Zwischen Narzissmus und Selbsthass: Das Bild des ästhetizistischen Künstlers im Theater der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit 9783110233117, 9783110233100

A common theme of dramas and novels about the lives of artists is not only their uninhibited artistic creativity but als

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German Pages 257 [260] Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
1. Einführung
2. Grundlagen
3. Künstleroper und Künstlerdrama des fin de siècle
4. Kult und Mysterien
5. Grandiosität und Inferiorität – Künstlerdrama als Beziehungsdrama
6. Provokation und Prophetie
7. Franz Schreker und Alexander Zemlinsky: Das ›andere‹ Musikdrama
8. Geschichte und Mythos
9. Schlussworte
Backmatter
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Zwischen Narzissmus und Selbsthass: Das Bild des ästhetizistischen Künstlers im Theater der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit
 9783110233117, 9783110233100

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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Knste

Herausgegeben von Christopher B. Balme, Hans-Peter Bayerdçrfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Hçfele Band 57

Sebastian Stauss

Zwischen Narzissmus und Selbsthass Das Bild des *sthetizistischen Knstlers im Theater der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit

De Gruyter

Meinen Eltern

ISBN 978-3-11-023310-0 e-ISBN 978-3-11-023311-7 ISSN 0934-6252 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin /New York Druck und Einband: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

1. Einführung.......................................................................................................

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2. Grundlagen ......................................................................................................

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2.1 Narziss und Narzissmus: formalästhetische Konzepte...............................

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2.1.1 Le Traité du Narcisse (1891) – Gide, Mallarmé, Valéry und das Paradies der Poesie.....................

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2.1.2 Spiegel und Metapoesie: en abyme von Gide zu Sennett ............... 17 2.1.3 Ästhetik und Moral: Verbindungslinien zwischen André Gides und Victor Hugos Theatertheorie .............. 21 2.2 Narzissmus und Selbsthass in der Individual- und Sozialpsychologie ...... 25 2.2.1 Psychoanalytische Narzissmus-Definitionen im Abriss (von Freud zu Kernberg) ................................................................ 25 2.2.2 Der Künstler als Narr? ................................................................... 30 2.2.3 Ideal und Suggestion, Körper-Selbst und Ekel – Le Bon, Freud und Rank ................................................................ 33 2.2.4 Vom pathologischen Selbst zum Selbsthass – Otto Weiningers Wagner-Kult im double bind der antisemitischen Stereotypen ...... 43 2.2.5 Unvermögen und Überwindung ..................................................... 52 3. Künstleroper und Künstlerdrama des fin de siècle........................................... 57 3.1 Fieber und Rausch – E. T. A. Hoffmann, Jacques Offenbach und Gustave Charpentier............................................................................ 57 3.2 Sarah Bernhardt im Kontext der Neo-Romantik........................................ 65 3.3 Die Muse und der Troubadour – La Princesse de lointaine (1895) ........... 67 4. Kult und Mysterien.......................................................................................... 83 4.1 Hure, Muse, Heilige – La Samaritaine (1897)........................................... 83 4.2 Schauspielerinnen und Projektionen – die Verklärung der Eleonora Duse...................................................................................... 87 4.3 Ent-Mystifizierung in Franziska (1912) .................................................... 93

V

5. Grandiosität und Inferiorität – Künstlerdrama als Beziehungsdrama .............. 97 5.1 Studie der Beziehungsunfähigkeit – Der Kammersänger (1899) .............. 97 5.2 Schnitzlers Der einsame Weg (1904) als Künstler- und Familiendrama.... 102 5.3 Scheinbeziehungen – Wedekinds Lulu und ihre Künstlerpartner im Wandel der Fassungen von 1894 bis 1913............................................ 109 5.4 Ein heiteres Nachspiel? Tod und Teufel (1906) ......................................... 119 6. Provokation und Prophetie .............................................................................. 121 Exkurs: Bernard Shaw im Blickwinkel der deutsch-jüdischen Assimilation... 121 6.1 Under the Hill (1895) – Beardsleys Künstlerdrama in Novellenform ....... 127 6.2 Shaws Virtuosenkritik ............................................................................... 134 6.3 Ästhetizismus als Selbstausgrenzung – The Doctor’s Dilemma (1906)..... 139 6.4 Künstlerträume: J. M. Barries Dear Brutus (1918) und The Boy David (1938) ......................................................................... 159 6.5 Schauspielertheater – Gides Saül............................................................... 179 7. Franz Schreker und Alexander Zemlinsky: Das ›andere‹ Musikdrama ........... 181 7.1 Der ferne Klang (1912) und der Versuch einer Zusammenarbeit (Der rote Tod, 1908) .................................................................................. 181 7.2 Tragödien des hässlichen Mannes: Die Gezeichneten (1918) und Der Zwerg (1922)................................................................................ 190 7.3 Rückbezug zur Jahrhundertwende im Lied des Zwerges........................... 201 7.4 Rückblick: Der Traumgörge (1906) vor der Vertreibung aus dem Paradies........................................................................................ 205 8. Geschichte und Mythos ................................................................................... 210 8.1 Verklärendes Dokumentartheater von Maurice Rostand – Le Procès d’Oscar Wilde (1934)................................................................ 210 8.2 Ästhetizismus als Offenbachiade – Giraudouxs La Guerre de Troie n’aura pas lieu (1935)................................................................................ 221 9. Schlussworte.................................................................................................... 240 10. Literaturverzeichnis ......................................................................................... 245

VI

1. Einführung

Einer theaterwissenschaftlichen Arbeit zum Künstlerbild im Drama der Moderne, wohlgemerkt nicht der Post-Moderne, stellen sich diverse grundsätzliche Schwierigkeiten. Zahlreich sind die literaturwissenschaftlichen Publikationen zum Künstlerroman, und diese Arbeiten legen für die Analyse dramatischer Texte, die sich mit Künstlern beschäftigen, eine Lesart nahe, die an eben spezifisch literaturwissenschaftlichen Vorgehensweisen orientiert ist. Rasch wird klar, worin demgegenüber ein grundsätzlicher Unterschied im theaterwissenschaftlichen Zugriff besteht. Eine einleuchtende Eingrenzung der Fülle relevanter Dramentexte, aber auch eine Abgrenzung von narrativen Texten, welche die Künstlerthematik streifen, hat Uwe Japp erst vor wenigen Jahren vorgenommen: Eine literaturgeschichtliche Betrachtung des Künstlerdramas hat es [...] nicht mit allen möglichen Dramen und Künstlern zu tun, sondern nur mit solchen Dramen, die einen Künstler zum Protagonisten haben, und nur mit solchen Künstlern, die sich – wie auch immer – zu einer dramatischen Darbietung qualifiziert haben. Zwar ist diese Konfiguration – zumindest seit dem späten 18. Jahrhundert – nicht selten, sie ist aber auch 1 nicht das Gewöhnliche.

Für die Theaterwissenschaft von Interesse ist nun gerade das »wie auch immer«, das die Tauglichkeit einer Künstlerfigur für die Bühne ausmacht – und für die Moderne bisweilen das Scheitern an und Verfehlen von einer solchen Qualifikation zur dramatischen Repräsentation. Denn ob in erster Instanz kreativer Künstler – Dichter, Maler oder Komponist – oder nachschöpfendes Genie – Schauspieler, Instrumentalvirtuose oder Sänger: Für die theaterwissenschaftliche Betrachtung qualifizieren sie sich in der Art und Weise, wie sie auf der Bühne künstlerisch aktiv werden, performativ, wie es mittlerweile im Jargon heißt. Doch gerade im sogenannten (und nicht selten missverstandenen) l’art pour l’art der Jahrhundertwende wird das Künstlerbild auf Distanz zum Genie des späten 18. und 19. Jahrhunderts gerückt, das Genie in seiner gesellschaftlichen Vorbildfunktion vom Parvenu und gesellschaftlichen Außenseitertyp des Ästhetizisten verdrängt. Zum einen kreist also die theatrale Vergegenwärtigung des kreativen Aktes um sich selbst, Dichtung, Malerei oder den Kompositionsvorgang spiegelnd: Nicht zuletzt wird im Zuge dieser Vergegenwärtigung des Schöpfungsakts vor einem Theaterpublikum reflektiert, inwieweit Kunst überhaupt tatsächlich realisierbar und vermittelbar ist – besonders inmitten der ›bürgerlichen Gesellschaft‹, innerhalb derer Erika Fischer-Lichte im zweiten Band ihrer Geschichte des Dramas den Künstler im bürgerlichen Kult mit der großen charismatischen Persönlichkeit lokalisiert. Für die

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Uwe Japp: Das deutsche Künstlerdrama. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin 2004, S. 2.

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Wende zum 20. Jahrhundert stellt sie, seit und gegenüber dem romantischen Künstlerdrama, insofern eine neue Entwicklung dar, als »der Künstler – und ganz besonders der darstellende Künstler, der Star – vielfach zum Inbegriff dieser rätselhaften großen Persönlichkeit wurde«2, die nicht mehr wie häufig in der Romantik zwangsläufig im Konflikt mit der Gesellschaft aufgerieben wird, sondern im Privaten am inneren Abgrund steht. Wiewohl das Referenzmuster der höfischen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts endgültig entfallen war, hatte die allgemeingültige gesellschaftliche Problematik von Goethes prototypischem Künstlerdrama Torquato Tasso (1789) ein Jahrhundert nach seiner Abfassung trotzdem nicht an Brisanz verloren. Gerade der Schluß des Tasso bestätigt die Formel von der Disproportion des Talents mit dem Leben. So scheint es [...] Das Stück plädiert also mit Tasso gegen die Bevormundung oder kunstfremde Ausnutzung des Dichters durch die Gesellschaft. Das Stück votiert aber gleichzeitig gegen Tasso für eine Einbindung der künstlerischen Subjektivität in die 3 Gesellschaft.

Zum anderen lässt sich Uwe Japps Festsetzung des Künstlers als Protagonist und seiner dramatischen Repräsentation auf die Frage erweitern, ob die von FischerLichte bei Richard Sennett entlehnte Rätselhaftigkeit der großen Persönlichkeit um 1900 nicht eine Selbstreflexion des Künstlers nach sich zieht, da er sich im künstlerischen und dramatisch repräsentierten kreativen Akt selbst ›rätselhaft‹ bleibt, vor allem angesichts schwindender poetologischer Verpflichtungen. Der Terminus des ›Performativen‹ dient ja gerade der Umschreibung dessen, was über die Fixierungen und Bedeutungsebenen der Sprache als Zeichensystem hinausgeht – und deren Erschöpfung und ausgereizte Grenzen viele Vertreter der Moderne um 1900 als eine ihrer größten künstlerischen Herausforderungen begriffen haben. Als Schlüsseltext für dieses Phänomen gilt seit langem Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos aus dem Jahr 1902. Schlagworte wie Sprachskepsis, Erschöpfung der Formprinzipien und resignatives künstlerisches Selbstverständnis sind rasch zur Hand, um anhand dieser Quelle das Lebensgefühl einer ganzen Generation europäischer Kulturschaffender zusammenzufassen. Die mythologische Identifikationsfigur für diese Resignation ist ebenfalls schnell gefunden: Narziss, der in sein eigenes Spiegelbild verliebte Jüngling. Und zur gleichen Zeit beginnt die Psychoanalyse, Mythologie und Weltliteratur für die Diagnostik allgemeingültiger menschlicher Seelenzustände nutzbar zu machen. Diese Entschlüsselungsversuche lösen in jenen Jahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine so intensive Euphorie und Entrüstung aus, wie es der Adaption und Einrichtung alter Mythen für neue Kunstwerke immer seltener gelingt. Der Begriff des Narzissmus ist seitdem in der psychologischen Terminologie fest verankert und immer wieder neu befragt worden, in der Pionierzeit der Psychoanalyse sehr häufig hinsichtlich der psychischen Disposition von Künstlern. Es ist konsequent, dass die Lektüre von literarischen Texten der Jahrhundertwende in den letzten Jahrzehnten immer wieder dazu gedient hat, Verbindungen zu diesen Entwicklungen der bedeutenden psychoanalytischen Erkenntnisse herzustellen.

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Erika Fischer-Lichte, Geschichte des Dramas, Bd. 2, Tübingen 1990, S. 122. Japp, S. 62.

Für die Künstlerdramatik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bietet sich allerdings gerade bezüglich ihrer soziokulturellen Perspektiven eine Herangehensweise an, die von individualpsychologischen Mustern und Typologien (mögen sich diese auch zur strukturellen Analyse komplexer Theatertexte der Jahrhundertwende regelrecht aufdrängen) leicht abrückt. Nicht das zumeist so klassifizierte ›neurotische Innenleben‹ des narzisstischen Künstlertypus, sondern seine Verankerung und deren Symptome im gesellschaftlichen Zusammenhang sind zu überprüfen. Denn die Vereinzelung des ›narzisstischen‹ Künstlers in der Moderne, seine Abschottung von der Gesellschaft hat noch über die Moderne hinaus ein bestimmtes Künstlerbild geprägt. In Arnold Hausers Soziologie der Kunst findet sich folgende Passage, welche die bekannte Metaphorik aufgreift im Sinne eines [... ] Fehlens der Kräfte, Triebe und Neigungen, die den Menschen als vergesellschaftetes Wesen mit sich selbst und mit anderen versöhnen und vom Los des Narziß unserer Tage erretten würden, vom Fluch nämlich, aus dem Künstler als Vorkämpfer der Verbrüderung zum Bekämpfer des sich Mitteilens und einander Verstehens zu werden. Von Narziß, dem einsamen auf sich angewiesenen und in sich verliebten Künstler, zu Orpheus, dem liebenden und geliebten Sänger, führt der längste, mühsamste, wenn überhaupt zu bewältigende Weg der Vermittlung. In ihrem unvermittelten und unversöhnten Nebeneinander verkör4 pern sie die Ambivalenz, von der die moderne Kunst erfüllt ist.

Narzissmus ist zu einem Schlagwort geworden, das eine gesamte Gesellschaft in einem wesentlichen Grundzug umreißen soll. Kollektiver Narzissmus, wenngleich ein umstrittener Begriff, wird seit Jahren quer durch die wissenschaftlichen Disziplinen und in den Medien als gesellschaftsübergreifendes Phänomen angeführt. In Hausers Verwendung des Narzissmus-Begriffs scheint noch die verkürzende deutschsprachige Paraphrase ›Eigenliebe‹ durch. Sie erweist sich umgehend als wenig adäquat, vergegenwärtigt man sich auch nur in groben Zügen den antiken Mythos, der dem Terminus zugrunde liegt: Ein schöner Jüngling verliebt sich in sein Spiegelbild und stirbt vor Verzweiflung, als er erkennt, dass das Objekt seines Begehrens er selbst ist und die Liebe somit unerwidert und ohne Erfüllung bleiben muss. Ein ›Urbild‹ und die Vorlage für zahlreiche literarische Adaptionen ist diejenige in Ovids drittem Buch der Metamorphosen,5 die eine konsequent entwickelte, stufenartige Steigerung der Ereignisse und Begegnungen aufweist. Zu berücksichtigen bleibt dabei insbesondere, dass die Konfrontation des Narziss mit seinem Spiegelbild und sein Tod angesichts der Unerreichbarkeit seines darin erblickten Liebesideals katastrophaler Endpunkt einer Entwicklung ist, die sich in Episoden, wie der Zurückweisung Echos durch Narziss anbahnt. Die Nymphe verzehrt sich buchstäblich vor Liebe zu Narziss, ihr Körper löst sich schließlich vollends auf und von ihr bleibt nur Stimme. Ein analoges Schicksal zu diesem Schwinden der Physis unter Ausrichtung des Selbst auf eine sinnliche Wahrnehmungseben ereilt im Gegenzug Narziss, nachdem er mit Echos a priori bestehender Beschränktheit gespielt, nur die letzten Worte dessen wiederholen zu können, was ihr entgegengerufen wird. Nachdem er sie erst angelockt hat, wird sie von Narziss enttäuscht zurückgelassen. Echos Verhängnis besteht darin, auf akustischer Ebene von anderen abhängig zu

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Arnold Hauser, Soziologie der Kunst, München 1974, S. 577f. Almut Renger (Hg.), Mythos Narziß, Leipzig 1999, S. 44–53 und 265–270.

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werden, während Narziss daran zugrunde geht, optisch auf ein Bild seiner Selbst fixiert zu sein. Suggeriert ›Eigenliebe‹ eine Selbstverliebtheit im Sinne von bloßer Eitelkeit, so wird – bei der Rekapitulation der Sage vom Narziss in wenigen Worten – rasch klar, dass das Phänomen Narzissmus vielschichtiger sein muss. Es bezeichnet offenbar einen inneren Prozess, den die Betrachtung des eigenen Körpers als ästhetischem Gegenstand beim Subjekt in Gang setzt, und der in Wut auf das Selbst umschlägt, wo Begehren und Ansprüche unerfüllt bleiben müssen. Was aber geschieht, wenn der eigene Körper beim ›narzisstischen‹ Blick in den Spiegel vom Betrachter nicht als schön wahrgenommen wird? Bei der Bearbeitung dieser Problematik tauchen rasch allgemeine Fragen der Ästhetik auf, des wechselseitigen Verhältnisses von Form und Inhalt, das kunsttheoretische Überlegungen seit jeher beschäftigt. Es ist unzweifelhaft, dass sich die Bewertung des ästhetisch ›Hässlichen‹ seit der Aufklärung bis zur Moderne des beginnenden 20. Jahrhunderts stark gewandelt hat. Statt als verpöntes Abweichen vom Ideal, ja sogar der Norm des ›Schönen‹, sieht man in der Kategorie des ›Hässlichen‹ seit der Romantik zunehmend eine Möglichkeit künstlerischer Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen, die hinter den ästhetischen Vorgaben stehen. Die Einheit des Schönen, Wahren und Guten ist aufgehoben. »Die Moral wird zu einer Angelegenheit des Stils, der Lust und der Intuition. Wie soll man sein Leben angemessen leben? Indem man sich selbst in ein Kunstgebilde verwandelt.«6 Wo in der Dramatik der Jahrhundertwende ästhetizistische Selbstverliebtheit in Autoaggression umschlägt, ist nicht nur ein figurenpsychologisches Moment, sondern auch eines der Durchbrechung ästhetischer Selbstreferentialität. Die metatheatrale Künstlerdramatik wirft die Frage auf, inwieweit diese ästhetische Umwertung als Indikator von Beziehungen oder Wechselwirkungen mit den Wissenschaftsdiskursen seit 1850 dienen kann. Denkmodelle wie die Philosophie Nietzsches einerseits oder die rasch expandierenden Wissenschaftsgebiete Soziologie und Psychologie andererseits, die nicht erst mit den Freud, sondern bereits mit den Studien seiner ›Vorgänger‹ Charcot und anderer in der Öffentlichkeit großen Widerhall auslösen – zeugen vom Entfallen disziplinärer Grenzen und der Verselbständigung wissenschaftlicher Gebiete, mit durchaus zwiespältigen und widersprüchlichen Resultaten. Die folgenden Studien zur Dramatik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und zu ihrem soziokulturellen wie geistesgeschichtlichen Hintergrund sind nicht darauf ausgerichtet, die Dominanz von ›Narzissmus‹ oder ›Selbsthass‹ als dominierende ästhetische Rollenkonzepte, der Darstellung von Individuen oder auch einer Gruppendynamik, zur Zeit der Entstehung und frühen Rezeption der ausgewählten Dramen, nachzuweisen; noch weniger geht es ausschließlich darum, Individualitätskonzepte im Drama der Zeit um 1900 ›dekonstruktivistisch‹ in der Mitte zwischen beiden Polen zu lokalisieren; bisweilen wird die These vertreten, dass es sich bei Narzissmus und Selbsthass um zwei alternierende Symptome derselben psychischen Disposition handelt. So hat die am C. G. Jung-Institut in Zürich ausgebildete Kathrin Asper die von ihr als Therapeutin gemachte Beobachtung festgehalten: »Bei narzißtisch beeinträchtigten Menschen ist das geringst Geachtete

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Terry Eagleton, Ästhetik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 378.

