charakteristische Geste Derridas sehen kann, der an anderer Stelle ausführlicher nachzugehen wäre. Dabei wäre auch auf die seither erschienenen posthum veröffentlichten Schriften Heideggers, die neueren Veröffentlichungen zu den Textversionen dieses Aufsatzes und die sie diskutierenden Arbeiten einzugehen, die erwiesen haben, bis zu wel-
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staatlich –, der Welt der Massen und der Massenmedien, die auch eine Welt der berechenbaren und repräsentierbaren Subjektivität wäre, die Welt der Semiotik, der Informatik und der Telematik). Die gleiche Kette, wenn man einmal annimmt, dass sie zusammenhängt und wenn man dem Heideggerschen Motiv folgt, indem man es entfaltet – durchzieht auch ein bestimmtes System der Repräsentation oder Stellvertretung (représentation) in politischer, pikturaler, theatralischer oder ganz allgemein ästhetischer Hinsicht.30
Die Frage, die Derrida mit Heidegger für ein Denken des Theaters aufwirft, das in diesem Text buchstäblich nur am Rande erwähnt wird, tatsächlich aber als sein zentrales Thema gelesen werden kann, scheint mir die folgende zu sein: Wie lässt sich anders als in Form einer Szene der objektivierenden und idealisierenden Repräsentation – der Stellvertretung bzw. der Vorstellung – anders als in einer Szene des Subjekts und insofern einer Szene des Menschen, jene Geschichte denken, die ein denkendes Theater, ja allgemeiner: eine denkende Kunst interpretiert haben muss, wenn sie als denkende begriffen werden soll? Derrida legt nahe, dass der geschichtliche Moment, der mit Heideggers Aufsatz aus dem Jahr 1938 bezeichnet wird, derjenige einer Krise und Öffnung des vorstellenden Denkens der Neuzeit ist, einer Öffnung auf das hin, was das vorstellende Subjekt vergessen musste, um sich ins Bild zu setzen, der Moment einer Erfahrung der geteilten „Anwesenheit“, des dem Zwiespalt ausgesetzt seins. Diese Öffnung wird von Derrida als das „Theater oder die Tragödie dieses Zwiespalts“ bezeichnet, die noch nicht zum szenischen Raum der Präsentation oder Darstellung gehört, sondern vielmehr als deren „nicht-präsentierbare, nicht-repräsentierbare, vielleicht werfende, jektive Differenz“ zu begreifen ist, „die aber weder objektiv noch subjektiv noch projektiv ist“. 31 Vielleicht also könnte man Brechts Der Messingkauf, ja sein Theater im allgemeinen gerade deshalb als denkendes begreifen, weil es über die erklärten Intentionen der in ihm auftretenden Figuren, ja selbst über diejenigen Brechts hinaus, das Theater ist, das die Krise des vorstellenden Denkens zum Ausdruck bringt und zwar genau in der von Benjamin und Brecht in der Differenz von Theater des Menschen und Theater überhaupt getroffenen Unterscheidung. Wie „Sprache“ oder „Sein“ bei Heidegger (oder auch wie das „Mit“ bei Nancy) er-
chem Grad Heidegger nicht nur unfähig, sondern auch zeitlebens unwillig war, die eigenen Einsichten auf das Denken der Gegenwart seiner Zeit zu übertragen. Das kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht weiterverfolgt werden. 30 Vgl. Derrida, 2012, S. 120. 31 Vgl. Derrida, 2012, S. 122; Ders., 1997-1998, S. 129.
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scheint das Verhältnis von „Theater überhaupt“ und Theater des Menschen die Bezeichnung für eine als solche unzugängliche Relationsbeziehung zu sein. Es kennzeichnet ein gemäß der Bestimmung Derridas denkendes Theater, dass es sich dieser jektiven Eröffnung, der Erfahrung der Möglichkeit eines Anderen, aussetzt.
D AS T HEATER DES M ENSCHEN UND DIE ARBEIT AN SEINEM A BBAU (X AVIER L E R OY ) Wenn dergestalt von einer theoretischen Warte aus beschrieben ist, dass der neuzeitliche „Mensch“ des Humanismus ebenso wie das „Theater des Menschen“ von den Zeitgenossen des größten uns bekannten Menschheitsverbrechens, begangen an allen, die zuvor zu Nichtmenschen erklärt worden waren – und sei’s contre coeur – als eine von dessen Reduktion des menschlichen Lebens auf eine berechenbare, objektivierbare Größe, auf Material, nicht ablösbare, in die Krise geratene, unhaltbar gewordene Vorstellung erkannt worden sind, deren Absolutheit auf dem ‚Vergessen des Seins‘ bzw. des Verhältnisses zwischen der Aufführung und „derjenigen Handlung, die im Aufführen überhaupt gegeben“ ist, beruht, so bleibt die Frage, wie ausgehend von dieser Erkenntnis ein anderes Theater aussehen könnte. Wie kann ein Theater das meistens vergessene Verhältnis, von dem Benjamin spricht, zum Ausdruck bringen oder sich ihm aussetzen, das „Messing“ Brechts bzw. die „jektive“ Differenz oder den „Zwiespalt“, von denen Derrida spricht. Anders gefragt: Wie lässt sich das Theater des Menschen konkretisieren und wie kann ein Theater heute seinen Abbau fortsetzen? Ich möchte auf die erste Frage nur mit einer kurzen Skizze antworten, um danach die zweite an einem Beispiel entlang zu beschreiben, an Xavier Le Roys Arbeit low pieces. Das „Theater des Menschen“ bildet sich wie das neuzeitliche vorstellende Denken und das cartesianische Subjekt in den Umbrüchen der Renaissance heraus. Es ist gebunden an die von Heidegger als „Zeit des Weltbildes“ bezeichnete Neuzeit, deren spezifische Ausprägung im Theater in architektonischer Hinsicht diejenige ist, die durch die Perspektive konturiert wird:32 Die frontal angelegte scène à l’italienne, der in literarischer Hinsicht das auf den Dialog reduzierte
32 Vgl. dazu Damisch, Hubert: L’origine de la perspective. Paris 1993; Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München 2005.
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Drama entspricht,33 in performativer Hinsicht der sich mit Beginn des 18. Jahrhundert verselbständigende Autor/Schöpfer, dessen Werk im Theater später durch den Regisseur reproduziert wird. Es zeichnet sich durch die in der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnende sukzessive Herausbildung einer beschränkten Ökonomie (Bataille)34 aus, die sich in der Ausgrenzung anderer Theaterformen ebenso bemerkbar macht wie in der Tabuisierung desjenigen, was die bürgerliche Gesellschaft, um es loszuwerden, gerne auf Aristokratie und Pöbel projiziert: der Körpersäfte, der Ausschweifungen, der Verausgabung, des Exzesses.35 Das neue Theater spuckt nicht, hat keine Verdauung, schwitzt nicht, stinkt nicht und ejakuliert nicht mehr. Seriöser formuliert: Das Theater des Menschen ist das durch vielfältige Formen der Disziplinierung gehegte, Programmen der Erziehung auf der Ebene von Spielern und Zuschauern unterworfene, in den Dienst der Vernunft genommene Organon der (bürgerlichen) Aufklärung. 36 Es unterliegt der Einhegung durch Dramaturgien, die sich parallel zur Herausbildung der Kunst des Regierens als Regierung der Künste etablieren, untrennbar zugleich die im Jahrhundert der Aufklärung miteinander verbundene „Polizey“ und Politik vertretend.37 Der Mensch in seinem Mittelpunkt erscheint nicht länger als Teil einer chorischen Anordnung oder Versammlung, sondern vielmehr als autonomes, seiner selbst mächtiges Individuum, das sich mithilfe der Sprache zu verständigen weiß und insofern als Subjekt.38 Das Theater des Menschen ist hypo-
33 Vgl. dazu, aufbauend und begrenzt durch die von Hegel, Lukács und Staiger übernommene Nomenklatur: Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt a.M. 1963. 34 Vgl. Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie, übers. von Gerd Bergfleth, Traugott König und Heinz Abosch. München 1985. 35 Vgl. zu dem hier nur angedeuteten Zusammenhang ausführlicher: Müller-Schöll, Nikolaus: „Das Dispositiv und das Unregierbare. Vom Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik“, in: Aggermann, Lorenz/Döcker, Georg/Siegmund, Gerald (Hg.): Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung. Frankfurt a.M. 2017, S. 67-88. 36 Graf, Ruedi: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht. Tübingen 1992; Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Frankfurt a.M./u.a. 2000. 37 Vgl. dazu ausführlicher Müller-Schöll, Nikolaus: „Polizeiliche und Politische Dramaturgie“, in: Deck, Jan/Umathum, Sandra (Hg.): Postdramaturgien. Berlin 2019 (im Erscheinen). 38 Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: „‚Der Chor der Komödie‘. Zur Wiederkehr des Harlekin in Theater und Performance der Gegenwart“, in: ders./Schallenberg, André/
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taktisch. Es instrumentalisiert im Dienste der Reduktion des Theaters aufs Drama und des Dramas auf dessen Botschaft alle zu diesem Zweck beitragenden Elemente: Sprechen, Licht, Ton, Raum, Zeit, Bewegung und Maschinen.39 Soweit die Skizze, die nicht mehr und nicht weniger als eine bestimmte, vornehmlich mitteleuropäische und speziell französisch- und deutschsprachige Literaturtheatertradition ins Auge fasst, die zwar nur in einer kurzen Zeitspanne zum Maß aller Dinge erhoben wird, jedoch durch die aus ihrer Theatervorstellung hervorgehenden Bauten des späten 19. Jahrhunderts ebenso wie durch die mit ihr gesetzten und zugleich naturalisierten Normen, Techniken und Fertigkeiten sowie vor allem durch eine sie musealisierende und durch Subventionen erhaltende Förderpolitik zumindest hierzulande bis heute als das dominante Modell des (Sprech-)Theaters gelten kann. Nun folgt das an dessen Abbau arbeitende Beispiel. In der neunzigminütigen Performance low pieces40 des französischen Choreographen Xavier Le Roy sitzen neun Performerinnen und Performer bereits in bequemer Straßenkleidung auf der Bühne, wenn die Zuschauer den Saal betreten. Sie betrachten uns, wie wir unsere Plätze einnehmen und warten, bis sich das Theater langsam gefüllt hat. Dann spricht uns einer von ihnen, Xavier Le Roy, an: „We would like to start the performance with a conversation“, sagt er und erklärt, dass die Unterhaltung, damit die Länge von 90 Minuten eingehalten werden könne, genau 15 Minuten dauern soll. Dann erwarte uns ein „Blackout“, das die Unterhaltung unterbrechen werde, die allerdings zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden könne. Die so eingeleitete „Konversation“ beginnt schleppend. „Wie soll die Performance anfangen?“, fragt einer. „Gibt es einen Programmtext, einen Rahmen?“ „Was hat es mit dem Titel auf sich?“ Immer reger werden Fragen geäußert, die mal die Performance, mal deren vermeintliches Thema, mal die augenblickliche Situation betreffen. Dann, nach genau 15 Minuten, geht das Licht aus. Dreieinhalb Minuten lang liegt das Theater in vollkom-
Zimmermann, Mayte (Hg.): Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert. Berlin 2012, S. 189-201. 39 Vgl. in Gegensatz dazu mit Blick auf das Theater seit den 60er-Jahren: Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M. 1999. 40 le Roy, Xavier: low pieces (2009-11). Die hier folgende Schilderung bezieht sich auf die Vorstellung der Performance im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm vom 24. April 2013. Außerdem stand mir dafür die Aufzeichnung einer Vorstellung in den Berliner Sophiensälen zur Verfügung. Vgl.: http://www.xavierleroy.com/page.php ?sp=69caa2510bce2be93732e5c2739db89ba96ccaaf&lg=en
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mener Dunkelheit und Stille da. Wenn das Scheinwerferlicht wieder eingeschaltet wird, sehen wir fünf Performer, drei Frauen und zwei Männer, nackt auf der Bühne liegend und sitzend, zur Seite, nach hinten oder unten schauend, ein Tableau bildend, wie man um 1800 gesagt hätte, eine in sich geschlossene Gruppe, die arrangiert wirkt. Sie tragen In-Ear-Kopfhörer, deren Funktion uns nicht bekannt ist. Sie bewegen, beinahe unmerklich zunächst, doch in der Folge deutlich als gesetztes Element einer Choreographie erkennbar, wie von einem Tick geplagt, einzelne Glieder: Die Schulter, den Fuß, die Hand, den Kopf, die Hüfte. Es sind Bewegungen, die das stillgestellte Tableau kurz lebendig werden lassen und dabei, so punktuell und begrenzt, wie sie sind, die Ganzheit der Körper auflösen, das Körperbild ins Wanken bringen, die Körper als segmentierte und fragmentierte erscheinen lassen. Nach gut zehn Minuten wird die Bühne erneut mehrere Minuten lang in schwarz getaucht, wobei dieses Mal Geräusche zu hören sind: Ein rhythmisches Rufen, das sich zunächst wie eine Art von Lachen anhört, dann aber zunehmend mehr an das Quaken aufgeregter Enten oder Gänse erinnert. Nach einer weiteren Phase der Stille wird die Bühne neuerlich erleuchtet. Nun sind zwei Gruppen von auf dem Boden liegenden Performern zu sehen, die, abgeschirmt durch einen mit dem Rücken zu uns liegenden Tänzer bzw. eine Tänzerin, die Füße und Arme halb gebeugt oder gerade nach oben strecken. Die ausgestreckten Gliedmaßen schwanken wie Grashalme im Wind oder Meerespflanzen in der Strömung. Die Bewegungen sind mal heftiger, mal langsamer, immer aber im Fluss. Es ist kaum möglich zu sagen, wieviele Performer zu den in die Höhe ragenden Gliedmaßen gehören. Nach knapp acht Minuten unterbricht ein neuerliches Blackout die Vorstellung für zwei Minuten. Dann sehen wir auf der erleuchteten Bühne zwei Männer. Einer liegt, einer sitzt. Zwei Frauen kommen auf allen vieren herein und legen sich hin. Weitere Performer folgen, auch sie auf allen Vieren. Alle schleichen, lassen ihre Gliedmaßen beim Laufen in runden Bewegungen mit leichter Retardierung auf den Boden fallen, üben sich darin, den Eindruck der Geschmeidigkeit von Wildkatzen zu vermitteln, wälzen sich wie solche, verharren zuweilen in bestimmten Positionen wie jene, starren dann auf etwas oder reiben sich an etwas. Zunehmend spielen die ‚Wildkatzen‘ mit einander, legen sich aufeinander oder lehnen sich aneinander, ballen sich zu Gruppen von drei oder fünf bis sechs Performern zusammen und liegen nun neben- und übereinander. Für einen Augenblick sehen wir Berge nackter Körper, die in ihrer Verdinglichung jedes einzelnen Körpers für einen Moment an Szenen aus den Lagern erinnern, sich dann aber bald wieder auflösen in individuelle, allmählich verschwindende Katzendarsteller. Nach einem weiteren kurzen Black sehen wir menschliche Knäuel, die mit eingezogenem Kopf, uns den Rücken zeigend da
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sitzen, in sich zusammengekrümmte Körper, die ohne Bewegung vor uns in einem still stehenden Bild verharren und von einem, vermutlich neuerlich auf der Bühne von den Performern erzeugten Windgeräusch begleitet werden. Dann, nach einem kurzen Black, nehmen die Performer im Dunkeln die begonnene Konversation wieder auf: Wir erfahren nun etwas über die zugrundeliegenden Recherchen, etwa, dass die Gruppe sich Anregungen im Zoo geholt hat, dass über die In-Ear-Kopfhörer die Geräusche eines Druckers die Impulse für die zuckenden Bewegungen gegeben haben oder dass die Konversationen zu Beginn und am Ende von grundlegender Bedeutung für die Performance sind. Xavier Le Roy hat nach der 1997 entstandenen Choreographie Narziss im Jahr 1998 mit seiner Arbeit Product of Circumstances Tanzgeschichte geschrieben. Ein gelernter Mikrobiologe, Choreograph und Tänzer tritt auf die Bühne mit der Erzählung der Umstände, die ihn dazu gebracht haben, statt eine Karriere in der Wissenschaft einzuschlagen oder Tänzer zu werden, jede der beiden in seiner Biographie angelegten Möglichkeiten zu verwerfen, um nun stattdessen mit diesem eigenartigen Mischwesen aus Vorlesung, Tanz und Choreographie in einem neuen, von ihm mitgeprägten Format, der „Lecture Performance“, vor sein direkt angesprochenes Publikum zu treten: Weil er mit den Formen der Wissenschaft, ihren Hierarchien, ihrem Publikationszwang, ihren politischen Rücksichten und ihren „kapitalistischen Methoden“ seine Probleme hatte, so erzählt er, wandte er sich dem Tanz zu. „Thinking became a corporeal experience. My body became simultaneously active and productive, object and subject, analyzer and analyzed, product and producer.“41 Weil sich aber sein Körper den Normen des Tanzes widersetzte, er sich bei Auditions als zu hager, zu ungeübt erwies und weil es ihm widerstrebte, mithilfe der von einem Choreographen komponierten BewegungsSequenzen dessen Fragen und Begierden auszudrücken, führte ihn seine Arbeit zu etwas anderem als dem, was man bis dahin als „Tanz“ bezeichnet hat – zu etwas, das die einen heute, Jahre später, als Abweg betrachten, der mit Tanz nichts mehr zu tun habe, die anderen als ein neues Kapitel in der Geschichte von Tanz und Choreographie: Die theater- und tanzwissenschaftlichen Begleiter seiner Arbeit sprachen von einer „kritischen Praxis“42, einer „performative(n) Äs-
41 Vgl. le Roy, Xavier: Score for Product of Circumstances (1999), zit. nach: http:// www.xavierleroy.com/page.php?id=63e83a12f776477d633187bdfbdb1c24c130da87 &lg=en 42 Vgl. Husemann, Pirkko: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen. Bielefeld 2009; dies.: Ceci est de la danse. Choreographien von Meg Stuart, Xavier Le Roy und Jérôme Bel. Norderstedt 2002.
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thetik der Abwesenheit“43, Tanz als einer Form des Denkens44. Zusammen mit Jerome Bel, Meg Stuart, Tino Sehgal, Wanda Golonka, Deufert & Plischke, Thomas Lehmen und Martin Nachbar wurde er zum Gegenstand, ja Protagonisten einer größeren Zahl von Aufsätzen, Dissertationen, Habilitationen und Tagungsdokumentationen. Wie alle Arbeiten Le Roys setzt low pieces nicht einfach fort, was die vorangehenden Arbeiten begonnen haben, sondern eröffnet ein eigenes Feld, das für sich betrachtet werden muss. Die Performance verlangt, gerade weil es auf den ersten Blick eine so wenig spektakuläre Arbeit ist, neben dem genauen Blick auf die Dramaturgie des Abends und die Choreographien seiner Teilstücke vor allem nach einer Betrachtung, die das mitzudenken und auf Begriffe zu bringen versucht, was in der Arbeit szenisch reflektiert wird, das der körperlichen Erfahrung inhärente Denken. Von Beginn an kann der Abend als Abbau des Theaters des Menschen gedeutet werden bzw. als dessen paleonymische Verwendung: Dies bringt zunächst einmal der Titel auf den Punkt. low pieces sind die Stücke dieses Abends, weil sie Abstand vom Mittelpunkt des durch seinen aufrechten Gang definierten Menschen nehmen: Es wird in dieser Performance gesessen, gelegen, gekrochen und gekauert, doch kein einziges Mal auf der Bühne gestanden. Die Figur des stehenden, mit gestreckten Armen das Maß aller Dinge abgebenden neuzeitlichen Menschen, die die neuzeitliche Bühnenform ebenso geprägt hat wie bis heute die Theaterkulissen, Bühnenbauten und jede perspektivisch organisierte Darstellung, diese Figur fällt hier weg – wird gekrümmt, gebogen, zerlegt. Die Performer imitieren maschinelle Bewegungen, Pflanzen, Vögel, Wildkatzen und führen Körperbilder vor, die am Körper dasjenige hervortreten lassen, was sich nicht in die Vorstellung einer ungebrochenen, phantasmatischen Ganzheit fügt, was ihn als Torso erscheinen lässt, gleichsam steinern. Sie weisen dergestalt auf eine Grenze des Menschen hin, die nicht außerhalb des menschlichen Körpers verläuft, sondern diesen in sich mit sich fremd werden lässt, ihn aufspaltet in einen dinglichen, objekthaften, an Tiere, Pflanzen, Steine erinnernden Teil, der mit anderen entsprechenden Teilen auf der Bühne in eine Kommunikation der Dinge eintritt, als Ding unter Dingen den Teil einer Bühnenlandschaft bildet, und in einen diesen mit sich tragenden anderen Teil, der zu Beginn und am Ende das Wort hat, mit den Zuschauern kommuniziert.
43 Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld 2006, S. 369-408. 44 Vgl. Schulze, Janine/Traub, Susanne (Hg.): Moving Thoughts – Tanzen ist Denken. Berlin 2003.
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Doch was heißt hier überhaupt kommunizieren? Nicht zuletzt untersucht low pieces, was Kommunikation im Theater meint und stellt dabei deren konventionelles, geläufiges Verständnis auf den Kopf: Wenn zu Beginn gesprochen wird, äußert Le Roy explizit den Wunsch, dass kommuniziert werden möge. Doch tatsächlich ist, was dann ausgetauscht wird – zumindest den Eindrücken der zwei mir zugänglichen Vorstellungen nach zu schließen – eine Serie von Banalitäten, von mehr oder minder leerem Reden: Die Fragen stellen vor allem die Fragenden als Selbstdarsteller aus, die Antworten verlaufen sich nicht selten in Sackgassen, Missverständnissen und werden nicht von ungefähr ohne jede Rücksicht vom Blackout am Ende der 15 Minuten schlagartig beschnitten. Es ist, als sollte hier nicht nur, wie Le Roy es in einem Gespräch sagt, die Frontalität unterbrochen und das Bewusstsein eines Seins im gemeinsamen Raum hergestellt werden, sondern zugleich das Bewusstsein davon, wie wenig wir voneinander wissen und in den wenigen Sätzen, die das große Publikum mit den neun Performern austauschen kann, erfahren können. Wenn auf diesen Anfang stumme Szenen auf der Bühne folgen, so scheint es andererseits, als sollten sie belegen, dass es eine andere Sprache als diejenige in menschlichen Worten, ein anderes als das prädikative Sprechen gibt: Sprachen der Tiere, Pflanzen, Steine, Körper. So oder so manifestiert sich ein Verständnis davon, dass die Performer gerade darin entmenschte Menschen sind, dass sie – mit Derridas sprachspielerischer Formulierung gesprochen – plus d’une langue, mehr als eine und deshalb vielleicht auch keine Sprache mehr haben.45 Wenn Le Roy in seinem „Selbstinterview“ aus dem Jahr 2000 sagte, dass es ihm wichtig sei, dass konstituierende Fragen als inhärente Fragen ins Werk aufgenommen werden, so könnte man darin eine Reformulierung der eingangs zitierten Wendung Benjamins sehen und sagen, dass low pieces die Frage, was sprechen heißt und mehr noch, was es heißt, im Theater das Wort zu haben, in die Performance überträgt, indem er sie zum Gegenstand einer körperlichen Erfahrung erhebt. Es zeigt sich hier ein Sprechen (der Tiere, Pflanzen, Steine, Körper), das beginnt, wo die Sprache des Menschen zurückbezogen wird auf Sprache überhaupt, ein Sprechen, das man vielleicht mit Benjamins Begriff als gestisches, bzw. als ein solches bloßer Mitteilbarkeit bezeichnen könnte. Was für die Ebene der Figur und der Sprache beschrieben werden kann, lässt sich nicht minder für andere konstituierende Elemente des Theaters beschreiben: So lässt die genaue Taktung des Abends, eine in der Lichtregie wie der anfänglichen Ankündigung explizit ausgestellte Zeitordnung, die mechanische Zeit als
45 Vgl. zu dieser Formulierung Derrida, Jacques: Mémoires. Für Paul de Man. Wien 1988, S. 31.
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Konstituens hervortreten, eine Zeit also, welche zwar für die Dramaturgie des Abends bestimmend ist, selbst aber, an die entsprechenden Zeitordnungen John Cages erinnernd, eine mechanisch gesetzte ist. Der Raum, auf den ersten Blick frontal angeordnet und durch das Gegenüber von Betrachtern und Spielern geprägt, wird tatsächlich von Beginn an als unterschiedlich teilbarer und gemeinsam geteilter ausgestellt. Durch die Verschachtelung des Gesprächs zwischen Bühne und Publikum mit den auf der Bühne sich abspielenden Szenen wird die Anordnung dieser Szenen ausgestellt, werden sie in Bezug zu der in ihnen abwesenden Gegenwart eines betrachtenden Publikums gesetzt: Der Raum der Repräsentation erscheint so umfangen vom zwischen Spielern und Publikum geteilten Raum. Aufgelöst wird auch – und vielleicht ist dies der wichtigste, der entscheidende Einsatz dieser Arbeit – die Hierarchie von Choreograph und Spielern. Denn wenn die Spieler gemeinsam über die Arbeit sprechen, die zu erwarten ist oder die hinter ihnen liegt, so sitzt erkennbar eine Gruppe vor dem Publikum. Keine Antwort dient hier der Vereinheitlichung der gemeinschaftlichen Erfahrung und Produktion, vielmehr treten die sprechenden Performer im Moment, in dem sie ihre je spezifische Auskunft geben, aus dem Verband der Gruppe heraus.
S CHLUSSBEMERKUNG low pieces kann als Theater begriffen werden, das insofern im beschriebenen Sinne denkt, als es in allen seinen Elementen Antwort und Interpretation auf eine geschichtlich überkommene Form des Theaters – hier des Tanzes und der Performance Art – ist, die es zitiert, verändert und dabei abbaut. Es öffnet sich genau auf diese Weise der jektiven Differenz, von der Derrida spricht, und es bringt so das „Verhältnis“ zwischen der Handlung, die im Aufführen überhaupt gegeben ist und der aufgeführten Handlung zum Vorschein. Es stellt, anders gesagt, radikal die Frage nach dem, was das Theater des Menschen konstitutiv vergessen musste und öffnet so den Blick auf die Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit seiner eigenen Darstellung. Das „Andere“, was dabei als das im Theater des Menschen Verdrängte oder Vergessene zum Vorschein kommt, ist nicht zuletzt das Theater der Tiere, Pflanzen und Maschinen. Das Theater des Menschen ließe sich anders mit Lehmann und Szondi als das vom postdramatischen Theater abgelöste dramatische Theater,46 mit Erika Fischer-Lichte als das in der performativen Wende durch ein neues Paradigma
46 Vgl. Lehmann, 1999.
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überwundene repräsentative Theater47 bezeichnen. Gegenüber solchen Definitionen liegt der Vorteil des Begriffes „Theater des Menschen“ darin, dass er die innertheatralen Umbrüche im Kontext der abendländischen Repräsentation und ihrer Geschichte situiert und zugleich den von beiden Ansätzen (und vielen anderen) eher als kontingent begriffenen Paradigmenwechsel als einen zu fassen vermag, der auf eine geschichtlich zu nennende Zäsur antwortet und insofern Teil eines größeren, die Geschichte von Denken wie Theater gleichermaßen umfassenden Umbruchs ist, den jede heutige theatrale Praxis zur Kenntnis nehmen muss, zumindest jede denkende.48
47 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. 48 Der vorliegende Text wurde im September 2013 abgeschlossen und wird hier im Wesentlichen unverändert vorgelegt. Hinzugefügt wurden lediglich dort Hinweise auf seither verfasste Texte, wo diese zur weiteren Klärung der hier zum Teil nur knapp skizzierten Zusammenhänge beitragen können.
Die Bühne mit der Bühne denken Zu Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor und Brechts Der Messingkauf Lydia J. White
Am Anfang des 20. Jahrhunderts entstehen zwei interessante Versuche, Theatertheorie auf die Bühne zu bringen: Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor (Sei personaggi in cerca d’autore) und Bertolt Brechts Der Messingkauf.1 In diesen beiden selbstreflexiven Texten wird ein Denken über das und mit dem Theater am Schauplatz des Theaters selbst als eben Theater inszeniert: In Pirandellos Stück machen sich sechs Figuren auf die Suche nach einem Autor und stellen dabei das Vermögen des Theaters in Frage, die Realität auf der Bühne wiederzugeben, während sich in Der Messingkauf ein Philosoph mit vier „Theaterleuten“ über die Beschaffenheit und den Zweck des Theaters unterhält, um dieses Theater zu neuen, dem „wissenschaftlichen Zeitalter“ gewachsenen Zwecken einzusetzen.2 Beide stellen ein sogenanntes ‚Spiel im Spiel‘ über das Theater, eine Art Meta-Theater dar. Dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei solche Versuche überhaupt stattfinden, wäre an sich interessant, auch wenn kein tieferer geschichtlicher Zusammenhang dahintersteckte. In diesem Beitrag wird dieser Zusammenhang mit dem Ziel untersucht, aufzuzeigen, wie
1
Das Thema dieses Beitrages diskutiere ich im Detail in einem Kapitel meiner Dissertation mit dem Titel SCHAUPLATZ THEATER: Zu Bertolt Brechts Der Messingkauf. (Verteidigung an der Goethe Universität Frankfurt am 15. November 2018). Die Publikation befindet sich in Vorbereitung.
2
Brecht, Bertolt: Der Messingkauf, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 22,2: Schriften 2. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1993, S. 695869, hier S. 695.
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und wo Brecht möglicherweise eine Quelle für seinen großen Theorieversuch findet und wie er Pirandellos Stück auf seinen Materialwert hin untersucht und radikalisiert. Als Pirandello 1921 sein Spiel über das Theater am Teatro Valle in Rom aufführt, löst es einen wahrhaften Skandal aus. Das Publikum ist so empört, dass es Berichten zufolge noch während der Aufführung „Manicomio! Manicomio!“ (Irrenhaus! Irrenhaus!) schreit.3 Dario Niccodemi, der Regisseur der Inszenierung, schreibt in sein Tagebuch, dass es sowohl die Ideen als auch die Form des Stückes sind, die für ihn und die an der Erstaufführung beteiligten so schwierig zu verdauen seien. Nach seiner ersten Lektüre des pirandelloschen Stoffes beschreibt er seine Gefühlslage als „überwältigt“. 4 Das Stück dreht sich um sechs Figuren, die auf der Suche nach einem Autor sind, der sich bereit erklären soll, ihre Geschichte zu Ende zu schreiben. Auf dieser Suche stürzen die Figuren in eine Probe auf dem Theater hinein, wo sie auf einen Theaterdirektor, einen Inspizienten, einige Schauspieler und andere am Theater Beteiligte treffen. Die Figuren fordern diese ‚Theaterleute‘ dazu auf, ihre Geschichte aufzuführen, unterbrechen jedoch alle Versuche seitens der Theaterleute, ihre Tragödie in Szene zu setzen, mit einer Kritik an der Unfähigkeit der Schauspieler und dem Theater im Allgemeinen, ihre tragische ‚Realität‘ auf der Bühne wiederzugeben. Letztendlich führen sie das Ende ihrer Geschichte selbst aus. Sechs Personen geht danach in die Theatergeschichtsschreibung als Paradebeispiel für das ‚Spiel im Spiel‘ ein, und in seiner Theorie des modernen Dramas schreibt Peter Szondi 1956, dass Pirandellos Stück „[s]eit Jahrzehnten […] vielen als Inbegriff des modernen Dramas [gilt].“5 Als großer Brechtkenner wählt
3
Grimm, Reinhold: Die Erweiterung des Kontinents. Brechts „Dreigroschenoper“ in Nigeria und der Türkei. Würzburg 2007, S. 95, Fußnote 91; vgl. auch Lorch, Jennifer: Pirandello. Six Characters in Search of an Author. Cambridge 2005, S. 31-43.
4
Jennifer Lorch schreibt, das Stück war „no less of a shock for both the director and the actors [than it was for the audience]. After Niccodemi had read it, he wrote in his diary: ‚I’ve read Pirandello’s new play, Six Characters in Search of an Author, and I am stunned by it, as much by the truly noble greatness of its theme as by the strangeness of its form. I’ll read it again. Perhaps everything will become clear in rehearsals.‘“ Lorch, 2005, S. 36. Von Lorch übersetzt und zitiert nach: Alessandro d’Amico: „Einführung“, in: Luigi Pirandello: Sei personaggi in cerca d’autore, in: ders.: Maschere nude. Bd. II. Hg. von Alessandro d’Amico. Mailand 1993, S. 621-650, hier S. 628.
5
Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas, in: ders.: Schriften. Bd. 1. Hg. von Jean Bollack. Frankfurt a.M. 2011, S. 9-148, hier S. 116.
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Szondi als Gegenbegriff zum „Dramatischen“ das „Epische“ und schreibt Sechs Personen ebenfalls dieser Kategorie zu: Wie aller ‚epischen Dramatik‘ ist ihm thematisch, was sonst die Form des Dramas konstituiert. Daß aber dieses Thema nicht allein gefaßt als Problem des Zwischenmenschlichen erscheint […], sondern als in Frage gestelltes Drama, als Suche nach einem Autor und Realisierungsversuch, das begründet die Sonderstellung des Werkes in der modernen Dramatik, macht es gleichsam zu einer Selbstdarstellung der Dramengeschichte.6
Das, was Szondi hier beschreibt, ist eben die Thematisierung des Theaters im Theater selbst. Der raumzeitliche Schauplatz des Stückes wird zum Gegenstand des Theatermachens. Pirandellos Sechs Personen ist gewissermaßen eine Suche nicht nur nach einem Autor, sondern auch nach dem Theater selbst. Brecht beginnt die Arbeit an Der Messingkauf 1939 im Exil und arbeitet nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1948 nur noch sporadisch an dem Text weiter, der bis zu seinem Tod im Jahr 1956 unvollendet bleibt. Im Messingkauf sind es keine Theaterfiguren, die in das Theater hineinstürzen, sondern ein Philosoph, der von einer Schauspielerin dazu eingeladen wird, sich mit den „Theaterleuten“ – einem Dramaturgen, einem Schauspieler, einem Bühnenarbeiter und eben dieser Schauspielerin – über das Theater zu unterhalten.7 Das Gespräch ist in den Konzeptionsskizzen auf vier Nächte hin angelegt, der Text entzieht sich aber immer mehr diesem ursprünglichen Telos. Über die Jahre in denen Brecht an ihm arbeitet wird er zu einer Art Textsammlung, bestehend aus verschiedenen Dialogen, Notizen, Essays, Gedichten und den sogenannten „Übungsstücke[n] für Schauspieler“. 8 Die grundsätzlichen Parallelen zwischen Sechs Personen und Brechts Der Messingkauf sind nicht zu übersehen. Steve Giles, dem ebenfalls die Ähnlichkeit zwischen Sechs Personen und dem Messingkauf aufgefallen ist, schreibt: Buying Brass and Six Characters are both grounded in the modernist crisis of representation that had also informed Brecht’s early plays […], but with a crucial difference. Pirandello’s play presents a classic modernist critique of theatrical illusionism that also radically questions the coherence of the self and personal identity, the very possibility of linguistic communication and interpersonal understanding and the nature
6
Ebd., 2011, S. 122.
7
Brecht, 1993, S. 695.
8
Ebd., S. 830-852.
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of reality as such. In contrast, Brecht’s critique of illusionism […] is the springboard for a revised and revitalized theory and practice of artistic realism. Similarly, Brecht rejects Pirandello’s modernist preoccupation with metaphysical issues, and focuses instead on the theatre as a social institution that engages critically with political issues.9
Giles zufolge mündet die pirandellosche Illusionismuskritik in einer metaphysischen Diskussion des Selbst und der Realität, während der Fokus in Brechts Text die sozial-politische Funktion des Theaters sei. Sein Augenmerk liegt vor allem auf der inhaltlichen, diskursiv behandelten Ebene der Texte – d.h. auf deren Was. Es lohnt aber auch der Vergleich der formalen Darstellung des Denkens über und mit der Bühne, das im Wie der beiden Texte zum Ausdruck kommt. Szondi beschreibt zwei Ebenen in Sechs Personen, „deren Auseinandersein das Formprinzip des ganzen Werks bildet“: die „Erzählvergangenheit der sechs Personen“ und die „Bühnengegenwart der probenden Schauspieler“. 10 Zwei solche Ebenen können für den Messingkauf nicht behauptet werden, da die Fiktion der Figuren nicht dermaßen thematisiert ist; die Figuren des Messingkaufs existieren ausschließlich in ihrer Diegese auf der Bühne. Es gibt jedoch trotzdem zwei andere Ebenen, die beiden Texten gemein sind. In einer Diskussion über den Unterschied zwischen „realem Bühnenraum und fiktivem Schauplatz“ des Theaters identifiziert Manfred Pfister zwei „Extrempositionen“: Entweder die Bühne bleibt „als Bühne bewußt (Illusionslosigkeit, bzw. Anti-Illusionismus)“ oder die Bühne soll „als etwas anderes erscheinen, als sie ist (Illusionismus)“.11 Pfister fährt fort mit der Beschreibung von „Sonderfälle[n], in denen diese Relation als Identität erscheint bzw. erscheinen soll“, z. B. Sechs Personen, in dem „sich scheinbar realer Spielraum und fiktiver Schauplatz [decken], wobei diese Identität als Abweichung von der Norm der Nicht-Identität besonders markiert ist“.12 Sowohl in Sechs Personen als auch dem Messingkauf ist also der fiktive Schauplatz die Bühne, die im Fall der Aufführung auch der reale Bühnenraum wäre: „The fundamental Pirandellian ingre-
9
Giles, Steve: „Introduction to Buying Brass“, in: Brecht, Bertolt: Brecht on Performance. Messingkauf and Modelbooks. Hg. von Tom Kuhn, Steve Giles und Marc Silbermann, übers. von Charlotte Ryland et al. London/New York 2015, S. 1-9, hier S. 6f.
10 Szondi, 2011, S. 122. 11 Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977, S. 45. 12 Ebd.
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dient in each play is the fact that the stage represents itself.“13 In Sechs Personen geht die Handlung – genauso wie die des Messingkaufs – auf einer expliziten Bühne vonstatten und der fiktive Raum ist – strenggenommen – einer ohne Zuschauer*innen. Es entstünde also bei jeglicher Aufführung von Sechs Personen oder des Messingkaufs eine Diskrepanz zwischen fiktivem Raum und realem Theaterraum, da im letzteren ein Publikum säße, wo es dem Text zufolge keines geben dürfte. Pirandellos Stück ist insoweit ‚anti-illusionistisch‘, als es die Unmöglichkeit der Übereinstimmung zwischen Fiktion und Realität aufdeckt. Die diskursive Thematisierung der Nicht-Übereinstimmung wird zudem durch die Deckungsgleichheit zwischen fiktivem und realem Bühnenraum intensiviert, die jedoch gleichzeitig durch das Oszillieren zwischen Deckungsgleichheit und NichtDeckungsgleichheit die Diskrepanz zwischen eben diesen zwei Ebenen ausstellt. Durch den raumzeitlichen Schauplatz wird im Messingkauf diese Deckungsbzw. Nicht-Deckungsgleichheit ebenfalls thematisiert, etwa in folgender konkreter Beschreibung der Bühnensituation: DER DRAMATURG
Hoffentlich fühlt ihr euch wohl hier. Wir hätten uns auch in mein
Büro setzen können. […] Andrerseits siehst du als Philosoph ja ganz gern hinter die Kulissen, und du als Schauspieler hast, wenn schon kein Publikum, so doch wenigstens seine Stühle im Rücken. Während wir über das Theater sprechen, können wir hier das Gefühl haben, dieses Gespräch vor einem Publikum zu führen, also selber ein kleines Stück aufzuführen.14
Auf der Bühne sitzend, verweist der Dramaturg auf die Situation des ImTheater-Seins und die Rolle der Figuren als der Figuren dieses Stückes, das vor leeren Rängen stattfindet. Der Rücken des Schauspielers, der dem nicht anwesenden Publikum zugekehrt ist, nimmt im Zitat den Platz der vierten Wand ein, die normalerweise durch die unausgesprochenen „Arrangement[s]“ und „geheime[n] Abmachung[en]“15 zwischen Publikum und Schauspieler entsteht und die zwei Instanzen trennt. Der Schauplatz des Messingkaufs wird somit zum Ausstellungsort des Theatermachens an sich und bricht mit der Illusion der vierten Wand, ohne sie abzuschaffen, indem allein schon durch die Sitzanordnung auf
13 James, Norman: „The Fusion of Pirandello and Brecht in ‚Marat/Sade‘ and ‚The Plebians Rehearse the Uprising‘“, in: Educational Theatre Journal 21:4 (1969), S. 426-438, hier S. 426. 14 Brecht, 1993, S. 773. 15 Ebd., S. 802.
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der Bühne aufgezeigt wird, wie und dass die vierte Wand konstruiert ist. In beiden Stücken wird also das Theater als fiktionaler Schauplatz und Thema des Gesprächs zugleich ausgestellt. Dieses Ausstellen der zweifachen Funktion des Theaters wird in beiden Texten anhand der Figuren des Bühnenarbeiters bzw. des Maschinisten unterstrichen: Während die erste vollständige Expositionsszene im Messingkauf mit einem Bühnenarbeiter anfängt, der die Kulissen der vorangegangenen Inszenierung abbaut, gibt es zwei Szenen in der deutschen Übersetzung von Sechs Personen von 1925, in denen Bühnenarbeiter bzw. ein Maschinist den Vorhang als Teil der Handlung runterlassen oder einen Garten für die nächste Szene aufbauen.16 Die historische deutsche Rezeption von Sechs Personen legt nahe, dass es nicht nur Zufall ist, dass Brecht nicht einmal zwanzig Jahre nach der Uraufführung des italienischen Stückes seinen Philosophen mit den Theaterleuten diskutieren lässt. Es ist weithin bekannt, dass Brecht aus einer selbstbeschriebenen Haltung der „grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums“ 17 heraus immer wieder gerne zu den Werken und Texten anderer gegriffen hat – was teilweise als „Bearbeitung“, teilweise als „Plagiat“ ausgelegt worden ist.18 Doch
16 Vgl. Pirandello, Luigi: Sechs Personen suchen einen Autor. Autorisierte Übertragung von Hans Feist. Berlin 1925, S. 115f.: „DIREKTOR (bewundernd und überzeugt): Ja, so und nicht anders! Und deswegen jetzt den Vorhang, den Vorhang! (Auf die wiederholten Rufe des Direktors läßt der Maschinist den Vorhang herunter. Der Direktor und der Vater bleiben auf der Rampe außerhalb des Vorhangs.) DIREKTOR (nach oben sehend, die Arme ausstreckend): Solch ein Vieh! Ich sage „Vorhang“ und meine damit nur, daß der Akt hier schließen muß. Und der läßt den Vorhang wirklich herunter! (Zum Vater, indem er den Vorhang etwas lüftet, um wieder auf die Bühne zu gehen:) Ja, ja, sehr gut, ausgezeichnet. Das macht sicher Wirkung. So muß der Akt schließen. Ich garantiere für diesen ersten Akt! (Geht mit dem Vater wieder hinter den Vorhang.).“ Vgl. auch Pirandello, 1925, S. 117: „Beim Aufgehen des Vorhangs sieht man Maschinisten und Bühnenarbeiter die Szenerie des ersten Aktes forträumen und statt dessen im Hintergrunde mehrere Bäume aufstellen, dazwischen eine Art Brunnenbecken.“ 17 Brecht, Bertolt: „[Eine Erklärung Brechts]“, in: ders.: GBFA. Bd. 21. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin/Weimar/ Frankfurt a.M. 1992, S. 315-316, hier S. 315f. 18 Für eine ausführliche und amüsante Darstellung von Brechts Verhältnis zu Fragen des geistigen Eigentums inklusive Kerrs Kritik an Brecht in dieser Hinsicht vgl. Theisohn, Philipp: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart 2009, S. 446-459.
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abgesehen davon, wie man Brechts Arbeitsweise in dieser Hinsicht moralisch betrachtet, scheint Sechs Personen im Falle des Messingkaufs die Rolle des Vorläufers gespielt zu haben, vermittelt durch die Figur von Max Reinhardt. Brecht wusste ganz genau, wer Pirandello war, wie aus einem Brief an Marianne Zoff-Brecht vom Jahr 1925 zu entnehmen ist: „[I]ch bin in einer gewissen grauenvollen Situation durch die plötzliche Zumutung des Theaters, irgendein Dreckstück von Pirandello zu inszenieren, während ich endlich am ‚Galgai‘ bin und dabei das Herumrennen um Geld.“19 Das Theater, auf das Brecht in seinem Brief verweist, ist das Deutsche Theater, in das im Jahr 1924 Felix Holländer den jungen Dramaturgen holt und an dem Brecht bis 1926 für den Direktor Max Reinhardt arbeitet.20 Und es ist um diese Zeit, dass Reinhardt Sechs Personen in sein Repertoire aufnimmt – ein Stück, das er 131 Mal über zwei Spielzeiten an seinen Berliner Theatern aufführen wird.21 Brechts Nähe zu diesem Stück während der „Pirandello-Mode“22 alleine wäre vielleicht Grund genug, um auf eine mögliche Beeinflussung Brechts durch Pirandello zu schließen, ein Zusammenhang, der auch von Zeitgenossen vermutet wurde. Die Germanistin Emmy Rosenfeld erinnert sich beispielsweise an einen Vortrag von Alfred Kerr, in dem Kerr sich folgendermaßen äußerte: „Da kommt Pirandello […] mit seinem Bruch zwischen Sein und Schein, und Brecht wiederholt dies mit geringerer Routine […].“23 War dies auch als Kritik gemeint, so verdeutlicht Kerr nichtsdestotrotz,
19 Brecht, Bertolt: „Brief an Marianne Zoff-Brecht aus dem Jahr 1925“, in: GBFA. Bd. 28, Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1998, S. 223-224, hier S. 223. Hier verweist Brecht auf die Inszenierung von Pirandellos Die Wollust der Anständigkeit unter der Regie von Richard Gerner, die am 24. April 1925 am Deutschen Theater Uraufführung hatte (vgl. Gläser, Günter/Hecht, Werner: „Kommentar“, in: Brecht, 1998, S. 571-788, hier S. 645). „Galgai“ war der erste Arbeitstitel von Mann ist Mann. 20 Vgl. Willett, John: The Theatre of the Weimar Republic. New York/London 1988, S. 88-91. 21 Rössner, Michael: „Auf der Suche nach Pirandello. Zur deutschen Rezeption der ersten Stunde anhand unveröffentlichter Regiebücher von Karlheinz Martin/Rudolf Beer und Max Reinhardt“, in: Italienisch. Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 6 (1986), S. 22-38, hier S. 29. In seinem Aufsatz bietet Rössner einen detaillierten und differenzierten Überblick über die ersten deutschsprachigen Aufführungen und deren Rezeption in den 20er und 30er Jahren, die Rössner zufolge das Pirandello-Bild im deutschsprachigen Raum verzerrten. 22 Rössner, 1986, S. 29. 23 Zitiert nach Rosenfeld, Emmy: „Pirandello und Deutschland“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 4 (1963), S. 73-93, hier S. 91; vgl. auch Kerr, Alfred: Die Welt
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dass Pirandello wie Brecht den Unterschied zwischen Darstellen und Dargestelltem, zwischen Realität und Kunst in ihrem Theatermachen thematisierten, vor allem in den zwei hier erwähnten Texten. Doch wie wird ganz konkret Sechs Personen an Brecht überliefert? 1924 lässt der Verlag Felix Bloch Erben einen Unbenannten eine Übersetzung von Pirandellos Stück erstellen, die „bereits gewaltige Änderungen gegenüber dem Original enthält“24. Michael Rössner fragt sich, ob Reinhardt bereits an der ersten Übersetzung beteiligt war,25 der Theaterdirektor verwendete immerhin diese Übersetzung als Grundlage seiner Bühnenfassung, in der er zusätzlich gegen die „Autorenintention“ verstieß, 26 vor allem indem er im dritten Akt den Fokus des Stückes maßgeblich änderte. 27 Während beispielsweise Pirandello die Figur des Vaters in seinen Gesprächen mit dem Theaterdirektor die Ontologie der Kunst im Sinne des Verhältnisses zwischen Schöpfer bzw. Autoren und Figur befragen und sich danach erkundigen lässt, was eigentlich ‚realer‘ sei, die Kunstfigur oder der Mensch, wird der Theaterdirektor in Reinhardts Bühnenbearbeitung zur „eigentlichen Zentralfigur“, 28 einige metaphysisch-diskursive Aspekte werden weggelassen und Theaterfragen werden intensiver betont. Solche Fragen kommen bei Pirandello bereits zum Vorschein, dominieren aber jetzt die Gespräche, zum Beispiel in folgender von Reinhardt hinzugefügter Passage: DIREKTOR. Es gibt doch auch im Leben Dinge, die man nicht vor tausend Menschen tut. VATER. Aber im Theater dürfen diese tausend Menschen doch nicht mehr sein als die vierte Wand. Der Schaupieler [sic] vergißt sie doch in seiner höchsten Steigerung.
im Drama. Berlin/Köln 1954, S. 168: „Nun kommt jedoch Pirandello dran; der zerteilt ja das Ich der Menschen, der belichtet ja immer den Unterschied zwischen Schein und Sein. Somit sagt Brecht gelehrig, wenn auch mit geringerem Können: der Packer hier weiß zuletzt nicht, ob er wirklich der Packer Galy oder doch der Soldat Jip ist […] als den man ihn vorspiegelt. War öfters da. War besser da.“ 24 Rössner, 1986, S. 23. 25 Ebd., S. 24f. 26 Ebd., S. 30. 27 Ebd., S. 32ff. 28 Ebd., S. 30.
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1. SCHAUSPIELER. Das ist der dümmste Aberglaube, daß der Schauspieler den Zuschauer jemals vergessen kann. Im Gegenteil: Er erschließt sich am tiefsten, wenn er sich vom Zuschauer ganz aufgenommen fühlt.29
In der Originalfassung wird die vierte Wand bei Pirandello implizit, z.B. in Regieanweisungen thematisiert, während sie bei Reinhardt sowohl in den Regieanweisungen als auch diskursiv – wie in dieser eindeutigen Diskussion über die Theorie von Diderot – thematisiert wird. Erst ab seiner 1925 überarbeiteten italienischen Stückfassung lässt Pirandello seine Figuren explizit die Schwelle zwischen Bühne und Orchester überqueren, lässt seinen Bühnenmeister in der ersten Szene eine Bühne aufbauen – im Gegensatz zum abbauenden Bühnenarbeiter des Messingkaufs –, die vierte Wand somit nonverbal thematisierend. Aber Reinhardt lässt seine Figuren die vierte Wand als solche bereits vor Pirandellos Überarbeitung diskutieren. Mutet Pirandellos Originalfassung existentialistisch an, rückt bei Reinhardt das Theater selbst vielmehr in den Vordergrund der Gespräche. Hierzu baut Reinhardt zudem die Anfangsszenen, die bei Pirandello improvisiert werden sollen, so weitgehend aus, dass es auch für Rezensenten im Theater ersichtlich wird, dass er Verfasser dieser Szenen ist. 30 Und es ist diese Inszenierung der reinhardtschen Interpretation und Überarbeitung des Stückes, der Brecht beigewohnt haben dürfte. Auch wenn er sich in seinem Brief Pirandello gegenüber negativ äußert, liegt es auf der Hand, dass diese Darstellung der Darstellung Brecht interessiert haben dürfte.31
29 Reinhardt, Max: Unveröffentlichtes Regiebuch vom 17.10.1924, übertragen in ein Typoskript, S. 63. Zitiert nach Rössner, 1986, S. 31. So Rössner: „Gegen Aktschluß [des zweiten Aktes] löst sich Reinhardt dann wieder mehr von seiner Vorlage und gelangt so zu allgemeinen Diskussionen über das Wesen des Theaters.“ Ebd. 30 „Hier konnte Reinhardt ‚spielend‘ dichten und mit seinen Akteuren ein Spiel entwickeln, das weit über den Text des Dramatikers hinausging. Die ganze Einleitung, die uns einen Blick auf Bühne und Schauspieler kurz vor Probenbeginn freigibt, ist Reinhardts Erfindung und ein Kabarettstückchen, wie er deren viele damals für Schall und Rauch geschrieben hatte.“ Rössner zitiert Braulich, Heinrich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum und Wirklichkeit. Berlin-Ost 1969, S. 207, zitiert nach Rössner, 1986, S. 29. 31 Der Rückschluss auf Sechs Personen als historisches Messingkauf-Rohmaterial wird zudem dadurch unterfüttert, dass Brecht ein Exemplar des Stückes aus dem Jahr 1925 tatsächlich besaß, worauf auch Giles hinweist (vgl. Bertolt Brecht Archiv, Akademie der Künste (Hg.): Die Bibliothek Bertolt Brechts. Ein kommentiertes Verzeichnis. Frankfurt a.M. 2007, S. 209; vgl. Giles, 2015, S. 6). Seine Bibliothek enthält außer-
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Wenn man nun die These annimmt, dass Sechs Personen dem Messingkauf als Rohmaterialquelle dient, findet bei Brecht nichtsdestotrotz eine Radikalisierung des pirandelloschen Stoffes statt. Trotz der mannigfaltigen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Texten und Brechts Nähe zu jener Pirandello-Mode der 1920er Jahre gibt es einen wesentlichen strukturellen und inhaltlichen Unterschied: Pirandello beendet sein Stück nach den verschiedenen Gesprächen, die das Theater und das Theatermachen ‚anti-illusionistisch‘ thematisieren, doch noch im ‚schönen Schein‘. Nachdem der Garten für den dritten und letzten Akt der ‚Tragödie‘ von Pirandellos Figuren aufgebaut worden ist, beschreibt der Sohn seine Sicht auf den Jungen, dessen Augen auf seine ertrunkene Schwester im Brunnen fixiert sind. Plötzlich kracht ein Revolver: MUTTER (stößt einen durchdringenden Schrei aus und stürzt mit den meisten der Schauspieler hinzu. Es herrscht allgemeine Verwirrung): Kind! Mein Kind! (Alle schreien und rennen durcheinander.) Zu Hilfe! Zu Hilfe! DIREKTOR (versucht sich in dem Durcheinander Platz zu schaffen, während der Junge aufgehoben und fortgetragen wird): Aber hat er sich verletzt? Hat er sich wirklich verletzt? EINIGE SCHAUSPIELER: Ja, wirklich! Wirklich! Er ist tot! Er ist tot! ANDERE SCHAUSPIELER: Nein, das ist nur Spiel! Glaubt doch nicht daran! Es ist nur Spiel! VATER (am lautesten schreiend): Nein, kein Spiel! Es ist Wirklichkeit! Es ist Wahrheit, meine Herrn! (Auch er läuft verzweifelt hinzu.) DIREKTOR: Spiel! Wirklichkeit! Schert euch allesamt zum Teufel. So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert! Und einen ganzen Tag hab’ ich daran verschwendet! Vorhang.32
Die Schauspieler des Theaters sollen am Anfang die Tragödie der sechs Figuren anstelle dieser ‚realen‘ Figuren aufführen, sind jedoch unfähig, den Ansprüchen der herrischen Figuren nachzukommen. Damit verweist Pirandello auf die Unzulänglichkeit der Theaterkunst, das vom Autor Imaginierte unmittelbar in Szene zu setzen. Aber spätestens im Garten im dritten Akt übernehmen die Figuren diese Aufgabe wieder gänzlich und führen ihre Tragödie doch noch selbst zu
dem zum Zeitpunkt seines Todes auf Deutsch nicht erhältliche Ausgabe von Pirandellos Maschere nude von 1954, was darauf hindeutet, dass sich Brecht auch in späteren Jahren für Pirandello interessierte (vgl. Bertolt Brecht Archiv, 2007, S. 209). 32 Pirandello, 1925, S. 136-137.
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Ende. Das Stück fängt also mit der Befragung des Theaters an, endet jedoch im herkömmlichen Theater, in der Suggestion der Präsenz und mit der Einfühlung in die psychologische Verfassung der Figuren. Szondi beschreibt dieses Ende als „pseudo-dramatischen Schluß“: „Die Aufhebung des Dramatischen […] ist nicht zu Ende geführt […].“33 Die zwei von Szondi beschriebenen Ebenen fallen am Ende doch noch zusammen, und „der Vorhang, der gemäß den Gesetzen des epischen Theaters zu Beginn schon hochgezogen war, um die Realität der Theaterprobe mit jener der Zuschauer zu vermischen, senkt sich zum Schlusse doch.“34 Die zweifache Rolle des Theaters als Schauplatz und Gegenstand der Handlung ist auch nicht mehr gewährleistet, da das Theater jetzt zur allesumfassenden Gegenwart geworden ist. Es ist also keine Kritik am Illusionismus an sich, sondern an der Unzulänglichkeit des Theaters, die künstlerische Idee genau so umzusetzen, wie das Schöpfergenie sie sich vorstellt. Die Kritik richtet sich also an das Illusionstheater, aber nur, weil es immer lediglich eine defekte Version der Idee sein kann und bei jedem Inszenierungsversuch zum Scheitern verurteilt ist: In Six Characters in Search of an Author, the first of what he will later call his theatre trilogy, Pirandello challenges theatre to present reality but theatre fails to meet the challenge. […] Given Pirandello’s ideas on personality and reality, theatre is not merely a flawed art, it is an impossible art.35
Die reine Illusion wird von Pirandello also eigentlich befürwortet, das Theater ist jedoch nicht in der Lage, diese herzustellen. Dient Pirandellos Sechs Personen Brechts Messingkauf vor allem als raumzeitliche Vorlage, wird diese zunächst durch Brecht von ihrem Zweck – das Aufzeigen der Unzulänglichkeit der Kunst, das vom Autoren Imaginierte unmittelbar auf einer Bühne zu realisieren – verfremdet und auf ihr Potential für andere brechtsche Zwecke heruntergebrochen. Der raumzeitliche Schauplatz wird übernommen, jedoch radikalisiert und konsequent ausgeführt: Im Messingkauf werden die Ebenen nie vermischt. Die Bühne des Messingkaufs fungiert als eine Art Kippfigur; wir als Leser*innen, d.h. Zuschauer*innen dieses Theaters im Text, sehen immer sowohl das Geschehen auf der Bühne als auch die Tatsache, dass etwas geschieht, was das Dargestellte und die Darstellung auseinanderhält. Man kann diese Radikalisierung des pirandelloschen Stoffes durch Brecht an einem Sinnbild verdeut-
33 Szondi, 2011, S. 122. 34 Ebd., S. 122-123. 35 Lorch, 2005, S. 27-28.
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lichen: In Sechs Personen unterbrechen die Theaterfiguren den laufenden Theaterbetrieb, um letztendlich das Illusionstheater, diesen Theaterbetrieb, noch idealiter zu realisieren. Die Gespräche des Messingkaufs finden jedoch während der Außerkraftsetzung des Theaterbetriebs statt – „nach der Vorstellung“36 und bevor „etwas Neues probiert [wird]“.37 Während die Bühnenarbeiter in Sechs Personen zum Aufbau des Theaters beitragen, baut der Beleuchter bzw. Bühnenarbeiter des Messingkaufs, der „das neue Publikum ab[gibt]“,38 die Kulissen der Bühne ab, hinter die, wie wir bereits gesehen haben, der Philosoph mit den Theaterleuten schaut. Dieser Abbau durch den Bühnenarbeiter ist eine Allegorie der internen diskursiven Dekonstruktion des Theaterdispositivs, die zwischen den Figuren von statten geht. Es geht aber keinesfalls um die Abschaffung des Theaters, dargestellt wird vielmehr, wie Nikolaus Müller-Schöll aufzeigt, „zugleich die Auflösung des überkommenen Theaters wie auch eine Affirmation des Theaters, wenngleich in seiner denkbar allgemeinsten Form“ 39. Es wird hier kein neues Theater positivistisch beschrieben, sondern eine Dekonstruktion und Neuzusammenfügung von Elementen des bereits Vorhandenen vorgenommen. In diesen beiden Stücken, Sechs Personen und dem Messingkauf, wird über, aber auch auf und mit der Bühne (nach-)gedacht. Brechts Nähe zur PirandelloMode der 1920er Jahre legt es nahe, dass er in Kontakt mit Pirandellos Stück gekommen ist. Dass er aber dem Stück wahrscheinlich vermittelt durch Reinhardt und dessen Bühnenfassung begegnete, die die praktischen Aspekte des Theatermachens und der vierten Wand, kurz: das Wie des Theaters im Wie der Bearbeitung selbst noch intensiver betonte, was auch den Fokus des Messingkaufs bilden sollte, lässt den Schluss zu, dass Sechs Personen tatsächlich als Quelle des Rohmaterials für die Arbeit am Messingkauf diente. Wie bei jeder Materialwertuntersuchung von Brecht scheint er jedoch nur diejenigen Komponenten beibehalten zu haben, die er zu seinen eigenen Zwecken einsetzen konnte. Während also Pirandello den Schauplatz seines Stückes mit dem Schauplatz der Geschichte seiner Figuren doch noch verschmelzen lässt, klaffen die Ebenen des Dargestellten und des Darstellens in Brechts Messingkauf weiterhin auseinander ohne Möglichkeit einer Versöhnung. Das Denken dieser Bühne, das im unvollendeten Fragment nie zu Ende gedacht wird, bleibt also als das, was die Figuren im Ge-
36 Brecht, 1993, S. 695. 37 Ebd., S. 773. 38 Ebd., S. 696. 39 Müller-Schöll, Nikolaus: „Bruchstücke eines (immer noch) kommenden Theaters (ohne Zuschauer). Brechts inkommensurable Fragmente Fatzer und Messingkauf“, in: Das Brecht-Jahrbuch 2014 (39), S. 30-55, hier S. 43.
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spräch miteinander praktizieren, sowohl die ‚Handlung‘ des Textes als auch der Gegenstand des Denkens. Während sie ein kleines Stück aufführen, um das herum der Bühnenarbeiter die Kulissen abbaut, potenziert sich jede Aussage der Figuren über das Theater und weist dabei auf das Verweisen des Theaters hin. Es ist nicht die Kunst als Realität oder eine realistische Kunst, die auf der Bühne wiedergegeben wird, sondern deren Realität – die Realität der Bühne.
Besessen vom Theater Der Dibbuk am Habima-Theater, Moskau (1922) Freddie Rokem
Es ist leicht einzusehen, dass der Großteil der Anziehungskraft, die Der Dibbuk auf das russische Publikum ausübte, in seiner spirituellen Atmosphäre lag, darin, den Kampf göttlicher Kräfte und ihrer Gegenkräfte darzustellen und dabei die nicht-materialistische Sicht auf den Menschen zu betonen. Ironischerweise war solch ein Stück nur in einem jüdischen Theater möglich.1 Der Engel der Geschichte […] möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.2
Die Produktion des Habima Studios von Der Dibbuk, einem Stück des Schriftstellers, Ethnographen und Revolutionärs S. An-Ski (Shloyme Zaynvl Rapoport, 1863-1920), das auf ethnographischen Materialien basierte, die er unter Juden im westlichen Russland im Ansiedlungsrayon (wo Juden im westlichen Russland
1
Tolstoy, Helen: „An-sky's The Dybbuk through the Eyes of Habima's Rival Studio”, in: Partial Answers: Journal of Literature and the History of Ideas, 10. Jg., Heft 1, 2012, S. 49-75, S. 72.
2
Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte”, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1978, S. 693-704, S. 697.
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sich ansiedeln durften) kurz vor dem ersten Weltkrieg gesammelt hatte, kam am 31. Januar 1922 in Moskau zur Premiere. Sie ist nicht nur die am häufigsten untersuchte Aufführung in der Geschichte des hebräischen/israelischen Theaters, sondern auch eine der umstrittensten.3 Sie markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung des hebräischsprachigen Theaters (das im Zuge der nationalen Unabhängigkeit 1948 zum israelischen Theater wurde) und wurde mehr als 1000 mal aufgeführt, bevor sie 1965 zum letzten Mal gezeigt wurde. Im Folgenden möchte ich darlegen, dass sich unser Verständnis des Habima-Dibbuks – der ersten ganz professionellen hebräischen Aufführung – vertiefen lässt, wenn man ihn durch einen doppelten theoretisch-historischen Filter betrachtet: Einerseits mit Walter Benjamins Analyse des Trauerspiels und seinem philosophischen Verständnis der hebräischen Sprache, andererseits mit Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Interpretation der Schriften Kafkas als einer ‚kleinen‘ Literatur. Beginnen werde ich jedoch damit, den ‚Fall‘ selbst vorzustellen, was eine Herausforderung an sich darstellt, wenn man die vielschichtigen kulturellen Fluktuationen, Transformationen und Schnittstellen bedenkt, über die nachzudenken die Habima-Aufführung von Der Dibbuk uns aufgibt.
3
Die Forschungsliteratur über die Habima-Produktion von Der Dibbuk ist sehr umfangreich. Mein eigener Aufsatz analysiert sie innerhalb der Parameter eines zionistischen Kulturprojekts, das in das alte Heimatland zurückkehrt, wo Hebräisch gesprochen wird: Rokem, Freddie: „Hebrew Theater from 1889 to 1948“, in: Ben-Zvi, Linda (Hg.): Theatre in Israel. Ann Arbor 1996, S. 51-84. Gad Kaynar hat diesen Aufsatz kritisiert in: „National Theatre as Colonized Theatre: The Paradox of Habima“, in: Theatre Journal, 50. Jg., Heft 1, 1998, S. 1-20. Er interpretiert die Aufführung als expressionistische Perspektive auf das, was er als „Selbst-Kolonisierung“ bezeichnet. Helen Tolstoy (vgl. Fußnote 2) bespricht die Aufführung zusammen mit einem satirischen Dokument aus einem anderen Theaterstück. Sie hebt hervor, was sie, wie eingangs zitiert, als „Kampf göttlicher Kräfte und ihrer Gegenkräfte“ bezeichnet. Meine eigene Lektüre wird die Konsequenzen eines solchen Kampfes untersuchen. Set Wolitz lenkt die Aufmerksamkeit auf An-Skis potenziell russischsprachige Zuschauer (Wolitz, Set: „Inscribing An-sky’s Dybbuk in Russian and Jewish Letters“, in: Safran, Gabriella/Zipperstein, Steven J. (Hg.): The Worlds of S. An-sky. A Russian Jewish Intellectual at the Turn of the Century. Stanford 2006, S. 164-202). Mit zwanzig von Shimon Levy und Dorit Yerushalmi editierten Beiträgen zeugt das Buch Do Not Chase Me Away: New Studies on ‚The Dybbuk‘. Tel Aviv 2009 (auf Hebräisch) vom fortbestehenden Interesse an dem Stück.
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D ER RELIGIÖSE UND HISTORISCHE H INTERGRUND Ein ‚Dibbuk‘ ist der Geist eines Toten (für gewöhnlich eines Mannes), der keine letzte Ruhe gefunden hat und in die Welt der Lebenden zurückkehrt, indem er den Körper einer Person (meist einer Frau) einnimmt und durch ihren Mund spricht. Diese Form von Besessenheit durch einen Geist, eine Art Bauchrednerei mit offensichtlichen erotischen Implikationen, ist auch eine kraftvolle Metapher für das Theater und die Kunst der Schauspielerei, in der die Stimme einer Figur durch den Mund eines Schauspielers oder einer Schauspielerin spricht. In der Habima-Aufführung von Der Dibbuk sprechen nicht nur die Stimmen der Lebenden und der Toten Hebräisch, auch die Bühne ist mit kurzen, markanten Zitaten aus der hebräischen Bibel geschmückt. Der erste Akt spielt sogar in einer Synagoge, wobei der Thoraschrein, in dem die Rollen des Pentateuchs aufbewahrt werden, im Mittelpunkt steht. Der Dibbuk des Habimas ist nicht nur eine Aufführung in der säkularisierten hebräischen Sprache, sondern eine Veranschaulichung dessen, wie Theater als eine kulturelle Praxis als mächtiges Vehikel genutzt werden kann, um die traditionellen, religiösen Gebrauchsweisen des Hebräischen in eine so zuvor nicht existierende Sprache der und für die Bühne zu verwandeln, die sich in ihren eigenen theatralen Begriffen ausdrückt; oder, wie es meine Überschrift andeutet, wie eine Kultur ohne existierendes TheaterErbe buchstäblich vom Theater besessen wird. Zusätzlich zu ihrem ideologischen, säkularisierenden Einfluss stellte die Premiere von Der Dibbuk am Habima in Moskau auch einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur vollständigen Professionalisierung des hebräischen Theaters dar. Frühere Bühnenaktivitäten auf Hebräisch – in Schulen (ab den 1890er Jahren) und von Amateurgruppen (beginnend um 1905) – fanden hauptsächlich in Eretz Israel (dem ‚Land Israel‘) statt, das bis in die letzten Phasen des Ersten Weltkriegs unter osmanischer Herrschaft stand, bevor es Teil des Britischen Empires als ‚Mandatsgebiet Palästina‘ wurde. Das Habima-Theaterkollektiv dagegen wurde 1917 in Moskau gegründet, im Geiste der Europäischen Revolutionen von 1848/49. In ihm spiegelten sich die anfänglichen Ziele der bolschewistischen Revolution, das Bestreben, ein breites Spektrum ethnischer Minderheiten in die sich allmählich herausbildende Sowjetkultur zu integrieren. Nach der Revolution war es Juden auch erlaubt, den Ansiedlungsrayon in den westlichen Gebieten des Zarenreichs zu verlassen, wo sie bis auf sehr wenige Ausnahmen seit dem späten 18. Jahrhundert gezwungen waren zu leben. Diese Entwicklungen ermöglichten es, ein jüdisches Theater in Moskau zu gründen, das Stücke auf Hebräisch spielte.
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Das „Habima-Studio“, wie das Kollektiv junger Schauspieler sich nannte, wurde in Moskau von einer Gruppe junger jüdischer Theater-Amateure gegründet – alle ungefähr dreißig Jahre alt – die über keinen professionellen Hintergrund als Schauspieler verfügten, von denen manche aus orthodoxen Haushalten kamen, die sie mitsamt des Großteils ihrer religiösen Gebräuche zurückgelassen hatten, ebenso wie die meisten Pioniere im Mandatsgebiet Palästina. Es war zudem ein Produkt der zionistischen Bewegung, die für die Wiedergeburt des Hebräischen als Umgangssprache warb, welche nicht nur auf der Bühne, sondern auch in den Häusern und Schulen des zukünftigen jüdischen Heimatlandes gesprochen werden sollte. Innerhalb dieses facettenreichen und zuweilen widersprüchlichen historischen Kontextes entstand mit dem Habima das erste vollkommen professionelle Theater, das Aufführungen auf Hebräisch zeigte. Die Schauspieler des Habima-Kollektivs hatten die Möglichkeit, professionelles Training und Anleitung im Rahmen des Studiosystems zu erhalten, das Konstantin Stanislawski, der Gründer des Moskauer Künstlertheaters, leitete. Dieser schätzte ihre kulturellen Wurzeln; das Habima erhielt den Beinamen ‚Das Biblische Studio‘ und schloss sich den anderen Studios des von Stanislawski geleiteten Theaternetzwerkes an. Einer Anekdote über diesen Gründungsmoment zufolge, betraute Stanislawksi, der nur an Yom Kippur (dem Tag der Buße, dem höchsten jüdischen Feiertag, einem Fastentag) Zeit hatte, die jungen jüdischen Mimen zu treffen – die sich einverstanden erklärten, und damit das Theater über religiöse Gebote stellten –, einen seiner talentiertesten Mitarbeiter mit der Verantwortung für ihr professionelles Training, den aus Armenien stammenden Regisseur Jewgeni Wachtangow. Er führte auch bei ihrem ersten Stück Neshef Bereshit (‚Schöpfungsball‘ oder ‚Eröffnungsfeier‘) Regie – der Beginn einer Zusammenarbeit, die bis zur Premiere von Der Dibbuk vier Jahre später dauerte, mit der das Kollektiv seinen Ruf als innovatives Avantgardetheater befestigte, das in einer Theatersprache spielte, die als ‚symbolischer Expressionismus‘ bezeichnet werden könnte. Inspiriert vom zionistischen Ethos, aber auch von den traditionellen, rituellen Funktionen des Hebräischen, und im Gegensatz zum staatlichen jüdischen Theater Moskau (GOSET; gegründet 1919, das in jiddischer Sprache spielte), erklärte das Habima die Sprache der Bibel in der sephardischen Aussprache – die von den Zionisten als Umgangssprache übernommen worden war und sich stark von der Aussprache in den osteuropäischen Synagogen unterschied – zur Aufführungssprache. Die Mischung aus dem gewöhnlichen russischen Akzent der Schauspieler und dem Ideal der hebräischen ‚Rede‘, die die Schauspieler nie wirklich kennengelernt hatten, besaß eine seltsame Qualität (derentwegen sie oft
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verspottet wurden), insbesondere, wenn der Vortrag etwas hochtrabend daherkam, wie es bei Der Dibbuk der Fall war.4 Nachdem es seinen besonderen Theaterstil entwickelt hatte, der im Erfolg von Der Dibbuk gipfelte, entschied sich das Habima-Kollektiv 1926, Moskau zu verlassen. Die kulturelle Option, für die es innerhalb der sich zu dieser Zeit entwickelnden Sowjetkultur stand, galt zunehmend als ‚unerwünscht‘ und die Situation der vielen jüdischen Intellektuellen, die eine wichtige Rolle bei den revolutionären Umwälzungen des vormaligen Zarenreiches gespielt hatten, war unsicher, für einige sogar unerträglich geworden. Nach Jahren des Herumziehens – darunter sowohl ein ‚Besuch‘ in Tel Aviv 1928-29 (wo die Gruppe auf gemischte Reaktionen stieß), als auch ein produktives, wenngleich schwieriges Jahr in Berlin – entschied sich die Gruppe 1931 für Tel Aviv als dauerhaften Standort, nachdem einige ihrer wichtigsten Mitglieder das Kollektiv auf einer USA-Tour verlassen hatten. 1958, am zehnten Geburtstag des Staates Israel, wurde das Habima zum israelischen Nationaltheater erklärt. Die Habima-Produktion von Der Dibbuk, die anfänglich vor dem Hintergrund dieser komplexen, mehrsprachigen, multi-territorialen Wirklichkeiten jüdischer Kultur am Ende des Ersten Weltkriegs aufgeführt wurde, blieb über vierzig (!) Jahre, bis 1965, im Repertoire des Habima-Theaters. Während dieser Zeit nahm die Aufführung von Der Dibbuk allmählich neue Bedeutungen an, die nicht bewusst beabsichtigt worden waren, als das Stück 1922 in Moskau uraufgeführt wurde. Die Aufführung, die die Zuschauer von der Moskauer Premiere bis in das Jahr 1926 (als das Theater Moskau verließ) gesehen hatten, war nicht identisch mit der Aufführung, die später in den Hauptstädten Europas und in kleineren Städten mit großer jüdischer Bevölkerung oder in den großen amerikanischen Städten gezeigt wurde – den Orten, an denen das Habima während seiner Wanderjahre von 1926 an spielte, bevor es sich 1931 dauerhaft in Tel Aviv niederließ. Und nach dem Holocaust wurde aus Der Dibbuk – einem Stück über die Besessenheit von rastlosen Totengeistern – wiederum eine ‚andere‘ Aufführung, die sich von dem, was sie vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen war, unterschied. Untersucht man diese Entwicklungen, und insbesondere die HabimaProduktion von Der Dibbuk, aus der Distanz von beinahe einem Jahrhundert, fällt es schwer, sich ein heterotopischeres Ereignis vorzustellen als die hebräische Inszenierung eines Stückes, das auf ethnographischen Recherchen über Be-
4
Es gibt eine Aufnahme der Aufführung, die 1955 in einem Radiostudio gemacht wurde.
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sessenheit und Exorzismus in einer orthodoxen jüdischen Gemeinschaft5 (die vermutlich Jiddisch sprach) beruhte, und das zuerst auf Russisch, dann auf Jiddisch neu verfasst wurde, bevor man es ins Hebräische übersetzte. Man weiß heute,6 dass sein Autor, der Ethnograph und jiddische Schriftsteller Shlomo Rappoport (Pseudonym: An-Ski), sein Stück in einem russischsprachigen Theater aufführen lassen wollte und die erste Fassung seines Stückes zu Stanislawski brachte. Während er auf eine Antwort wartete, übersetzte An-Ski das Stück ins Jiddische – die Sprache, die die Figuren im Stück vermutlich selbst sprechen; außerdem wurde es ins Hebräische übersetzt, nachdem Nahum Zemach, eines der Gründungsmitglieder des Habima-Theaters, eine öffentliche Lesung des Stückes (auf Jiddisch) gehört hatte und so beeindruckt war, dass er es auf Hebräisch aufgeführt sehen wollte. Chaim Nachman Bialiks hebräische Übersetzung wurde 1918 veröffentlicht und unter tatkräftiger Unterstützung Stanislawskis wurde Wachtangow mit der Regie des Stückes für das jüngst gegründete HabimaStudio betraut, wo die Premiere im Januar 1922 stattfand. Was sind die ideologischen, kulturellen und ästhetischen Implikationen der ‚Gebrauchsweisen‘ der hebräischen Sprache in dieser legendären Aufführung? Wie bereits erwähnt, schildert das Stück das Leben einer traditionellen jüdischen Gemeinschaft im jüdischen Ansiedlungsrayon, in der Jiddisch – die auf dem Mittelhochdeutschen beruhende Umgangssprache, die lexikalische Einheiten und Grammatik aus dem Slawischen und Hebräischen beinhaltet – gesprochen wird. Das Hebräische andererseits war mehr oder weniger ausschließlich den religiösen Riten und Praktiken vorbehalten. War das Hebräische vorher fast ausschließlich mit den herkömmlichen religiösen Praktiken verbunden, verwandelte das Theater (als Teil des zionistischen Projektes) die hebräische Sprache, darunter das hebräische Alphabet, die hebräischen Worte und die antiken hebräischen Texte, insbesondere die Bibel, in eine umfassende Theatersprache. Und zur selben Zeit, in der in dieser ‚Fantasiewelt‘ das Hebräische zur Umgangssprache auf der Bühne wurde, entwickelte es sich allmählich auch zur Alltagssprache der Juden im Mandatsgebiet Palästina, dem Land Israel (Eretz Israel). Doch im Umfeld der Pioniere wurde Hebräisch von Menschen gesprochen, die ein ganz anderes Leben führten und ganz anders aussahen als die erfundenen Figuren in Der Dibbuk.
5
Siehe Bilu, Yoram: „The Taming of the Deviants and Beyond: An Analysis of Dybbuk Possession and Exorcism in Judaism“, in: The Psychoanalytic Study of Society, Heft 11, 1986, S. 1-32. In der Mehrheit der Fälle, die Bilu beschreibt, war die Austreibung des Dibbuks erfolgreich. In An-Skis Stück dagegen ist dies nicht der Fall.
6
Vgl. Wolitz, 2004 (Siehe Fußnote 4).
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Diese Spannung zwischen dem traditionellen jüdischen Leben in einem Dorf in der Diaspora und dem Leben der zionistischen Pioniere im palästinensischen Mandatsgebiet wurde auch im Untertitel Zwischen zwei Welten (Der dibuk oder tsvishn tsvey veltn) ausgedrückt, der sich in erster Linie auf die Interaktionen zwischen den Lebenden und den Toten im Stück bezog. Doch dieser Untertitel kann auch als Spiegel einer komplexen Dynamik zwischen zwei Welten betrachtet werden, die das Jiddische und das Hebräische als mehr oder weniger unvereinbare kulturelle Welten jüdischen Lebens repräsentierten; zum einen die traditionelle Lebensweise in Osteuropa, die im Holocaust zerstört werden sollte, zum anderen eine mutmaßlich neue Verkörperung dieser kulturellen Identität mit dem Ziel, das Hebräische als Umgangssprache wiederzubeleben, worin sich zudem eine Zurückweisung des jüdischen Lebens in der Diaspora ausdrückte, zumindest wie dieses in der Zwischenkriegszeit und den ersten Jahrzehnten der israelischen Unabhängigkeit betrachtet wurde.7 Ungefähr zur selben Zeit, als Der Dibbuk in Moskau Premiere feierte, wurde Bialiks Übersetzung von einer Gruppe zionistischer Pioniere aufgeführt, von den Angehörigen einer linken Jugendbewegung, durchweg Amateure, die Europa verlassen hatten und die Straße nach Osten, von Haifa nach Untergaliläa, bauten. In einem Interview mit dem Autor Yehuda, der diese Aufführung veranlasst hatte, habe ich erfahren, wie sie zunächst auf der Baustelle selbst und später im Kibbutz Beth Alpha gezeigt wurde, an dessen Gründung einige Monate später, im November 1922, die Mitglieder der Gruppe beteiligt waren. Yaari zufolge hatte eines der Gruppenmitglieder Selbstmord verübt und seine Freundin war von dieser Tragödie schwer getroffen. Man sah sie oft vollkommen allein durch die Hügel irren und Selbstgespräche führen. Yaari glaubte, die Aufführung von Der Dibbuk, die er gerade in Bialiks hebräischer Übersetzung gelesen hatte, werde eine therapeutische Funktion des Trauerns erfüllen, indem sie sowohl die Schauspieler als auch die Zuschauer an die religiösen Gebräuche erinnerte, die sie bei der Verwirklichung ihrer zionistischen Ideale zurückgelassen hatten.8 Die beiden hebräischen Aufführungen von Der Dibbuk, die Anfang 1922 in Moskau
7
Später, insbesondere nach der Jahrtausendwende, wurde die ultra-orthodoxe Lebensweise, die Der Dibbuk schildert, stärker in ein umfassendes israelisches Ethos integriert.
8
Mein Artikel „The Dybbuk in Eretz Israel: Theatre, Criticism and the Consolidation of a Hebrew Culture“, in: Levy/Yerushalmi, 2009 (siehe Fußnote 4), S. 90-107 (auf Hebräisch) stellt zwei hebräische Produktionen in Eretz Israel vor, bevor das HabimaTheater Der Dibbuk zum ersten Mal in Tel Aviv aufführte. Neben der Aufführung ‚on the road‘ wurde das Stück 1926 vom Eretz Israel Theater in Tel Aviv aufgeführt.
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und in Galiläa Premiere hatten, standen in vielerlei Hinsicht in diametralem Gegensatz zueinander. Gemeinsam hatten sie jedoch, dass beide von Schauspielern ausgeführt wurden, welche die im Stück geschilderte Lebensweise selbst aufgegeben hatten, nun aber unter sehr unterschiedlichen Umständen lebten.
P HILOSOPHISCHE UND WELTANSCHAULICHE I MPLIKATIONEN Wie anfangs erwähnt, können Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels und seine früheren Aufsätze zur Sprachtheorie (speziell „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“) zu unserem Verständnis der kulturellen Bedeutung der Habima-Aufführung von Der Dibbuk beitragen. Es gab, wie ich Stück für Stück im Detail zeigen möchte, einige signifikante Ähnlichkeiten zwischen der Habima-Aufführung und Benjamins grundlegendem Verständnis des „Trauerspiels“, das, wie er auf der Titelseite des Buches vermerkt, „Entworfen 1916; Verfaßt 1925“9 wurde – genau in den Jahren, in denen Der Dibbuk in Moskau und darüber hinaus zu Ansehen kam. Zum ersten Mal wurde Der Dibbuk des Habima in Berlin im Oktober 1926 aufgeführt, und selbst wenn Benjamin höchstwahrscheinlich es weder dann noch später sah, dürfte es ihm wahrscheinlich bekannt gewesen sein, da das Habima ein Jahr in Berlin verbrachte, 1929/30, bevor es dauerhaft nach Tel Aviv übersiedelte, und oft in der deutschen Presse erwähnt wurde.10 Gegen Ende der ‚Erkenntniskritischen Vorrede‘ des Trauerspielbuches weist Benjamin auf eine Eigenschaft des barocken Trauerspiels hin, die er auch als charakteristisch für seine eigene Zeit bezeichnet und die, wie ich denke, auch ein zentraler Aspekt von Der Dibbuk ist. Benjamin sieht den Expressionismus (und Der Dibbuk des Habima ist ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht eine expressionistische Aufführung) als eine Wiedergeburt des Barock:
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Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974, S. 203-430, hier S. 203.
10 Vgl. Zer-Zion, Shelly: Habima in Berlin. The Institutionalization of a Zionist Theatre. Jerusalem 2015, (in hebräischer Sprache). Die extensive Anwesenheit hebräischer Autoren in Berlin während dieser Jahre ist bemerkenswert. Unter ihnen waren auch viele Künstler und Intellektuelle, die im Zuge des Aufstiegs des Nationalsozialismus sich für die zionistische Option der Flucht entschieden. Vgl. auch Malkin, Jeanette/Rokem, Freddie (Hg.): Jews and the Emergence of Modern German Theater. Iowa City 2010.
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Wie ein Kranker, der im Fieber liegt, alle Worte, die ihm vernehmbar werden, in die jagenden Vorstellungen des Deliriums verarbeitet, so greift der Zeitgeist die Zeugnisse von früheren oder von entlegenen Geisteswelten auf, um sie an sich zu reißen und lieblos in sein selbstbefangenes Phantasieren einzuschließen. Gehört doch dies zu seiner Signatur: kein neuer Stil, kein unbekanntes Volkstum wäre aufzufinden, das nicht alsbald mit voller Evidenz zu dem Gefühl der Zeitgenossen spräche.11
Die Hauptfiguren von Der Dibbuk – insbesondere Lea – liegen wie der Kranke im Fieber, sie sind besessen; und die Worte, die sie hören und (auf Hebräisch) produzieren, kommen aus entlegenen früheren Welten, erhalten eine neue Bedeutung innerhalb ihres „selbstbefangene[n] Phantasieren[s]“. Am eindringlichsten ist dies der Fall eben bei der jungen Braut, die vom Dibbuk ihres toten Liebhabers besessen ist. Sie greift die Worte der Vergangenheit auf und reißt sie an sich, doch das Delirium dieser Person ist eine heutige Erfahrung, in unserer Zeit. Für Benjamin greifen vergangene Ereignisse in die Gegenwart ein, wie Blitze. Die Worte, die Lea hört, kommen aus der Vergangenheit – und damit diese ein Delirium erzeugen können, muss sie sich diesen irgendwie annähern, aber der Kranke ist unser Zeitalter, welches ‚eingenommen‘ oder ‚besessen‘ wird von der Vergangenheit. Die Vergangenheit kann von der Gegenwart missbraucht werden, wo sie in ein extravagantes Bild verwandelt wird, das nichts mit ihrer Wirklichkeit zu tun hat. Der Barock wie auch Benjamins eigene Gegenwart sind Benjamin zufolge Zeitalter ohne historisches Bewusstsein, weshalb alles adaptiert werden kann. Auch in früheren Texten Benjamins finden sich häufig Anspielungen auf die hebräische Sprache. In seinem Essay „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ von 1916, der zu Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, untersucht Benjamin die Natur der Sprache auf der Grundlage des ersten Kapitels der Genesis, indem er dem Bericht von der Schöpfung darin folgt, dass „die Sprache als eine letzte, nur in ihrer Entfaltung zu betrachtende, unerklärliche und mystische Wirklichkeit vorausgesetzt wird. Die Bibel, indem sie sich selbst als Offenbarung betrachtet, muß notwendig die sprachlichen Grundtatsachen entwickeln.“12 Ich werde nachfolgend auf die konkreten Theatersituationen und Kon-
11 Benjamin, 1974, S. 234. 12 Benjamin, Walter: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 140-157, hier S. 147. Benjamin ‚versteht‘ wohl die privilegierte Stellung des Hebräischen, doch akzeptiert er sie nicht. Im Sprachaufsatz ist die Genesis-Geschichte hervorgehoben, doch Benjamin geht nicht
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texte in Der Dibbuk des Habima hinweisen, wo die Sprache der Bibel buchstäblich eine solche Offenbarung ausführt, indem sie die Kommunikation zwischen den zwei Welten aktiviert, zwischen der Welt der Materie und der Welt des Geistes.13 Meine Analyse wird sich auch auf die Unterscheidungen von Deleuze und Guattari in ihrer Studie über Kafka stützen, dessen literarische wie autobiographische Texte (wie die Tagebücher und die Briefe) zur selben Zeit entstanden, in welcher Der Dibbuk geschrieben und erstmals aufgeführt wurde. Obwohl ihre Unterscheidungen nicht direkt auf Der Dibbuk des Habima-Theaters zutreffen, kann, was Deleuze/Guattari eine „kleine“ oder mindere Literatur nennen, die „nicht die Literatur einer kleinen Sprache [ist], sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient“,14 auch das Verständnis der HabimaAufführung schärfen. Kafkas Gebrauch des Deutschen für das Schreiben einer „kleinen“ Literatur, die den dominanten literarischen Normen dieser Sprache entgegengesetzt war, kann mit dem Gebrauch des Hebräischen durch das Habima-Theater verglichen werden, der auf die Bildung eines „kleinen“ Theaters aus war, das gegen die existierenden Normen des Hebräischen als einer „großen Sprache“ revoltierte, wie sie in rituellen oder religiösen Kontexten benutzt wurde. Als das Habima-Theater gegründet wurde, wurde Hebräisch nicht als Umgangssprache gesprochen, und gewiss nicht in Moskau, wo zu dieser Zeit vergleichsweise wenig Juden lebten. Bei der Etablierung einer zionistischen Bewegung, die auch den Gebrauch von Hebräisch für das Theatermachen einschloss, ging es anfangs darum, die Basis für die Etablierung einer „kleinen“ Kultur in einer „großen“ (d.h.: rituellen) Sprache zu schaffen. Allerdings strebte diese „große“ Sprache danach, ebenso eine „große“ Kultur zu werden, insofern die Zahl der Menschen, die Hebräisch im Alltag sprachen, fortwährend anstieg, be-
von einer buchstäblichen Offenbarung aus. Sie ist für ihn eine Metapher für Möglichkeiten der kulturellen Imagination, dem Deus ex machina vergleichbar, der nicht impliziert, dass Gott wirklich existiert, an den aber Leute glauben, weshalb man mit dieser kulturellen bzw. philosophischen Möglichkeit rechnen muss. 13 Diese allgemeinen Überlegungen bedürfen einer detaillierteren Diskussion von Benjamins Theorie der Sprache als einem Teil seines Dialogs über Sprache mit seinem engen Freund, dem Kabbalah-Forscher Gershom Scholem, der Benjamin dazu ermutigte, Hebräisch zu lernen, um sich auf den Eintritt in die Fakultät der Hebräischen Universität in Jerusalem vorzubereiten. 14 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a.M. 1976, S 24.
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sonders im palästinensischen Mandatsgebiet. Und auch das Habima-Theater trug in der Folge zu dieser kulturellen Vergrößerung durchaus bei. Einen solchen Verwandlungsprozess vom traditionellen rituellen Gebrauch des Hebräischen zur säkularen Sphäre kann man zweifellos auch in der Entwicklung der hebräischen Literatur ausmachen, mit dem Unterschied, dass die Sprache im Theater gesprochen wird, zugleich aber auch, wie es in Der Dibbuk des Habima der Fall ist, in Form visueller Zeichen und Embleme auf der Bühne erscheinen kann. Man muss auch betonen, dass Der Dibbuk in einer fiktionalen Welt stattfindet, wo hebräische Texte und Gebräuche, die mit der jüdischen Religionsausübung und Gelehrsamkeit verbunden sind, zum Alltag gehören, darunter die Hebräische Bibel (das Alte Testament) und die Mischna, die ,mündliche Thora‘ vom Ende des 2. Jahrhunderts und dem Beginn des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, die sowohl die Gebote des Pentateuch als auch kabbalistische Praktiken erörtert. Diese Texte – und viele andere, darunter liturgische und säkulare hebräische Lyrik – hatten eine starke, gleichzeitige Präsenz unter den Juden, auch unter denjenigen, die während dieser Phase des Übergangs kein orthodoxes jüdisches Leben mehr führten. Folgt man Deleuze/Guattari, dann wurde dadurch, dass die Figuren Hebräisch sprachen, eine kleine Literatur „innerhalb“ einer großen, bereits vorhandenen Sprache etabliert, die vorher nicht in umgangssprachlichen (oder säkularen) Kontexten verwendet wurde. Mit der Wiederbelebung des Hebräischen als Werkzeug zur Verwirklichung des Zionismus hatte der „kleine“, säkulare Gebrauch des Hebräischen (beim Theatermachen) auch eine wichtige politische Bedeutung erlangt. Der ‚enge Raum‘ einer kleinen Literatur, so Deleuze/Guattari, „bewirkt, daß sich jede individuelle Angelegenheit unmittelbar mit der Politik verknüpft“15. Dies war sicherlich bei der Habima-Produktion von Der Dibbuk der Fall, wo die Darstellung dieser „kleinen“ kulturellen Erscheinungsform einen „kollektiven Wert“ erhält, den man, wie ich zeigen werde, auch dazu verwendete, einen neuen Gemeinschaftssinn entstehen zu lassen, der in der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 seinen Höhepunkt fand. Es ist zudem wichtig, zu bedenken, dass sich vor dem Prozess der Säkularisierung, der im 19. Jahrhundert begann, die jüdische Kultur im Wesentlichen an das dritte Gebot der Bibel hielt: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist.“16 Praktizierende Juden enthielten sich jeder Form der Darstellung im griechischen, klassi-
15 Ebd., S. 25. 16 Exodus (2. Buch Mose) 20, 4-6 und Deuteronomium (5. Buch Mose) 5, 8-10.
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schen Sinn von mimesis. Religiöse Juden hatten alle Formen des öffentlichen Spektakels verboten, mit Ausnahme – ab der frühen Neuzeit – eines Tages im Jahr, des karnevalesken Feiertags Purim, der an die Errettung der Juden aus der Verfolgung im antiken Persien erinnerte, wie sie in der wunderschönen biblischen Erzählung Das Buch Ester geschildert wird (das bezeichnenderweise den Namen Gottes überhaupt nicht erwähnt). Der Begriff einer „kleinen Literatur“ kann nicht zuletzt auf Grundlage der Aussage von Deleuze/Guattari auf die Praktiken des Habima-Theaters im Kontext des post-revolutionären Moskaus angewendet werden, dass in einer kleinen Literatur (und Kultur) „[d]as Politische [...] jede Aussage angesteckt [hat]“ 17 . Diese Praktiken sind nicht nur integraler Bestandteil dieser besonderen kulturellen und ideologischen Entwicklung (auf Hebräisch in der russischsprachigen Hauptstadt der „Sowjetunion“ aufführen, wie der Name des neuen postrevolutionären Staates lautete, der ihm im Jahr 1922 gegeben wurde, im Jahr, in dem die Premiere von Der Dibbuk im Habima stattfand), sondern sind zugleich ein Ausdruck der zionistischen ‚Revolution‘. Deleuze/Guattari richten die Aufmerksamkeit auch auf die utopischen Potentiale einer kleinen Literatur und argumentieren dabei für die enge Verbindung zwischen ihren nationalen und politischen Eigenschaften: Vor allem jedoch ist es die Literatur als ganze (um so mehr, als zu ihren Vorteilen „das einheitliche Zusammenhalten des im äußern Leben oft untätigen und immer sich zersplitternden nationalen Bewusstseins“ zählt, T129), der die Rolle und Aufgabe einer kollektiven, ja revolutionären Aussage zufällt: Die Literatur produziert aktive Solidarität, trotz ihres Skeptizismus; und wenn sich der Schreibende am Rande oder außerhalb der Gemeinschaft befindet, so setzt ihn das um so mehr in die Lage, eine mögliche andere Gemeinschaft auszudrücken, die Mittel für ein anderes Bewußtsein und eine andere Sensibilität zu schaffen ....18
Zweifellos ist das Habima-Theater während seiner ersten Jahre sowohl in den sowjetischen als auch in den traditionellen jüdischen Kontexten ein marginales Phänomen, aber die Aufführung von Der Dibbuk stellt auch einen vorläufigen Entwurf dessen dar, was Deleuze/Guattari „eine mögliche andere Gemeinschaft“ nennen, die „die Mittel für ein anderes Bewußtsein und eine andere Sensibilität“ schaffen kann. Im Fall des Habimas drückt dies gleichzeitig – und im Bewusst-
17 Deleuze/Guattari, 1976, S. 26. 18 Ebd. ([Anm. d. Ü.] Deleuze/Guattari zitieren Kafkas Tagebuch (T) nach Kafka, Franz: Tagebücher 1910-1923. Hg. von Max Brod. Frankfurt a.M. 1973.)
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sein der offensichtlichen Unterschiede und sogar Widersprüche – die Sehnsucht nach zwei sich wechselseitig ausschließenden Utopien aus – Kommunismus und Zionismus, deren gemeinsamer Nenner das Utopische selbst ist. Außerhalb der Gemeinschaft zu sein (oder zu leben) ist die Garantie einer Art von Freiheit, die das Habima-Theater stärkte, bevor es sich in Tel Aviv niederließ, wo sich dann allmählich eine einheitlichere Form der Kollektivität entwickelte.
D IE AUFFÜHRUNG Im Mittelpunkt des Plots von Der Dibbuk stehen Lea und Chanan, die durch einen Schwur ihrer Väter miteinander verlobt worden sind. Diese waren während ihres Studiums an der gleichen Jeschiwa (jüdische Hochschule) enge Freunde geworden, noch bevor ihre jeweiligen Frauen ein Mädchen und einen Jungen zur Welt brachten. Der Tod von Leas Mutter bei der Geburt ihrer Tochter und der Unfalltod von Chanans Vater haben jedoch zur Verdrängung des Schwurs geführt. Und während das junge Paar unwissentlich die Wirkung dieses Schwurs spürt (weil er im Himmel eingeschrieben ist), als es sich im ersten Akt in der Synagoge begegnet, erfährt der arme Student Chanan, dass Lea von ihrem Vater Sender einem jungen Mann aus einer reichen Familie versprochen worden ist. Chanan reagiert darauf, indem er, in einer Geste ‚revolutionären’ und religiösen Eifers, versucht, sein bzw. ihr gemeinsames Schicksal durch kabbalistische Praktiken zu ändern, in deren Zuge er die mystische Bedeutung von Leas Namen erforscht, wobei er zuletzt die drei hebräischen Buchstaben ihres Namens in zwei Worte unterteilt, die „Nicht Gott“ (' )לא הbedeuten.19 Doch da Chanan noch zu jung ist, um solche Rituale zu vollführen, fällt er nieder und stirbt. Der erste Akt endet damit, dass der Meschulach in die Synagoge eintritt und lakonisch berichtet, dass Chanan „spähte [oder blickte] und starb“ ()הציץ ומת. Diese Redewendung spielt auf eine berühmte rabbinische Geschichte an, nach der vier Männer den mystischen Garten – den Pardes – betraten, mit, je nach spirituellem Vermögen und Ausbildung, unterschiedlichen Ergebnissen: Der Schwächste spähte und starb (wie Chanan), der zweite sündigte, und der dritte spähte und wurde ‚geschlagen‘ – offensichtlich vom Irrsinn. Einzig der Rabbi Akiva betrat den Garten in Frieden und verließ ihn in Frieden.
19 Die Zitate sind dem im Zusammenhang der Tonaufnahme von Der Dibbuk des Habima in Tel Aviv publizierten Text entnommen, ohne Publikationsdatum oder Seitenzahlen. Tonaufnahme unter: https://www.youtube.com/watch?v=GkwXt1GJGrQ vom 22. Februar 2018. [Übersetzung F.R.]
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Der zweite Akt beginnt mit den Bettlern, die Almosen dafür erhalten, dass sie vor der Hochzeit tanzen. Leas ‚Verführung‘ durch den Dibbuk hat seine Ursprünge sowohl in der fiebrigen Transformation dieses ekstatischen Tanzes, der die revolutionäre Revolte des Proletariats repräsentiert, als auch in ihrem Besuch des Friedhofes, wo sie neben dem Grab ihrer Mutter, die sie „zu ihrer Hochzeit einlädt“ auch noch das Grab von „jemand anderem“, d.h. Chanan, besucht. Während der Hochzeitszeremonie selbst, als Lea und ihr reicher Bräutigam unter dem Hochzeitsbaldachin stehen, spricht Chanans Geist – in Form eines Dibbuks – durch Leas Mund und sagt, an den Bräutigam gerichtet: „Nicht Du bist mein Bräutigam!“ ) לא אתה חתני,(לא. Außerdem rezitiert er einen Vers aus dem biblischen Liebesgedicht Das Hohelied, wobei er Lea (durch ihren eigenen Mund) anspricht: „Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier“ (Hld 4,1) ( ,הנך יפה רעיתי עיניך יונים,)הנך יפה, wobei der Dibbuk durch Leas Mund spricht und in einem berühmten Text ihre Schönheit preist, was eine unheimliche Qualität hat und das Delirieren der Situation kommuniziert. Leas Besessenheit durch einen Dibbuk – dargestellt mithilfe eines Texts aus der Bibel – führt zur abrupten Unterbrechung der Hochzeit, und wiederum tritt der Meschulach ein und verkündet: „Ein Dibbuk ist in die Braut gefahren“ ()דיבוק נכנס לכלה.20 Beim Versuch, den Geist aus Leas Körper zu vertreiben, erkennt im dritten und letzten Akt der Rabbi, der ein kabbalistisches Exorzismus-Ritual durchführt, dass der Schwur der Väter von Lea und Chanan immer noch wirksam ist und der Bruch dieses Schwurs zur Besessenheit Leas und zur Vereinigung der beiden in einem Körper geführt hat. Bei seinem Versuch, Lea von dem Schwur zu befreien, indem er den Geist von Chanan vertreibt, fällt diese nieder und stirbt; offenbar wird sie in der nächsten Welt, der Igra Rama – ein Ausdruck für die himmlische, hohe Wohnstätte –, mit ihrem wahren Liebhaber vereint. In sowjetischen Begriffen hieße diese metaphysische Erhebung, die Lea, als ihre Seele sie verlässt, ihrem wahren Liebhaber nahebringt, der Sieg der Revolution über das bourgeoise Establishment. Indem sie aufsteigt, macht Lea zur selben Zeit, zumindest symbolisch, Alija – der auch heute noch gebräuchliche hebräische Be-
20 Wichtig ist auch, dass Chanan in der ursprünglichen Habima-Produktion von einer Schauspielerin dargestellt wurde, was der Besessenheit zusätzliche Komplexität gab. Erwähnenswert ist zudem die Tatsache, dass das Zitat aus dem Hohelied während der Proben von Wachtangow und den Schauspielern hinzugefügt wurde; es verhält sich der biblischen Quelle gegenüber ähnlich subversiv, wie die drei Texte über der Bühne, die ich im Folgenden untersuchen werde.
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griff für eine jüdische Person, die die Diaspora aufgibt, um sich nach Eretz Israel zu begeben. In all diesen Beispielen, die für die Plot-Entwicklung von Der Dibbuk entscheidend sind, dient die hebräische Sprache als Vermittlerin. Der Gebrauch hebräischer Worte bei der Bühnengestaltung ist ebenfalls ein sehr bedeutsames Merkmal. Für das Bühnenbild der Habima-Aufführung Der Dibbuk zeichnete der jüdische Avantgardekünstler Nathan Altman verantwortlich. Im Gegensatz zu den früheren beiden jiddischen Produktionen von Der Dibbuk (die erste von der Truppe aus Vilnius), die mehr oder weniger realistisch gewesen waren, entwarf Altman ein Bühnenbild im kubistischen (konstruktivistischen) Stil, mit ausgeprägten diagonalen Linien auf einer leicht schrägen Bühne. Bei der Gestaltung der Bühnenmöbel bediente sich Altman perspektivischer Verkürzung und wandte damit Techniken aus der Malerei an. Dies verstärkt die Zentralperspektive der Bühne, als deren Mittelpunkt der Toraschrein deutlich hervorgehoben wird, in dem die Rollen des Pentateuchs, der ersten fünf Bücher der Bibel, aufbewahrt werden. All dies geschieht in völliger Übereinstimmung mit den Regeln zum Gebrauch von Perspektive im Barocktheater, wo die Hinterbühne erleuchtet wurde, wenn irgendeine Form von außerweltlicher Erscheinung gezeigt werden sollte. Bemerkenswert ist, dass, während im Barocktheater die Darstellung übernatürlicher Phänomene durch Licht begleitet wurde, in Der Dibbuk der zentrale Blickpunkt des Thora-Schreins verdunkelt wird. Auf der rechten Seite befindet sich die erhöhte Plattform, die Bima. Hier werden die wöchentlichen Abschnitte der Bibel von den Thorarollen verlesen. Über der Bima befinden sich zwei Worte auf Hebräisch – „Schma Israel“ – in der Luft schwebend, als seien sie der Thora im Schrein entnommen und vergrößert worden. Es sind die ersten beiden Worte des Satzes „Höre, Israel, der HERR unser Gott ist ein einiger HERR“ ( ; ְׁשמַ ע יִ ְׁש ָראֵ ל יהוה אֱֹלהֵ ינּו יהוה אֶ חָ דaus dem Deuteronomium, dem fünften Buch der Thora, Dtn 6,4), der zweimal täglich während des Gebets gesprochen wird; es handelt sich um das erste Gebet, das Eltern ihren Kindern beibringen und um den letzten Satz, den ein Jude vor seinem Tod spricht. Es sind ursprünglich Worte des Trostes über die Existenz Gottes, doch im Kontext von Der Dibbuk können sie auch als Warnung oder implizite Drohung gedeutet werden: Höre genau zu, denn etwas wird mit Leas Stimme passieren, wenn ein Dibbuk von ihr Besitz ergreift. Die Worte der Thorarolle – die Worte Gottes – sind als ein verbaler Deus ex machina zum Bühnenrahmen gewandert, und es gibt sogar eine Öffnung im Dach über dem Schrein, die diese theatralisierte Version einer göttlichen Offenbarung, bei der Gott buchstäblich sein Gesetz herunterreicht, noch unterstreicht.
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Abb. 1: Lea und Chanan treffen sich in der Synagoge im Ersten Akt von Der Dibbuk
Quelle: Archive Collection of The Israeli Center for the Documentation of the Performing Arts, Tel Aviv University (ICDPA, 51.2.9, Photograph M. Sacharov)
Das hebräische Wort Bima (בימה, zuweilen auch Bema, mit einem ‚e‘ bedeutet ‚Bühne‘ oder ‚Podium‘), das, mit einem bestimmten Artikel, dem Ha-BimaTheater seinen Namen gab, was soviel heißt wie ‚Die Bühne‘, wurde erstmals in nachbiblischen Schriften verwendet und bezeichnet den erhöhten Platz von dem aus die Rabbis lehrten, und der später zum Ort für die Lesung aus der Schrift wurde. Die Bima befindet sich in der Regel in der Mitte der Synagoge und dient als Zentrum der Gemeinde, während sich der Toraschrein als zentraler Blickpunkt in der Ferne befindet, zu dem sich die einzelnen und kollektiven Gebete der Gemeinde richten: nach Jerusalem. In der Habima-Produktion Der Dibbuk dienen der Schrein und die Bima als Basis einer dialektischen Spannung zwischen dem entfernten, heiligen Blickpunkt (dem Schrein) und der Schaffung eines Zentrums für die Gemeinschaft der fiktionalen Welt (der Bima). Unterscheidet man, wie vorgeschlagen, die theatrale und die religiöse Funktion des Theaters, so entscheidet sich Der Dibbuk des Habimas für die erste, bemüht, ein Zentrum für eine neue säkulare Gemeinschaft zu werden. Jeder der drei Akte hat eine eigene Inschrift, die über der Bühne schwebt. Dieses Stilmittel hat ohne Zweifel das Publikum gespalten in jüdische Zuschauer, die höchstwahrscheinlich in der Lage waren, diese Inschriften zu entschlüs-
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seln, und nicht-jüdische Zuschauer, vermutlich russischsprachige, sowjetische Revolutionäre, die die Inschriften wohl für einen Geheimcode hielten. Doch auch sie werden ohne Zweifel fasziniert gewesen sein von der Schaffung dessen, was Helen Tolstoy im Vertrauen auf zeitgenössische Quellen eine „spirituelle Atmosphäre“ nennt.21 Abb. 2: Der Tanz der Bettler mit Lea in der Mitte im Zweiten Akt von Der Dibbuk
Quelle: Archive Collection of The Israeli Center for the Documentation of the Performing Arts, Tel Aviv University (ICDPA, 51.2.9, Photograph unbekannt)
Das Zitat über der Bühne des zweiten Akts, der mit dem Tanz der Bettler beginnt und mit der abgebrochenen Hochzeitsfeier endet, ist ein bekanntes Bibelzitat: „die Stimme des Bräutigams und die Stimme der Braut“ (קול חתן וקול כלה, Abb. 2). Es taucht dreimal im Buch des Propheten Jeremia auf (Jer 7,34; 16,9; 25,10). An letzter Stelle (Jer 25,10) spricht der Prophet Gottes Drohung gegenüber dem Volk Israel aus, die in der King-James-Bibel folgendermaßen klingt: „I will take from them the voice of mirth, and the voice of gladness, the voice of the bridegroom, and the voice of the bride, the sound of the millstones, and the light of
21 Tolstoy, 2012, S. 72.
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the candle.“22 Paradoxerweise sind diese Worte über die Stimmen des Bräutigams und der Braut, die hier Teil einer Drohung sind, in den letzten der sieben Segenssprüche der jüdischen Trauzeremonie eingegangen, den die Hochzeitsgäste (bis heute) gemeinsam singen und mit dem sie die Vereinigung der ‚Stimmen‘ des jungen Paares durch die Heirat feiern. Auch hier im Zweiten Akt wird die Inschrift über der Bühne von den Geschehnissen auf der Bühne unterwandert. Durch eine leichte Variation des Zitates wird, was als die fröhliche Vereinigung der Stimmen bestimmt war, bei der „die Stimme des Bräutigams und die Stimme der Braut“ zusammen singen, der allegorische Ausdruck der Besessenheit: Durch die Veränderung nur einer Silbe des Zitats wird hieraus „die Stimme des Bräutigams in der Braut“ (Hervorhebungen F.R.). Um diese eindringliche Geste schriftlich zu vollführen (was auf der Bühne nicht geschieht) müsste man nur einen einzigen Konsonanten im Hebräischen verändern, das Präfix „ve-“ zu „be-“. Das Zitat, das im letzten Akt über der Bühne hängt, lautet: „Dies ist das Tor...“ (... )זה השערaus Psalm 118, 20. Der vollständige Vers lautet זֶה הַ שַ ַער לַיהוָה צַ ִדיקִ ים יָבֹאּו בֹו: „Dies ist das Tor des HERRN; die Gerechten werden dort einziehen.“ Dies bezieht sich offensichtlich, ohne ironischen Bruch oder subversive Absicht, auf Lea, die die Igra Rama betritt – den erhöhten Wohnsitz in der nächsten Welt – indem ihr Körper leblos zu Boden fällt. Auf allen Photographien, die ich von diesem Akt gesehen habe, ist der Name Gottes undeutlich oder gelöscht und wird mit ihrem toten Liebhaber in der kommenden Welt vereint. Doch weil das Zitat sehr berühmt ist, kann von den ersten zwei Worten „Dies [ist das] Tor...“ auf den Rest geschlossen werden. Es verweist auf den Übergang zwischen Leben und Tod, den jedes menschliche Wesen durchlaufen wird, und gibt zu verstehen, dass Lea, wenn sie stirbt, zur Schar der Gerechten zählt. Sie hat das „Tor“ ihres Körpers dem Dibbuk geöffnet, nun tritt sie durch das Himmelstor, um sich mit ihrem wahren Geliebten, Chanan, zu vereinen. Es ist außerdem wichtig, festzuhalten, dass im Hintergrund – dort, wo sich im ersten Akt der Schrein des Gesetzes befand – der Zaddik – der Rabbi – steht, während Lea vor dem Tisch steht, zu dessen beiden Seiten die Gemeinschaft versammelt ist. Die Aufführung stellt auf diese Weise eine komplexe Wechselwirkung zwischen gemeinschaftlichen und übernatürlichen Kräften dar, wobei Lea und Chanan schließlich im Tode vereint werden, wie es der ursprüngliche Schwur zwischen ihren Vätern vorgesehen hatte.
22 Hervorhebung F.R. Deutsch gemäß Lutherbibel 2017: „[Ich] will wegnehmen allen fröhlichen Gesang, die Stimme des Bräutigams und der Braut, das Geräusch der Mühle und das Licht der Lampe.“
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Abb. 3: Der Exorzismus im Dritten Akt von Der Dibbuk
Quelle: Archive Collection of The Israeli Center for the Documentation of the Performing Arts, Tel Aviv University (ICDPA, 51.2.9, Photograph unbekannt)
S CHLUSSBEMERKUNGEN Zum Abschluss möchte ich zu meiner Hypothese zurückkehren, dass An-Skis Stück, und insbesondere die Habima-Produktion, trotz ihrer Verankerung in höchst unterschiedlichen geschichtlichen Kontexten, als ein Trauerspiel im von Benjamin vorgeschlagenen Sinne betrachtet werden kann. Im Trauerspiel wie in Der Dibbuk fehlt es den Figuren an psychologischer Tiefe, bewohnen sie fiktionale Welten, die in ihrer Gestaltung vorrangig von Requisiten wie Schriften und Gesten wie dem Schreiben abhängen; Welten, in denen Gewalt und Tod auf krude und sogar groteske Weise im Mittelpunkt stehen und ein starkes Interesse am Kombinieren von Heiligem mit Profanem herrscht. Weiterhin ist in beiden (, wie Benjamin im Fall des Trauerspiels formuliert), [d]ie Heiligkeit der Schrift [...] vom Gedanken ihrer strengen Kodifikation untrennbar. Denn alle sakrale Schrift fixiert sich in Komplexen, die zuletzt einen einzigen und unveränderlichen ausmachen oder doch zu bilden trachten. Daher entfernt sich die Buchstabenschrift als eine Kombination von Schriftatomen am weitesten von der Schrift sakraler Komplexe. Diese prägen in der Hieroglyphik sich aus. Will die Schrift sich ihres sakralen Charakters versichern – immer wieder wird der Konflikt von sakraler
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Geltung und profaner Verständlichkeit sie betreffen – so drängt sie zu Komplexen, zur Hieroglyphik.23
Von einem Dibbuk besessen zu sein, von seinen Möglichkeiten und seiner Schönheit gänzlich verführt zu werden, bedeutet etwas Meta-Theatralisches, eine Form der Hingabe an die Kunst des Theaters selbst; es bedeutet eine theatrale Hieroglyphe, das Streben danach, ein zusammengesetztes Bild zu werden. Im Konflikt zwischen dem Sakralen, welches traditionell mit dem Hebräischen als einer großen Sprache verbunden wird, und der „profane(n) Verständlichkeit“, ihres säkularen Gebrauchs als einer kleinen Sprache, die nach einem großen Status strebt, „drängt das Geschriebene zum Bilde“, wie Benjamin schließt, „als dies amorphe Bruchstück, als welches das allegorische Schriftbild sich zeigt“. 24 Seinen Blickpunkt auf eine spezifische historische Perspektive verengend, formuliert Benjamin schließlich: Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, so tut sie es als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht ‚Geschichte‘ in der Zeichenschrift der Vergängnis. Die allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt wird, ist wirklich gegenwärtig als Ruine [wie die Inskriptionen über der Bühne des Moskauer Dibbuk, F.R.]. Mit ihr hat sinnlich die Geschichte in den Schauplatz sich verzogen. Und zwar prägt, so gestaltet, die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls sich aus. Damit bekennt die Allegorie sich jenseits von Schönheit. Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge. 25
Benjamin beschließt sein Buch mit einer prophetischen Aussage über das Trauern und die Zerstörung, während er zugleich erklärt, dass „in den Todesmalen des Barock – nun erst im rückgewandten größten Bogen und erlösend – die allegorische Betrachtung um[springt]“26 und in einer komplexen Erscheinungsform der Schönheit endlich Trost findet: Wie Stürzende im Fallen sich überschlagen, so fiele von Sinnbild zu Sinnbild die allegorische Intention dem Schwindel ihrer grundlosen Tiefe anheim, müßte nicht gerade im äußersten unter ihnen so sie umspringen, daß all ihre Finsternis, Hoffart und Gott-
23 Benjamin, 1974, S. 351. 24 Ebd., S. 351f. 25 Ebd., S. 353f. 26 Ebd., S. 406.
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ferne nichts als Selbsttäuschung scheint. Heißt es doch ganz das Allegorische verkennen, den Bilderschatz, in welchem dieser Umschwung in das Heil der Rettung sich vollzieht, von jenem düstern, welcher Tod und Hölle meint, zu sondern. Denn gerade in Visionen des Vernichtungsrausches, in welchen alles Irdische zum Trümmerfeld [Hervorhebung F.R.] zusammenstürzt, enthüllt sich weniger das Ideal der allegorischen Versenkung denn ihre Grenze.27
Ungefähr fünfzehn Jahre nach der Veröffentlichung seines Trauerspielbuches inszeniert Benjamin in Über den Begriff der Geschichte selbst die Erscheinung eines hieroglyphischen übernatürlichen Wesens. In seiner performativen Meditation über Paul Klees Angelus Novus, die Figur des Engels der Geschichte, von dem Benjamin sagt, er „muß so aussehen“ [Hervorhebung F.R.] und schaut zurück auf die Geschichte, wo wir – wie Benjamin es ausdrückt – nur eine Kette von Ereignissen wahrnehmen, „sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“ [Hervorhebung F.R.]. Für den Engel wird das Trümmerfeld – der Schauplatz der Zerstörung aus dem Trauerspielbuch – zum Trümmerhaufen: einer sehr viel greifbareren Anhäufung aus Ruinen und Schutt, die „vor ihm zum Himmel wächst“ 28 wie der Turm zu Babel. Das Nachleben dieser Aufführung kann sogar als Spiegelung ihres Hauptmotivs gesehen werden, als eine Besessenheit sowohl von dieser Aufführung als auch vom Theater selbst. Die Aufführung des Dibbuk von 1922 zeigte, wie der Zusammenbruch des traditionellen jüdischen Lebens seinen Anfang nahm, während der Geist eines jungen Mannes Lea dazu verführt, sich mit ihm in der ‚hohen Wohnstätte‘ einer noch undefinierten, utopischen Zukunft zu vereinen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Zerstörung jüdischen Lebens in Europa zur Tatsache und einige Jahre später, nach Ende des Krieges, wurde die ‚hohe Wohnstätte‘ als nationalstaatliches Gebilde anerkannt, als ein Staat für das jüdische Volk. Dies war jedoch nicht das Ende der Geschichte. Heute, mehr als siebzig Jahre nach der Errichtung dieses Staates gibt es ohne Zweifel eine ‚große‘ Literatur und ein ‚großes‘ Theater im ‚säkularen‘ Hebräisch. Aber die Forderungen, die von orthodoxen Juden ausgehen, erheben allmählich wieder Anspruch auf die öffentlichen Räume, während zugleich Gesetze erlassen werden, die israelischen Nicht-Juden von den vollen Staatsbürgerrechten ausschließen. Diese Entwicklungen, die die Werte der liberalen Demokratie bedrohen – und Israel ist
27 Ebd., S. 405. 28 Benjamin, 1978, S. 698.
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nicht das einzige Land in der Welt, in dem dies geschieht – haben viele Gründe und hier ist nicht der Platz, sie im Detail zu analysieren. Ich glaube jedoch, dass die vielen hebräischen Aufführungen von Der Dibbuk, angefangen mit der Moskauer Produktion aus dem Jahr 1922 wie auch mit der Amateurproduktion der frühen Pioniere im palästinensischen Mandatsgebiet, uns helfen können, diese Krisensymptome zu verstehen, ohne sie akzeptieren zu müssen, und sogar uns beim Protest und Widerstand dagegen helfen. Der Grund dafür, diesen Artikel zu schreiben, nachdem ich ihn als meine Antrittsvorlesung als Friedrich Hölderlin-Gastprofessor für Allgemeine und Vergleichende Dramaturgie am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der GoetheUniversität in Frankfurt 2014 gehalten hatte, war, dass ich glaube, dass Israel in gewisser Hinsicht besessen ist – nicht nur vom Theater, sondern von den zahllosen ruhelosen Seelen, die nicht angemessen begraben worden sind, nachdem sie in der Shoah umgekommen sind. Dies hat es traurigerweise sehr schwierig, ja sogar unmöglich gemacht für Israel, den Verlust zur Kenntnis zu nehmen, den die Palästinenser erlitten haben und ihr Recht anzuerkennen, ihren eigenen Staat zu gründen. Es hat auch viele unserer Politiker in die Lage versetzt, die öffentliche Meinung zu manipulieren, indem sie die Furcht wachgerufen haben, dass diese Art Katastrophe neuerlich sich ereignen kann, und mit zerstörerischen Militärkampagnen und Verweigerung reagiert haben. Die gegenwärtigen Umstände sind sehr anders als jene vor dem zweiten Weltkrieg, aber das Phänomen, wie es seinen einzigartigen künstlerischen Ausdruck auf der Bühne erfahren hat, war augenscheinlich bestens bekannt.29 Aus dem Englischen von Nils Brunschede
29 Dieser Essay ist die überarbeitete Version meiner Antrittsvorlesung als Friedrich Hölderlin-Gastprofessor für Allgemeine und Vergleichende Dramaturgie am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt vom 4. November 2014 im Künstlerhaus Mousonturm. Ich danke Professor Nikolaus MüllerSchöll für seine Einladung zu einem sehr anregenden Semester in Frankfurt.
(Musik-)Dramaturgische Verfremdungen Zur Aktualität von Brechts Naturalismuskritik Tore Vagn Lid
D RAMATURGIE UND I DEOLOGIE Wie verhalten sich Dramaturgie und Ideologie oder Kunstform und ideologischorganisatorische Form zueinander? Diese Frage soll vor dem Hintergrund der Hinwendung zur Biologie und zu biologischen Erklärungsmodellen nachfolgend diskutiert werden, wie sie seit einigen Jahren beobachtet werden können: In Gestalt der Neurowissenschaft und Evolutionspsychologie, so die Hypothese, werden Denk- und Erklärungsmodelle eines Naturalismus zum Leben erweckt, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts konstituierend für die Sprache sowie die Denk- und Organisationsformen des Theaters war. Wenn diese Hypothese zutrifft, dann könnte eine Kritik eben dieses ‚alten‘ oder ‚klassischen‘ Naturalismus auch hilfreiche Ansätze und kritische Sichtweisen in Bezug auf einen neuen Naturalismus in sich tragen. Bertolt Brechts Arbeit an einem kritischen, philosophischen oder soziologischen Theater, die als Abrechnung mit dem Naturalismus verstanden werden kann, könnte dann als ästhetische und kunsttechnische Richtungsentscheidung begriffen werden.
M ANIFESTATIONEN EINES NEUEN N ATURALISMUS Kurz vor der Parlamentswahl 2013 verkündete eine von Norwegens führenden Zeitungen, das Morgenbladet: „Ihre Gene entscheiden, was Sie wählen.“1 Das Argument stützte sich auf brandneue biologisch basierte Forschung („Genopoli-
1
Fowler, James: „Genopolitikk – Dine venners tykke venner gjør deg tykk“, in: Morgenbladet vom 6. September 2013, S. 12f. [Übersetzung T.V.L.]
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tikk“/„Politische Physiologie“), die die genetischen Determinanten für Wählerpräferenzen aufspürt. Von einer wirklichen Wahl zu sprechen, war problematisch. Von einer freien Wahl zu sprechen, war, biologisch gesagt, unmöglich. James Fowler, Professor für Genetik und Politik an der University of California in San Diego, sagte der norwegischen Zeitung: Forscher haben Konservativen und Demokraten erschreckende Bilder vorgelegt und konnten dabei zeigen, dass die Konservativen konsequent einfacher zu erschrecken sind als Demokraten. [...] Man kann sich denken, dass Demokraten mehr an die Dynamik in einer Gruppe denken, während die Konservativen daran denken, wie wir eine andere Gruppe daran hindern sollen, uns zu schaden. Im Laufe der Evolution braucht man beide Gruppen, was ein Grund dafür sein kann, dass wir eine genetische Variation bewahrt haben. Das zeigt mir, dass wir evolutionäre Gründe haben, uns zu einigen.2
Am 22. Juli 2011 griff Anders Behring Breivik das politische Jugendcamp der Norwegischen Arbeiterpartei auf der Insel Utøya in der Nähe von Oslo an, woraus sich das schlimmste Massaker in Friedenszeiten in Norwegen entwickelte. Es stellte sich bald heraus, dass es sich um eine politisch motivierte Tat handelte, begangen von einem Rechtsextremisten, einem früheren Mitglied der Norwegischen Fortschrittspartei (Fremskrittspartiet), und direkt gegen Sozialisten und Linke gerichtet, die Breiviks Ansicht nach das Land für ethnische Ausdünnung und Verschwendung geöffnet hätten. Eine Woche nach diesem schwarzen Freitag gab Simon Baron-Cohen, ein Evolutionspsychologe von der Universität Cambridge, eine alternative Erklärung dafür, was hinter der Tragödie auf der Insel Utøya steckt: Die Neurowissenschaft lehrt uns, dass es Stufen der Empathie gibt und dass der Vorrat des Menschen an Empathie im Verhältnis zu einem eigenen Kreis im Gehirn steht, dem Empathiekreis. Wenn man den Täter in einen MRT-Scanner legte, würde man sehen, dass sein Empathiekreis auf einem niedrigerem als dem durchschnittlichen Niveau funktioniert, unterentwickelt verglichen mit den meisten.3
Auf diesen Artikel bezog sich eine Reihe von Titelgeschichten in norwegischen und ausländischen Medien. Dabei wurde in der Folge Breivik und sein Manifest
2
Ebd.
3
Baron-Cohen, Simon: „Det absolutte nullpunkt“, in: Morgenbladet vom 29. Juli 2011 (https://morgenbladet.no/ideer/2011/det_absolutte_nullpunkt). [Übersetzung T.V.L.]
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interpretiert, aber nicht in Bezug auf die politische Kultur, sondern auf die biologische Natur. Anstatt einen ideologisch motivierten Terrorismus zu untersuchen änderte sich hier die Perspektive: psychopathische Züge im Gehirn eines individuellen Mörders wurden analysiert. Aufgeladen mit neuer neurobiologischer Forschung wird eine Erklärungsperspektive möglich, die das Massaker nicht als böse Tat oder Handlung, sondern als (prä)determininiertes Ereignis sieht. Die Implikationen einer solchen Erklärung sind im Team um den amerikanischen Neurokriminologen Adrian Raine längst verankert. In einem Vortrag, der zuerst im Internet veröffentlicht und später in unzähligen Interviews und Artikeln wiederverwendet wurde (auch in der größten norwegischen Tageszeitung, Verdens Gang, und in der schwedischen SVD), schließt Raine wie folgt: Wenn wir einen moralischen Beschluss fassen, leuchtet ein wichtiger Bereich, genannt Amygdala, im Gehirn auf. Aber bei Psychopathen ist dieses Licht für Gewissen und verantwortliches Benehmen schon lange erloschen. Diese Psychopathen haben nicht darum gebeten, mit einer zerstörten Amygdala geboren zu werden. Also, was soll ein Gericht tun, wenn es mit einem Kriminellen mit zerstörtem Hirn konfrontiert wird?4
K=N–X Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind.5
Bevor Helene Krause das Jagdmesser von der Wand herabnimmt und ihrem 19jährigen Leben ein Ende macht, lässt Gerhart Hauptmann sie willenlos in einem Szenario von Inzest, Blutschande und Alkoholismus herumirren. Hinter dem Selbstmord der Teenagerin verbirgt sich kein heroischer Plan, kein existenzialistischer Beschluss: Helene allein. Sie sieht sich um und ruft leise: Alfred! Alfred! und dann, als sie keine Antwort erhält, in schneller Folge: Alfred! Alfred! Dabei ist sie bis zur Tür des Win-
4
https://www.youtube.com/watch?v=48GLYWSHFW4 vom 10. September 2009 und https://www.vg.no/nyheter/utenriks/helse-og-medisin/voldelige-menn-mangler-en-delhjerneceller/a/5318946/ vom 25. Februar 2003.
5
Scherer, Wilhelm: „Die neue Generation“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich. Berlin 1874, S. 411.
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tergartens geeilt, durch die sie spähend blickt. Dann ab in den Wintergarten. Nach einer Weile erscheint sie wieder: Alfred! Immer unruhiger werdend, am Fenster, durch das sie hinausblickt: Alfred! Sie öffnet das Fenster und steigt auf einen davorstehenden Stuhl. In diesem Augenblick klingt deutlich vom Hofe herein das Geschrei des betrunkenen, aus dem Wirtshaus heimkehrenden Bauern, ihres Vaters [...] Helene stößt einen kurzen kurzen Schrei aus und rennt wie gejagt nach der Mitteltür. 6
Das kleine Motiv „Alfred“, das sich wiederholt, die ruckartigen, stoßweisen Bewegungen, das unkontrollierte Crescendo gibt der letzten Seite von Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang eine beinahe sich selbst widersprechende, statische Prägung. Der Selbstmord ist nicht mehr die ultimative, tragische Handlung, sondern eher ein Ereignis, etwas, das ‚einfach passiert‘. Nur wenige Ausdrücke innerhalb des Theaters und der Theaterwissenschaft werden so häufig benutzt wie der Begriff Naturalismus. In der Ausbildung, auf der Bühne und unter Kritikern wird vom naturalistischen Spielstil gesprochen, vom naturalistischen Plot, von naturalistischen Kostümen, naturalistischer Dramaturgie usw. Es scheint, als ob der Begriff Naturalismus oder das Adjektiv naturalistisch (oder anti-naturalistisch) etwas sich selbst Erklärendes geworden sei, etwas Gegebenes – ein diskursiver Reflex. Was dabei oft verloren geht, ist vielleicht der entscheidende Teil, nämlich die enge Verbindung zwischen Kunst und Menschenbild, zwischen dem Durchbruch einer dominierenden Kunstform und dem Durchbruch einer dominierenden Denkform. Der Naturalismus als ‚Programm‘ während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kam nicht aus dem Theater, er kam in das Theater. Das naturalistische Theater als Projekt ist undenkbar ohne die wissenschaftliche Revolution, die im Kielwasser Charles Darwins und Herbert Spencers die Biologie als eine neue und potente ‚Überwissenschaft‘ etablierte. Als der Naturalismus in der Mitte der 1880er Jahre das Theater erreichte, geschah dies – im Gegensatz zu seiner konservativen Reputation – im Zeichen der ‚fortschrittlichen Wissenschaften‘ und ‚fortschrittlichen Politik‘. Charles Darwin und Karl Marx holten den Menschen von seinem philosophischen Sockel herab und konfrontierten ihn mit seiner materiellen Gebundenheit an eine Welt äußerer und innerer Determinanten. Konsequenterweise konnte dieses progressive, erste naturalistische Theater neue und schwere Strategien auffahren und sie in einer Zeit einsetzen, in der die Industrialisierung bereits eine neue Unterschicht geschaffen hatte. Bürgerlicher Idealismus, Philanthropie und religiöser Moralismus wurden beiseitegeschoben. Die politische Strategie war Konfrontation. Die beständige Formel des deutschen Schriftstellers und Theore-
6
Hauptmann, Gerhart: Vor Sonnenaufgang. Berlin 2004, S. 122.