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ihr eigenes Wesen.«7 Vom psychologischen und literatur-wissenschaftlichen Standpunkt gehört Asper zu jenen Forscherinnen, die der ›narzisstischen Beeinträchtigung‹ bis ins Kindheitsalter nachgehen und die Verwundung und Zurücksetzung als Wurzel dieser unterdrückten Individuation zu begreifen bestrebt sind. Anhand von Mythen und Märchen sollen nach diesem Vorgehen die metapsychologischen Aspekte narzisstischer Selbstentfremdung ausgeleuchtet werden. Die narzisstische Selbstüberschätzung ist demzufolge eine Hyperkompensation des kindlichen Gefühls der Zurücksetzung, zumeist durch die Mutter, was im Falle von Asper bisweilen zu leicht anachronistisch anmutenden Analysen führt – jedenfalls wenn man von einer patriarchalischen Vorstellung für den Gott des Christentums ausgeht, und dann in Bezug auf die Legende vom Heiligen Christopherus liest: »So wenig es eine echte Mutter-Kind-Beziehung gab, so wenig zeigt sich ein vertrauendes Kindschaftsverhältnis zu Gott. Dieses dunkle Gottesbild ist sehr oft die direkte Weiterführung des negativen Mutterkomplexes«.8 In diese Argumentationskette mangelnder ›mütterlicher‹ Empathie und der narzisstischen ›Besetzung‹ des Kindes in Abwesenheit des Vaters lässt sich die von Ovid her bekannte, mythische ›Kurz-Biographie‹ des antiken Narcissus eingliedern: Schließlich ist er das Kind einer Vergewaltigung der Nymphe Liriope durch den Flussgott Cephisus, was Narcissus’ spätere Liebesunfähigkeit aus der Therapieperspektive heraus ausreichend begründet. Dass die genannte Autorin für sich im Lauf der Jahre »ein recht laues Interesse für den Mythus festgestellt«9 hat, muss den Nicht-Therapeuten indes nicht bekümmern. Vom theaterwissenschaftlichen Standpunkt her (zunächst einmal abgerückt von der Ätiologie narzisstischer Persönlichkeitsstrukturen) von Interesse sind die dramatischen Situationen der Selbstbespiegelung, und das durchaus unter Berücksichtigung formalästhetischer Vorgaben ihrer möglichen soziologischen Fundierung. Paul Valéry hat diesen Augenblick des Erkennens in seinem Gedicht Narcisse parle zu einem großen Monolog ausgestaltet, der in der Textmitte wie in einer Peripetie die Dauerhaftigkeit der Verzückung beschwört, um in der folgenden Strophe jäh in ein Lamento über die eigene Vergänglichkeit zu verfallen: Voici dans l’eau ma chair de lune et de rosée, Ô forme obéissante à mes yeux opposée! Voici mes bras d’argent dont les gestes sont purs! Mes lentes mains dans l’or adorable se lassent D’appeler ce captif que les feuilles enlacent, Et je crie aux échos les noms des dieux obscurs! Adieu, reflet perdu sur l’onde calme et close, Narcisse… ce nom même est un tendre parfum Au cœur suave. Effeuille aux mânes du défunt 10 Sur ce vide tombeau la funérale rose.

Klassische Schönheit und mit ihr korrespondierende klassizistische Anmut des Gestischen, hier in der sechsten von elf Strophen, werden umgehend (in der siebten)

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Kathrin Asper, Verlassenheit und Selbstentfremdung, München 1990, S. 106. Ebd., S. 104. Ebd., S. 96. Paul Valéry, Narcisse parle. In: Renger, S. 136.

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in die ›dekadente‹ Flüchtigkeit des wie Blumenduft schnell verwehten Namens von Narziss aufgelöst. Die Strömungen der Lyrik wie des Dramas im fin de siècle werden immer noch gerne unter dem Motto l’art pour l’art zusammengefasst und so von der gesellschaftlichen ›Außenwelt‹ abgenabelt. Es ergibt sich ein anderes Bild, versteht man die Momente der Spiegelung und Selbstreflexion, die sich durch alle Versionen der Sage vom Narziss ziehen, im Sinne einer kritischen poetischen Bestandsaufnahme: Welche Möglichkeiten und Zeichen bieten sich für die Kunst um 1900 überhaupt an, um die eigene Selbstbezüglichkeit zu überwinden und sich zum Wohle der Gesellschaft zu integrieren? Bereits zu dieser Zeit spitzt sich die Problematik von individueller künstlerischer Entfaltung und fremd-determinierter Identität (die gerne als ein spezifisches Thema der Jahrtausendwende gesehen wird) erheblich zu, was im Folgenden zu verdeutlichen wäre. Freilich kann man diesbezüglich noch weiter in der Geschichte zurückblicken, denn Erwin Rotermunds 1991 festgehaltene Beobachtung hat unvermindert ihre Gültigkeit, dass zwischen 1800 und 1900 vornehmlich Künstlerdramen entstanden sind, die nach der europaweiten Restauration und Zensur im Grunde weit hinter Goethes Tasso und Grillparzers Sappho (1818) zurückblieben und uns »uns heute mit ihren Pseudo-Lösungen des Problems Geist und Macht, Kunst und Gesellschaft sowie wegen ihrer bildungsphiliströsen Darbietungsform peinlich berühren.«11 Darüber hinaus wäre allerdings zu klären, ob der ›narzisstische‹ Zug im Künstlerdrama der Jahrhundertwende wirklich, wie es Rotermund (unter Berufung auf Peter Szondi) am Beispiel von Hugo von Hofmannsthals Der Tod des Tizian (geschrieben 1892 und 1901 in München uraufgeführt) zu belegen bestrebt ist, bestenfalls »an zentraler Stelle eine der zahllosen Darstellungen mystischer Lebens-Alleinheit« einnimmt.12 Denn dass sich vereinzelte Ästheten in ihren Kunstwerken wie der antike Narcissus nur an der eigenen Schönheit im Spiegel ergötzen, dürfte sich im Diskurs ebenso schnell erschöpfen, wie die Hintergrundfolie der gestörten Struktur der Künstlerfamilie, die sich als Ursprung dieser Vereinzelung und ihrer mystischen Verklärung psychologisch unterlegen ließe. Als geeignetes Beispiel führt Rotermund hier Hauptmanns Michael Kramer aus dem Jahr 1900 an, dessen Protagonist als Maler wie als Familienvater versagt und den eigenen Sohn nach anfänglicher Vergötterung verstößt und in den Selbstmord treibt – ohne ein Gefühl der Reue: »Alleinheitsphantasien ersetzen die Reflexion auf konkrete Schuldzusammenhänge«, bemerkt wiederum Rotermund hierzu, um in der Folge hinzuzufügen, Hauptmann ließe »das naturalistische Familienstück in eine Art lyrischen Dramas übergehen«. Dies träfe auch für die anderen Künstlerdramen um 1900 (von Hofmannsthal, Arno Holz oder dem expressionistischen Pionier Reinhard Sorge) zu, trotz struktureller Vielfalt und Modifikationen auf einem »Grundzug der Literatur der Jahrhundertwende« beharrend: »die extreme Gesellschaftsferne des Künstlers.«13 Anders verhalte es sich mit den zeitgleich entstandenen Komödien und ihrer »Grundthese eines gesellschaftlichen Bedingungszusammenhangs, in den der Maler, Musiker und Dichter gestellt ist.« Doch sei dieser Bedingungszusammenhang seitens des Dramatikers primär mit der Motivation entworfen (so etwa durch Arno

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Erwin Rotermund, Künstlerdramen der Jahrhundertwende. In: Dieter Kafitz (Hg.), Drama und Theater der Jahrhundertwende, Tübingen 1991, S. 22. Ebd., S. 24. Ebd., S. 27ff.

Holz in seinen Sozialaristokraten von 1896/1908), »den ideologischen Opportunismus seiner Dichterkollegen an den Pranger [zu] stellen«, oder (wie im Falle von Wedekinds Kammersänger 1897/99) das »ästhetische Fehlverhalten des Publikums«.14 Damit wäre allerdings die von Rotermund gezogene Distinktionslinie zwischen Künstlertragödie und Künstlerkomödie der Jahrhundertwende um das Kriterium der Anpassungswilligkeit und, in speziellen gesellschaftlichen Konstellationen, die Assimilationsfähigkeit der Protagonisten zu verstärken: So ließe sich im Umkehrschluss die in den ernsten Stücken festgestellte ›Gesellschaftsferne‹ dort stärker beleuchten, wo die Distanzierung des Künstlers von seinem sozialen Umfeld über die Familienbiographie hinaus begründet und als Zwang oder selbstgewählter Rückzug kenntlich gemacht wird. Hierfür liefert das Vater-Sohn Verhältnis im erwähnten Michael Kramer, zumal in der Abneigung des ›Kunst-Akademikers‹ Kramers gegen den disziplinlos ausschweifenden Lebenswandel seines Sohnes Arnold, zumindest Ansatzpunkte, die sich dann jedoch vor der Dramaturgie der naturalistischen (zum Zeitpunkt der Entstehung des Dramas bereits konventionalisierten) Familientragödie in der Resignation des Vaters und der selbstmörderischen Verzweiflungstat des Sohnes verflüchtigen. Zu unterscheiden ist in diesem Kontext zwischen dem künstlerischen Selbsthass und der Selbstzerstörung: Es soll in der dramengeschichtlichen Argumentation die sozialwissenschaftliche und sozialpsychologische Begrifflichkeit des »jüdischen Selbsthasses« mit einbezogen werden, die nicht nur eine sozialgeschichtliche Konkretisierung der grundsätzlichen, individualpsychologischen Disposition des Selbsthasses aufgrund von Außenseitererfahrungen ist – sondern zudem mit dem Komplex der zunehmenden Stigmatisierung von Künstlern der Assimilation einher geht (und solchen, die ihnen mitunter ohne nähere Prüfung zugerechnet werden, wie beispielsweise Sarah Bernhardt). Dies rührt noch vom 19. Jahrhundert her, in dem Richard Wagner sein Pamphlet Das Judentum in der Musik vom antisemitischen Stereotyp künstlerischer ›Impotenz‹ des Judentums her aufbaut – ein Vorurteil, das durch das Beispiel Otto Weiningers in der Moderne auf prekäre Art und Weise neue Schlagkraft erhält. Nach neueren psychoanalytischen Studien kann Selbsthass als psychologische Disposition zwar in Autoaggression und Selbstzerstörung münden, muss es aber nicht zwangsläufig, wie Ansätze aus der Schule von C. G. Jung zu Bedenken geben: »the task is to come to know the voice of the self-hater and to learn about the kinds of relationships with it that are useful.«15 Sowohl psychologisch als auch von der Warte der Soziologie aus betrachtet ist Selbstzerstörung motiviert durch die zunehmende Gefährdung und Destabilisierung der Persönlichkeits- und Individualitätsstruktur. So können Autoaggressionen nach Einschätzung einiger Psychologen aus einer Identifikation des Opfers einer Misshandlung mit dem Täter resultieren, eine wiederum auf finsterste Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts erweiterbare Beobachtung, nach welcher »durch Repression [...] eine Identifikation mit dem Aggressor begünstigt wurde, wie die am ödipalen Modell

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Ebd., S. 33f. Sue Austin, Women’s Aggressive Fantasies. A Post-Jungian Exploration of Self-Hatred, Love and Agency, New York 2005, S. 31.

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orientierte Kritische Theorie annahm«.16 Einer anderen Einschätzung zufolge können »Wunschbild und [...] gesellschaftliche Forderung« dagegen »im Führer« zur Auflösung des Subjektes durch seine Unterordnung innerhalb eines Kollektivs führen, was nicht zuletzt für den internationalen Faschismus des 20. Jahrhunderts und die Vermassung und Gleichschaltung der Lebensumstände innerhalb der faschistischen Systeme kennzeichnend ist.17 Ob in der Künstler-Dramatik der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts sich selbst verblendet glorifizierende, resignierende oder warnende Fingerzeige in diese Signale überwiegen, soll als Fragestellung nicht außer Acht gelassen werden, doch sei diese bis zum abschließenden Resümee zurückgestellt. Am Anfang stehen poetologische und theatertheoretische Reflexionen eines Dichters, dessen Selbstfindung über die Kunst erst nach und nach in ein bühnentaugliches Gewand gekleidet worden ist, nachdem er sich mit den narrativen Spielarten des Diskurses künstlerischer Metapoesie vertraut gemacht hat. Es folgt also eine Analyse von Künstlerdramen des frühen 20. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit unter Zugrundelegung eines erweiterten Diskursbegriffs, der sich aus Momenten der Psychopathologisierung des Künstlers, seines gesellschaftlichen Außenseiterstatus und poetologischer Selbsthinterfragung zusammensetzt. Zu Beginn soll ein Bezugsraster zwischen diesen Diskursfeldern ausgebreitet werden, ausgehend vom Beispiel der französischen Literaten und Intellektuellen der Jahrhundertwende, die ihr Wirken an einer gesamt-europäischen Kultur- und Literaturgeschichte ausrichteten.

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Stefan Breuer, Sozialpsychologische Implikationen der Narzißmustheorie. In: Psyche 770, Januar 1992, S. 25. Jürgen Langenbach, Selbstzerstörung als Vollendung des bürgerlichen Subjekts, München 2 1984, S. 226.

2. Grundlagen

2.1 Narziss und Narzissmus: formalästhetische Konzepte 2.1.1 Le Traité du Narcisse (1891) – Gide, Mallarmé, Valéry und das Paradies der Poesie Von 1891, dem Jahr seiner Erstbegegnung mit Stéphane Mallarmé, stammt Paul Valérys Gedicht Narcisse parle, das eine über 58 unregelmäßig in Paar- und umarmenden Reimen um sich selbst kreisende Totenklage und zugleich ein Hohelied auf die (eigene) Schönheit des Narziss darstellt. Symbolismus und Ästhetizismus offenbaren sich hier in ihrer von Ralph-Rainer Wuthenow knapp und präzise zusammengefassten »Tendenz zum geschlossenen Mikro-Kosmos des Kunstwerks, das sich gegen die äußere Welt selbst um den Preis seiner Wirkung auf diese konsequent verschließt, das einzig noch Künstlern Kritikern und Kennern zugänglich scheint.«1 Das kühle Nass, in welchem Valérys Narziss versinkt und damit sich selbst, den Lilien und Nymphen ein Schauspiel unvergleichlicher Schönheit bereitet, fügt sich zu einem solchen Mikrokosmos. Dieser bleibt noch in seiner melancholischen Untergangsatmosphäre ästhetisch erlebbar und soll, den letzten elf Versen nach, von einschmeichelndem Flötenspiel erfüllt sein, was dem akustischen Wohlklang des Gedichtes, sorgsame melodische und rhythmische Rezitation vorausgesetzt, eine inhaltliche Entsprechung verleiht: »Et, toi, verse à la lune, humble flûte isolée, / Une diversité de nos larmes d’argent.«2 Ebenfalls 1891 schreibt André Gide sein Traité du Narcisse. This is no coincidance, for in 1890 and 1891, Gide and Valéry spent their afternoons together strolling in the Jardin des Plantes in Montpellier, discussing poetry, Greek myth, and 3 other essentials of fin-de-siècle sensibility.

Drei Jahre davor, im Jahr 1888 hat Gide – autobiographischer Schilderung zufolge – als noch nicht 19-jähriger Gymnasiast seine Begeisterung für Johann Wolfgang von Goethe und den zweiten Teil der Faust-Tragödie entdeckt, aus der ihm sein Mitschüler Pierre Louis (später bekannt unter dem Namen Louÿs) Passagen aus der »Klassischen Walpurgisnacht« vorlas. Dies ist, wie Gide später hervorgehoben hat, ein Ursprungspunkt seiner großen Leidenschaft für die deutschsprachige Rezeption

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Ralph-Rainer Wuthenow, Muse, Maske, Meduse. Frankfurt a. M. 1978, S.122. Valéry, S. 138. Pamela A. Genova, A Crossroads of Modernity. André Gide’s Le Traité du Narcisse. In: South Central Review, 1994 (3), S. 7.

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der griechischen Mythologie.4 Gides Rezeption der Weimarer Klassik wird aber nicht nur zum erbaulichen Initiationserlebnis. Sie ist ebenso Teil einer Erfahrung, die sich beharrlich wie ein Motiv durch die Kunst und Literatur des fin de siècle zieht: Der Künstler der Moderne ist dazu verurteilt, ein Epigone zu sein. In einer Zeit, deren technischer und wissenschaftlicher Fortschritt industrielle Massenproduktion, Profit und Ausbeutung in den Großstädten rasant zunehmen lässt, ist die Relevanz der Kunst für die Gesellschaft gar kein Thema mehr, die ihr gestellte Aufgabe der Verschönerung des hässlichen Alltags ein entbehrlicher Luxus, isoliert von jeder möglichen politischen Geltung. Eine der prominentesten Stimmen, die diesen künstlerischen Einfluss in Abrede stellt, ist die Friedrich Nietzsches, zu dessen ›Anti-Poetik‹ André Gide später Stellung beziehen wird. Wie Ralph-Rainer Wuthenow exemplarisch herausgearbeitet hat, beherrscht der Zweifel an der Kunst und ihrer Bedeutung einen Großteil von rasch nach ihrer Veröffentlichung auf breiter Basis rezipierten Schriften Nietzsches, insbesondere in der Beschäftigung mit Richard Wagners Musikdrama. So wird bereits nach Nietzsches Einschätzung in der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872) der Einzelne und seine historische Bedeutung dem großen Ganzen einer »Ästhetisierung von Leben und Welt« untergeordnet: Die Verherrlichung der Kunst hat also eher pessimistische Voraussetzungen und geschieht sogar auf Kosten des Individuums oder doch um den Preis der Zurücknahme seiner im 18. Jahrhundert vielzitierten schöpferischen, die Welt sozusagen ergänzenden, sie ver5 vollkommenden Kräfte.

Die Unzeitgemäßen Betrachtungen entlarven nicht nur Wagner, sondern das Theater und die Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit als die alle Erwartungen einer inneren Erneuerung enttäuschende »Feier des eigenen Genies«6, für die Wagner mit der Errichtung seines eigenen Bayreuther Kunsttempels eine Bastion wider das verblendete und vergnügungssüchtige Publikum errichtet habe, das sich nur in der Zukunft von den bestehenden Verhältnissen abheben könnte: »wie eine seelenlose oder seelenharte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich böse ist, Kunst und Künstler zum sclavischen Gefolge zählt, zur Befriedigung von Scheinbedürfnissen. Die moderne Kunst ist Luxus«.7 In Menschliches, Allzumenschliches weist Nietzsche dem Künstler konsequent den Part eines Schauspielers zu, der sich im zeitgemäßen Rollengewand nur selbst über die unveränderten Abhängigkeiten hinwegtäuscht. »So stellt er fest, daß die modernen Feuilletonisten den Narren des fürstlichen Mittelalters entsprechen«8. Keine Lösung findet Nietzsche für den aus diesem Narrentum resultierenden Zwiespalt: dass ausgerechnet dem Narren in seiner Abhängigkeit die Freiheit zuteil wird, unzensiert auf Missstände und Wahrheiten hinweisen zu können; oder dass er zu der Rohheit und Hässlichkeit des Alltags, in unterhaltender Form, ein Pendant oder einen

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André Gide, Goethe. In: ders.: Essais critiques, hg. von Pierre Masson. Paris 1999, S. 707f. Wuthenow, S. 36. Ebd., S. 38. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, (4. Stück, Richard Wagner in Bayreuth 8). In: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, S. 475. Wuthenow, S. 42.

Gegenentwurf präsentieren kann, die diese Unzulänglichkeiten der realen Lebensbedingungen für sein Publikum erträglicher machen. In dieser Oppositionshaltung zur Hässlichkeit der modernen Welt betreibt Ende des 19. Jahrhunderts schließlich die internationale Bewegung des Ästhetizismus ihren »Kult der schönen Gegenstände«. Ihm wird »bei Huysmans, bei Walter Pater und Oscar Wilde, bei Hofmannsthal und bei D’Annunzio« gehuldigt, und er lässt zu einem großen Anteil »eine Verlagerung zum Interieur«9 gewahr werden, die ihre Betreiber als parasitäre Erscheinungen einer rechtfertigungs- und beziehungslosen Kultur erscheinen lässt. Sie verbarrikadieren und isolieren sich von wissenschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten und Zwängen, um ihre dekorativen und zwecklosen Kostbarkeiten anzuhäufen. Sie sind es, die bisweilen wie der Narziss von Paul Valéry den Eindruck erwecken, zum selbstgewählten, leblos glatten Abbild der Schönheit geworden zu sein, unter deren Oberfläche die Untiefen der ästhetischen Täuschung und des Selbstbetrugs ihren unbarmherzigen Sog entwickeln. Wer sich isoliert, droht im sozialen Umgang den Realitätssinn und die Lebensfähigkeit einzubüßen. Auf der anderen Seite findet die Anbetung der Schönheit ihre äußerste Ausprägung im Typus des Dandy, der im Vergleich zum Flaneur, wie er seit den Tagen Baudelaires die Künstlermetropolen bevölkert, ein doppeltes Risiko auf sich nimmt. Die Flaneure entdecken in der Architektur ihrer nächsten Umgebung, den Parkanlagen, den herrschaftlichen und verfallenden Häusern, das sogar die Natur überdauernde Alte im Neuen, das sich hermetisch als Kunstwelt in Abgrenzung vom zeitgenössischen Geschehen rekonstruieren lässt, und wie es die Großstadtliteraten in den Renaissance-Konzepten Jakob Burckhardts (1873) oder Walter H. Paters (1893) vorgefertigt finden. »Hier hat die Kunst die Funktion übernommen, die entschwindenden Momente des Lebens aufzuheben, dadurch aber auch wieder das Gefühl des Lebens selbst zu steigern.«10 Der Dandy trägt das im Studierzimmer systematisierte und fixierte dekorativ Ornamentale nun nach außen, um auf die Hässlichkeit der modernen Zivilisation, vor allem im urbanen Kontext, aufmerksam zu machen. Die Stilattribute des Dandytums konstituieren zugleich sein entscheidendes soziales Differenzmerkmal und bieten eine Angriffsfläche, auf die jene Bewahrer der Moral abzielen, die den Hedonismus im Auftreten des Dandys auf der Bühne der Öffentlichkeit grundsätzlich mit Amoralität gleichzusetzen bestrebt sind. Denn die Schönheit der ästhetisierten Objekte ist nicht mehr an ein moralisches Verhalten und an Ideale gebunden. Der Künstler setzt anstelle seiner selbstgewählten gesellschaftlichen Vorbildfunktion in der Klassik und in der Romantik die Mystifikation, Maskierung und Provokation ein. Stefan George schart in der Isolierung einen Zirkel von elitären Jüngern um sich, während die frühe lyrische Begabung Hugo von Hofmannsthals anfangs hinter dem Pseudonym Loris verborgen bleibt, um die Politisierung der Dekadenz im lyrischen Drama Der Tor und der Tod 1893 »ebenso wie zwei Jahre später der juristische Prozeß gegen Oscar Wilde exemplarisch [...] für die Entwicklung des moralischen Urteils gegen den ästhetischen Menschen«11 zu problematisieren. In

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Ebd., S. 116. Ebd., S. 139. Hinrich C. Seeba, Kritik des ästhetischen Menschen, Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich, 1970, S. 8.

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ihrer Lebensferne wird die Dramenfigur des Ästheten Claudio »durch massive, aber nicht überprüfbare Beschuldigungen der Toten erst ›schlecht gemacht‹, so daß die anfängliche Sympathie für den Unglücklichen am Ende umschlagen muß in eine Empörung über den Schuldigen« und die »Gleichgültigkeit des ›asozialen‹ Ästheten« einzuräumen ist.12 Der décadent ist gezwungen, seine, von Nietzsche im Fall Wagner konstatierte, anarchische Ausgliederung aus dem Leben »auf Unkosten des Ganzen«13 vor sich selbst und der Gesellschaft zu rechtfertigen. Ansatzpunkte der Kritik an der Dekadenz wie diesen machte sich auch Ottokar Stauf von der March in seiner Polemik »Décadence« in der Zeitschrift Die Gesellschaft vom April 1894 zunutze, die außerdem die prototypische Tendenz der antisemitischen Ästhetizismus-Kritik einschließt: »Die meisten Dekadenten sind Semiten«.14 Selbst diese These lässt sich auf Die fröhliche Wissenschaft von Nietzsche zurückführen, was allerdings von diesem als auf die sozialgeschichtlichen Anforderungen eingehende schauspielerische Verstellung, Mimikry, zurückgeführt und schwächer gewertet wird: »So ist der Jude auch als Literat erfolgreich tätig, denn der Literat ist Schauspieler, ist ein Schriftsteller oder Journalist, der den Fachmann zu spielen versteht. Schließlich die Frauen: ›Das Weib ist so artistisch...‹«15 Auch für Gide ist Friedrich Nietzsche neben Goethe ein entscheidender Vordenker: Nietzsches Übermenschen sieht er in Faust, in Goethes Farce Götter, Helden und Menschen wiederum Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik vorweggenommen, eine gewagte These, zumal Nietzsches Bezugnahme auf Richard Wagner an diesem Punkt von Gide nicht einmal Erwähnung findet. An Goethes Prometheus hebt Gide jedoch den aus seiner Sicht großen Unterschied zu Nietzsche hervor, just anhand der Textpassage, in der Goethe den Titan zärtlich die bitteren Gaben Pandoras in Empfang nehmen lässt. Gide resümiert: »seule la modération permet ce équilibre heureux, auquel bientôt Nietzsche se refuse. Dionysos ici triomphe. Goethe se méfie un peu de l’ivresse et préfère laisser dominer Apollon.«16 Es ist also die modération, im Deutschen mit ›Mäßigung‹, ›Bescheidenheit‹ oder auch ›Ökonomie der Mittel‹ übersetzbar, die Gide rückblickend seit jener Lektüre der »Klassischen Walpurgisnacht« in Faust II zum frühen, naiven Ideal seiner eigenen Kunst- und Antikenauffassung stilisiert. Verfolgt man Gides persönlichen Werdegang, wird dies noch verständlicher. Nur drei Jahre nach der angeblich ersten Goethe-Lektüre gemeinsam mit Louÿs hat Gide mit seinem Traktat vom Narziss, Traité de Narcisse seinen ersten eigenen bedeutenden literarischen Text nach einem klassischen Mythos veröffentlicht, der mit seinem metapoetischen Einschlag zusätzliche kulturtheoretische Brisanz aufweist. Im Vergleich zu Ovid gibt es in Gides Version des Narziss-Mythos keine Vorgeschichte, keine göttliche Prophezeiung einer lebensbedrohenden Selbsterkenntnis und keine Begegnung mit Echo oder anderen Figuren. »Gide applies the forces of

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Ebd., S. 117. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner (6). In: ders. Kritische Studienausgabe, Bd. 6, S. 27. Ottokar Stauf von der March, Décadence. In: Die Gesellschaft 1894 (4), S. 533. Wuthenow, S. 47 [Nietzsche-Zitat aus: Die fröhliche Wissenschaft (Fünftes Buch, 361), Kritische Studienausgabe, Bd. 3, S. 609] Gide, Goethe, S. 713.

minimization and condensation to modify Ovid’s text.«17 Zugleich weist Gides Traktat eine Struktur mit Verschränkungen mehrerer Erzählebenen auf, die sich selbst reflektieren, und ist so alles andere als linear. Schon Gides Untertitel, wenngleich in Klammern gesetzt, Théorie du symbole signalisiert, dass auf diese Trennung von Wahrnehmungsebenen und ihrer Bedeutungserfahrung in der Moderne eine erneute Zusammenführung erfolgen soll, nämlich durch Poesie, die Mythen unterschiedlichster Provenienz miteinander verbindet. Gide lässt in seiner Schilderung den Jüngling Narziss der Antike eins werden mit dem ersten Menschen der Bibel, mit Adam; sein Bedürfnis, sich selbst in seiner eigenen Schönheit im Fluss zu erblicken, ist nicht so sehr ein Sündenfall als ein geschichtlicher Aufbruch aus dem Garten Eden: »Jardin des Idées! Où les formes, rhythmiques et sûres, révélaient sans effort leur nombre; où chaque chose était ce qu’elle paraissait; où prouver était inutile.«18 Diesen Aufbruch markiert das Brechen eines Zweiges durch Narziss vom Baume Ygdrasil, jener Weltesche aus der nordischen Mythologie, aus der sich Gide als drittem Kulturkreis für sein Narziss-Traktat bedient. Dieser Raub des Zweiges ist eine Dissonanz in der von beständigen Harmonien erfüllten, natürlichen Symphonie, als die Gide den Garten Eden mit musikalischen Begriffen beschreibt. Narziss bricht aus dieser ›konzertanten‹ Aufführung aus – »spectateur obligé, toujours, d’un spectacle où il n’a d’autre rôle que celui de regarder toujours […]«19 Mit der Erlangung des Zweiges ist die Zeit geboren und die menschliche Genealogie begründet, innerhalb der Erzählung erlangt der Narziss und mit ihm der Poet noch dazu eine doppelte Funktion. Hat sich Narziss im Schauspiel der Natur eine Rolle zugewiesen, so bleibt die Alternative der paradiesischen Kontemplation im Poeten als sein Alter Ego bestehen. »Le poète est celui qui regarde. Et que voit-il? Le Paradis.«20 Zu diesem Paradies heißt es zuvor noch: »il n’est point en quelque lointaine Thulé.«21 Die Abkehr vom ›faustischen‹ Streben in die Ferne löst Gide im Traité wie in seiner späteren Prometheus-Lesart in der Vision vom allgegenwärtigen Paradies auf, das der Dichter gerade aus den unvollkommensten Erscheinungen ableiten und in das reine Kunstwerk wie in einem Kristall einschließen kann: »où l’orgeuil du mot ne supplante pas la Pensée, – où les phrases rythmiques et sûres, symboles encore, mais symboles purs, où les se font transparentes et révélatrices.«22 Diese Abkehr vom Stolz auf das Wort, die dem Dichter den Weg zum reinen Symbol ebnet, entspricht der besagten modération, die Gide später als besondere Qualität Goethes ausmacht, und sie wird im Traité als quasi-religiöse Erfahrung in kontemplativer Abgeschiedenheit von der Masse beschrieben, etwa wie für Moses auf dem Sinai.23 Die Faszination durch Goethe als Meister des inneren Dialogs begleitet Gide bis an sein Lebensende, aber auch schon als er mit Les Cahiers d’André Walter seine Laufbahn als einer der wichtigsten Literaten der Jahrhundertwende beginnt, die aus

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Genova, S. 5. André Gide, Le Traité du Narcisse. In: ders., Romans. Recits et Soties. Œuvres lyriques, Paris 1958, S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 9. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Ebd.

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dem Zirkel um Stéphane Mallarmé heraustreten. Von Goethe beeinflusst erscheint auch André Gides Annäherung an die klassischen Sagengestalten, der eben bei der künstlerischen Introspektive zunehmend die Funktion eines Katalysators zukommt (zuletzt 1946 im Thésée). 1942 schreibt Gide in einer für den Figaro verfassten Einführung zum Theater Goethes, nachdem er Bettina von Arnims Anekdote vom kleinen Goethe wiedergegeben hat (der einen ganzen Stoß von Erzählungen für seinen plötzlich verstorbenen Spielkameraden unter dem Bett hervorgezogen haben soll): Ce pédagogue en herbe, c’est lui que nous retrouverons sans cesse. Et l’on peut voir déjà que si justifié que puisse paraître la réputation d’égoïsme qui pèsera lourdement et longtemps sur lui, Goethe s’occupant toujours d’autrui, cet égoïsme devient, si je peux 24 dire, magistral.

Den vermeintlich so egoistischen Goethe stilisiert Gide bereits im Knabenalter zu einem Lehrbeispiel des Altruismus, ein Altruismus, der allerdings ganz egoistisch in der eigenen Vorbildhaftigkeit bestünde, anders als der Shakespeares oder Dostojewskis, wie Gide weiter ausführt und mittels der letzten Worte Egmonts »Wie ich ein Beispiel gebe« aus Goethes gleichnamigem Schauspiel mit aus wissenschaftlicher Sicht mit ›sträflichem‹ Biographismus im Werk zu belegen und als Motto über Goethes Gesamtschaffen zu stellen versucht. Doch anhand der Entwicklung, die er im Werk Goethes von den Leiden des jungen Werthers bis hin zum Künstlerdrama Torquato Tasso konstatiert, gewinnt Gides Exegese an Kontur. Die Hinterfragung der Kultur als reglementierter Lebensraum wird demnach in Tasso, dem sein höfisches Umfeld zunehmend als goldener Käfig erscheint, weiter vorangetrieben, da, vom poetologischen Standpunkt aus betrachtet, Goethe sich und seinen Figuren den größtmöglichen Freiraum mit höchster sprachlicher Exaktheit innerhalb der kulturellen Grenzen öffnet. Ebenmaß und evokative Gewalt der Sprache insbesondere in der »Klassischen Walpurgisnacht«, die Gide eben seit der Lektüre mit Louÿs nicht mehr losgelassen hat, seien in dieser topischen Qualität auch nicht übersetzbar. An dieser Hinwendung zu einem Hellenismus voll dionysischer Lebensfreude und Einsicht in die unterschiedlichen menschlichen Lebensbedingungen im zweiten Teil der Tragödie macht Gide aus seiner Sicht konsequent eine starke Opposition zum Leidensverständnis der christlichen Religion und insbesondere gegenüber dem Sündenverständnis des Katholizismus fest. So legt er auch Goethes berühmte letzte Worte (»Mehr Licht!«) als Bekenntnis zum Glauben so aus, dass über die poetische Sprache eine Brücke zu paradiesischer Klarheit – so wird das Wort Licht mit seinem lateinischen Synonym assoziiert – geschlagen werden kann. Diese neo-romantische Trennung von Licht und Dunkel im poetischen Ausdruck weist indes in Gides künstlerischer Deutung noch über Goethe hinaus. Es führt nämlich nicht nur eine Linie von Goethe zu jenem Traktat vom Narziss, dem Traité de Narcisse, das bei seiner Veröffentlichung 1891 in Gides Œuvre neben den Cahiers d’André Walter den zweiten wichtigen Grundpfeiler ausmacht. Neben Goethe ist es Victor Hugo, dem als Inbegriff des romantischen Künstlers in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts allgemeine Verehrung entgegengebracht wird:

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André Gide, Le »Théâtre« de Goethe. In: ders., Essais critiques, S. 751.

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Hugo als der Typus des romantischen Künstlers, der sein ästhetisches Programm gegen alle gesellschaftlichen Widerstände durchgesetzt hat, der die Normen des akademischen Kulturbetriebs durch die Einführung seiner eigenen ästhetischen Kategorien und Regeln außer Kraft gesetzt hat. In besagter Introduction au »théâtre« de Goethe von 1942 hält Gide jedoch einen, seiner Meinung nach, wichtigen poetologischen Unterschied zwischen Goethe und dem französischen Romantiker fest: »Tandis que Hugo trouve satisfaction de son délire verbal à se perdre dans une confusion panique, Goethe, même dans ses effusions les plus lyriques, tend à nous ramener au practique.«25 Auch wenn die Vorstöße Hugos mit seiner Préface de Cromwell zum Zeitpunkt von André Gides Erstlingserfolgen bereits mehr als sechs Jahrzehnte zurückliegen, rühren sie doch in zentralen Punkten an die gleichen Vorbehalte, mit denen die Literaten der Generation Gides den Strukturen ihrer kulturellen Umgebung begegnen; weder der Klassizismus der akademischen Institutionen noch die europaweit grassierende Welle des Naturalismus entsprechen Erwartungen an eine Kunst, die autonom sein soll. Nach Stéphane Mallarmé markiert der Tod Hugos 1885 zugleich den Ausgangspunkt einer ›Vers-Krise‹, ähnlich der von Hofmannsthal im ChandosBrief beschworenen Krise der Sprache, die mit Hugo ihren Beherrscher, ja geradezu die Personifikation des Verses als poetisches Ausdrucksmedium schlechthin verloren habe: Un lecteur français, ses habitudes interrompues à la mort de Victor Hugo, ne peut que se déconcerter. Hugo, dans sa tâche mystérieuse rabattit toute prose, philosophie, éloquence, histoire au vers, et comme il était le vers personnellement, il confisqua chez qui pense, dis26 court ou narre, presque le droit à s’énoncer.