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tikers Arno Holz, „Kunst = Natur – X“7, sollte es für eine naturalistische Kunst unmöglich machen, über die schreckliche Verfassung der Dinge zu lügen. Die Aufgabe des Künstlers bestand darin, das X so klein wie möglich zu machen. Deshalb ist die Formel von Holz weit mehr als ein ästhetisches Programm. Sie steht symptomatisch für ein Theater, das sich für eine zeitgenössische Wissenschaft öffnet und dadurch auch dazu beiträgt, das Wissenschaftsprojekt durch die Kunst in ein Kraftfeld zur Änderung des Verständnisses des Menschen von sich selbst und seiner (sozialen) Umgebung zu transformieren. Trotzdem, so lässt sich argumentieren, endete diese naturalistische/sozialistische Revolte wenige Jahre später in Konvention und Tradition. Dies fiel zeitlich damit zusammen, dass die Implikationen der neuen biologischen ‚Humanwissenschaften‘ Raum griffen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kunsträume. Rassentheorie, Phrenologie (Schädelvermessung) und Rassenhygiene gaben diesem wissenschaftlichen Positivismus eine neue und düstere politische Farbe. In Hauptmanns Vor Sonnenaufgang bringt der Doktor, Schimmelpfennig genannt, der selbst einmal ein glühender Sozialist war, den Protagonisten, den Soziologen Alfred Loth, dazu, seine junge Verlobte, Helene Krause, zu verlassen, indem er ihm ihr ‚degeneriertes‘ genetisches Material zeigt. Vor Sonnenaufgang – für die verlorene Helene Krause der allerletzte Sonnenaufgang überhaupt – drückt Dr. Schimmelpfennig aus: „Die medizinische Praxis macht nämlich furchtbar klug... furchtbar – gesund... ist Spezifikum gegen... allerlei Staupen!“8
B RECHTSCHE K ONTRAPUNKTE : V ERFREMDUNG ALS PHILOSOPHISCH - DRAMATURGISCHE S TRATEGIE In der klassischen Musiklehre wird ein Kontrapunkt oft als selbstständige Gegenstimme zum Thema bestimmt. In gleicher Weise wie der Kontrapunkt in einem bedingten Verhältnis zu seiner Gegenstimme steht, sehe ich Brechts Ziel eines kritischen, philosophischen Theaters als einen andauernden Kontrapunkt zu den naturalistisch-deterministischen Verständnisformen seiner Gegenwart. 9 Mit
7
Holz, Arno: „Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze“, in: Meyer, Theo (Hg.): Theorie des Naturalismus. Stuttgart 1997, S. 168-174, hier S. 172.
8
Hauptmann, 2004, S.108.
9
„Der Naturalismus offenbart schon in seinem Namen seine naiven, verbrecherischen Instinkte. Das Wort Naturalismus ist selber schon ein Verbrechen, die bei uns bestehenden Verhältnisse zwischen den Menschen als natürliche hinzustellen, wobei der Mensch als ein Stück Natur, also als unfähig, diese Verhältnisse zu ändern, betrachtet wird, ist eben verbrecherisch.“ Brecht, Bertolt: „Über die Verwertung der the-
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Naturalismus ist aber hier nicht lediglich ein ästhetisches Programm oder mehr oder weniger eine ‚Theatermode‘ gemeint. Brechts Konzept des ‚soziologischen‘ Theaters oder des ‚philosophischen‘ Theaters kann vielmehr als Kontrapunkt eines Determinismus verstanden werden, der sich auch in den Kunstformen dramaturgisch selbst ablagert und – nicht zuletzt – in den Kunstapparaten, die diese Formen (re-)produzieren.10 In diesem Zusammenhang ist es interessant, wie auch Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas auf den Widerspruch zwischen dem revolutionären Programm des Naturalismus und dessen konservierender dramaturgischer Haltung hinweist: „Der Naturalismus, so revolutionär er sich gebärdete und im Stilistischen und ‚Weltanschaulichen‘ auch sein mochte, nahm im Dramaturgischen eine konservative Richtung ein. Ihm ging es im Grunde um die Bewahrung der überlieferten dramatischen Form.“11 Und selbst wenn August Strindbergs radikaler Versuch der Realisierung einer dramatischen ‚Authentizität‘ durch die Form des Einakters ein Beispiel dafür ist, wie das naturalistische Projekt mit der dramaturgischen Erwartung an die Struktur des ‚klassischen‘ Dramas gebrochen hat – und damit selbst die Grundlage für die Modifizierung von Szondis Argumentation bietet –, erschüttert dies gleichwohl nicht die Schlussfolgerung selbst. Dies gilt besonders, weil der Naturalismus es – eben wegen seines ästhetischen Programms – nicht vermag, die eigenen institutionalisierten Formen und organisatorische Praxis des Theaterapparates zum reflexiven
atralischen Grundelemente“, in: ders.: Werke. Grosse kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 21: Schriften 1. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1992, S. 232. 10 Auch Brecht hat diesen progressiven Impuls des frühen Naturalismus anerkannt. In einem Radiogespräch aus dem Jahr 1929 hebt er sowohl den progressiven wie auch den regressiven Moment dieses frühen Naturalismus hervor: „Die Anfänge des Naturalismus waren die Anfänge des epischen Dramas in Europa. Andere Kulturkreise, China und Indien, hatten diese fortgeschrittenere Form schon vor zweitausend Jahren. Das naturalistische Drama entstand aus dem bürgerlichen Roman der Zola und Dostojewski, der seinerseits wieder das Eindringen der Wissenschaft in Kunstbezirke anzeigte. Die Naturalisten (Ibsen, Hauptmann) suchten die neuen Stoffe der neuen Romane auf die Bühne zu bringen und fanden keine andere Form dafür als eben die dieser Romane: eine epische. Als ihnen nun sofort vorgeworfen wurde, sie seien undramatisch, ließen sie mit der Form sofort auch die Stoffe wieder fallen, und der Vorstoß kam ins Stocken, anscheinend der Vorstoß in neue Stoffgebiete, in Wirklichkeit aber der Vorstoß in die epische Form.“ Brecht, Bertolt: „Neue Dramatik“, in: ders.: GBFA Bd. 21. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1992, S. 270-275, hier S. 273f. 11 Szondi, Peter: Theorie des moderncn Dramas. Frankfurt a.M. 1959, S. 41.
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Inhalt seines kritisch-künstlerischen Projekts zu machen. Nicht zuletzt werden der Respekt des Naturalismus und seine Akzeptanz für das Drama als ‚Unbewegter Beweger‘, wie es sich beinahe als apriorische Voraus-setzung bei Autoren wie Hauptmann, Zola und Strindberg zeigt und dann bei Regisseuren, die an das naturalistische ‚Projekt‘ anknüpfen – im besonderen Maße bei den Schulen, die sich von Konstantin Stanislawski ausgehend entwickeln –, einen solchen selbstkritischen, reflexiven Blick verhindern. Weil das Theater des Naturalismus im Prinzip mit dem literarischen Drama gleichgesetzt wird, ist es bereits in einen Apparat eingeschrieben und damit diesem untergeordnet, wobei es auf den Apparat keinen Einfluss hat. Es ist nicht zuletzt dieses institutionelle Verhältnis, das Brecht zu artikulieren gelingt, wenn er versucht die Praxis des Theaters von der Praxis des Dramas zu lösen, nicht vor allem als epischen Theatertext, sondern konkrete politisch-ästhetische Praxis innerhalb eines gegebenen historischen und sozial-ökonomischen Kontexts. In seinem radikalen Appell, „die alten Werke des alten Theaters rein als Material zu behandeln, ihre Stile zu ignorieren, ihre Verfasser vergessen zu machen“12, manifestiert sich bereits eine Haltung oder ein ‚Gestus‘, der Raum schaffen könnte für das Lehrstück als konkretem Vorschlag in Richtung eines soziologischen/philosophischen Theaters ohne Drama und gleichzeitig (zumindest idealtypisch) ohne Publikum. Grundlegend für diese reflexive Grundhaltung und entscheidend für Brechts radikale Kritik an den ideologisch-dramaturgischen Wirkflächen des Naturalismus, ist sein Konzept von Verfremdung.
V ERFREMDUNG – MUSIKDRAMATURGISCH KONKRETISIERT In meinem Buch Gegenseitige Verfremdungen13 wurde in der Hauptsache gezeigt, in welchem Maße das brechtsche Konzept der Verfremdung auch als ein produktiver Impuls für eine neue musikdramaturgische Denk- und Arbeitsweise aufgespürt werden konnte, besonders sichtbar im Lehrstück Die Maßnahme. Über Brechts oft zitiertes ‚Motto‘ von der „radikalen Trennung der Elemente“ 14 hinaus, das auf den ersten Blick eine ‚Abtrennung‘ zwischen dem Szenischen
12 Brecht, Bertolt: „Theatersituation 1917-1927“, in: ders.: GBFA Bd. 21. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1992, S. 199f. 13 Lid, Tore Vagn: Gegenseitige Verfremdungen, Theater im Stoffwechsel zwischen Bühne und Musik. Frankfurt a.M. 2011. 14 „Der große Primatkampf zwischen Wort, Musik und Darstellung [...] kann einfach beigelegt werden durch die radikale Trennung der Elemente.“ Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1942 bis 1955. Frankfurt a.M. 1993, S. 558.
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und dem Musikalischen andeutet, ist hier wichtig zu zeigen, wie die Zusammenarbeit von Brecht und Kurt Weill und besonders von Brecht und Hanns Eisler sich in dramaturgischen Gesamtkompositionen manifestierte, in denen ein Geflecht von Verfremdungsstrategien sowohl relational – als kontrapunktische Spannungen zwischen Bühne und Musik – als auch als ‚Parallelbewegungen‘ oder ‚analoge Figuren‘ entlang verschiedener und parallel geführter dramaturgischer Parameter auftritt. Von hier aus ließe sich auch argumentieren, dass diese Entwicklung und Ausweitung des Dramaturgischen in Richtung des Musikdramaturgischen in sich selbst eine notwendige Voraussetzung für Brechts durchgreifende Vorstellung von Verfremdung als kritisch-reflexiver Strategie im Theater ist. In der Partitur der Dreigroschenoper – noch genauer im dritten Takt – konkretisiert sich auf allereinfachstem Niveau ein dramaturgisches Moment mit weitreichenden ästhetisch-philosophischen Konsequenzen: Abb. 1: Partiturausschnitt Dreigroschenoper
Quelle: Brecht/Weill Songalbum. Universal Edition No. 17 105. Wien 1980.
Die Moritat von Mackie Messer aus der Dreigroschenoper beginnt mit einigen einfachen Takten, die rhythmisch und tonal eine volkstümliche, wohlbekannte Struktur haben („In der Art eines Leierkastens“). Eine Drehorgel begleitet hier eine einfache Melodie aus einem wohlbekannten Genre, weit entfernt von der freitonalen/atonalen und oft rhythmisch komplexen Tonsprache in der zeitgenössischen Musik à la 1928. Ein Motiv im Bass bewegt sich im festen Takt zwischen zwei Tönen (ein sogenannter ‚Wechselbass‘ zwischen C und G) und gibt unmittelbar Form und Richtung, nicht unähnlich der Logik einer Ziffernfolge wie: 1 – 2 – 1 – 2 – 1 usw., wo sich die Reihe nach dem Einsatz wiederholt. Der Rhythmus ist regelmäßig, der Orgelbass in der linken Hand folgt pflichtschuldig dem Akkord in der rechten nach und legt fest, dass wir uns im C-Dur befinden. Aber im dritten Takt kommt ein überraschender Bruch: Der Akkord verschiebt sich, zusammen mit der Entwicklung der Melodie („Und der Hai-fisch, der hat Zäh-ne“). Aber anstatt sich mitzubewegen und die beinahe selbstverständliche
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Entwicklung zu unterstützen, bleibt der Bass bei seinen einleitenden Tönen. So entsteht plötzlich eine neue harmonische Spannung, ein dramaturgischer Gegensatz oder eine „Uneinigkeit“ zwischen der linken und der rechten Hand der Orgel; zwischen dem Bass auf der einen Seite und Melodie sowie Akkord auf der anderen. Was hier die (dramatische) Bewegung schafft, ist gerade das Gegenteil von Bewegung; es ist diese Bassfigur, die sich also nicht dorthin bewegt, wohin sie sich bewegen ‚sollte‘. Mit dem Bruch oder der Obstruktion wird dadurch der Fokus von einer unmittelbaren und fühlbaren Erfahrung eines natürlichen ‚Fließens‘ und einer natürlichen Bewegung hin zu einer unmittelbar reflexiven Erfahrung unserer eigenen Erwartung eben zu einer solchen ‚natürlichen‘ Bewegung verschoben. Das, was die Bewegung schafft, ist also der Bruch mit der unmittelbaren Erwartung einer Bewegung, so wie das, was Fortschritt schafft, die Abwesenheit von ‚Fortschritt‘ ist. Und es ist diese Abwesenheit, die uns wiederum unsere eigene, unmittelbare Erfahrung der anscheinend ‚natürlichen Bewegungsgesetze‘ der Musik entdecken lässt. Das Beispiel ist entscheidend, nicht nur deshalb, weil Verfremdung hier sozusagen ‚außerhalb‘ der Bühne verortet werden kann, als musikdramaturgische Figur, sondern weil es so deutlich die Verbindung von Kunst-Form und Gesellschafts-Form in Brechts Musiktheater und aus ihm heraus aufzeigt: Durch den ‚verfremdenden‘ Bruch des musikalischen Satzes ist es unsere eigene Erwartung ‚notwendiger Bewegung‘, die kritisch in Bewegung gesetzt wird. So eröffnet Brechts Konzept von Verfremdung eine dramaturgische Perspektive, die die Grenzen zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen herausfordert. Wenn die Eröffnungstakte der Dreigroschenoper mit Brechts eigenen Reflexionen über das dialektische Potenzial verknüpft werden, wird diese dramaturgische Verbindung zwischen dem Ästhetischen und dem Außer-Ästhetischen sichtbar: Selbst sehr bewegte Vorgänge, wenn sie nur mit einer gewissen Wiederholung von einer gewissen Regelmäßigkeit vorkommen, gewinnen den Anschein der Ruhe. Die Bombennächte in den Städten etwa können einfach als Phase genommen werden und wurden so genommen, sie wurden zum Zustand, sie bedürfen nicht mehr der Erklärung.15
Hier, wo die Bewegung selbst einen Stillstand hervorbringt und der Stillstand Bewegung hervorbringt, ist der kritische Punkt das reflexive Moment und umgekehrt. Im Gegensatz zu einer Rezeption, bei der die Verfremdung oft mit thea-
15 Brecht, Bertolt: „Notizen über die Dialektik auf dem Theater 3“, in: ders.: GBFA Bd. 23. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1992, S. 296-299, hier S. 298.
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terdramaturgischen ‚Kniffen‘ gleichgesetzt wird, wird damit eine entscheidende Verbindung zwischen der Dramaturgie der ‚Alltagsform(en)‘ und der Kunstform(en) eröffnet. Wir neigen dazu, den Zustand der Ruhe für das „Normale“ zu halten. Ein Mann geht jeden Morgen zu seiner Arbeitsstätte, das ist das „Normale“, das versteht sich. Eines Morgens geht er nicht [...]; das bedarf der Erklärung [...]: nun, das ist eine Störung, da gab es einen Eingriff in einen Ruhezustand, und dann herrscht wieder Ruhe, indem kein Mann mehr da zur Arbeit geht.16
Diese Dialektik von Stillstand und Bewegung zeigt, warum Brecht Verfremdung und Kritik in einem dramaturgischen Konzept verknüpft, in dem die Ideale des dramatischen Theaters von organischen Übergängen und Ketten fließender Bewegungen durch Brüche und Unterbrechungen ersetzt wurden: Die Selbstverständlichkeit, d. h. die besondere Gestalt, welche die Erfahrung im Bewußtsein angenommen hat, wird wieder aufgelöst, wenn sie durch den V-Effekt negiert und dann in eine neue Verständlichkeit verwandelt wird. Eine Schematisierung wird hier zerstört. Die eigenen Erfahrungen des Individuums korrigieren oder bestätigen, was es von der Gesamtheit übernommen hat. Der ursprüngliche Findungsakt wird wiederholt.17
Eine ästhetisch-philosophische Strategie, in der die Verfremdung Brüche und Unterbrechungen erfordert, zeigt, wie eng Brechts kritisches Theater mit dem griechischen Wort für Kritik – krínein – verbunden ist, das mit dem aktiven Verb ‚spalten‘ oder ‚teilen‘ übersetzt werden kann. In diesem Licht kann Brechts dramaturgischer Appell für eine ‚Trennung der Elemente‘ als ein Motto für sein Konzept eines kritischen oder philosophischen Theaters verstanden werden, wo also die Dramaturgie philosophisch und die Philosophie dramaturgisch wird. In einer Notiz führt Brecht dies durch eine Kritik der Argumentationsfolgen der ‚Systemphilosophie‘ aus. Hier ist es nicht mehr die quasi-natürliche Form der Bass-Figur oder die Regelmäßigkeit der Bombennacht, sondern gerade die theoretische Form selbst, die den „Anschein der Ruhe“ schafft. Gegen die verketteten
16 Ebd., S. 297f. 17 Brecht, Bertolt: „Zweiter Nachtrag zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“, in: ders.: Der Messingkauf, in: ders.: GBFA Bd. 22,2. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1992, S. 695766, hier S. 699.
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Argumentationsfolgen der ‚Systemphilosophen‘ verschreibt Brecht eben die Methode der Verfremdung: Sätze von Systemen hängen aneinander wie Mitglieder von Verbrecherbanden. Einzeln überwältigt man sie leichter. Man muß sie also voneinander trennen. Man muß sie einzeln der Wirklichkeit gegenüberstellen.18
Eher als eine verfremdende Beziehung oder Wirkung (‚Effekt‘) zwischen Kunstwerk und Zuschauer, manifestiert sich hier Verfremdung beim jungen Brecht als eine reflexive Strategie zum Ausbruch aus der Schwerkraft der Theaterorganisation als solcher. Von dieser doppelten Position als Kunstpraktiker und Kunstkritiker aus gelingt es Brecht, eine Theorie und theoretische Praxis als eine Form dessen zu schaffen, was ich eine institutionelle Selbstverfremdung nennen würde: In dergleichen Weise wie die Verfremdung eine Strategie zur Provokation des Publikums sein soll, das zum Nachdenken über die Handlung gebracht werden soll und nicht lediglich zu einem Denken entlang der Handlung, kann dieses Meta-Niveau von Verfremdung als Strategie des Künstlers selbst zur Reflexion sowohl über das Theater als auch die Theaterorganisation begriffen werden, die sozusagen aus einer ‚Innen-Außen-Position‘ heraus betrachtet werden. Dadurch kann Brecht Strukturen ansprechen, die im Theater im Spiel sind, aber selbst nicht adäquat Teil des Selbstbildes des Theaters werden. Und von dieser doppelten Strategie der Verfremdung aus – wenn auch in Fragmenten – identifiziert Brecht bereits um 1930 das Theater als Apparat und artikuliert dies auch. Für Brecht ist dies ein Apparat mit einer ästhetischen, politischen, ‚sich selbst erhaltenden Agenda‘, einer stillen, unsichtbaren – aber immer noch kraftvollen – Struktur, die paradoxerweise selbst als meta-dramaturgische Kraft fungieren könnte. Brechts Verständnis von (ästhetischer) Form, die nicht nur die Realität formt, sondern auch unbewusst bestimmte Ordnungen in der Gesellschaft produziert, wird hier in eine kritische Artikulation der Institution als ‚Agent‘ transformiert. So Brecht: Die Künstler denken meist nicht daran, den Apparat zu ändern, weil sie glauben, einen Apparat in der Hand zu haben, der serviert, was sie frei erfinden, der sich also mit jedem ihrer Gedanken von selbst verändert. Aber sie erfinden nicht frei; der Apparat erfüllt mit ihnen oder ohne sie seine Funktion, die Theater spielen jeden Abend, die Zei-
18 Brecht, Bertolt: Buch der Wendungen, in: ders.: GBFA Bd. 18. Berlin/Weimar/ Frankfurt a.M. 1992, S. 45-194, hier S. 95.
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tungen erscheinen x-mal am Tag; und sie nehmen auf, was sie brauchen; und sie brauchen einfach ein bestimmtes Quantum Stoff.19
Dadurch ist das kritische Potenzial der Verfremdung nicht mehr auf Kunstwerke allein beschränkt, sondern es eröffnet sich eine reflexive soziologische Einsicht in einen hegemonialen Theaterapparat. Der Künstler gewinnt das Bewusstsein der Institution – nicht als ‚leere Hülle‘, die mit neuen (politischen) Intentionen gefüllt werden kann – sondern selbst als Inhalt. Wo ein Philosoph wie Hegel das dialektische Moment an dem Punkt lokalisieren würde, an dem das Bewusstsein aus seiner selbstaffirmativen Zirkularität ausbricht, ermöglicht Brecht eine Selbstkritik, in der der Apparat selbst zum Inhalt einer kritisch-politischen Kunst wird. Aber im Gegensatz zur späteren und eher postmodernen Kritik der Institutionen, knüpft Brecht seine ‚Meta-Reflexion‘ an eine Kritik am Kapitalismus und den Kunstapparaten als Instrument der verborgenen Klassenkämpfe der Bourgeoisie: Wer von unseren nur ästhetisch geschulten Kritikern wäre imstande, zu begreifen, dass die selbstverständliche Praktik der bürgerlichen Kritik, in ästhetischen Fragen in jedem einzigen Fall den Theatern gegen die Produktion Recht zu geben, eine politische Ursache hat?20
B RECHT – WIEDERBELEBT ? Brechts andauernde kritische Auseinandersetzung mit den inhärenten ideologischen Annahmen (oder Voraussetzungen/Dispositionen) des naturalistischen Theaters spiegelt auch (kontrapunktisch) die Kraft und Wirkung des naturalistischen „Projekts“ wider. Heute, kaum hundert Jahre später, gibt es Zeichen dafür, dass ein neuer Naturalismus Raum gewinnt. Die knappen Zitate in meiner Einleitung konstituieren kleinste Teile eines komplexen Bildes, in dem biologiebasierte Wissenschaften sich Platz und Erklärungsmacht in einer wachsenden Zahl von Gebieten der Gesellschaft verschaffen. Im Laufe einiger weniger Jahrzehnte hat, so könnte man argumentieren, eine neue Biologie – durch technische Fortschritte etwa innerhalb der Genetik oder durch MRT-Scans – die Rolle der Physik sozusagen als ‚Überwissenschaft‘ unserer Zeit übernommen. Eine wachsende
19 Brecht, Bertolt: „Über die Verwendung von Musik für ein episches Theater“, in: ders.: GBFA Bd. 22,1. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1992, S. 155-164, hier S. 161. 20 Brecht, Bertolt: „Primat des Apparates“, in: ders.: GBFA Bd. 21. Berlin/Weimar/Frankfurt a.M. 1992, S. 225-227, hier S. 226.
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Anzahl wissenschaftlicher Disziplinen trägt das Präfix ‚Neuro-‘ und private wie öffentlich finanzierte Forschungsgremien sichern substantielle Forschungsressourcen für Wissenschaftler, die ‚Unsicherheit‘, ‚Ambiguität‘ und ‚Relativismus‘ durch sogenanntes ‚evidenzbasiertes‘ und ‚positives‘ Wissen ersetzen.21 Es ist offensichtlich, dass diese neuen Disziplinen mit ihren technologischen Möglichkeiten eine progressive und erfrischende Kraft ausstrahlen, auch dort, wo es um die Humanwissenschaften geht. Aber es ist genauso offensichtlich, dass ihre Einsicht in und ihre Erkenntnisse über die ‚wahre Natur des Menschen‘ – z.B. über genetisch bedingte Wahlpräferenzen, natürliche Unterschiede in der Intelligenz, natürliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen sozialen Gruppen, zwischen Kindern mit oder ohne natürliche Disposition für Alkoholismus oder angeborene psychopathische Züge – Resonanz in den präferierten Narrativen der heutigen Medienindustrie finden: Die Erklärungen sind einfach und ‚unzweifelhaft‘, die Illustrationen sind überzeugend, farbig und dem Publikum leicht zu vermitteln. Deshalb erscheint es adäquat zu fragen: Wenn es möglich ist, in sinnvoller Weise von einem neuen Naturalismus zu sprechen, einem neuen ‚biologischen Sonnenaufgang‘, könnte nicht gerade Brechts kritisches Projekt wiederbelebt werden?
21 Hierbei ist es wichtig, zwischen den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, ihrem Selbstverständnis und ihren internen Diskursen (ob es nun die Evolutionspsychologie, die Neuroästhetik oder die Neurotheologie ist) und ihrer Wirkung, die diese sehr unterschiedlichen Disziplinen haben, zu unterscheiden, wenn mehr oder weniger deterministische Hypothesen und Sentenzen aus akademischen und biomedizinischen ‚Laboratorien‘ gezogen und als effektive und auf dem Boulevard verkäufliche Vorstellungen von der eigentlichen Natur des Menschen popularisiert werden. Auf diese Weise kritisch zwischen dem internen Diskurs der Wissenschaft und der Ideologiebildung zu trennen, die durch die Begegnung zwischen Forschung, Medien und politischer Bildung erfolgt, ist besonders wichtig, wenn das Ziel der dramaturgische Blick ist, der eben diese Wirkfläche hat, dieses Verhältnis zwischen Ideologie und Dramaturgie als Objekt oder Forschungsschwerpunkt. Nur wenige werden heute behaupten, dass Henrik Ibsens Gespenster oder Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang nicht grundsätzlich von wissenschaftlichen Verständnisformen, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts dominierend waren, beeinflusst worden wären und diese gleichzeitig kommunizierten. Gleich adäquat (wenn auch weitaus komplexer) wie die Untersuchung des dramaturgischen Einflussbereichs des ‚klassischen Naturalismus‘, ist es dann, sich der Frage nach Dramaturgie und Ideologie im Lichte eines neuen und potentiell kraftvollen Naturalismus von heute anzunähern.
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B RECHT IM K ONTEXT EINES NEUEN N ATURALISMUS Der norwegische Philosoph Jon Hellesnes hat in mehreren Artikeln und Essays versucht, auf das hinzuweisen, was er – mit einem durch den Philosophen Karl Otto Apel inspirierten Vokabular – die „pragmatischen Widersprüche“ des biologistischen Reduktionismus nennt. Das ist also mit anderen Worten keine Kritik an der Neurowissenschaft als solcher, sondern an verschiedenen Formen des sogenannten „reduktiven Physikalismus“ oder „eliminativen Materialismus“, in dem menschliche Verhältnisse kausal ausgehend von biologischen oder neurologischen Determinanten erklärt werden.22 Das Stichwort für Hellesnes ist hier eine Argumentationsform, die kraft ihrer eigenen Aussage dem widerspricht oder das unmöglich macht, was der Determinismus selbst aufzuzeigen behauptet: Der offensichtlichste Bruch mit dem Selbsteinholungsprinzip liegt vor, wenn eine theoretische Behauptung klar und deutlich einen pragmatischen Widerspruch hervorbringt. In einem pragmatischen Widerspruch verläuft der Gegensatz zwischen dem semantischen Inhalt in der Behauptung und dem, was die Behauptung voraussetzt, um als kommunikative Handlung wirken zu können.23
Der Verweis auf ein deterministisch-kausales Ursachenverhältnis in den Handlungen anderer Menschen wird also selbst durch das gleiche Ursachenverhältnis eingefangen. In Apels/Hellesnes’ Gebrauch der Begriffe „pragmatischer Widerspruch“, „Reflexionsvergessenheit“, „Reflexionsvergessenheit“ und „Selbsteinholungsprinzip“, liegt implizit eine performative Dimension. Anders ausgedrückt steht das Performative in der Aussage (der Handlung der Aussage) in einem Gegensatzverhältnis zu dem, was (semantisch) ausgesagt wird, nicht unähnlich einer Person, die in einer Versammlung das Wort ergreift und sagt: ‚Ich lobe mich
22 „Der reduktive Physikalismus handelt davon, dass jegliche Denkaktivität, genauso wie alle anderen mentalen Phänomene, lediglich Nebenwirkungen von Prozessen im Gehirn sind, d.h. Naturprozessen, und nichts anderes. [...] Die langfristige Hoffnung innerhalb dieser Schule ist es, dass es eines Tages eine Neurowissenschaft geben wird (von einer heute unbekannten Art), die imstande ist, alle Arten menschlicher Aktivität zu erklären und vorherzusehen [...].“ Hellesnes, Jon: „Frå Ånd til materie – Om mjuk og hard fornuftsfiendskap“, in: Nytt Norsk Tidsskrift. Nr. 3. 2010. S. 9. [Übersetzung T.V.L.] Als Beispiel eines solchen reduktiven Physikalismus oder „eliminierenden Materialismus“, hebt Hellesnes hier Beiträge von u.a. Patricia und Paul Churchland hervor. 23 Ebd.
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normalweise nicht selbst.‘ Im Lichte dessen, was oben über Brechts Konzept von Verfremdung gesagt wurde, ist es interessant, wie gerade das Kritische bei Hellesnes/Apel als eine konkrete reflexive Strategie mit klaren performativen Implikationen wirksam wird. So wird eine Verbindung oder eine Verwandtschaft sichtbar zwischen den fachphilosophischen Hinweisen auf die ‚versteckten‘ Widersprüche des Biologismus auf der einen Seite und Brechts Begriff von Verfremdung als konkreter reflexiv-ästhetischer Strategie auf der anderen. Aber da, wo die Argumentation des Philosophen logisch-argumentativ zu Werke gehen muss, liegt das kritisch-ästhetische Potential des Verfremdungsmoments eher in einer Aufhebung des Unmittelbaren. Wenn zum Beispiel der Text im Schlusschor der Dreigroschenoper sich kritisch (zurück-)wendet gegen das, was wirklich gesungen wird („Bedenkt das Dunkel und die grosse Kälte in diesem Tale, Das von Jammer schallt“) realisiert sich musikdramaturgisch ein reflexiver Augenblick, der sowohl unmittelbar ist als auch eine genauso unmittelbare Reflexion oder ein (kritisches) Verhältnis eben zu dem fühlbar Unmittelbaren darstellt. So rückt also die ästhetische Erfahrungsdimension ins Zentrum des kritischen Projekts von Brecht. Und eben in diesem Spannungsfeld zwischen Reflexivität und Unmittelbarkeit werden Musik und die musikalische Zusammenarbeit zu notwendigen Voraussetzungen für die Entwicklung eines kritisch-philosophischen Theaters, die in den Lehrstücken um 1930 herum kulminiert.
„E IN T HEATER DES M ENSCHEN “ Das neue Theater ist einfach ein Theater des Menschen, der angefangen hat, sich selbst zu helfen.24
Wie die einleitenden Beispiele zeigen können, sind die Spuren eines neuen Naturalismus auch konkreter Ausdruck neuer Formen eines biologischen Reduktionismus. Sowohl im Fall der ‚Natur des Psychopaten Breivik‘ und der ‚naturgegebenen Wählerpräferenzen von Demokraten und Republikanern‘ revitalisiert sich ein Determinismus mit Widerhall in den naturalistischen Modellen der 1880er Jahre. Vor einem solchen Hintergrund fällt auf, wie konsequent Brechts Appell für „Ein Theater des Menschen“ das soziologische und/oder philosophische Theater als notwendigen Kontrapunkt gegenüber einer Kunstproduktion betont, in der statische Vorstellungen von der Natur des Menschen zum apriori-
24 Brecht, Bertolt: „Dritter Nachtrag zur Theorie des ‚Messingkaufs‘“, in: ders.: Der Messingkauf, in: ders.: GBFA, Bd.22,2. Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1992, S. 700.
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schen Ausgangspunkt für mehr oder weniger bewusste dramaturgische Entscheidungen und Dispositionen gemacht werden. Die Abrechnung mit der Ideologie des Naturalismus setzt hier eine Abrechnung mit einem ‚Theater-Apparat‘ voraus, in dessen eigenen institutionellen Strukturen sich die Ideologie des Naturalismus abgelagert hat, und damit auch – zumindest nicht ohne eine ‚radikale Umfunktionierung‘ – in der Lage wäre, mit einer solchen Bedeutungsproduktion zu brechen, selbst wenn der gute Wille und politische Idealismus dies fordern würden. Brechts Relevanz in der Begegnung mit einem neuen Naturalismus heute ist deshalb zweiseitig. Auf der einen Seite ist da die reflexive Selbstkritik, die die ganze Zeit über die stillschweigenden naturalistischen Voraussetzungen hinterfragt, die eine Kunstproduktion durchdringen, die in keiner Weise ‚über‘ oder ‚außerhalb von‘ ideologischen Strukturen steht. Auf der anderen Seite gibt es bei Brecht ein Vertrauen in die Kunst im Allgemeinen und das (Musik-)Theater im Besonderen, das als ein geeignetes Medium angesehen wird, um die passiven Vorstellungen des Naturalismus vom Menschen kritisch zu konfrontieren und herauszufordern. Die Relevanz des Ersten wird mit Blick auf diejenigen Theaterund Filmproduktionen bestätigt, die – befördert von Marktanpassung und Traditionalismus – sich in die Tradition des Naturalismus und der Illusionsbildung stellen. Die Relevanz des Zweiten wird deutlich, wenn wir Brechts dramaturgischen Respekt für den reflexiven, kritisch denkenden Zuschauer im Kontrast zu den algorithmisch modulierten Strategien der neuen seriellen Industrieproduktion betrachten, die alles daraufhin kalkuliert, dass der maximale dramatische Effekt bei einem größtmöglichen Publikum bewirkt wird.
D AS V ERTRAUEN IN DIE KRITISCHEN E RFAHRUNGEN DES K UNSTRAUMS Wie schon Peter Bürger in der Theorie der Avantgarde anmerkte, hat Brecht die Ambition der historischen Avantgarden einer Liquidierung der Kunst in einer neuen Lebenspraxis nie geteilt. 25 Trotz optimistischer brechtscher ‚Slogans‘ von einer ‚Zeit der Wissenschaft‘, findet sich hinter der Faszination für einen ‚behavioristischen Positivismus‘ durchgängig eine entgegengesetzte Stimme in Brechts Werk, durch welche die Reflexion und das Ästhetische ihr kritisches Potenzial behalten. Der Theaterraum bleibt für Brecht ein besonderer Raum für kritische Erfahrung. Das Theater, das sich selbst in den Messingkauf-Dialogen auf die Bühne stellt, hat nicht wirklich zum Ziel, sich zugunsten von Philosophie
25 Vgl. Peter Bürgers Darlegung einer „Intention der historischen Avantgardebewegungen“. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974, S.117.
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oder Soziologie aufzuheben, befindet sich aber bereits in einer verfremdeten Beziehung mit dem wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs. Mit anderen Worten bleibt Verfremdung eine ästhetisch-dramaturgische Strategie und damit etwas, das sich nicht selbst auflöst, weder in Herbert Marcuses revolutionärer „Aufhebung der Kunst“26 noch in Hegels absoluten und endgültigen philosophischen Begriffen.
26 Vgl. Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1965, S. 56-101.
Szenische Konstellationen
Die Bühne des Denkens Über den Dialog von Manes und Empedokles in Hölderlins Empedokles auf dem Ätna Jörn Etzold
D ER D ENKENDE ALS UNTRAGISCHER H ELD Wenn Walter Benjamin in der ersten Fassung seines Aufsatzes über Brechts Episches Theater den „Denkenden“ als dessen Hauptfigur einführt, dann tut er dies auf amüsante Weise. Es heißt: „Diesen Denkenden, Herrn Keuner, von dem Brecht einmal vorschlug, er müsse liegend auf die Bühne gebracht werden (so wenig zieht es ihn dahin), zum Dasein auf der Bühne zu bewegen, das ist das Bestreben dieses neuen Theaters.“1 Nichts – keine Eitelkeit, kein Sendungsbedürfnis – zieht den Denkenden also auf die Bühne, und die aufrechte Haltung des deklamierenden Schauspielers nimmt er erst recht nicht ein: Lieber liegt er. Man kann ihn also einfach auf die Bühne tragen. Man kann aber auch folgern: Um ihn „zum Dasein auf der Bühne zu bewegen“, muss diese Bühne sich fundamental ändern. Den „Denkenden“ nennt Benjamin auch den „untragischen Helden“. Und er fügt hinzu: „Allen Wiedergeburten der Antike zum Trotz haben die großen Dramatiker von der authentischen Gestalt der Tragik, der griechischen, den größten Abstand gehalten.“2 Der untragische Held hat mit der Tragödie nichts zu tun; aber weniger noch, so scheint es, hat er mit dem „Tragischen“ zu tun: mit jenem
1
Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1)“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 519-531, hier S. 523. (= Benjamin, 1991a)
2
Ebd.
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Konzept, das die deutsche Philosophie seit Schelling aus der Tragödie ziehen wollte und das Hegel dann in seiner berühmten Lektüre der Antigone in der Phänomenologie des Geistes als die notwendige Kollision zweier Parteien beschrieben hat. Dieses „Tragische“ gemäß dem Deutschen Idealismus ist nach Peter Szondi ein „Modus“, nämlich „eine bestimmte Weise drohender oder vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische“.3 Das bedeutet auch, dass die Vernichtung doch in irgendeiner Weise zu einer Aufhebung werden kann: dass sich also Ödipus – so Schellings Ansicht – als frei behauptet, eben weil er von den Göttern für ein Tun bestraft wird, an dem er ganz unschuldig ist, 4 oder dass die Polis, die sich in der Antigone auflöst, nach Hegel in die höhere Form des römischen Reichs und seines Rechtszustands übergeht.5 Der „untragische Held“ in Benjamins Definition ist dagegen nicht undialektisch, aber seine Dialektik ist eine andere: Sie ist die „Dialektik im Stillstand“6, stillgestellt in einem Bild oder einer Konstellation und somit letztlich einer Aufhebung nicht zugänglich. Um es ganz einfach zu sagen: Der „untragische Held“ tritt nicht auf als eine Partei in einem notwendigen Konflikt, der zu einer tragischen Kollision – und letztlich zu einer Aufhebung – führen muss; vielmehr erlaubt es ihm seine Weisheit, selbst der „Schauplatz von Widersprüchen unserer Gesellschaft“7 zu sein. Er vereinigt diese Widersprüche nicht in sich, er hebt sie auch nicht in sich auf, sondern stellt sie als solche zur Schau. Er ist, auch wenn er kein tragischer Held mehr ist, von der Bühne nicht zu lösen, doch benötigt er eine andere Bühne: nicht die Bühne des tragischen Agon, die ja immer auch die Bühne des Konflikts, der Verhandlung und der Einsetzung von Vertretern ist. Benjamin nennt die neue Bühne „Podium“8; jenes ist der Schauplatz, auf dem der Denkende auftritt und die Widersprüche exponiert. Benjamin skizziert auch noch den „Weg“ des „untragischen Helden“ durch die Geschichte, wobei er bemerkt: „Wie dieser Weg im Mittelalter bei Hroswitha, im Mysteriendrama, später bei Gryphius, Lenz und Grabbe sich abzeichnet,
3
Szondi, Peter: „Versuch über das Tragische“, in: ders.: Schriften. Bd. I. Hg. von Jean Bollack et al. Frankfurt a.M. 2006, S. 149-260, hier S. 209.
4
Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: „Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus. Zehnter Brief“, in: ders.: Werke. Bd. 3. Hg. von Hartmut Buchner et al. Stuttgart 1982, S. 106-112.
5
Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke. Bd. 3. Frankfurt a.M. 2001, S. 327-359 („Der wahre Geist. Die Sittlichkeit“).
6
Benjamin, 1991, S. 531.
7
Ebd., S. 526.
8
Ebd., S. 519.
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wie Goethe ihn im zweiten Faust gekreuzt hat – das darzustellen ist hier nicht der Ort.“ Jener Weg, der „der deutscheste war“, gleiche ohnehin eher einem „Pasch- und Schleichpfad, auf welchem quer durch das erhabene aber unfruchtbare Massiv der Klassik das Vermächtnis des mittelalterlichen und barocken Dramas auf uns gekommen ist.“9 An dieser kurzen und dichten Beschreibung des Schleichwegs ist eigentümlich, dass ein Name fehlt: Friedrich Hölderlin. Hölderlin war eine wesentliche Referenz für den jungen Benjamin: Seine „erste[...] größere[...] Arbeit“10 – „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ – ist ihm gewidmet, und als geheimes Zentrum seines Denkens taucht sein „Geist“11 in der Dissertation auf. Er bleibt bedeutsam, wenn Benjamin im Trauerspielbuch hinter dem unfruchtbaren Massiv der Klassik oder auf Schleichwegen, die durch dieses hindurch führten, nach einer anderen Bühne sucht und, wie viele seiner Zeitgenossen, den Barock wiederentdeckt; indem er Norbert von Hellingraths Kennzeichnung von Hölderlins späten „Gesängen“ als „Barockstufe“12 aufnimmt, erwähnt Benjamin Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als eine Fortsetzung der barocken Angewohnheit, Tragödien zu lesen „wie als Trauerspieltexte“.13 Und als Motto zu Brecht selbst hatte Benjamin – wohl 1934 – den Satz aus dem ersten Brief an Böhlendorff notiert: „Das hat Dein guter Genius Dir eingegeben, wie mir dünkt, daß Du das Drama epischer behandelt hast.“14 Doch nicht nur der Schleichpfad vom Barock durch die unfruchtbare Klassik führt an Hölderlin vorbei. Auch ein Weiser oder ein untragischer Held tritt in seiner Arbeit für das Theater auf, im – den Gesängen und den Sophokles-
9
Ebd., S. 523. In der zweiten Version des Aufsatzes von 1939 wird jene Kennzeichnung nur eingeschränkt wiederholt; dort wird vielmehr eine „wichtige aber eine schlecht markierte Straße“ erwähnt, die „eine europäische, aber auch eine deutsche“ sei. So treten Calderon und Strindberg hinzu. Siehe: Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater (2)“, in: ders., 1991, S. 532-539, hier S. 534. (= Benjamin 1991b)
10 Walter Benjamin zit. in: „Anmerkungen zu ‚Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin‘“, in: ders., 1991, S. 921-924, hier S. 921. (= Benjamin, 1991c) 11 Benjamin, Walter: „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I. Frankfurt a.M. 1997, S. 7-122, hier S. 103. (= Benjamin 1997a) 12 von Hellingrath, Norbert: Hölderlin-Vermächtnis. Hg. von Ludwig Pigenot. München 1936, S. 170. 13 Benjamin, Walter: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: ders., 1997, S. 203-430, hier S. 364. (= Benjamin, 1997b) 14 Zit. Benjamin, Walter: „Betrachtungen und Notizen“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Frankfurt a.M. 1991 S. 195-211, hier S. 208. (= Benjamin, 1991d)
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Übersetzungen vorausgehenden – Trauerspielfragment Empedokles. Die drei Fragmente zeigen auf je verschiedene Weise die Verbannung des Philosophen aus der Stadt Agrigent und seine Vorbereitungen auf seinen Freitod im Krater des Ätna, von dem Diogenes Laertius berichtet hat.15 Das Stück wurde, dem griechischen Kontext zum Trotz, vielfach als Mysterienspiel verstanden, das in einer mittelalterlichen, dem modernen Drama vorausgehenden Tradition stehe. So zieht sich der von Hroswitha ausgehende Pfad auch durch die EmpedoklesFragmente. Gehören dieses Stück und sein ‚Held‘ also zur Tradition der ‚Denkenden‘ und der ‚Weisen‘ auf der Bühne? Zumindest eine – so philosophisch informierte wie von Theaterkonventionen geprägte – Kritik behauptet schon lange, dass das Stück eigentlich nicht theatral sei, da undramatisch (und deswegen gescheitert). So schreibt Philippe LacoueLabarthe: „Das Szenario des Empedokles ist nichts anderes als ein spekulatives Szenario in griechisch-platonischer Art. Das bedeutet: Der Held ist der Philosophen-König (basileus).“16 Benjamin sieht die Vorbilder des untragischen Helden jedoch nicht im Ödipus oder der Antigone, sondern bei Platon, der kam, um die Tragödie zu überwinden: „Schon Platon, schrieb Lukács vor zwanzig Jahren, hat das Undramatische des höchsten Menschen, des Weisen, erkannt.“17 Für Benjamin benötigt der untragische Held eine neue, eine andere Bühne; auf die gegebene Bühne müsste man ihn tragen. Hölderlins Figur Empedokles zieht es auch weniger auf die Bühne als von ihr herunter; die drei Entwürfe laufen auf den Sprung in den Vulkan zu, der allerdings nie erreicht wird. Von Beginn an zieht es den Dichter-Philosophen in die Magma, ins Erdinnere, hinter jede Anschauung oder Vorstellung; auf die Bühne aber zieht es ihn nicht: Im „Grund zum Empedokles“, jener theoretischen Abhandlung zwischen dem zweiten und dem dritten Entwurf, heißt es über den Philosophen, er lebe „1) überhaupt, als fühlender Mensch, 2) als Philosoph und Dichter, 3) als Einsamer, der seine Gärten pflegt. Aber so wäre er noch keine dramatische Person.“ 18 Empedokles drängt es nicht zum Auftritt; am Beginn des dritten Entwurfs, der bereits nach seiner Verbannung aus der Stadt Agrigent ansetzt, finden die Zuschauer ihn
15 Vgl. Diogenes Laertius: Leben und Lehre der Philosophen. Stuttgart 2012, S. 390399. 16 Lacoue-Labarthe, Philippe: „Das Theater Hölderlins“, in: ders.: Metaphrasis. Das Theater Hölderlins. Zwei Vorträge. Freiburg i.Br. o.J. (2001), S. 45-89, hier S. 52. 17 Benjamin, 1991a, S. 524. 18 Hölderlin, Friedrich: Empedokles I & II. Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 12 u. 13 (durchgehende Paginierung). Hg. von D. E. Sattler. Basel/Frankfurt a.M. 1985, S. 866.
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offenbar, wie Brechts Denkenden, liegend vor, da er „vom Schlaf erwachend“19 seine ersten Worte spricht. Der untragische Held exponiert für Benjamin eine ‚Dialektik im Stillstand‘. Die Ausfaltung der ‚tragischen Figur‘, die Hölderlin im „Grund zum Empedokles“ vornimmt, ist etwas Ähnliches, Verwandtes: eine Dialektik im Leerlauf, da die Widersprüche sich wechselseitig in die Höhe treiben, aber zu keiner Aufhebung führen. Empedokles wird dargestellt als ein Sohn des Himmels und seiner Periode, seines Vaterlandes, ein Sohn der gewaltigen Entgegensetzungen von Natur und Kunst in denen die Welt vor seinen Augen erschien. Ein Mensch, in dem sich jene Gegensätze so innig vereinigen, dass sie zu Einem in ihm werden, daß sie ihre ursprüngliche unterscheidende Form ablegen und umkehren […]20
– so der Beginn eines Satzes, der kein Ende findet, sondern viele Zeiten später nur eine Art Unterbrechung: „daß also jene beeden Gegensäze in ihm zu einem werden, weil sie in ihm ihre unterscheidende Form umkehren und sich auch in so weit vereinigen, als sie im ursprünglichen Gefühle verschieden sind –“21. Aber eine Aufhebung findet nicht statt; es bleibt ein unabschließbares Wechselspiel von Entgegensetzungen, eine endlose Rückkoppelung, die irgendwann, akustisch gesprochen, zur Übersteuerung führt.22 Organisches und Aorgisches – so Hölderlins Begriffe – gehen in keine höhere Einheit über, sondern führen zu einer hyperbolischen Steigerung der Extreme, zu einer Exponierung des Empedokles. Somit aber trägt jener Versuch der Wiederbelebung der „tragischen Person[...]“23 im Trauerspiel Züge dessen, was Benjamin eben als den ‚untragischen Helden‘ bezeichnet. Empedokles ist ein Weiser, in dem die ‚gewaltigen Entgegensetzungen‘ zur Schau gestellt werden. Auch Empedokles benötigt eine andere Bühne; eine künftige Bühne, die sich im Laufe der Arbeit an den Fragmenten entwickelt. Vor allem in dieser Bühne, nicht in der ‚undramatischen‘ Anlage der Fabel, scheinen mir die großen Schwierigkeiten beschlossen zu sein, die das Theater mit den EmpedoklesFragmenten hatte und hat. Dieser Bühnenraum kann – mit der Regieanweisung
19 Ebd., S. 931. 20 Ebd., S. 872. 21 Ebd. 22 Siehe dazu auch: Lacoue-Labarthe, Philippe: „Die Zäsur des Spekulativen“, in: ders.: Die Nachahmung der Modernen. Typographien II. Basel u.a. 2003, S. 37-68. 23 Hölderlin, 1985, S. 874.
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zu Beginn des zweiten Aktes des ersten Entwurfs – als „Gegend“ bezeichnet werden.24 In jene „Gegend am Aetna“25 ziehen Empedokles und sein Schüler Pausanias, nachdem sie aus der Stadt Agrigent vertrieben wurden. Rüdiger Campe hat in einem wegweisenden Aufsatz die Szenen in Agrigent (im ersten Akt des ersten Entwurfs) als Exponierung der Guckkastenbühne beschrieben: Stets kämpfen die Figuren um Auftritte, schicken einander und sich selbst mit dem „Verfahrenswort“ „Hinweg!“ von der Bühne.26 Empedokles, der lieber als Mensch und Philosoph in seinem Garten bleiben würde, verhält sich dadurch, dass er auf die Bühne auftreten musste, in Hölderlins Worten, „als Reformator, als politischer Mensch“27 und verstrickt sich in die politisch-theologische Intrige seiner Widersacher. In der Gegend aber endet dieser Kampf um Auftritte; die Gegend scheint nicht mehr in der Guckkastenbühne abbildbar zu sein. In ihr versammeln sich die Figuren, um auf eine andere Weise zu sprechen, nicht im politisch-religiösen Disput der dramatischen Form, nicht im Kampf um die Möglichkeit des Erscheinens in einem begrenzten, da eingerahmten Bild-Raum. In der Gegend geht es weniger um den Kampf um Sichtbarkeit und Repräsentation auf der gerahmten Bühne als darum, dass Worte gesprochen werden, gehört werden können, vorbeiziehen. Und in diesen Worten präsentiert sich Empedokles als ein Schauplatz von Widersprüchen; und die Antwort auf diese Widersprüche wird weder ihre Aufhebung noch ihre Versöhnung sein, sondern Empedokles’ letztgültiger Abgang von der Bühne. Auf welche Weise aber ist das Sprechen des Empedokles in der Gegend – in die er verbannt wird, in die er jedoch auch flieht, um der Guckkastenbühne und ihren Mechanismen zu entgehen – das Sprechen eines ‚Denkenden‘? Welches Denken wird hier auf einer neuen oder künftigen Bühne – der Bühne der ‚Gegend‘ – exponiert? Dies soll nun an jenem Dialog untersucht werden, der die Reihe der Fragmente – beinahe – abschließt, dem Dialog zwischen Empedokles und seinem Lehrer, dem Philosophen Manes. Zwei Denkende treffen hier aufeinander, und doch ist ihr Denken jeweils ein ganz anderes. Denn Empedokles als einer Figur, die extreme Widersprüche ex-
24 Vgl. Etzold, Jörn: „Gegend ohne Könige. Zur Bühne in Hölderlins Empedokles“, in: Eke, Norbert Otto/Kaldrack, Irina/Haß, Ulrike (Hg.): Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn 2014, S. 305-328. 25 Hölderlin, 1985, S. 731. 26 Vgl. Campe, Rüdiger: „Erscheinen und Verschwinden. Metaphysik der Bühne in Hölderlins ‚Empedokles‘“, in: Menke, Bettine/Menke, Christoph (Hg.): Tragödie, Trauerspiel, Spektakel. Berlin 2007, S. 53-71. 27 Hölderlin, 1985, S. 877.
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poniert, steht in Manes ein Denker entgegen, der den Ausgleich und die Aufhebung sucht.
D ER AUFTRITT DES M ANES Manes tritt im dritten und letzten Entwurf des Stückes auf. Klaus-Michael Grüber nahm ihn als Vorlage für seine wichtige Inszenierung Empedokles – Hölderlin lesen (1975), die die Empedokles-Fragmente auch mit den europäischen Fluchtbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenbrachte; Danièle Huillet und Jean-Marie Straub legten ihn ihrem Film Schwarze Sünde (1988) zugrunde, nachdem sie zunächst einen Film nach dem ersten Entwurf gedreht hatten – Der Tod des Empedokles oder Wenn dann der Erde Grün von neuem euch erglänzt (1986).28 Den Titel des geplanten Trauerspiels hat Hölderlin offenbar im Verlauf der Arbeit an den Fragmenten geändert: Im Frankfurter Plan entwarf er ein Stück namens Empedokles; beim Schreiben des zweiten und dritten Entwurfs dachte er an den Titel Der Tod des Empedokles. Doch gibt es starke Hinweise darauf,29 dass der endgültige Titel des Stückes Empedokles auf dem Ätna lauten sollte. Neben dem Schauplatz der „Gegend“30 und großen Ähnlichkeiten der Fabel31 ist dieser Titel ein weiterer Bezug auf Sophokles’ Ödipus auf Kolonos: Ödipus wird dort, wie Samuel Weber betont hat, weniger durch das bestimmt, was er getan hat (das Rätsel der Sphinx gelöst, um tyrannos zu werden) als durch den Ort, die Gegend (choros), die er erreicht hat.32 Gegenstand des Stückes ist bei Hölderlin also nicht mehr der – eine – Tod des Empedokles, sondern sein Aufenthalt in einer bestimmten Umgebung oder Umwelt, ‚auf dem Ätna‘. Und diese Gegend ist weniger der Ort, an dem sich der Tod in einem Moment vollzieht; sie ist eine Übergangszone zwischen Leben und Tod; und in ihr
28 Vgl. dazu Etzold, Jörn: „Gräser, Wolken, Wind. Die Szene der Flucht in den Empedokles-Filmen von Huillet und Straub“, in: Menke, Bettine/Vogel, Juliane (Hg.): Flucht und Szene. Berlin 2018, S. 281-304. 29 Vgl. Sattlers editorische Notiz zum dritten Entwurf in: Hölderlin, 1985, S. 883. 30 So übersetzt Hölderlin in seiner Übertragung einiger Verse des Stücks das Wort „chôros“. Vgl. Hölderlin, Friedrich: Sophokles. Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 16. Hg. von Michael Franz, Michael Knaupp und D.E. Sattler. Basel/Frankfurt a. M. 1989, S. 431 u. 433. 31 Vgl. auch Schadewaldt, Wolfgang: Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen. Bd. 4. Frankfurt a.M. 1991, S. 313. 32 Vgl. Weber, Samuel: „The Place of Death: Oedipus at Colonus“, in: ders.: Theatricality as Medium. New York 2004, S. 141-159.
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spricht Empedokles – und er spricht auf andere Weise als der zornige Ödipus, der seine Familie mit Flüchen überzieht. Empedokles ist die ganze Zeit über auf der Bühne. Obwohl Hölderlin ein viel längeres Stück plante, arbeitete er nur drei Szenen aus, gefolgt von einem Fragment gebliebenen ersten Chorlied und einem letzten Entwurf für ein Trauerspiel in fünf Akten. Im Vergleich zu den ersten beiden Entwürfen ist hier alles bereits geschehen. Empedokles gibt für seinen Wunsch zu sterben keinen Grund an; es gibt keinen nefas, keine tragische Überschreitung. Im ersten und zweiten Entwurf bestand sein Fehler darin, die Gaben der Natur als sein Eigentum zu begreifen und sich einen Gott zu nennen33 – so dass er zu einer Figur wurde, die, als Figur, abgehen musste, um ein neues Leben zu ermöglichen. Hier aber scheint es keinen Fehler zu geben. Empedokles und Pausanias wurden bereits verbannt, Empedokles hat seinen Freitod schon beschlossen. Alles, was geschieht, hat die Form einer Abschiedszeremonie – einer „cérémonie des adieux“.34 Nach Empedokles’ Monolog tritt Pausanias auf; im Dialog erinnern sie sich an ihre Verbannung aus der Stadt, und, in einem weiteren Sinne, aus der Menschheit als Ganzer. Wie Ödipus und Antigone sind sie Ausgestoßene, Flüchtlinge, doch anders als Ödipus wird Empedokles nicht als Schutzflehender in eine andere Stadt aufgenommen, und sein Leichnam wird dem Ort seines Todes kein Glück verheißen: Die ‚Gegend‘ gehört nicht zu einer Stadt so wie Kolonos als demos zu Athen gehört, es ist die „Gegend am Aetna“; der Berg, kein Gemeinwesen, wird von Empedokles als „[g]astfreundlich“35 angesprochen. An Pausanias gerichtet, beschreibt sich Empedokles als eine Figur des Übergangs: Ich bin nicht, der ich bin, Pausanias, Und meines Bleibens ist auf Jahre nicht, Ein Schimmer nur, der bald vorüber muß Im Saitenspiel ein Ton –36
Empedokles wird vorübergehen; seine Existenz in dem spezifischen Zeitraum, der Gegend genannt wird, ist nur eine ephemere. Und daher ist Empedokles
33 Vgl. Link, Jürgen: Hölderlin-Rousseau: Inventive Rückkehr. Opladen 1999, S. 203. 34 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Nach der Tragödie. Stuttgart 2008, S. 37. Für Jean-Luc Nancy ist Tragödie eine solche Zeremonie des Abschieds von den Göttern; Aufgabe der Gegenwärtigen aber sei es, eine Zeremonie des Abschieds von der Tragödie zu finden. In diesem Kontext zitiert er aus dem dritten Entwurf. 35 Hölderlin, 1985, S. 931. 36 Ebd., S. 938.
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nicht identisch mit sich selbst. Dann schickt er seinen Schüler davon, trägt ihm auf, Plato zu besuchen und zu grüßen: „Besuch ihn auch, o Sohn, und grüß ihn mir / Den alten Freund an seiner Heimath Strom.“ Und auch „die Brüder in Aegyptos“ soll sein Schüler aufsuchen: Dort hörest du das ernste Saitenspiel Uraniens und seiner Töne Wandel. Dort wird dir vieles helle seyn und groß, Und dass wir Sterblichen, so wie wir uns Vor Augen stehn, nur Zeichen sind und Bilder, Deß wirst du nimmermehr bedauern, lieber! Dort öffnen sie das Buch des Schiksaals dir.37
Eines fällt auf in dieser prophetischen Rede, die nichts weniger ankündigt als die Möglichkeit, die Endlichkeit nicht mehr zu bedauern, oder, mit dem Begriff Brechts, ein „Einverständnis“38 in sie zu erlangen:39 Im ersten Entwurf wollte Empedokles, angekommen in der Gegend, mit Pausanias „vieles reden“ 40; und auch hier, in einer Szene der Offenbarung, ist das Viele noch erhalten. Auch wenn das Buch des Lebens geöffnet wird, wird nicht alles „helle“ und „groß“ sein, sondern eben nur: „vieles“. Es ist hier also eine Offenbarung angesprochen, welche die Singularitäten nicht in einer Katastrophe vernichtet, sondern sie erhält. Pausanias geht. Doch seltsamerweise scheinen diese Worte eben einen der „Brüder“ herbeizurufen. Ein „Greis“, später im Text Manes genannt, erscheint, als sei er beschworen worden. Doch diese gespenstische Erscheinung adressiert Empedokles selbst als ein Gespenst: „Nun! säume nicht! bedenke dich nicht länger! / Vergeh! vergeh! damit es ruhig bald / Und helle werde, Trugbild!“ 41 Und als Empedokles die Erscheinung fragt, wer sie sei, antwortet sie: „Der Armen
37 Ebd., S. 940. 38 Vgl. zu diesem Begriff, der im „Badener Lehrstück“, in „Der Jasager/Der Neinsager“ und in „Die Maßnahme“ bedeutsam ist, auch Müller-Schöll, Nikolaus: „‚Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis‘. Brecht zwischen Kafka und Carl Schmitt“, in: MLN German Issue, Bd. 119, Nr. 3, 2004, S. 506-524. 39 Zum „wirklich modernen Tod“ im dritten Entwurf der Fragmente siehe auch: Lemke, Anja: „Die Tragödie der Repräsentation. Theater und Politik in Hölderlins ‚Empedokles‘-Projekt“, in: Hölderlin-Jahrbuch 2010/2011. Bd. 37. Eggingen 2011, S. 68-87. 40 Hölderlin, 1985, S. 736. 41 Ebd., S. 940.
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Einer auch / von diesem Stamm, ein Sterblicher, wie du.“42 Und dann gibt sie sich als der ägyptische Lehrer des Empedokles zu erkennen, und Empedokles, in einen Bereich zwischen die Lebenden und die Toten gestellt, antwortet: „Kein Wunder ists! Seit ich den Lebenden / Gestorben bin, erstehen mir die Todten.“ 43 Dann treten die beiden Figuren, die sich gegenseitig als „Trugbild“ und als „Todten“ bezeichnen, in einen Disput darüber ein, ob der Freitod erlaubt sei. Manes, der Lehrer, ist nicht einverstanden mit dem Entschluss des Empedokles. Er sieht darin die Entscheidung eines „Unverständigen“ und möchte, dass Empedokles nicht „unbesonnen“44 hinabgeht. Er fordert ihn auf, die Situation noch einmal zu durchdenken. Anders als Empedokles, der Charakter der Extreme, der seine Widersprüche exponiert, ist Manes ein Denker, der den Ausgleich anstrebt. Um Empedokles von seinem Entschluss abzubringen, spricht er von einer anderen Figur, die noch kommen wird, und er stellt sie mit Worten vor, die an die Prophetie von Johannes dem Täufer aus dem Markus-Evangelium erinnern: „Nach mir kommt einer, der ist stärker als ich“45. Manes sagt: „Ein größrer ists, denn ich!“46 Der Angekündigte sei der einzige, dem die „schwarze Sünde“ des freiwilligen Todes gestattet sei. Nicht nur die Anspielung auf Markus deutet darauf hin, dass Hölderlin mit den Reden des Manes auf Christus anspielt oder, genauer, auf die Rolle, die Christus in den Diskussionen seiner Zeit einnimmt: 47 Der Eine doch, der neue Retter faßt Des Himmels Stralen ruhig auf, und liebend Nimmt er, was sterblich ist, an seinen Busen, Und milde wird in ihm der Streit der Welt. Die Menschen und die Götter söhnt er aus. Und nahe wieder leben sie, wie vormals.48
42 Ebd., S. 498. 43 Ebd., S. 941. 44 Ebd., S. 942. 45 Markus 1,7 (Die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1984). 46 Hölderlin, 1985, S. 942. 47 Birkenhauer diskutiert diese Annahme kritisch in: Birkenhauer, Theresia: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles. Berlin 1996, S. 529-535; ihr zufolge stirbt der „‚neue Retter‘ – anders als Christus –, weil er die messianische Erwartung erfüllt hat, und dies bezeugt er mit seinem Tod“ (Ebd., S. 532). 48 Hölderlin, 1985, S. 942.
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Und dann fragt er Empedokles: „Bist du der Mann? derselbe? bist du diß?“ Also: Bist du die Figur der Versöhnung, welche die „wilde Zwietracht“49 heilen wird, welche die Menschheit in der Epoche des Aufruhrs heimsucht? Hölderlin projiziert diese Epoche in die Zeit des Empedokles; sie ist aber vor allem seine eigene Gegenwart, in der die Moderne geboren wird. Die wilde Zwietracht ist für die Generation Hölderlins eine erkenntnistheoretische und eine politische, und nicht nur bei Hegel werden beide miteinander verbunden: Die Radikalität des Kantianismus als Befreiung von den jahrhundertealten Dogmen setzt das transzendentale Subjekt in einen unendlichen Abstand zur Welt und unterwirft es einem rigiden Moralismus; die Französische Revolution als Befreiung der Vielen aber kehrt sich um in die Schreckensherrschaft der Tugend als abstrakter Moralität. Manes/Hegel versucht, die extremen Entgegensetzungen, die in der Figur des Empedokles nur temporär dargestellt werden können, durch die christliche Idee der Versöhnung zu heilen.
AUFHEBUNG UND B ÜHNE Von der Forschung wurde bereits mehrfach vermutet, dass in dem Gespenst des Manes ein Freund Hölderlins dargestellt wird: Hegel. 50 Manes’ christologische Theorie der Geschichte ähnelt sehr deutlich jener, die Hegel in den etwa zur gleichen Zeit entstandenen Schriften zum Geist des Christentums formuliert. Hegel entwirft dort Christus als jene Figur, die durch die Kraft der Liebe die positive Religion des Judentums überwindet, deren religiöser Geist in fetischisierten Gesetzen erstarrt sei. Dabei beschreibt er, wie Werner Hamacher in seiner Dissertation und Einleitung zu diesen Fragmenten feststellt, auch sein eigenes philosophisches Programm, um den in strikter Moralität erstarrten Kantianismus zu überwinden: „Kant ist Jude. Hegel Christus.“ 51 In den letzten Kapiteln der
49 Ebd. 50 So Bertaux, Pierre: Hölderlin und die französische Revolution. Frankfurt a.M. 1969, S. 116 sowie die Anmerkungen von Sattler in Hölderlin, 1985, S. 839. Siehe auch Jamme, Christoph: „Liebe, Schicksal und Tragik. Hegels ‚Geist des Christentums‘ und Hölderlins ‚Empedokles‘“, in: ders./Pöggeler, Otto (Hg.): „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde“. Das Schicksal einer Generation der Goethezeit. Stuttgart 1983, S. 300-324, sowie ders.: „Ein ungelehrtes Buch“. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797-1800. Bonn 1983, v.a. S. 355. 51 Hamacher, Werner: „pleroma – zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel“, Einleitung zu: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Der Geist des Christentums. Schriften 1796–1800. Frankfurt a.M./Berlin 1978, S. 11-333, hier S. 59.
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1807 erscheinenden Phänomenologie des Geistes wird die Figur des Christus dann in einer Abwandlung dieser Denkfigur die Antwort der Geschichte auf den Niedergang der griechischen Polis sein: Die „Offenbarung“ in Christus ist erst in jenem historischen Moment möglich, in dem die Polis zerfallen ist. 52 Zerfallen aber ist sie für Hegel im Theater, zunächst in der Tragödie und dann, mehr noch, in der Komödie. Während die Tragödie, für die in der Phänomenologie des Geistes Sophokles’ Antigone steht, den Zerfall der sittlichen Substanz der Polis in zwei gleichberechtigte Rechte darstellt, triumphiert in der Komödie die bloße Subjektivität, die auf der Bühne nichts weiter aufführt als ein substanzloses Spiel mit der Maske. Es ist der Schauspieler, der dieses Spiel spielt – er schiebt sich in den Vordergrund als Mensch aus Fleisch und Blut, dessen Körpertätigkeiten nicht selten Gegenstand der Komödie sind. Als ein solcher Mensch aus Fleisch und Blut amüsiert er sich über den tragischen Ernst, über die Substanz der Polis und über die Götter. So ist die Sittlichkeit übergegangen in den abstrakten Rechtszustand; das Subjekt aber zeigt sich als komischer Schauspieler. In diesem historischen Moment erscheint Christus: Hegel, so Hamacher an anderer Stelle, lässt keinen Zweifel daran, dass nur die komische Verwüstung der Substanz in Verbindung mit der unglücklichen Verwüstung des Subjekts den einen persönlichen Gott, den Gott in persona und damit überhaupt erst den wirklichen Begriff von Subjekt und Substanz, hervorbringen konnte.53
Für Philippe Lacoue-Labarthe aber bringt dieses christologische Modell eine große Gefahr mit sich. Auch wenn Christus, wie Hamacher nahelegt, der Erbe des Komödienschauspielers ist, so steigt er doch von der Bühne, um eine wirkliche Versöhnung in dieser Welt zu stiften. Er überwindet die Szene. Am Ende der Poetik der Geschichte, dem dichten Resümee seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Konzeption der katharsis, weist Lacoue-Labarthe kryptisch auf diesen Zusammenhang hin. In einer minutiösen Rousseau-Lektüre hatte er zuvor die Idee des republikanischen Fests aus dem Brief an Herrn d’Alembert als Wiederaufnahme der griechischen Tragödie entziffert, unter freiem Himmel, im Wettstreit, als Kult der Freiheit: Doch sei dies eben „die griechische Tragödie
52 Vgl. Hegel, 2001, S. 495-574 („Die Religion“). 53 Hamacher, Werner: „(Das Ende der Kunst mit der Maske)“, in: Bohrer, Karl Heinz (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. Frankfurt a.M. 2000, S. 121-155, hier S. 154.