Nach dem Tod Hugos sei der Vers zerbrochen wie das Werk eines überlebensgroßen Schmiedes (»le géant qui l’identifiait à sa main tenace et plus ferme toujours de forgeron«), die Sprache wieder in ihre Rohbausteine aufgelöst – »pas sans similitude avec la multiplicité des cris d’une orchestration, qui reste verbale.«27 Mallarmé pflegt mit diesen Worten keinen Personenkult ohne kritische Untertöne, trotz der Bewunderung für Hugos Fähigkeit, sich nicht von künstlerischen Formprinzipien dominieren und leiten zu lassen, sondern souverän die Möglichkeiten der Formgebung zu wählen und auszukosten. Doch wird für Gide, wie er in seinem Traité de Narcisse schreibt, gerade die Veranlagung des Künstlers, sich Einblick in diesen Reichtum möglicher Formen und Spielarten, nicht nur der Sprache, sondern alles Symbolischen zu verschaffen, mitunter zur Belastung. »Car le Paradis est partout; n’en croyons pas les apparences. Les apparences sont imparfaites: elles balbutient les vérités qu’elles recèlent; le Poète, à demi-mot, doit comprendre, – puis redire ces vérités.«28 Mit diesen Worten geht der Besucher der Dienstagsgesellschaften bei Mallarmé, André Gide, in seinem Narziss-Traktat auch auf die Problemstellung ein, die Mallarmé nicht erst im Text Crise de verse aufgeworfen hat. Neben dem nationalen Idol Victor Hugo ist es ausgerechnet ein deutscher

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Ebd., S. 752. Stéphane Mallarmé, Crise des Vers. In: ders., Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel, Gerlingen 1998, S. 211. Ebd. [»[...] nicht unähnlich dem vielfachen Aufschrei einer Orchestermusik«] Gide, Le Traité du Narcisse, S. 9.

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Komponist, der nach Stéphane Mallarmé Ausdrucksformen findet, dem ›Stammeln von Wahrheiten‹ in der Natur beizukommen: Richard Wagner gelingt es Mallarmé zufolge, durch sein Musikdrama ein künstlerisches Urerlebnis zu stiften, das dem erschöpften Leerlauf des formalisierten Klassizismus entgegensteht. Denn die in Crise des verses beschriebene Zersplitterung der Sprache in jenen vor- und übersprachlichen Schrei, der einer Orchestrierung nicht unähnlich sei, gelangt seit Wagner auf einen Höhepunkt ihrer Radikalisierung und zu einer neuen Synergie: »Ouïr l’indiscutable rayon – comme des traits dorent et déchirent un méandre de mélodies: ou la Musique rejoint le Vers pour former, depuis Wagner, la Poésie.«29 Mallarmé bringt dergestalt den Begriff der Dekadenz auf den Punkt, die in der Produktivität eines Zerfallsprozesses in der Kunst, in Analogie zu chemischen Vorgängen, bestehen soll, aus denen sich neue Möglichkeiten wie zu Beginn der Schöpfung ergeben. Doch wertet Stéphane Mallarmé dieses »Théâtre d’avant la Musique«, das Vor-Musiktheater, wie er es 1888 in Richard Wagner. Rêverie d’un poète français bezeichnet, auch als ein Anzeichen für die Entfremdung der dekadenten Künstler von formaler Exaktheit und beschränkter Materialität. An ihre Stelle soll eine soziale Utopie treten, die im Paradies der Wahrheiten, die der Dichter auf der Bühne evozieren kann, auch für das Publikum erfahrbar wird. Im Unterschied zu Wagner schließt diese Programmatik nicht die metapoetische Reflexion aus. »Mallarmé betrachtet das reflexive Bewußtsein als Grundlage aller künstlerischen, so auch der theatralischen Manifestation.«30 Dass die poetische Sprache zu diesem Zweck ihre Klarheit und Offenheit zurückgewinnt (vor allem gegenüber Wagners emotional überwältigender Musik), ist das Postulat am Ende von Mallarmés Crise des verses, ohne das auch André Gides Traité de Narcisse nur unzureichend verständlich bliebe. Das Traktat muss inhaltlich an Mallarmés kunsttheoretische Überlegungen angebunden werden, und das gerade hinsichtlich seiner Kritik am Erbe der deutschen Theater- und Geistesgeschichte. Die häufig bemühte und missverstandene Formel des l’art pour l’art steht primär für eine Besinnung der Poesie auf ihre ureigenen Möglichkeiten, in den Dialog mit der Gesellschaft zu treten und sich mitnichten von ihr abzuschotten. Künstlerdramen der Jahrhundertwende bzw. Dramen, die das Bild des ästhetizistischen Künstlers der Jahrhundertwende reflektieren, sind, vorausgesetzt, Mallarmés und Gides Maßstäbe sind von Bestand, als ›Werkstätten‹ der Selbstreflexion anzusehen: Bestandsaufnahmen von Möglichkeiten des Dramatikers als eines ›Troubadours der Urzeit‹, durch den sich die Sprache aus dem vorsprachlichen, gleichsam musikalischen Material herausschält. Die ›neuen‹ Sprachformen müssen dabei keineswegs symbolistisch sein (zumal wie geschildert Valérys Narziss im Bedeutungsspektrum der Symbole untergeht): »The Gidean discursive perspective is more concise, measured, and sober, in a word, more classical, than the refined form and the rich metaphorization of Symbolist poetics [...].«31

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Mallarmé, Crise de Vers, S. 220. Hans-Peter Bayerdörfer, Träume. Richard Wagner in der Theatertheorie von Mallarmé bis Meyerhold. In: Ulrich Müller/Franz Hundsnurscher/Cornelius Sommer (Hg.): Richard Wagner 1883–1983. Stuttgart 1984, S. 328. Genova, S. 9.

Die Künstlerdramatik der Jahrhundertwende sollte daher, sowohl für das Sprechtheater als auch für die Oper, auf Muster metapoetischer (Selbst-)Kritik am Ästhetizismus in der Gesellschaft untersucht werden, jedenfalls, wenn die Glaubwürdigkeit von Mallarmé und Gide als Kulturtheoretiker ihrer Zeit auf dem Prüfstand steht.

2.1.2 Spiegel und Metapoesie: en abyme von Gide zu Sennett Zur Inszenierung des eigenen Selbst gehört es für André Gide, 1902 in einer weiteren Hommage an einen, diesmal erst vor kurzem verstorbenen Dichterkollegen, diesem eine Erwiderung und Erweiterung seines Narziss-Traktats in den Mund zu legen, die der von Gide gewürdigte Ausnahmedichter der europäischen fin de siècleLiteraturszene, Oscar Wilde, bei der ersten Begegnung formuliert haben soll, und das just bei einer der Dienstagsgesellschaften bei Mallarmé im Jahr 1891: »Quand Narcisse fut mort les fleurs des champs se désolèrent à la rivière des gouttes d’eau pour le pleurer. ›Oh! leur répondit la rivière, quand toutes mes gouttes d’eau seraient des larmes, je n’en aurais pas assez pour pleurer moi-même Narcisse: je l’aimais. […] – Était-il beau? dit la rivière. – Et qui mieux que toi le saurait? Chaque jour penché sur ta rive, il mirait dans tes eaux sa beauté…‹ Wilde s’arrêtait un instant… ›Si je l’aimas, répondit la riviére, c’est que, lorsqu’il se penchait sur mes eaux, je voyais le reflet de mes eaux dans ses 32 yeux.‹« Dass Gide in diese Huldigung das Gedicht The Disciple von Wilde und seine Schlusspointe einfließen lässt, nach der Narziss bei der Selbstbetrachtung im Wasser der Quelle beziehungsweise dem Fluss mit seinen Augen wiederum einen Spiegel dargeboten hat, relativiert den Text Gides auf einer strukturellen Ebene, empfindlich: Es ist das Strukturprinzip des en abyme, einer Verschachtelung ästhetischer Repräsentationsebenen, die sich en miniature unendlich wiederholen und ineinander fügen lassen, und von dem Gide, ausgehend vom Narziss-Traktat und den Cahiers d’André Walter, immer wieder (als beherrschende Struktur der Poesie) insofern Gebrauch macht, als sie sich zu einem grundsätzlichen Beziehungsmuster menschlichen Zusammenlebens erheben lässt. Bezeichnend ist für die Stelle, an der Gide bei seiner Würdigung von Wilde die ihnen gemeinsame Anleihe beim Narziss-Mythos nutzt, dass die Sprechsituation innerhalb der zitierten Anführung immer unklarer wird. Aus dem en abyme ist im 20. Jahrhundert ein besonders in der dekonstruktivistischen Literaturtheorie häufig analysiertes formales literarisches Verfahren geworden, das nach gängigen Definitionen als Binnen-Fiktion auf die Gemachtheit des übergeordneten literarischen Textes verweist: »L’abyme est un fragment narratif où une réalité évoquée désigne la fiction qui fonde l’œuvre même, en lui conférant une signification globale qui tient dans la formule: ceci est littérature.«33 Über das formalästhetische l’art pour l’art weist es jedoch hinaus, jedenfalls wenn man einem

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André Gide, Hommage à Oscar Wilde. In: ders., Essais critiques, S. 838f. Christian Angelet, La mise en abyme selon le »Journal« et la Tentative »Amoureuse« de Gide. In: Fernand Hallyn (Hg.): Romanica Gandensia XVII. Onze études sur sa mise en abyme, Gent 1980, S. 18. [Angelet geht auch darauf ein, dass sich Gides Verwendung des en abyme, seit er es 1893 aus der Heraldik entlehnt hat, mehrfach wandelt.]

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sozialwissenschaftlichen Vorschlag folgt, den Richard Sennett in seinem Essay Autorität macht, Befehlsketten und kommunikative Hierarchien ›en abyme zu setzen‹. Der Ausdruck en abyme bezeichnet Spiegelungen, die die von ihnen wiedergegebenen Bilder verändern. Man könnte meinen, dieser Vorgang sei kaum mehr als ein preziöser Kunstgriff; daß er jedoch eine moralische Dimension besitzt, hat Gide in seinen späteren Werken auf geniale Weise erkannt. [...] Ein Spiegelbild, das dem Original nicht ganz entspricht, hat nicht nur eine moralische, sondern auch eine soziale Dimension. Der Begriff en abyme verweist auch auf eine 34 Methode, wie die Reproduktion von Macht durcheinander gebracht werden kann.

Sennett bedient sich ganz bewusst dieses ästhetischen Begriffs und beruft sich dabei auf einen Tagebucheintrag von André Gide, in dem Wohlgefallen an Bildern eines Hans Memlings oder Quentin Massys bekundet wird, in denen ein konvexer Spiegel das Abgebildete bündelt und zugleich in Frage stellt. Ausgehend von diesem Kunstgriff könne die Verzerrung des Gespiegelten wie in Gides Roman Les Fauxmonnayeurs (Die Falschmünzer) dazu genutzt werden, moralisch fragwürdige Grundelemente der reflektierten Umwelt offenzulegen, ja bloßzustellen. »Der Titel des Romans verweist auf seine moralische Perspektive – die Münzen der Fälscher offenbaren die Wertlosigkeit des Metalls, aus dem sie hergestellt wurden.«35 Allerdings gehören zu den Fälschern selbst bereits ›Gefälschte‹, die ihre eigene Wertlosigkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsstruktur entdecken müssen, die sie hervorgebracht hat – so zu Beginn des Romans, als die Figur Bernard aus Briefen seiner Mutter schließt, ein Bastard zu sein und sich deshalb aus dem Haus des einst für den leiblichen Vater gehaltenen Gatten der reumütigen Ehebrecherin schleicht. Shakespeares Edmund, der gegen den (in King Lear allerdings leiblichen) Vater intrigiert und Hamlet, dem zwar kein Brief, sondern das väterliche Gespenst eine grausame Wahrheit enthüllt, werden en abyme im Vergleich zu Bernards Schicksal zitiert. Das en abyme verleiht dem Betrogenen seine (diskutable) Berechtigung, selbst zum Betrüger zu werden. Der ›Bastard‹ ist es auch, der das größte en abyme der Faux-Monnayeurs entfaltet, den Entstehungsprozess von Poesie für den Leser offenlegt und damit durchbricht: nämlich beim Öffnen des Tagebuchs der Dichterfigur Edouard, in vielerlei Hinsicht (bezüglich seiner pädophilen Neigungen und der Verschränkung des Tagebuchstils mit der literarischen Produktion) ein Alter Ego Gides. Jeglicher Anflug von Autorität des Schriftstellers und damit der künstlerischen Instanz wird durch das en abyme untergraben, das auf einem Diebstahl des Koffers mit dem Tagebuch des Dichters fußt und den Leser so zum Mittäter macht. Das Muster des Bildungs- und Erziehungsromans wird konterkariert durch den anhand dramatischer und dramaturgischer Paratexte vorbereiteten Akt des Stehlens, ohne den sich diese Kunst gar nicht mitteilen und kommunizieren ließe. Das en abyme kann also in Analogie zu Sennetts Verfahren eingesetzt werden, um die gesellschaftliche Sanktionierung der Kunst und damit ihre Verpflichtung zu moralischer Vorbildhaftigkeit außer Kraft zu setzen. Dies unterscheidet Sennetts

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Richard Sennett, Autorität, Frankfurt a. M. 1985, S. 216. Ebd.

Definition von Ansätzen der Literaturwissenschaft der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, die das en abyme36 der Metafiktion zugerechnet und als solches, wie es beispielsweise Linda Hutcheon getan hat, einem ›offenen‹ Narzissmus selbstreflexiver Schreibweise zugerechnet haben: »Overt forms of narcissism are present in texts in which the self-consciousness and self-reflection are clearly evident, usually explicitly thematized or even allegorized within fiction.«37 Spätestens beim verdeckten metafiktionalen Narzissmus (»covert narcissism«), der den gleichen Kenntnisstand und ein stummes Einverständnis hinsichtlich der Erzählkonventionen zwischen der Erzählinstanz und dem Leser zur Voraussetzung hat, wird diese Definition für die Dramenanalyse schwer anwendbar (zumal sie nicht ohne die literaturwissenschaftliche Trennung der histoire- und der discours-Ebene auskommt). Denn wo wäre im Drama, sobald es auf die Bühne gelangt, diese Erzählinstanz zu lokalisieren? Theaterwissenschaftlich relevant wird dieser ›metafiktionale Narzissmus‹ dort, wo, wie Werner Wolf festhält, Metafiktion »in ihrer impliziten Spielart [...] nicht über eine verbale Thematisierung, sondern eine Inszenierung faßbar« wird.38 Genau dieses Prinzip der metapoetischen, wohlgemerkt nicht der (im narrativen Sinne) metafiktionalen, Inszenierung greift im en abyme für die Künstler-Dramenanalyse: Die auftretenden Künstlerfiguren regen das Publikum (wie auch den Dramenleser) zwangsläufig dazu an, kontinuierlich den Bezugsrahmen der Entstehung für die dramatischen Geschehnisse (während es diese verfolgt) mit zu reflektieren. Es fragt sich nun, ob der fin de siècle-Künstler en abyme entweder untergeordnetes Element einer weiter gefassten Inszenierung des Ästhetizismus bleibt oder zum bestimmenden Faktor wird, gegen alle gesellschaftlichen Normen und die regelpoetischen Konventionen. Wie in dem Wilde zugeschriebenen Gleichnis von Narziss und dem Fluss kann sich nämlich innerhalb der Inszenierung die Hierarchie dahingehend ändern und verkehren, dass sich über den Narzissmus des Ästheten nur ein formal in die Konvention übergegangenes gesellschaftliches Bild der künstlerischen Selbstüberschätzung reproduziert, zu der die Kommentarfunktion des en abyme letztlich im Widerspruch steht. En abyme wäre demzufolge eine metapoetische Replik oder eine metatheatrale Aktion zu benennen, die den Kontext der dramatischen Handlung relativiert oder ihm zuwiderläuft. Für die narrative Gattung hat Gide, zumindest in Les Faux-monnayeurs, mit den metapoetischen Einlagerungen eine erhebliche Binnenspannung in dem Text aufgebaut, häufig in Analogien zu Texten anderer Gattungen (als dem narrativen Genre) – wie der Dramatik. Das fällt zum einen an zunächst banal anmutenden Stellen auf, wie der, an welcher der Pastorensohn Armand seinem Freund Olivier gegenüber sagt: »La vie, mon vieux, n’est qu’une comédie. Mais la différence entre toi et moi, c’est que moi je sais que je joue; tandis que…«39 Bemüht der Sprecher hier einen pubertären, pseudo-philosophischen Zynismus, so nimmt der Leser diese Passage als tragische Ironie wahr, da Armand eine der jämmerlichsten Figuren des

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Gebräuchlich ist auch die Bezeichnung Mise en abyme. In Anlehnung an Sennett wird in dieser Arbeit die abgekürzte (aber nicht verkürzte) Variante beibehalten. Linda Hutcheon, Narcissistic Narrative. The Metafictional Paradox, New York 1984, S. 23. Werner Wolf, Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, Tübingen 1993, S. 226. André Gide, Les Faux-monnayeurs. In: ders., Romans, S. 1229.

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ganzen Romans darstellt, gequält von seiner genauen Kenntnis der Lebenslüge seiner Eltern, deren ruinöser finanzieller Lage und seinen Minderwertigkeitsgefühlen, die ihn Oliviers Angebot ausschlagen lassen, sich literarisch zu betätigen. Eine noch weitaus geschickter eingesetzte metafiktionale Bezugnahme auf dramatische Texte liegt dort vor, wo der gehörnte Ehemann der schwangeren Laura, von Bernard verehrt, in Edouards Tagebuch mit Shakespeares Othello verglichen wird, dem Vergleich jedoch in keiner Weise Stand halten kann: Denn er verzeiht der gefallenen Frau nicht nur und bittet sie, zu ihm zurückzukehren, er verwirft außerdem seinen Vorsatz, den Verführer seiner Frau in Paris ausfindig zu machen und zum Duell zu fordern. »Qu’un Othello soit jaloux, cela se comprend; l’image du plaisir pris par sa femme avec autrui l’obsède. Mais un Douviers, pour devenir jaloux doit figurer qu’il doit l’être.«40 Bereits an früherer Stelle hat Edouard im Dialog mit Bernard über diesen Douviers, das personifizierte Gegenteil des eifersüchtigen Gatten, ein vernichtendes Urteil gefällt: »Le drame de Laura, c’est d’avoir épousé un comparse. Il n’y a rien à faire à cela.«41 Das Dilemma ist klar umrissen: Die Konzeption des Lebens im Ästhetizismus hat ihre Anhänger in das Verhalten nach einem Rollenschema gepresst, das es schier unmöglich erscheinen lässt, aus dieser Form zu fallen. Dem gehörnten Gatten Douviers, selbst ein in der Universitätskarriere aufstrebender Literaturwissenschaftler, bleibt die Rolle eines dominanten leidenschaftlichen Ehemanns versagt, weil er sich die Leidenschaft wie in der Literatur bestenfalls vorstellen und er sie nur mimetisch nachahmen könnte. Der Narzissmus der ästhetischen Form widerspricht dem ›realen‹ Leben, genauso wie en abyme in Les Faux-monnayeurs die Posen und selbstgewählten Rollen des Literatenlebens den Alltagsereignissen widersprechen, hinsichtlich derer Gide sich an den Vorsatz seiner Alter-Ego-Figur Edouard hält (dessen geplanter Roman Les Faux-monnayeurs heißen soll): Die ›realistischen‹ Ereignisse sollen sich nämlich dem gestalterischen Zugriff der bloß referierenden Erzählinstanz entziehen, ganz wie sich das Rollenverhalten der Handlungsträger allen in sie gesetzten Erwartungen widersetzt (so am Beispiel Douviers). Zu überprüfen ist, ob dieses Vorgehen nicht nur für Gides Roman und seine Shakespeare-Zitate gilt, sondern überdies auf Dramentexte der Entstehungszeit der Faux-monnayeurs (und ihre Rezeption) anwendbar wäre – vor allem der Aspekt, dass der künstlerische Protagonist in der Rezeption durch einen Außenstehenden bloßgestellt und nicht – wie etwa in Der Tod des Tizian von Hofmannsthal (1892) – »in der Reflexion seiner Schüler fast wie ein sterbender Künstler-Gott« verklärt wird.42 Der Reiz des en abyme wäre, wie dargelegt, derjenige, dass der Adept zum ›realistischen‹ Widersacher der künstlerischen Instanz und ihrer (oftmals nur Schein-)Moral avanciert – und es so als versuchter Brückenschlag des ›asozialen Ästheten‹ zur Außenwelt betrachtet werden sollte. Man muss Sennett nicht im Detail folgen, wenn er die Durchbrechung von Befehlsketten in autoritären Hierarchien anhand des en abyme aufzeigt. Für ein Künstlerdrama als in theatrale Aktion gebanntes Spiegelbild künstlerischer Schaffensprozesse relevant ist primär die Rollenverdopplung, die sich nicht nur für

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Ebd., S. 1201. Ebd., S. 1184. Rotermund, S. 25.

den Künstler als Vermittlungsinstanz der entwickelten Handlung ergibt, sondern für das Publikum und die im Drama um den Künstler arrangierten sozialen Bezugspunkte. Die Verdopplung und das en abyme von Künstler und Adressaten seiner Kunst als Teile einer sozialen Realität ermöglicht es, dass die Positionierung des Künstlers im dramatischen Zusammenhang die Autorinstanz grundsätzlich ihrer moralischen Autorität gegenüber dem Publikum enthebt. Das Publikum muss den Künstler als Teil einer sozialen Hierarchie erkennen, innerhalb derer jeder Einzelne fähig sein muss, selbst aktiv seine Kategorienbildung zu verfolgen, anhand derer sich erst künstlerische (und damit auch jede andere Form von) Autorität entfalten kann. 2.1.3 Ästhetik und Moral: Verbindungslinien zwischen André Gides und Victor Hugos Theatertheorie Sennetts Verwendung eines ästhetischen Gestaltungsprinzips, das nicht nur von Gide in der Kunst seit der sogenannten décadence in immer neuen Spielformen erprobt wird, regt dazu an, den mythologisch begründeten Narzissmus jenseits der personalen Psychologisierung in dramatischen Werken (beziehungsweise deren Parallelisierung mit der Biographie ihrer Autoren) auf die Kritik an sozialen Hierarchien hin zu überprüfen. Die Relevanz des Narziss-Mythos für die künstlerischen Schaffensprozesse und seine Erzeugnisse, die auch Gide in seinem Traité du Narcisse beschäftigt, wirft zugleich die grundsätzliche Fragestellung der Poetik nach dem Verhältnis von Form und Inhalt auf. Gide thematisiert diese Spannung am 25. März 1904 vor der Société de la Libre Esthétique in Brüssel in einem Vortrag mit dem Titel De l’Évolution du théâtre, in schriftlicher Form erstveröffentlicht in der Zeitschrift L’Ermitage im Mai desselben Jahres; dazu verweist er auf die Kategorie des Schönen, und dann, in Anlehnung an den ästhetischen Diskurs des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts, auf die des Naturschönen, die er aber radikal in Frage stellt: La beauté ne sera jamais une production naturelle; elle ne s’obtient que par une artificielle contrainte. Art et nature sont en rivalité sur la terre. Qui l’art embrasse la nature il embrasse 43 toute la nature, et l’étreint […]

Den Konflikt zwischen Kunst und Natur, der Kunst überhaupt erst nötig macht, macht Gide im Folgenden zur Voraussetzung für alle Künste, von der Malerei und Bildhauerei über die Musik bis hin zur Poesie. Für das Drama der Antike pocht er auf das Prinzip des Kontrastes zwischen Stillstand und Aktion als Grundlage, so beispielsweise das Schweigen des angeschmiedeten Prometheus vor seiner Befreiung. Doch es ist das Drama des Künstlers selbst, dass ihm die Ökonomie der Mittel abverlangt, jenen dramatischen Urkonflikt und die Spannung zwischen Schönheit und Ausdruck im erneuten en abyme zu reproduzieren: »L’artiste, s’applaudissant d’abord de faire gagner au drame en expression ce que le drame perdit aussitôt en beauté, diminua peu à peu l’espace qui sépare la scène de la

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André Gide, De L’Évolution du théâtre. In: ders., Essais critiques, S. 436.

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salle.«44 Wieder sind es Goethe und Hugo, auf die Gide sich bezieht, diesmal anhand eines Goethe-Zitats aus einer Manzoni-Rezension: Für den Dichter ist keine Person historisch, es beliebt ihm, eine sittliche Welt darzustellen und er erweist zu diesem Zweck gewissen Personen aus der Geschichte die Ehre, ihren 45 Namen seinen Geschöpfen zu leihen.

Hugo 1827 hat es in einer Fußnote zu seinem Préface de Cromwell als überraschend bezeichnet, dies bei Goethe zu lesen. Diese Verwunderung will Gide im Jahr 1904 nicht mehr teilen. Um diese Verweigerungshaltung nachzuvollziehen, ist eine genauere Kenntnis des Préface de Cromwell in ihrer geistesgeschichtlichen Tragweite erforderlich. Mit der seit der Französischen Revolution einsetzenden Aufbrechung der normativen Ästhetik wurde das »Hässliche« in der Kunst im Unterschied zum »Naturschönen« nicht mehr grundsätzlich als Inkorrektheit eingestuft, wenn auch als künstlerische Ausdrucksform unterschiedlich bewertet. Damit ist für Künstler, die auf eine Integration des ästhetisch Hässlichen in ihre Werke setzen, eine neue Argumentationsgrundlage geschaffen. So greift Victor Hugo in seinem Vorwort zu Cromwell – insbesondere beim Entwurf eines Modells dreier literarischer Weltepochen – auf Argumente aus den Schriften Hegels zurück, auch wenn sein Kenntnisstand (und seine Quellen beim Studium) von Hegels Theorien nicht genau rekonstruierbar ist.46 Vor allem entwirft Victor Hugo in diesem Vorwort seine Programmatik des Hässlichen oder – wie er meistens schreibt – des Grotesken für das Theater. Einige Punkte seines Systems erlangen für die Darstellung Entstellter auf der Bühne in den folgenden Jahren Verbindlichkeit. Daher sollen die wichtigsten Thesen Hugos hier zusammengefasst werden. Bekanntlich stellt Hugos Kategorie des Grotesken im Vergleich zum Hässlichen eine Erweiterung dar, die sich bereits aus der Etymologie des Wortes, der Bezeichnung für eine spezielle Ornamentik in der Malerei,47 ableiten lässt – und das Hässliche in der Dichtung klarer umreißt: Es gewinnt an Verspieltheit, mittels derer das Hässliche und Abstoßende komisch und damit mitunter sogar anziehend wirkt, weil es Interesse erweckt. Hugo ordnet dem Grotesken daher die Komödie als angemessene Gattung zu. Im Vergleich zum Schönen gesteht Hugo dem Hässlichen sogar die höhere Variabilität der Erscheinungsformen zu. Das Hässliche wird für Hugo zum Indikator einer der Natur innewohnenden Unvollkommenheit. Das Groteske hingegen ist die entsprechende Größe der Dichtung und der darin erschaffenen Welt. Damit wird zugleich die Theodizeeproblematik aufgeworfen und ein (christliches) Welt- und Gesellschaftsbild kritisiert, zu dem

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Ebd., S. 437. Johann Wolfgang Goethe, Il Conte de Carmagnola [Über Kunst und Altertum, 1820 (3)]. In: Goethes Sämtliche Werke in 40 Bänden, Bd. 37 (Schriften zur Literatur 2), hg. von Oscar Walzel, Stuttgart/Berlin o. J., S. 166f. Winfried Engler, Victor Hugo. In: Wolf-Dieter Lange (Hg.), Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, Heidelberg 1979, S. 107. Wolfgang Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung, Oldenburg 1960, S. 14ff. Zur Klärung der mannigfaltigen Bedeutungsebenen und langen Begriffsgeschichte des Grotesken sei auf diese nach wie vor sehr empfehlenswerte Studie verwiesen.

Hugo sein (nicht nur theatrales) Gegenkonzept vorlegt, nach welchem die Dichtung als eigenständige (Nach-)Schöpfung fungiert. Le christianisme amène la poésie à la vérité. Comme lui, la muse moderne verra les choses d´un coup d’oeil plus haut et plus large. Elle sentira que tout dans la création n’est pas humainement beau, que le laid y existe à côté du beau, le difforme près du gracieux, le gro48 tesque au revers du sublime, le mal avec le bien, l’ombre avec la lumière.

André Gide distanziert sich, biblische 77 Jahre später, von dieser teleologischen Sinnstiftung für die Geschichte der Weltliteratur bei Hugo. Und wo die Kenntnis Hegels durch Hugo nicht hieb- und stichfest belegbar bleibt, beruft sich Gide in seinem Vortragstext De l’Évolution du théâtre ganz explizit auf Sören Kierkegaard: Dessen Gegenposition zu Hegels unausweichlicher Teleologie der Geschichte wäre mit Hugos Voraussetzen der Wahrheitsfindung durch die Dichtung über das Christentum schwer in Einklang zu bringen, nämlich um den gefährlichen Preis einer Kultur der Nivellierung, die dem Christentum innewohnen würde, wenn seine Regeln des Zusammenlebens nicht mehr reflektiert und im inneren Konflikt ausgetragen, sondern nur noch dogmatisch befolgt werden.49 Die Konsequenz für das Theater sollte nach Gide eine Rückkehr zu den dramatischen Charakteren sein, die die Abkehr vom christlichen Streben nach der (aus Gides Perspektive maskenhaften) Idealität des Subjekts vollziehen sollten, nach heidnischem Vorbild hin zum archaischen Ausloten von Grenzen, die jedem Individuum in sich selbst gesetzt sind und nicht in gesellschaftlich von außen aufoktroyierter Moralität bestünden. Hierin wird der Schnittpunkt zwischen dem allgemein-menschlichen Streben mit dem des Künstlers angepeilt, in diesem Weg der Selbsterkenntnis, den Gide ausgehend von den Cahiers d’André Walter und dem Traité du Narcisse in seinen poetologischen Schriften auf der Plattform des Theaters weiter verfolgt. Man kann also ohne Weiteres konstatieren, dass dieser Weg von Narziss, so wie ihn Gide skizziert, trotz der mythischen Distanzierung sehr wohl ohne Eskapismus den gesellschaftlichen Bezug sucht. Die Linie, die von den künstlerischen Vorbildern Goethe, Hugo, Wagner und Mallarmé ins Jahr 1900 führt, setzt sich aber gewissermaßen als Negativabzug dieses Typus des kreativen Menschen in der Kulturgeschichte bis zu jenem zur Kreativität a priori Unfähigen fort, an dem sich überzeitliche, kulturelle und soziale Determiniertheit manifestiert. Nicht lange nachdem Gide als Teilnehmer an den Dienstagsgesellschaften in der Pariser Literaturszene Fuß zu fassen beginnt, hält sein Gastgeber und Mentor Mallarmé im Frühjahr 1894 einen Vortrag in Oxford, den er umarbeitet und schließlich 1895 in Form eines Essays mit dem Titel La Musique et les lettres veröffentlicht. Neben der Vorwegnahme bzw. der Wiederholung von bereits geschilderten Thesen über die Krise des Verses und über Richard Wagner, nimmt Mallarmé hier in Form eines Exkurses Stellung zu einer Position, die das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft nachdrücklich in Frage gestellt hat. Es handelt sich um Max Nordaus Pamphlet Entartung, das genau 1894, ein Jahr nach seiner deutschen Erstveröffentlichung, in der französischen Übersetzung lautstarken Widerspruch der französischsprachigen Symbolisten provoziert, denen Nordau eine

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Victor Hugo, Préface de Cromwell, hg. von Michel Cambien, Évreux 1971, S. 41. Vgl. Gide, De l’Évolution du théâtre, S. 441.

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Psychopathologie, symptomatisch für viele moderne Künstlerexistenzen, unterstellt, sowie den Verlust jeglicher sozialen Funktion des Künstlers im Allgemeinen und des Dichters im Besonderen. Mallarmés Entgegnung ist subtil und einem Repräsentanten der europäischen Dekadenz angemessen: L’erreur du pamphlétaire en question est d’avoir traité tout comme un déchet. Ainsi il ne faut pas que des arcanes subtils et la physiologie, et de la destinée, s’égarent à des mains, 50 grosses pour les manier de contremaître excellent ou de probe ajusteur.

Wer alles wie Abfall behandelt, verkennt, dass Genie nicht gleichbedeutend mit Makellosigkeit zu sein hat, der Künstler vielmehr ein »infirmé élu«, »erwählte[r] Kranke[r]« ist, der sich sein eigenes Denkmal auf Ruinen errichtet und so die Gesellschaft um explosives Ideengut anreichert. In dieser avantgardistischen Gegenposition Mallarmés zu Nordau, der seine Theorien unter Berufung auf die Arbeiten Cesare Lombrosos von der medizinischen Warte her zu legitimieren sucht, ist der Konflikt zwischen einer subtilen Künstlerpsychologie und einer radikalen Pathologisierung vorbereitet, der im 20. Jahrhundert immer wieder von neuem ausgetragen wird. Der Mediziner Nordau (1849 in Budapest als Max Simon Südfeld geboren) kann bei der Fragestellung nach einem Zusammenhang von Genie und Irrsinn nicht nur auf die ›Vorarbeit‹ Lombrosos mit seinem Hauptwerk Genio e follia von 1864 aufbauen: Dass das Genie Ausdruck eines gesteigert reizbaren und stets von krankhaften Veränderungen bedrohten Gehirns wäre, hatte bereits 1859 der französische Arzt Jacques-Joseph Moreau angenommen, und den Begriff der Entartung konnte Nordau aus dem Französischen entlehnen, wo ihn 1857 der französische Psychiater Benedict Augustin Morel als »dégénérations« auf die erblich übertragbaren Krankheiten gemünzt hat, die auf unausweichlich fortgedeihenden Verfall hinausliefen. Während Lombroso künstlerische Produktivität noch auf eine psychotische Veranlagung des genialen Menschen (ohne diese zwangsläufig dem Wahnsinn zuzuordnen) zurückgeführt hat, geht Nordau einen entscheidenden Schritt weiter, indem er die Kultur analog zu Morel als krankhaften Verfallsprozess verstanden wissen will, und zwar sowohl auf Seiten der Produzenten als auch der Rezipienten. Den zweiten Band seiner Studie beginnt Nordau also: mit der Untersuchung der ›Ich-Sucht‹, eine Degenerationserscheinung, die vor allem durch die Überschätzung der eigenen Beschäftigung gekennzeichnet ist. So wie für Nordau der ›Mystizismus‹ bei den Präraffaeliten einsetzte, so stehen am Beginn der ›Ich-Sucht‹ die 51 französischen Parnassiens, als deren Zentralfigur er Baudelaire interpretiert.

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Stéphane Mallarmé, La Musique et les lettres. In: Kritische Schriften, S. 112. Jens Malte Fischer, Dekadenz und Entartung. Max Nordau als Kritiker des Fin de siècle. In: Roger Bauer (Hg.), Fin de siècle, Frankfurt a. M. 1977, S. 101.

2.2 Narzissmus und Selbsthass in der Individual- und Sozialpsychologie 2.2.1 Psychoanalytische Narzissmus-Definitionen im Überblick Zwanzig Jahre nach Nordaus Vorstoß mit Entartung und Mallarmés öffentlicher Reaktion, man kann in der Tat sagen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, schreibt Sigmund Freud seinen berühmten und folgenreichen Text Zur Einführung des Narzißmus. Freuds bis heute umstrittene Libidotheorie und -terminologie kommt hier voll zum Tragen, nämlich in der Unterscheidung von Ich- und Objektlibido, die beim narzisstischen Typus in dem einen Fall einer »Introversion« der Libido zum Opfer fällt – diesen Begriff seines Schülers C.G. Jung übernimmt Freud noch ohne Vorbehalte –, in dem anderen extremen Fall vollends von den Objekten der Außenwelt abgezogen wird. Die Entzweiung mit C.G. Jung ein knappes Jahr zuvor thematisiert Freud dort, wo sein ehemaliger Schüler die Libidotheorie für gescheitert erklärt, weil sie (laut Jung) zur Ergründung der Schizophrenie, namentlich am berühmten Fallbeispiel Daniel Paul Schreber, nicht anwendbar sei. Anhand der von Jung geteilten Beobachtung Freuds, dass gerade die libidinöse Besetzung des Ichs zur Erklärung der Psychologie des Realitätsverlustes dienen könnte, leitet Freud nun seinerseits über zu einer weiter ausholenden, kulturtheoretisch orientierten Bestimmung des Narzissmus, nicht ohne vorher der Schweizer Schule eine klare Absage zu erteilen, die zur Schizophrenie, außer dem Nachweis von Komplexen und der Ähnlichkeit neurotischer »Phantasiebildungen mit den Völkermythen«,52 keine für die Therapie nützlichen Erkenntnisse über die Krankheitsmechanismen beigetragen habe. »Ein direktes Studium des Narzißmus scheint mir durch besondere Schwierigkeiten verwehrt zu sein.« Eben der Libidotheorie bleibe es vorbehalten, sich dem Narzissmus, gleichsam gefiltert durch die Beschäftigung mit dem Pathologischen, auf mehreren Wegen anzunähern: nämlich durch »Betrachtung der organischen Krankheit, der Hypochondrie und des Liebeslebens der Geschlechter.«53 Freud führt diese Betrachtungen aus, indem er darauf verweist, dass der hypochondrische wie auch der organisch Kranke sich in voller Konzentration und Lokalisierung seines Leidens von der Außenwelt abkapselt, sowohl was Interesse als auch Libido anbelangt. Die Vergleichbarkeit einer tatsächlichen Veränderung der Organe mit der Hypochondrie und anderen Neurosen koppelt Freud nun an die Erregungszustände (auch erogener Zonen), die mit jeder Umverteilung auch die Besetzung des Ichs verändern. Der Narzissmus wird von Freud konsequent als äußerste Form der Anspannung im Rahmen der Libidostauung im Ich eingestuft, die sich wie ein heilsamer Impuls in den Objekten entladen sollte. Freuds Narzissmus-Definitionen bleiben in den folgenden Jahren der schärferen Theoriebildung nicht frei von Modifikationen und Widersprüchen, die sich insbe-

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Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzißmus. In: ders., Studienausgabe, Bd. 3, Frankfurt a. M. 2000, S. 48. Ebd.