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abzüglich der Szene“.54 Rousseau entwerfe, so Lacoue-Labarthe, ein Theater vor dem Theater, dessen Idee vor allem die deutsche Philosophie seit dem deutschen Idealismus heimsuchen wird: ein Theater ohne Repräsentation, das die Reinigung, die katharsis, ohne die mimesis, ohne Darstellung und Bühne, ins Werk zu setzen versuche. Doch fügt Lacoue-Labarthe wenig später, in Auseinandersetzung mit dem zehnten von Schellings „Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus“ hinzu, dass in dieser Idee eine große Gefahr liege, da „ jede Verleugnung der (Re)präsentation den Schrecken erzeugt“.55 Eine katharsis ohne mimesis: Dies wäre der Schrecken; dies wäre, so ließe sich ausführen, was Lacoue-Labarthe nicht sagt, die Phantasie einer realen Reinigung des Volkes – oder welches politischen Körpers auch immer. In diesem Zusammenhang montiert Lacoue-Labarthe zwei Hegel-Zitate, unter der Vorannahme, dass „die tragische Modellbildung des spekulativen Gedankens […] im Grunde nur die gestrenge Aufhebung (relève) des instabilen und unwahrscheinlichen rousseauschen Festes ist, dem es eben gerade nicht gelang, die Szene, das Theater, kurz die unaufhebbare mimesis aufzuheben“56. Hegel also versucht, das aufzuheben, was auch in Rousseaus Fest noch Theater ist: Und er tut dies in der Figur des Christus. Denn das erste Zitat ist ein Ausschnitt aus einer Lektüre der Eumeniden aus der Schrift Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, in der Hegel erklärt, die Kraft des Opfers bestehe darin, dass das „Lebendige“ das „Unorganische“ abtrenne und somit „dessen Recht zugleich anerkannt und zugleich sich davon gereinigt hat“. Es geht also um die katharsis. Und Hegel fährt fort: „Es ist dies nichts anderes als die Aufführung der Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt“57. Die katharsis also ist, wie bei Aristoteles, angebunden an die mimesis, die ewige, aber immer wieder aufs Neue notwendige Aufführung einer Tragödie. Wenig später aber, in der berühmten Passage aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes, in der Hegel das Verweilen beim Negativen als jene „Zauber-
54 Lacoue-Labarthe, Philippe: Poetik der Geschichte. Berlin 2004, S. 109. 55 Ebd., S. 123. Vgl. dazu auch: Etzold, Jörn: „Armes Theater“, in: Meyzaud, Maud (Hg.): Arme Gemeinschaft. Die Moderne Rousseaus. Berlin 2015, S. 50-74. 56 Lacoue-Labarthe, 2004, S. 123f. 57 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: „Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften“, in: ders.: Jenaer Schriften 1801-1807. Werke. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1986, S. 434-530, hier S. 495. Zit.n. Lacoue-Labarthe, 2004, S. 124.
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kraft“ beschreibt, „die es in das Sein umkehrt“,58 ist die Bühne verschwunden. Hörbar werde, so Lacoue-Labarthe, derselbe „Triumphalismus“, aber abzüglich der Erinnerung an die Bedingungen des Theaters oder der mimesis. Der Grund ist, daß […] das christlich-lutherische Modell des ‚Gott selbst ist tot‘ […] im Wettstreit mit dem Mythos des Phönix hervortritt und am Vorabend des ‚absoluten Wissens‘ das tragische Modell ersetzt hat.59
Lacoue-Labarthe kommentiert diese Stelle nicht weiter. Ihr folgt nur ein letzter Hinweis auf Bataille, der im Opfer eine Komödie entdeckte. Deuten lässt sich die Montage indes wie folgt: Indem Hegel das Modell der Tragödie durch das Modell Christi ersetzt – des Sohnes Gottes, der zum Mensch aus Fleisch und Blut wird, leidet und stirbt und in seinem Leiden die Menschheit erlöst – versucht er, die Aufhebung, die der Idee des rousseauschen Festes entstammt, zu reinigen – vom Theater zu reinigen, von der mimesis und somit auch von der Szene. Der Übergang vom tragischen ins christologische Modell wäre der fatale Umschlagpunkt in Hegels Denken, an dem jenes die Szene verlässt, um eine unendliche, sich auf jeder Stufe des Geistes erneuernde katharsis im wirklichen Vollzug der Geschichte zu behaupten.60 Hölderlin aber stimmt der Aufhebung, die Hegel konzipiert, nicht zu. Ohnehin ist Christus für ihn nur einer der großen drei Halbgötter der Antike neben Herkules und Dionysos/Bacchus (vgl. „Der Einzige“61), von dem er, so in „Brod und Wein“, teilweise kaum unterschieden werden kann. Er ist „das Ende“62 der antiken Welt, aber nicht jener Angelpunkt der Weltgeschichte, dessen Erscheinen zugleich jede Bühne überwindet. Dass das Theater in Hölderlins Schreiben nicht in einer Geschichtsphilosophie verrechnet werden kann, ist auch in seinem Verständnis des Zeitraums begründet: Hölderlins späte Dichtung insistiert stets auf spezifischen, singulären Örtlichkeiten (dem Oberlauf der Donau, dem Pass in den Alpen, der Insel Patmos); und ebenso insistiert sie auf der Örtlichkeit der Bühne, auch wenn sie jene entscheidend verändert.
58 Hegel, 2001, S. 36. Zit.n. Lacoue-Labarthe, 2004, S. 125. 59 Lacoue-Labarthe, 2004, S. 125. 60 Vgl. dazu auch: Schäfer, Martin Jörg: Szenischer Materialismus. Dionysische Theatralität zwischen Hölderlin und Hegel. Wien 2003, insbesondere S. 192. 61 Hölderlin, Friedrich: „Der Einzige. [vorläufige reinschrift]“, in: ders.: Gesänge. Frankfurter Ausgabe. Bd. 7 u. 8 (durchgehende Paginierung). Hg. von D. E. Sattler. Frankfurt a.M./Basel 2000, S. 788-790. 62 Ebd., S. 790.
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Denn Hölderlin verwandelt den Disput zwischen ihm und seinem alten Freund, dem ein Disput zwischen Dichtung und Philosophie unterlegt ist, in eine Theaterszene. Jene ist keine Phänomenologie des Geistes, sondern ein Dialog der Geister oder Gespenster in einer Region zwischen Leben und Tod: in einer Gegend, die zugleich ein eigentümlicher, künftiger Bühnenraum ist. Auf dieser Bühne – der zu Hölderlins Zeit keine reale Bühne entsprach – antwortet Empedokles seinem Lehrer Manes und seinem christologischen Modell, indem er sich selbst als eine andere Figur beschreibt. Er ist nicht der „Eine“, der die Versöhnung bringt, und er ist auch nicht der Täufer, der jenem Einen vorausgeht: Er ist einzig eine transitorische Figur, die den Schwanengesang einer Zeit und eines ‚Landes‘ singt, die zu ihrem Ende gekommen sind. Abermals spricht Empedokles vom Volk: „Wie Wasser, schlug die wilde Menschenwelle / Mir an die Brust, und aus dem Irrsaal kam / Des armen Volkes Stimme mir zum Ohre“; eine Stimme, in der „der Aufruhr weheklagt“.63 In den „Anmerkungen zur Antigonä“ wird der Begriff des Aufruhrs wiederkehren: Die Zeiten, in denen Empedokles lebt, sind revolutionäre Zeiten. Empedokles deutet diesen Aufruhr auf radikale Weise: „Es war der scheidende Gott meines Volks!“64 Gott zieht sich zurück, hinterlässt eine Welt, in der die Menschen nunmehr allein unter sich sind; doch ist kein Versöhner in Sicht, der die Menschen und die Götter wieder dazu bringen kann, „nahe“ zu leben „wie vormals“. Empedokles berichtet vielmehr, wie er, als er das Weheklagen des Aufruhrs hört, hinab aus seiner „Halle“65 steigt, und „[d]es hellen kräftgen Morgens eingedenk“ „freie veste Bande“66 mit dem Volk knüpft. Und so erkennt er seine Aufgabe: Denn wenn ein Land ersterben soll, da wählt Der Geist noch Einen sich zulezt, durch den Sein Schwanensang, das lezte Leben töne. Wohl ahndet ichs, doch dient’ ich willig ihm. Es ist geschehn. Den Sterblichen gehör ich Nun nimmer an. O Ende meiner Zeit!67
Und nachdem er dies gesagt hat, beschwört er ein Gewitter herauf, das Zeus ihm um Mitternacht schicken werde und er dankt den „Genien“ und „Fernentwerfen-
63 Hölderlin, 1985, S. 943. 64 Ebd., S. 944. 65 Ebd., S. 943. 66 Ebd., S. 944. 67 Ebd.
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den“, „daß ihr mirs / Gegeben habt, die lange Zeit der Leiden / Zu enden hier, befreit von andrer Pflicht / In freiem Tod, nach göttlichem Geseze!“ 68 Manes evoziert also eine Figur der Versöhnung, die – so Lacoue-Labarthe – in Hegels Philosophie letztlich das Modell der Aufführung und der Bühne überwinden soll, um das Theater als ein bloßes Moment in eine Geschichte einzureihen, die erst im Denken, im absoluten Wissen, zu sich gekommen sein wird. Empedokles hingegen spricht auf einer Bühne aus, wer er ist: auf einer Bühne allerdings, die seit den ersten Entwürfen dieses Stückes verwandelt wurde. Sie ist keine Bühne der politischen Repräsentation mehr, sondern eine Gegend, ein choratischer Raum der Ankunft, aber nicht des Bleibens: ein Raum, in dem die Figuren angekommen sind und der selbst ankommt, im Kommen ist. Empedokles hält sich in diesem Raum als Wesen auf, das zwischen die Lebenden und die Toten gestellt ist. Das Sprechen von dieser Position aus aber ist etwas anderes als jenes Verweilen beim Negativen, welches jenes in das Sein umzukehren imstande sein soll: ganz einfach zunächst deswegen, weil es ein Sprechen von einer Position aus ist. Die Singularität des Ortes bleibt bestehen und wird nicht in einer Bewegung aufgehoben, die auf das absolute Wissen zuläuft. Der Ort wird nur vorübergehend und transitorisch von den Figuren eingenommen, die dann wieder verschwinden. Diese Worte des Empedokles sind beinahe die letzten im gesamten Projekt. Ihnen folgt ein kurzer Versuch mit einem Stilmittel, das Hölderlin hier zum ersten Mal überhaupt verwendet: der Stichomythie, durch die der Konflikt, der im „Grund zum Empedokles“ als Form des dramatischen Kunstwerks bezeichnet wurde, eine Darstellung bekommen sollte. Manes und Empedokles traktieren sich mit je drei fünffüßigen Jamben. Dann schickt Empedokles seinen Lehrer fort und verspricht: „wenn dort der Tag / Hinunter ist, so siehest du mich wieder“69. Das Blatt bricht hier ab. Auf der Rückseite verzeichnet Hölderlin die neuen dramatis personae. Neben Empedokles, Pausanias, Manes, dem Bruder und der Schwester des Empedokles sowie einem unbestimmten „Gefolge“ findet sich hier an letzter Position: „Chor der Agrigentiner“.70 Für jenen Chor scheint das Fragment geschrieben zu sein, das auf dem folgenden Blatt notiert ist. In der griechischen Tragödie wäre es die Parodos, das Lied, mit dem der Chor in das Theater einzieht; wir erleben hier also den ersten Einzug des Chores in das Theater Hölderlins. Überschrieben ist der Gesang mit den Worten „Neue Welt“71 –
68 Ebd., S. 945. 69 Ebd., S. 946. 70 Ebd., S. 518. 71 Ebd., S. 946.
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verso steht an gleicher Stelle „Zukunft“72. Mit einigem Abstand folgen diese Verse: und es hängt, ein ehern Gewölbe der Himmel über uns, es lähmt Fluch die Glieder den Menschen, und ihre stärkenden, die erfreuenden Gaaben der Erde sind, wie Spreu, es spottet unser, mit ihren Geschenken die Mutter und alles ist Schein – O wann, wann öffnet sich die Fluth über der Dürre. Aber wo ist er? Daß er beschwöre den lebendigen Geist73
Der Chor klagt. Seine Klage erinnert an zahlreiche Chöre der Antike, vor allem aber an die Parodos von Ödipus Tyrannos, in dem es – in Hölderlins Übersetzung – unter anderem heißt: „Die armen aber, die Kinder, / am Felde tödtlich liegen / Sie unbetrauert“74. Der Chor beklagt einen aus den Fugen geratenen Kosmos. Der Himmel hängt über ihm als „ein ehern Gewölbe“; er eröffnet keine Transzendenz, sondern scheint, in seiner leeren Wolkenlosigkeit, berührbar zu sein: Bei Büchner wird dieses Sprachbild an mehreren Stellen wiederkehren. 75 Die Erde aber, die zugleich „Mutter“ genannt wird, ist unfruchtbar: Ihre Gaben sind wertlos. Das Wasser fehlt, der Regen, der das Leben und die Erneuerung – die „Neue Welt“ – bringt. Doch der Chor endet mit zwei Fragen: „Wann […] öffnet sie sich / Die Fluth […]“? Und: „Aber wo ist er?“ – Wer ist hier gemeint? Der Erlöser, den Manes beschwor? Oder der Chor selbst, der nur dieses einzige Mal auftritt, klagt, und dessen Gesang mit diesen Worten ebenso abbricht wie das gesamte Projekt? Hölderlin wird die Suche nach dem hier so ephemer auftretenden Chor der Moderne fortsetzen; in den vaterländischen Gesängen, die oft einen jeweiligen Zeitraum besingen, die Passagen in ihm – das Fließen der Ströme, die Siedlun-
72 Ebd., S. 947. 73 Ebd., S. 946. 74 Hölderlin, 1989, S. 99. 75 Nur ein Beispiel: „Die Himmelsdecke mit ihren Lichtern hatte sich gesenkt, ich stieß daran, ich betastete die Sterne, ich taumelte wie ein Ertrinkender unter der Eisdecke. Das war entsetzlich Danton.“ Büchner, Georg: Dantons Tod, in: ders.: Dichtungen. Sämtliche Werke. Bd. 1. Frankfurt a.M. 2006, S. 11-90, hier S. 80.
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gen, die an ihnen entstehen –, Gesänge, welche die verschiedenen Orte Europas feiern, in ihrer Übertragung von der Antike in die Moderne, in einem Chor der Menschen, der Tiere, des Wasser, der belebten und unbelebten Natur. Hölderlin wird diesen Chor nicht finden; die Gesänge sind uns überliefert als palimpsestartige Texte, kaum zu entziffern, vielfach überschrieben, korrigiert, abgewandelt; ein Geflecht aus Buchstaben, das auf die fehlenden Stimmen dieses Chores verweist. Auch die Gesänge sind Denken auf einer – kommenden oder vielleicht ganz unmöglichen – Bühne, der Bühne des Chores, der auf neue Weise Raum besingt.76 Im Empedokles sind das Denken und die Bühne auf eine besondere Weise verbunden: Dass ein Philosoph auftritt, der eigentlich auf der Bühne nichts zu suchen hat (weil er in seinem Garten bleiben möchte), ein Philosoph, der sich durch seinen Auftritt derart in die politisch-theologischen Intrigen verstrickt, dass er von der Bühne der Polis abzutreten hat – „[r]ücklings hinab ins bodenlose Dunkel“77. Dies ist nicht Ausdruck der defizitären Dramatik des Textes oder, anders gesagt, seiner fehlenden Eignung für das Theater. Denn die Bühne wird im weiteren Verlauf verwandelt, so dass der Denkende auf ihr auftreten und sprechen kann: Sie wird zur Gegend, zu einem choratischen Raum des Möglichen, des Künftigen und des Abschieds. Und als solche wird sie Schauplatz für einen Dialog, der nicht einfach der Dialog von Schüler und Lehrer und auch nicht der zweier Freunde ist. Auf dem Spiel steht eine Alternative: Zwischen dem Aussprechen einer Idee der Aussöhnung, einem Primat der Philosophie, welche sich an der Figur des Christus bedient, und einem anderen Auftritt, bei dem Mysterien- und Osterspiele vielleicht – im antiken Gewand – aufgenommen, aber doch verwandelt werden. Denn die Zuschauer erleben keinen Opfertod des Philosophen – Empedokles’ Rede und der Abgang, den er ankündigt, haben auch nichts mehr von der Suche nach dem All-Einen. Sie hören ein Eingeständnis der Singularität der endlichen Wesen und der Orte. Dieses Denken ist von der Bühne nicht zu trennen; aber es verwandelt die Bühne. Bühnen eines solchen Denkens werden sich nach Hölderlin viele finden; nicht nur bei Brecht, sondern vielfach in einem nüchternen Theater; aber auch überall dort, wo ein Denken anerkennt, dass es selbst stets je seine Zeit und seinen Ort hat.
76 Vgl. Etzold, Jörn: „Erde, Ströme, Chöre. Von Hölderlin zu Jelinek/Beier“, in: Annuß, Evelyn (Hg.): Themenheft: kollektiv auftreten. Forum Modernes Theater. Tübingen 2017, S. 40-55. 77 Hölderlin, 1985, S. 714.
Zur Dekonstruktion der Bühne bei Antonin Artaud Timo Ogrzal
[...] retrouver la notion d’une sorte de langage unique à mi-chemin entre le geste et la pensée.1
„ INFOLGE DER ABSCHAFFUNG DER B ÜHNE “ 2 Antonin Artaud war ein Denker der Bühne par excellence. Er war darin radikal, da er sein Denken nicht auf ein Denken auf der Bühne beschränkte, sondern von der Bühne zu einem Denken der Bühne voranschritt. Dies impliziert eine tiefgreifende Auseinandersetzung, Infragestellung und Überschreitung dessen, was sich Artaud im Hinblick auf seine Zeitgenossen und im Rahmen seiner Wahrnehmung der Geschichte der Institution Theater als Denken der Bühne darlegte. Greifbar wird bei Artaud das avantgardistische Projekt eines DarüberhinausWollens, das in Form einer erneuerten Bühnensprache das entfremdete und entfremdende, auf Dialog und Vermittlung fixierte Sprechtheater überwindet. Damit korrespondiert auf der materiellen und technischen Ebene des Denkens eines anderen Raumes die Dynamik eines Darunterhinaus-Wollens, die das Subjektil, also den materiell-medialen Träger der Bühne im klassischen Sinne angreift.3 War die Bühne in der Geschichte des Theaters immer auch ein symbolischer Ort
1
Artaud, Antonin: „Le Théâtre et son Double“, in: ders.: Œuvres. Hg. von Évelyne Grossmann. Paris 2004, S. 505-599, hier S. 558.
2
Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double, übers. von Gerd Henninger. München 1996, S. 135.
3
Vgl. Derrida, Jacques: „Das Subjektil ent-sinnen“, in: ders./Thévenin, Paule: Antonin Artaud: Zeichnungen und Portraits. München 1986, S. 49-110.
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und das Zeichen einer Gründung und Versammlung, um eine Gemeinschaft zu konstituieren (nicht zuletzt in architektonischer Hinsicht, wenn sie als Zentrum eines entsprechenden Baus begriffen wurde), so dekonstruiert Artauds Denken der Bühne eben genau diese konstitutiven Elemente der westlichabendländischen Theaterästhetik. Die Folge dieser Auflösung ist allerdings kein bloßer Fehl oder eine Leerstelle, sondern ganz im Gegenteil eine hybride Multiplikation der Potentialität dessen, was für Artaud eine Bühne werden kann. In diesem Sinne kann für ihn eine Bühne des Theaters der Grausamkeit auch ein Gedicht oder eine Zeichnung, ein Film, ein Naturraum oder ein Hörspiel werden.
R AUM JENSEITS DER B ÜHNE In seinem 1932 verfassten Manifest Das Theater der Grausamkeit diagnostiziert Antonin Artaud eine Entfremdung des Theaters von seinen eigenen authentischen Ansprüchen, Darstellungs- und Wirkungsweisen. Entgegen einer attestierten Dominanz des gesprochenen Textes auf der Bühne unterstreicht er im Horizont magisch-alchemistischer und mythischer Wirkmächtigkeit den „körperlichen Charakter“4 und das Verlangen nach einem „Ausdruck im Raum“5 als wesentliche Aspekte des Theaters. Eine Wiederbelebung dieser ureigenen theatralen Kraft verbindet sich für ihn mit dem Projekt einer Wiedergewinnung der eigenen Sprache des Theaters, die das In-Szene-Setzen von authentischen Inszenierungen gewährleistet, um sich ebenso in Form solcher Inszenierungen auszusprechen. Die in Frage stehende eigene Sprache des Bühnengeschehens diktiert demnach als maßgebende Instanz den szenischen Rhythmus und drückt sich ebenso im Vollzug der Inszenierung aus. Was ist dies für eine Sprache und welche spezifische Relation zum Raum wird ihr zugeschrieben? Dazu schreibt Artaud: „Anstatt auf Texte zurückzugreifen […] kommt es vor allem darauf an, die Unterwerfung des Theaters unter den Text zu durchbrechen und den Begriff einer Art von Sprache zwischen Gebärde und Denken wiederzufinden.“6 Diese „Art von Sprache zwischen Gebärde und Denken“ ist ihrer Form nach durch eine entscheidende Relation zum Raum bestimmt. In diesem Sinne heißt es: „Diese Sprache ist nur durch die Möglichkeiten des dynamischen Ausdrucks im Raum zu definieren, die den Ausdrucksmöglichkeiten mittels des dialogischen Worts entgegengesetzt sind.“ 7 Die projizierte
4
Artaud, 1996, S. 95.
5
Ebd.
6
Ebd.
7
Ebd.
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Wiederentdeckung der Körperlichkeit und Räumlichkeit diktiert in diesem Sinne diese andere Sprache der Inszenierung, die für Artaud ebenso eine authentische Näherung an das Leben verspricht. In diesem Sinne heißt es etwas später im Kontext einer Schrift aus seiner Mexiko-Reise im Jahr 1936: Das Theater ist eine Kunst des Raumes, und indem es auf den vier Punkten des Raumes lastet, wagt es die Berührung mit dem Leben. In einem vom Theater besessenen Raum finden die Dinge zu ihrer Gestalt, und unter der Gestalt zum Geräusch des Lebens. […] Indem es den Raum ausfüllt, treibt es das Leben in die Enge und zwingt es, aus seinen Schlupfwinkeln hervorzukommen. 8
Solche Ausführungen stehen im Zeichen einer kulturkritischen Perspektive auf die Entwicklung der westlich-abendländischen Zivilisation. Dieser schreibt Artaud eine grundlegende Entfremdung von den authentischen Kräften des Lebens zu. Im Hinblick auf eine Sprache und ihre Wörter, die auf die einfache Nachahmung und Übermittlung eines kommunikativen Kerns – im Sinne dieser Entfremdung – reduziert erscheinen, skizziert Artaud einen einschreitenden und operierenden Zugriff sowie einen inszenatorischen Umgang mit dem Wort. Beide Aspekte implizieren eine Verräumlichung und Verkörperung, um darin die Reduktion auf eine gebannte, allzu gehegte und begrenzte Bühnensprache zu vermeiden. Das Wort wird somit zur Chiffre einer Zeichensprache und die zentrierte Bühnensprache wird in eine Vielzahl von inszenatorischen Ding- und Aspektsprachen hybridisiert (Requisite, Licht, Masken, Musik, Tanz, Ton/Geräusch, Gebärden). Eine solche hybride Sprache der mise en scène vermag es, das Theater wieder an seine mythischen und rituellen Ursprünge und Kräfte anzunähern. Impliziert ist demnach ein Rekurs auf Kultur- und Naturräume, die das abendländische Denken und seine Begriffe von Vorstellung, Repräsentation, Perspektive und Raumordnung in Frage stellen. All dies kulminiert in Artauds Plädoyer für eine radikale Umordnung der architektonischen Anlage des Theaterraums in Form einer Einebnung der Grenzen zwischen dem Bühnen- und dem Zuschauerraum9 mit dem Ziel, „den Raum sprechen zu lassen“10. Dadurch soll die ursprüngliche und mythische Kraft des Theaters im Sinne einer radikalen Kraft des Lebens zu Tage treten.
8
Artaud, Antonin: „Das Theater und die Götter“, in: ders.: Mexiko. Die Tarahumaras – Revolutionäre Botschaften – Briefe. Hg. von Bernd Mattheus. München 1992, S. 163172, hier S. 169. (= Artaud, 1992a)
9
Vgl. Artaud, 1996, S. 102f.
10 Ebd., S. 105.
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Die spezifische Verfasstheit dieses szenischen Rhythmus, der von dieser anderen Bühnensprache eines Ausdrucks im Raum ausgelöst und vollzogen wird, unterstreicht Artaud in den Ausführungen in seinem zweiten Manifest zum Theater der Grausamkeit.11 Darin skizziert er eine totale Mobilmachung des gesamten inszenatorischen Raums und eine Aktualisierung der mythischen Kraft des Theaters durch ein mit höchster Präzision komponiertes permanentes Kontinuum in Form einer wechselseitigen Durchdringung und medialen Übertragung von unterschiedlichsten Sinneseindrücken. Die materielle Dimension des Raumes erscheint damit vollständig inszenatorisch bearbeitet, sodass daraus eine bestimmte und gerichtete Wirkmächtigkeit und Korrespondenz mit dem Geist und der allgemeinen Sensibilität des Zuschauers erzielt wird. Die Mobilmachung des materiellen Raums korrespondiert mit der Eroberung des inneren Raums der Imagination und Sensibilität. Dies basiert auf der „echten körperlichen Sprache“12, welche die Wortsprache in eine chiffrierte Zeichensprache überträgt. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass diese (intermediale) Übertragungsbewegung im Rahmen eines szenischen Rhythmus nicht im Horizont der einfachen Nachahmung oder einer Spiegelung abstrakter Gleichheitsverhältnisse verortet wird. Es ist vielmehr die von den beteiligten Medien gemeinsam geteilte Dissonanz, die den von Artaud projizierten Bilderstrom einer szenischen Raumdynamisierung zu entfachen vermag: Diese Mittel, die aus Farb-, Licht- und Klangintensitäten bestehen, die die Schwingung, die Vibration, die Wiederholung eines musikalischen Rhythmus oder eines gesprochenen Satzes nutzen, die die Tonart oder die mitteilende Umhüllung durch eine Beleuchtung sich beteiligen lassen, können ihre volle Wirkung erst durch die Anwendung von Dissonanzen erzielen. / Doch statt diese Dissonanzen auf den Einflußbereich nur eines Sinnes zu beschränken, werden wir sie von einem Sinn zum anderen, von einer Farbe auf einen Klang, von einem Wort auf eine Beleuchtung, von einer Vibration von Gebärden auf eine glatte Tonart von Klängen usw. übergreifen lassen. / Das so komponierte, so konstruierte Schauspiel wird sich infolge der Abschaffung der Bühne auf den ganzen Theaterraum erstrecken […].13
11 Vgl. ebd., S. 131-137. 12 Ebd., S. 133. 13 Ebd., S. 134f.
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N ATURTHEATER M EXIKO UND DIE K RÄFTE VOR / JENSEITS DER B ÜHNE Der Naturraum Mexikos wird Antonin Artaud zu solch einem Projektionsraum im Rahmen seiner Suche nach unverfälschten Erfahrungen von Intensitäten. Dies schlägt sich im Kontext seiner Schriften über seine zehn Monate währende Mexiko-Reise im Jahr 1936 nieder. Verstört durch sein über zehn Jahre währendes Wirken als Dichter, Theater- und Filmschauspieler, getroffen vom Bruch mit der surrealistischen Gruppe, die im Zuge ihres Bekenntnisses zu einem materialistischen Kommunismus den Begriff des Geistes im Sinne einer energetischen Lebenskraft verabschiedet, und aufgerieben von der erstarrten politischen Situation in Europa, in der sich das demokratische Freiheitsideal in den Ideologien des Faschismus und des Kommunismus zusehends verflüchtigt, wird der artaudschen Kritik und Revolution des Theaters und des abendländischen Repräsentationsdenkens Mexiko zur Eröffnung eines Denkraumes. In den mexikanischen Riten des Indianerstammes der Tarahumaras, beispielsweise im Rausch des Peyotl (ausgelöst durch eine Droge, die aus dieser Kaktuspflanze gewonnen werden kann) und dem dazugehörigen Tanz, vernimmt Artaud eine energetische Lebenskraft, die er für sein Theater als eine „Kunst des Raumes“ 14 durch die Wirkmächtigkeit der Gebärde, der Bewegung und des Geräusches produktiv machen möchte. So wäre die von Artaud kritisierte Bindung des Theaters an ein Textkorpus, welches das theatrale Geschehen im Rahmen einer „Diktatur des Wortes“15 dominiert und bannt, gebrochen.16 In der mexikanischen Götterwelt sieht Artaud überdies die Überwindung des in Europa bloß verdinglichend verund berechneten Bezirks des modernen Menschen und seiner „Merkwelt“17 hin zu einer elementaren und magischen Lebenskraft, die alles Menschliche erst in ihr Geschick stellt. Ein Gespür für diese elementare Kraft ist demnach die erste Forderung, um eine Wiedereroberung des menschlichen Körpers mitsamt seiner lebendigen Kulturformen aus dem Geist des artaudschen Theaters der Grausamkeit zu vollziehen. In Frage steht damit eine Sensibilität für die Vibration und Musikalität ritueller Lebensformen und eine Überführung des abendländischen Texttheaters in ein poly- und heterophones Mysterienspiel, das mit der mystisch
14 Artaud, 1992a, S. 169. 15 Artaud, 1996, S. 42. 16 Vgl. Artaud, 1992a, S. 169. 17 Benjamin, Walter: „Lehre vom Ähnlichen“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2.1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 204-210, hier S. 206.
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ursprünglichen Kraft der Atmung verschmelzen möge. 18 Des Weiteren bedarf es einer Dramaturgie des Lichtes, die nicht länger bloß Dinge auf der Bühne beleuchtet, sondern mit ihrer Kraft der „Illusion oder Desillusionierung“19 selbst einschreitet, um die Bühne im Sinne eines theatralen Wahrnehmungsraumes zu überschreiten, der nicht länger im Dualismus von Bühne und Zuschauerrang gebannt erscheint.20 All dies sind Grundgedanken und Forderungen eines in Frage stehenden Theaters der Grausamkeit, das die Überwindung der Textfixierung des Theaters und die von Artaud behauptete und empfundene grundlegende Entfremdung des abendländischen Denkens der Repräsentation in den Grenzen einer mimetologischen Nachahmung21 durch eine Aufdeckung des tönenden und vibrierenden Wortes, der wahren und eigentlichen Poesie des Schauspiels verfolgt.22 In diesem Sinne fordert Artaud vom Künstler ein Wissen um „das Energetische des Weltalls“23. Fluchtpunkt dieses Wissens ist eine Magie. Darin artikuliert sich ein Projekt der Wiedereroberung des kulturellen Geheimnisses von Mexiko, das gleichsam eine Neuerfindung des Menschen im Sinne eines „,Katalysator(s) des Weltalls‘“24 vollzieht. Jenseits einer religiösen Bindung soll eine „dynamische[…] Erforschung des Weltalls“25 eine Lebenserfahrung eröffnen, die sich nicht länger in den Grenzen eines Dualismus des Körperlichen und des Geistigen bestimmen lässt. Diese „Wirkungskraft“ 26, die zwiefältig erscheint, da sie den Körper-Geist-Dualismus nicht schlichtend aufhebt, sondern vielmehr in einer doppelten Polung austrägt, um körperliche wie geistige Effekte zu entfachen, führt Artaud zur (von ihm vernommenen und proklamierten) Annäherung an den magischen, alchimistischen Ursprung der mexikanischen Kultur. Fluchtpunkt ist dabei eine „einheitliche[…] Energie“, die den Weltzusammenhang diktiert: „Da
18 Vgl. Artaud, 1996, S. 139-147. 19 Artaud, Antonin: „Eine Medea ohne Feuer“, in: ders., 1992, S. 203-207, hier S. 205. (= Artaud, 1992b) 20 Vgl. Artaud, 1996, S. 91. 21 Vgl. Derrida, Jacques: „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation“, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché. Frankfurt a.M. 1997, S. 351-379, hier S. 353f. 22 Vgl. Artaud, 1996, S. 40/41; 89-93; 95-107; 131-137. 23 Artaud, Antonin: „Die junge französische Malerei und die Tradition“, in: ders., 1992, S. 208-212, hier S. 210. (= Artaud, 1992c) 24 Artaud, Antonin: „Warum ich nach Mexiko gekommen bin“, in: ders., 1992, S. 216221, hier S. 220. (= Artaud, 1992d) 25 Ebd. 26 Ebd., S. 221.
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finden wir, in Stein gehauen, die hieroglyphische Darstellung einer einheitlichen Energie, die über das Kreuz des Raumes, das heißt auf dem Weg über die vier Himmelsrichtungen, vom Menschen zum Tier und zu den Pflanzen führt.“27 Diese elementare Lebenskraft möchte Artaud über sein Theater der Grausamkeit, das er in den Riten Mexikos als ursprüngliche Lebensform realisiert sieht, (wieder-)erobern, um somit einen „Aspekt“28, d.h. einen Gesichtspunkt auszubilden. Der Begriff des Aspektes fällt in diesem Sinne häufig in den Schriften Artauds. Die Verwendung dieses Begriffs verweist darauf, dass Artauds Überschreitungsversuche im Denken der Bühne auch die Art und Weise des Sehens und dasjenige, was inszenatorisch zum Sehen gebracht wird, betrifft. Mit diesem Begriff attackiert er den Raum der abendländischen Repräsentation, die darin aufgespannte ‚Zeit des Weltbildes‘ und die Zeit als Weltbild.29 Als DenkZeitgenosse, dessen Lebenswandel wohl kaum unterschiedlicher hätte sein können, akzentuiert Martin Heidegger ganz im Sinne Artauds die Begrenzungen, die aufgrund der Bindung an das menschliche Vorstellen eingegangen werden, um diesen Vorannahmen entsprechend eine Weltsicht einzurichten. In diesem Sinne heißt es in Die Zeit des Weltbildes aus den Jahren 1938/1953 repräsentationskritisch: Vor-stellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden zu, beziehen und in diesen Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen. Wo solches geschieht, setzt der Mensch über das Seiende sich ins Bild. Indem aber der Mensch dergestalt sich ins Bild setzt, setzt er sich selbst in die Szene, d. h. in den offenen Umkreis des allgemein und öffentlich Vorgestellten. Damit setzt sich der Mensch selbst als die Szene, in der das Seiende fortan sich vor-stellen, präsentieren, d. h. Bild sein muß. Der Mensch wird der Repräsentant des Seienden im Sinne des Gegenständigen. 30
Doch inwiefern ruft der Begriff des Aspektes diese Kritik des Repräsentationsdenkens ab? Fast dreißig Jahre nach Artaud streift Michel Foucault in einer seiner literaturtheoretischen Arbeiten zu (damalig) zeitgenössischen Tendenzen des nouveau roman die grammatische Dimension des Aspektes und entwirft daran eine poetologische Wendung, die auf Artauds Repräsentationskritik bezogen
27 Ebd. 28 Ebd. 29 Vgl. Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“, in: ders.: Holzwege. GA Bd. 5. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1977, S. 75-113. 30 Ebd., S. 91.
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werden kann.31 Anspielend auf den grammatischen Begriff des Aspekts als eine verbale Kategorie, die neben der reinen Zeitstufe die Art und Weise angibt, wie man einen Vorgang betrachtet, betont Foucault den Einsatz einer anderen „Verteilung der Zeit“32, die nicht den chronometrischen Regeln der Linearität und Sukzession folgt, sondern in Form von „anderen Regeln“ 33 organisiert erscheint. Diese andere Verteilung wird von Foucault als eine Potentialität und Spieldimension der écriture beschrieben. Es handelt sich folglich um die Beziehungen, welche die Schrift als Bühne der in ihr angelegten Schreibverfahren zur Darstellung kommen lässt. Sie folgt nicht den Regeln einer chronometrisch zählenden Zeitordnung des intentionalen Sagen-Wollens, sondern denen der aufzeigenden Konstellation. Dieser konstellative Augenblick eröffnet sich durch eine Beziehung von unterschiedlichen Zeit-Aspekten und verweist auf einen „Raum unterhalb des Raumes und der Zeit.“34 Dies ist wiederum stets ein Thema Artauds, da der sich eröffnende Raum Mexikos mitsamt seiner symbolischen Kraft, „die Wirklichkeit zu verwandeln“35 oder auch der Rausch des Peyotl ebenso durch eine vergleichbare Zeitentgrenzung gekennzeichnet sind. In diesem Sinne heißt es: [D]urch den Peyotl überspringt man die Zeit, die Jahrtausende braucht, um aus einer Farbe einen Gegenstand zu machen, die Formen auf ihre Musik, den Geist wieder auf seine Quellen zurückzuführen und das scheinbar Getrennte zu vereinen.36
Im Gegensatz zu einer einfachen Sehnsucht nach einem verlorenen Ursprung akzentuiert Artaud dabei eine Dimension produktiver Erzeugung, welche in den Grenzbereich mimetologischer Nachahmung stößt, indem der Versuch unternommen wird, von der „Nachahmung des Lebens zum Leben selbst überzugehen“37. Vermeintliche Nachahmung erweist sich darin vielmehr als Projektion und als Entwurf eines authentischen Lebens, das sich allerdings der Aporie aus-
31 Vgl. Foucault, Michel: „Distanz, Aspekt, Ursprung“, in: ders.: Schriften/Dits et Ecrits. Bd. I. Hg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M. 2001, S. 370-387, bes. S. 383-387. 32 Ebd., S. 383. 33 Ebd., S. 383. 34 Foucault, 2001, S. 384. 35 Artaud, Antonin: „Mexiko und der primitive Geist: Maria Izquierdo“, in: ders., 1992, S. 256-262, hier S. 259. (= Artaud, 1992e) 36 Ebd., S. 259. 37 Artaud, 1996, S. 177.
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gesetzt sieht, sich permanent in Form von Repräsentationen darzustellen. Dennoch grenzt sich Artaud von einem bloß nostalgischen Standpunkt ab: Meine Auffassung hat nichts mit unfruchtbarer poetischer Sehnsucht nach einer toten Vergangenheit zu tun, wohl aber mit Bedauern über den Verlust eines Wissens, einer tiefgründigen Ausrichtung des menschlichen Geistes, und ich halte es für lebenswichtig, diese wiederzufinden.38
Das Theater wird Artaud dabei zu einer Waffe dieser Wiedererweckung eines magischen Wissens im Dienste des Lebens und seiner kulturellen Praxen. In diesem Sinne erwähnt Artaud die „Naturmedizin der Mayas und Tolteken“ 39 und die als wahr und ursprünglich vernommene mexikanische Poesie, „die sich nicht aufs Gedichteschreiben beschränkt, sondern auch eine Bestätigung dafür ist, daß der poetische Rhythmus mit dem menschlichen Atem und, über den Atem, mit den reinen Bewegungen des Raumes, des Wassers, der Luft, des Lichtes, des Windes zusammenhängt.“40 Der mexikanische Paganismus, die Astrologie der Mayas und ihr Sonnenkult werden Artaud zu weiteren Anzeichen einer „transzendenten Algebra“41, die in Form einer präzisen Technik ein Wissen eröffnet, das den Menschen in einer radikaleren Weise seine Stellung zu den elementaren Kräften der Welt und zum Nachvollzug des Zusammenspiels dieser Kräfte eröffnet. In dieser Hinsicht verbindet sich für Artaud „Mexikos unergründliche Kultur“42 mit Motiven der Mystik, der Kabbala, der Alchimie, der Akupunktur und der chinesischen Medizin sowie mit Formen des orientalischen und balinesischen Theaters, die ebenso in Das Theater und sein Double als Einsätze und Spuren eines anderen Wissens vom Menschen, seiner Stellung in der Welt sowie als Einsatzpunkte eines magischen Theaters beschworen werden. Das Theater und mit ihm die Musik und der Tanz werden somit zu einem Instrument einer Revolution, die sich ausgehend vom Naturraum Mexikos als Chiffre und Spur dessen, „was wir sein sollen“43 in Form einer Sendung revolutionären Bewusstseins entfacht. Der Schlaf und das Träumen werden dabei von
38 Artaud, Antonin: „Mexikos ewige Kultur“, in: ders., 1992, S. 222-227, hier S. 223. (= Artaud, 1992f) 39 Ebd., S. 225. 40 Ebd., S. 225. 41 Ebd., S. 226. 42 Ebd., S. 225. 43 Artaud, Antonin: „Ewige Geheimnisse der Kultur“, in: ders., 1992, S. 233-236, hier S. 236. (= Artaud, 1992g)
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Artaud als Stimulationen der Phantasie angesehen, um eine authentische Näherung an die Dinge und Gegenstände zu vollziehen. Dabei ist zu betonen, dass sich für Artaud solch eine alchimistisch-phantastische Näherung als ein Grenzgang zur Musik darstellt: Farbgestaltungen werden zur Musik und künden darin von der Nähe zum mexikanischen Ursprung44, wie auch umgekehrt behauptet wird, dass sich kulturelle Formen und Riten in und auf Musik gründen und darauf zurückführbar sind. Der Musik wird dabei eine Energie zugeschrieben, die magische Entfesselungen von Leidenschaften auszulösen vermag. Das menschliche Denken und die kulturellen Ausformungen des Menschen begreift Artaud demnach als Formen, die an diese ursprüngliche Energie rückgekoppelt erscheinen. In diesem Sinne vollzieht das Theater der Grausamkeit eine Aufdeckung und Wiedereroberung des tönenden und vibrierenden Wortes des Schauspiels, das eine bloß verdinglichende Textfixierung unterdrückt. Artaud trachtet folglich danach, die „innere musikalische Verbindung“45 zwischen den „mexikanischen Metamorphosen und Metamorphosen französischen Geistes“ 46 herzustellen, da „[n]icht einer mehr versteht zu schreien in Europa“47. Deutlich wird dabei zweierlei: Einerseits wird Mexiko zu einem Medium bzw. zu einem Projektionsraum jenseits der konventionellen Bühne, um eine genuin europäische (bzw. französische) Problematik des Repräsentationsdenkens auszutragen. Andererseits funktioniert diese Übertragung nur durch die vorgenommene Konzeption der Musik als einer grundlegenden energetischen Kraft von kulturellen Formen, da Artauds Projektion von der Hypothese getragen ist, dass zwischen den verschiedenen Kulturen und ihren jeweiligen materiellen wie geistigen Lebensformen eine „innere musikalische Verbindung“48 besteht.49 Artauds Esoterik und seine energische Recherche und Aufdeckung von vermeintlich elementaren Kräften und Ursprüngen lässt aber vor allem folgendes zu Tage treten: Die Revolution und Zerschlagung der konventionellen Bühne lässt zahlreiche und vielfältige andere Bühnenschauplätze erscheinen. Artauds Denken der Bühne eröffnet eine Spurensuche, in der die kritischen Appelle und Im-
44 Artaud, 1992b, S. 258. 45 Artaud, Antonin: „An den Generalsekretär der Alliance Française (Briefentwurf)“, in: ders., 1992, S. 339-341, hier S. 341. (= Artaud, 1992h) 46 Ebd. 47 Artaud, 1996, S. 147. 48 Artaud, 1992c, hier S. 341. 49 Vgl. dazu Ogrzal, Timo: „‚Eine innere musikalische Verbindung‘? Antonin Artaud im Horizont der Sprachtheorien von Benjamin und Adorno“, in: Zeitschrift für kritische Theorie. Heft 30-31/2010, S. 125-143.
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pulse sich zwar niederschlagen, das avisierte Andere oder Authentische jenseits der Entfremdung der westlichen Zivilisation aber mitnichten einfach präsentiert, eingeholt und dargestellt werden kann. Aus dieser Anlage heraus verbleibt Artauds Denken der Bühne stets in Differenz zu sich selbst und artikuliert bzw. verspricht eher ein Kommen des Anderen und eben nicht seine Präsentation. Tief verstrickt in dieser Aporie der Darstellung des Anderen bleibt Artauds Denken der Bühne dennoch eine impulsgebende Spur, um die Bühne immer wieder und immer wieder aufs Neue anders zu denken.
Heideggers Schweigen vom Theater Marten Weise
Wenn von einem Schweigen Martin Heideggers die Rede ist, wird in der Regel kein unbestimmter Artikel vorangestellt. Zu erwarten wäre dann am ehesten eine Auseinandersetzung mit Heideggers Rolle im Nationalsozialismus, der „öffentlichen Aufklärung seines Falles“, wie er selbst den Zweck des Spiegel-Interviews „Nur noch ein Gott kann uns retten“1 beschreibt. Auslöser des Gesprächs war ein vom Philosophen an die Redaktion versandter Leserbrief, in dem er kolportierten Aussagen über seine Haltung während der Zeit des Dritten Reichs widerspricht. Es folgt auf eine über zwanzig Jahre lang andauernde „Schweigsamkeit“, so die im Magazin mitabgedruckte Hausmitteilung zum 1966 geführten, aber erst 1976 publizierten Gespräch. Heidegger verfügte – wohl aufgrund der Befürchtung einer für die Prominenz seiner philosophischen Arbeit bedrohlichen und öffentlichkeitswirksamen Diskussion um seine Person –, dass das Gespräch erst nach seinem Tod erscheinen durfte. Auch wenn er im Interview schon nicht mehr behauptet, nur Mitläufer gewesen zu sein und seine damalige Überzeugung von der „Größe und Herrlichkeit des Aufbruchs durch den Nationalsozialismus“ einräumt, bestreitet er eine antisemitische Haltung vehement und beschreibt derartige Vorwürfe widerlegende Ereignisse. Wenn das Erscheinen der Schwarzen Hefte nicht schon das Gegenteil dieser Behauptungen belegt, sind sie doch Zeugnis für einen Antisemitismus heideggerscher Prägung. Mehr als nur ein „menschliches Versagen“ ist weiterhin das auch im Zusammenhang des Spiegel-Interviews bedeutsame Schweigen zum Holocaust, das
1
Augstein, Rudolf/Wolff, Georg/Heidegger, Martin: „‚Nur ein Gott kann uns retten‘ SPIEGEL-Gespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966“, in: Der SPIEGEL vom 31. Mai 1976, S. 193-219.
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Heidegger bis auf kleine Ausnahmen2 zeitlebens durchhält. Was als „öffentliche Aufklärung seines Falles“ angekündigt war, bleibt durch das Schweigen und Meiden einer von ihm so beschriebenen „Diktatur der Öffentlichkeit“3 gekennzeichnet. Dem Heidegger-Forscher Peter Trawny zufolge ist es ein grundsätzlicher Zweifel an der moralischen Urteilsfähigkeit der Öffentlichkeit, der bei Heidegger das Schweigen als eine philosophische Haltung hervorrufe.4 Sein Schweigen (insbesondere über Ausschwitz) wird von Jacques Derrida hingegen als eine „Verwundung des Denkens“ bezeichnet, welche die Aufgabe hinterlasse, zu denken, was Heidegger selbst nicht dachte.5 Weil Öffentlichkeit für Heidegger mit Lärm und Erregung, Skandalen und der Oberfläche zu tun zu haben scheint,6 führt bei ihm eine Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft über das Schweigen in der Öffentlichkeit hin zu einem Verschweigen des Öffentlichen überhaupt. Die etymologische Beziehung zwischen dem Begriff der Öffentlichkeit und dem, was in der Philosophie Heideggers als ‚das Offene‘ und diesem nahestehend als ‚Lichtung‘ und das ‚In-der-Welt-sein‘ bezeichnet ist, legt die Vermutung nahe, dass diese einen Charakter des Öffentli-
2
Vgl. etwa Heidegger, Martin: Bremer und Freiburger Vorträge. GA Bd. 79. Hg. von Petra Jäger. Frankfurt a.M. 1994, hier S. 56: „Hunderttausende sterben in Massen. Sterben sie? Sie kommen um. Sie werden umgelegt. Sterben sie? Sie werden Bestandstücke eines Bestandes der Fabrikation von Leichen. Sterben sie? Sie werden in Vernichtungslagern unauffällig liquidiert. Und auch ohne Solches – Millionen verelenden jetzt in China durch den Hunger in ein Verenden.“ Er beschreibt den Massenmord an den europäischen Juden als ein Randphänomen der Geschichte der industriellen Technik unter anderen und ohne spezifisch auf ihn einzugehen und hält seine Formulierung offen für eine Auslegung in Richtung möglicher anderer Vernichtungslager.
3
Vgl. Heidegger, Martin: „Brief über den Humanismus“, in: ders: Wegmarken. GA Bd. 9. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1976, S. 313-364, hier S. 317.
4
Trawny, Peter: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Frankfurt a.M. 2014, S. 10.
5
Vgl. Derrida, Jacques: „Heideggers Schweigen“, in: Neske, Günther/Kettering, Emil (Hg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen 1988, S. 157-162, hier S. 159 und 160.
6
„Die wirre Verkehrung, die das Offene des Seyns erduldet, ist die Öffentlichkeit. Die aber verwirrt sich noch einmal, wenn sich in ihr die Einrichtung ihrer Macht zur ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Wahrheit‘ aufspreizt. Je öffentlicher die Öffentlichkeit, je verschlossener das Offene des Seyns.“ Vgl. Heidegger, Martin: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). GA Bd. 97. Hg. von Peter Trawny. Frankfurt a.M. 2015, hier S. 68.
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chen aufweisen, den er aus seinem Denken auszuschließen bemüht ist. Nachgehen lässt sich dieser Vermutung am Theater, das in Heideggers Texten selten explizit auftaucht und insgesamt eine eher untergeordnete Rolle spielt. Sein Schweigen vom Theater – so die hier vertretene These – resultiert aus einer diesem gegenüber vertretenen Skepsis, die derjenigen gegenüber der ‚Öffentlichkeit‘ sehr ähnlich ist. Diese Skepsis dem Theater gegenüber bleibt deswegen verwunderlich, weil sich an vielen Stellen, beispielsweise in seinen Überlegungen zur Kunst oder seinem Verständnis der Sprache, in der Auseinandersetzung mit seinem Differenzdenken, Splitter eines Theaterdenkens ausmachen lassen, die auf den folgenden Seiten untersucht werden sollen. Es geht darum, zu zeigen, dass und inwiefern Heideggers Denken das Theater – oder zumindest ein erweitertes Denken der Bühne – beinhaltet, was er selbst jedoch nicht sieht und nicht zu durchdenken in der Lage ist oder angesichts dessen er in ein Schweigen verfällt und was es im Sinne des Zitates von Derrida noch zu entdecken gilt. Heideggers Schreiben unter dem Gesichtspunkt des Theaters zu betrachten, macht deutlich, wie er das Öffentliche am Offenen zu verschweigen bemüht ist und, dass die Verschwiegenheit in der „öffentlichen Aufklärung seines Falles“ von Aspekten seines eigenen Schreibens unterlaufen und in Frage gestellt wird.
V OM T HEATER SCHWEIGEN Philippe Lacoue-Labarthe zufolge, will Heidegger „vom Theater nichts wissen“7 und nichts hören. Er stellt sogar die waghalsige Vermutung auf, dass sich Heidegger der programmatischen Träumerei von der Tragödie und der Beschlagnahmung des Theaters als Ort der Selbstdarstellung und des Selbstentwurfs des Volkseins, wie sie von Wagner und Hitler anvisiert werde, widersetze, indem er „die Frage des Theaters mit Schweigen übergeht“8. Die Beobachtung eines Schweigens ist im weiteren Sinne zutreffend und schlägt insbesondere in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ ins Gewicht, wo Heidegger weder auf das Drama noch auf das Theater auch nur mit einer Silbe explizit eingeht. Wenn er in ande-
7
Lacoue-Labarthe, Philippe: L’Imitation des modernes. Typographies II. Paris 1986, S. 123: „C’est, pour le dire de manière un peu provocante, que Heidegger, au fond, ne veut pas entendre parler de théâtre.“ Hier zitiert nach: Lacoue-Labarthe, Philippe: Die Nachahmung der Modernen. Typographien II, übers. von Thomas Schestag. Basel 2003, hier S. 124.
8
Ebd., S. 123. „C’est peut-être du reste contra la confiscation wagnéro-hitlérienne de ce programme que lutte Heidegger lorsqu’il passe sous silence la question du théâtre […].“
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ren Texten die Geschichte und Gegenwart des Verständnisses von Theorie anhand der Entwicklung des altgriechischen Wortes theorein (θεωρεῖν) aus Thea (Θέα – Anblick) und orao (όράω – ansehen) als sehendes und schauendes Erkennen begreift und dabei auf das Theater verweist,9 verschweigt er zwar nicht das Theater im Allgemeinen. Als Frage wird es in dieser Analogiebildung, die keine weitergehenden Hinweise gibt und lediglich einen Wink bietet, jedoch auch nicht aufgeworfen. Dass das Theater für Heidegger nicht als Gegenstand oder zu einer eigenständigen Untersuchung taugt, zeigt sich in seinem Schreiben an einer anderen Stelle, hier allerdings nicht als Verschwiegenheit. Einige wenige Zeilen, die in Nietzsche I vom Musikdrama als Gesamtkunstwerk ausgehend das Theater namentlich und unmissverständlich thematisieren, relativieren zwar LacoueLabarthes Beobachtung eines Schweigens, könnten jedoch andererseits als ein seine oben zitierte Vermutung unterstützendes Argument gelesen werden, Heidegger halte sich das Theater fern, um der Stiftung einer Volksgemeinschaft im Feld der Kunst und durch die Kunst zu entgehen, oder ihr gar entgegenzutreten. Das Theater wird hier als manipulative Form der Erzeugung von Wirkung beschrieben, die der „dichterischen Ursprünglichkeit“ enthoben ist und darum aus dem engeren Verständnis der Kunst – wie es im Kunstwerkaufsatz umrissen ist – herausfällt: Das Drama hat sein Gewicht und Wesen nicht in der dichterischen Ursprünglichkeit, d.h. der gestalteten Wahrheit des Sprachwerkes, sondern im Bühnenhaften des Vorgeführten und der großen Aufmachung. […] Dichtung und Sprache bleiben ohne die wesentliche und entscheidende gestalterische Kraft des eigentlichen Wissens. […] Das Werk ist nur noch Erlebniserreger. Alles Darzustellende soll nur wirken als Vordergrund und Vorderfläche, abzielend auf den Eindruck, den Effekt, das Wirken- und Aufwühlenwollen: „Theater“.10
Die Passage steht innerhalb eines Abschnittes mit dem Titel „Sechs Grundtatsachen aus der Geschichte der Ästhetik“ in einem sehr konkreten Zusammenhang. Heidegger beschreibt die Genealogie und Ambition des Gesamtkunstwerkes als
9
Vgl. Heidegger, Martin: Nietzsche II. GA Bd. 6.2. Hg. von Brigitte Schillbach. Frankfurt a.M. 1997, hier S. 223. Vgl. ders.: „Wissenschaft und Besinnung“, in: ders: Vorträge und Aufsätze. GA Bd. 7. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 2000, hier S. 46. (= Heidegger, 2000a)
10 Heidegger, Martin: Nietzsche I. GA Bd. 6.1. Hg. von Brigitte Schillbach. Frankfurt a.M. 1996, S. 85.
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Folge der Diagnose einer verlorengegangenen besonderen Stellung der Kunst in der Gegenwart der Vorlesungen über Ästhetik von Hegel. „Große Kunst“ sei für letzteren insbesondere dadurch gekennzeichnet, ein „absolutes Bedürfnis“ zum Ausdruck zu bringen.11 Dieses ist ein mindestens doppeltes. Neben dem von Heidegger einerseits umrissenen „Bezug zur Grundaufgabe, das Absolute darzustellen“, verweist die Formulierung „absolutes Bedürfnis“ andererseits auf die Rede von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck in der Kunst, die schon bei Kant eine zentrale Rolle spielt.12 Ein „absolutes Bedürfnis“ deutet dem Wortsinn nach den Bezug zu einem Außen zwar an, muss diesen Außenbezug jedoch zugleich ausstreichen, um, wie es der Absolutheitsanspruch vorgibt, relationslos und unbedingt zu sein. Dass Heideggers an Hegel anschließende Lektüre am Ende der Kunst insbesondere das Ende der ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ hervorhebt, wird durch seine Bewertung des Gesamtkunstwerkes umso deutlicher. Es entstehe just im Moment des Niederganges der Kunst von ihrem Wesen als „absolute Macht“ und „Macht zum Absoluten“13 (hier kommt die gleiche Doppelstruktur wie im „absoluten Bedürfnis“ zum Tragen) und stehe im Zusammenhang „grundsätzlicher Besinnungen und entsprechender Schriften“ 14, die an ein Ziel – d.h. Telos, Zweck – und einen Namen – Richard Wagner – geknüpft seien. Dem Namen „Gesamtkunstwerk“ begegnet Heidegger skeptisch und beschreibt ihn als „bezeichnend“. Darin sollen, so seine Beschreibung, erstens „alle maßgebenden Künste zu einem Werk zusammengeschlossen werden“15. Zweitens bezwecke diese „zahlen- und mengenmäßige Vereinigung“ eine „Feier der Volksgemeinschaft“.16 Kurz darauf folgt: „Die Herrschaft der Kunst als Musik ist gewollt und damit die Herrschaft des reinen Gefühlszustandes.“17 Mittel dieses Wollens der Kunst als Erlebniserreger ist für Heidegger, wie aus dem Zitat oben hervorgeht, das Theater. Im Zentrum der Kritik stehen Pomp und Wesenlosigkeit, oder an-
11 Ebd., S. 86. 12 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. X. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974, hier §11, S. 136. 13 Vgl. Heidegger, 1996, S. 83. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. ebd., S. 84. 16 Vgl. ebd. 17 Ebd., S. 85.
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ders ausgedrückt: die Herstellung einer lärmenden, womöglich sogar „seinsvergessenen“18 Öffentlichkeit.
T HEATERFEINDLICHKEIT Wie Heidegger in Anschluss daran und mithilfe eines Kommentars zu Nietzsches Wille zur Macht betont, gebe es im Gesamtkunstwerk damit wiederum noch einmal den Anspruch, absolutes Bedürfnis zu werden. Allerdings sei der Bezug zum Absoluten nun nur noch „maßlose Nacht des reinen Versinkens“, „das reine Bestimmungslose“, „die völlige Auflösung in das reine Gefühl, das sinkende Verschweben in das Nichts“.19 Heideggers Skepsis gegenüber einer derartigen „Feier der Volksgemeinschaft“, deren gefühlsbetonte, vernunftbedrohende und triebenthemmende Eigenschaften er mit dem Begriff des Theaters zusammenbringt und welche – folgt man Lacoue-Labarthe – als Ausdruck einer Widersetzung gegen die Programmatik Wagners und Hitlers angesehen werden kann, wird überschattet von einer Kritik der Zweckdienlichkeit des Theaters. Die Eignung des Theaters zum Erlebniserreger, Wirken- und Aufwühlenwollen ist für Heidegger unzweifelhaft. Aber es ist nicht nur die Trivialität eines Telos im Feld der Kunst, die ihn das Theater auf diese Weise und mit der Geste eines derartigen Allgemeinheitsanspruches charakterisieren lässt. An den Eigenschaften dessen, was Heidegger als ‚Theater‘ fasst, ist auffällig, wie stark sie in ihrer negativen Konnotation der vielfältigen Tradition der Theaterfeindlichkeit20 verpflichtet sind, die das abendländisch-philosophische Denken seit seinen Anfängen begleitet und in variierter Form noch etwa in Guy Debords Gesellschaft des Spektakels weiterwirkt. Samuel Weber fasst dies ausgehend von einer Lektüre des platonischen Höhlengleichnisses wie folgt zusammen: Theater is thus, from the very beginnings of what, for convenience, we continue to call „Western“ thought, considered to be a place not just of dissimulation and delusion
18 Vgl. dazu die Analysen zum „Man“ in: Heidegger, Martin: Sein und Zeit. GA Bd. 2. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1977, hier S. 168-173. (= Heidegger, 1977a) 19 Heidegger, 1996, S. 86. 20 Vgl. dazu etwa: Diekmann, Stefanie/Wild, Christopher/Brandstetter, Gabriele (Hg.): Theaterfeindlichkeit. München 2012. Vgl. außerdem: Barish, Jonas A.: The Antitheatrical Prejudice. Berkeley 1985.
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but, worse, self-dissimulation and self-delusion. It is a place of fixity and unfreedom, but also of fascination and desire.21
Webers Verweis auf die „puppet show“22, die in der Höhle Platons – und zugleich noch außerhalb der gerechten und wohlgeordneten Politeia – läuft, bringt die als bedrohlich angesehene Ununterscheidbarkeit zwischen bloßer Erscheinung und Wirklichkeit und das Macht- und Gewaltpotential theatraler Darstellung zusammen. Nicht nur werden Gegenstände am Lichtschein des Feuers vorbeigeführt und in der Projektion zu puppenhaften Nachbildungen von etwas Echtem. Es sind gleichermaßen Marionetten und nicht wirklich Menschen, die gefesselt und mit fixierten Köpfen gezwungen sind, auf die sich an der Höhlenwand abzeichnenden Erscheinungen zu blicken. Aber das Theater birgt das Potential einer daran anschließenden noch größeren Gefahr als derjenigen der bloßen Täuschung: die theatrokratia23, so formuliert es Platon in den später geschriebenen Nomoi, sei schlimmer noch als die Demokratie. Die Herrschaft des Theaters und die mit ihm einhergehenden Risiken der Täuschung, Irreführung und Verstellung verbindet sich mit einer „rule of the audience“24, die in der von Weber beschriebenen Selbst-Verstellung in einer Diktatur des Öffentlichen, des Öffentlich-Werdens und der Öffentlichkeit mündet. Wenn Heidegger einerseits eine Nicht-Ursprünglichkeit des Theaters moniert und andererseits diese mit dem Problem einer verstellten Öffentlichkeit zusammenbringt, folgt er darin der bereits bei Platon angelegten Skepsis gegenüber dem Theater und der Zuschauersituation. Aber ist das alles, was Heidegger zum Theater und zum Denken der Bühne im weiteren Sinne zu sagen und hinzuzufügen hat? Ob nun Theater als Darstellung und Verfälschung der Wirklichkeit, als Mittel zum potentiell trügerischen und verfälschenden (Selbst-)Entwurf, Verführung oder Herrschaft des Publikums, Wollen und Erwirken gefasst wird; auffällig an insbesondere Heideggers Beschreibung ist, dass Theater darin ausschließlich als eine Instanz des Schöpferisch-Aktiven, bzw. als Werk begriffen wird. (Darstellen, Täuschen, Zeigen, Machen) Tritt das Problem mit dem Theater für Heidegger vielleicht nur auf, solange es als solches bezeichnet ist, bedingt durch ein scharf begrenztes, reduziertes und pejoratives Verständnis davon, was Theater ist und sein kann? Es ist auffällig, dass die Form des Werkes, die Heidegger in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ umreißt, dem, was als Theater begriffen
21 Weber, Samuel: Theatricality as Medium. New York 2004, S. 8. 22 Vgl. ebd., S. 6. 23 Vgl. ebd., S. 33. 24 Vgl. ebd.
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werden kann, näher ist, als er es wahrhaben kann oder möchte. Weil es nicht von einem „dinglichen Unterbau“25 her begriffen werden kann, hat es kaum noch etwas von dem Geschaffenen, Werkhaften, Einen. Es könne höchstens noch als zerrissenes Werk beschrieben werden, wie Samuel Weber mit dem Verweis auf den heideggerschen Begriff „Riß“ schreibt, und sei darüber hinaus räumlich verfasst: „situated, localized“.26 Während sich letzterer in seinem Buchkapitel von Theatricality as Medium mit den heideggerschen Begriffen Gestell, Einrichtung und Technik auseinandersetzt und eine theatrale Konnotation der heideggerschen Überlegungen eher abwägt und andeutet, soll hier ein offensiverer Vorstoß gewagt werden.
K EINE STARRE B ÜHNE Ein bedeutender Hinweis in Richtung dieses anderen Theaters findet sich in „Der Ursprung des Kunstwerkes“. Darin taucht, wie bereits hervorgehoben, das Drama und das Theater zwar nicht auf, allerdings wird die Bühne mit einer sehr eigentümlichen Formulierung eingeführt: „Die offene Stelle inmitten des Seienden, die Lichtung, ist niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang, auf der sich das Spiel des Seienden abspielt.“27 Vielleicht ist das ein Versuch Heideggers, dem Verständnis, es ginge ihm in irgendeiner Hinsicht um ein Theater, einen Riegel vorzuschieben. Die Bühne soll im Moment ihrer Erwähnung unmittelbar wieder ausgeräumt sein. Allerdings war Heidegger dann entweder nicht vorsichtig genug oder lässt ein Schlupfloch zurück. Die Präzisierung „keine starre Bühne“ kann kaum als Absage an eine Bühne überhaupt verstanden werden, auch wenn für Heidegger die Vorstellung jeder real existierenden Theaterbühne wohl kaum anders denn als starr ausgesehen haben mag. Ohne dies explizit auszuführen – denn der Begriff taucht im weiteren Verlauf des Textes nicht noch einmal auf –, spricht er an dieser Stelle von einer beweglichen Bühne oder einer Szene des Anwesens bzw. des Seins, deren Vorhang sich fortlaufend öffnet und schließt, weil sie schlichtweg nicht fixierbar ist: „Unverborgenheit des Seienden, das ist nie ein nur vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis.“28
25 Vgl. Heidegger, Martin: „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in: ders.: Holzwege. GA Bd. 5. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1977, S. 1-74, hier S. 23. (= Heidegger, 1977b) 26 Vgl. Weber, 2004, S. 63. 27 Heidegger, 1977b, S. 41. 28 Ebd.