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sondere in den 1920er Jahren häufen. Nach Willy Baranger lassen sich neun Bedeutungen des Begriffs »Narzissmus« bei Freud ausmachen, die, verkürzt wiedergegeben, von Baranger folgendermaßen aufgelistet werden: Ein Entwicklungsstadium der Libido, das durch die Konzentration der Libido innerhalb des oder auf das Ich gekennzeichnet ist. [...] Die Prozesse, die dieses Stadium ermöglichen. So sprechen wir z.B. vom »primären Narzißmus [...] oder dem [...] »sekundären Narzißmus«. Der diesem Entwicklungsstadium entsprechende Fixierungspunkt, der bei der Veranlagung zur Homosexualität oder auch bei der ätiologischen Gleichung der »narzißtischen Neurosen« (Psychosen in der heutigen Terminologie) mit einbezogen ist. Der Begriff erhält eine andere Bedeutung in dem Ausdruck »narzißtische Objektwahl« [...] Gleichermaßen kann die Situation der narzißtischen Objektwahl introjiziert sein [...] Im erweiterten Sinne wird der Begriff Narzißmus für eine Reihe von Einstellungen, Zuständen und auch Wesenszügen des Individuums gebraucht, die vom einfachen Selbstgefühl über sämtliche Grade der Selbsteinschätzung bzw. Überbewertung von Wesenszügen des Individuums oder seiner selbst als Ganzes bis hin zur größenwahnsinnigen Allmacht (1911c, S. 194) reichen. [...] Alles, was das Selbstgefühl des Ichs einschränkt oder sein Gefühl, von geschätzten Objekten geliebt zu werden, wird als »narzißtische Wunde« bezeichnet. Es gibt einen Hinweis auf den »Narzißmus der kleinen Unterschiede« und sogar die »kleinen Unterschiede« zwischen Mann und Frau (1918a, S. 219). Schließlich muß auch der perverse Narzißmus erwähnt werden, der den anderen Erscheinungsformen seinen Namen gab und der darin besteht, daß man den eigenen Körper zum 54 Objekt der Betrachtung und Liebe macht.

Anhand einer dergestalt aufgezeigten Vieldeutigkeit von Freuds NarzissmusTerminologie lassen sich die Risiken bei der Ausarbeitung eines Ansatzes ermessen, den Narzissmus als Grundmotiv von Künstlerdramen der Jahrhundertwende zu untersuchen. Die an die Libidotheorie geknüpften Definitionen und die Ätiologie (1–3 und 5) verführt dazu, einem Biographismus in der Fiktion zu erliegen, d.h. in den Lebensläufen von Künstlerfiguren des Dramas traumatische Ursprungs- und Schlüsselerlebnisse der Libidoentwicklung aufzuspüren, oder gar mit vergleichbaren Situationen im Leben ihrer Urheber zu parallelisieren. Auf diesem Weg ist die Gefährdung groß, mit Hilfe der Psychoanalyse nur die Veranlagung und das narzisstische Potential zum interpretatorischen Spekulationsobjekt zu erheben. Weiter führen die übrigen Definitionen (4 sowie 6–9), die sich ganz ähnlich, als Kriterien zur Diagnostik narzisstischer Störungen ›widergespiegelt‹ finden: a grandiose sense of self-importance or uniqueness; preoccupation with fantasies of unlimited success; exhibionistic need for constant attention and admiration; characteristic response to threats of self-esteem; and characteristic disturbances in interpersonal relationships, such as feelings of entitlement, interpersonal exploitiveness, relationships that alternate between the extremes of overidealization and devaluation, and lack of 55 sympathy.

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Willy Baranger, Der Narzissmus bei Freud. In: Über Freuds »Zur Einführung des Narzißmus«, bearbeitet von Johann Michael Rotmann. Stuttgart/Bad Cannstatt 2000, S. 151 [Originalausgabe: Joseph Sandler (Hg.), Freud´s ›On Narcissism: An Introduction‹]. American Psychiatric Association (Hg.), Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Washington 31980, S. 357 (in späteren Auflagen nicht wesentlich revidiert).

Grandiosität und Inferiorität als einander diametral gegenüberstehende Zerrbilder des in frühester Kindheit geprägten Ideal-Ichs erschließen sich aus diesen Kriterien, signalisieren aber auch die Möglichkeit eines Gleichgewichts in der Mitte zwischen den Polen. Wie fließend der Übergang zwischen einem für jeden Menschen ›normalen‹ Narzissmus und abnormen Verhalten ist, hat sich spätestens seit den Arbeiten von Otto Kernberg, einsetzend Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, und mit seinem ersten großen Buch,56 immer deutlicher herauskristallisiert. Im jüngsten von Kernberg herausgegebenen Sammelband57 wird ein Überblick über die verschiedensten Erscheinungsbilder und Systematisierungen – nebst der oben genannten fünf Kriterien aus dem DSM-III und ihre Erweiterung im DSM-III-R von 1989 um »Grandiosität, Hypersensibilität und defizitäre Empathie« – gegeben, die sich vor allem in chronischen Neidgefühlen äußert und Therapiemöglichkeiten bietet.58 Kernberg verweist im Rückgriff auf Freuds Zur Einführung des Narzißmus erneut auf die Typen des normalen (erwachsenen und infantilen) Narzissmus sowie seiner pathologischen Ausprägungen,59 während im gesamten Band Kunst und Künstlertum als Gegenstände der Therapie keine Rolle spielen. In einem vorangegangenen Sammelband60 findet sich zu den Zusammenhängen von Narzissmus und Kunst noch ein Text von Janine Chasseguet-Smirgel, die ebenfalls bereits seit den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu Narzissmus und Kunst geforscht und die Studie mit dem vielsagenden Titel Creativity and Perversion veröffentlicht hat.61 Von Interesse ist Chasseguet-Smirgels Ansatz, in dem als Beispiel »für die ›normale‹ Idealisierung [...] der Zustand der Verliebtheit oder der einer ›künstlerischen Idealisierung‹« angeführt wird, »wenngleich die Idealisierung allein, ohne den darauffolgenden Prozeß der Sublimierung zur Schaffung eines ›falschen Kunstwerks‹ führen würde.« Die Risiken werden allerdings genau dort offensichtlich, wo Verbindungen zwischen Perversion und Kreativität beispielsweise darin gesehen werden, »daß [Oscar] Wildes Helden andauernd versuchen, eine Idealisierung aufrecht zu erhalten, gleichzeitig aber eine gegenläufige Tendenz (der Hunger nach Wahrheit) sie dazu bringt – wie auch den Autor selbst –, die Maske wegzureißen, auf die stinkenden Latrinen des 62 Gefängnisses in Reading zurückzukehren, auf den Duft der Rosen zu verzichten etc...«

Auf die individualpsychologische Parallelisierung von Helden Wildes mit ihrem Autor müsste eigentlich eine genaue sozialpsychologische Beleuchtung von spätviktorianischen Lebensbedingungen erfolgen, um Wildes kulturgeschichtlicher

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Otto Kernberg, Borderline Conditions and Pathological Narcissism, New York 1975. Otto Kernberg/Hans Peter Hartmann (Hg.): Narzissmus. Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, Stuttgart 2006. Salman Akhtar, Deskriptive Merkmale und Differenzialdiagnose der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung. In: Kernberg/Hartmann, S. 247f. Ebd., S. 128f. Otto Kernberg (Hg.), Narzißtische Persönlichkeitsstörungen, bearbeitet von Bernhard Strauß. Stuttgart/New York 1996. Janine Chasseguet-Smirgel, Creativity and Perversion, London/New York 1984. Janine Chasseguet-Smirgel, Das helle Antlitz des Narzißmus, in: Kernberg, Narzißtische Persönlichkeitsstörungen, S. 242.

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Bedeutung nicht darauf zu reduzieren, dass »die anale Natur des Ichs ans Licht kommen könnte.«63 Die Distanzierung von derartig heiklen Themenkomplexen um Narzissmus, Kunst und Künstler im erwähnten letzten von Kernberg herausgegebenen Sammelband von 2006 hängt sicherlich auch damit zusammen, dass in einem solchen Überblick unter dem klinisch-therapeutischen Gesichtspunkt metapsychologischen Systemen des Imaginären und Symbolischen wie dem von Jacques Lacan seit den späten 70er Jahren propagierten kein Platz eingeräumt wird. Umso wichtiger ist Heinz Kohuts Terminologie des Selbst-Objekts und des Größen-Selbst, die dieser seit den frühen 70er Jahren entwickelt hat, und therapeutisch, anders als Kernberg, weniger in der Patienten- als in der Kulturgeschichte ansetzt. Der narzißtisch verwundete Mensch ist laut Kohut »an archaische Größen-Selbst-Konfigurationen und/oder archaische, überbewertete, narzißtische besetzte Objekte fixiert geblieben.«64 Schon früher ist, im therapeutischen Umgang mit narzisstischen Störungen, Kohuts Vorgehen – im Gegensatz zur frühen Psychoanalyse auf Empathie gegründet, Einfühlung und Introspektion in die Psyche der Patienten mit narzisstischen Störungen, deren Ursachen in mitunter zu revidierenden altruistischen Wertvorstellungen der westlichen Kultur liegen, die selbst einer gesunden SelbstLiebe skeptisch gegenübersteht. Vom theaterwissenschaftlichen und dramentheoretischen Gesichtspunkt her ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, dass Kohut narzisstische Persönlichkeitsstörungen noch stärker über ein Interaktions- und Rollenmuster von Patienten bestimmt, innerhalb dessen Narzissten sich im Verhältnis zu ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen definieren. So gibt es die »spiegelhungrigen Typen«, die im Versuch der Selbstdarstellung und des Ringens um Bewunderung nur einer tiefen Überzeugung von Wertlosigkeit entgegensteuern; die »idealhungrigen«, die nach Persönlichkeiten suchen, die sie selbst bewundern und von denen sie sich Unterstützung erhoffen; »Alter-EgoPersönlichkeiten«, die eine Beziehung letztendlich nur zur Bestätigung der eigenen Werte und Weltsicht eingehen; »fusionshungrige Persönlichkeiten« mit dem Hang zu Dominanz und Kontrolle sowie »kontaktscheue Persönlichkeiten«, deren Introvertiertheit nur das ständige Bedürfnis nach sozialen Kontakten überspielen soll.65 In der Rückführung des Narzissmus auf den zugrunde liegenden Mythos ist die Therapie bei Kohut »ein vergrößernder Spiegel dieser Bedürfnisse«66 geworden, der dem Patienten die empathischen Defizite vor Augen führt und so durch Übertragungen heilen kann. Kritik erntet Kohut dafür nicht nur in der amerikanischen Psychoanalyse, sondern auch von Literaturwissenschaftlern, in deren Gebiet sich Kohut wie der ›Ahnvater‹ seiner Disziplin Freud vereinzelt zur Bildung eigener Paradigmen vorgewagt hat: Steven Marcus questions his distinction between »Guilty Man«, suffering from what classical Freudian psychoanalysts identifies as structural conflicts, and »Tragic Man«, suffer-

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Ebd. Heinz Kohut, Narzißmus, Frankfurt a. M. 1973, S. 19. Akhtar, S. 239. Kohut, S. 310.

ing from what self psychology identifies as narcissistic disorders. Kohut singles out 67 Kafka’s writings as an exemplary illustration of tragic man.

Abgesehen von der Problematik einer Frage der Unterscheidung zwischen Schuld und Tragik wird an diesem Punkt abermals die Gefahr offensichtlich, Kunstwerke als ›Ersatzspiegel‹ für die entfallene psychoanalytische Therapiesitzung aufzufassen und den Autor zur Fallstudie zu erheben. Demgegenüber kommt es bei der Analyse des Künstlerdramas zur Entdeckungszeit des Narzissmus als psychoanalytischer Untersuchungsgegenstand darauf an, inwieweit in der Darstellung des künstlerischen Schaffensaktes und der Propagierung des Kunstwerks durch seinen Schöpfer Muster vorweggenommen sein könnten, wie die von Kohut entwickelten Verhaltensmuster narzisstisch gestörter Persönlichkeiten, denen das Streben nach Ruhm und Anerkennung dient, die innere Leere zu maskieren – im Unterschied zu den Künstlerfiguren, denen ihre Kunst durchaus im therapeutischen (wenngleich nicht konkret psychoanalytischen) Sinne eine Möglichkeit ständiger Revision und Erweiterung innerer Barrieren im sozialen Umgang bietet. Die narzisstischen Typen nach Kohut lassen sich in der Folge also heranziehen, um soziale Verhaltensmuster von Künstlerfiguren zu bestimmen, nicht aber, um sie zu ›therapieren‹. Bemerkenswert ist, dass in Freuds ursprünglichem Ansatz der Weg zur Übertragung der libidinösen Lust auf die Außenwelt, und damit zum Spannungsabbau der Unlust im Ich, in Analogie gesetzt wird zu einem metapoetischen Text, der den Ursprung aller Kreativität in organischem Gebrechen ansiedelt: Ein starker Egoismus schützt vor Erkrankung, aber endlich muß man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden, und muß erkranken, wenn man infolge von Versagung nicht lieben kann. Etwa nach dem Vorbild, wie sich H. Heine die Psychogenese der Weltschöpfung vorstellt: »Krankheit ist wohl der letzte Grund Des ganzen Schöpferdrangs gewesen; Erschaffend konnte ich genesen, 68 Erschaffend wurde ich gesund.«

Diese Stelle bleibt aber nicht die einzige, an der Freuds Text mögliche Anknüpfungspunkte zu der Psychologie des Künstlers und des kreativen Menschen im Allgemeinen liefert. Auch bei der anschließenden Differenzierung zwischen männlichem und weiblichem Narzissmus, die den Schritt zur Objektwahl erläutert, und der Entschlüsselung der »kindliche[n] Elternliebe«, die »nichts anderes als der wiedergeborene Narzißmus der Eltern« ist69 (und so die »von der Realität hart bedrängte Unsterblichkeit des Ichs« sichert), erweist sich Freud einmal mehr sowohl als Kenner des mythologischen Urbildes vom Narziss als auch als impliziter Kritiker der kunsttheoretischen Überhöhung dieses Mythos der Jahre vor 1900.

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Jeffrey Berman, Narcissism and the Novel, New York 1990, S. 34. Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzißmus, S. 52. [Das Heine-Zitat entstammt den Schöpfungsliedern (7). In: Heinrich Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden, Bd. 1, hg. 2 von Hans Kaufmann Berlin/Weimar 1972, S. 269]. Ebd., S. 57f.

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2.2.2 Der Künstler als Narr? Dass dagegen die narzisstische Verkapselung positiv gedeutet als Keimzelle für eine kreative Explosion gedeutet werden kann, ist im Kunst-Diskurs von Freuds Epoche eine willkommene Position, die in den folgenden Jahren in der psychologischen Wissenschaft diskutiert und weiterentwickelt wird. An vorderster Stelle ist in diesem Zusammenhang Lou Andreas-Salomé mit ihrem Text Narzißmus als Doppelrichtung zu nennen. Das Schema des primären und sekundären Narzissmus in Abhängigkeit von den sich wandelnden Objektbeziehungen des Ichs bei Freud wird von AndreasSalomé der Kunst und ihren Produzenten angenähert. Doch im Gegensatz zu den nach Freud von der Libido dominierten Vorgängen der Psyche im sekundären Narzissmus ist in der poetischen Betätigung die Möglichkeit einer Aufhebung des unbewussten Zurückfallens in infantile Verhaltensmuster durch die Erinnerung gegeben: »Poesie ist Weiterführung dessen, was das Kind noch lebte und was es mit dem Heranwachsenden opfern mußte für seine Daseinspraxis. Poesie ist perfektgewordene Erinnerung.«70 Diese Narzissmus-Interpretation von Andreas-Salomé deckt sich mit Gides Verschränkung en abyme von Narziss im Paradies mit dem Dichter und seiner Befähigung zur Wiedererrichtung dieses Paradieses. Doch bleibt die Erinnerung im biologischen Diskurs von Andreas-Salomé ontogenetisch individuell (und damit individualpsychologisch analysierbar), während sie von Gide im poetischen Rahmen ›phylogenetisch‹ überhöht zur Erinnerung an eine allen Menschen gemeinsame Ur- und Idealsituation gestaltet wird. Die Gemeinsamkeit lässt sich vor allem über Friedrich Nietzsche herstellen, in dessen Geburt der Tragödie Gide wie umrissen einen künstlerischen Gegenpol zur modération bei Goethe ausgemacht hat, während Andreas-Salomé noch in ihrem Lebensrückblick, ganz ästhetischer Psychologie verschrieben, rhetorisch über Nietzsche fragt: »Umfaßten in ihm Dichter- und Erkennerkraft nicht so fruchtbar, weil seelische Kämpfe und Notlagen ihn dazu trieben, sein Äußerstes zu leisten?«71 Für Literaten wie Gide bietet ein antiker Mythos wie der vom Narziss nicht zuletzt deshalb geeignete Anknüpfungspunkte, weil in der Selbstverliebtheit, im Schwanken zwischen Grandiosität und Inferiorität sowie im Streben nach Autonomie des Individuums auch die metaphysische Neuorientierung der Zeit zum Ausdruck kommt, die ausgehend von Nietzsches Schriften zum künstlerischen Allgemeingut geworden ist – eine Selbstverliebtheit, die sich selbst auf die eigenen Unvollkommenheiten bezieht: [W]ir müssen den H e l d e n und ebenso den N a r r e n entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntnisse steckt, wir müssen unserer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die S c h e l m e n k a p p e ; wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige,

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Lou Andreas-Salomé, Narzißmus als Doppelrichtung. In: dies., Das »zweideutige« Lächeln der Erotik, hg. von Inge Weber und Brigitte Rempp, Freiburg i. Br. 1990, S. 214. Lou Andreas-Salomé, Lebensrückblick, Frankfurt a. M. 1974, S. 90.

schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener F r e i h e i t ü b e r 72 d e n D i n g e n nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert.