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Das Mit- und Gegeneinander von Ver- und Entbergung, das als dynamischer Vorgang der Wahrheit von Heidegger in vielen Texten immer wieder anhand eines besonderen Schwerpunktes auf dem Alpha privativum in der Analyse des griechischen Begriffes aletheia (Wahrheit, Unverborgenheit) herausgearbeitet wird,29 ist das Movens dieser beweglichen Bühne des heideggerschen SeinsTheaters. Dass im Zusammenhang mit der Bühne der Begriff des Spiels und des Seienden auftaucht, verdeutlicht, dass Heideggers Auseinandersetzung mit der Metaphysik und eine rückhaltlose Kritik an einer Philosophie der letzten Gründe30 im Kunstwerkaufsatz zur Dichtung und auf eine für ihn ungeheuerliche Weise zu einem Theater führt, das er – ohne es als solches zu bezeichnen – als Entzweiung und Abwesenheit eines Grundes fasst. Heidegger bringt gegen das Werk eine Dynamik auf den Plan, die in ihrem Für- und Wider auf Nietzsche zurückzuführen ist, der dieses Theater des Seins vielleicht als ein fröhliches, trunkenes Wandeln über dem Abgrund bezeichnen würde. In Die fröhliche Wissenschaft schreibt er: „Einer hat immer unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit.“31 Die Personalisierung im ersten Teil des Satzes löst sich in dessen zweiten Teil auf. Die Zwei stellt Trennung und Abgrund in ihr Zentrum eines leeren Zwischen, während die Auflösung des einen Urhebers darin auf die Möglichkeit einer Wahrheit nach dem Verschwinden des (einen) Menschen verweist, die auch für Heidegger eine Denkaufgabe nach der subjektorientierten und -zentrierten „Zeit des Weltbildes“32 darstellt: Wahrheit geschieht nur so, daß sie in dem durch sie selbst sich öffnenden Streit- und Spielraum sich einrichtet. Weil die Wahrheit das Gegenwendige von Lichtung und Verbergung ist, deshalb gehört zu ihr das, was hier die Einrichtung genannt sei. Aber die Wahrheit ist nicht zuvor irgendwo in den Sternen an sich vorhanden, um sich dann nachträglich sonstwo im Seienden unterzubringen. Dies ist schon deshalb unmöglich,
29 Vgl. etwa: Heidegger, Martin: „Die Frage nach der Technik“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze. GA Bd. 7. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 2000, S. 7-36. (= Heidegger, 2000b) 30 Vgl. bes.: Heidegger, Martin: Der Satz vom Grund. GA Bd. 10. Hg. von Petra Jäger. Frankfurt a.M. 1997. 31 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980, Aphorismus 335. 32 Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“, in: ders.: Holzwege. GA Bd. 5. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1977, S. 75–113. (= Heidegger, 1977c)
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weil doch erst die Offenheit des Seienden die Möglichkeit eines Irgendwo und einer von Anwesendem erfüllten Stätte gibt. Lichtung der Offenheit und Einrichtung in das Offene gehören zusammen. Sie sind dasselbe eine Wesen des Wahrheitsgeschehens.33
Zum „Spiel“ aus der vorher aufgeführten Textstelle kommt nun noch die präzisierende Formulierung eines Streit- und Spielraumes hinzu. Während die räumlichen Aspekte von „Wahrheit“ zu Beginn des Textes nur spärlich gesät sind, erhalten sie in dessen Verlauf immer mehr an Gewicht. Das raum-zeitliche Wahrheitsgeschehen ist für Heidegger ein Zwischen-Spiel und verwirklicht sich nicht an einem bereits bestehenden Ort, sondern gewährt Raum. Das gilt auch für den Begriff der „Lichtung“, welcher, die Frage des Raumes betreffend, ebenso aufschlussreich ist. Während er einerseits auf die romantische Metapher des (deutschen) Waldes rekurriert und damit eine Fülle assoziativer Deutungsanschlüsse ermöglicht, beschreibt er andererseits eine Leerstelle, in der sich Räumlichkeit als ein offenes und freies Feld darbietet. Ähnlich wie durch die Beleuchtung im Theater ist Raum durch das Licht der Lichtung eingeräumt – Raum wird freiund offengestellt. Wenn die „Lichtung“ zwar mit den gängigen Bildern um das Licht als Metapher der Wahrheit – oder einer Lichtmetaphysik, wie es Hans Blumenberg formuliert – spielt, so setzt sie sich doch in für Heidegger typischer Manier von ihrer Auslegung in der Neuzeit ab. Während seit Bacon und Descartes das Licht als Medium der Sichtbarkeit gedacht ist, das Gegebene von „einem bestimmten Aspekt her beleuchtet“ werde,34 also vom Subjekt eingesetzt wird und ausgeht, scheint sich Heidegger von jedem Gedanken einer Verfügbarkeit oder einer Instrumentalität des Lichtes abzusetzen.
E IN ONTO - DIALOGISCHER S PIEL - UND S TREITRAUM Kaum zufällig erinnert die prominente Inszenierung des „Spiel- und Streitraumes“ bei Heidegger an Hegels systematische Analyse des Dramas in den Vorlesungen über die Ästhetik. Vollständig dramatische Form ist für Hegel der Dialog. In diesem lasse sich unterscheiden zwischen einem subjektiven (Empfindung der handelnden Charaktere) und einem objektiven Pathos,35 wobei letzteres an ver-
33 Heidegger, 1977b, S. 49. 34 Blumenberg, Hans: „Licht als Metapher der Wahrheit“, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, S. 139171, hier S. 170. 35 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik III. Werke. Bd. 15. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1986, S. 493.
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schiedensten Stellen auch als Konflikt, Kollision, Kampf, Zwiespalt bezeichnet wird. Diese sind als das „eigentlich Dramatische“ ein „Aussprechen der Individuen in dem Kampf ihrer Interessen und dem Zwiespalt ihrer Charaktere und Leidenschaften“36 und für das lebendige Erscheinen einer Handlung notwendig. Hegel umreißt also eine dramato-dialogische Bedingung, auf deren Grundlage Raum entsteht und anhand derer das Aufklaffen zwischen Sittlichem und Individuellem denkbar wird. Ironischerweise ist es eben jenes Sittliche, das als das „Hindurchwirkende“37 wiederum die Schlichtung der Kollision hervorruft. Die Zurückbildung von Wechselseitigkeit in Einseitigkeit ist im dramatodialogischen Kunstwerk von Hegel mit dem Blick aufs Ganze damit zwar paradigmatisch beabsichtigt, aber genau darin, dass er dessen Wesentliches als Konflikt und Kollision bezeichnet, zugleich in Frage gestellt. In der Folge Hegels führt Heidegger die Beschreibungen eines ontodialogischen Spiel- und Streitraumes, der das Theater des Seins – oder vielleicht in diesem Zusammenhang eher: die Dramatik des Seins – ausmacht, strategisch gegen die monologische Werksetzung durch den Künstler ins Feld, 38 um deren Anfechtung er schon von Beginn des Textes an bemüht ist. So breitet er eine Unentscheidbarkeit hinsichtlich eines Anfangens aus, von der der Gegenstand seiner Untersuchung betroffen sei. Dem Titel folgend, beginnt auch der Text selbst mit diesem Wort: Ursprung. Der ersten Definition nach sei er dasjenige, „von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist“ 39. Die Vorstellung, dass der Künstler der Ursprung eines Werkes sei, bezeichnet Heidegger zugleich als gewöhnlich und verwirft sie als einzig hinreichendes Verständnis des Ursprungs im Verhältnis zwischen Werk und Urheber bereits im darauffolgenden Satz. Denn auch der Künstler, so Heidegger, werde nur durch das Kunstwerk zu dem, was er ist. Weil jedoch auch diese Hypothese unzulänglich bleibt, schwenkt er unmittelbar darauffolgend auf einen Wechselbezug zwischen Künstler und Werk durch ein Drittes um, das er als die Kunst bezeichnet. 40
36 Ebd., S. 491. 37 Ebd., S. 480. 38 Vgl. Heidegger, 1977b, S. 21f. Auffällig ist hier, dass es nicht um ein vom Subjekt ausgehendes, schöpferisches Geschehen geht, sondern um ein reflexives Geschehen und Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. 39 Ebd., S. 1. 40 Vgl. ebd.
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V OM V OLLBRINGEN ZUM L ASSEN / T HEATER DER E K - SISTENZ In der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk ist weder das geschaffene Werk, noch der Künstler als Schaffender oder Schöpfer maßgeblich, sondern vielmehr die Kunst als Bühne des Erscheinens beider. Diese Überlegungen hinsichtlich eines Ursprungs oder Anfangs jenseits von schöpferischer Initiative und Spontanität können im Anschluss an das hegelsche Verständnis des Dramas und an die Formulierungen zu einem onto-dialogischen Spiel- und Streitraum als Theaterdenken begriffen werden. Im „Brief über den Humanismus“ weitet Heidegger diese Denkfigur von der ästhetischen Sphäre auf diejenige des Menschen im weiteren Sinne aus. So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Eksistenz darauf an, daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz. Die Dimension jedoch ist nicht das bekannte Räumliche. Vielmehr west alles Räumliche und aller Zeit-Raum im Dimensionalen, als welches das Sein selbst ist.41
Auch hier findet sich ein Raumdenken wieder, das nicht als ein bereits bestehender Ort gefasst werden kann, sondern als Entfaltung des Seins entsteht. Die Eksistenz beinhaltet eine Trennung und Spaltung. Das menschliche Sein ist darüber hinaus als eine Weise des Seins unter anderen angedeutet. Neben dem Versuch eines Denkens ohne vorgefasstes Wesen oder Existenz, wirft das ästhetische Hin-aus-stehen die Dimension der Eigentumslosigkeit auf. Hin-aus-stehen bedeutet in diesem Zusammenhang in einem emphatischen Sinne: sich nicht zu besitzen, sich nicht zu haben. Mit Ek-sistenz opponiert Heidegger einem Verständnis des Menschen als bei sich oder in sich ruhend: „Die Ek-sistenz, ekstatisch gedacht, deckt sich weder inhaltlich noch der Form nach mit der existentia. Eksistenz bedeutet inhaltlich Hin-aus-stehen in die Wahrheit des Seins.“42 Wenn er im „Brief über den Humanismus“ die programmatische Forderung aufstellt, den Humanismus in seiner Prägung vom aktivisch gefassten Vollbringen hin zum passiv konnotierten Lassen umzudeuten, ist seine Bühne der Ek-sistenz nicht nur von einer Selbstenteignung, sondern auch von einer Passivität des Ausgesetztseins geprägt.43
41 Heidegger, 1976, S. 333f. 42 Ebd., S. 326. 43 Ebd., S. 313.
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Das Theater, über das Heidegger in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ schweigt und dennoch fortwährend spricht, wäre im Zusammenhang mit dem „Brief über den Humanismus“ gelesen eines, das den Menschen nicht nur dem Zentrum der Welt entrückt und eine ästhetische Passivität menschlichen Seins denken ließe, sondern es würde dem Begriff des Hinausstandes einen konkreten und öffentlichen Namen geben. Auf diesem Wege ist Theater etwas völlig anderes, als was Heidegger im Nietzsche-Buch darunter fasst. Hier tut sich ein Theater der Welt auf, das nicht dem Rollenspiel entspricht, das etwa Erving Goffman entwirft und auf intentionale und performative Begriffe von Spiel, Rolle und Darstellung angewiesen ist.44 Heideggers Denken umkreist beständig das Theater, auch wenn es – oder sogar weil es – seine eklatante Leerstelle markiert. In seinem Schweigen vom Theater sind die Konturen eines anderen Theaters zu erkennen, das als Theater der Lichtung oder der passiv verfassten Ek-sistenz bezeichnet werden kann. Bei Heidegger ist ein Theaterdenken vorhanden, vor dem er selbst jedoch zurückschreckt. Wenn er – um zum Anfang zurückzukommen – die Öffentlichkeit meidet, meidet er das Theater und umgekehrt. Sein Schweigen in der Öffentlichkeit ist sein Schweigen vom Öffentlichen des Theaters jenseits von Täuschung und Wirkenwollen: Ein Schweigen davon, wie dieses Theater des Ausgesetztseins für die, die es betrifft, eine Spaltung evoziert und diese am Offen-Öffentlichen teilhaben lässt. Das Theater der Ek-sistenz, das jeder Ermächtigung oder Selbstermächtigung vorausgeht, verschweigt er, sei es aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer theaterskeptischen Tradition oder weil er das Theater nicht abseits einer starren Bühne denken kann. Er verschweigt es aber vermutlich nicht zuletzt auch, um sich der Öffentlichkeit, d.h. der „rule of the audience“ zu entziehen, die im Verständnis von Theater schon bei Platon eine entscheidende Rolle spielt, und um in der Lage zu bleiben, sich seiner eigenen Geschichte zu ermächtigen.
44 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, übers. von Peter Weber-Schäfer. München 1988.
Konstellationen denken Ulrike Haß
Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.1
Im frühen 20. Jahrhundert weisen Spuren in allen Bereichen der Wissenschaften, der gesellschaftlichen Existenzformen und der Künste darauf hin, dass die Krisen, mit denen sich dieses Jahrhundert in den Sattel hob, sehr viel mehr anzeigten als nur ein weiteres Centennium. Ohne eine herausragende Beobachterposition, ohne Referenzpunkt, ohne Halt erfasste die Wahrnehmung, sich in einer Weltdrift zu befinden, ohne zu sehen, was oder wohin sich etwas verschiebt, das beunruhigte Bewusstsein. In völlig unterschiedlichen Bereichen und unter jeweilig absolut divergierenden Voraussetzungen wurde die Erfahrung einer aufklaffenden Gegenwart ohne jegliche Möglichkeit der Orientierung zu einer Grunderfahrung in diesem Moment der Moderne. Von der Menge an Spuren, die diese Erschütterungen im europäischen Bewusstsein zeitigten, trage ich hier eklektizistisch nur einige wenige zusammen. Im Ganzen geht es mir um eine Skizze von Übergängen, in denen eine Niederlage des erkennenden, urteilenden Subjekts zugunsten von Konstellationen einsetzt, die auf ihre Weise denken. In ganz unterschiedlichen Zusammenhängen (ökonomisch, ökologisch, militärisch, global, psychosozial etc.) wird an Konstellationen eine selbstdifferenzierende, agentielle Aktivität wahrnehmbar, die weit vor jeder bewussten Positionierung spielt. In allen Feldern stellt sich der Weltkrieg als erste, brutale, unüberschaubare und zugleich unanschauliche Explikation dieser Erfahrung dar. Das neue Jahr-
1
Kleist, Heinrich von: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Zweibändige Ausgabe in einem Band. Bd. 2. Hg. von Helmut Sembdner. München 1984, S. 319-324, hier: S. 323.
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hundert hebt mit einer Erfahrung von Subjekten in unverfügbaren Konstellationen an: vom Selberdenken genauso weit entfernt wie vom Handeln aus eigenen Stücken. Als Subjekte jedoch zum Handeln disponiert, erscheint ihnen die Ohnmacht ihrer Lage unzumutbar. So versuchen sie, sich von Neuem der Tat zu bemächtigen und in die Offensive zu gehen. Sie sind zum Unsäglichen entschlossen wie die jungen Freiwilligen, die 1914 europaweit in einen Krieg drängen, den sie als Entscheidungsschlacht imaginieren. In diesem Krieg wird des Weiteren erstmals eine industriell gestützte, militärische Gewalt gegen Körper eingesetzt, die auf die existentiellen Umweltbedingungen dieser Körper zielt. Der Gaskrieg ab 1915 bildet die Hybris von Tatmenschen ab, die zum Angriff auf das Unverfügbare übergehen. Weder die Chemieund Elektroindustrie, noch die technologischen Bedingungen tragen diesen Terrorismus von Tatmenschen, sondern Subjekte, die ‚nach ihrer Zeit‘ von der Gewissheit überrascht werden, sich in unüberschaubar ineinander verzahnten, menschlichen und nichtmenschlichen Prozessen vorzufinden. Das Wort vom Geworfen-sein macht Karriere. Im Weltkrieg, der im Französischen La Grande Guerre heißt, erhält diese Erfahrung und alles, was mit ihr zusammenhängt und was in sie eingeht, ihr traumatisches, das 20. Jahrhundert zeichnende Gewicht. Anders jedenfalls sind die zahlreichen, in das sogenannte ‚zivile‘ Leben des 20. und 21. Jahrhunderts hineinreichenden Verlängerungen dieser „Entdeckung der ‚Umwelt‘ im Ersten Weltkrieg“2 nicht denkbar. Neben diesen, allein schon aufgrund ihrer Überdimensionierung entsetzlichen und sich gegen eine Erkenntnis sperrenden Ereignissen im Großen Krieg (die gleichwohl nicht anders denn als ‚Spuren‘ ihrer Entzifferung bedürfen), gibt es zeitgleich, vor allem in Wissenschaft und Kunst, unzählige diskrete Spuren. Diejenigen, auf die ich im Folgenden hinweisen möchte, betreffen zum einen die Entstehung der Phänomenologie, zum anderen die Aufmerksamkeit für den subjektlosen Wissenstypus von Mythen in der Ethnographie, zum dritten die Unruhe der Formen in den Künsten und führen zum vierten und zum fünften konkret zur epistemischen Revolution Adolphe Appias sowie zu Jean-Luc Godard und Mark Lammert.
„Z URÜCK ZU DEN S ACHEN SELBST “ Die Phänomenologie wendet sich gegen das Subjekt als Träger aller Vorstellungen und entdeckt mit dem Bewusstsein-in-Situationen den Vorrang immersiver
2
Vgl. Sloterdijk, Peter: „Der Gaskrieg – oder: Das atmoterroristische Muster“, in: ders.: Sphären III. Schäume. Frankfurt a.M. 2004, S. 89-126, hier S. 99.
Konstellationen denken | 183
Räume.3 Abseits von jenen dominierenden Figuren der Moderne, die ein manichäisches Zur-Tat-Schreiten auf ihre Agenda setzen, entstehen in der Psychologie und mit der Phänomenologie entgegengesetzte Aufmerksamkeiten. Edmund Husserls Lehre von der epoché fordert das Zaudern als philosophischwissenschaftliche Haltung ein, die Zurückhaltung des eigenen Urteils und die bewusste Enthaltung vor definitiven Entscheidungen. Sachverhalte sind zunächst als solche wahrzunehmen und zu beschreiben. Es ist maßgeblich die frühe Psychologie, die mit ihrer Frage nach der Fähigkeit des Bewusstseins, sich überhaupt ‚auf etwas‘ zu beziehen, damit beginnt, gegen das vormalige Subjekt der Selbstverwirklichung eine relationale Perspektive zu entwickeln und diese auch für ihre eigene, quasi-empirische, betrachtende Wissenschaftlichkeit geltend zu machen. Der Philosoph und Psychologe Franz Clemens Brentano entwickelt im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Akt-Theorie, die das arbeitsteilige Modell von reflektierender Innerlichkeit und äußerlichem Tathandeln aufgibt. Weit entfernt von irgendeiner Ähnlichkeit mit einer tatsächlichen Aktion, geht es ihm um einen notwendig ausgedehnten, d.h. im Außenraum spielenden Akt, den er als ‚psychischen Akt‘ und somit als ‚Ausdehnung der Seele‘ kennzeichnet, in dem eine Intention (die nicht mehr Subjekt ist) sich auf etwas richtet (das noch nicht Denken ist).4 Schon Brentanos Begriff der Intentionalität bezieht sich somit grundlegend auf ein konstelliertes Bewusstsein und beschreibt dessen Aktivität nicht als Positionierung, sondern als eine der Ausdehnung zwischen oder der Abhängigkeit von etwas. Die Präposition von mag zwischen lokalen oder modalen Qualitäten spielen, aber in keinem Fall gehört sie einer Logik der Negation an, die zwischen Etwas und Nichts kategorial unterscheiden möchte. Konstelliertes Bewusstsein berührt sich mit etwas, wovon es Bewusstsein ist: mit etwas von der Welt, das ihm nicht gleicht und das sich ihm dennoch zuträgt. Oder ist es das Bewusstsein, das diese Bewegung vollzieht? Oder sind es beide auf einmal, ohne füreinander aus sich herauszugehen? Dies sind die Fragen, anhand derer die wichtigen Schritte innerhalb der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts auseinander hervorgehen.
3
Unter ‚immersiven Räumen‘ verstehe ich hier, weiter gefasst, als dies der Begriff der Immersion in den Virtual Reality-Debatten vorschlägt, Räume, die nur zu erfahren sind, indem man in sie eintritt oder sich in sie einträgt, wie dies etwa bei Installationen der Fall ist.
4
Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt. Leipzig 1874, Neuauflage 1911.
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Edmund Husserl radikalisiert den Begriff der Intention, indem er ihn zur universellen Operation erhebt, mittels derer Verständnisse überhaupt entstehen.5 In einer Wende vor allem gegen jene modernen Wissenschaften, die ihren Gegenstand objektivistisch erfassen wollen, betont Husserl, dass die unterschiedlichen Sphären von Subjekten, Gegenständen und Sachverhalten im intentionalen Akt verbunden sind. Der Objektivismus oder auch Physikalismus sowie ihr Gegenstück, der transzendentale Subjektivismus, gehörten zu ihrer Krisis. Im Konzept der Intentionalität hingegen entwickelt Husserl eine Theorie der Übergänge, die sich in der Gerichtetheit des Bewusstseins auf etwas anbahnen, das im Vorgang der Bewusstwerdung entsteht. Akte des Bewusstseins konstituieren ihre Gegenstände. Ein „eigentliches An-sich“ der Dinge (Kant) existiert somit nicht, aber auch nichts ‚Gegebenes‘ oder ‚Zuvorkommendes‘ außerhalb seiner Wahrnehmung durch das, was Kant als Subjekt bezeichnet hatte – bei Husserl sind das die Akte eines Bewusstseins. Diese Zentralstellung von Bewusstseinsleistungen wird schließlich von Maurice Merleau-Ponty bestritten, der die Konstitution von Gegenständen oder Sachverhalten durch intentionale Akte für nachträgliche Rekonstruktionen hält. Merleau-Ponty zufolge geht die Verflochtenheit von mentalen und nichtmentalen Zuständen oder Sachverhalten tiefer als alle Akte der Bewusstwerdung. Träger, Medium oder Instanz dieser Verflochtenheit ist der Leib als Ort einer Erfahrung vor jeder Bewusstwerdung und als Ort der Wahrnehmung vor jeder Einsicht. Husserls Konzept der intentionalen Gerichtetheit modifizierte die Annahme einer Gegenüberstellung von Subjekt und Welt, gelangte aber dennoch nicht (der Idee der causa verpflichtet) über ihr Gegenüber hinaus. Merleau-Ponty hingegen nimmt ein stummes, jedoch nicht blindes „leibliches Selbst“ 6 inmitten von Phänomenen an. Sein Konzept einer leibhaften, präsubjektiven Teilhabe ankert letztlich in einem Lebensbegriff, der dem von Gilles Deleuze nahekommt. Bei Merleau-Ponty gründen die Strukturen, der Sinn und das Sichtbarwerden aller Dinge in einem metamorphotischen Leben, von dem der Sehende eingenommen und berührt wird, wenn er vermeintlich im Aktivum sieht. Das anonyme Empfindbare gilt Merleau-Ponty als das mögliche Sichtbare, das dem bestimmten Sehen vorausgeht und mit dem sich der Sehende einlässt, wenn er sieht. In die-
5
Die husserlsche ‚Intention‘ klammert die so genannte ‚natürliche Einstellung‘ ein und verknüpft sie mit einem ‚transzendentalen Ich‘. Vgl. Husserl, Edmund: „Die phänomenologische Fundamentalbetrachtung“, in: ders.: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. Hg. von Klaus Held. Stuttgart 1986, S. 131-195.
6
Zu diesem Begriff vgl. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Philosophie des Leibes. Frankfurt a.M. 2000.
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sem Zusammenhang spricht Merleau-Ponty davon, dass „die Welt universelles Fleisch (chair) ist“7, womit er ein stets unförmiges, aber gleichwohl empfindbares „Element“ (wie Wasser, Luft etc.) meint, das sich gleichwohl permanent partiell inkarniert, d.h. sichtbar wird. Die Phänomenologie kann in Zeiten, die noch einmal Geschichte machen wollen, als eine Einübung in das deskriptive Denken aufgefasst werden: das kognitive Vermögen wird nicht in der Erkenntnis, sondern in der Situation angenommen. Die Entdeckung gilt einem kognitiven environment, in dem die geistige Aktivität zwischen nichtmentalen Zuständen spielt und als spezifisch menschliche sukzessive unsicher wird. Merleau-Ponty verwirft zuletzt sogar den Gedanken einer Umgebung, die etwas (‚meinen Leib‘) einschließt (In-der-Welt) und nähert sich einer Theorie der Immersion. Der Leib ist ‚zur Welt‘, nicht ‚in ihr‘ wie in einer Schachtel. Der Leib ist in der Welt mitenthalten: „als Fleisch, das es mit meinem Fleisch zu tun hat […]. Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.“8
M YTHEN SIND K ONSTELLATIONEN , DIE SICH UNTEREINANDER DENKEN
Diese bedürfen einer musikalisch-hörenden Rezeption.9 Das seit der europäischen Renaissance währende Zeitalter der Entdeckungen der Welt und ‚des Menschen‘ tritt Anfang des 20. Jahrhunderts in sein strukturalistisches Stadium ein. Europäische Ethnographen wie Claude Lévi-Strauss und Dina Dreyfus gehen nicht mehr umstandslos davon aus, sich aus einer geistig und kognitiv überlegenen Kultur über ‚Wilde‘ zu beugen. Sie nehmen sich zurück und ziehen ‚Umstände‘ überhaupt erstmals in Betracht. Sie wenden sich dem ‚wilden Denken‘ in präskriptiven und präreferenziellen Kulturen zu und müssen dazu ihre deskriptiven Methoden erweitern. Lévi-Strauss zeigt diese Erweiterung beispielhaft in seiner vergleichenden Kulturmythologie (die auf seinen Forschungen im Amazonasgebiet der 1930er Jahre beruht), die in ihrem Kern dem Denken eines anderen, subjektlosen Wissenstypus’ gilt. In seinen Mythologiques I (1964)
7
Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare: gefolgt von Arbeitsnotizen. Hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Claude Lefort, übers. von Regula Guiliani und Bernhard Waldenfels. München 1994, S. 181. Merleau-Ponty bestimmt hier „Sichtbarkeit“ als „Generalität des Empfindbaren an sich“, S. 183.
8
Ebd., S. 182.
9
Vgl.: Lévi-Strauss, Claude: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1976, S. 26.
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schreibt Lévi-Strauss: „vielleicht müsste man […] noch weitergehen und von jedem Subjekt abstrahieren, um zu erkennen, dass sich die Mythen auf gewisse Weise untereinander denken“10. Für die Frage, wie sie das tun, geht Lévi-Strauss auf das Gebiet der Musik über. „Mythen haben keinen Autor: sobald sie als Mythen wahrgenommen werden […], gibt es sie nur in einer Tradition verkörpert. Wenn ein Mythos erzählt wird, empfangen die Hörer eine Botschaft, die eigentlich von nirgendwoher kommt.“ 11 Mythenanalyse kann daher, Lévi-Strauss zufolge, niemals aufzeigen, wie ‚Menschen‘ denken. Das andere Denken der Mythen wird als eine Praxis beschrieben, die vollständig im Hören auf eine akustische Maske aufgeht, die ihr durch einen Erzähler verliehen wird. Das Hören geht auf im Vernehmen, das Erzählen ist ein Verleihen. Mythen gehen auf, indem Hörer und Erzähler sie ‚gebrauchen‘. Ursprungsloses mythisches Denken verfügt gleichwohl, so Lévi-Strauss, über eigene Grammatiken und Regeln, die ihren Erzählern und Hörern jedoch genauso unbewusst bleiben wie die phonologischen und grammatikalischen Gesetze der Sprache, die ein Sprecher anwendet, während er spricht. Lévi-Strauss fahndet nach solchen Grammatiken und Regeln des ‚wilden Denkens‘ durch dessen unendliche Variationen hindurch, hört auf Korrespondenzen, Kohärenzen, Homologien, Umkehrungen, Serien, ohne dabei die Gleichzeitigkeit des Materials oder seine Sprunghaftigkeit zu missachten. In seiner Arbeit an den mythischen Gefügen verwandelt er sich in einen Hörer und betont, wie sehr sich Musik und Mythen ähneln. Beide transzendieren auf ihre Weise die Ebene der artikulierten Sprache und äußern sich, auditiv und akustisch, in der Zeit. Indem Lévi-Strauss im Folgenden jedoch über die vermeintliche Zeitgebundenheit auditivakustischer Vorgänge hinausgeht, gewinnen seine Überlegungen eine Dimension, die für das 20. Jahrhundert als Epoche des Raumes und des Simultanen von besonderem Interesse ist.12
10 Ebd. 11 Ebd., S. 34. 12 Mitgedacht ist hier ein Bezug zu Foucault, der, im Unterschied zur Obsession des 19. Jahrhunderts für den historischen Fortschritt, vom späteren 20. Jahrhundert als von einer Epoche des Raumes und der Gleichzeitigkeit spricht, in der ein Ensemble der Relationen, des Aneinanderreihens, der Nähe und Ferne gleichermaßen, des Nebeneinanders und auch des Zerstreuten vorrangig wird. Vgl. Foucault, Michel: „Andere Räume“ (1967), in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. 5. durchges. Auflage. Leipzig 1993, S. 3446.
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Musik und Mythen berühren im Hörenden Areale der lost time, der verlorenen Zeit also (die keiner Vergangenheit ähnelt) und beseitigen damit sukzessive den Zeitverlauf im Hörenden. Sie bringen die vergehende Zeit zum Stillstand, so dass es zwischen dem Hörenden und den durch Musik oder Mythen evozierten, virtuellen Räumen, die sich hinter Noten und Tönen, hinter Worten und Namen aufspannen, buchstäblich nichts gibt. Im Hörenden operieren Musik und Mythen auf „einem nackten Terrain: der physiologischen Zeit des Hörers“ 13. Sie adressieren Leibinseln, Organe, Eingeweide etc. und bringen den Hörenden in bestimmten Kontakt mit Räumen unabsehbarer Pluralität, mit Hohlräumen der Subjekt- und Herrenlosigkeit. Sie nehmen Hörende ein, während diese umgekehrt jedoch niemals solcherart Räume einnehmen können. Diese Räume mit ihrer unermesslichen Raumzeit bzw. mit ihrer zeitlosen, in keiner Vergangenheit abgeschlossenen Zeit affizieren jene, die jeweils im Singular hören. Mythen und Musik leben sich durch Zuhörende hindurch, sie haben keinen anderen Ort. Für diese Berührung mit einer zeitlosen Zeit findet Lévi-Strauss nur etwas hilflos wirkende Formulierungen: Musik und Mythologie seien „Apparate zur Beseitigung der Zeit“, sodass wir, „während wir sie hören, eine Art Unsterblichkeit erlangen“14 usw. Wie kann dieses Moment der Berührung beschrieben werden? Etwas Präskriptives oder Präferenzielles affiziert den Hörenden. Unvermutet tun sich Korrespondenzen auf. Nahverhältnisse entstehen, wo sie nicht erwartet wurden. Anderes wiederum entgleitet, jedoch sozusagen nicht ohne Nachhallzeit. Einzelne Ausdrucksmaterialien lösen sich aus ihren Zusammenhängen und adressieren sich in der Art einer unpersönlichen Empfindung. In einem Übersprung vermag sich die Berührung des Hörenden mit einer Raumzeit ereignen, in die a-personale Vergangenheiten und Zukünfte eindringen. Dies ist sicherlich auch eine der Bewegungen, die Mythen auslösen, von denen LéviStrauss sagt, dass ihr Denken ihn während seiner Arbeit, sie zu analysieren, verändert habe, sodass er zum Schluss nicht mehr habe unterscheiden könne, wer wem den Funken der Erleuchtung gereicht habe.
E INE EXTREME U NRUHE DER F ORMEN ERFASST DIE K ÜNSTE Ihre Transformationen variieren eine Drift von den Dispositiven des Sichtbaren hin zu Konstellationen des Mit. Hier ist eine Drift zu beschreiben, die das System
13 Lévi-Strauss, 1973, S. 31. 14 Ebd. Die Beispiele von Lévi-Strauss beziehen sich auf klassische, europäische Musik. Er unternimmt jedoch keine Spezifizierung, sondern schreibt stets nur von „Musik“ – im Sinne des Musikalischen, wie sich hier vielleicht anfügen ließe.
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der Schönen Künste durchquert und konterkariert, ebenso das System der Theatersparten. Es geht nicht darum, dass sich etwas in der Konkurrenz zwischen Körpern, Bildern, Tönen und Sprache zu Ungunsten der einen Seite, der Sichtbarkeit oder des Bildes, verschiebt. Und ebenso wenig handelt es sich darum, dass Prozesse oder das Prozessuale von Realitäten sich an die Stelle von Dingen, Körper und Rahmungen schieben und diese ins Abseits drängen oder gar obsolet werden lassen. Stattdessen ist hier auf ein verändertes Zeigen oder Sich-zeigen in den Ausdrucksbewegungen der Künste hinzuweisen. Da es unmöglich ist, die Aufbrüche in den Künsten des frühen 20. Jahrhunderts, die ganz unterschiedliche Problemlagen in ihrer jeweiligen Kunst eigenen Lösungen zuführen, summarisch oder in Kürze zu pointieren, kann es hier nur um die Skizzierung einiger Tendenzen gehen. Denn es lassen sich doch Driftbewegungen in den unterschiedlichen Künsten ausmachen, die darüber hinaus miteinander zu korrespondieren scheinen. So etwa die Drift von der vermeintlichen Wiedergabe des Sichtbaren zum Sichtbarmachen, um hier als erstes Paul Klees berühmtes Diktum aus seiner Schöpferischen Konfession von 1920 zu zitieren.15 Dann die Drift von den Als-ob Bedingungen prästabilierter Rahmen zu den environments, zu den Umgebungen selbst (Straße, Stadt, Geld, Kunstmarkt etc.). In den bildenden Künsten werden sie beispielhaft anhand des white cube durchdekliniert: Brian O’Doherty, der die Genese des weißen Galerie-Raums darlegt und die „Galerie als Gestus“ analysiert, hält den white cube als „ideellen Raum par excellence“ für die „größte Erfindung der Moderne“ in den bildenden Künsten. 16 Des Weiteren die Drift von den Sparten zur Entspezialisierung der Bühnen: das HerrKnecht-Verhältnis von Oper und Schauspiel wird unterwandert, indem das Schauspiel von Maurice Maeterlinck bis Max Reinhardt zunehmend Schauspielmusiken vorsieht. Was zunächst im Muster der Zusammenarbeit von Henrik Ibsen und Edvard Grieg zu Peer Gynt begann, setzt sich in einer Zusammenarbeit fort, die Bert Brecht und Kurt Weill in den 1920er Jahren aufnehmen. Die Einführung von Chören in das Schauspiel charakterisiert diese Drift genauso, wie die Vermischung von professionellen Akteuren und so genannten Laien, Schülern oder Jugendlichen. So notierte z.B. ein Kritiker angesichts des europäi-
15 Klee, Paul: „Schöpferische Konfession“ (1920), in: ders.: Schriften, Rezensionen und Aufsätze. Hg. von Christian Geelhaar. Köln 1976, S, 118-122. Der erste Satz lautet: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Und der letzte Satz: „Lass dich tragen, auf breitem Strom und auf reizvollen Bächen, wie die aphoristischvielverzweigte Graphik.“ 16 O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle. Inside the White Cube (1976-1981), neu übers. und hg. von Wolfgang Kemp. Berlin 1996, S. 99.
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schen Erfolgs der Orpheus-Aufführung von Adolphe Appia und Émile JaquesDalcroze in Hellerau 1913 mit ihren riesigen Bewegungschören von Schülern der Rhythmischen Gymnastik: „Am erstaunlichsten ist, dass dieser stärkste aller Operneindrücke uns nicht durch Sänger oder Schauspieler, sondern durch Schüler vermittelt wurde, die nie Gesang oder Tanz studiert hatten.“17 Weiterhin die Drift von der Vertikale im Darstellungsraum, die zum Sehen da ist, zur Horizontalen, die ein Tanzboden ist: Mit geradezu paradigmatischem Gewicht schlägt sich diese Drift in der Inszenierung von Sacre du Printemps 1913 in Paris nieder, indem eine Vielzahl von Tänzerinnen und Tänzern in Gruppenchoreographien gleichzeitig aufführten und somit eine Darstellung beweglich-bewegter Körper herstellten, die den Boden als Darstellungsfläche definierte, aber für kein Besucherauge zu überschauen war.18 Eine Drift schließlich, die vom privilegierten Zentralstrahl der Sicht wegführt, für die zuletzt die Dramaturgie des „Bühnenweihfestspiels“ Parsifal (1882), aber auch Richard Wagners Entscheidung der Versenkung des Orchesters in den Graben zugunsten einer uneingeschränkten Sicht auf die Protagonisten beispielhaft eingestanden haben mag. 19 An die Stelle der Dramatisierung und Inszenierung exklusiver Helden und Sichtachsen treten mit den geschmähten Naturalisten und Realisten von Gerhard Hauptmann bis zu Maxim Gorki relative, vielgliedrige Milieus in den Vordergrund, die ihre Ensemble-Inszenierungen oder Chortheateraufführungen allererst noch suchen. 20
17 Wolkonskis, Serge, „Meine Erinnerungen“, zit.n. Beacham, Richard C.: Adolphe Appia. Künstler und Visionär des modernen Theaters, übers. von Peter Schreyer und Dieter Hornig. Berlin 2006, S. 152. 18 Igor Strawinsky komponierte die Musik für die Ballets Russes von Sergei Diagilew, Vaslav Nijinsky war der verantwortliche Choreograph. Vgl. genauer zu dieser Aufführung im oben angedeuteten Sinn: Haß, Ulrike: „Fremde Welt“, in: Müller-Schöll, Nikolaus/Otto, Leonie (Hg.): Unterm Blick des Fremden. Theaterarbeit nach Laurent Chétouane. Bielefeld 2013, S. 53-72. 19 Vgl. Schmidt, Christina: „Versenktes Orchester, mystischer Sound. Zur räumlichen Anordnung im Bayreuther Festspielhaus“, in: Ernst, Wolf-Dieter/Niethammer, Nora/Szymanski-Düll, Berenika/Mungen, Arno (Hg.): Sound und Performance. Positionen. Methoden. Analysen. Würzburg 2015, S. 89-100. 20 Vgl. beispielhaft Einar Schleefs Auseinandersetzung mit Hauptmann, bei dem er den „Einsatz des antiken Chores, hier vertreten sowohl in der Kleinform der Familienangehörigen, als auch in der Großform der Kleinstadt-Bevölkerung, mit den Einsatz der Passion, den Leidensstationen des einzelnen“ hervorhebt. In: Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt a.M. 1997, S. 210-215.
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In einer abstrakten Weise ließe sich von einer Drift sprechen, die von einer manifesten, konturierten, begrifflichen Mitteilung im Einzelnen, von einer Figurenperspektive oder einer mit einer Figur verbundenen Handlung im Einzelnen, zum Kunstwerk als Mitteilung, als Ausdruck und als Handlung tendiert. Es handelt sich dabei nicht um eine Drift der Verfeinerung der elaborierten Ästhetisierung von Kunst, sondern im Gegenteil, um deren Konkretisierung. So können z.B. gerade Bertolt Brechts Lehrstücke für diese Drift einstehen, in der die Mitteilung keine vorausgesetzte Sache ist, keine in der Schriftlichkeit des Lehrstücks niedergelegte Form, sondern nur in Abhängigkeit von den Beteiligten zustande kommt, denen der Status von Mitspielern im Prozess einer Mitteilung, den sie durchlaufen, in vollem Wortlaut zukommt. 21 Wenn Brechts Lehrstücke nicht unter politischen, pädagogischen, rein-experimentellen oder paradramatischen Aspekten abgetan, sondern als Kunstwerke begriffen werden, dann wird vielleicht verständlich, inwiefern die Konstellation der Beteiligten/Mittel das Kunstwerk als reine Mitteilung (vermöge der selbst aktiven Relationalität dieser Mittel) hervorbringt. Daraus ergibt sich der nächste Gedanke: dass dies möglich wird, weil der prästabilierte Rahmen – Theater als Aufführung im Dispositiv des Theaters – ausgesetzt wird. Die dem Rahmen vormals aufgetragene Bedingung des Als-ob tritt nun als Spielmoment innerhalb der konstellierten Mittel und Beteiligten, zwischen ihnen und im milieu des Kunstwerks auf.22 Mit der Eigenart inszenatorisch gewählter Mittel, die sich wechselseitig ‚angehen‘, hängt eine immanent sich entfaltende Aktivität zusammen. Sie löst selbstaffirmative Prozesse aus, die von einem relationalen Geflecht getragen und moduliert werden. Für deren Beschreibung, Wirkungsweise und Inszenierung wurde und wird immer wieder das Musikalische in Anspruch genommen. Und dies wäre die letzte, im hiesigen Zusammenhang vielleicht als die entscheidende zu bezeichnende Drift: von den Dispositiven des Sichtbaren, die das Malerische, das Photographische und selbst noch das entstehende Kino tragen, hin zur musi-
21 Zum Lehrstück Brechts, das keine Aufführung vor Publikum ist, sondern zur Erfahrung des „Widerstreits“ derer dient, die es „übend“ spielen, vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: „Stellplätze des Widerstreits“, in: ders.: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt a.M. 2002, S. 325-360. 22 Einen aktuellen und im hier angedeuteten Sinn überzeugenden Umgang mit Brechts Badener Lehrstück vom Einverständnis bietet die jüngste Inszenierung von She She Pop: Oratorium. Kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis, Premiere 9. Februar 2018 am HAU Berlin, weitere Stationen dieses „work-in-progress“ in Hannover, Lublin, Sofia.
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kalischen Relation, die im Klang ist, die in der Musik ist und zugleich über die Musik hinausgeht. Das Musikalische affiziert neue Verfahren der Versprachlichung, der Verlautbarung, der Sichtbarmachung, der Komposition und der Inszenierung. Ein konzentriertes Beispiel für diese Drift stellt jener Streit zwischen Auge und Ohr dar, den Erwin Piscator und Ernst Toller anhand der Inszenierung von Hoppla, wir leben (1927) ausgetragen haben.23 Piscator steht in diesem Streit auf der Seite einer sozusagen noch ‚klassischen‘ Visualisierungspolitik, während die Avantgarden die Möglichkeiten des Filmschnitts ‚musikalisch‘ ausschreiten und sprichwörtlich werden lassen z.B. in einem Filmtitel wie Berlin – Symphonie einer Großstadt (1927) von Walter Ruttmann. Das Musikalische trennt nicht zwischen den Künsten und Sparten, sondern wird zum Kompositionsprinzip überall da, wo nicht in Fronten gedacht wird, sondern in Gefügen. Für ein künstlerisches Denken in Gefügen kann in vielerlei Hinsicht der schon angeführte Text Schöpferische Konfession von Paul Klee exemplarisch stehen.24 Kein Wunder, dass zum Beispiel Gilles Deleuze und Félix Guattari von Paul Klee sagen, er sei der „Maler, der am ehesten einem Musiker glich“25. Und ebenso bezeichnend erscheint unter diesem Gesichtspunkt, dass Adolphe Appia in seiner Auseinandersetzung mit den Bühnenkünsten ‚nach‘ Richard Wagner in der Musik (der Partitur) die Grundlage der raumzeitlichen Entfaltung einer bzw. jeder Inszenierung erkennt. Die Musik und die Inscenierung lautet der Titel seiner Schrift, die 1899 in deutscher Sprache erscheint und die theoretische Grundlegung für eine neue Theaterkunst enthält, die sich von der Perspektiv- und Illusionsbühne Wagners radikal abwendet. Appias Schrift widmet sich programmatisch den Beziehungen zwischen dem „Inhalt, den zu seiner Mitteilung aufgewandten Mitteln und dieser Mitteilung selbst“, die „bei jedem Kunstwerk“ einen „harmonischen“ respektive musikalischen Zusammenhang eingehen, der sich raumzeitlich entfaltet und den wir, wie er schreibt, „unbewusst […] empfin-
23 Vgl. Haß, Ulrike: „Auge oder Ohr? Piscators Politisches Theater und Tollers Hoppla, wir leben in Berlin 1927“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Weiler, Christel (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin 1998, S. 116-132. 24 Einen schlafenden Menschen bezeichnet Paul Klee als „ein Gefüge von Funktionen“, einen Baum als „ein Gefüge von Zuständen des Wachstums“, einen „Mensch(en), über das Deck eines Dampfers schreitend“ schließlich als „ein Gefüge von Bewegungen im Weltall“, vgl. Klee, 1976, S. 120f. 25 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Hg. von Günther Rösch. Berlin 1993, S. 412.
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den“26. Appia hat sowohl dem System als auch der Eigenbewegung von Ausdrucksmaterialien die höchste Aufmerksamkeit gewidmet. Miteinander verflochten und einander differenzierend verweben sich diese Materialien, unter die auch die beweglichen Körper der Darsteller zählen, in einem selbstaffirmativen Prozess, den Appia später ‚lebendige Kunst‘ nennen wird: l’art vivant27.
‚R HYTHMISCHE R ÄUME ‘ ‚Rhythmische Räume‘ entdecken das eigenaktive Wechselspiel der Komponenten von Bewegung, Objekten und Licht. Derselben Entdeckung verdankt sich das frühe Kino. Appia ist mehr als nur ein Bühnenerneuerer. Seine Arbeiten korrespondieren mit den epistemologischen Erschütterungen Europas um 1900, die hier unter dem Aspekt der Umweltexplikation skizziert werden.28 Überall drängen eigenaktive Konstellationen von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren in den Vordergrund. So zeigen Appias Zeichnungen Rhythmische Räume (1909) Ensembles, die sozusagen nur aus Mitspielern bestehen: Treppen, Schrägen, vertikale und horizontale Elemente, Lichteinfälle, Schattenwürfe. Man könnte dieses Ensemble auch als einen Chor der Dinge beschreiben, der offenbar in einem unzähligen Tun befangen ist. Seine Mitspieler steigen, fallen, verdecken, öffnen, fallen, werfen, widerstehen etc. und bilden durch ihre rhythmischen Bezugnahmen Räume. In der Theaterauffassung Appias geht der menschliche Akteur als beweglicher Körper in dieses Ensemble räumlicher und beweglicher Formen ein, indem er sich mit ihren Eigenschaften austauscht. Rhythmische Räume entstehen zwischen lebendigen Körpern, die sich mit unbelebten
26 Appia, Adolphe: Die Musik und die Inscenierung (München 1899). Unv. Nachdruck. Noderstedt 2016, S. 1. 27 Appia, Adolphe: „L‘oeuvre d’art vivant“ (1921), in: ders.: Oevres complètes I-IV. Édition élaboré et commentée par Marie L. Bablet-Hahn, Société suisse du théâtre, Bd. III. Montreux 1983-1992, S. 355-411. 28 Das ist nur ein Aspekt unter anderen möglichen: Jörn Etzold wählt für seine Auseinandersetzung mit Appia ‚um 1900‘ den Fokus eines nachkantianischen Denkens von Raum und Zeit. Bezugspunkte sind: Einsteins Relativitätstheorie und die Umweltlehre von Jakob Johann von Uexküll. Die Freundschaften von Uexküll und Appia mit dem Wagnerianer und Rassenhygieniker Huston Steward Chamberlain explizieren den Begriff des „Milieus“, auch in den Möglichkeiten seiner homogenisierenden, ideologischen Vereinnahmung. Vgl. Etzold, Jörn: „Milieus, Rhythmen, Licht. Zwischen Appia und Uexküll“, in: ders./Hannemann, Moritz (Hg.): rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderlin. Paderborn 2016, S. 253-279.
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Objekten und Formen austauschen. Die in diesem Austausch gebannten Widersprüchlichkeiten bewirken das Spiel von Ko-Akteuren, zu denen die beweglichen Körper, die Objekte und das Licht (als Helligkeit, als gestaltendes Licht) zählen. Mehr nicht.29 Es sind diese drei, die das Spiel rhythmischer Räume als espace vivant ausmachen. Etwas abstrakter ließen sie sich auch als „Bewegung, Licht, Objekte“ fassen und bezeichneten damit gleichzeitig jene Faktoren, auf denen der entstehende Film und das Kino beruhen. Auch oder gerade in dieser äußersten Abstraktion bleiben dabei die signifikanten, medialen Unterschiede erhalten: Während das Filmbild die Objekte in ihrer Eigenschaft als opake, reflektierende Körper fokussiert, sind diese Objekte in Appias espace vivant als Halte- und Stützpunkte lebendiger Körper sowie als deren Ko-Akteure akzentuiert. Bei den drei Komponenten „Bewegung, Licht, Objekte“ handelt es sich um ein in seiner Reduktion kristallines Geflecht des Sichtbaren, das von Appias Bühnenräumen, zeitgleich und ohne bewussten oder gar gesuchten Bezug zur entstehenden Kameratechnik, als Movens des Sichtbarwerdens entdeckt wird. Das Geflecht zeichnet sich dadurch aus, dass sich keine einzelne der Komponenten ohne sofortigen und unmittelbaren Effekt für die anderen verändern lässt. Anhand dieses eigenaktiven Geflechts aus drei Komponenten lässt sich am genauesten zeigen, inwiefern Konstellationen denken und um welches Denken es sich dabei handelt. Die Voraussetzung dafür, dass Konstellationen denken, ist die konsequente Ausklammerung des Subjekts der Selbstverwirklichung. Dies geht im Einzelnen einher mit einer Zerstreuung der Zentralperspektive der Bedeutung, dem Entzug eines vorausgesetzten Betrachters und seiner Wahrnehmungsperspektive sowie der Niederlage des Rahmens, der diese Bezugnahmen regelte. Der in derartigen Dispositiven von Bildern, Bühnen, Sparten etc. zuvor geordnete und reglementierte Zusammenhang geht über auf eine begrenzte Zahl von Komponenten, die sich künstlerisch bewusst installieren lassen, die jedoch, sind sie erst einmal installiert, allein aufgrund und durch ihre Zusammenstellung kreativ sind. Überall in den Künsten quellen im frühen 20. Jahrhundert die Hintergründe hervor (unabhängig davon, wie unterschiedlich stark sich diese Drift zeigt oder äußert), wobei das Vordringen dieser Hintergründe auch in den industriell-technischen Bedingungen eine wichtige Stütze findet.
29 Sie lassen sich leicht auf vier Faktoren erweitern, wenn die mit dem Licht entstehenden Farben dazugerechnet werden und diesen eine eigene Auftrittsqualität zugeschrieben wird. Doch im frühen 20. Jhd. sind wir noch bei der Schwarz-Weiß-Ästhetik des Expressionismus und des frühen Films (der erst Ende der 1920er Jahre farbig wird). welche sich der Entdeckung des gestaltenden Lichts verdankt.
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Mit dieser Rolle des Technischen hängt es zum Beispiel zusammen, dass Appia zwar die Bühne als musikalischen Raum entdeckt, die Musik jedoch nicht zu den drei Komponenten zählt, die den espace vivant erzeugen. Das Musikalische bezeichnet bei Appia das Ganze der raumzeitlichen Entfaltung eines Gewebes aus mindestens drei Mitspielern: bewegliche Körper, Objekte und Licht. Die an zentraler Stelle im Bühnenraum mitspielende Funktion des Lichts wächst diesem jedoch aufgrund der Elektrifizierung zu. Vergleichbar wird der hohe Sekundentakt der Filmbilder, die ihr Laufen lernen, durch die Entdeckungen der Photochemie möglich. Es sind genau diese beiden, im Weltereignis des Krieges so bedeutenden Industrien, Chemie und Elektrizität, die sich in den medialen Alltagserscheinungen (Licht, technische Bilder) auswirken, ihre Weiterentwicklungen in den Künsten erfahren und hier an einer Emanzipation der Hintergründe entscheidend teilnehmen: An der Entfaltung des „Optisch-Unbewussten“30, wie Walter Benjamin mit Blick auf die technischen Bilder formuliert, oder an der Entfaltung des Bewegungsmusikalisch-Unbewussten, wie sich analog mit Blick auf Appia formulieren ließe. In jedem Fall verlangen neue technische Mittel vom Künstler, wie Appia schreibt, „zu erforschen, welche Entwicklung das technische Verfahren an sich ausübt, und wir werden sehen, wie viel verwickelter und wie viel höherer Natur es ist, als wir vorausgesetzt“ 31 haben. Appia ist ein forschender Künstler. Eingedenk der hohen Aufmerksamkeit, die er den technischen Verfahren sowie einer allgemeinen Relationalität entgegenbringt, ist Jörn Etzolds Resümee zu Appia zu unterstreichen: „Appias Begriff der ‚rhythmischen Räume‘ bezeichnet nicht nur eine Revolution des Bühnenbildes, sondern auch eine epistemische Revolution.“32
K ONSTELLATIONEN KONKRET : K INO - DENKEN (G ODARD ) UND D RAMATURGIEMASCHINEN (L AMMERT ) 2010 widmen Dimiter Gotscheff und Mark Lammert an der Volksbühne Berlin Jean-Luc Godard einen Theaterabend, der wesentlich auf der Auseinandersetzung des bildenden Künstlers Lammert mit dem Filmwerk Godards als ‚kinema-
30 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders: Gesammelte Schriften. Bd. VII,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974, S. 351-384, hier S. 371. 31 Appia, 2016, S. 219. 32 Etzold, 2016, S. 278.
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tischer Malerei‘ beruht.33 Der Abend knüpft direkt an die epistemische Revolution Appias an (obwohl vermutlich weder Lammert noch Godard Appia rezipiert haben). Godards Filme zeichnen sich in hohem Maß durch ein Bilddenken aus, das der Malerei entspricht und sind mit sprachlichen Hinweisen auf das Wissen von der Malerei gespickt. Die Frage dieses Abends, der sich u.a. auf Godards Film La Chinoise (1967) stützte, ließe sich vielleicht so übersetzen: Was verbindet kinematische Malerei mit der bewegten Bildlichkeit von Bühnenräumen? La Chinoise portraitiert einen maoistischen Zirkel von fünf jungen Leuten, die in Nanterre studieren und die sich in ihren Semesterferien der Revolution widmen. Unter ihnen ist ein Wahrnehmungstheoretiker, der ausführt, dass wir es im Feld der visuellen Wahrnehmung nicht mit Abbildungen (von Realität), sondern mit einem Fluss des Sichtbarwerdens und dessen Raum zu tun haben. „Bei allen Dingen, die man visuell wahrnimmt“, heißt es im Film, „muss man zunächst drei Dinge in Betracht ziehen. Die Position des Auges, das wahrnimmt. Die des Objektes, das wahrgenommen wird. Und die des Lichtes, das es beleuchtet. Die Realität hat vielleicht bis heute noch nie jemand wirklich zu Gesicht bekommen.“ (Die Chinesin) Die Wahrnehmung spielt zwischen diesen drei beteiligten Positionen. Damit ist gesagt, dass sie dazwischen spielt und ihr kein Sichtpunkt außerhalb dieser Konstellation zukommt. Als Regisseur und Theoretiker hat Godard dieses Dazwischen mit dem Spielraum der Kamera identifiziert, die innerhalb des permanent veränderlichen Relationsbündels von Auge, Objekten und Licht kommuniziert, währenddessen das Bild, vierundzwanzigmal mal pro Sekunde, fokussiert. Indem die Kamera bestimmte Relationen aktualisiert, spielt sie den Motor der Erfindung oder der Narration. Sie kommuniziert ausschließlich im Feld der visuellen Wahrnehmung und folgt keinem Konzept, das außerhalb oder vor ihrem Tun entstanden ist. Alles hängt bei Godard mit einem Begriff des Bildes als Bezugnahme ab, die als solche in viele Richtungen geht. (Ein Bild ist immer schon Teil eines wirklichen oder eines imaginären Museums, es dehnt sich in der Gleichzeitigkeit aus, in der es sich vielen zeigt und wahrnehmbar für vieles wird. Für die Produktion gibt es möglicherweise ein vages Sujet, aber keine konkreten Vorstellungen. Das Motiv soll sich, Godard zufolge, in der Produktion selbst erschaffen.) Man könnte dieses Bilddenken, das die Beziehungen und die Bezugnahme vor den Fokus und vor den Ausschnitt setzt, auch als den Versuch bezeichnen, ins Innere der Bilder vorzudringen und in jenen Konstellationen zu
33 Die Chinesin, Premiere am 23. September 2010 in der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz Berlin.
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denken, in denen das Bild allererst wird und das Denken ununterscheidbar mit der Wahrnehmung in eins fällt.34 Für die Kunst seiner Bühnenräume knüpft Mark Lammert an diese Epistemologie des Sichtbarwerdens an und formuliert sie für die Ausgangsbedingungen der Bühne neu, insofern es hier um die Frage geht, „worin die Sprache ihren Raum findet, welchen Raum sie damit erzeugt und wie die Sprache räumlich bewegt wird“35. Lammert legt die Konstellation der mitdenkenden Bühnenkräfte folgendermaßen dar: Zunächst benennt er die beweglichen, sich bewegenden Körper von Objekten und Akteuren. Der „Körper, der der Akteur sein kann“, ist amalgamiert mit der Bewegung. Er ist derjenige, der „die Um- und Übersetzung der Raumveränderung zu tragen hat (…), denn zwischen ihm und der Hülle, dem BÜHNENHAUS, gibt es nur den Raum und Licht“. Mit dem Hinweis auf die Hülle des Hauses werden die Bedingungen des Innenraumtheaters angesprochen, dessen vertikal aufragendes Bühnenhaus die (barocke) Maschinerie birgt. „Haus, Körper, Licht und Raum“ bilden ein bewegliches Relationsbündel, Lammert nennt es ein „flexibles System“. Die konstellierten Komponenten erweitern sich an dieser Stelle, weil neben beweglichen Körpern die andere Bewegung der Maschinerie mitgedacht wird. Beide Bewegungen sind sehr unterschiedlich. „Die menschliche Bewegung kann den GRUNDRISS ausschreiten“, die „Maschine Raum“ kann den Grundriss „aufreißen“. Infolgedessen „agiert (der Raum) und erweitert, auch sich selbst“ 36. Lammerts Farben schließlich bilden eine eigene, sehr ungewöhnliche und entscheidende Erweiterung im flexiblen System der Bühnenkräfte. Im Hinblick auf die Autonomie ihrer Auftrittsmöglichkeiten und Erscheinungsweisen spielen die Farben mit schlichtweg a-signifikanten Kräften, mögen dies nun die Affekte sein
34 Keineswegs zufällig bildet das Werden des Bildes auch ein Thema von La Chinoise 1967, in dem Godard eine Bewegung im Zustand ihres Werdens portraitierte, und keineswegs zufällig passierten die Ereignisse ‚ein Jahr später wirklich‘ (Gründung der studentischen Organisation der Maoisten im März 1968 in Nanterre; wenig später ein Studenten-Aufruhr in Nanterre, der zum Fanal für ganz Frankreich wurde). 35 Lammert, Mark: „Raum als Dramaturgiemaschine“, in: Eke, Nobert Otto/ Haß, Ulrike/Kaldrack, Irina (Hg.): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn 2014, S. 285-301, hier S. 285. Alle im Absatz folgenden Zitate sind der komprimierten Darstellung Lammerts auf dieser Seite entnommen. 36 Ebd.
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oder eine Sphäre des Unermesslichen (des Außen, von dem sich Theater sukzessive, jedoch nur vermeintlich trennte).37 Dieses Ensemble der Bühnenkräfte bezeichnet jedoch nicht nur eine bewegliche öffentliche Skulptur des Sichtbarwerdens, sondern auch schlichtweg das Ensemble, „worin die Sprache ihren Raum findet“38. Lammerts Bühnenräume sind nicht zuletzt, sondern von Beginn an (und darin unterschieden vom Bildwerden des Films) hochpräzise ‚Dramaturgiemaschinen‘, in denen Spielmöglichkeiten von Körpern und Objekten mit den Gelenkstellen von Texten korrespondieren – während der Akteur frei bleibt, ein „nicht sesshafter Nomade der Sprache“39, wie Lammert schreibt. Eine Ahnung von der Komplexität derartiger Konstellationen mag sich einstellen, wenn ihre extreme Dehnung und Wandelbarkeit in den Blick kommt. Dass sie sich für Mozart-Opern ebenso eignen, wie für Die Perser oder Heiner Müllers Germania 3 verweist auf das ihnen inhärente Differenzierungsvermögen oder eben: ihr Denken.
W ELCHER B EGRIFF DES D ENKENS KOMMT K ONSTELLATIONEN ZU ? Klassische, subjektzentrierte Begriffe des Denkens sind für den Logos und die Rationalität voreingenommen. Die reflexive Eigenaktivität von Konstellationen kann jedoch nicht mit Begriffen beschrieben werden, die dem logischen Schließen oder der Synthesebildung anhand einer Logik der Negation verpflichtet sind. Die Gleichzeitigkeit und Asymmetrie von wechselseitig aufeinander wirkenden Faktoren verbietet die Annahme von Unterscheidungen, die in Negationen wurzeln. Der Begriff des Denkens als intentionale Bezugnahme scheint zu stark im Bewusstsein zentriert (Merleau-Ponty), um Konstellationen aus mentalen und nichtmentalen Beteiligten beschreiben zu können. Für Konstellationen muss ein subjektloser Typus des Unterscheidens in Betracht gezogen werden können, eine Eigenaktivität des Differenzierens, die ohne dezidierten Bezug auf ein Selbst, aber nicht ohne Umwelt ist. Es handelt sich um ein Denken, das, wie das Wahrnehmungsdenken, noch nicht durch das Nadelöhr der Sprache gegangen ist. Die unterscheidende Eigenaktivität von Konstellationen lässt sich meines Erachtens nicht anders denn als sich in sich differenzierendes Gefüge beschreiben. Konstellationen verdanken sich einer Vielzahl heterogener und vielfältig gebro-
37 Vgl. Haß, Ulrike: „Blau in Epidauros“, in: dies. (Hg.): Mark Lammert. Bühnen Räume Spaces. Berlin 2013, S. 166-168. 38 Lammert, 2014, S. 285. 39 Ebd.
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chener Ursprünge, die niemals restlos aufgeklärt werden können oder dingfest zu machen sind. Daher haben sie kein Ursprungsproblem. Vielmehr verdanken sie sich einem originären ‚Mit‘, das ontologisch gewendet werden kann, aber auch in allen Ausdruckgefügen notwendig vorliegt. Konstellationen im weiten, hier absichtlich nicht streng konturierten Begriff bezeichnen Zusammensetzungen aus mehreren Positionen, Figuren oder Stellungen, die somit als KomPositionen, Kon-Figurationen oder Kon-stellationen auftreten. Es kennzeichnet sie, dass sie als ausgedehnte res extensa vorliegen, die jedem Einzelnen, jedem Protagonisten, jeder individuellen Äußerung vorausgeht. Als das schlichtweg Mehrfache liegt etwa auch die Sprache oder die Wahrnehmung im Inneren der Bilder einem Sprechen, einem Bild, einem Film, einer Aufführung voraus. Die Heterogenität ihrer Vielanfänglichkeit verbietet es, hier vom Sinn eines ersten Anfangs auszugehen. Konstellationen unterscheiden sich in sich. Die Aktivität der Unterscheidung ist ihnen nicht äußerlich angeheftet und tritt nicht als eine besondere Qualität in Erscheinung, sondern bildet die ihnen inhärente Eigenschaft. In sich unterschieden, getrennt und dennoch zusammengefügt, sind Konstellationen eigenaktiv aufgrund der in ihnen gefügten und dennoch voneinander unterscheidbaren Faktoren. Ein Nicht-zur-Ruhe-kommen kennzeichnet Konstellationen, deren Elemente sich in ihrer Zusammensetzung kritisieren, angehen, trennen, bewegen. Vor allem anderen ist diese Eigenaktivität vielleicht als Bewegtheit zu beschreiben, die ihrerseits Bewegungen wahrnimmt. Sobald menschliche Akteure oder Betrachter dazukommen, spielen Affekte eine Rolle. Es ist wie mit dem ‚gewissen Zustand‘ im eingangs zitierten Satz von Kleist. Wir fangen niemals bei oder mit uns selbst an, sondern finden uns ‚allererst‘ als Teil von Konstellationen vor, die uns mit ihrem eigentümlichen Pulsieren und ihrer Unmöglichkeit, zur Ruhe zu kommen, angehen. Wir haben teil an ihren Eigenaktivitäten, die unterscheiden, trennen, denken, mithin teil an diesem Denken.
Andere Chronotopographien
„Hold your breath against time“ Zum Denken einer Widerständigkeit der Zeit bei William Kentridge Julia Schade
Denken: Eine Geschwindigkeit, über die keine Zeit Rechenschaft ablegen kann und daher keine Geschwindigkeit. Ein Abweichen, eine Dislokation.1
Ein Denken (der Bühne) jenseits zeitlicher (Rechtfertigungs-)Zwänge – verweist dieser Ansatz nicht auf die grundsätzliche Problematik, wie Zeit überhaupt denkbar wird? Wenn Denken keine Geschwindigkeit, also selbst keine Zeit hat, wie kann dann Zeit, zumal als abweichende, gedacht werden? Und wie kann dieses Denken von Zeit eine Darstellung finden ohne dabei berechnend, also alles Abweichende sogleich als bloße Unregelmäßigkeit verwerfend, vorzugehen? Diesem Fragenkomplex von Zeit-Denken und ihrer Darstellung widmet sich der südafrikanische Künstler William Kentridge in seiner installativen Arbeit The Refusal of Time. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Arbeit die Annahme einer universellen Zeit als Konstrukt einer westlichen Denktradition verhandelt und mit einer ihr eigenen Widerständigkeit konfrontiert. Es ist die besondere Theatralität der Zeit als ein solches Konstrukt, als Hybrid aus Maß und Abweichung und schließlich als szenisches Prinzip, die auf der ‚Bühne‘ der Installation erfahrbar wird. Der vorliegende Beitrag situiert sich innerhalb des Kontexts zeitgenössischer Diskurse über andere Zeitlichkeiten, die in den letzten Jahren einen enormen
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Nancy, Jean-Luc: „Raum gegen Zeit“, in: ders.: Das Gewicht eines Denkens. Düsseldorf/Bonn 1995, S. 103-107, hier S. 104.
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Aufwind erfahren haben, nicht zuletzt auch im Zuge postkolonialer Kritik und queer-feministischer Ansätze.2 Dieser Aufsatz geht jedoch von einer zentralen Prämisse aus: Ein anderes Denken von Zeitlichkeit und ein Denken anderer Zeitlichkeit kann sich nicht damit begnügen, eine bloße alternative Version von Zeit in ihren gewohnten Repräsentationen – als linear fortschreitende universelle Zeit – zu entwerfen.3 Ein solchermaßen vermeintliches Neuschreiben wäre nämlich nichts weiter als ein Fortsetzen des dominanten Denk- und Darstellungsmusters von Zeit. Von daher soll es im Folgenden um Versuche gehen, über Zeitlichkeit so nachzudenken, dass dabei auch die (Un-)Möglichkeiten und Abweichungen zeitlicher Darstellung und Vorstellung berücksichtigt werden: Formen eines Zeitdenkens, das nicht mehr mit bekannten Zeitkategorien, -vorstellungen und -formen zu fassen ist. Zunächst wird ausgehend von einer Bemerkung Gershom Scholems die Frage nach einem Ausweg aus dem universellen Zeitdenken und seiner Form der Repräsentation aufgeworfen. In einem zweiten Schritt wendet sich der Beitrag dann William Kentridges The Refusal of Time zu, in der die Konstruktion der einen Zeit als Hegemonialisierungsbewegung nachvollzogen und schließlich etwas aufgezeigt wird, was der Zeit selbst als Unzeit und damit widerständiges Moment immer schon inhärent ist.
D IE ÄUßERLICH FIGÜRLICHE V ORSTELLUNG DER Z EIT „Dies ist ein Gedankenkomplex über den ich noch einmal sehr viel nachdenken will. Die Zeit ist wohl ein Ablauf; aber ist die Zeit gerichtet?“4 Diese Frage bil-
2
Chakrabarty, Dipesh: Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000; Mbembe, Achille: On the Postcolony. Berkeley 2001; Freeman, Elizabeth: Time Binds: Queer Temporalities, Queer Histories. Durham 2010; Baraitser, Lisa: Enduring Time. London 2017; Barad, Karen; „Troubling Time/s and Ecologies of Nothingness: Re-turning, Re-membering, and Facing the Incalculable“, in: Fritsch, Matthias/Lynes, Philippe/Wood, David (Hg.): EcoDeconstruction: Derrida and Environmental Philosophy. New York 2018, S. 206248.
3
Zur Problematik der Wiedereinschreibung kultureller Differenzen durch die Behauptung kultureller Eigenzeiten siehe ausführlich: Helgesson, Stefan: „Radicalizing temporal difference: anthropology, postcolonial theory, and literary time“, in: History and Theory 53 (December 2014). Wesleyan University 2014, S. 545-562.
4
Scholem, Gershom: Tagebücher, nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923. Bd. 1. Hg. von Karlfried Gründer, Herbert Kopp-Oberstebrink und Friedrich Niewöhner. Frankfurt a.M. 1995, S. 390. Scholem beschäftigt sich zum Zeitpunkt des Gespräches mit
Zum Denken einer Widerständigkeit der Zeit bei William Kentridge | 203
det im Sommer 1916 den Ausgangspunkt eines langen Gesprächs zwischen Gershom Scholem und Walter Benjamin, das der erste in seinen Tagebuchaufzeichnungen festhält. Wenn Scholem diesem Gedankenkomplex mehr Zeit widmen will, so deshalb, weil jener an die grundsätzliche Frage nach Zeit und ihrer Darstellung rührt. Bereits an der Formulierung, Zeit sei „wohl ein Ablauf“, wird die Bezugnahme auf gewisse gültige, vorausgesetzte Zeitvorstellungen deutlich, allerdings auf eine doppelte Weise: Sie vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck einer fast resignativen Akzeptanz der in der Kritik der reinen Vernunft formulierten kantischen Annahme, Zeit sei nicht ohne das „Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll)“5 zu denken. Dann jedoch folgt Scholems Einschränkung „aber ist die Zeit gerichtet?“, die der vermeintlichen Gewissheit des ersten Satzes, dass Zeit als eine unumkehrbar ablaufende selbstverständlich auch eine gerichtete sei, plötzlich den Boden entzieht. Im Verlaufe des Gesprächs lehnen Scholem und Benjamin schließlich die kantische Prämisse, dass die Zeit im Sinne einer unumkehrbaren Bewegung als Grade zu denken sei, als eine „durchaus metaphysische Behauptung“ 6 ab, um daraufhin folgende enigmatische und für die weitere Denkbewegung des vorliegenden Beitrages zentrale Überlegung anzustellen: „[V]ielleicht ist sie [die Zeit] eine Zykloide oder sonst etwas, die doch an vielen Punkten keine Richtung hat.“7
mathematischen Studien und der Möglichkeit der Ermittlung einer ‚Weltformel‘, die Welt und Zeit in sich vereint. Peter Fenves legt nahe, Scholem sei wahrscheinlich beeinflusst durch Felix Hausdorffs zweites philosophisches Werk Chaos aus kosmischer Auslese: Ein erkenntniskritischer Versuch (veröffentlicht unter dem Pseudonym Paul Mongré, Leipzig 1898), in dem der Begriff ‚Ablauf‘ eine prominente Rolle einnimmt. Vgl. Fenves, Peter: The Messianic Reduction. Walter Benjamin and the Shape of Time. Stanford 2011, S. 108f. 5
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1. Werkausgabe Bd. III. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974, B 154. [Hervorhebung J.S.]
6
Scholem, 1995, S. 390. Wie Peter Fenves nachweist, nimmt dieses Gespräch einen beachtlichen Einfluss auf Scholems weiterführende Arbeit, nicht zuletzt unmittelbar auf seine Entscheidung, seine mathematischen Studien zugunsten der jüdischen Philologie aufzugeben. Besonders deutlich wird dies in einem Brief an seinen Verleger Zalman Schocken im Jahre 1937. Der Brief ist abgedruckt in: Biale, David: Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History. Harvard 1982, S. 154f. Vgl. Fenves, 2011, S. 238f.
7
Scholem, 1995, S. 390.
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Auf einmal wird Zeit also mit einer geometrischen Figur in Verbindung gebracht, die aber auf geschickte Weise Ablauf 8 und Richtung in einen neuen Zusammenhang bringt und darüber hinaus die beiden einflussreichsten Denkfiguren von Zeit überhaupt miteinander verschränkt: Zum einen die des Kreises, der im Mittelalter und Barock als zyklisches Denken der ewigen Wiederkehr für eine Gegenvorstellung zum modernen Zeitdenken steht und von Jacques Derrida als eine der „mächtigsten und unvermeidlichsten Metaphern, jedenfalls in der Geschichte der Metaphysik“9 beschrieben wird; zum anderen die direktionale gerade Linie, die schließlich im Zeitdenken der Neuzeit die Repräsentation von Zeit schlechthin darstellt und für Kant die ‚äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit‘ bildet. Die Zykloide hingegen, die Scholem und Benjamin ins Spiel bringen, verpflichtet sich keinem dieser beiden Darstellungsweisen. Sie ist eine dem Kreis ähnliche Figur: eine zyklische Kurve, die ein Kreispunkt beim Abrollen eines Kreises auf einer Leitkurve, zum Beispiel einer Geraden, beschreibt. Die Vorstellung von Zeit als Zykloide wäre demzufolge weder Kreis, noch eine gerade Linie, sondern ein Hybridmodell, in dem sich beide bedingen: die Aufzeichnung einer Bewegung, die zwar kontinuierlich ist, aber keine Richtung hat und ihrem eigenen Gesetz, demjenigen der Kurve, folgt, was jedoch eben nicht jenes von Sukzession und Abfolge ist.10 Nun ist über alle geometrischen Feinheiten hinaus das eigentlich Entscheidende an Scholems Notiz der unscheinbare Zusatz „vielleicht ist sie eine Zykloide oder sonst etwas“. Welches sonst etwas, welches andere ist es, das hier angedacht wird?
8
Peter Fenves verweist darauf, dass „Ablauf“ hier einen kontinuierlichen Prozess oder Lauf impliziert, der dementsprechend auslaufen und verfallen kann. Vgl. Fenves, 2011, S. 108.
9
Vgl. Derrida, Jacques: Zeit geben. Teil 1. Falschgeld. München 1993, S. 18.
10 Wie Peter Fenves darlegt, findet sich eine ähnliche Vorstellung der Zeit als eine in sich Wendepunkte aufweisende, gewendete bereits in Benjamins – vor dem Gespräch zwischen ihm und Scholem verfassten – Aufzeichnung zu „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“, in der Formulierung „Wende der Zeit“, die Benjamin aufgreift und dann folgert, sie erfasse „noch den Augenblick der Beharrung, gerade das Moment innerer Plastik der Zeit“. Statt die „Wende der Zeit“ im Sinne eines revolutionären Umbruches zu deuten, denkt sie Benjamin im Zusammenhang mit dem, was Henri Bergson Dauer (durée) nennt. Vgl.: Benjamin, Walter: „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1978, S. 105-126, hier S. 120; sowie: Fenves, 2011, S. 15.
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U NZEIT Auf den ersten Blick scheint es, als wäre lediglich eine andere, alternative Zeit als diejenige der Zykloide gemeint: Als könne sie auch anders als in der (geometrischen) Form der Zykloide denkbar sein. Bei genauerer Betrachtung aber tut sich eine weitere, wesentlich radikalere Möglichkeit auf, nämlich die einer gänzlich anderen Form von Zeit, die folgende Überlegung nach sich zieht: Wenn wir davon ausgehen, dass Zeit nicht nur eine Form hat sondern auch Form ist, dann kann diejenige Zeit, die den Anspruch erhebt, etwas anderes zu sein, auch nicht mehr als Zeit mit den bereits bekannten Formen und Kategorien operieren. Und weiter: Eine Zeit, die etwas anderes als Zeit ist, kann eigentlich auch keine Zeit mehr sein. Obwohl Scholems und Benjamins Versuch des Um-Denkens der kantischen ‚äußerlich figürliche[n] Vorstellung‘ von Zeit immer noch auf eine geometrische Form als Referenzpunkt angewiesen ist, schwingt in ihrem Gedankenkomplex unweigerlich die Frage nach der Möglichkeit eines Denkens von Zeit abseits ihrer herkömmlichen Formen oder gar als gänzlich formlos mit. Gefragt wird also nach einer Zeit, die keine eine Zeit mehr ist, sondern als etwas anderes als diese Zeit auftritt, als eine andere Zeitlichkeit. Diese, so scheint es hier, bezeichnet nicht die chronometrisch messbare Zeit oder den die Dauer angebenden Verlauf in den Uhren, sondern vielmehr das Prinzip von Zeitlichkeit überhaupt, das jeder Zeit inne wohnt. Genau damit zeigt sich in der kurzen Bemerkung Benjamins und Scholems – wenn auch implizit – eine noch grundsätzlichere Problematik, vor der kein Zeitdiskurs wirklich gefeit ist: die Behauptung einer transzendentalen Zeitlichkeit. Wenn Zeitlichkeit als diejenige andere Zeit gedacht wird, die jeder Zeit bereits als Prinzip inhärent ist und Auskunft über die Zeit zu geben vermag, die sie selbst über sich nicht erteilen kann, stoßen wir dann nicht auf eine ontologische Figur? Wenn es dieses übergeordnete kategoriale Prinzip der Zeitlichkeit gibt, kann es dann überhaupt mehrere Zeitlichkeiten oder andere Zeitlichkeiten geben? Dieses Problem anvisierend, spricht Werner Hamacher in seinem Text „DES CONTRÉES DES TEMPS“ von „Unzeit“11 als einer Bewegung, die jeder Zeit als widerständiges Prinzip immer schon eigen ist, selbst aber niemals die Form der Zeit annehmen kann. Unzeit markiert damit jene andere Zeitlichkeit, die „zugleich“12 mit der Zeit ist und doch in ihr als „Stück einer anderen Zeit oder von
11 Hamacher, Werner: „DES CONTRÉES DES TEMPS“ (1989), in: Tholen, Georg Christoph/Scholl, Michael O. (Hg.): Zeit-Zeichen. Weinheim 1990, S. 29-36. Vgl. Nancy, 1995. 12 Hamacher, 1990, S. 30.
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etwas anderem als der Zeit in die verlaufende Eine [Zeit] interveniert“13. Sie verweist damit immer auch auf das, was derjenigen einen Zeit, der sie innewohnt, bereits unzeitgemäß ist.14 Damit setzt Unzeit genau in jenem Moment ein, an dem Scholem und Benjamin in ihrem Gespräch das Sonst-Etwas der Zeit berühren, aber nicht weiterführen: die Möglichkeit einer anderen Zeitlichkeit, die sich herkömmlichen Repräsentationen entzieht und damit ein Um-Denken eben dieser Form der Repräsentation selbst erfordert. Obwohl Hamacher auch von „Contretemps“15 spricht, will er dies keineswegs als Gegen-Zeit im Sinne einer Verneinung oder Gegenfigur zur Zeit missverstanden wissen: Denn eine solche Gegenfigur stünde als Verneinung weiterhin in Relation zu den gegebenen Repräsentationen von Zeit und ihrer Form und wäre damit bloßes mimetisches Äquivalent zu jenen Formen der Repräsentation, denen sie sich widersetzt. 16 Unzeit steht damit für jene widerständigen Momente, die selbst keine Form haben, diese aber bedingen. Als solche stellen sie die Frage nach einer anderen Vorstellung von Zeit, wie sie im szenisch-theatralen Raum der im Folgenden beschriebenen Arbeit relevant wird.
13 Ebd. 14 Auch hier mag die Formulierung eines übergeordneten Prinzips den Vorwurf des Essentialismus nach sich ziehen. Hamacher begegnet diesem, wenn er einige Jahre später in seinem Aufsatz „N’essance“ dieses Problem in Hinblick auf Derridas Gebrauch von „Unzeit“ in dessen Text „Der Aphorismus – zur Unzeit“ deutlich aufzeigt: Derridas hier verwendete Formulierung einer „essential contretemps“ als „essential possibility“ dürften ausdrücklich nicht als „essential“ im traditionellen philosophischen Sinne verstanden werden. Vielmehr sei „contretemps“ als immer bestehende Möglichkeit einer Kollision mehrerer Zeiten zu denken und damit „in the strict sense of the word, inessential“. Vgl. Hamacher, Werner: „N’essance“ in: The Oxford Literary Review 36.2. Edinburgh 2014, S. 212-215, hier S. 212 sowie Derrida, Jacques: „Der Aphorismus – zur Unzeit“, in: ders.: Psyche. Erfindungen des Anderen. Bd. II. Wien 2013, S. 121-140. 15 Hamacher, 1990, S. 31. 16 Vgl. ebd. Hamacher verortet darin einen wesentlichen blinden Fleck all jener zeitgenössischen Diskurse, die alternative Zeitlichkeitsentwürfe als Diskontinuitäten behaupten, denn diese ließen außer Acht, dass alles, was gegen (against or counter) Zeit gerichtet, immer noch mit dieser Zeit identisch sei.
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T HE R EFUSAL OF T IME William Kentridges The Refusal of Time verhandelt ein Prinzip der Widerständigkeit von Zeit, das sich konkret szenisch bemerkbar macht und jede Form der Ontologisierung unterminiert. Den Moment der Widerständigkeit gegen die Zeit trägt die Arbeit des südafrikanischen Künstlers bereits im Titel, denn The Refusal of Time17 kann zum einen als die Verweigerung der Zeit verstanden werden: als Weigerung gegen die ‚Zeit‘ als messbare einheitliche, abstrakte Größe und der mit ihr verbundenen Gewissheiten, und darüber hinaus, wie zu zeigen sein wird, als klare Ablehnung und Abarbeitung am Absolutheitsanspruch des Konzeptes dieser einen Zeit und ihrer politisch-kolonialen Konsequenzen. Zum anderen aber lässt sich The Refusal of Time auch als Weigerung der Zeit selbst verstehen, als Widerständigkeit der Unzeit, die die Zeit in sich trägt. Beide Bewegungen – diejenige einer klar gerichteten Zurückweisung sowie jene eines aus dem Inneren des Zeit-Konzeptes selbst kommenden Widerstandes – finden sich in der Installation wieder. Sobald ich den dunklen Raum der Installation im Seitenflügel der Gründerzeitvilla des Liebieghauses18 betrete, bin ich umgeben von pulsierenden, flackernden, sich ständig verformenden und gegenseitig überlagernden Sound- und Bildlandschaften aus Zeichnungen, Soundelementen und Filmsequenzen: fünf parallele Projektionen sind ringsherum an die Wände geworfen, sie zeigen zunächst fünf riesige Metronome. Was synchron mit einem langsamen Ticken beginnt, formt sich schließlich zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie aus wild durchei-
17 The Refusal of Time beruht auf Gesprächen des Künstlers mit dem Physiker Peter Galison. Vgl. Kentridge, William/Galison, Peter L.: Die Ablehnung der Zeit (=aus der Reihe 100 Notes – 100 Thoughts, Documenta 13). Berlin 2011. 18 Ursprünglich aus der musikalischen Theater-Performance The Refuse of the Hour (2012) hervorgegangen und für die dOCUMENTA 13 produziert, war die Installation The Refusal of Time im Verlauf der letzten Jahre als Teil zahlreicher weltweiter SoloAusstellungen des Künstlers zu sehen, wie zuletzt in einer leicht modifizierten Variante im Rahmen der Ausstellung O Sentimental Machine 2018 im Liebieghaus Frankfurt am Main, auf die ich mich im Folgenden beziehe und die zudem eine besondere Zeitund Ortspezifik aufweist, da sie im Dialog mit der bestehenden antiken Skulpturensammlung des Museums entstanden ist – inszeniert von Sabine Theunissen und kuratiert von Vinzenz Brinkmann und Kristin Schrader. Vorherige Solo-Ausstellungen u.a.: The Refusal of Time im SFMOMA 2016/17, Thick Time in der Whitechapel Gallery London 2016/17, No it is! im Martin-Gropius-Bau Berlin 2016.
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nanderschlagenden Metronomen, schrillen Fanfaren und Gesang während in der Mitte eine riesige pneumatische Maschine unbehelligt in ihrem eigenen Takt vor sich hin arbeitet: als eine Art Zwitter aus Harfe, Akkordeon, Galgen und Blasebalg auf Holzschienen stößt sie dabei ein regelmäßiges, beruhigendes, dumpfes Atmen aus. Kentridge selbst spricht von ihr als einem Hybrid, das „teilweise Pumpe, teilweise eine atmende Lunge“19 sei und die er in Anlehnung an einen Roman Charles Dickens’ „The Elephant“20 nennt. Er ist Herzstück und taktgebendes Zentrum der gesamten Installation: Egal wie chaotisch und asynchron sich die einzelnen Elemente der Arbeit auch zueinander verhalten, das leise dumpfe ununterbrochene Atmen der Maschine bildet eine rhythmische Grundstruktur, die stets intakt bleibt. In dem, was Kentridge selbst als eine „chaotische Serie von einander überschneidenden Filmen, Tänzen und Zeichnungen“ 21 beschreibt, wird die Unüberschaubarkeit zum Prinzip. In der Asynchronität der Sound-, Video- und Bildfragmente zeichnet sich bereits ein Widerstand gegen jede Form der Vereinheitlichung ab. Als Besucherin bin ich der rasanten visuell-auditiven Tour de force nahezu orientierungslos ausgeliefert – unmöglich allen Projektionen gleichzeitig zu folgen, drehe und wende ich mich in diesem Bilderkabinett hin und her. Erfinderlaboratorien aus dem 19. Jahrhundert erscheinen, in denen in Kittel gekleidete Menschen an riesigen Apparaten und Geräten arbeiten, die alle der Vermessung dienen: unzählige Uhren mit alten Ziffernblättern, eine Waage, ein riesiges astronomisches Fernrohr, ein Modell der Gestirne und Planeten, ein Durcheinander von querlaufenden Kabeln im Hintergrund. An pneumatischen Geräten verschiedenster Ausformung wird slapstickartig gekurbelt, geschraubt und gepumpt, während – kaum wahrnehmbar unter dem Tönen der Musik – die leise Stimme Kentridges aus einem der im Raum verteilten metallenen Megaphontrichter zu hören ist und von Einsteins Relativitätstheorie, der „eigentümlichen Konsequenz“22 der Bewegung des Lichts und dem Mythos des Perseus erzählt, in wel-
19 https://www.deutschlandfunkkultur.de/gegen-den-lauf-der-zeit.1153.de.html?dram: article_id=216402 vom 30. Juli 2012. 20 „The Elephant“ verweist auf Dickens’ Roman Harte Zeiten, in dem er die Maschinen der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts beschreibt, als bewegten sie sich „wie der Kopf eines Elefanten im Zustande trübsinniger Narrheit“. Vgl. Dickens, Charles: Harte Zeiten. Frankfurt a.M. 1986, S. 37. 21 Kentridge, William: Sechs Zeichenstunden. Köln 2016, S. 184. 22 Vgl. Einstein, Albert: „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“, in: Annalen der Physik. Jg. 322, Heft 10 (1905), S. 891-921, hier S. 904 sowie Kentridge/Galison, 2011, S. 43.
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chem der Protagonist daran scheitert, der ihn einholenden Zeit des Schicksals zu entfliehen. Enigmatisch erscheinen plötzlich die Worte „HOLD YOUR BREATH AGAINST TIME“ in blutroten Lettern auf den Seiten eines alten, verwitterten Liturgiebuchs aus dem 18. Jahrhundert – eine Vorahnung der Rolle, die der Atem als Motiv des Widerständigen in Kentridges Arbeit einnimmt.
D AS J AHRHUNDERT DER S YNCHRONISIERUNG Im Zentrum der Arbeit steht zunächst der klare Bezug auf einen Paradigmenwechsel im Zeitverständnis vor dem Hintergrund einer Verschränkung von Industrialisierung und Kolonialisierung. Die Animationen und Filmsequenzen entstammen allesamt dem Bilderarsenal eines Jahrhunderts, in dem sich die Vorstellung der technisch perfektionierten chronometrischen Zeit herausbildet und in Form eines universellen Zeitregimes etabliert: Des „Regime[s] der Synchronisierung“23. Dieses wird bei Kentridge nicht allein als Konsequenz, sondern vielmehr zugleich als Voraussetzung für technischen Fortschritt, Globalisierung und Etablierung der kolonialen Weltordnung verhandelt; und damit für eine dem Humanismus verschriebene Welt- und Fortschrittsgeschichte, die von der universalistischen Prämisse ausgeht, dass die eine Zeit für Alle gilt – ein Universalismus, der nur unter Ausblendung anderer Zeit- und Geschichtsentwürfe möglich wird und der dem afrikanischen Kontinent Zeit und Geschichte gar gänzlich abspricht.24
23 Gamper, Michael/Hühn, Helmut: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Hannover 2014, S. 723, hier S. 18. 24 Bei Hegel heißt es, der afrikanische Kontinent „ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen“. Hegels folgende Charakterisierungen des „afrikanischen Prinzips“ sind geprägt durch die Vorstellung eines konstitutiven ‚zu-spät-Seins‘ des schwarzen Subjekts. Siehe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke. Bd. 12. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1989, S. 129. In seiner Studie On the Postcolony zeichnet Achille Mbembe nach, wie sich diese Figur in zeitgenössischen Diskursen über Afrika und das schwarze Subjekt immer noch hartnäckig fortsetzt. In diesem Zusammenhang spricht er von der Problematik des „Presentism“ als einer Zuschreibung, die maßgeblich durch einen Diskurs der Lücke und des Mangels bestimmt ist. Vgl. Mbembe, Achille: „On the Postcolony: a brief response to critics“, in: African Identities. Vol. 4, No. 2, 2006, S. 143-178, hier S. 147.
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Der Paradigmenwechsel wird in der Installation jedoch nicht als jäher Einbruch einer abstrakten Idee gedacht, sondern als räumliche Expansionsbewegung erfahrbar. Der Universalismus der Zeit ist zuallererst die Bewegung der Ausbreitung.25 Die invasive, penetrierende Logik der universellen Zeit wird darüber hinaus narrativ durch Schilderungen der dazugehörigen technologischen Infrastruktur deutlich, die selbst ein Eigenleben entwickelt zu haben scheint: „Kabel schlängelten sich unterseeisch an der westafrikanischen Küste entlang und gingen in Kolonialhauptstätten wie Dakar an Land. Sie überquerten das Meer und stiegen die Anden hinauf.“26 Von Europa aus drängt die Zeit in die Kolonien; als ein sich vom Westen ausbreitendes Ordnungssystem der Welt ergreift sie Raum und Körper, die zu Ober- und Einschreibeflächen dieses Zeitsystems werden – wie in folgender Episode in The Refusal of Time: Ein Mann steckt in einem riesigen aufgeblasenen Weltkugelkostüm und wird mithilfe eines Zirkels von einem zweiten weißbekittelten Herren (der Künstler Kentridge selbst) vermessen und schließlich mit einem längs über den gesamten Körper verlaufenden Raster bemalt. Technologisch perfektionierte Vermessung und Kartographie trifft hier auf rassistische Praktiken der Anthropologie des 19. und 20. Jahrhundert, wie diejenigen der Kraniometrie und Phrenologie. In der Logik der Expansion stehen auch die Schilderungen der technischen Perfektionierungsbewegungen der Zeitmessung in den europäischen Großstädten durch ein pneumatisches Pumpensystem, das in gewaltigen Verkabelungen durch unterirdische Luftstöße die Uhren in Paris und London in Einklang bringt: „Eine ganze Stadt, die im Einklang atmete, von der Zentraluhr reguliert, die für die Idee von perfekter Zeit und perfekter Ordnung stand.“27 The Refusal of Time setzt – zumindest anfangs – eine ebensolche geschlossene Apparatur der perfekten Ordnung in Szene, gesteuert durch den Elephant: ein abgestimmtes Szenario einer sich als autonom behauptenden und der Fortschrittslogik eines ablaufenden ‚Weiter-So‘ verschriebenen Zeit, die Körper, Bewegungen und Bilder innerhalb der Installationsanordnung durchdringt und beherrscht. Doch weil die Absolutheit der Zeit in dieser Weise szenisch deutlich etabliert wird, tritt umso markanter das von ihr Abweichende hervor.
25 Dieser Gedanke der Ausbreitung findet sich auch bei Denis Guénoun in seinen philosophischen Überlegungen zu Europa, wo es heißt: „the universal is first the movement of an expansion“, in: Guénoun, Denis: About Europe. Philosophical Hypothesis. Stanford 2013, S. 9. 26 Kentridge/Galison, 2011, S. 41f. 27 Ebd.
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Besonders deutlich zeigt sich dieses für das Denken der Zeit in der Moderne charakteristische Spannungsfeld von Maß und Abweichung in dem der Installation zugrundeliegenden musikalischen Prinzip des tempo rubato. Dieses bezeichnet, übersetzt als ‚gestohlene Zeit‘, eine in der Partitur nicht vorgesehene Irregularität des Rhythmus oder Tempos, die durch das ‚Stehlen‘ einer Zeiteinheit und ihrer Anwendung an anderer Stelle der Komposition entsteht. 28 Musikalisch wird somit eine Abweichungsbewegung inszeniert, die zugleich Obsession und Ungedachtes des hegemonialen Verständnisses der zählbaren Zeit ausmacht. Die metaphorische Bewegung der Installation gleicht dabei einer Untergrabung: zunächst wird das hegemoniale Prinzip von Zeit in ihrer Konstruktion als Absolutheit nachvollzogen, um dann mit der Möglichkeit des Aufbruchs zeitlicher Gewissheiten und ihrer Widerständigkeit konfrontiert zu werden. Bei letzterer handelt es sich nicht um eine von außen hinzukommende, sondern um eine Widerständigkeit, die wie im tempo rubato bereits in der Komposition selbst angelegt ist. Eine solche findet sich im Motiv des Atmens und damit verknüpft einer weiteren Zeit: der „pneumatischen Zeit“29.
P NEUMATISCHE Z EIT Der Atem, pneuma, ist bei Kentridge damit eine doppelseitige Figur. Er steht zum einen als in der Pneumatik enthaltenes strukturgebendes Prinzip und Garant für die Erhaltung der Absolutheit und Einheit der Zeit und zugleich für das, was sich ihr widersetzt. Auf der narrativen Ebene wird seine strukturgebende Funktion deutlich: Nur dank des Atems der unterirdischen Luftstöße in dem perfektionalisierten Pumpensystem unter der Oberfläche von Paris und London gelingt die Zentralisierung durch den Nullmeridian, dem Nullpunkt, der auf der Internationalen Meridian-Konferenz im Jahre 1884 in Washington zum Richtfaktor der fortan weltweit vereinheitlichten Zeit bestimmt wird. Die universelle Zeit, die sich selbst als absolut und damit relationslos setzt, so wird klar, bedarf also der Pneumatik, um sich selbst zu begründen und zu erhalten. Nicht zufällig wählt Kentridge das 19. Jahrhundert vor diesem Hintergrund als Dreh- und Angelpunkt seiner Arbeit, denn bereits hier zeichnet sich der spätere Bruch des universalen Anspruches der einen Zeit ab. Mit Henri Poincaré und schließlich Albert Ein-
28 Vgl. „Tempo rubato“, in: Gehrkens, Karl Wilson: Music Notation and Terminology. New York/Chicago 1921, S. 54. 29 Diese Bezeichnung verwendet Kentridge in Bezug auf The Refusal of Time in seiner Vortragsreihe „Sechs Zeichenstunden“ an der Harvard-Universität 2012. Vgl.: Kentridge, 2016, S. 187.
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steins Relativitätstheorie am Anfang des 20. Jahrhunderts erfährt die Absolutheit der Zeit ihre Widerlegung. Mit dem Beweis der Relativität von Zeit und Raum bricht die Relation erneut in die Gleichung. Zeit kann ab sofort keine universelle Größe mehr sein, zumindest nicht im metaphysischen Sinne.30 Obwohl der durch das pneumatische System generierte Atem darauf angelegt ist, Abweichungen zu tilgen und damit die Synchronisierung zu garantieren, kann er doch selbst nicht als reine Referenz gelten. Atmung dehnt sich aus und verräumlicht sich, produziert notwendigerweise Unregelmäßigkeiten. Genau darin untergräbt sie just die Absolutheit, die sie eigentlich garantieren soll und bildet selbst eine eigene Zeit – die pneumatische Zeit. Diese markiert dasjenige, was in der vermeintlichen Gleichschaltung einen ständigen Risikofaktor ausmacht.
D EN ATEM GEGEN DIE Z EIT ANHALTEN Neben seiner vordergründig strukturgebenden Funktion wird der Atem aber auch zur Gegenfigur des vermeintlichen Synchronisierungsparadigmas: „Hold your breath against time“ lautet das Diktum, das die Erzählerstimme wie ein Mantra wiederholt.31 Die Aufforderung eines Anhaltens des Atems erscheint als Auflehnung gegen das unerbittliche ‚Weiter-So‘ der fortschreitenden Zeit. Doch gleichzeitig ist ihm das Scheitern bereits eingeschrieben. Der Versuch eines Aufhaltens, eines kurzen Aussetzens des Atems geschieht in dem Wissen um die Aussichtslosigkeit des Unternehmens. Das Anhalten, das ‚hold your breath‘ als Anweisung, weiß um die eigene Chancenlosigkeit, es weiß, dass es nur für kurze Zeit, nur für ein kurzes Intervall gelingt, bis der Drang nach Sauerstoff und da-
30 Vgl. Galison, Peter: Einstein’s Clocks, Poincaré’s Maps. Empires of Time. New York/London 2004. 31 Das Motiv des Atmens stellt die Arbeit darüber hinaus in einen weiteren sehr spezifischen diskursiven Kontext der Black Studies, in dem der Atem die zentrale Figur des Widerständigen bildet, und dies nicht erst seitdem der alarmierende elf Mal hintereinander wiederholte Ausruf „I can’t breathe“ des jungen Afro-Amerikaners Eric Garners kurz vor seinem Tod durch Polizeigewalt 2017 traurige Berühmtheit erlangte und zum Protestslogan der „Black Lives matter“-Bewegung avancierte. Obgleich sich Kentridges Bezug auf den Kolonialismus aus dem Kontext des südafrikanischen Apartheitregimes ergibt, lassen sich – ob von Kentridge nun intendiert oder nicht – sehr offensichtliche Parallelen zu US-amerikanischen Diskursen finden. Vgl. Crawley, Ashon T.: Blackpentecostal Breath. The Aesthetics of Possibility. New York 2017, S. 3; Sharpe, Christina: In the Wake. On Blackness and Being. Durham 2016.
Zum Denken einer Widerständigkeit der Zeit bei William Kentridge | 213
mit dem Wiedereinfügen in das kontinuierliche Weiter-So des Atmens zu groß wird. Genau um dieses Intervall scheint es bei Kentridge jedoch zu gehen: um den kurzen Moment des (chancenlosen) Versuchs eines Aufhaltens und Anhaltens von Zeit, um den Versuch einer Pause als Moment des Widerstands. „Hold your breath against time“ scheint also zugleich Aufruf zum gerichteten Widerstand und aussichtlose Parole zu sein. Dabei ist der Atem in Kentridges Arbeit nicht bloß abstrakter „Gedankenkomplex“32, wie ihn Scholem nennt. Vielmehr steht er für ein szenisches Denken, das über die Dimension der sprachlichen Erfassung dessen, wie Zeit (anders) sein könnte hinaus eine szenisch-räumliche Öffnung erfahrbar macht. Der wichtige Einsatz von Kentridges Arbeit liegt darin, einen Gegenentwurf zu dem Entweder/Oder einer (erneut) lineal gerichteten Gegen-Zeit auf der einen und der Proklamierung unendlich differenter Zeitlichkeiten auf der anderen Seite zu eröffnen. Zeitlichkeit wird nicht einfach als Ontologisierung eines Prinzips gedacht, sondern vielmehr als Konglomerat von sich gegenseitig durchkreuzenden Zeitlichkeiten, die weniger mit dem Begriff der Synchronizität als vielmehr mit dem der Verschränkung33 zu beschreiben wären: Als widerständige Zeitlichkeiten, die die Vorstellung dessen, was Zeit als Zeit ist und sein kann, immer wieder einer Neuaushandlung aussetzen.34 Es ist insbesondere die in Frankfurt gezeigte Variante von The Refusal of Time, die eine solche Neuaushandlung der spezifischen Theatralität des Ausstellungsortes und seiner Zeitlichkeit unternimmt. Nicht in einem sich als neutral behauptenden White Cube 35 ist die Instal-
32 Scholem, 1995, S. 390. 33 Anzuknüpfen wäre hier mit dem von Donna Haraway eingeführten und von Karen Barad aufgegriffenen Terminus des „Entanglement“. Als ein solches beschreibt Barad eine queer-dekolonialisierende Denkbewegung von Temporalität, die Differenz nicht als die den kolonialen Denkmustern zugrunde liegende metaphysisch-binäre „apartheid type of difference“ versteht, sondern als „differences within“. Vgl. Barad, 2018, S. 216. Siehe auch Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham/London 2007. 34 Für Barad ist es dies, was eine „Dekolonialisierung der Zeit“ allererst ermöglicht. Sie nutzt diesen Begriff in ihrem Vortrag „Troubling Time/s, Undoing the Future“ vom 2. Juni 2016 im Rahmen der Futures Lecture Series an der School of Culture and Society, Aarhus University, Dänemark. https://www.youtube.com/watch?v=dBnOJio YNHU vom 8. Dezember 2016. 35 Vgl. Steyerl, Hito: „White Cube und Black Box. Die Farbmetaphorik des Kunstbegriffs“, in: Eggers, Maureen M./Kilomba, Grada/Piesche, Peggy/Arndt, Susanne
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lation zu sehen, sondern als Ausstellung in der Ausstellung – als ‚Aufpfropfung‘ in die bereits bestehende Skulpturensammlung des Liebieghauses. Im Seitenflügel des Museums, der die römisch-antike Sammlung enthält, legt sich The Refusal of Time mit den flackernden Bildlandschaften auf Exponate wie die Athena des Myron, den Diskuswerfer des Naukydes oder den Kopf des Hermes. Die in der Installation verhandelte Kritik am universalistischen Zeitverständnis der Moderne und seinen kolonialen Konsequenzen erhält so einen lokalen Bezug auf die Sammlung selbst, aber auch auf die Einführung einer vereinheitlichenden Zeit im römischen Reich. Das Zeitalter der modernen Synchronisierung mag vorbei sein, doch findet die Obsession einer von allen Widerständigkeiten bereinigten Zeit sowohl ihre Vorläufer wie auch ihr Fortleben. Der im Verlauf dieses Beitrages herausgearbeitete Widerstand in The Refusal of Time richtet sich nicht nur gegen Zeit als ein spezifisches historisches und koloniales Konzept, sondern betrifft auch die Frage nach der Gegenwart als einem ebensolchen Konstrukt in seiner Gewordenheit – die Frage also, was es heißt, Gegenwart und Kolonialismus zusammen zu denken. Zwar setzt das Erbe des Kolonialismus das historische Konzept der Zeit einer Hinterfragung aus. Zugleich erfährt im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung als neuer Synchronisierung die Behauptung einer transnationalen Einheit von Zeit als ‚der Gegenwart‘ an sich einen neuen Aufwind – auch und gerade im Kontext der Behauptung der globalen Gegenwartskunst.36 Kentridges Arbeit knüpft an beide Aspekte an: Die Verräumlichung der einen Zeit, wie aber auch ihr Fortleben. Nicht zuletzt könnte der Ausruf „Hold your breath against time“ daher auch als Mahnung zu verstehen sein, nicht vorschnell in einer Überwindungsmetaphorik ein Nach – z.B. ein postkoloniales Nach dem Kolonialismus – zu behaupten, sondern der euphorischen Propagierung von neuen, vielleicht aber altbekannten Zeitlichkeiten37 mit Skepsis zu begegnen und die Verschränkung mit einer Unzeit zu suchen – etwa dort, wo der Atem aussetzt. Zumindest für einen Moment.
(Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster 2005, S. 135-143. 36 Vgl. Osborne, Peter: „Time of the Present“, in: ders.: The Postconceptual Condition. London/New York 2018, S. 3-60. 37 In diesem Sinne wären auch Ansätze zu hinterfragen, die eine spekulative Pluralisierung von Zeitlichkeiten herausstellen, wie es unter anderem bei Armen Avanessian geschieht. Vgl. Avanessian, Armen/Malik, Suhail (Hg.): Der Zeitkomplex. Postcontemporary. Berlin 2016.
Was heißt: sich im Tanzen orientieren? Zwei verschiedene Denkweisen auf der Bühne Leonie Otto
Dass den Personen auf der Bühne das Denken lange Zeit abgesprochen wurde, ist darauf zurückzuführen, dass Denken gemeinhin als ein begrifflich identifizierender, logisch argumentierender, ergebnisorientierter, theoretischer und nahezu körperloser Vorgang definiert wird. Diese Definition von Denken ist aber nicht unendlich gültig, sondern gehört einer spezifischen geschichtlichen Situation an. Martin Heidegger hat dieses Verständnis von Denken in seiner Arbeit nach der von ihm selbst als „Kehre“1 inszenierten Wendung weg vom Ansatz der „Fundamentalontologie“2 hin zum „seinsgeschichtlichen“3 Ansatz als das Denken des neuzeitlichen Subjekts charakterisiert. Zwar entspricht es der Denkweise des neuzeitlichen Subjekts, das Denken nicht auf der Bühne – geschweige denn im Tanz – zu verorten, trotzdem ist die Inszenierung von Körpern, Tanzbewegungen und Bühnenraum von dieser Denkweise geprägt. Das will ich hier an der Choreographie-Lehre des frühen Balletts zeigen. An diese im beginnenden 18. Jahrhundert entwickelte Organisation von Körpern, Bewegung und Raum wird in Laurent Chétouanes 2011 am Tanzquartier Wien uraufgeführten Tanzstück Hommage an das Zaudern erinnert – gerade um durch diese Untersuchung zu einem anderen Denken auf der Bühne und mit dem Körper zu gelangen. Dieses andere Denken lässt sich wiederum mit der anderen Denkweise zusammenfüh-
1
Heidegger, Martin: „Brief über den ‚Humanismus‘“, in: ders.: Wegmarken. GA Bd. 9. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1976, S. 313-364, hier S. 328.
2
Ebd., S. 357.
3
Ebd., S. 327.
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ren, die Heidegger im Rahmen seiner „Destruktion“4 der abendländischen Philosophiegeschichte implizit entwirft.5 In Chétouanes Choreographie ist diese andere Denkweise als ein Denken der beiden Tanzenden, Joris Camelin und Remy Héritier, zu sehen, mit dem eine andere Orientierung im Tanzen einhergeht.
V ON DER S ZENE DES NEUZEITLICHEN S UBJEKTS Heidegger liest das Wort subjectum in Rückführung zum griechischen hypokeímenon als „das Vor-Liegende, das als Grund alles auf sich sammelt“6. Deshalb bezeichnet er die dem neuzeitlichen Subjekt entsprechende Denkweise als „vor-stellen“: „von sich her etwas vor sich hin stellen und das Gestellte als ein solches sicherstellen“.7 Mitvorgestellt sei darin immer der vorstellende Mensch selbst, der die vorgestellten Objekte nur in Relation zum eigenen Selbst als Zentrum und Maßgabe erfasse: „Vor-stellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden, zu beziehen und in diesem Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen.“ 8 Das Subjekt, das seine Umgebung nur in Relation zu sich selbst als Zentrum und Maßgabe erfasst, setzt sich in Heideggers Worten „in die Szene“ und „als die Szene“.9 Die mit dieser Wortwahl nahegelegte Verknüpfung mit dem Theater hat Heidegger selbst gerade deshalb nie interessiert, weil sich die von ihm als zu verwindende bezeichnete Denkweise auch in der Tradition des neuzeitlichen europäischen Theaters manifestiert hat.10 Um Zusammenhänge von Denken und Theater beziehungsweise Tanz zu diskutieren, ist es aber lohnenswert, dem wei-
4
Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2006, S. 23.
5
Vgl. Heidegger, Martin: „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens“, in: ders.: Zur Sache des Denkens. GA Bd. 14. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 2007, S. 67-90, hier S. 89f. Der von Heidegger vorgenommenen Beheimatung eines verloren geglaubten Ursprungs im vorsokratischen Griechenland widerspreche ich im Sinne Jacques Derridas. Vgl. Derrida, Jacques: „Die différance“, in: ders.: Die différance. Ausgewählte Texte. Stuttgart 2004, S. 110-149, u.a. S. 146.
6
Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“, in: ders.: Holzwege. GA Bd. 5. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1977, S. 75-113, hier S. 108. Vgl. ebd., S. 88.
7
Ebd., S. 108.
8
Ebd., S. 91.
9
Ebd.
10 Vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe: Die Nachahmung der Modernen. Typographien II. Basel u.a. 2003, S. 175-201.
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ter nachzugehen, was nun in einer Lektüre von bestimmten Aspekten des Stücks Hommage an das Zaudern erfolgt. Der Bühnenbereich des Festsaals im ersten Stock der Sophiensaele ist fast leer.11 In der Mitte stehen zwei einfache Stapelstühle mit metallenen Beinen und ergonomisch geformter hölzerner Sitzschale. Auf dem dunklen Tanzboden sind sie so ausgerichtet, dass, wer hier Platz nimmt, dem Publikum auf der in der anderen Hälfte des Raumes aufgebauten Tribüne gegenübersitzt. Rémy Héritier kommt gemessenen Schrittes hinter der linken Seite der Zuschauertribüne hervor und blickt sich aufmerksam in Richtung des eingeschlagenen Weges zur linken Ecke der Tanzfläche um. Er hebt seinen rechten Arm zart gebeugt über den Kopf, führt den linken Arm, ebenfalls in leichter Beugung, auf Brusthöhe nach vorne und bringt beide zaghaft in eine zueinander symmetrische Position auf die rechte und linke Seite seines Rumpfes. Fast so, als solle es nicht gesehen werden, wenig Muskelspannung oder -kraft aufwendend. Dennoch erinnern der aufrecht und stabil gehaltene Rumpf, die in der vorderen Körperperipherie spielenden Arme und die mit diesen korrelierende Kopfhaltung gleich an die Tanztechnik des Balletts. Erst nach dem Richtungswechsel zur diametralen Ecke sind das Gesicht des Tänzers und der Rest dessen, was gemeinhin als ‚Vorderseite‘ der menschlichen Physis bezeichnet wird, zu sehen. Héritier schaut ins Publikum und beginnt eine zweite kurze Variation des Ballettvokabulars: Er umspielt mit beiden Armen zögerlich einige Port de bras-Positionen. Er zieht das Spielbein in ein Passé und deutet, einen Arm waagerecht nach vorne, einen auf gleicher Höhe zur Seite gerichtet, das Standbein leicht ins Relevé gebracht, eine Pirouette an und geht dann kurz vor der ersten Stuhlreihe der Zuschauer*innen über ein wackliges Plié zu Boden, wo er auf der Seite liegen bleibt. Er schaut nach oben, bringt einen Arm in die Parallele seiner Blickachse und lässt ihn wieder fallen. Er rollt sich in die Bauchlage, kommt, sich mit beiden Armen abstützend, mit den Beinen in den Stand und richtet sich dann, frontal – en face – zum Publikum auf. Nach einer ähnlichen Bewegungsfolge wie der vorherigen führen ihn drei recht plump und dementsprechend lautstark aufkommende Pas de Chat zurück in die linke hintere Bühnenecke, wo er, nach einer weiteren wackligen Pirouette, bei der das Spielbein schlaksig der Drehung nachschwingt, in der ersten Position der Füße
11 Ich beschreibe Hommage an das Zaudern ausgehend von zwei Aufführungen in den Sophiensaelen in Berlin am 12. und 13. Februar 2012, einem „Tryout“ am 1. Oktober 2011 im Radialsystem in Berlin sowie Aufzeichnungen dieses „Tryouts“ und der Aufführung am 10. Februar 2012 in den Sophiensaelen.
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endet, und den noch angehobenen Arm, sich kurz über den Hinterkopf streichend, herabgleiten lässt. Eine Drehung später kommt er über eine Vorbeugung des Oberkörpers erneut ins Liegen. Drei zurückhaltende Grand Jetés leiten ihn diagonal zur vorderen rechten Ecke der Tanzfläche. Dafür, wie wenig er sich jedes Mal mit den Füßen abdrückt und wie wenig hoch er springt, landet er fast stampfend, um sich schließlich wieder, jedes Aufkommen auf dem Tanzteppich hörbar, herabsinken zu lassen und eine Weile, die Decke betrachtend, innezuhalten. Nun tritt von hinten rechts Joris Camelin auf. Er wandert durch den Bühnenbereich, hebt beide Arme in einem zarten Schwung auf Augenhöhe und lässt sich dann, in die Knie gehend, vorne links am Boden nieder, wo sich auch Héritier nach einer kurzen Sequenz von Drehungen hinten rechts abermals befindet. Von diesem Moment an ist eine Bezugnahme der beiden aufeinander zu beobachten: Camelin hebt vorsichtig den Kopf und blickt zu Héritier; dieser wartet, schon aufstehend, ab, bis auch Camelin sich erhebt. Héritier beschreibt nun eine Parallele von Sprüngen einer Art entlang der Bühnenrückwand, Camelin mit kurzer Verzögerung eine Diagonale von Sprüngen anderer Art dorthin, wo Héritier eben lag. Nun zu zweit, sind ihre Bewegungssequenzen noch lärmender als zuvor; ihr vorläufiges Ende nehmen sie – noch einmal – am Boden. Das Markieren und Skizzieren der Ballettfiguren und -formationen gibt sich keine Mühe, die zugehörigen Ideale der Virtuosität, der Leichtigkeit und Schwerelosigkeit zu erfüllen. Geräuschvoll quietschend drehen sich die beiden Tanzenden mit ihren nackten Füßen, polternd landen sie aus eigentlich leichten Schritten und Sprüngen. Ein Grundmodus ihrer Posen, Sprünge und Drehungen sind die alltäglich anmutenden Gänge über die Bühne, ergänzt um das Stehen, Sitzen und Liegen. Weder spannen sie die Muskeln ihrer Beine bis in die Zehenspitzen hinein an, noch drehen sie die Beine von den Hüftgelenken an auswärts, en dehors. Die Muskeln ihrer Hals- und Schulterpartien sorgen nicht für eine möglichst langgezogene Aufrichtung der Halswirbelsäule; Hände und Arme werden nicht, um jede Pose rahmend zu begleiten, bis in die Fingerspitzen anmutig gebeugt, sondern meist so gehalten, dass sie die Linie des Unterarms verlängern. Vor allem aber die Blickrichtung spielt nur selten im Sinne des Epaulements mit den anderen Körperteilen zusammen. Oft bleiben die Blicke beider staunend, fragend am eigenen Körper, am anderen oder an einem Element des Saals hängen. Nachdem Camelin und Héritier ihre Reihungen eine Weile fortgesetzt haben, finden sie in der Mitte des Bühnenbereichs hinter den beiden Stühlen zusammen. Héritier dem Publikum zugewandt, Camelin im Profil zu sehen, gucken sie sich an und blicken dann aufmerksam ins Publikum. Von der doppelten Vertikale ih-
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rer beiden Körper aus heben sie erst die Arme, dann auch die Beine in einzelnen 45-, 90- und 135-Grad-Winkeln in einem ruhigen, doch selten verweilenden achsensymmetrischen Spiel in die Höhe, zur Seite oder nach vorn, bis sie mit einigen sukzessiven Wendungen Abstand voneinander nehmen. Camelin bringt sich kurz in eine Arabesque, sodass der mit geradem Rücken vorgebeugte Oberkörper, ein ausgestreckter Arm und ein nach hinten gestrecktes Bein sich einer Gerade annähern. Abb. 1: Tryout von Hommage an das Zaudern im Radialsystem: Joris Camelin, Rémy Héritier (v. l. n. r.)
Quelle: © Sebastian Bolesch
Die „Figurationen“12 der Bewegungen von Camelin und Héritier greifen die Achsen und rechten Winkel auf, die Wände, Decke und Boden, Fenster und Tü-
12 Brandstetter, Gabriele: „Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung“, in: dies./Peters, Sibylle (Hg.): de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt. München 2002, S. 247-264, hier S. 257. Brandstetter erläutert, wie im Wortfeld von Figur und Figuration die „Raumgestalt“, die Tänzer*innen annehmen, deren „Konfiguration“ zueinander sowie die „Gesamtfigur“ einer Choreographie aufeinandertreffen. Ebd., S. 256f. Sie greift dabei darauf zurück, wie Erich Auerbach herausgearbeitet hat, dass der Begriff figura im Unterschied zu dem der „Form“ etwas „Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes“ beinhaltet. Vgl. Auerbach, Erich: „Figura. Neuedition
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ren oder die Stuhlreihen im Festsaal der Sophiensaele vorgeben. Damit werden choreographische Grundprinzipien des Balletts aufgerufen, die auf ein euklidisches Raumverständnis zurückzuführen sind: Das Ballett fügt dem Tanzkörper ein imaginäres Achsenkreuz hinzu: Die senkrechte Achse bestimmt die Haltung des Körpers und die waagerechte die Haltung von Armen und Beinen. Der Torso bleibt relativ unbeweglich, während Arme und Beine verschiedene Positionen durchlaufen, die in ihrer Richtung in einer von außen herangetragenen Geometrie Orientierung finden. Das Ballett verlangt einen geometrischen Raum, der nicht aus der Perspektive des Tänzers angelegt ist, sondern von einem neutralen Standpunkt (‚von oben‘) konstruiert wird. In Bezug auf diesen geometrischen Raum finden die Schritte ihre räumliche Ordnung.13
Verbreitet hat sich diese Geometrie des Körpers und der Tanzfläche mit RaoulAuger Feuillets im Jahr 1700 erschienenem Tanzlehrbuch Chorégraphie ou L’art d’écrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs. Das Werk erschien keine sechzig Jahre nach den für das vor-stellende Denken des neuzeitlichen Subjekts grundlegenden Schriften René Descartes’.14 Auch in Feuillets Erläuterungen der von Pierre Beauchamp entwickelten Tanzschrift und damit der grundlegenden Prinzipien des Ballet de Cour manifestiert sich dieses Denken. Gleich auf den ersten Seiten präsentiert Feuillet das Einstudieren eines Tanzes als ein kartographisches Verfahren, das – mit Heideggers Worten formuliert – „von sich her etwas vor sich hin“15 stellt und „das Gestellte als ein solches sicher“16 stellt. Ein den Grundriss eines Theaters oder Ballsaals darstellendes Rechteck wird – wie eine Landkarte mit den Himmelsrichtungen – mit den französischen Bezeichnungen für „oben“ und „unten“, „rechts“ und „links“ versehen, außerdem erhält jede Ecke eine eigene Bezeichnung, um die vier Wände benennen zu können.
des Textes von 1938“, in: Balke, Friedrich/Engelmeier, Hanna (Hg.): Mimesis und Figura. Paderborn 2016, S. 121-188, hier S. 122, vgl. auch S. 124f. 13 Alarcón, Mónica: Die Ordnung des Leibes: eine tanzphilosophische Betrachtung. Würzburg 2009, S. 48. 14 Vgl. Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch–Deutsch. Hamburg 2005, S. 14. 15 Heidegger, 1977, S. 108. 16 Ebd.
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Abb. 2: Feuillets Grundriss eines Theater- oder Ballsaals
Quelle: Feuillet, Raoul-Auger: Chorégraphie ou L’art d’écrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs. Paris 1713, S. 2
Im Zentrum und als Zentrum dieses vorgestellten Gesamtüberblicks über den Tanzplatz wird in einem nächsten Schritt ein aus einem Strich und einem Halbkreis zusammengesetztes Symbol platziert, das der Student oder die Studentin der Chorégraphie als Referenz auf den eigenen Körper betrachten soll: Abb. 3: Feuillets Darstellung des Körpers
Quelle: Feuillet, Raoul-Auger: Chorégraphie ou L’art d’écrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs. Paris 1713, S. 2
Das Subjekt setzt das von ihm transportierte Körperobjekt hier nicht nur in die Szene des Gesamtüberblicks der Choreographie, sondern sich selbst auch als die Szene: Die dem tanzenden Körper vor- und damit eingeschriebene Ausrichtung an den Kategorien „vorne“ und „hinten“, „links“ und „rechts“ geht bereits von der Maßgabe des Subjekts selbst aus. In der Kartographie der Chorégraphie
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zeigt sich also eine bestimmte räumliche Orientierung, welche besonders deutlich von Immanuel Kant erklärt wurde. In seinem 86 Jahre nach Feuillets Tanzlehrbuch erschienenen Essay Was heißt: sich im Denken orientieren? definiert Kant, dass die Orientierung in einer Umgebung ebenso vom Subjekt selbst wie von dieser Umgebung ausgehe: Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend [...] die übrigen, namentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel, und weiß, daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu finden. Zu diesem Behuf bedarf ich aber durchaus das Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigentlichen Subjekt, nämlich der rechten und linken Hand. [...] Also orientiere ich mich geographisch bei allen objektiven Datis am Himmel doch nur durch einen subjektiven Unterscheidungsgrund [...].17
Bei Feuillet wird das von Kant erwähnte unterschiedliche leibliche Empfinden der Hände und Arme – „Ich nenne es ein Gefühl; weil diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied zeigen“18 – dem Ideal der symmetrischen Anordnung des Körpers für die auf ihn gerichteten Blicke untergeordnet. Die „présence du Corps“19 besteht in seiner Anleitung lediglich im „vis à vis“20 der Körpervorderseite zu einer der Grenzen des Theater- oder Ballsaals. Die Beauchamp-Feuillet-Notation richtet die Körper also bereits nach einem für die Theaterinnenräume des 18. Jahrhunderts wesentlichen Funktionsprinzip aus: Dass der Vorderkörper von Feuillet als bloßer Strich dargestellt wird (anders als der den Hinterkörper symbolisierende Halbkreis), suggeriert, dass seine szenische „Präsenz“ gerade darin besteht, dass er für die auf ihn gerichteten Blicke zur Bildfläche wird.21
17 Kant, Immanuel: „Was heißt: sich im Denken orientieren?“, in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 1. Werkausgabe. Bd. V. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977, S. 267-283, hier S. 269. 18 Ebd. 19 Feuillet, 1713, S. 2. 20 Ebd. 21 Vgl. Döcker, Georg: „Eine andere Grazie. Zur Aktualisierung der Diagonale in Laurent Chétouanes Tanzperformance horizon(s)“, in: Eke, Norbert Otto/Kaldrack, Irina/Haß, Ulrike (Hg.): Bühne. Raumbildende Prozesse im Theater. Paderborn 2014, S. 249-266, hier S. 253f.
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Bei Chétouane wird diese theatrale Schauanordnung, die das Ballett in die Körper einschreibt, als Wiederholung eines „räumlichen Skript[s]“22 lesbar gemacht. Die von Feuillet zur Prämisse einer jeden Choreographie erhobene Frontalität der Körper auf der Bühne manifestiert sich in den zwei einzelnen den Plätzen des Publikums entgegen gerichteten Sitzplätzen auf der Bühne. Sie stehen dort wie eine choreographische Anweisung, dem Publikum die Vorderseite zuzuwenden. Dieses Primat der Vorderseite stellen Héritier und Camelin aber in Frage, wenn sie die Stühle anders besetzen als so, dass sie dem Publikum gegenübersitzen, oder wenn sie sich der Anordnung betont entziehen, wie zum Beispiel dann, wenn Héritier, wie oben beschrieben, nach seinem ersten Auftritt dem Publikum zunächst eine Weile lang den Rücken zuwendet. Abb. 4: Tryout von Hommage an das Zaudern im Radialsystem: Rémy Héritier, Joris Camelin (v.l.n.r.)
Quelle: © Sebastian Bolesch
Erst am Ende des Stücks bleiben Héritier und Camelin für einige Minuten ganz ruhig auf den Stühlen sitzen, entgegnen die auf sie gerichteten Blicke oder senken die Augen und lassen sich ansehen.
22 Vgl. Schuster, Tim: „What time is it? Wiederholung, Blick und Alterität im Theater Laurent Chétoaunes“, in: Müller-Schöll, Nikolaus/Otto, Leonie (Hg.): Unterm Blick des Fremden. Zur Theaterarbeit nach Laurent Chétouane. Bielefeld 2015, S. 166-178, hier S. 167f.
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Z U EINER ANDEREN O RIENTIERUNG AUF DER S ZENE Chétouane erläutert, dass er die Bühne als einen Ort verstehe, „an dem Blicke aufeinander geworfen werden“23. Die Arbeit daran, sich des Angeblicktwerdens wieder bewusst zu werden, verändere die Orientierung der Tanzenden: Es ist, als ob sie Zugang zu einem anderen Körper finden müssten, dem Körper, der blickt und auf den zurückgeblickt wird. Dieser Körper wird in dieser Form zum Tanzen gebracht. [...] Dieser andere Körper existiert erst durch den Raum, der ihn umgibt. Nur durch das Wahrnehmen des Außen bzw. das Wahrnehmen der eigenen Konstitution durch das Außen gelangt man zu diesem anderen Körper. Und er ist völlig konträr zu einem Körper, der sich aus einem Zentrum heraus versteht, und von dort aus in die Welt hinein geht. [...] Es geht um die Behauptung einer anderen Art, mit dem Körper zu denken.24
Diese andere Art, mit dem Körper zu denken, ließe sich mit einigen Anmerkungen Heideggers als eine von Feuillets Lehrbuch zu unterscheidende Art der Orientierung auffassen, die den einzelnen Menschen nicht als der Szene zugrundeliegendes Zentrum versteht. Dieses nicht willentlich zu erreichende, aber doch von ihm ersehnte andere Denken beschreibt Heidegger in Rückbesinnung auf die vorsokratische Philosophie als ein achtsames Vernehmen der Phänomene,25 als eine rezeptive und offene Haltung des Wartens, nicht im Sinne eines Erwartens, sondern im Sinne einer „Gelassenheit“26. Mit diesem implizit vorgebrachten Entwurf eines sich vom vorstellenden Denken des neuzeitlichen Subjekts unterscheidenden anderen Denkens geht ein Verständnis von Raum, Zeit und Bewegung einher, das diese nicht als vom Menschen steuerbare und vermessbare Parameter auffasst. Das Wort „orientieren“, so regt Heidegger an, sei von der etymologischen Konnotation mit der aufgehenden Sonne (auf der auch Kant in der
23 Chétouane, Laurent/Müller-Schöll, Nikolaus: „‚... wie dieser Blick sie inszeniert‘. Laurent Chétouane über seine Arbeit mit Tänzern“, in: Müller-Schöll/Otto, 2015, S. 235-246, hier S. 236. 24 Ebd., S. 236f. 25 Vgl. Heidegger, Martin: Was heißt Denken? Tübingen 1997, S. 124f. sowie ders.: „Was heißt Denken?“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze. GA Bd. 7. Hg. von FriedrichWilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 2000, S. 127-143, hier S. 140f. 26 Vgl. Heidegger, Martin: „Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken“, in: ders.: Gelassenheit. Tübingen 1960, S. 29-74.
Was heißt: sich im Tanzen orientieren? | 225
obig zitierten Stelle aufbaut) zu lösen, und stattdessen mit der „Lichtung“27 in Verbindung zu bringen.28 Den Horizont, der die Menschen als raumzeitliche „Offenheit“29 umgebe, so Heidegger, bilde diese Lichtung des Seins: als raumzeitliche Einräumung des „Offenen“30. Hier ist Heidegger mit Jean-Luc Nancys Aufarbeitung einiger blinder Flecken in Heideggers Arbeit zu spezifizieren. Vor allem mit Nancys Einhaken bei der von Heidegger bereits in Sein und Zeit angelegten, aber doch nie konsequent und prominent entwickelten Anerkennung eines dem „Dasein“31 nicht bloß äußerlichen „mithafte[n] In-der-Welt-sein[s]“.32 Nancy kombiniert diesen Aspekt von Heideggers fundamentalonotologischem Ansatz in Sein und Zeit mit Heideggers späterem seinsgeschichtlichen Ansatz. Läuft Heidegger hier doch Gefahr, die umkreiste Struktur eines sich je ent- und verbergenden Seins als eine arché darzustellen, von der der Verlauf der Geschehnisse ausgeht. Nancy gewinnt so die „Erkenntnis der „An-archie [...] eines singulären, mithin wesentlich pluralen Auftauchens“33. Das sich stets entziehende Sein ist bei Nancy also bloß das, was „die Existierenden gemeinsam auf den Weg bringt, mit zu sein, mit allen (den Menschen, Tieren, Pflanzen, Lebenden und Toten, Elektronen, Galaxien ...)“34. Trotz dieser Umarbeitung Heideggers unterstreicht Nancy, dass Heidegger die früh geäußerte Annahme, dass das Sein der Menschen wesentlich ein MitSein sei, nie revidiert, auch wenn er sie nie ausgeführt habe. Nichts rühre bei ihm an den Solipsismus des neuzeitlichen Subjekts.35 Eine Begegnung, die gemeinhin als Verhältnis von Subjekt zu Objekt bezeichnet werde, kann mit Heidegger erst in dem von diesem Offenen jeweils gelichteten „Zwischen“36 stattfinden, als ein leiblich „vernehmende[s] Bezogen-sein“37 beziehungsweise „Ausgerichtet-
27 Vgl. zur „Lichtung“ bei Heidegger, insbes. Heidegger, 2007, S. 80ff. 28 Vgl. Heidegger, Martin: „Zollikoner Seminare (1959-1969)“, in: ders.: Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe. Frankfurt a.M. 1994, S. 1-191, hier S. 12ff. (= Heidegger, 1994a) 29 Heidegger, 1976, S. 350. 30 Heidegger, 1960, S. 42. 31 Heidegger, 2006, S. 11. 32 Ebd., S. 118. 33 Nancy, Jean-Luc: Die Erfahrung der Freiheit. Zürich/Berlin 2015, S. 13. 34 Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein. Zürich/Berlin 2004, S. 12. 35 Vgl. ebd., S. 156. 36 Heidegger, 1976, S. 350. 37 Heidegger, Martin „Zwiegespräche mit Medard Boss (1961-1972)“, in: ders.: Zollikoner Seminare. S. 193-296, hier S. 293. (= Heidegger, 1994b)
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sein[...] auf etwas sich uns Zusprechendes“38. Orientierung kann mit Heidegger also nicht so funktionieren, wie Kant sie beschreibt und wie Feuillet sie choreographisch nutzt: Die Menschen seien nicht „zuerst leiblich“39 und könnten dann von diesem Standpunkt aus als a priori „ein Vorne und ein Hinten, ein Oben und Unten, ein Linkes und ein Rechtes“40 unterscheiden, erläutert Heidegger. Vielmehr halte „jede Bewegung des Leibes sich als eine Gebärde“41 immer schon in einem Zwischen auf, welches offen sei, durch das jeweilige Bezogen-sein auf etwas anderes – das nicht nur Dinge, sondern auch andere Menschen sein könnten.42 Die von Chétouane beschriebene Arbeit an einer anderen Art, mit dem Körper zu denken, hieße also, sich bewusst werden zu lassen, dass eben nie ein Außen auf eine diesem vorgängige Innerlichkeit oder Körperlichkeit trifft, sondern dass Körper und Bewegungen auf der Bühne sich immer schon in ihrem Bezogen-sein zu sehen geben. Abb. 5: Tryout von Hommage an das Zaudern im Radialsystem: Rémy Héritier, Joris Camelin (v.l.n.r.)