Narren und Satyrn als (Körper-)Bilder einer künstlerisch-schöpferischen Physiognomie, zu der sich der Mensch und angehende Übermensch schöpferisch erheben muss, entsprechen den künstlerischen Prinzipien des Dionysischen im Verhältnis zum Apollinischen, die Nietzsche in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik beschrieben hat: »Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinen das Maß, und um es einhalten zu können, Selbsterkenntnis. [...] Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das ›Titanische‹ und das ›Barbarische‹ war zuletzt eine solche Notwendigkeit wie das Apollinische.«73 Die bei Gide eingeforderte modération im Sinne einer künstlerischen Ausgangskonstellation findet sich bei Nietzsche an dieser Stelle demnach anfangs durchaus eingehalten, im Vergleich mit einem Träumer, der sich seines Traums bewusst ist und ihn weiter ›verfolgt‹. Dann wird die Mäßigung aber von einer mutwilligen Selbstauslieferung ans Titanische abgelöst. Die verblassten ästhetischen Normen vergangener Jahrhunderte erhalten für den modernen Künstler der Jahrhundertwende somit ein Gegengewicht, das durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der frühen Psychoanalyse nicht Beeinträchtigung, sondern in der veränderten Erfahrung und dem neuen Bewusstsein noch Unterstützung erfährt. Freuds Traumdeutung erscheint in diesem System poetologischer Selbsterkenntnis wie ein Werkzeug des »traumdeutenden Apoll«, so wie in Gides Traité sich das Erwachen des Narziss mit dem Träumen des Poeten deckt – und zugleich die Geschlechtlichkeit als Spaltung der menschlichen Identität im Künstlertum aufhob. Noch bei Gide heißt es im Traité, als es um die Geburt der Zeit und die Spaltung des Menschen in die Geschlechtlichkeit geht, deutlich Aristophanes’ Theorie vom Kugelmenschen in Platons Symposion verpflichtet, folgendermaßen in Bezug auf die Sehnsucht des Mannes: cette femme qui dans l’aveugle effort de recréer à travers soi l’être parfait et d’arrêter là cette engeance, fera s’agiter en son sein l’inconnnu d’une race nouvelle, et bientôt poussera 74 dans le temps un autre être, incomplet encore et qui ne se suffira pas.

Gides Traktat beschwört nun diese Grundkonstante der menschlichen Existenz und des Geschlechtslebens als Fluch und vergebliches Nacheifern paradiesischer Unschuld und behält es im Folgenden Dichtern und Gelehrten vor, in den Kunstwerken und Symbolen Teile des Paradieses und der Ideen wieder zum Aufscheinen zu bringen. Dagegen wendet Freud die Perspektive im letzten Abschnitt seiner Einführung in den Narzißmus zum Thema der Bildung des IdealIchs hin zu jener zeitgleich in Totem und Tabu eröffneten These, die dem Kunstwerk als symbolische Vergegenwärtigung der Idee das Totem als Vergegenwärtigung sozialer Ur-Konflikte entgegenstellt.

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Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Zweites Buch, 107). In: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 3., S. 464f. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (4). In: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 40. André Gide, Le Traité du Narcisse, S. 6.

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Für ein Künstlerdrama der Jahrhundertwende wäre nun folgenden Fragestellungen und Themenkomplexen nachzugehen, die sich möglicherweise punktuell oder in Argumentationsketten aus den geschilderten Diskursebenen ableiten und herausfiltern lassen: 1. Zu prüfen ist, ob Gides Anspruch der modération als poetologische Selbstbeschränkung in Künstlerfiguren umgesetzt wird, die zum romantischen Typus des ständigen künstlerischen Außenseitertums (auf Konfrontationskurs zur Gesellschaft ausgerichtet) ein zurückgenommenes, wiewohl souveränes Gegenkonzept bieten. 2. Finden sich Künstlertypen, die der Redundanz der Formen und Ideen im délire verbale, das Mallarmé und Gide heraufbeschworen haben, erliegen, bis hin zu Verwirrung, zum Wahnsinn und zur Selbstzerstörung? 3. Sind im Drama des fin de siècle Beispiele vorhanden, die, analog zu Oscar Wildes anekdotisch überlieferter Variation über den Mythos vom Narziss, inhaltlich die Rahmenbedingungen einer narzisstischen Gesellschaft (des Flusses) erfahrbar machen? Und bringen diese den Künstler erst in Gefahr, die dem Narzissmus zugeschriebenen individualpsychologischen Merkmale zu entwickeln? Oder gestaltet sich das Künstlerdrama der Jahrhundertwende zu einem sozialpsychologischen en abyme seiner kulturgeschichtlichen Produktionsbedingungen? 4. Finden sich Momente der quasi-religiösen Sublimation in der Kunst, die aus dem inneren Konflikt und Alleingang des Künstlers hin zu seiner eigenständig zu entwerfenden Programmatik entwickelt werden, so etwa im Kontrast (formal-) ästhetischer Mittel, wie des Hässlichen oder Grotesken zum Schönen oder Wahrhaften? Besonderes Augenmerk ist auf das – wie im Falle Richard Wagners und des europäischen Wagnerismus nach seinem Tod – sich wandelnde Verhältnis des Künstlers zur Masse, deren Geschmack und Verführbarkeit zu richten und ob, in Abwandlung eines Aphorismus von Karl Kraus, nach dem die Psychoanalyse »jene Geisteskrankheit« ist, »für deren Therapie sie sich hält«,75 dem schöpferischen Impuls und der Kunst wie in Heines Poetologie auch im Künstlerdrama zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die Funktion kommt, die Infektionen zu heilen, die sie bisweilen ausgelöst haben. Vor allem die letztgestellte Frage macht es allerdings noch vor den detaillierten Stückbetrachtungen notwendig, die Kehrseite des künstlerisch-narzisstischen principii individuationis ins Visier zu nehmen, die an die Stelle der Heilung und der Rückkehr zum natürlichen Urzustand eine infektiöse Lähmung mit Symptomen der Unkreativität wegen vollkommener Nivellierung von Individualität setzt.

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Karl Kraus (Hg.), Die Fackel 376/377, 30. Mai 1913 (Reprint München 1968–1976), S. 21. Bezeichnenderweise bezieht Kraus zwei Absätze darüber gegen eine psychologische Interpretation von Richard Wagners Fliegendem Holländer Stellung, nach der dieser »dem Größenwunsch des Knaben entsprang, es seinem Vater gleich zu tun«. Kraus zitiert hier Max Graf, Richard Wagner im »Fliegenden Holländer«, Leipzig/Wien 1911, S. 37.

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2.2.3 Ideal und Suggestion, Körper-Selbst und Ekel – Le Bon, Freud, und Rank »Vom Ichideal aus führt ein bedeutsamer Weg zum Verständnis der Massenpsychologie.«76 So stellt es Freud am Ende seiner Einlassungen Zur Einführung des Narzißmus in Aussicht, da das Ideal sozial betrachtet an Familie, Stand und Nation zu binden sei. Für das Künstlertum seit dem fin de siècle, über das Nordau wie erwähnt den Stab gebrochen hat, da es nach seiner Meinung seine gesellschaftliche Funktion verloren hätte, entzündet sich an diesem Punkt die hitzige Diskussion, ob der Künstler dem Wandel seines sozialen Umfelds hinterherläuft oder vielmehr einen wichtigen Beitrag zu Entwicklungen in den familiären, ständischen und nationalen Idealbildungen leistet. »Bücher und Kunstwerke üben eine mächtige Suggestion auf die Massen«, diese Beobachtung hält Nordau in der erwähnten huldigenden Vorrede an die Adresse Cesare Lombrosos in der Erstausgabe von Entartung fest (freilich ohne die um die Jahrhundertwende für junge Dichter zunehmend schwierige Situation auf dem Buchmarkt zu berücksichtigen).77 In Totem und Tabu nimmt Freud eine Systematisierung vor, die in geradezu tollkühner Manier den Narzissmus als individualpsychologische Disposition in Verhältnis zu den »Entwicklungsstufen der menschlichen Weltanschauung« rückt.78 Die animistische Weltsicht entspräche demzufolge dem kindlichen Narzissmus, und Freud knüpft daran die These: Nur auf einem Gebiete ist auch in unserer Kultur die »Allmacht der Gedanken« erhalten geblieben, auf dem der Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, daß ein von Wünschen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung Ähnliches macht und daß dieses Spielen – dank der künstlerischen Illusion – Affektwirkungen hervorruft, als wäre es etwas Reales. Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser Vergleich ist vielleicht bedeutsamer, als er zu sein beansprucht. Die Kunst, die gewiß nicht als l’art pour l’art begonnen hat, stand ursprünglich im 79 Dienste von Tendenzen, die heute zum großen Teil erloschen sind.

Freud versucht in Totem und Tabu an der zitierten Stelle nicht eine individuelle psychologische (Prä-)Disposition des Künstlers auf den Punkt zu bringen, sondern vielmehr seiner sozialpsychologischen Funktion nachzuspüren. Freuds Vorgehen erscheint geradezu vorsichtig im Vergleich mit dem von ihm gebilligten kulturtheoretischen Ansatz Gustave Le Bons in seiner Psychologie des foules (Psychologie der Massen) von 1895. Dessen phänomenologisch orientierte Diagnose von der Verführbarkeit der Massen durch Autoritäten, die in erheblichem Maße auf ästhetischer, respektive bildlicher Wahrnehmung beruht, bleibt bekanntlich nicht nur auf Jahrzehnte eine zwiespältige Schrift in den Händen derer, die hinter die Kulissen der Demagogie blicken oder sich ihrer bedienen wollen. Auch dem Theater billigt Le Bon eine suggestive Wirkung zu (wie sie so heute nur noch schwer nachvollziehbar scheint): Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen. Nur diese schrecken oder verführen sie und werden zu Ursachen ihrer Taten. Darum haben

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Freud, Zur Einführung des Narzißmus, S. 68. 2 Max Nordau, Entartung, Berlin 1893, S. VIII. Freud, Totem und Tabu. In: ders.: Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt a. M. 2000, S. 378. Ebd.

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auch Theatervorstellungen, die das Bild in seiner klarsten Form geben, stets einen unge80 heuren Einfluß auf die Massen.

Das seit der Antike gewandelte Glücksideal habe daran »im Laufe der Zeiten wenig geändert. Nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstück.«81 Le Bon geht soweit, eine Einigung des Theaterpublikums in seinen Gefühlen als erwiesen hinzustellen, die bis zur Suggestion von Rache und Strafaktionen an Schauspielern, die die Verräterrollen spielen, reichen können – nach Le Bon ein Indiz für die mangelhafte Fähigkeit der Massen zur Unterscheidung von Realität und Fiktion. Das Theater ist so in einer langen Kette von Illusionen verankert, von denen die Täuschung des Sozialismus in den Augen Le Bons die letzte lebendige ist. Die grundsätzliche Veranlagung und Neigung des Menschen zur Nachahmung wird von Le Bon schließlich geradezu als Negation der Individualität angeprangert und pathologisiert. Gerade die Intellektuellen und Schriftsteller werden davon nicht ausgenommen: Es ist, wie so oft in dieser Zeit, ein Beispiel aus der Rezeption Richard Wagners, anhand dessen Le Bon diese ›Gleichschaltung‹ zu belegen sucht: Die Ansteckung ist stark genug, den Menschen nicht nur gewisse Meinungen, sondern auch bestimmte Arten des Fühlens aufzuzwingen. Sie bewirkt die Mißachtung von Werken wie z.B. der Oper »Tannhäuser« und macht einige Jahre später aus ihren ärgsten 82 Verleumdern Bewunderer.

Auch wenn Le Bon sich hier nicht als Wagner-Exeget versucht wie Mallarmé, so ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, wie kurz im Gegensatz zu Mallarmés historisch scharf differenzierender Annäherung an die gewandelte Bewertung des Bayreuther Meisters in Frankreich (seit dem Eklat der Pariser Erstaufführung von Wagners Künstleroper Tannhäuser im Jahr 1861) diese flüchtige Einlassung Le Bons greift. Das erhöhte Interesse, das Tannhäuser im fin de siècle erweckt, hängt gerade mit der speziellen psychologischen Künstlerthematik zusammen, auf die Charles Baudelaire anlässlich der Erstaufführung nur hinweisen konnte, als Wagners neue Fassung schlichtweg an den politischen Bedingungen (der Einladung Wagners durch Napoleon III. auf Vermittlung der in Paris verhassten Fürstin Pauline Metternich) und an den Konventionen der Pariser Opéra scheiterte. Die Beurteilung von Wagners Oper im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist demgegenüber geprägt von der veränderten, im Zuge der Dreyfus-Affäre von den Künstlern argwöhnisch beäugten innenpolitischen Situation der Dritten Republik und dem neuen, internationalen Selbstverständnis der französischen Literaten in Europa, für die Mallarmé und Gide als Beispiele gelten dürften. Mit Le Bons Hypothesen von Suggestion und Manipulation der Massen sind Erfahrungen und Erlebnisse des elitären ›Außenseitertums‹, anhand derer Tannhäuser zum Sinnbild des von Narzissmus und Selbstzweifeln bestimmten Künstlers der Dekadenz avanciert, nur schwer in Einklang zu bringen. Le Bons Untersuchung steht vor allem exemplarisch für die gesellschaftliche Entwicklung um 1900, innerhalb derer europäische Intellektuelle, speziell aufgrund der technischen Fortschritte im Pressewesen, sich mit häufig überaus

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Gustave Le Bon, Psychologie des Massen, Stuttgart 1964, S. 44. Ebd. Ebd., S. 91.

problematischen, elitären Gedanken zu positionieren suchen. Die beschriebenen Konzeptionen künstlerischer Programmatik seitens der streitbaren Symbolisten Mallarmé und Gide gehören dazu ebenso wie die empirisch ausgerichteten von Nordau, Lombroso, Le Bon oder schließlich in gemäßigter Form von Freud. An ihnen wird aber auch deutlich, dass die Begrifflichkeiten von Psychologie in der Kunst und in der Psychoanalyse um 1900 äußerst divergent sind. Mallarmés Verteidigung des Künstlers gegen die Pathologisierung ist auch ein Abwehrversuch gegenüber der Vereinnahmung durch psychoanalytische ›Übergriffe‹. Zwanzig Jahre danach manifestiert sich nicht nur in der kulturhistorischen Erweiterung, die Freud in Totem und Tabu vornimmt, der angestrebte psychoanalytische Zugriff auf nahezu alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch im Vorstoß der Mitglieder von Freuds Mittwochsgesellschaft, seit 1908 Wiener Psychoanalytische Vereinigung, die 1912 mit der ersten Veröffentlichung der Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften ein breites Publikum anvisiert, überwiegend freilich mit Beiträgen zu der »Mythen- und Märchenforschung einerseits, der Ästhetik und Künstler-Psychologie andererseits«.83 Redakteure dieses Organs sind Hanns Sachs und Otto Rank. Gleich in der ersten Ausgabe der Imago ist ein Artikel von Leo Kaplan mit dem Titel Zur Psychologie des Tragischen enthalten, der in seiner Definition des Tragischen kaum gegensätzlicher sein könnte zu der, die André Gide acht Jahre vorher in De l’Évolution du théâtre entworfen hat. Die Schaulust des Zuschauers bei tragischen Vorgängen im Theater hängt für Kaplan, ganz an Freud orientiert, mit der Verdrängung unrealisierter Wünsche zusammen, unterdrückt durch nicht nur äußere, sondern gerade gesellschaftlich vorgegebene innere Hemmnisse wie z.B. moralische, religiöse und ethische Barrieren. So, wie im Traum die unterdrückten Wünsche aus dem Unterbewussten an die Oberfläche drängen, kann das Drama einen vergleichbaren Katalysator abgeben: »Die Handlung im Traume hat für den Träumenden denselben objektiven Charakter, wie das Schauspiel auf der Bühne für den Zuschauer.«84 Dieser Objektivierung hat sich Gides Definition vom Tragischen gerade verweigert – und das wohlgemerkt nicht, um die Unantastbarkeit der Subjektivität zu beschwören, sondern zunächst einmal aus formalen Gründen: Im Gegensatz zur darwinistischen Theorie der Zuchtauswahl bei Herdentieren, nach der die Gemeinschaft von jeder Veränderung eines Individuums profitiert, ist es dem nicht aufgeführten Dramatiker der Dekadenz nach Gides Ansicht vorbehalten, Werke zu schaffen, die in ihren Charakteren, weniger über den Realismus, als über den »épisodisme« hinausweisen, wie sich Gide ausdrückt. Gerade diese Polyvalenz von Gides Begriff des Tragischen wird von Kaplan zu bloßen Mechanismen verknappt – ein Dokument dafür, dass nicht alle Schüler Freuds den Forderungen ihres Meisters nach einer Psychoanalyse mit kultur- und geschichtswissenschaftlicher Tragweite Genüge leisten können. Für sie ist der Traum nicht aus der Naivität heraus apollinisch ästhetisierbar, sondern nur auf der Triebebene zu analysieren. Analog, schon bevor Freud den Narzissmus in sein psychoanalytisches System aufnimmt, ist es Otto Rank, der nachhaltig mit seiner Studie Der Doppelgänger

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Jens Malte Fischer, Einleitung zu: ders. (Hg.), Psychoanalytische Literaturinterpretation, Tübingen 1980. Einleitung, S. 6. Ebd., S. 34.

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Aufsehen erregt; vor allem aber hat Isidor Sadger an einer ersten psychologischen Begriffsbestimmung des Narzissmus als speziell künstlerische Problematik gearbeitet. Rank veröffentlicht 1907 seine Arbeit Der Künstler, Ansätze zu einer Sexualpsychologie, die noch im Jahr 1925 eine Neuauflage erhält, ohne dass seine umstrittene Adaption und Ausweitung von Freuds Libido-Theorie eingehend revidiert würde. So schreibt Rank im (mit »Ostern 1924« datierten) Vorwort zu dieser Neuausgabe: Freud lehrte uns ein für die Organisation des Individuums und der Gesamtheit hochbedeutsames Stadium der Libidoentwicklung, das narzißtische, kennen, wo die gesamte Libido ihr Objekt noch im Ich selbst findet und mit dessen Aufgeben erst die Unterscheidung zwischen Sexual- und Ichtrieben möglich wird. In diesem primitiven Zustand der Libidoverteilung, dem Narzißmus, wohnen nach Freud Libido- und Ichinteressen noch vereint und ununterscheidbar in dem sich selbst genügenden Ich. Diesem narzißtischen Stadium, zu dem die psychische Organisation auf verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung, beziehungsweise Entwicklungshemmung mit höchst ungleichwertigen Mitteln und Erfolgen zurückstrebt, steht aber auch der Künstler, wie sich 85 zeigen wird, sehr nahe.