Quelle: © Sebastian Bolesch
38 Ebd., S. 294. 39 Heidegger, 1994a, S. 118. 40 Heidegger, 1994b, S. 294. 41 Heidegger, 1994a, S. 118. 42 Vgl. ebd.
Was heißt: sich im Tanzen orientieren? | 227
In der beschriebenen Choreographie Chétouanes verlagert sich nach und nach Camelins und Héritiers Ausrichtung im Raum unter Beibehaltung der aufrechten, mittig zentrierten Körperhaltung. Ihre Gliedmaßen zeigen nun nicht mehr von ihrer vertikalen Körperachse aus in den Raum hinein, sondern weisen zum jeweils anderen hin. Immer wieder nehmen sie einen vorübergehenden Blickkontakt auf. Etwas später beschleunigen sie die Abläufe der einzelnen Bewegungen. Die vorher nur in die Richtung des Anderen weisenden Hände tangieren jetzt auch mitunter leicht schlagend einen Arm oder die Brust des Anderen. Fast wirkt das kämpferisch. Dann umarmen sich Camelin und Héritier lange. Kurz danach geht Héritier noch einmal zu Boden und diesmal sieht es aus, als hätte Camelin ihn geschubst, wobei in diesem Moment, ebenso wie in der Umarmung, zwar die Frage nach dem persönlichen Verhältnis der beiden kurz auftaucht, aber nicht weiter thematisiert wird. Die sich ähnelnden Bewegungsabläufe entwickeln die beiden unterschiedlich. Héritiers schlaksig gebrochene Bewegungen verbleiben mehr im Vagen als die direkteren muskulös-kraftvollen Bewegungen Camelins. Tanzen Camelin und Héritier zu Beginn von Hommage an das Zaudern etwas unentschieden und wie aus dem Gleichgewicht geraten, verlaufen ihre Bewegungen gegen Ende weniger zögerlich, kantig und stockend. Irgendwann sind keine aneinander- und nebeneinandergereihten Gänge mehr zu sehen, die vom Liegen und Stillstehen unterbrochen werden. Beide beginnen, etwas schneller, leichtfüßiger und deshalb leiser zu laufen. Ihr gemächliches Kreisen mit erhobenen Armen um die eigene Achse kommt jetzt aus der Rumpfmuskulatur, die Wirbelsäule krümmt sich, die Arme unterstützen den Schwung. Sie folgen einander durch den Raum, sodass ihre Wege immer wieder zu einem werden. Einzelne Bewegungselemente reichen sie sich dabei weiter, indem sie lose aufnehmen, was der Andere getan hat: eine Drehung, einen kurzen Sprung, ein Beschleunigen, einen Richtungswechsel. So befinden sie sich in einem Bewegungsfluss, der sie doch unaufhörlich zeitlich und räumlich voneinander wie von sich selbst trennt und von beiden Tänzern zwar beeinflusst, aber doch nie kontrolliert wird.43 Gemein ist den hier beschriebenen Sequenzen, dass das Aufeinanderbezogen-sein von Camelin und Héritier nicht allein als harmonisch homogenes Verhältnis inszeniert wird, sondern sich als Prozess von Trennungen, Verschie-
43 Vgl. Gerald Siegmunds Erläuterung von Heraklits Verständnis von Zeit als Bewegung in: Siegmund, Gerald: „Mind the Gap, oder: Der Geist im Zwischenraum. Differenz und Wiederholung in Tom Plischkes Solotänzen“, in: Schulze, Janine/ Traub, Susanne (Hg.): Moving thoughts – Tanzen ist Denken. Berlin 2003, S. 107-120, hier S. 107.
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bungen, Distanznahmen und Annäherungen entwickelt. Die Aktualisierung der Choreographie, ihre jeweilige Aus- und Aufführung, geschieht nicht als Ausführung eines Vorab erlernten Gesamtüberblicks ihres räumlich-zeitlichen Ablaufs, sondern in Abhängigkeit voneinander und in Reaktion aufeinander, denn sie beinhaltet die Vereinbarung, dass gewisse Abweichungen möglich sind, sodass der eine Tänzer ohne den anderen nie genau weiß, was er als Nächstes machen wird und die Bewegungsphasen des einen wie des anderen aufmerksam vernimmt. 44 Dieses geteilte, zerteilte und verteilte Denken wird von den auf der Bühne tanzend Denkenden aus ihrem Tun auf der Bühne heraus zu erreichen versucht – indem sie Einflüsse und Bedingungen der neuzeitlich-europäischen Tanztradition als Bestandteile der eigenen Arbeit untersuchen. Aus dem Aufrufen der geometrischen Organisation von Körper(n), Bewegung und Bühne im frühen Ballett heraus – und damit aus der Auseinandersetzung mit dem Einfluss des Denkens des neuzeitlichen Subjekts als einer weder vergangenen noch einfach zu verlassenden Denkweise – arbeiten Camelin und Héritier daran, zu einer anderen Orientierung im Tanzen und damit zu einer anderen Denkweise auf der Bühne zu finden. Der Einzelne orientiert sich hier mithilfe des Wahrnehmens seines Bezogen-seins auf den jeweils anderen – im Wissen darum, dass er keinen Überblick über die Choreographie hat und nicht in ihrem Zentrum steht.45
44 Versteht Heidegger das Denken – dem an anderen Stellen entwickelten zum Trotz – als etwas, das nur in der Einsamkeit stattfinden könne, ziehen Jean-Luc Nancys Anschlüsse an und Absetzungen von Heidegger in Erwägung, dass Denken sich als gemeinschaftliches, geteiltes und zerteiltes ereignen könnte. Vgl. Nancy, 2004, S. 13f. 45 Der vorliegende Artikel entstand im Anschluss an meine Dissertation Denken im Tanz. Choreographien von Laurent Chétouane, Philipp Gehmacher und Fabrice Mazliah (Publikation in Vorbereitung).
Entzug und Bezug Das Theater der Affizierbarkeit in Walid Raads Scratching on Things I Could Disavow Leon Gabriel
Was Denken ausmacht, scheinen zwei unterschiedliche Modi zu bestimmen: Ein visueller Vorgang des erkennenden oder auch gerichteten Sehens und ein haptischer des erfassenden oder begreifenden Berührens. Beide Modi sind Formen der Bezugnahme, die jeweils die einander ihrerseits nahestehenden Bereiche Philosophie und Kunst, mithin Theater, durchziehen. Sie zeichnet aus, dass sie eine Fixierung ihrer jeweiligen Bezugnahme vornehmen, auch da noch, wo diese Bezugnahme selbst reflektiert wird. Der vorliegende Beitrag ist demgegenüber einer künstlerischen Position gewidmet, die ein Denken der Bühne am Rand der eigenen Bedingungen aufscheinen lässt: Walid Raads geführter Tour Scratching on Things I Could Disavow: A History of the Art in the Arab World 1 (im Folgenden: SOTICD). Dabei schlägt der Beitrag den Begriff der Affizierbarkeit2 vor, denn Raads Arbeit wirft die Frage auf: Wäre Denken nicht dasjenige, was statt einer fixierenden Ansichtnahme oder einem Ergreifen eine Affizierung durch ein Anderes und damit eine Veränderung zulässt? Theater kann in einem erweiterten Verständnis als eine räumliche Praxis des Denkens aufgefasst werden, welche insofern eben eine Praxis ist, als dass durch
1
Bei der Analyse beziehe ich mich auf meine mehrfachen Besuche der Arbeit beim Kunstenfestivaldesarts 2011, bei der documenta 13 2012 und bei IMPACT13: Someone Missing auf PACT Zollverein 2013 sowie persönliche Gespräche mit Raad.
2
Der Begriff wird nicht zuletzt in Anlehnung an Walter Benjamins Reihe der „-barkeiten“ gewählt. Vgl. Weber, Samuel: Benjamin’s -abilities. Cambridge 2008.
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sie je neue und andere Relationen gebildet werden (können).3 Dieses Verständnis ist nicht normativ oder verallgemeinernd gemeint, sondern soll es ermöglichen, experimentelle künstlerische Arbeiten, die sich in einem traditionelleren Verständnis nicht klar innerhalb feststehender Gattungen, Genres oder Disziplinen bewegen, in ihrem jeweiligen Potential zu untersuchen. Es favorisiert damit ein Denken der Veränderung und Verwebung mit Vielheiten anstelle von Ontologien und Kausalitätsketten. Ein solchermaßen weit gefasster, gegenüber der historischen Gewordenheit spezifischer Theaterformen offener Theaterbegriff erlaubt dreierlei zu untersuchen: was in welcher Weise zueinander in Bezug tritt (also etwa auch: wie und als was etwas in Erscheinung tritt); welche Bühne oder welcher Erscheinungsraum dabei involviert ist und welche konstitutiven Ausschlüsse wiederum dabei entstehen. Viele gegenwärtige szenische Arbeiten setzen ihrerseits oftmals an diesen Ausschlüssen dahingehend an, dass diese innerhalb der eigenen Produktions- und Präsentationsbedingungen in eine Konstellation überführt werden, die die scheinbar klar gezogene Grenze zwischen Innen und Außen, eigen und fremd, immanent und transzendent, nicht aufhebt, sondern ausstellt und verkompliziert. Künstlerische Arbeiten verhandeln dergestalt immer wieder neue Bezugsmöglichkeiten – was ein Anders-Denken der Welt bedeutet, die nicht mehr als eine einzige, ausschließliche und unveränderliche Welt erscheint, die als eine bildhafte „Vorstellung“/„repraesentatio“4 ausgehend vom (neuzeitlichen) Mensch als Subjekt, dem „fundamentum absolutum inconcussum veritatis“5,
3
Vgl. Jean-Luc Nancys Darlegung von Theater als einer „Kunst des Bezugs“, der ich in weiten Teilen folge, allerdings mit der Pointierung, dass es mir um die Möglichkeit des Bezuges geht, nicht aber um ‚das‘ Theater ‚an sich‘ oder gar eine Essenz des Theaters. Nancy, Jean-Luc: „Theater als Kunst des Bezugs“ (1 und 2), in: Tatari, Marita (Hg.): Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie. Zürich/Berlin 2014, S. 91-108.
4
Heidegger, Martin: „Die Zeit des Weltbildes“ (1938/1953), in: ders.: Holzwege. GA Bd. 5. Hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a.M. 1977, S. 75-113, hier: S. 91.
5
Ebd., S. 106. Entgegen der Schlussfolgerungen Heideggers ist die Vorstellung/Repräsentation nicht das Missverständnis des einen „*Geschick[s]“ eines Wesensgrundes (im antiken Griechenland), sondern der Versuch der Abwehr einer ursprünglichen Zerstreuung. Derrida, Jacques: „Sendung“, in: ders.: Psyche. Erfindungen des Anderen. Wien 2012, S. 95-142, hier S. 132. Heideggers Antisemitismus fügt sich an diese Abwehr und die seinsgeschichtliche Ursprungssuche nach dem „ersten Anfang im Griechentum“ an. Vgl. Heidegger, Martin: „Anmerkung I“ (1945/46), in:
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konstituiert wird und zu der sich das Theater entsprechend wie ein Fenster für dieses Subjekt und auf die Welt dieses Subjektes verhielte. Denn in den meist als ‚Globalisierung‘ bezeichneten weltweiten und zugleich hochgradig spezifizierten Vernetzungsprozessen zieht sich das ‚Theaterhafte‘ im neuzeitlichen Sinn – d.h. als das In-Erscheinung-Treten auf einer bereits gegebenen Bühne – selbst zurück oder verändert sich.6 Scheinbar paradoxerweise erscheint die im Prozess ihres „Weltwerden[s]“7 auf sich selbst verwiesene Welt dabei gerade nicht mehr als eine einzige, sondern als viele-Welten-in-ständigem-Kontakt-und-ständigerVeränderung. Diese Betrachtungsweise bezeichne ich (im Rahmen dieses Textes grob verkürzt) als Altermundialität: Anstelle der Annahme einer einzigen Bühne, welche umstandslos alles auf der Welt oder gar ‚die‘ Welt als solche zur Darstellung bringen können soll, wird damit vielmehr die geteilte Möglichkeit der Vielheit der Welt(en) und die Bezugnahme auf diese Vielheit in theatralen Praktiken gedacht.8 ‚Bühnen‘ wären diesem Untersuchungsansatz zufolge dann Gefüge, die der Vielheit einer Welt ohne Grund als ihr eigener Resonanzraum als auch der Vielheit mehrerer Welten in ihrer Kompossibilität Rechnung tragen.9 Dass das Bezugnehmen auf und Affiziert-Werden-Können von manchen dieser vielen Welten aber nicht per se gegeben ist, sondern allererst wachgerufen werden muss, und wie jede spezifische Bezugnahme eine je spezifische Bühne erfordert, behandelt die im Folgenden von mir untersuchte Inszenierung. Zunächst wird daher Raads Arbeit ausführlich vorgestellt sowie das darin aufgegriffene Konzept des „Rückzugs der Tradition“ erläutert, wie auch eine Befragung des Sehens bzw. Nichts-Sehens. Dies führt zu einem in Raads Projekt ins Spiel gebrachten Denken, das sich weder einem erkennenden, objektivierenden Sehen, noch einem Erfassen des Gegenstandes ‚an sich‘ verschreibt. Vielmehr wird ein Berührt-Werden-Können thematisiert: Die Möglichkeit des Bezugs überhaupt, die Affizierbarkeit, wird als eine Erfahrung verhandelt, die sich nicht
ders: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). GA Bd. 97. Hg. von Peter Trawny. Frankfurt a.M. 2015, S. 1-106, hier S. 20. 6
Vgl. etwa auch: Nancy, Jean-Luc: Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung. Zürich/Berlin 2001, S. 21f. und 34f.
7
Nancy, Jean-Luc: Der Sinn der Welt. Zürich/Berlin 2014, S. 10.
8
Der vorliegende Beitrag stellt damit einen Auszug aus meiner Dissertation Bühnen der Altermundialität. Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis dar. (Verteidigung an der Goethe Universität Frankfurt am 17. November 2017). Die Publikation befindet sich in Vorbereitung.
9
Vgl. Nancy, 2001, S. 213. Zu unterscheiden ist hier zwischen der Welt als verortender, geteilter Sinnstruktur und dem uns bedingenden Planeten Erde.
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direkt abbilden oder zeigen ließe, sondern der sich nur als Praxis immer wieder angenähert werden kann. Dies wird abschließend in einem knappen Ausblick auf die philosophische Thematik der Endlichkeit bezogen.
D AS V ORWORT DES Ü BERSETZERS : ARTIST P ENSION T RUST Ein schlanker, etwas distanziert-höflicher Mann mit kahlem Haupt und randloser Brille empfängt seine Gäste mit einladendem Kopfnicken und geleitet sie zu Klappstühlen vor einer riesigen Wand mit einer schier unüberschaubaren Vielzahl an leuchtenden, sich teilweise bewegenden Details aus aufgeklebten Schnipseln, Photos und Projektionen, darunter Gesichter, eine Hand, die eine Kapsel zwischen ihren Fingern hält und Aufnahmen von Überwachungskameras. Eine wilde Anhäufung von Partikeln steht uns dort als Fläche gegenüber – eine Wandfläche aus dem typischen Rigips, wie er für temporäre Trennwände in Museen verwendet wird. „Hello, my name is Walid Raad, welcome to Scratching on Things I Could Disavow. A History of the Art in the Arab World. Part 1: Translator’s Preface: Artist Pension Trust in Dubai“ – der freundliche Mann, der in der Rolle des Künstlers seine eigenen Arbeiten erörtert und im Folgenden stets von sich („I“, „my“, „Myself“) sprechen wird, beginnt also diesen ‚ersten Teil‘, dieses Vorwort des Übersetzers, als Situierung in medias res: Vor einigen Jahren – im November 2007 genaugenommen, habe ich ein Projekt über die Geschichte der Kunst in der arabischen Welt begonnen. Ich erinnere den Monat, weil ich etwa um dieselbe Zeit einen Anruf von einer Frau namens November erhalten habe. November ruft mich an und fragt, ob ich Interesse daran habe, einer Altersvorsorge für Künstler*innen beizutreten, etwas, das sie den Artist Pension Trust nennt. 10
Raad fährt fort zu erläutern, wie dieser Trust von zwei ehemaligen israelischen Geheimdienstoffizieren aufgebaut wurde, wie dieser funktioniere und wie fasziniert er bis heute davon sei: Es handele sich um ein Finanzsystem, welches einer
10 „A few years ago, in November 2007 to be precise, I started a project on the history of the arts in the Arab world. I remember the month because I had received a phone call around the same time from a woman by the name of November. November calls and asks me whether I am interested in joining a retirement plan just for artists, something she referred to as the Artist Pension Trust.“ Alle Zitate der Performance nach der begleitenden Publikation und dem darin enthaltenen Script: Raad, Walid: Walkthrough. London 2014. [Übersetzung L.G.]
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ausgewählten Zahl von Kunstschaffenden eine Rente garantiere. In jeder vom Trust definierten Region werde dafür zweihundertfünfzig ausgewählten Künstler*innen angeboten, dem lokalen Trust beizutreten und darin in jedem Fall einzuzahlen (etwa wie bei Raad in den Artist Pension Trust Dubai). Dies garantiere ein stabiles Einkommen über Jahre hinweg, selbst wenn die eigenen Kunstwerke keinen Absatz mehr finden. Mit kleinen Gesten auf die Wand deutend erläutert Raad, wie dieser Trust mit einem anderen für ausgewählte Kurator*innen zusammenhinge, welche Verbindungen zu einer Sicherheitstechnologiefirma namens ImageID und zu Israels Sicherheitsbehörden es gebe und wie diese ganze Trust-Kombination selbst nur einen kleinen Teil der Database mutualart.com ausmache, die wiederum den weltweiten Kunstmarkt evaluiere. Dass der Trust nun Verbindungen nach Israel habe, sei für ihn als libanesischen Künstler aufgrund des andauernden Kriegszustandes zwischen beiden Staaten allerdings ein nicht unerhebliches Sicherheitsrisiko: Im Libanon wird jede Verbindung zwischen einer israelischen Person und einer libanesischen Person oder einer israelischen Institution und einer libanesischen Institution Ärger hervorrufen. […] Ohne Rücksicht auf irgendeine andere Überlegung: Sofern etwas davon auf den Straßen von Beirut bekannt wird, kann das tatsächlich gefährlich werden, und nicht nur für mich.11
Auch wegen dieser Sorgen, so hören wir, habe Raad irgendwann sogar den überaus beeindruckenden und sympathischen Mitgründer des Artist Pension Trust, Moti Shniberg, getroffen, der ihn dann noch umso tiefer in die weiteren an den Trust geknüpften Datennetze habe einblicken lassen – nur dass Raad seine für ihn wirklich relevanten Rückfragen zu Shnibergs Aktivitäten vor lauter Verwirrung vergessen und somit das wichtige Treffen ungenutzt gelassen habe. Die ganze Geschichte mag in manchen Ohren wie eine Verschwörungstheorie daherkommen – irgendwann taucht eine Trademark-Registrierung des Ausdrucks „September 11, 2011“ auf und Raad lässt keinen Zweifel daran, wie sehr ihn selbst die Suche nach einer Intrige („insidious links“) zunächst gefesselt habe. Doch von manchen spektakulären Details abgesehen, gleicht das, was wir hören, weitestgehend unserer geteilten Erfahrung. Es ist eine von vielen Geschichten darüber, wie der Kunstmarkt des Nahen Ostens durch Investitionen
11 „[I]n Lebanon any link between an Israeli person and a Lebanese person, or between an Israeli institution and a Lebanese institution, will spell trouble. […] Regardless of any other consideration, if word about this goes out on the streets of Beirut, it might actually be dangerous, and not just for me.“
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(darunter auch aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, wie Shniberg Raad eröffnet) neu aufgezogen wird – so wie jeder andere neoliberal organisierte Markt auf diesem Planeten, d.h. grob demselben Model folgend. Raad schafft so für Prozesse, die nicht die Form einer Ansicht annehmen (so etwa die komplexen kybernetisch-informationstechnologischen Neukonfigurationen des globalen Kunstmarktes), eine geradezu tableauartige Bühne – so wie das eingangs erwähnte Schaubild.12 Trotz dessen Verästelungen ist diese Form der Aufdeckung, wie diverse Trusts und Webdienste den Kunstmarkt als Investment nicht nur dank genauer Analysen, sondern dessen algorithmischer Lenkung nutzen, letztlich durch Raads Erzählung das Generieren einer Äquivalenzkette: Erzeugt wird eine zusammenhängende Geschichte, die notwendigerweise manches ausblendet und anderes zusammensetzt, um ein kohärentes Bild zu erzeugen – selbst wenn in diesem noch manche Puzzleteile fehlen mögen. Doch wie Raad auf einmal brüsk anmerkt, sei all dies nicht neu und es interessiere ihn gar nicht: „Aber am Ende des Tages ist das viel zu vertraut. Es ist banal. Es ist vorhersehbar. Und ich jedenfalls finde nichts davon hinterlistig. Ich finde es nicht mal interessant.“ 13 Dies war nur das Vorwort des Übersetzers, der, wie sich zeigen soll, ab jetzt ganz andere Dinge zu übersetzen haben wird, die man allzu leicht verleugnen (disavow), übersehen oder vergessen könnte.
D ER R UNDGANG : K UNST IN DER ‚ ARABISCHEN W ELT ‘ Nun folgt der zweite Teil, der Rundgang selbst, der sich seinerseits aus vier Stationen zusammensetzt, die nach eher technischen Randnotizen betitelt sind (Section 88, Section 139, Index XXVI, Appendix XVIII). Das Publikum folgt Raad zu einer ersten Station, bei der die Gäste eingeschlossen sind von seltsam flächigen Bordüren und Videoanimationen leerer Museumsräume, die beide ein zwar perspektivisch stimmiges, doch um den Fluchtpunkt beraubtes gleichsam plastisches ‚Bild‘ von typischen, aber leeren Museumswänden erzeugen. Raad scheint es hier allerdings nicht um eine Thematisierung der Perspektive zu gehen, sondern vielmehr darum, was in bestimmten Räumen ausgeschlossen wird. Stand im ersten Teil von SOTICD der Technologiekomplex rund um Eliteeinheiten des is-
12 Es handelt sich um eine Referenz an die großflächigen Papierwände zu Verschwörungsnetzwerken des Künstlers Marc Lombardi oder die labyrinthischen Gemälde von Julie Mehretu, wie Raad bei dem von ihm gehaltenen Workshop im Rahmen von IMPACT13 anmerkte. 13 „But at the end of the day, it is all too familiar. It is banal. It is expected. And for one I don’t find any of it insidious. I don’t even find it interesting.“
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raelischen Geheimdienstes und amerikanische Großkonzerne sowie durchgängig New York als Schauplatz des Geschehens im Vordergrund, so wendet sich der Bericht nun in die zuvor bereits kurz aufgetauchten Vereinigten Arabischen Emirate und hin zum Komplex von architektonischer Stadtplanung und Investitionen in den Kultursektor. Die Erzählzeit verlagert sich fast unmerklich in die Zukunft. Weiterhin seine Erzählweise und Rolle einhaltend verbindet Raad den Inhalt seiner Schilderungen mit dem flächigen Eindruck der Bordüren und Projektionen. Denn vor diesen stehend schildert er, dass irgendwann zwischen 2014 und 2024 bei der Eröffnung des Guggenheim Abu Dhabi ein einzelner Museumsbesucher buchstäblich gegen eine Wand laufen werde, die ihn am Einlass und damit an der Erfahrung der Kunst hindere. Die Erzählung über die Neubauten von Kulturinstitutionen auf der künstlichen Museumsinsel Saadiyat Island durch Stararchitekten wie etwa dem Louvre durch Jean Nouvel, 14 geht mit der Flächigkeit der an dieser Station gezeigten Exponate einher: Die bildhaften Flächen der Schauräume thematisieren die Unzugänglichkeit oder gar den Entzug von Erfahrung. Die Welt, so ließe sich festhalten, wird flach und (zumindest in Teilen) verschlossen in den Kunsträumen des erkennenden/gerichteten Sehens, denen es gänzlich an Bezugsmöglichkeiten zu mangeln scheint: Sie sind geradezu unzugänglich geworden. Der radikale Entzug einer Erfahrung stellt allerdings nicht nur ein Problem der konkreten Sichtbarkeitskonstruktionen und Schauapparaturen dar und ließe sich auch nicht kurzerhand mit anderen Konstruktionen oder gar einer ‚reinen Wahrnehmung‘ beheben. Das wird vor allem in der nächsten Station deutlich, bei der Raad die Gruppe zu der Miniatur eines Ausstellungsraumes führt. Stets habe er es abgelehnt, seine weltberühmten Arbeiten mit „The Atlas Group“ im Libanon zu zeigen. Als er aber schließlich eingewilligt habe, seien diese dort auf ein Hundertstel ihrer Größe geschrumpft, sodass Raad nichts anderes übriggeblieben sei, als für diese die Ausstellungshalle, den „White Cube der White Cubes“ in der Sfeir Semler Gallerie in Beirut, in dem sie hätten gezeigt werden sollen, nochmal in Miniatur nachzubauen. Spätestens an diesem Punkt kippt die Führung in ein ständiges Spiel des (Un-)Glaubens,15 enthält das Berichtete ab
14 2011 und 2012 befand sich der Bau noch in Planung und Raads Erzählung war zum Zeitpunkt, als ich SOTICD besucht habe, in die Zukunft verlagert. Im November 2017 wurde das Gebäude eingeweiht. Raads jüngste Arbeit Les Louvres and/or Kicking the Dead (2018) setzt u.a. die Beschäftigung mit den Museumsbauten auf Saadiyat Island fort. 15 Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: „(Un)Glauben. Das Spiel mit der Illusion“, in: Schoenmakers, Henri/Bläske, Stefan/Kirchmann, Kay/Ruchatz, Jens (Hg.): Theater
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jetzt doch immer mehr Merkwürdiges und kann folglich immer mehr Verwirrung auslösen. Allerdings zeichnet sich diese Station auch durch ihren subtilen Bezug auf den Ort der Kunst selbst Aufmerksamkeit aus. Wie der Schriftsteller Jalal Toufic bemerkt, sei die Ortsspezifik des kriegs- und krisengebeutelten Libanon just das Fehlen seiner Ortsspezifik.16 Der White Cube der Sfeir Semler Galerie – der sich übrigens unweit der Stelle eines einstigen Massakers im Stadtteil Karantina von Beirut befindet – potenziert als vermeintlich neutrales Gebilde der reinen Betrachtung einerseits diese Ortlosigkeit und Raad zufolge sind es die Objekte, die hierauf mit ihrem Schrumpfen reagieren. Andererseits lässt die Miniatur in ihrer Gemachtheit und Reduktion fast unmerklich einen seltsam verschobenen Verweis auf den Ort der Zusammenkunft hier aufkommen – d.h. auf genau diese Black Box, in der Raads Führung stattfindet. Dass die Black Box, in der wir uns befinden, nicht abgeschlossen von einem Außen ist, sondern durch Bruchstücke und geteilte Bedingungen mit anderen Praktiken verwoben, lassen die ausgerissenen Wände erahnen, zu denen Raad die Gruppe nun bei der nächsten Station lenkt. Auf diesen findet sich eine lange Liste arabischer Namen in weißem Vinyl auf weißem Grund, wovon allerdings ein Name mit roter Farbe zur Markierung angesprüht wurde. Via telepathischer Sendungen von Künstler*innen aus der Zukunft habe er eine Liste von Namen erhalten. Allerdings seien solche Signale bekanntermaßen immer von einem Rauschen („telepathic noise“) begleitet, weshalb er sie für eine Ausstellung in Beirut auf jene Wand habe abdrucken lassen, die nun hierher transportiert worden sei. Ein Koch (Raad variiert seinen Bericht hinsichtlich dieses Details, mal handelt es sich auch z.B. um eine Tänzerin) habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass ein Name, Johnny Tahan, falsch geschrieben sei. Hätten die Künstler*innen der Zukunft etwa besonderes Interesse an Tahan? Nein, ihnen ginge es um etwas ganz anderes. Die Künstler*innen aus der Zukunft bräuchten vielmehr diese spezielle rote Farbe der Namensmarkierung, denn: „Diese Farbe ist für die Künstler*innen der Zukunft nicht mehr verfügbar, weil die Farbe beeinträchtigt wurde. Aber sie wurde nicht physisch oder materiell beeinträchtigt. Nein, sie wurde immateriell beeinträchtigt.“17
und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2008, S. 445-456. 16 Toufic, Jalal: „Ruinen“, in: Nakas, Kassandra/Schmitz, Britta (Hg.): The Atlas Group (1989-2004). A project by Walid Ra’ad. Köln 2006, S. 27-33, hier S. 28. 17 „This colour is not available to the artists of the future because the colour has been affected. But it has not been affected physically or materially. No, it has been affected immaterially.“
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Diese Erfahrung habe ihn auf etwas gebracht, was er niemals bezüglich der Kriege im Libanon in Erwägung gezogen hätte, bemerkt Raad, während er sich der gegenüberliegenden Wand und damit der vierten und letzten Station zuwendet. Eine große Menge an gerahmten, zwar hübschen aber relativ unspektakulären Postern, Buchseiten oder Katalogeinbänden bedeckt die Wand von oben bis unten. Als unsichtbare, immateriell-materielle Folgen der Desaster des Krieges zögen sich Farben, Formen, Linien und Umrisse zurück und in marginale Publikationen flüchteten, wo sie sich versteckten und überwinterten. Sie sind nicht zerstört. Sie sind nicht der Sicht entzogen. Jedoch werden diese Farben, Linien, Umrisse und Formen auf einmal und aus unbekannten Gründen von manchen Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Denker*innen und anderen so behandelt, als ob sie physisch beeinträchtigt worden seien. Sie sind nicht physisch zerstört, aber manche empfindsamen Leute behandeln sie als ob sie zerstört worden wären. 18
Manche Farben seien etwa so sehr betroffen, dass sie für Künstler*innen gar nicht mehr zur Verfügung stünden. Hier, ein Zustandsbericht? Nein. Das ist ein Umriss, der Schutz sucht in einem Zustandsbericht. Hier, dies ist kein Buch, sondern eine Form, die sich als Buch verstellt. Und auf jeden Fall ist das nicht blau. Das ist nicht Gelb. Das ist nicht Schwarz.19
Damit endet SOTICD: Ohne finale Zusammenfassung der heterogenen Teile und ohne richtiges Ende. Dennoch scheinen die Stationen vor allem durch diese letzte miteinander verbunden zu sein, das heißt durch den Rückzug und die Uner-
18 „They are not destroyed. They are not removed from view. Yet these colours, lines, shapes and forms are all of a sudden and for unknown reason treated by some artists, writers, thinkers and others as though they had been affected physically. They are not physically destroyed, but some sensitive people treat them as if they had been destroyed.“ 19 „Here, a condition report? No. This is a shape taking refuge in a condition report. Here, this is not a book, but a form dissimulating as a book. And of course, this is not blue. This is not yellow. This is not black.“
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reichbarkeit von gewissen Dingen aufgrund eines Desasters wie etwa Krieg – aber, wie sich ergänzen ließe, vielleicht auch der Neustrukturierung des Nahen Ostens wie auch der Kunstwelt. Doch mit diesem offenen Ende, das dazu genutzt werden kann, in der Ausstellung nochmal auf eigene Faust die Farben, Formen, Linien, Umrisse oder auch die anderen Exponate zu untersuchen, kann zugleich eine Reihe von Fragen beginnen: Was von dem Erfahrenen stimmt denn nun? Was hat es mit dem Rückzug auf sich? Was sehe ich da vor mir bei diesen Exponaten, was sehe ich gerade nicht? Gehen mich diese seltsamen, sich zurückziehenden Dinge (oder was auch immer sich zurückzieht) etwas an? Was, wenn ja?
D ER R ÜCKZUG DER T RADITION NACH DEM UNERMESSLICHEN D ESASTER Wer sich auf Raads Tour einlässt, kommt unweigerlich zu mehr Fragen als Antworten. Einiges davon lässt sich lichten, anderes lässt sich annähernd erhellen, weniger um es zu erklären, als vielmehr um die oben beschriebene Verwirrung und die durch sie angeregte Veränderung im Denken adäquat nachzuvollziehen. Raad nimmt das eigene Arbeiten als weltweit gefragter Künstler zum Ausgangspunkt, um darauf aufbauend eine Verdrehung oder Veränderung einzuführen, die wiederum auf den im letzten Teil des Rundganges hervorgebrachten Komplex des Rückzugs hinführt. Ähnlich der Störgeräusche des „telepathic noise“, von dem Raad spricht, entsteht ein beständiger Zweifel. Dies korrespondiert mit Raads Vortragsweise: Ein Botenbericht und zugleich Artist Talk, 20 bei dem ständig der Eindruck von Raad wechselt, ohne dass es selbstverständlich wäre, wer dieser ‚translator‘, der sich als ‚Walid Raad‘ vorgestellt hat, letztlich ist. Nuancen seiner Stimmlage oder auch das Tempo des Vortrags und das Insistieren auf bestimmten Punkten lassen ihn je nachdem kalkuliert, verwirrt, erleichtert oder misstrauisch erscheinen. Folgt man Raads einem Sog gleichender Schilderungsweise, die er auch außerhalb seiner Präsentationen fortführt, so schlagen sich Geschehnisse nicht nur im Subjekt nieder, sondern affizieren die Welt als ein Verhältnis selbst, womit
20 Raad hat dieses Prinzip unter anderem aus der eigenen Verwunderung über die Rolle der ihre Arbeiten erklärenden Künstler*innen entwickelt, die zugleich mit diesen Vorträgen eine ‚Anwesenheit ihrer selbst‘ verkaufen, während die Werke zunehmend weniger Herstellungsaufwand erfordern. Er bezieht sich nach eigenen Angaben auf: Singerman, Howard: Art Subjects. Making Artists in the American University. Berkeley 1999.
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Raad sich auf das Konzept des „Rückzug[s] der Tradition nach einem unermesslichen Desaster“ von Toufic bezieht.21 Berührt wird hier eine ganz andere Welt als die des rezipierenden Subjektes, die aber ebenso von dem, was geschieht, in Mitleidenschaft gezogen ist. Was aber ist nun dieses Desaster? Was genau ist die Tradition? Toufic beantwortet dies mit der Wendung: Tradition ist, was das unermessliche Desaster materiell überlebt, sich in seiner Folge immateriell entzogen hat und dann glücklicherweise von Künstlern, Schriftstellern und Denkern zu neuem Leben erweckt wurde – und zwar ist sie dies alles zugleich.22
Zum ersten bedeutet die Ungegründetheit der Welt das katastrophische Fehlen eines letzten Fundaments, also den Entzug eines einzigen, sinnstiftenden Bezugs. Zum zweiten kann das Desaster auch in einer radikalen Schließung bestehen, die entweder bestimmte Bezüge fixiert oder gar in einer völligen Bezugslosigkeit resultiert – nicht von ungefähr verweist Toufic bei seinem Konzept immer wieder auf die Worte aus dem Film Hiroshima, mon Amour: „Du hast nichts in Hiroshima gesehen.“ („You have seen nothing in Hiroshima.“). Doch vielmehr müsste es in der deutschen Übersetzung heißen: „Du hast Nichts gesehen in Hiroshima.“ Denn Toufic erläutert das zentrale Wort „nothing“ (Nichts) folgendermaßen: Bedeutet das, dass man keine Aufzeichnungen machen sollte? Keinesfalls. Man sollte dieses „Nichts“ aufzeichnen, das erst nach der Wiedererweckung zur Verfügung stehen kann. […] Der Teufelskreis besteht darin, dass sich das, was aufgezeichnet werden muss, entzogen hat, so dass es, wenn man es nicht zu neuem Leben erweckt, übersehen werden wird.23
Das Nichts ist nicht sichtbar – was verlangt, dass es, um aufgezeichnet werden zu können, neu bearbeitet werden muss. Wie aber lässt sich ein Nichts sehen und wie ließe es sich wiedererwecken? Ginge es nicht auch um ein Nicht-Sehen als gewissermaßen übersehenem Teil des Sehens? Raad deutet auf Kataloge und Buchseiten, in denen sich die Farben etc. versteckt hielten. Das ist zwar kein
21 Toufic, Jalal: „Abspann inklusive“ in: ders: Vom Rückzug der Tradition nach einem unermesslichen Desaster. Berlin 2011, S. 9-40, hier u.a.: S. 9ff. (= Toufic, 2011a) Vgl. zum Begriff des „Desasters“ mit anderer Akzentuierung auch Blanchot, Maurice: Die Schrift des Desasters. München 2005. 22 Toufic, Jalal: „Demnächst erscheinend“, in: ders.: Vom Rückzug der Tradition nach einem unermesslichen Desaster. Berlin 2011, S. 41-90, hier S. 81. (= Toufic, 2011b) 23 Toufic, 2011b, hier S. 72f.
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Nichts, aber diese Randbereiche sind unter normalen Umständen nicht von Bedeutung, sie ergeben keinen Sinn. Doch braucht es hierfür möglicherweise ein anderes Sehen, das aber auch kein Erfassen wäre: mithin ein berührendes Sehen oder eher Wahrnehmen, ein Affiziert-Werden-Können als Nichts-Sehen – ein Überempfindsamkeit (over-sensitivity), wie es Toufic und Raad nennen, die in, mit und durch Kunst gedacht wird.24 Das Nichts aufzuzeichnen und aufzuzeigen wäre insofern ein Denken auf und mit der Bühne, als dass es nicht als ungebrochener Zielvorgang, sondern als ständige Praxis mit und an der eigenen Darstellung immer wieder neu stattfindet, so wie dies Raad selbst in seinem Rundgang unternimmt.
D AS T HEATER DER AFFIZIERBARKEIT SOTICD weist auf die Grenze der Sichtbarkeit und auf das ‚Nichts-Sehen‘: Das Gelb ist nicht das Gelb, das Schwarz nicht das Schwarz und die Farben, Formen, Linien, Umrisse sind im Entzug. Das erkennende/gerichtete Sehen wird nicht durch ein scheinbar konkretes Berühren ersetzt.25 An diesem Punkt der Analyse kommt nun die eingangs erwähnte Möglichkeit des Bezugs als einer Affizierbarkeit erneut ins Spiel. SOTICD entwirft einen spezifischen Weltzugang, der es erfordert, eine Wahrnehmung für Schließungsprozesse zu schärfen (in Form der digitalen Trusts oder der Neubauten von Museen) und dennoch eine minimale Differenz als einen Moment der Veränderung darin zu suchen (erst nachdem er vom Schrumpfen der eigenen Arbeiten berichtet hat, führt Raad seine Gäste noch weiter an den Rückzug heran). Dieser szenische Parcours, den Raad auch
24 „In Bezug auf das unermessliche Desaster verhält es sich mit der Kunst wie mit dem Spiegel in Vampirfilmen: Sie enthüllt, dass sich uns etwas entzieht, von dem wir glauben, es sei noch vorhanden.“ Ebd. 25 Jacques Derrida merkt an, dass die Dekonstruktion des Sehens in der Folge Heideggers genau hier ihre Schwierigkeiten offenbare, denn „das Privileg des Sehens war beständig gestützt und begründet, es war selbst umfasst vom Privileg des Berührens“. Derrida, Jacques: „Denken, nicht zu sehen“, in: ders.: Denken, nicht zu sehen. Schriften zu den Künsten des Sichtbaren 1979-2004. Berlin 2017, S. 41-61, hier S. 57. (= Derrida, 2017a) Wie Peter Risthaus formuliert: „Die Parole der Fundamentalontologen lautet: die Hand nicht aus der Hand geben!“ Risthaus, Peter: Onto-Topologie. Zur Entäußerung des unverfügbaren Ortes von Martin Heidegger zu Jacques Derrida und jenseits. Zürich/Berlin 2009, S. 197.
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als ‚Walkthrough‘ bezeichnet, verhandelt einen „transimmanenten“26 Bezug zu dem, was als Rückzug oder Entzug der immanenten Logik der geschlossenen (Schau-)Räume entgeht. Erst durch den Rück- oder Entzug erscheint jedoch die Möglichkeit des Bezugs selbst – d.h. das, was hier Affizierbarkeit genannt wird – inmitten der eigenen Bedingtheit im Dispositiv der globalisierten Gegenwartskunst. Die Bezugsmöglichkeit weist quasi-transzendental auf andere Bezugnahmen in der Immanenz und macht dies als vielleicht kaum merkliche Differenz erfahrbar, indem SOTICD dem nachgeht, was nicht-sichtbar bleibt, aber dennoch als Praxis neu aufgezeichnet und bearbeitet werden kann (oder, wie Toufic es nennen würde: muss). ‚Nichts-Sehen‘ heißt dann, aufnahmefähig für etwas zu werden, das nicht dem Raster des ‚Sehens‘, d.h. nicht der gängigen Wahrnehmung entspricht, darin auch keinen Platz und keine Welt hat.27 Es heißt, sich diesem Nichts anzunähern und diesem gegenüber empfänglich zu sein, um es immer wieder neu zu verhandeln und somit wiederzuerwecken, so wie dies Raad (mit Verweis auf Toufic) unternimmt. Als eine minimale Verschiebung, eine Entwindung aus der ausschnitthaften Bühne des geordneten Sehfeldes, bietet SOTICD eine Sensibilisierung für den Rückzug und für die bloße Möglichkeit an, affiziert zu werden. Eine solche Möglichkeit des Bezugs beschreibt keinen neuen Wahrnehmungsmodus oder ein Erkenntnisinstrument, sondern ein schwaches, minimales Vermögen, von einem Rest oder eher vielen Resten berührt zu werden, die uns sonst entgehen und nie ansichtig und manifest werden. Ein Rest ist weder Ursache noch Wirkung, weder diese oder jene Entität noch Überbleibsel von dieser oder jener Entität. Er ist weder restlos erkennbar, noch lässt er sich – eben als Rest – auflösen oder gar (hegelianisch) aufheben: Er ist das, was bleibt. Wenn Raad nun den Rückzug und das Nichts aufzeigend aufzeichnet, so deutet er auf Marginalien, die mehr sind als ausschließlich Farben, Formen, Linien und Umrisse, aber auch weniger als kohärente Einheiten für sich. Die Reste sind das, was bei dem Vorgang des An-den-Dingen-Kratzens (Scratching) hervorkommt, doch sind sie eben eher ein bloßes Kratzen im Sinne eines Vorganges denn eine Sache an sich. SOTICD schärft das Vermögen, affiziert zu werden, indem Bühnen im
26 Vgl. u.a. Nancy, 2014, S. 83. 27 Ein solches anderes Wahrnehmen bezeichnet Maurice Merleau-Ponty als eine Wahrnehmung, für die „noch die Philosophie fehlt“, die keine „Ansichten über die Welt äußert“ und für die das „Sehen zur Geste“ wird. Er bezieht sich hierbei vor allem auf ein nicht-figürliches Verhältnis von Paul Cézanne zur Farbe. Merleau-Ponty, Maurice: „Das Auge und der Geist“, in: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hamburg 1984, S. 13-44, hier S. 31.
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Sinne von Anordnungen oder Gefügen geschaffen werden, die das (Kunst-) Wahrnehmen selbst kontextualisieren und zugleich vorsichtig die verändernden Möglichkeiten anderer Bezugnahmen auftauchen lassen: Im spekulativen Spiel der Verschränkung von Zeitebenen (das Beirut des Bürgerkriegs, die libanesische Kunstgeschichte, die Gegenwart, die Künstler*innen der Zukunft etc.) wie auch der Verschränkung von menschlichen und dinglichen Welten. Die Reste entziehen sich aufgrund des unermesslichen Desasters, aber können uns tangieren, ohne begrifflich oder anschaulich zu werden, ohne bereits Teil unserer wie auch immer verfassten Welt zu sein.28 Das, was von einer radikalen Schließung und dem Verlust vormals unerschütterlicher Gründe betroffen ist, kann insofern eine minimale Wirkung entfalten, die sich nicht in einem direkten Ansprechen, Angehen oder Berühren äußert, nicht in einem Erfassen und einer direkten Kontaktaufnahme – sondern nur in der Wahrnehmung der Affizierbarkeit als Bezugsmöglichkeit, ohne diese zu determinieren und einem fixierten Sinn oder Wesensgrund zuzuschreiben.29 Dieses Wahrnehmen unterscheidet sich von den eingangs erwähnten Modi Erkennen und Begreifen, denn es lässt merken, dass immer schon die Möglichkeit besteht, in einen verändernden Kontakt durch ein Anderes zu treten,30 ohne es ‚als solches‘ erfassen zu können. Raads Inszenierung verweist auf diese unassimilierbaren und uns zugleich angehenden Reste. Sie umgeht dabei die Falle, mittels einer unmittelbaren Involvierung oder eines Betroffen-Machens direkte Effekte des Einwirkens erzeugen zu wollen und setzt vielmehr auf ein langsameres, ungleich weniger zielgerichtetes und offenbleibendes Affizieren der Gäste. Mag es auf den ersten Blick so scheinen, als handele es sich bei SOTICD um ein weiteres Beispiel für den Einzug der sogenannten Live-Art ins Museum, so hebelt die Arbeit just jene Wirkweise der Schnittstelle von Live- und Visual-Art aus, bei der der objektivie-
28 So beschreibt Toufic auch an anderer Stelle Gebilde, die älter als die Welt seien („entities, older than the world“), sogar älter als das Universum, ohne diesem historisch vorauszugehen. Toufic, Jalal: Forthcoming (Second Edition). Berlin 2014, S. 165-169, hier S. 168. 29 Vgl. hierzu und zu dem telepathischen Rauschen bei SOTICD: „Das Denken ist denkbar auch in einer Bewegung, durch welche es gerade zu kommen aufruft, es ruft, es uns ruft, selbst wenn man nicht weiß, woher der Ruf kommt, was der Ruf bedeutet.“ Derrida, 2017a, S. 49. 30 Vgl. Barad, Karen: „Berühren – Das Nicht-Menschliche, das ich also bin (V.1.1)“, in: Witzgall, Susanne/Stakemeier, Kerstin (Hg.): Macht des Materials / Politik der Materialität. Zürich/Berlin 2014, S. 163-176, hier S. 171.
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rende Status von Kunstwerken mit dem vermeintlich ereignishaften Auftritt des/der Künstler*in sowie dessen/deren Deutungsautorität über das eigene Werk kombiniert wird31 – indem es ihn nur scheinbar bedient. Stattdessen nutzt Raad diese Ausgangssituation, um vielmehr Raum für die Wahrnehmung des Rückzugs zu schaffen und so die Affizierbarkeit als einen Theatervorgang selbst ins Denken zu bringen und dabei das Denken mit dem zu affizieren, was von ihm ungedacht bleibt: Er tritt vor einem Publikum auf, weckt dabei aber zugleich den Zweifel an seiner Autorität und hebt die Konstruktion des Auftrittes sowie dessen institutionellen Bedingungen hervor, und darüber hinaus den größeren, dem Auftritt voraus- und nachgehenden Zusammenhang. Er zeigt Objekte – und wird gewissermaßen zwar als Künstlerfigur selbst zum Objekt –, nur um auf deren Nicht-Handhabbarkeit und den Entzug, der sogar mehr und anderes als die Dinge selbst umfasst, hinzuweisen.32 Wo kann die Möglichkeit der Affizierung angesichts der Bedingungen der Erscheinung von Kunst stattfinden? SOTICDs spekulativem Versuch zufolge in der Wahrnehmung des Entzugs selbst; in einem Theater, das zugleich seine Bedingungen ausstellt und die bloßen Möglichkeiten einer Veränderung eröffnet.
AUSBLICK : D ENKEN IM Z EICHEN DER ( UNENDLICHEN ) E NDLICHKEIT Das skizzierte Denken der Bühne eröffnet einen Bezug zu etwas, was der Logik der Gegenwart entgeht. SOTICD kann auf singuläre Weise als exemplarisch verstanden werden für einen größeren Kontext an künstlerischen Arbeiten, die sich als Praxis der Frage stellen, was in ihrer eigenen Bedingtheit denkbar, aber auch ungedacht ist. Hieran fügt sich allerdings ein weiterer Aspekt an, den ich abschließend hervorheben möchte. Im Sinne der erwähnten Nähe von Philosophie
31 „The general tendency in art discourses and institutions [is] to reify artistic agency as fully intentional and determinable through reasoned interpretative methods. Even with time-based works such as live performances, the visual arts world, relying on these structures of belief and value, tends to turn the living body into an object.“ Jones, Amelia: „Material Traces. Performativity, Artistic ‚Work‘, and New Concepts of Agency“, in: TDR: The Drama Review, Vol. 59, No. 4 (T228), Winter 2015: New Materialisms and Performance Studies, S. 18-35, hier S. 26. 32 In dieser Wendung, die den objektifizierenden Zug der Diskurse und Institutionen der Gegenwartskunst verschiebt, kann SOTICD auch als ein Gegenstück zu Arbeiten wie etwa The Artist is Present von Marina Abramović (2010) gesehen werden. Eine Arbeit, die nach Jones genau diesen Zug exemplifiziere. (Vgl. ebd.)
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und Theater behandelt ein solches Denken der Bühne wie dasjenige von SOTICD auch das Thema der Endlichkeit. Statt das Andere zum Eigenen zu machen, wird es nur in seinem instabilen, schwachen Kontakt angedeutet: als das, was uns affizieren kann, aber nur da, wo es nicht sofort wieder erkannt oder erfasst wird. Nicht nur ein bislang Ungedachtes kommt hier ins Spiel, sondern auch das Denken angesichts eines Undenkbaren, d.h. ein Wissen um die uns teilende Endlichkeit.33 Damit wird über den Bezug zu den uns angehenden Welten zugleich ein weiterer Bezug möglich, der jedoch leicht übergangen werden könnte. Vereinfachend lassen sich drei Ebenen des Bezugnehmens unterscheiden. Erstens diejenige der gegründeten Form der (Kunst- oder Theater-)Institution und der darin stattfindenden Versammlung. Zweitens diejenige der verketteten, sich ständig umformierenden Form der Organisation, des transnationalen Verbundes, des technologischen Netzwerks, der neuen Zusammenhänge der globalen Kunst und ihrer „globalen transnationalen spekulativen Gemeinschaften“ („global transnational speculative communities“)34. Diese beiden Ebenen (Institution/Versammlung und globaler Verbund/Netzwerk) werden in SOTICD im gemeinsamen Rundgang und durch die Kontextualisierung der Kunstdispositive durchaus verhandelt. Aber die leicht zu überhörende besondere Note der Inszenierung liegt darin, eine weder neue noch alte, sondern immer als Möglichkeit zu suchende dritte Ebende des gänzlich formlosen Bezugs anklingen zu lassen: derjenigen, die wie Raad sensibel für den Rückzug nach dem Desaster sind, die von diesem affiziert werden und dadurch auf minimale Weise versammelt sowie etwas teilend sind.35 Sie stellen eine womöglich gar nicht bewusste, gar nicht sich zeigende Bezugnahme unter uns als die Endlichkeit Teilende her,36 die aber den-
33 Auch dahingehend wendet sich SOTICD nicht einfach gegen die eigenen Bedingungen, sondern verschiebt diese jeweils ein wenig. Michel Foucaults einschlägiger Epistemologie zufolge ist das „ganze moderne Denken“ neben einem Bezug zur Endlichkeit von dem „Gesetz durchdrungen, das Ungedachte zu denken“. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1974, S. 394. 34 Osborne, Peter: Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art. London/New York 2013, S. 195. 35 Vgl. Derrida, Jacques: „Die Künste des Raumes“, in: ders.: Denken, nicht zu sehen. Schriften zu den Künsten des Sichtbaren 1979-2004. Berlin 2017, S. 7-40, hier S. 32. (= Derrida, 2017b) 36 Bei der hier eingebrachten Endlichkeit ist diejenige finitude jeder/s einzelnen gemeint, auf die wir zurückverwiesen sind (Endlichkeit nach Heidegger, aber auch nach Kant),
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noch Bedeutung tragen kann, ohne jemals in eine Repräsentationsform von sich selbst eintreten zu müssen. Zwar teilen wir jene Endlichkeit, doch zugleich sind wir qua Endlichkeit unendlich geteilt. Und das Wissen um diese mögliche dritte Ebene einer Bezugnahme unter denen, die affiziert werden, bleibt damit Teil der Inszenierung, doch notwendigerweise unartikuliert und latent. Ihr Aussprechen erfolgt erst im Akt des Weiterdenkens entlang der von SOTICD aufgeworfenen Fragen, wie etwa (neben denjenigen, die oben am Ende der Darlegung der Inszenierung erwähnt wurden): Wieso verschränken sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, speziell in dem, was Raad von Künstler*innen aus der Zukunft berichtet? Wie setzt sich die Befragung der Institutionen der Kunst fort? Wo ließe sich andernorts ein solcher Rückzug erfahren? Wie ließe sich dieses hier praktizierte Denken auch in einem weiteren Kontext politisch wenden? Ebenso offen bleibt die Frage nach dem Manifestwerden dieses Bezugs in Form einer konkreten oder ‚spekulativen‘ Versammlung. Die Besonderheit einer Praxis des Denkens wie derjenigen von SOTICD liegt darin, eine Aufmerksamkeit auf den Entzug von Möglichkeiten und die Erfahrung neuer Bezugnahmen zu lenken, indem dafür nicht einfach eine gegebene Bühne übernommen, sondern eine bestehende verändert und ein spezifisches Gefüge für ein Denken auf, durch und mit dieser Bühne geschaffen wird. Dies betrifft ein durchaus verallgemeinerbares Denken der Affizierbarkeit, als der (unendlichen) Möglichkeit von (endlichen) Beziehungen,37 und zugleich ist es das singuläre szenische Material, welches Raad in den Vordergrund rückt und welches auf der Notwendigkeit insistiert, die Beziehungen je spezifisch und nicht äquivalent austauschbar zu denken. Der Rückzug der Farben, Formen, Linien und Umrisse lässt eine je eigene Welt erfahrbar werden, der wir uns nähern, von der wir affiziert werden und deren Erfahrung wir wiederum teilen können. Die Affizierbarkeit, die bei Raad eine Bühne erhält, ohne ‚dargestellt‘ zu werden, markiert so eine mitunter nur minimale Veränderung im Kontakt mit etwas, was vielleicht nie ansichtig oder handhabbar wird.
nicht die finité (Endlichkeit als Mangel an Unendlichkeit bei Hegel). Vgl. Nancy, 2014, S. 47- 51. 37 Vgl. hierzu: Barad, Karen: What Is the Measure of Nothingness? Infinity; Virtuality; Justice / Was ist das Maß des Nichts? Unendlichkeit, Virtualitat, Gerechtigkeit. Kassel/Ostfildern 2012, S. 33.
Chora und Topos
Die denkende Bühne1 Samuel Weber
„Thinking on/of the Stage“2 – Wenn ich mit dem Titel beginne, der uns hier zusammengebracht hat, so deswegen, weil für mich zumindest dieser täuschend einfache Titel so viele unterschiedliche und tiefgehende Resonanzen hat, dass ich mich verpflichtet fühle, gleich zu Anfang zumindest auf einige zu reagieren, wenn auch im Bewusstsein, dass mich dies sehr wohl in unerwartete Richtungen führen kann. In der Tat wird es der unausgesprochene, unaussprechliche Schrägstrich zwischen den zwei Präpositionen „on“ und „of“ sein, der die vielen Möglichkeiten, die jede dieser beiden bezeichnen kann, aussetzt und zusammenführt. Was kann es bedeuten, auf der Bühne zu denken, im Kontrast zum Denken an die Bühne, zum Denken der Bühne? Und ist der Genitiv in letzterem Ausdruck notwendigerweise nur ein objektiver Genitiv, der die Bühne zu einem Objekt des Denkens relegiert? Könnte er nicht auch ein subjektiver Genitiv sein, der andeutet, dass die Bühne vielleicht ‚selbst denkt‘? Und was könnte in diesem Falle mit ‚Denken‘ gemeint sein? Ich weiß, dass ich nicht in der Lage sein werde, zufriedenstellende Antworten auf diese Fragen zu liefern, aber ich werde zufrieden sein, wenn ich zumindest so etwas wie die Relevanz oder Notwendigkeit dieser Fragen für die Diskussion der verschiedenen Themen herausarbeiten kann, die mit dem ‚Denken‘ und ‚der Bühne‘ verbunden sind. So anzufangen bedeutet, wie ich erst jetzt zu realisieren beginne, anzuerkennen, dass Schreiben im Allgemeinen und dieser Vortrag im Besonderen immer
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Der englische Titel „The Thinking Stage“ beinhaltet eine Anspielung auf Lacans Terminus des „Spiegelstadiums“ („the mirror stage“), sodass eine alternative Übersetzung „Das Denkenstadium“ heißen könnte. [Anm. d. Ü.]
2
Der vorliegende Text wurde zunächst vorgetragen als Keynote im Rahmen des Symposiums mit dem Titel „Thinking on/of the Stage“ [„Denken (auf) der Bühne“]. [Anm. d. Hg.]
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schon ‚auf‘ einer ‚Bühne‘ stattfindet – in der Tat auf mehr als einer, vorausgesetzt, dass es je nur ‚eine‘ Bühne überhaupt geben kann. Denken ist, so möchte ich behaupten, immer eine Art des Reagierens: in diesem Falle des Reagierens auf die verschiedenen im Titel dieser Konferenz versteckten Fragen und Aussagen. Darüber hinaus ist es eine Art des Reagierens vor einem Publikum, das sich hier aus Interesse für etwas, was man ‚Theater‘ nennt, versammelt hat, obwohl seine Erfahrungen und Interessen sonst sicherlich ziemlich auseinandergehen. Ich bin mir also von Anfang an bewusst, dass ich nicht nur ‚über‘ die Bühne schreibe, sondern auch ‚auf einer‘ Bühne. Und das bedeutet, dass der Raum jenseits der Bühne das Theater der Reaktionen, sowohl der unmittelbaren als auch der verspäteten, umfassen wird. Lassen Sie mich angesichts dieser Komplexität am Ausgangspunkt damit zunächst etwas diskutieren, was wir mutmaßlich alle gemeinsam haben, nämlich die Sprache, in der wir miteinander kommunizieren werden. Lassen Sie mich zu Beginn über die Bühne reflektieren – nicht nur über das Ding, sondern auch über das Wort, so wie es in der Sprache, in der dieser Text zunächst verfasst wurde und die Englisch genannt wird, erscheint, nämlich als stage. Bühne wird im Englischen meistens als stage übersetzt. Aber was heißt hier ‚Englisch‘? Hinter diesem anscheinend eindeutigen Namen versteckt sich eine Vielfalt von verschiedenen ‚Sprachen‘, die kaum durch den Begriff des ‚Dialektes‘ als bloße Variationen einer einzelnen Sprache gedacht werden können. und zwar eingedenk dessen, dass dieser vermeintlich eindeutige Name eine Vielfalt verschiedener ‚Sprachen‘ abdeckt, die kaum durch den Begriff des ‚Dialektes‘ als bloße Variationen einer einzelnen Sprache gedacht werden kann. Dies bedeutet nun, dass ich mit dem Vorbehalt beginnen muss, dass das Englische, auf das ich mich beziehen werde, nicht das Englische per se ist, sondern lediglich eine verhältnismäßig eingeschränkte Erfahrung dieser Sprache. Daher müssen meine Beobachtungen offen für Ergänzungen und Verbesserungen hinsichtlich abweichender Verwendungen des Wortes stage in anderen Ausprägungen des ‚Englischen‘ sein. In dem mir vertrauten Englisch bezieht sich das Wort stage – Bühne – nicht allein auf das Theater bzw. auf den Ort, wo Theaterstücke und Vorstellungen aufgeführt werden. Stage hat eine viel allgemeiner gefasste Bedeutung, die nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich ist – ähnlich wie Stufe im Deutschen. So kann eine Bühne als stage nicht nur einen irgendwie gearteten Ort benennen, sondern auch einen Übergang und somit eine zeitliche Stufe oder Phase bedeuten. Stages on Life’s Way ist die englische Übersetzung des Titels eines von Søren Kierkegaards schärfsten, aber auch theatralischsten Texten, Stadien auf dem Lebensweg (Stadier på livets vej). Wie kann ein geschriebener Text theatralisch sein, könnte man fragen, insbesondere einer, der zwischen dem Philosophischen, dem
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Literarischen und dem Autobiographischem schwebt? – Um nur einige wenige Genres zu nennen, die Kierkegaards Schriften aufbieten (und durch dieses Aufbieten unterbrechen und stören). – Das folgende Zitat von Georg Christoph Lichtenberg, eine Art Epigraph zu Kierkegaards Buch, legt vielleicht eine Antwort nahe: „Solche Werke sind Spiegel: wenn ein Affe hinein guckt, kann kein Apostel heraus sehen.“3 Lichtenberg beschreibt das Werk hier als Spiegel. Man kann vielleicht hinzufügen, dass ein Werk qua Spiegel überaus theatralisch wird, wenn es den Blick eines Anderen herausfordert und im Vorhinein mit einem ganz anderen Blick antwortet. Wenn ein Affe hineinguckt, „kann kein Apostel heraus sehen“ – vermutlich, weil der Affe nicht will, braucht oder erwartet, dass irgendetwas wie ein Apostel seinen Blick erwidert. Wenn aber Werke Spiegel sind, wodurch unterscheiden sie sich dann? Die Antwort, mit der Stadien auf dem Lebensweg spielt, ist, dass sie sich durch ihren Rahmen unterscheiden und dass dieser Rahmen eine Funktion ihres Ursprungs ist – ihres Autors. Jedoch war Stadien auf dem Lebensweg die letzte der Schriften, die Kierkegaard, wie man sagt, unter ‚Pseudonym‘ oder ‚vielen Namen‘ geschrieben hat, die weder vom Autor, noch von einem generellen Erzähler, sondern nur von einem „Buchbinder“ namens „Hilarius“ unterzeichnet sind, der, so urkomisch [hilarious] er auch sein mag, dazu dient, die höchst verschiedenartigen Segmente des Textes zusammenzubringen und -zubinden. Aber diese Art Kohärenz bleibt den inneren Elementen des Textes ganz klar äußerlich. Diese Frage der Kohärenz wird von einer anderen merkwürdigen Tatsache bezüglich dieses Textes berührt. Wie die amerikanischen Herausgeber und Übersetzer seines Werkes, Edwin und Anna Hong, anmerken, benutzte Kierkegaard letztlich das dänische Wort für „Stadien“ [„stages“], nämlich „stadier“, fast überhaupt nicht in diesem Buch und zog stattdessen das Wort „Sphäre“ vor. Eine Sphäre – und wir werden darauf vielleicht bei Gelegenheit später zurückkehren – ist eine traditionelle Figur der vollkommenen Abgeschlossenheit in sich selbst und damit der Identität mit sich selbst. Im Gegensatz dazu deutet die Tatsache, dass es eher einen „Buchbinder“ als einen Autor braucht, um dem Text seine ‚Einheit‘ zu geben, darauf hin, dass zwischen dem in sich selbst abgeschlossen Raum, den die „Sphäre“ andeutet, und der textuellen Realität des Buches ein Binden gebraucht wird, um das Ganze zusammenzuhalten. In diesem Sinne kann man argumentieren, dass Stadien auf dem Lebensweg strukturell gesehen schon auf einer Bühne stattfindet, nicht nur weil es durch den Ort, an dem es erscheint, zusammengehalten wird, sondern weil dieser Ort so wenig eine intrinsische Be-
3
Kierkegaard, Sören: Stadien auf dem Lebensweg, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Jena 1922, S. 8.
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ziehung zu dem, was er zusammenhält, in sich trägt wie eine Buchbindung im Verhältnis zu ihrem Inhalt.4 Die Frage des Bindens, Verbindens oder Begrenzens findet Widerhall auch in der Art und Weise, in der dieses Wort inzwischen in einer anderen Sprache, diesmal dem Französischen, gehört und gelesen wird, zumindest seitdem es in den Titel von Lacans berühmten Essay von 1936 über das „Spiegelstadium“ [„Mirror Stage“] eingeschrieben wurde. Aber bei dieser Bewegung vom Englischen zum Französischen hin, muss angemerkt werden, dass das französische Wort „stade“ im Englischen ein anderes Wort ins Spiel bringt: nicht nur Bühne [„stage“], sondern auch Stadion oder Stadium [„stadium“]. Gleichzeitig behält es den doppelten raum-zeitlichen Bezug des englischen „stage“ bei. Obwohl stade im Französischen jegliche direkte Beziehung auf die theatralische Bühne fehlt, hat das Wort nichtsdestotrotz wichtige räumliche Konnotationen, insbesondere in der Form, in der Lacan es in diesem Artikel benutzt. Es bezeichnet eine zeitliche Übergangsperiode und darüber hinaus auch einen Ort des Sammelns oder Versammelns, allerdings einen höchst labilen, so wie in der folgenden Passage: [D]as Spiegelstadium ist ein Drama, dessen innere Spannung von der Unzulänglichkeit auf die Antizipation überspringt [...] und in einem Panzer [armure: armature], der aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjektes bestimmen werden. [...] Entsprechend symbolisiert sich die Ich-Bildung (formation du je) in Träumen als ein befestigtes Lager, als ein Stadion [voire un stade; Hervorhebung SW], das – quer durch die innere Arena bis zur äußeren Umgrenzung, einem Gürtel aus Schutt und Sumpfland – geteilt ist in zwei einander gegenüberliegende Kampffelder, wo das Subjekt verstrickt ist in die Suche nach dem erhabenen und fernen inneren Schloß, dessen Form [...] in ergreifender Weise das Es symbolisiert. Wir finden diese Strukturen einer Befestigungsanlage – deren Metaphorik spontan auftaucht, als würde sie unmittelbar aus den Symptomen des Subjekts hervorgehen – in ähnlicher Weise auf mentaler Ebene realisiert; sie markieren dort Mechanismen der Inversion, Isolation, Verdoppelung, Annullierung, Verschiebung, die der Zwangsneurose zugeschrieben werden. 5
4
Ich habe versucht, die theatralische Bedeutung des Ortes in Kierkegaards Versuch über die Wiederholung herauszuarbeiten in: Weber, Samuel: „Vor Ort: Theater im Zeitalter der Medien“, in: Brandstetter, Gabriele/Finter, Helga/Wessendorf, Markus (Hg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste. Tübingen 1998, S. 31-49.
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Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie es uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, übers. von Peter Stehlin, in: ders.: Schriften I. Hg. von Norbert Haas. Berlin 1986, S. 67f.
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Von den „Abwehrmechanismen“, die Lacan hier mit dem „Spiegelstadium“ assoziiert, sind vielleicht die zwei signifikantesten, für unsere Zwecke hier zumindest, diejenigen, die er „Verdoppelung“ und „Isolation“ nennt. Es lohnt sich, für einen Moment, bei der Tatsache zu verweilen, dass diese zwei „Abwehrmechanismen“, welche das Ich als ein „Stadion“ strukturieren, und zwar nicht so sehr im Sinne des Ortes eines Sportereignisses, sondern eher in dem eines „befestigte[n] Lager[s]“, genau genommen in einem Spannungsverhältnis zueinanderstehen, und zwar eben so, wie sie untrennbar sind innerhalb der Ausbildung der sogenannten Ich-Identität. Obwohl die „wehrhafte Struktur“, die dieses „Stadion“ charakterisiert, auf den Schutz der internen Elemente vor einem bedrohlichen Außen ausgerichtet zu sein scheint, entspricht das nicht der Art, wie Lacan – oder auch Freud – diesen Konflikt, der die Psyche strukturiert, beschreibt. Stattdessen beschreibt er in einer eher ungewöhnlichen Wendung die „zwei einander gegenüberliegenden Kampffelder, wo das Subjekt verstrickt ist“ als „durch die innere Arena bis zur äußeren Umgrenzung“ verteilt – dadurch andeutend, dass der Konflikt mehr innerhalb des Stadions wütet, als außerhalb. Ein genauerer Blick auf die zwei Abwehrmechanismen, Verdoppelung und Isolation, auf die Lacan sich bezieht, weist darauf hin, warum und wie dies der Fall sein sollte. Der Prozess der Verdoppelung – den Freud schlicht „Wiederholung“ nennt – bringt den Versuch mit sich, nicht nur die Vergangenheit zu wiederholen, sondern sie zu modifizieren, indem sie anders wiederholt wird. Dies wiederum bezieht er auf Verdrängung, in welcher das „Symptom“ die verdrängte Erinnerung wiederholt, verdunkelt und modifiziert. Das Isolieren, andererseits, das Freud auch in Beziehung zur Verdrängung setzt, funktioniert auf ganz andere Art und Weise: Nach einem unliebsamen Ereignis, ebenso nach einer im Sinne der Neurose bedeutsamen eigenen Tätigkeit, [wird] eine Pause eingeschoben, in der sich nichts mehr ereignen darf, keine Wahrnehmung gemacht und keine Aktion ausgeführt wird. Dies zunächst sonderbare Verhalten verrät uns bald seine Beziehung zur Verdrängung [...] das Erlebnis ist nicht vergessen, aber es ist von seinem Affekt entblößt und seine assoziativen Beziehungen sind unterdrückt oder unterbrochen, so daß es wie isoliert dasteht und auch nicht im Verlaufe der Denktätigkeit reproduziert wird. [...] Was so auseinandergehalten wird, ist gerade das, was assoziativ zusammengehört.6
6
Freud, Sigmund: „Hemmung, Symptom und Angst“, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIV. Hg. von Anna Freud. Frankfurt a.M. 1972, S. 150f.
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Ungeachtet der Länge dieses Zitats habe ich noch ein Element ausgelassen, das von besonderem Interesse für unsere Angelegenheit ist. Denn wenn Freud „Abwehrmechanismen“ zu beschreiben scheint, die sich primär auf die Psyche auswirken, so besteht er nichtsdestotrotz in beiden Fällen darauf, dass eine „motorische Aktivität“ involviert ist. So führt er beide „Techniken“ – einen Terminus, den er einem anderen, der später die gleichen Prozesse beschreiben wird, nämlich Mechanismen, gegenüber bevorzugt – als Formen „negativer Magie“ ein, die durch „motorische Symbolik“ operieren. Im ersten Fall das Wiederholen der Akte als eine Art, vorherige Erfahrungen rückgängig zu machen, indem sie durch etwas Ähnliches, jedoch Anderes ersetzt werden. Im zweiten Fall, Isolieren, indem die unangenehmen Erfahrungen von ihren Auswirkungen und Effekten abgetrennt werden. In beiden Fällen findet der „Kampf“, wie Lacan sagt, zwischen zwei verschiedenen Arten von „Techniken“ statt: die eine, Wiederholung, ist sozusagen wesentlich zeitlich; die andere ist wesentlich räumlich, mit dem Ziel, die zeitliche Folge von Ursache und Wirkung zu unterbrechen, indem sie eine „Pause“ einschiebt – gewissermaßen durch das Stoppen des diachronischen Flusses und so das, „was ursprünglich zusammengehört“, unterbricht. Obwohl nun Freud betont, dass diese „Techniken“ wichtige Elemente der Zwangsneurose sind, besteht er auch darauf, dass sie eine nicht weniger bedeutende Rolle in Prozessen spielen, die generell als dem normalen Sozialleben zugehörig angesehen werden. Im Falle des Rückgängigmachens durch Wiederholung erwähnt er „Zauberhandlungen, Volksgebräuche[...] und religiöse[s] Zeremoniell“; im Falle des Isolierens stellt er eine noch überraschendere Verbindung her: Einen Vorwand für dies Verfahren der Neurose gibt der normale Vorgang der Konzentration. Was uns bedeutsam als Eindruck, als Aufgabe erscheint, soll nicht durch die gleichzeitigen Ansprüche anderer Denkverrichtungen oder Tätigkeiten gestört werden. Aber schon im Normalen wird die Konzentration dazu verwendet, nicht nur das Gleichgültige, nicht Dazugehörige, sondern vor allem das unpassende Gegensätzliche fernzuhalten.7
Was die von Freud beschriebenen ‚neurotischen‘ Tendenzen charakterisiert und hier mit einer bestimmten Funktion oder Erfahrung des Ichs identifiziert wird, ist somit die Anstrengung, vom internen Kampf abzulenken oder ihn zu überdecken: vom Kampf zwischen Wiederholen und Isolieren – denn beide hängen von einem Element des anderen ab und schließen es gleichsam ein. Darüber hinaus
7
Ebd., S. 151.
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geht es darum, das, was ein interner Konflikt ist – nicht nur ein „Gegensatz“, sondern eine „Ambivalenz“, welche die irreduzible Koexistenz von kontradiktorischen Trieben voraussetzt – so zu repräsentieren, als wäre es ein Gegensatz von Innen und Außen, vom „stade“ oder Stadion, auf der einen Seite, und der äußeren Welt auf der anderen. Es ist dieser Prozess, der einen internen Konflikt als eine externe Bedrohung behandelt, der die „stage“ nicht nur zu einem Stadion, sondern zu einer Befestigungsanlage macht. In der Tat bringt die Vorstellung des „Spiegel-stadiums“ oder „-stadions“ den Zusammenhang von Wiederholung und Isolierung in den Vordergrund, während sie gleichzeitig die Verbindung mit der, wie man sagen könnte, am weitesten verbreiteten Vorstellung des gesunden Menschenverstandes von ‚Wiederholung‘ herstellt: zu der eines Prozesses, der auf einem ‚Original‘ fundiert, das mit sich selbst identisch ist. Wir werden Gelegenheit haben, auf dieses Schema zurückzukommen, das so alt wie die westliche Philosophie selbst ist und das weiterhin die meisten Ansichten des ‚gesunden Menschenverstandes‘ über das, was ‚Realität‘ genannt wird, dominiert. Bis jetzt scheinen wir nur mehr oder weniger zufällige Fakten der Sprache zu diskutieren, welche Aristoteles als ihre „homonyme“ Struktur bezeichnet hätte, die sich daraus ableitet, dass in jeder Sprache zu wenige Wörter zur Verfügung stehen, um die Vielfalt der Bedeutungen zu bezeichnen. Daraus resultiert, dass vielfältige und diverse Bedeutungen in einem und demselben Wort untergebracht werden müssen, so wie „stage,“ „Bühne“, oder „stade“. Aber was, wenn diese Fakten der Sprache nicht ganz zufällig oder kontingent wären? Schließlich bestimmt die Tatsache, dass mehrere Bedeutungen in einem Wort untergebracht werden müssen, nicht genau, welche Bedeutungen dort untergebracht werden. So sind die bestimmten Paarungen und „Homonyme“ nicht einfach das Resultat einer quantitativen Knappheit der Signifikanten hinsichtlich der Signifikate, sondern sie reflektieren stattdessen einen Auswahlprozess, der, wenn auch nicht absichtlich oder bewusst geplant, trotzdem bestimmte Beschränkungen, Begierden oder Ängste reflektieren kann. Und insofern ist das jeweilige Kräfteverhältnis, das bestimmt, was in einem einzelnen Wort dominant und was peripher ist, nicht per se ewig: es kann gut als ein „Stadium“ [„stage“] sowohl im zeitlichen als auch im räumlichen Sinne angesehen werden. Und angesichts der oft konfliktgeladenen Natur der mitspielenden Kräfte kann die jeweilige Konfiguration und Sammlung von Bedeutungen durchaus mit der agonistischen Funktion des „Stadion“ verglichen werden, wie Lacan insistiert. Es gibt ein griechisches Wort, das auf eine andeutungsreiche und geschichtlich beständige Verbindung zwischen Wörtern, Stadien und Bühnen hinweist, eine Verbindung, die uns hier weiterhelfen kann. Es ist das Wort topos. In der Rhetorik sind Topoi Wörter, Sätze oder Argumente, die durch Wiederholung
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eine weithin anerkannte und deshalb relativ stabile Bedeutung erworben haben. Sie sind „Gemeinplätze“ geworden, gemeinsam geteilte Plätze. In ähnlicher Weise ist die Bühne, ob als Stadion oder als theatralische Szene, auch eine Art Ort, der eine Vielfalt zusammenbringt, ohne sie zu vereinigen, zu totalisieren oder sie zu verewigen. Sie kann in der Art und Weise, wie Aristoteles den Topos definiert, Ort sein, nämlich als „die unmittelbare, unbewegliche Grenze des Umfassenden“8. Für Aristoteles ist es die Idee des Umfassens, welche die Vorstellung des Ortes definiert. Aristoteles kann dadurch den Ort mit einem „Gefäß“ vergleichen, dass er als der „Behälter eines Dinges“ aufgefasst wird. Aber es ist ein Gefäß, das nur umfasst, ohne sich zu bewegen. Als solcher fällt der Ort mit dem, was er umfasst, zusammen: „Zugleich mit und bei dem Ding ist Ort; zugleich mit und bei dem Ding sind die Grenzen.“9 Das Prinzip der Topologie, in diesem aristotelischen Sinne, besteht demnach in der Konvergenz vom Ort mit dem in ihm Verorteten, vom Behälter mit dem Umfassten. Diese verbindend-begrenzende Funktion des Ortes erinnert an den „Abwehrvorgang“, den Freud „Isolieren“ qua „Konzentration“ nennt – mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Umfassen für Freud eine Ausschlussfunktion ist. Doch trotz der Notwendigkeit des Konzentrierens im Denken, hebt Freud hervor, dass Begrenzen unvermeidlich auch Ausschließung bedeutet. Und deshalb vielleicht besteht er darauf, dass der Akt des Isolierens nicht nur als mental, sondern vor allem als „motorisch“ verstanden werden muss. Denn wenn der Einschluss sich notwendigerweise nur mittels und als Ausschluss vollzieht, so wird er nie einfach in sich selbst abgeschlossen oder statisch sein. Auch wird seine Bewegung, als konfliktgeladene, nie linear von einem (statischen) Ort zu einem anderen ablaufen. Eher wird sie sich rhythmisch wiederholend vollziehen, aus separat wiederkehrenden Segmenten bestehend. Da sich der Kreis niemals komplett schließt, braucht diese Bewegung unablässige Erneuerung (und damit auch dauernde Energieverausgabung). Das Etablieren eines stabilen Ortes würde angesichts solcher dynamisch-konfliktgeladenen Tendenzen immer mehr oder weniger prekär sein, von einem Kräfteverhältnis abhängend, das in der Lage ist, das vorherige Gleichgewicht zu verschieben und somit zu stören. Dies würde die Tendenz mancher Arten von Orten erklären, sich zu Befestigungsanlagen zu entwickeln, wie es Lacan formuliert, um damit ihren bisherigen Zustand zu bewahren und Veränderungen zu widerstehen. Die Organisierung von Kräften in einem agonistischen Prozess bildet somit eine Möglichkeit, das damit erstrebte
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Aristoteles: Physik. Vorlesung über Natur. Bd. I. Bücher I-IV. Griechisch-Deutsch, übers. von Hans Günter Zekl. Hamburg 1987, Buch IV, Kapitel 5 (212a).
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Ebd.
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Ideal der Homöostase zu erhalten. (Ich merke im Vorübergehen an, dass das Modewort ‚Exzellenz‘ durchaus in diesem Sinne verstanden werden kann, nämlich als eine Art sublimierte akademisch-politische Version athletischer Agonistik: es rechtfertigt Exklusionen auf der Basis einer Wertvorstellung, die sich als absolut ausgibt, obwohl sie immer nur relativ beurteilt.) Je mehr sich das Organisationsprinzip der Bühne gemäß dieser aristotelischen Auffassung des topos als unbewegter Behälter zu organisieren versucht, desto mehr findet sie sich dazu gedrängt, sich gegen die eigene konstitutive Relativität zu verteidigen. Aus dieser Perspektive wird alles, was mit der Peripherie, mit den ‚Extremen‘, zu tun hat, entweder als sekundär oder als gefährlich oder als beides angesehen. ‚Extremismus‘ ist im politischen Diskurs generell ein Ausdruck, der disqualifiziert – weshalb Walter Benjamin in der Einführung zu seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels seine eigene Methode provokant als ‚philosophischen Extremismus‘ definierte.10 Denn Extreme sind auch die Punkte, an denen die vorgegebenen Grenzen einer Struktur auf ihr Außen zeigen oder deuten und somit ihre Heterogenität kennzeichnen. Wenn eine Bühne von ihren Grenzen oder Extremen her erfahren wird, so stellt dies die dominante aristotelische ‚topologische‘ Vorstellung sowohl von Ort und Stätte als auch von Stattfinden in Frage. Diese Grenzen oder Extreme müssen natürlich nicht mit den tatsächlichen Begrenzungen der Bühne zusammenfallen: sie intervenieren, wo auch immer das ‚eingestellte‘ Objekt seine konstitutive Involvierung in seiner Umgebung aufzeigt. Diese Heterogenität macht sich erneut geltend, wann immer die Bühne sich weigert, sich ganz einfach als ‚vollkommen präsent und abgeschlossen‘ zu präsentieren. Die moderne Form, in der solche Abgeschlossenheit generell erfahren wird, wird durch Lacans Diskussion des Spiegelstadiums charakterisiert. Dessen Funktion ist es, Lacan zufolge, durch die ‚imaginäre‘ und totalisierende Funktion des Spiegelbildes dem Kind die Last seines eigenen physischen Mangels an Koordination insofern abzunehmen, als es sich mit einer wahrgenommenen – d. h. phantasierten – Gestalt identifiziert und damit die eigenen körperlichen Mängel zeitweilig vergisst. Da dieser Vorgang auch heute noch die Art bezeichnet, wie viele Menschen visuelle Wahrnehmung erleben und daher die Vorstellung von Realität weitgehend von dieser Einstellung zur Wahrnehmung abhängt, hat die lacansche Auffassung der imaginären Identifikation in den achtzig Jahren, seit sie zuerst vorgelegt worden ist, nichts an Aktualität verloren. Sie wurde wesentlich durch die Arbeiten des österreichischen Exilautors
10
Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974, S. 203-430, hier u.a. S. 215. (= Benjamin, 1974a)
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Anton Ehrenzweig, der in den 1950er und 60er Jahren eine Kritik der damals herrschenden Gestalttheorien entwickelt hat, weitergeführt. 11 Ausgehend von einer Kritik der binären Kategorien Figur und Grund argumentierte Ehrenzweig, dass diese einer Theorie angehörten, welche lediglich den Blickpunkt des Selbstbewusstseins reflektierte, nicht aber das von Freud entdeckte Unbewusste. Ehrenzweig wies auf die von Freud in seiner Traumdeutung eingeführten Begriffe „Primär-“ und „Sekundärvorgang“ hin. Ehrenzweig zufolge spiegelte die gestalttheoretische Aufteilung der Wahrnehmung in Vorder- und Hintergrund, Objekt und Umgebung den Gesichtspunkt des Selbstbewusstseins wider, ohne den weitgehend unbewussten Primärvorgang zu beachten. Anstatt die Polarität von Figur und Grund als gegeben hinzunehmen, schlug Ehrenzweig vor, die Funktion der Peripherie als konstitutiv anzuerkennen. Doch man kann sich auf die Peripherie nicht wie auf einen Gegenstand einstellen oder konzentrieren, denn die Peripherie steht nicht still: als Grenze deutet sie immer in zwei Richtungen, hin und her. Ein durch die Peripherie konstituierter Raum ist immer ein Zwischenraum: zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Wehrhaften und dem Verletzbaren. Man kann sich also nicht eindeutig darauf einstellen; der Blick wird von einem Ort zum anderen verschoben, ohne dadurch eine „Transparenz“ zu erzeugen.12 Gegen solche Forderungen von visueller und semantischer Transparenz bestand Walter Benjamin in seinen in den 1920er Jahren geschriebenen Essays auf der Irreduzibilität des ‚Geheimnisses‘ und des ‚Schleiers‘ in Bezug auf Sprache und Kunst.13 Im folgenden Jahrzehnt führte Benjamin diese Kritik der Transparenz in seinen Essays zu Brecht und seinem berühmten Text über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ weiter aus. Benjamin bestand darauf, dass formative Prozesse, die im Setzen von Grenzen und Be-
11 Siehe Ehrenzweig, Anton: The Psycho-Analysis of Artistic Vision and Hearing. An Introduction to a Theory of Unconscious Perception. London 1953. 12 Vgl. ebd., S. 204ff. Es gibt eine grundlegende Asymmetrie zwischen den Medien von Sicht und Hören, zwischen dem Visuellen und dem Akustischen: die Grenzen des letzteren, des ‚akustischen Feldes‘ sind sehr unterschiedlich zu denen des visuellen Feldes, eine Frage, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann. 13 In seinem Essay über „Goethes Wahlverwandtschaften“ (1924) verband er die Irreduzibilität des Schleiers mit der Struktur des Schönen qua Schein: „in einer Aura durchsichtiger Klarheit vermag sie [die Schönheit] nicht zu erscheinen“ In: Benjamin, Walter: „Goethes Wahlverwandtschaften“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I,1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974, S. 192. (= Benjamin, 1974b)
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grenzungen bestehen, nicht nur im Sinne von Inklusion, sondern auch und gleichermaßen im Sinne von Exklusion verstanden werden sollen. So schließt Benjamins oft zitierter Begriff der „Montage“ nicht nur eine Assemblage von separaten Elementen ein, sondern auch deren mehr oder wenige gewalttätige Trennung – zum Beispiel durch den filmischen „Schnitt“, ein Wort, das Benjamin nicht benutzt, das aber einen gewalttätigen und konfliktgeladenen Prozess anzeigt, ebenso wie das Englische „shooting“, das das Drehen einer Szene bezeichnet. Wenn Benjamin derart die Trennung zum Hauptprinzip filmischer Konstruktion erhebt, dann erweitern seine Schriften über Brechts episches Theater diesen Begriff, indem sie auf der Bedeutung des Unterbrechens bestehen: Man darf hier weiter ausgreifen und sich darauf besinnen, daß das Unterbrechen eines der fundamentalen Verfahren aller Formgebung ist. Es reicht über den Bezirk der Kunst weit hinaus. Es liegt, um nur eines herauszugreifen, dem Zitat zugrunde. Einen Text zitieren, schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen.14
Benjamins Assoziation von Unterbrechung und Zitat etabliert sozusagen eine interne, strukturelle Verbindung zwischen den zwei von Freud diskutierten „Abwehrtechniken“: Wiederholung und Isolation. Isolation identifiziert, indem sie die assoziativen Auswirkungen dessen, was sie isoliert, unterbricht. Jedoch klärt Freud nicht, warum genau dieser Prozess der Isolation auch Wiederholung involvieren sollte, so wie in der Zwangsneurose, aber auch in der normalen Aktivität der „Konzentration“. Genau diese Verbindung spiegelt sich im Titel eines von Brechts Theaterstücken, die Benjamin in seinem Essay diskutiert, wider, nämlich in seinem Titel Mann ist Mann, ebenso wie im Namen der Hauptfigur „Galy Gay“. Hier findet sich, in einer oft zitierten Passage, Benjamins Beschreibung der Fusion von Wiederholung und Isolation im episch-theatralischen Prozess des „Gesten zitierbar Machens“: Die Dialektik, auf die das epische Theater es abgesehen hat, ist aber nicht auf eine szenische Abfolge in der Zeit angewiesen, sie bekundet sich vielmehr bereits in den gestischen Elementen, die jeder zeitlichen Abfolge zugrunde liegen, und die man Elemente nur uneigentlich nennen kann, weil sie nicht einfacher sind als diese Abfolge. Immanent dialektisches Verhalten ist es, was im Zustand – als Abdruck menschlicher Gebärden, Handlungen und Worte – blitzartig klargestellt wird. Der Zustand, den
14 Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (2)“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1977, S. 532-539, hier S. 536. (= Benjamin, 1977a)
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das epische Theater aufdeckt, ist die Dialektik im Stillstand. Denn wie bei Hegel der Zeitverlauf nicht etwa die Mutter der Dialektik ist, sondern nur das Medium, in dem sie sich darstellt, so ist im epischen Theater nicht der widersprüchliche Verlauf der Äußerungen oder der Verhaltungsweisen die Mutter der Dialektik, sondern die Geste selbst.15
Ich unterbreche diese Passage hier für einen Moment, um zu unterstreichen, was ich für wahrhaft charakteristisch an Benjamins Konzeption dessen, was er hier „die Geste selbst“ nennt, halte. „Die gestischen Elemente“, so schreibt Benjamin, sind „nicht einfacher [...] als diese Abfolge“, die sie erst nachträglich zu bilden scheinen. Tatsächlich sind sie selbst schon eine Abfolge, wirklich oder virtuell oder beides. Er interpretiert sie nicht als einen in sich selbst abgeschlossenen, unteilbaren Akt, sondern vielmehr als eine zusammengesetzte Abfolge von Bewegungen. Man könnte erwarten, dass eine Abfolge aus separaten, in sich selbst abgeschlossenen Elementen, hier „Gesten“, bestünde. Aber was Benjamin an der Geste hervorhebt, ist ihre bewegliche, zusammengesetzte Natur: sie ist schon ein aus diversen, sich wiederholenden und transformierenden Bewegungen bestehendes komplexes Zusammengesetztes. Das Wort „Abfolge“, das Benjamin hier gebraucht, ist schon durch sein Präfix geprägt: das ab- deutet nicht nur eine Serie von mit sich selbst identischen Elementen an, nicht nur ein ‚Aufeinander-folgen‘, sondern ein Ab-fallen von – die Trennung jedes „Elements“ von sich selbst. Deshalb weigert sich Benjamin schließlich, die gestische Abfolge überhaupt „Element“ zu nennen. Gerade diese Bewegung des Ab-fallens und des Aufeinander-folgens bringt etwas zum Stehen als Zustand; sie stellt einen Stand her, der aber wiederum als genauso zusammengesetzt und unstabil enthüllt wird, wie die ihn konstituierenden Gesten. Deshalb bezeichnet Benjamins berühmte Formel „Dialektik im Stillstand“ eine widersprüchliche Bewegung, die sich innerhalb eines scheinbaren Stillstandes abspielt. Die dialektische Bewegung von Auflösung und Transformation wird nicht einfach aufgehalten, zum Stillstand gebracht: vielmehr geht sie weiter, wenngleich durch eine anscheinend stabile Situation verhüllt. Es ist diese unsichtbare, virtuelle Bewegung, welche sich innerhalb einer scheinbar statischen Pose vollzieht, die durch die theatralische Praxis der zitierbaren Gesten in den Vordergrund gerückt werden soll. In diesem Sinne ist Benjamins Dialektik im Stillstand mehr kierkegaardisch als hegelianisch. Denn anstatt durch „be-
15 Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1)“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 519-531, hier S. 530. (= Benjamin, 1977b)
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stimmte Negation“ „vermittelt“ zu werden, wie bei der hegelschen Dialektik, entfaltet sich Benjamins „Dialektik“ in und durch Praktiken der Wiederholung. In solchen Praktiken – von denen zitierbare Gesten eine Art darstellen – wird die Untrennbarkeit von Identität und Alterität (die nicht mit Nicht-Identität gleichzusetzen ist) enthüllt. So liest Benjamin – zitiert und transformiert – Brechts Begriff der „zitierbaren Gesten“16. Während Brecht jedoch dazu neigt, die transformative Kraft mit dem Spiel der Schauspieler zu identifizieren, tendiert Benjamin dazu, Zitierbarkeit der Geste als Charakteristikum der Bühne anzusehen und den Schauspieler eher als ihren Agenten. Bilder werden den zitierbaren Gesten ähnlich, wenn, wie mit Caspar Nehers Projektionen, ihre Ränder „zittern“, und damit auf etwas Anderes hindeuten. Benjamins Sprachgebrauch demonstriert, wie das Zitieren von Gesten funktioniert. Indem Wörter, wie Gesten, von ihrem vorherigen, vertrauten Kontext abgetrennt werden und in eine andere Situation versetzt werden, wird ihre Bedeutung verändert, während sie selbst gleich zu bleiben scheinen. Durch Wiederholung bleiben Wörter, wie Gesten, wiedererkennbar, während sie gleichzeitig eine andere Bedeutung erwerben. Als Zitat verändert und transformiert die Geste und zeigt dadurch auf eine mögliche Transformierbarkeit der Situation, die selbst immer relational, nie ganz in sich selbst eingeschlossen ist. Sie ist ein Zu-stand, auf ein Anderswo hin stehend. Wenn diese Transformation jedoch nie ganz vorhergesagt, geplant oder vorherbestimmt werden kann, so wie es in einer eigentlich begriffenen hegelschen Dialektik sein muss, dann liegt dies daran, dass sie sich nicht auf der Ebene konzeptueller Allgemeinheit abspielt, sondern auf situationelle Singularität hinweist. Weil diese Singularität aber immer nur durch ihren Widerstand gegen das, was war, definiert ist, durch ihr Unvermögen, unter bekannte Verallgemeinerungen subsumiert zu werden, ist sie weder komplett offen oder unbestimmt, noch einfach mit sich selbst identisch oder in sich selbst geschlossen. Ich habe schon argumentiert, dass die besondere Art von Bewegung dieser gestischen Dialektik durch Benjamins Verwendung des Wortes Abfolge gekennzeichnet ist, d. h. als ein Abfallen im Unterschied zu einer Akkumulation. Aber es gibt ein anderes Wort, das auf ähnliche Weise die gleiche Vorsilbe benutzt, und so diesen Aspekt seiner im Stillstand arbeitenden Dialektik verstärkt und erweitert: es ist das Wort Abdruck. Wesentlich ist die Bewegung des Trennens oder Wegfallens: es ist dies, was Spuren, „Abdrücke“ hinterlässt. Benjamin bietet ein graphisches Bild dieses Prozesses, wenn er die Aufgabe des Schauspielers
16 Brecht, Bertolt: „Geschichten vom Herrn Keuner“, in: ders.: Versuche. Bd. I. Berlin 1930, S. 6. Siehe auch: Knopf, Jan (Hg.): Brecht Handbuch, Bd. 3, Prosa, Filme, Drehbücher. Stuttgart, 2002, S. 132.
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im epischen Theater so beschreibt: „seine Gebärden muß er sperren können wie ein Setzer die Worte“.17 Benjamin bezieht sich hier auf das, was im Deutschen Sperrdruck genannt wird, das ältere Äquivalent des Kursivdrucks, wo die Buchstaben eines Wortes oder Satzes weiter als normal auseinandergesetzt werden, um sie zu betonen. Aber diese Betonung ist eine Funktion ihres Ausgebreitetseins, der Räume zwischen den Buchstaben, anstatt der eigentlichen Buchstaben selbst. Ein verwandtes Phänomen ist Benjamins Forderung, „der Schauspieler soll[e] sich die Möglichkeit vorbehalten, mit Kunst aus der Rolle zu fallen“.18 Dies ist nicht einfach ein Sündenfall, sondern ein Fall, der die Endlichkeit und Relativität jeglicher etablierten, vertrauten Rolle (inklusive der des schuldigen Sünders) offenlegt. Dass Benjamin die Trennungsbewegung betont, unterscheidet seine gestische „Dialektik“ von der Bewegung der Erhebung, welche die hegelsche Begriffsdialektik charakterisiert, deren Schlüsselwort „Auf-hebung“ ist, damit auch das vertikale Hochheben. Zitierbarkeit bringt im Gegensatz dazu eine horizontalere Bewegung des Wegfallens mit sich: insofern sie zitierbar ist, bringt jede Exemplifizierung einer Geste die Möglichkeit einer weiteren Zitierung mit sich, was auf zukünftige Transformationen deutet. Es ist die Zitierbarkeit der Geste, die auf der Bühne die Tatsache verwirklicht, dass Situationen – Zustände – in sich transformierbar sind. Es ist genau diese immanente Veränderbarkeit der theatralischen Geste als zitierbar, die sie in einen Kontrast zu einem anderen Schlüsselwort der politischen und ästhetischen Situation setzt, die Benjamin, wie Brecht, zu verändern sucht. Diese Situation, die eigentlich aus einem Kräfteverhältnis besteht, wird durch ein Wort bezeichnet, das Benjamin am Ende seines Essays über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ mit faschistischer Ästhetik assoziiert. Aber es ist auch ein Wort, das heute weiterhin Resonanz findet, im Zeitalter des zügellosen Neoliberalismus (welcher, unglücklicherweise, zum Faschismus nicht so antagonistisch steht, wie manche hätten annehmen können). Es ist das Wort „Ausdruck“. Ausdruck zum höchsten Wert zu erheben, bedeutet mehr oder weniger offen die Priorität des Innerlichen über das Äußerliche, des Selbst über das Andere, des Gleichen über das Unterschiedliche zu bestätigen – aber vor allem vielleicht die Gegenwart über die Vergangenheit und die Zukunft zu setzen. Denn die Ermahnung ‚sich auszudrücken‘ – selbst wenn sie an Individuen anstatt an ein Kollektiv adressiert ist – läuft letztlich immer auf eine Rechtfertigung und Bestätigung schon bestehender Machtbezie-
17 Benjamin, 1977b, S. 529. 18 Benjamin, 1977a, S. 538.
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hungen hinaus, welche die Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche aufrechterhält. Dies ist der Grund, warum, wie schon erwähnt, Benjamin seine Überlegungen zum „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ abschließt, indem er die faschistische Ästhetik als eine Ästhetik des Ausdrucks bezeichnet. Indem sie das „Recht“ der Massen sich auszudrücken proklamiert und inszeniert, lenkt sie von einer möglichen Veränderung der Eigentumsverhältnisse ab. Das Recht auf Ausdruck ist der Köder, mit dem der Faschismus die Vorstellung einer homogenen nationalen Identität durchzusetzen und damit seine „Massen“ an die bestehende Ordnung zu schmieden versucht. Selbstverständlich sind die Ästhetik und die mit ihr verbundene Ethik des Sich-Ausdrückens heute – im Zeitalter des Selfies – quicklebendig, obgleich unter Bedingungen, die sich von denen im Europa der 1930er Jahre unterscheiden. Nichtsdestotrotz deutet dieses Überleben an, dass es ein grundlegendes Kontinuum mit jener Periode gibt. Damals wie heute erhält der Kapitalismus den höchsten Wert des Privateigentums durch das aufrecht, was ein Kult des unteilbaren Selbst genannt werden kann, der zugleich als Bedingung und als Zweck einer Ästhetik und Ethik des SichAusdrückens fortbesteht19 – die säkulare Version des monotheologischen Mythos eines einzigen, höchsten und ausschließlichen Schöpfergottes als Ursprung der Welt. Es ist genau dieser archäo-teleologische Mythos, der auf der Voraussetzung eines originalen, homogenen und hervorbringenden Selbst beruht, den Benjamins Dialektik der zitierbaren Gesten zu unterbrechen bestrebt ist. Eine solche Unterbrechung ist mit der Vorstellung einer „Situation“ als „Zustand“ verbunden, nämlich mit einer Konfiguration, die, obgleich sie stillsteht, trotzdem woanders hintreibt. Der aristotelische topos, verstanden als der unbewegte Behälter von Körpern, die selbst als bewegliche Behälter von Seelen aufgefasst werden, wird in der faschistisch-biologistischen Vorstellung des Lebensraums aktuali-
19 Der Faschismus „sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen [...]. Die Massen haben ein R e c h t auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen A u s d r u c k in deren Konservierung zu geben.“ In: Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I,2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974, S. 431469, hier S. 467. (= Benjamin, 1974c)
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siert: eines Raumes, der notwendig ist, um die Vermehrung und das Überleben der rassisch gesäuberten Nation und des Volkes zu umfassen und zu fördern.20 Benjamins Darlegung der zitierbaren Geste impliziert eine andere Vorstellung des Ortes und seiner Beziehung zu Raum und Zeit. Wenn diese Beziehung traditionell als eine Beziehung umfassender Kontinuität verstanden worden war, so relativiert die zitierbare Geste die traditionelle, aristotelische Theaterkategorie der Handlung (mythos). „Gesten erhalten wir umso mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.“21 Die Bühne wird nicht mehr als die Stätte eines Handelns bestimmt, das sich durch die Kontinuität des Plots entfaltet. Stattdessen werden ein anderer Raum und eine andere Bewegung aufgeführt, welche Benjamin in seiner Beschreibung der projizierten Bilder Nehers exemplarisch veranschaulicht: Von daher wirken [inszenierte Dinge] wie es die Ideen des Platon tun, indem sie den Dingen Modelle stellen. So wären die Neherschen Projektionen materialistische Ideen, Ideen von echten ‚Zuständen‘, und so nahe sie dem Vorgang gerückt sind, das Zittern ihrer Umrisse verrät immer noch, aus welcher sehr viel innigeren Nähe sie sich losgerissen haben, um sichtbar zu werden.22
Wenn es hier den Anschein haben könnte, dass Benjamin in eine Art Neoplatonismus zurückfällt – wir erinnern an seine Verwendung der Vorstellung der „Idee“ im Vorwort seines Ursprung des deutschen Trauerspiels –, so zeigt seine Beschreibung von Nehers Projektionen als „materialistische Ideen“ an, dass sein Platonismus alles andere als orthodox ist. Welche elegische Nostalgie auch immer sich in seinem Beschreiben des peripheren „Zitterns“ dieser „Ideen“ finden mag, die Betonung liegt auf der Art, in der sie sich von ihrer vorherigen Situation „losgerissen haben, um sichtbar zu werden“. Das Sichtbarwerden solcher ‚Ideen‘ als zitternde Bilder oder Projektionen verdichtet die problematische Beziehung der Bühne als Konfiguration von zitierbaren Gesten zur Vergangenheit und zur Zukunft, mit denen sie verbunden bleibt, selbst dann, wenn sie sich ausreichend ‚isoliert‘ hat, um in einer einzigen Sitzung oder aus einer einzigen Perspektive aufgenommen werden zu können.
20 Die Frage, inwieweit die Begriffe des ‚Volkes‘ und der ‚Nation‘ auch heterogen gedacht werden können, wird heute besonders akut – kann aber hier leider nicht weiterverfolgt werden. Einen wichtigen Ausgangspunkt dieser Diskussion bieten die Schriften von Ernesto Laclau. 21 Benjamin, 1977a, S. 536. 22 Benjamin, 1977b, S. 525. [Hervorhebung S.W.]
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Die Zitierbarkeit der Geste führt Abstände in das Innere selbst der Geste ein und kehrt so gleichsam dieses Innere nach außen. Was daraus entsteht, ist eine Bühne, welche die Beziehung des Ortes zum Raum, von Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft auf radikal andere Art als die aristotelische Typologie gestaltet – das heißt, auf eine Art, die nicht länger auf einer originalen, aus sich selbst heraus schaffenden Identität basiert, nicht mehr auf in sich selbst abgeschlossenen Entitäten, die den Raum zum Ort verwandeln, indem sie die Bühne als einen Platz des Selbst-Ausdrucks behandeln. Eines der Merkmale, die Benjamin in seiner Diskussion der zitierbaren Geste hervorhebt, hat genau mit ihrer charakteristischen Beziehung zum Ort, mit der Art und Weise, in der sie ‚stattfindet‘, zu tun. [I]m Gegensatz zu den Aktionen und Unternehmungen der Leute [hat die Geste] einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende. Diese strenge rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung [...] ist sogar eines der dialektischen Grundphänomene der Geste.23
Demnach sind Gesten endlich oder vielmehr haben sie notwendigerweise die Möglichkeit an einem Ort fixiert zu werden. Aber gleichzeitig wird „[d]iese strenge rahmenhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung“ – einer Haltung, wörtlich: eines Haltens – auch als „dialektisch“ bezeichnet. Das bedeutet, dass sie nie schlicht auf ihre sichtbare, sinnliche Manifestation beschränkt ist. Als zitierbar trägt sie sowohl die Referenz auf die Vergangenheit, welche sie transformiert, als auch auf eine mögliche Zukunft, welche sie antizipiert, aber nicht völlig bestimmen kann, mit sich. Als zitierbar ist die Geste notwendigerweise wiederholbar: das Resultat einer Kapazität wiederholt zu werden, die eine einzelne Verwirklichung niemals erschöpfen oder begrenzen kann. Schon in seiner Diskussion von Brechts Mann ist Mann hat Benjamin die verschiebenden Effekte der Iterabilität der Geste als einen Prozess der differentiellen Wiederholung beschrieben, welche die Identität öffnet, die sie wiederherzustellen und abzuschließen scheint: Ein und dieselbe [Geste] bittet den Galy Gay einmal zum Zweck des Umgekleidetwerdens, ein andermal zum Zwecke der Erschießung an die Mauer. Ein und dieselbe läßt ihn auf den Fisch verzichten und den Elefanten in Kauf nehmen.24
23 Ebd., S. 521. 24 Ebd., S. 530.
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„Ein und dieselbe“ lautet der Ausdruck, den Benjamin wiederholt, um zu demonstrieren, wie die zitierende Wiederholung die Idee selbst eines originalen, mit sich selbstidentischen „Eins“ verschiebt. Aber zugleich verschiebt er die Idee eines einzigen, selbstidentischen Ortes. Brechts Beziehung zum topologischen Mythos wird auch im folgenden Kommentar Benjamins zu Herrn Keuner angedeutet: „Odysseus [sinnt] auf nichts andres als Heimkehr [...], und dieser Keuner kommt gar nicht von seiner Schwelle“.25 Benjamins deutsche Formulierung lässt den sprichwörtlichen Ausdruck ‚Ort und Stelle‘ anklingen, ein Ausdruck, der vorgibt, die gegenwärtige Position von jemandem oder etwas zu bezeichnen. Herr Keuner, der als Erster die Vorstellung ausspricht, Gesten zitierbar zu machen, ist an der günstigsten Stelle verortet, die Bühne als eine Art Peripherie oder Schwelle zu enthüllen. Deshalb ist, was auf und als diese Bühne stattfindet, immer am Rande, an der Peripherie, kurz davor, etwas Anderes zu werden, auf ein Anderswo zu deuten, das vielleicht nicht einfach zu sichten ist. In Benjamins Ausführung der angehaltenen Dialektik, die im epischen Theater am Werk ist, ist es also nicht mehr Zeitlichkeit, die das „Medium der Dialektik“ ist, sondern die Geste, welche nun als deren „Mutter“ beschrieben wird. Wann ist eine „Mutter“ kein „Medium“? Und warum sollte diese Beziehung für die Frage der ‚Bühne‘ interessant sein? Um darauf zu antworten, werde ich nun auf einen anderen Text eingehen, der die Beziehung betrifft, mit der Benjamin sich befasst: jener der Ideen zur Materialität. Ich beziehe mich auf Platons Dialog Timaios, einen Text, der in den letzten Jahrzehnten durch Studien von Julia Kristeva, Jacques Derrida, Serge Margel und anderen in den Vordergrund gerückt worden ist. Ohne diese verschiedenen Deutungen diskutieren zu können, werde ich mich auf die Lektüre einiger weniger Stellen des Textes beschränken, in denen ein Terminus, der in letzter Zeit die Aufmerksamkeit gebündelt hat – chora – durch Platon ausgeführt wird. Obwohl nicht explizit auf die Bühne bezogen, kann uns dieser schwer fassbare Terminus helfen, einige Aspekte zu artikulieren, die Benjamin und andere anzudeuten versucht haben. Ich werde zunächst kurz den Kontext in Erinnerung rufen, in dem die Vorstellung der chora im Timaios erscheint. Wie der Titel andeutet, ist der Text größtenteils einer langen Abhandlung gewidmet, die Timaios, einer von vier anwesenden Gesprächspartnern (die anderen sind Sokrates, Kritias und Hermokrates), im Rahmen einer laufenden Diskussion gibt, die sich mit dem, was die ‚Naturgeschichte des Menschen‘ genannt wird, in einen sozialen und politischen Kontext setzt. Die Passagen, die wir diskutieren werden, versuchen eine begriff-
25 Ebd., S. 523.
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liche Verbindung zu liefern, die erklärt, wie der intelligible Bereich der Ideen sich auf den empirischen Bereich der Phänomene und der Sinneserfahrung bezieht. Beim Versuch, diese Verbindung zu denken – als ‚dritte‘ Dimension, die zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen vermittelt – führt Timaios den Terminus chora als ein Mittelstück ein, um sozusagen die Lücke zu überbrücken und damit zu erklären, wie Ideen als Phänomene sich zeigen können. Das Wort wird von Anfang an als extrem rätselhaft gekennzeichnet. Merken wir an, dass es im Englischen als space wiedergegeben wird. Hier eine der Schlüsselpassagen, welche trotz ihrer Länge den Vorteil hat, einen Großteil des vorherigen Arguments zusammenzufassen: Angesichts dieses Tatbestandes soll man darin einig sein: Eines ist die immer sich gleich verhaltende Form, ungeworden und unvergänglich, weder in sich selbst ein anderes von wo anders her aufnehmend noch selbst irgendwohin in ein anderes fortgehend, unsichtbar und auch sonst nicht wahrnehmbar – das, was denn Denken zur Betrachtung erhalten hat; das dem Gleichnamige und Ähnliche ist das Zweite, wahrnehmbar, dem Werden unterworfen, immer hin und her bewegt, ins Werden tretend an einer bestimmten Stelle [τόπῳ] und wieder daraus im Untergang verschwindend, durch Mutmaßung in Verbindung mit Sinneswahrnehmung erfaßbar; die dritte Gattung wieder ist die des je Raumgebenden [χωρας], die Untergang nicht an sich läßt, stattdessen einen Wohnsitz gewährt allem, was da Entstehung hat, selbst ausgestattet mit Nichtwahrnehmbarkeit durch Sinne, zugänglich nur einer Art Bastard-Schluß, kaum glaubhaft, auf das hinschauend wir denn ins Träumen geraten [...] All das und andere diesem verschwistere Annahmen wenden wir unter dem Eindruck dieses Daherträumens auch auf die gar nicht traumhafte und wirklich vorhandene Natur an und sind nicht in der Lage, aufzuwachen und klar zu unterscheiden und so die Wahrheit zu sprechen, die besagt: Da bei einem Bild auch das, nach dem es gebildet ist, nicht aus ihm selbst kommt, sondern es immer die Erscheinung eines von ihm Verschiedenen trägt, deshalb kommt ihm zu, in einem davon Verschiedenen zu entstehen, wobei es sich, wer weiß wie, ans Sein hält – oder es ist ganz und gar nichts; dagegen dem wahrhaft Seienden steht bei ein Satz, der seine Wahrheit aus sorgfältiger Genauigkeit nimmt: Solange etwas einerseits dies sein soll, andererseits doch auch etwas anderes, und solange keins davon je innerhalb des anderen auftritt, müßte ein und dasselbe zugleich auch zwei werden.26
26 Platon: Timaios. Griechisch-Deutsch, übers. von Hans Günter Zekl. Hamburg 1992, (51e-52d).
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Lassen Sie mich damit anfangen diese lange Passage zu kommentieren, indem ich die Divergenz der Übersetzungen anmerke, die für das Wort chora gegeben werden; es wird vom häufiger vorkommenden topos unterschieden, welches im zitierten Text benutzt wird, um die Stelle der Dinge zu bezeichnen, die der Sinneserfahrung zugänglich sind. In einer jüngeren französischen Übersetzung werden die beiden Worte durch das Adjektiv „bestimmt“ unterschieden: topos wird als „bestimmter Ort“ übersetzt, und chora einfach als „Ort“.27 Aber da ein Ort an sich schon bestimmt oder begrenzt ist, hat ein englischer Übersetzer Grund, das Wort space – „Raum“ – zu verwenden, welches zunächst keinen umgrenzten Bereich suggeriert. Andere Übersetzungen sind Position, Land, Region. Keine von diesen kommt jedoch der schwer fassbaren und rätselhaften Bedeutung nahe, nach der Timaios mit diesem Wort sucht. Es gibt jedoch eine Übersetzung ins Deutsche, die uns auf diesem Weg mehrere Schritte weiterbringt: das Wort ‚Raum‘, welches sowohl die Vorstellungen von space (im Sinne der Ausdehnung) als auch place (im Sinne der Begrenztheit) einschließt. Das Wort kann sowohl einen unbegrenzten als auch einen begrenzten Bereich beschreiben (wir haben schon ein Beispiel erwähnt: ‚Lebensraum‘, aber es gibt viele andere, weniger belastete, zum Beispiel ‚Wohnraum‘ oder ‚Hohlraum‘). Die Konvergenz der Bedeutungen von space und place im Wort Raum – oder auf anderer Art im englischen Wort room – bringt uns zu der Frage zurück, mit der wir unsere Diskussion begannen, nämlich der nach dem Vorgang der Grenzziehung. Von der onto-theologischen Perspektive aus, die den Timaios teilweise und die zitierte Passage im Besonderen prägt, wird die anfängliche Beschreibung der abgeschlossenen Wesen, die Frage der Abgrenzung, von der Identität der Idee mit sich selbst und ihrer Abgeschlossenheit abhängig gemacht, nämlich als „die immer sich gleich verhaltende Form, ungeworden und unvergänglich, weder in sich selbst ein anderes von woandersher aufnehmend, noch selbst irgendwohin in ein anderes fortgehend“. Geformt ohne jegliche Hilfe von außen, muss diese Form als sich selbst formierend oder sich selbst modellierend verstanden werden. Und, wie letzterer Terminus andeutet, als ‚self-fashioning‘ ist diese Vorstellung kaum aus der Mode gekommen, seit sie zuerst von den Eleaten ein- und dann von Platon ausgeführt wurde. Aber wie Timaios unmittelbar anerkennt, ist diese sich selbst produzierende und in sich selbst abgeschlossene Form auch „unsichtbar“ und unzugänglich, außer für eine Intelligenz, welche die Beschränkungen der sinnlich-empirischen Welt körperlicher Existenz transzendiert, obwohl sie sich gleichzeitig in ihr be-
27 Vgl. Platon: Timée, Griechisch-Französisch, übers. von Albert Rivaud, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. X. Paris 2011, S. 171.
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findet. So wird es notwendig, die unwandelbare, auf sich selbst abgeschlossene Idee in Beziehung zum zweiten von Timaios erwähnten Wesen zu setzen, zu einem Wesen, welches denselben Namen hat – das schon in Bezug auf Aristoteles erwähnte Problem der Homonymie, dessen aber auch Platon sich schon sehr bewusst war – welches wie das erste Wesen, aber zugleich völlig verschieden ist, da es „wahrnehmbar [ist], dem Werden unterworfen (oder ‚geboren‘: γεννητον), immer in Bewegung, zum Ort werdend und wieder vom Ort verschwindend ()“. Dieser vollbestimmte Seinsmodus wird durch seine Beziehung zu einem einzelnen Ort qua topos definiert, und kann daher topisch genannt werden. Damit unterscheidet er sich vom ersten und authentischen Wesen, welches unabhängig von Ort existiert. Doch das Problem, das Timaios hier zu lösen versucht, ist, wie das erste Wesen qua unsichtbarer, intelligibler, mit sich selbst identischer Identität sich jemals auf ein zweites Wesen beziehen kann, sichtbar, sinnlich und topisch?28 Es ist dieses Problem, das von Timaios, der seine eigene Unsicherheit zugibt, die Einführung eines „dritten“ Seinsmodus verlangt, welcher weder eine in sich selbst abgeschlossene Form oder Idee, noch eine zeitliche, kreierte und situierte Entität ist: nämlich chora, welche beschrieben wird als etwas, das „Untergang nicht an sich läßt, stattdessen einen Wohnsitz gewährt allem, was da Entstehung hat, [...] zugänglich nur einer Art Bastard-Schluß, kaum glaubhaft“. Um dieses dritte „kaum glaubhafte“ „Wesen“, welches wie in einem „Traum“ gefasst wird, zu definieren, benutzt Timaios zwei weitere Termini. Erstens kann chora als eine Art „Gefäß“ beschrieben werden und zweitens als eine „Mutter“, als eine „Amme“: es empfängt die Formen und erzeugt sie als bestimmte und endliche, körperlich-sinnliche Wesen. Und doch, sobald er diese zwei Vergleiche vorgeschlagen hat, macht Timaios schnell eine Art Rückzieher, indem er beschreibt, wie sehr sie von den beiden Figuren abweichen: So scheint denn auch ein Vergleich angemessen: Das Aufnehmende mit einer Mutter, das „nach dem...“ mit einem Vater, das Naturding in ihrer Mitte mit einem Sprößling; und man muß bedenken: Wenn dies, worin das Eingeprägte auftritt, ein Abdruckstoff
28 Ich erwähne im Vorübergehen eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit zwischen diesem Problem und der Herausforderung, auf die Immanuel Kant mit seiner Beschreibung des Schematismuskapitels in der Kritik der reinen Vernunft reagiert, und nicht weniger bei seiner Bestimmung des ästhetischen Geschmacksurteils in der Kritik der Urteilskraft: in beiden Fällen versucht er zu schildern, wie das Universale und Intelligible mit der Welt phänomenaler Erfahrung kommunizieren kann.
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sein soll, der mit allen Vielfältigkeiten reichlich ausgestattet vor das Auge tritt, dann kann es wohl anders nicht gut dazu ausgerüstet sein, außer wenn es formlos ist hinsichtlich aller der Gestalten, die es von überallher aufnehmen soll [...] Daher muß es fernab aller Gestaltung sein, dies, was da alle Arten in sich aufnehmen soll [...] Daher wollten wir die Mutter und Aufnehmerin alles sichtbar und überhaupt wahrnehmbar Gewordenen [...] eine Art unsichtbare[...] Form, ungestaltet, alleserfassend, teilhaftig auf seltsamste Weise am Denkbaren, selbst äußerst schwer greifbar nennen. 29
Wenn chora so beschrieben „unsichtbar... formlos“ und letztlich „unverständlich“ ist, so deshalb, weil ihre Eigenschaften nicht zu so etwas wie einem kohärenten Wissens- oder Wahrnehmungsobjekt vereint werden können. Als „Behälter“ „empfängt“ sie, aber sie erzeugt auch, wie eine Mutter. Sie „nährt“ wie eine Amme, aber ist auch selbst betroffen und in der Tat bewegt durch das, was sie empfängt, erzeugt und ernährt. Das Resultat kann mit den flackernden Rändern von Nehers zitternde Bilder verglichen werden: Was dabei die Wärterin des Werdens angeht, so wird sie gefeuchtet und gezündet, nimmt auch die Formen von Erde und Luft an [diese sind die grundlegenden Elemente aus denen all Sinnesobjekte bestehen – S.W.] und, was alles diesem für sonstige Ereignisse folgen, läßt sie über sich ergehen und erscheint so vielfältig anzusehen; doch weil es weder einander ähnliche noch gleich starke Kräfte sind, die sie erfüllen, so ist sie an keiner ihrer Stellen im Gleichgewicht, sondern allseits ungleich ausgewogen, wird sie einerseits von denen durchgeschüttelt, andererseits, in Bewegung geraten, schüttelt auch sie wieder diese durch. Die fliegen in ihrer Bewegung jedes in je andere Richtung und scheiden sich dabei.30
Kurzum, der Effekt und Affekt der chora ist sowohl zu erzeugen, zu organisieren als auch gleichzeitig durchzuschütteln, durcheinanderzubringen und wiederum von den Elementen, die es „empfängt“, aufgeschüttelt zu werden. Dieses ‚Durchschütteln‘ zeigt an, dass das, was so ‚empfangen‘ und dann langsam in vorläufig stabile Wesen und Objekte transformiert wird, anfänglich ‚Mächte‘ und „Kräfte“ sind, und nicht Elemente und Entitäten. Und zwar, weil die ‚Mächte‘, die so empfangen werden, „weder einander ähnliche noch gleich starke Kräfte“ sind. Sie sind Kräfte in Konflikt miteinander und mit sich selbst. Es ist dieser Konflikt, auf den Timaios’ Beschreibung der vier Grundelemente – Erde, Luft, Feuer und Wasser – hinweist, da jedes in der Lage ist, sich in die anderen zu
29 Platon, 1992, 50d-51b. 30 Ebd., 52d-e.
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verwandeln: ihre ‚elementare‘ Qualität bringt nicht Stabilität mit sich, sondern vielmehr Übergang und Transformation. Es ist nun an der Zeit, nach dem Modell von Laurence Sternes Tristram Shandy, zu einem Schluss zu kommen, der nicht ganz abgeschlossen, sondern eine ‚curious conclusion‘ ist: seltsam und neugierig zugleich. In diesem Sinne möchte ich vorschlagen, dass der platonische Text zwei Modelle von Situierung nahelegt und damit auch zwei Modelle, die Bühne zu denken: eines kann topisch genannt werden, auf der Vorstellung des topos als Behälter basierend, welcher letztlich eine Auf-sich-selbst-Abgeschlossenheit seiner Inhalte voraussetzt. Sein wäre demnach als ursprünglich topisch verstanden, gleichsam seinen eigenen Ort virtuell in sich als causa sui tragend. Das zeitliche Korrelativ dazu wäre dann der Mythos im aristotelischen Sinne, nämlich eine Handlung, die aus Anfang, Mitte und Ende besteht, und deren zeitliche Abfolge eine sinnhafte Totalität organisiert. Das deutsche Wort Handlung unterstreicht die vorgestellte Einheit von Plot und Handeln. Die Alternativvorstellung von Situation und Bühne würde sich auf ihre Stellung in einer Weise beziehen, die Brechts und Benjamins Interpretation von zitierbarer Geste und Zustand ähnelt – als Ort, der sowohl in das, was in ihm stattfindet, aufs Engste verwickelt ist wie auch zugleich abseits von ihm steht. Ein derartiger Ort würde eine gewisse Ähnlichkeit mit der unsichtbaren Form der chora aufweisen, welche, da sie alle Formen empfangen muss, selbst keine Form haben kann, keine eigene Form, ohne dabei andererseits aber nur leerer Raum zu sein. Er würde auch einschließen, wie Derrida – dessen Lektüre ich nicht im Einzelnen diskutieren konnte – betont, dass chora vor allem eine Stelle des Erzählens, der Mythenbildung sein müsste. Aber nicht in dem geschlossenen, archäo-teleologischen Sinne, der dem Mythos von Aristoteles zugeschrieben wird. Chora wäre eigentlich wie in der Erzählung von Timaios nicht nur eine Stätte, sondern eine Bühne, auf der Konflikte und Widersprüche auftreten, sich aufführen und im Verschwinden Bedeutung tragen. Das Gleiche würde für die Bühne selbst gelten, die damit eine stage im zeitlichen Sinne des Wortes wäre, ein Stadium. Damit scheint die Bühne allerdings von chora abzuweichen, die, Timaios zufolge, als unsterbliche Stätte aller geborenen oder erzeugten Dinge gedacht werden muss. Aber vielleicht ist diese Unsterblichkeit der Bühne nicht einfach das Gegenteil der Sterblichkeit der einzelnen Aufführungen. Sie wäre vielmehr ein Raum, wo Körper auftauchen, verschwinden und Spuren hinterlassen. In dieser Hinsicht wäre dieser Raum zwar immer der gleiche, aber dennoch immer anders. Erst jene Spuren, die sowohl in, um als auch nach der Bühne ‚stattfinden‘, würden sie als choratisch im Unterschied zu topisch bestimmen.
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Die choratische Bühne würde Topoi nicht ausschließen, sondern sie vielmehr umstülpen, um damit den Weg für künftiges Stattfinden frei zu machen. Aus dem Englischen von Jonas Rosenbrück
Autorinnen und Autoren
Jörn Etzold ist Professor für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Zuvor lehrte und forschte er an den Universitäten Gießen, Erfurt, Weimar, Frankfurt am Main und der Northwestern University, Evanston. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Verhältnis von Theater und Politik (Darstellungspolitiken, Inszenierungen von Souveränität, Säkularisierung und Theater), auf Arbeit und Nicht-Arbeit sowie den Schichtungen der Theatergeschichte. Monographien: Die melancholische Revolution des Guy-Ernest Debord (2009); Flucht. Simmungsatlas in Einzelbänden, 2018; im Druck: Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft (vorauss. 2019). Herausgeberschaften: NichtArbeit (mit Martin Jörg Schäfer, 2011); rhythmos. Formen des Unbeständigen nach Hölderlin (mit Moritz Hannemann, 2016). Leon Gabriel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. 2017 wurde er am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt mit der Arbeit Bühnen der Altermundialität: Vom Bild der Welt zur räumlichen Theaterpraxis promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf szenischem wie philosophischem Denken von Räumlichkeiten und (Post-)Globalität, ebenso wie in der Befragung von Epistemen der Wahrnehmung. Jüngste Artikel: „Pluriversen im Versuch. Distanzlose Konstellationen der Welt bei Kate McIntosh“ (2018) und „Scenes of Plural Constellations. Partage, Community and Struction“ (2018). Er war Teil des Frankfurter Performancekollektivs Arty Chock und kuratierte die Reihe blind date: kunst macht widerstand an der Schnittstelle von Theorie und Praxis. Ulrike Haß war Professorin für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum (bis 2016), begründete das Jahrbuch für das Theater im Ruhrgebiet (2001-2011) und initiierte den Masterstudiengang Szenische Forschung (etabliert ab 2012). Gastprofessuren in Paris und Frankfurt am Main. Zahlreiche Veröf-
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fentlichungen zu Bühnenformen der Antike, der Frühen Neuzeit und Moderne, zur Topologie des Chores, zu Bildtheorie, Gegenwartstheater und -dramatik, speziell zu Elfriede Jelinek, Heiner Müller und Einar Schleef. Publikationen u.a. Militante Pastorale. Antimoderne Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert (1993); Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform (2005); Mark Lammert: Bühnen Räume Spaces (2013); Heiner Müller Bildbeschreibung: Ende der Vorstellung (Hg. 2005); Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater (Hg. mit Nobert Eke und Irina Kaldrack 2014); Episteme des Theaters. Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (Mhg. 2016). Nikolaus Müller-Schöll ist Professor für Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt und zugleich Leiter der Masterstudiengänge Dramaturgie und Comparative Dramaturgy and Performance Research. Er lehrte u.a. in Baltimore, Paris, Rom, Florianopolis, Bochum, Gießen und Hamburg und arbeitete auch als Wissenschaftsjournalist, Übersetzer, Dramaturg und Kritiker. Zahlreiche Publikationen, u.a.: Das Theater des ‚konstruktiven Defaitismus‘. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller (2002); Performing Politics (Hg. mit André Schallenberg und Mayte Zimmermann, 2012); Unterm Blick des Fremden. Theaterarbeit nach Laurent Chétouane. (Hg. mit Leonie Otto, 2015); Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung (Mhg., 2018). Timo Ogrzal ist Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler sowie Lehrbeauftragter für Designtheorie an der HAW Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Literatur-, Darstellungs- und Designtheorie; Philosophische Ästhetik (unter besonderer Berücksichtigung der Musikästhetik); Ereignisphilosophie und Performanztheorien. Veröffentlichungen zu Adorno, Artaud, Benjamin, Celan, Derrida, Heidegger, Kluge, Thomas Mann, Nono, Novalis, Rihm, Valéry. Leonie Otto ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der GoetheUniversität Frankfurt und leitet dort zusammen mit Nikolaus Müller-Schöll den internationalen Masterstudiengang Comparative Dramaturgy and Performance Research. Sie wurde mit einer Arbeit über das Denken im Tanz promoviert. Als Dramaturgin arbeitete Leonie Otto vor allem mit Laurent Chétouane und Marialena Marouda zusammen. Sie war Jury-Mitglied der Tanzplattform in Deutschland, die 2019 von PACT Zollverein in Essen ausgerichtet wurde. Publikationen u.a.: „Kritik als körperliche Praxis – Körper als kritische Praxis“ (gemeinsam mit
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Olivia Ebert, 2018) und „Die zivilisatorische Choreographie. Einige Überlegungen zur Rolle des Körpers in Kafkas ‚Ein Bericht für eine Akademie‘“ (2017). Freddie Rokem ist Prof. emeritus der Theaterwissenschaft. Er lehrte als Emanuel Herzikowitz Professor für die Kunst des 19. und 20. Jh. seit 1988 am Theaterinstitut der Universität Tel Aviv. Er war Gastprofessor an den Universitäten Chicago, UC Berkeley, Helsinki, München, Wisconsin (Madison), Stanford, Stockholm, der Freien Universität Berlin und erster Friedrich Hölderlin Gastprofessor für Allgemeine und Vergleichende Dramaturgie an der Goethe-Universität Frankfurt. Er arbeitet zudem als Übersetzer und Dramaturg. Zahlreiche Publikationen, u.a.: Performing History. Theatrical representations of the past in contemporary theatre (Iowa City 2000, dt. Geschichte aufführen. Darstellungen der Vergangenheit im Gegenwartstheater, 2012) und Philosophers and Thespians. Thinking Performance (2010, dt. TheaterDenken. Begegnungen und Konstellationen zwischen Philosophen und Theatermachern, 2017). Julia Schade promoviert zur Darstellung von Temporalität und Geschichtlichkeit in den Arbeiten von u.a. Rabih Mroué und William Kentridge an der Goethe-Universität Frankfurt und ist Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Sie arbeitete 2015 bis 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Theaterwissenschaft in Frankfurt und war 2017/18 Gastdoktorandin an der Brown University. Außerdem Tätigkeit als freie Dramaturgin und für das NRW Kultursekretariat. Zu ihren Publikationen zählen u.a.: „Gegenwart und Entzug. Entwurf einer Grenzhaltung in Rabih Mroués Riding on a Cloud“ (2018), „Das Versprechen der Selbstproduktion“ (2015) sowie die Mitherausgabe von Kafka und Theater (Thewis 2017). Tore Vagn Lid ist Regisseur, Autor, Komponist und Professor an der Oslo National Academy of the Arts sowie künstlerischer Leiter von TransiteateretBergen. 2018 war er Friedrich Hölderlin Gastprofessor für Allgemeine und Vergleichende Dramaturgie am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt. Er promovierte als DAAD-Stipendiat am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und inszenierte zahlreiche Produktionen, für die er u.a. mit dem National Hedda Theatre Price, dem National Critics Award und dem National Ibsen Award in Norwegen ausgezeichnet wurde. Seine Dissertationsschrift erschien unter dem Titel: Gegenseitige Verfremdungen. Theater als kritischer Erfahrungsraum im Stoffwechsel zwischen Bühne und Musik (2011).
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Samuel Weber ist Professor of Humanities an der Northwestern University in Evanston und Direktor des Paris Program in Critical Theory sowie Professor an der European Graduate School in Saas-Fee. Er hat an verschiedenen europäischen und amerikanischen Universitäten gelehrt, u.a. an der Freien Universität Berlin, der Johns Hopkins University, der UCLA und dem Collège International de Philosophie in Paris. Darüber hinaus arbeitete er als Übersetzer (Derrida, Adorno) und als Dramaturg, u.a. an der Oper Frankfurt und am Staatstheater Stuttgart. 2005 berief ihn die American Academy of Arts and Sciences zu ihrem Mitglied, 2009 wurde er zum Chevalier dans l'Ordre des Palmes Académiques ernannt. Zahlreiche Publikationen zum Theater, Walter Benjamin, Psychoanalyse, Kritischer Theorie, Dekonstruktion und Medientheorie. Marten Weise promoviert nach dem Studium in Frankfurt und Paris an der Goethe-Universität zum Thema Dialog und Dialogizität. Er ist Stipendiat der HansBöckler-Stiftung und assoziiertes Mitglied im PhD-Netzwerk der HU Berlin Das Wissen der Literatur. 2015/16 war er Gastdoktorand am German Department der Yale University und 2016/17 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Theaterwissenschaft in Frankfurt, seitdem dort Lehrbeauftragter. Außerdem dramaturgische Tätigkeit, unter anderem für den Choreographen Laurent Chétouane, und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Otium. Aufsätze zu Kafka, Mad Men, Melville, Michaux (im Erscheinen), Nietzsche; Mitherausgabe von Kafka und Theater (Thewis 2017). Lydia J. White arbeitet als freie Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Lektorin in Berlin. 2018 wurde sie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main mit der Dissertation SCHAUPLATZ THEATER. Bertolt Brechts Der Messingkauf promoviert, einer Arbeit an der Schittstelle zwischen Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Philosophie. Zuvor unterrichtete sie an den Universitäten Hamburg und Frankfurt am Main. Ihr aktuelles Forschungsvorhaben fokussiert die Idee der „Südsee“ sowie den postkolonialen Diskurs im deutschsprachigen Raum und bewegt sich zwischen Literaturwissenschaft, Alterity Studies und Ideen- und Wissenschaftsgeschichte.
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