Das Zurückstreben in ein primitives Stadium der Libidoverteilung, mit dem Rank die narzisstischen Impulse des Künstlers umschreibt, klingt schon in den heiklen Schlussfolgerungen des Doppelgänger-Textes, der ein Jahrzehnt vor diesem Vorwort entstanden ist, an. Bereits dort hat Rank den Volks- und Aberglauben von »primitiven Menschen« ebenso wie Kindern in ihrer Einstellung als »exquisit narzißtisch« eingestuft,86 mit einem reichlich verkürzenden Seitenhieb gegen die »auf dem Ich basierenden philosophischen Systeme (z.B. Fichte)«,87 zu deren Kritiker und Überwinder sich Freud und seine Schule aufgeschwungen hätte. Freud habe darauf hingewiesen, daß der Tod, die unerbittliche Ananke, es ist, die sich dem Narzißmus des Primitiven widersetzt und ihn nötigt, einen Teil seiner Allmacht an die Geister abzugeben. An diese dem Menschen aufgedrängte Tatsache des Todes, die er ständig abzuleugnen sucht, knüpfen aber die ersten Seelenvorstellungen an, wie sich für die Naturund Kulturvölker nachweisen läßt.

Der Narzissmus dient Rank zufolge also der Verdrängung des Todes, der Doppelgänger als literarisches Modell einer Externalisierung von verdrängten Triebenergien des Selbst, die bis zum Todestrieb reichen und mit denen das Subjekt in Konflikt gerät. Diese psychoanalytische Konstruktion veranlasst Rank, die Kulturgeschichte pauschal zu vereinfachen: Zum einen wird der Unsterblichkeitsglaube (ohne Interesse an einem tieferen Sinn metaphysischer Vorstellungen), »der die Macht des Todes energisch dementiert«,88 auf dieses narzisstische Modell der Selbstverdopplung zurückgeführt. Zum anderen wird die beharrliche Umformung mythologischer Überlieferungen im Lauf der Jahrhunderte (nicht zu denken an ein ästhetisches Formprinzip wie das en abyme) von Rank vollkommen außer Acht gelassen, wenn er die Thematisierung des Narzissmus »in

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Otto Rank, Der Künstler, Leipzig/ Wien/ Zürich 41925, S. 7. Otto Rank, Der Doppelgänger, Leipzig/Wien/Zürich 1925 (Reprint Wien 1993), S. 111. Ebd., S. 112. Ebd., S. 115.

der griechischen Sage oder bei Oscar Wilde, dem Vertreter des modernsten Ästhetentums«, als Indikatoren unveränderlicher individualpsychologischer Phänomene von der Antike bis zur Moderne wertet, ihre Adressaten und Referenzsysteme (z.B. Polis und Viktorianismus) jedoch keine Berücksichtigung finden. Nun wäre es müßig, Rank, dessen Bruch mit Freud nach der Veröffentlichung von Das Trauma der Geburt (1923) an solchen Stellen vorgezeichnet ist, im 21. Jahrhundert einer Textkritik zu unterziehen, hätte die zitierte Ausgabe vom Doppelgänger aus dem Jahr 1993 nicht ein Nachwort, in welchem Otto Ranks Studie versuchsweise mit den Erkenntnissen Jacques Lacans abgeglichen wird. Der wohl wahrgenommene, von Rank nicht zu kittende »Riß zwischen dem Zeitlosen und dem Historischen« – diese Kluft sei demnach in einem ersten Schritt durch Freuds Aufsatz Das Unheimliche überbrückt worden, »der ein weit größeres Gebiet von Phänomenen abdeckt.« Doch damit nicht genug: Den zweiten Schritt hat [...] Lacan gesetzt: Die Einführung des Subjekts der Psychoanalyse, S, mit der Ankunft der Moderne, also des Subjekts, das in seiner reinen Form von der Aufklärung historisch hervorgebracht worden ist, und des spezifischen Objekts der Psychoanalyse, Objekt a, das mit dem Sieg der Aufklärung als sein Widerpart und Resultat er89 schienen ist. Aber das ist eine andere und viel längere Geschichte.

Es ergäbe sich nun eine ihrerseits andere und viel längere Diskussion, ob das, von Lacan mit neuen Definitionen und Termini angereicherte Dispositiv der postmodernen Psychoanalyse das große Spektrum psychologischer Phänomene (wie z.B. das des künstlerischen Narzissmus) tatsächlich historisch umfassend decodierbar macht – unter Zugrundelegung eines durchaus nicht ungebräuchlichen, aber auch recht groben zeitlichen Rahmens für die Entwicklung des bürgerlichen Individuums – eben von der Aufklärung bis zur Moderne. Die Gefahr ist gegeben, dass über die Einführung von Kategorien zur Bestimmung des Subjekts wie jenen Lacans, die sozialhistorische Vergröberung, die Ranks Text zugrunde liegt, weiter anhält. Von Freud bis hin zu Lacan behauptet hat sich die psychoanalytische Größe des individuellen Ideal-Ich, wenngleich sie als solche konsequent differenziert und modifiziert wird (etwa in den Abstufungen zwischen der I c h -Instanz und dem gesellschaftlich determinierten S e l b s t ). Sie bietet der heutigen Dramenanalyse (besonders bei der Konzentration auf figurenpsychologische Aspekte) die Möglichkeit, Texte in den Mittelpunkt zu rücken, welche den – meistens in größter Enttäuschung zurücklassenden – Hang des Individuums zu Idealisierungen thematisieren. Ein Merkmal des Ideal-Ichs besteht vor allem im Wunschbild des idealen Körpers. Das Streben danach wird nicht nur in Ranks Doppelgänger als Verdrängung des Todes gewertet, der sich im körperlichen Verfall abzeichnet. Es wird auch in der modernen Therapie narzisstischer Störungen für alternde, suizidgefährdete Patienten psychoanalytisch berücksichtigt: »Veränderungen des Körpers werden nur gegen Widerstände im Körper-Selbst integriert, das nicht nur in der Pubertät, sondern lebenslang einer ständigen Überarbeitung bedarf.«90 Der frühe

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Mladen Dolar (übersetzt von Lydia Marinelli), Nachwort zu Rank, Der Doppelgänger, S. 128f. Martin Teising, Narzisstische Konflikte des Alterns. In: Kernberg/Hartmann, S. 641.

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Tod des mythologischen Narziss in seiner Jugend beinhaltet als eine weitere metaphorische Ebene die Flucht vor der eigenen körperlichen Hinfälligkeit und Anfälligkeit gegenüber Krankheiten, die in ihrer Infektiösität und ihren immer gleichen, vom jeweilig befallenen Organismus unabhängigen Symptomen der Individualität als Prinzip unzerstörbarer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit zuwiderlaufen. Hinter der Selbstbespiegelung des Narziss wie auch eines Narzissten steckt mitunter ein ständiger Kampf: »Es ist das Leiden, der eigenen Identität nicht habhaft zu werden, das Übel, sich nicht mit sich selbst identisch fühlen zu können. [...] Es ist ihm nicht vergönnt, sich arglos und selbstverständlich in seiner Haut zu fühlen.« Das hat eine Depersonalisation zur Folge, verbunden mit dem Gefühl einer Fragmentierung des eigenen Körpers bis hin zu dessen völligen Verlust, mit einem jähen Umschlag in Autoaggressivität.91 Die Selbstbespiegelungstendenz unter Verdrängung möglicher Makel des eigenen Körpers verweist mit der Wasseroberfläche als Spiegel für den mythischen Narziss auch auf die Zweidimensionalität als Metapher ästhetischer Oberflächlichkeit, die die fragmentierte Persönlichkeit der entscheidenden Dimension beraubt, innere Widerstände zu überwinden. Ein Schlüssel der Überwindung solcher angeborener Widerstände besteht eben auch in Kategorien ästhetischen Empfindens, wofür ein Beispiel als Beleg dienen mag. Wie wohl kein anderes Buch des europäischen Ästhetizismus hat Oscar Wildes Erfolgs- und Skandal-Roman The Picture of Dorian Gray (1890/91) dieses »Leiden, der eigenen Identität nicht habhaft zu werden«, noch vor seiner psychoanalytischen Fixierung eingefangen. Die Handlung wird von dem parabelhaften (und u. a. auf dem beschriebenen ›schwarz-romantischen‹ Doppelgängermotiv aufbauenden) Grundgerüst getragen, dass sich Dorian Gray, bis in die tiefsten moralischen Verwerflichkeiten verstrickt, von seinem unschuldigen, dem Adonis gleichen körperlich schönen Ideal-Ich entfernen kann, ohne dass sein makelloser Körper davon in Mitleidenschaft gezogen wird. Das titelgebende Bildnis, das der Maler Basil Hallward von dem Jüngling anfertigt, spiegelt jedoch jedes Vergehen als körperlichen Makel wider, bis sich Dorian 18 Jahre nach Entstehung des Bildes entschließt, das Bild, das er mittlerweile auf dem Dachboden seines Hauses vor den Augen aller anderen verborgen hat, mit demselben Messer zu vernichten, das ihm bereits als Mordwaffe am Maler Basil gedient hat – um nun Dorian selbst zu richten. Seine Dienerschaft findet, alarmiert von einem schrecklichen Todesschrei, in der Dachkammer das Bild vor, wie es einst gemalt wurde und einen Mann, »welk, runzlig und Abscheu erregend« darstellt (»withered, wrinkled and loathsome of visage«).92 Der Anblick des Toten spricht nicht nur dem seines Porträts Hohn: Er läuft vor allem dem Bild zuwider, das sich die Dienerschaft von ihrem Herrn gemacht und bis zuletzt aufrecht erhalten hat. Mit dem Fallen der Maske, unter welcher der Ästhetizismus seine Grausamkeit lange erfolgreich verbergen konnte, tritt – das gibt dieser Schluss unmissverständlich zu verstehen – zu schlechter Letzt auch das stumme Einverständnis (die Erwartungshaltung von Wildes Publikum) mit

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Asper, S. 97. Im Dt. zitiert nach: Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray, Frankfurt a. M. 1985, S. 287. Im Engl. The Complete Works of Oscar Wilde. Vol 3. The Picture of Dorian Gray. The 1890 & 1891 texts, hg. von Joseph Bristow, Oxford 2005, S. 164.

dem verführerischen Bösen seitens derer zutage, die sich willig von seinem Glanz anziehen und aushalten lassen. Der Narzissmus des unveränderlichen Körper-Selbst ist ein kollektiver, vor dem keine Taten zu rechtfertigen sind; nur der körperliche Verfall und das runzlige Angesicht des Todes erregt Abscheu und Ekel. Winfried Menninghaus hat vor wenigen Jahren die körpergebundene Kategorie des Ekels und seine Bedeutung im ästhetischen Diskurs seit dem 18. Jahrhundert mit einer beispielhaften Studie beleuchtet.93 Die Konstruktion des hässlichen und ekelerregenden Körpers erscheint nur konsequent in der Gegenüberstellung mit der Konstruktion des idealschönen Körpers, die plastisch von Winckelmann, Herder und Lessing am Beispiel der antiken griechischen Kunst entwickelt wurde.94 Dieser Idealkörper zeichnet sich durch Formvollendung, die durch keine Unregelmäßigkeiten der Körperoberfläche gekennzeichnet ist, aus. Die Regel der Kontur »ohne Dunst und überflüssigen Ansatz« ergänzt das Tabu der »fatalen Unebenheiten« der Haut und der Gelenke durch eine Vermeidungsregel für das »gesunde Fleisch«, über das die Haut sanft gespannt sein soll: kein Gramm Fett zu viel, kein Überfluß, keine Verschwendung, aber auch kein Absturz in die Magerkeit, die 95 wiederum mit unschönen ›Höhlungen‹ bezahlt würde.

Die Höhlungen und Öffnungen des Körpers sind ekelerregend, weil sie eben dieser angestrebten Glätte und seiner unterbrechungslosen Gesamtheit zuwiderlaufen. Doch der Körper erregt nicht nur Ekel, sondern der Ekel ruft auch seinerseits körperliche Reaktionen des Rezipienten hervor. Als »Leibgebundenheit« umschrieb Aurel Kolnai in seinem Aufsatz von 1929 die ekelerfüllte Reaktion des Organismus,96 über das Ekelerregende des Körpers vermerkt er: Endlich verweisen wir auf das Ekelhafte der K r a n k h e i t und der körperlichen V e r w a c h s e n h e i t . Dies ist schon einigermaßen durch die Ausführungen über Exkret und Sekret, Verwesung, Leib und Leibinneres beleuchtet worden. Es handelt sich um eine »ungewöhnliche« und wie übertriebene Äußerung, »Wucherung« von Leben (Geschwulst, 97 Geschwür!), die zugleich schon in Verfall übergeht.

Kolnais anfängliche Definition des Ekels als »Abwehrreaktion«,98 die zwischen Abwehrhaltungen wie »Verachtung und Brechreiz«99 steht, schließt im Zuge ihrer weiteren Verfolgung innere Konflikte des Subjekts mit sich und seiner Umwelt ein, die sich im Ekel manifestieren: Da Angst und Ekel eben Abwehrreaktionen sind, intendieren sie im wesentlichen weder fremdes Dasein (wie Haß, Kampflust usw.), noch eigenes Sosein (wie Reue, Scham usw.). Sie intendieren beide eine Störung des eigenen Daseins durch fremdes Sein: mit dem Unterschied aber, daß für die Angst die Daseinsumstände und -tendenzen jenes fremden Seins primär und soseinskonstitutiv sind, für den Ekel hingegen der ganze Soseinsgehalt

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Winfried Menninghaus: Ekel. Frankfurt a. M. 1999. Ebd., S. 78–159. Ebd., S. 82. Aurel Kolnai, Der Ekel. In: Edmund Husserl (Hg.), Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 10, Halle a. d. S., 1929 (Reprint 1974), S. 517–544. Ebd., S. 544. Ebd., S. 517. Ebd., S. 517.

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des Gegenstandes primär bestimmend ist. [...] Ungleich mehr handelt es sich hier um ein 100 »Fremdes in mir« [...]

Der Ekel wird somit auch zu einem Modus der Selbstwahrnehmung über die Sinne, eben nicht der Selbstreflexion. Daraus leitet sich die Ambivalenz des Ekelbegriffs bei Kolnai ab, die auch die ›Lust‹ am Ekel in die Überlegungen aufnimmt: »Ekel setzt sozusagen ex definitione eine – unterdrückte – Lust an seinem Erreger voraus.«101 Im Folgenden skizziert Kolnai die unterschiedlichen Modi der Empfindungen des Ekels über die verschiedenen Sinne und Sinnesorgane in all ihren Ausprägungen. Die einzelnen Fallbeispiele sollen hier nicht beschrieben werden. Klar ist, dass dem Geschmackssinn eine besondere Bedeutung bei der Erregung von Ekel zukommt, insbesondere der »Geschmacksqualität des Süßen«.102 Mit dieser Qualität und der Reaktion des »Überdrußekels« ist ein Brückenkopf zwischen der sinnlichen Wahrnehmung des Ekels und den »Typen des moralisch Ekelhaften«103 installiert, unter denen auch diverse sexuelle Praktiken und ›Perversitäten‹ aufgeführt werden. Kolnais Text kann als ein Beispiel für wissenschaftliche und literarische Diskurse zwischen 1900 und 1930 dienen, innerhalb derer Geschmacks- und Sinnesempfindungen jeglicher Art, seien sie wie der Ekel auch negativer Natur, wissenschaftlich erfassbar und ästhetisch nutzbar gemacht werden sollten, sie zu kontrollieren oder gegebenenfalls zu überwinden. Doch die Ambivalenz von Ekel und Lust ist ein Topos, der sich direkt auf die Kultur des fin de siècle und die Décadence beziehen lässt. Lange vor Kolnais Artikel hat dessen späterer Herausgeber Edmund Husserl in seiner phänomenologischen Ästhetik alle Möglichkeiten sinnlicher Wahrnehmung seiner universellen Erkenntnislehre ebenso einverleibt und untergeordnet, wie er den Begriff des ästhetischen Erlebens in den Fokus gerückt hat. In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 12.1.1907 geht Husserl sogar so weit, seine phänomenologische Methode des Schauens, mit dem Ziel der Erkenntnis, als verwandt mit dem »ästhetischen Schauen in reiner Kunst«104 einzustufen. Im Gegensatz zum Phänomenologen bestehe die Tätigkeit des Künstler in keinem Ergründen, sondern in einem intuitiven Aneignen des Sinns von Weltzusammenhängen. Berücksichtigt man diese phänomenologische Maßgabe, so wird Kolnais Aufsatz von 1929 lesbar als ein Resümee dessen, was die Ästheten der Dekadenz dazu getrieben haben könnte, die Grenzen des guten Geschmacks aus der inneren Notwendigkeit der künstlerischen Eigenwahrnehmung heraus zu durchbrechen. So schreibt bereits 1894 – noch vor Nordaus Entartung – Ottokar Stauf von der March in der Zeitschrift Die Gesellschaft polemisch über den Begriff der Décadence als »Herumtaumeln zwischen der modernen Skylla und Charybdis: Genuß und Ekel«, einem »fieberische[n] Tappen und Tasten«.105 Der Vorwurf der Geschmacks-

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Ebd., S. 529. Ebd., S. 527. Ebd., S. 531. Ebd., S. 545. Edmund Husserl, Arbeit an den Phänomenen. In: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von Bernhard Waldenfels. Frankfurt a. M. 1993, S. 120. 105 Zitiert nach: Jens Malte Fischer, Jahrhundertdämmerung. Ansichten eines anderen Fin de siècle, Wien 2000, S. 261. 101 102 103 104

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und Sinnesverwirrung und damit einer pathologischen Prädisposition ist auch hier deutlich, und zur Beschreibung von kulturellen Merkmalen der Décadence werden bis Ende des 20. Jahrhunderts Symptome dafür diagnostiziert, dass die von Mallarmé und Hofmannsthal festgestellte Sinnkrise auch eine Krise der Sinne (und ihrer Verwirrung sowie nervösen Reizbarkeit) ist. Ermattung und Ekel sind gewiß wichtige Signaturen der Décadence. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, daß gerade die Décadence die Erkenntnis der menschlichen Seele, 106 die Fähigkeit der Selbstanalyse entscheidend vorangetrieben hat.

Für diese Weiterentwicklung der Selbstanalyse ist es regelrecht erforderlich, die Grenzen und individuell unterschiedlichen Übergänge zwischen Genuss, Überdruss und Überdrussekel künstlerisch auszuloten. Das Schwanken zwischen Genuss und Ekel zieht auch einen veränderten Umgang mit den ästhetischen Kategorien des Schönen und Hässlichen nach sich. Winfried Menninghaus verweist darauf, dass bereits seit dem 18. Jahrhundert Gefallen am Schönen und Missfallen des Hässlichen als Kategorien bei der Rezeption von Kunst nicht ausreichen. Menninghaus spricht daher bezüglich des Ekels von der Differenz und Vermischung von Lust und Unlust beim Rezipienten.107 Die Begeisterung in der fin de siècleKunst für den Verfall schließt analog die Ästhetisierung der Unvollkommenheit ihrer künstlerischen Vermittlungsinstanz ein, die im en abyme den gleichen VerfallsProzessen unterworfen ist: Der Künstler kann wie von Nietzsche proklamiert als Narr oder Satyr in Erscheinung treten. Zeichnet Mallarmé in Reaktion auf Nordaus Entartung das Bild eines Literaten, der auf den Ruinen vergangener Epochen neuen Prunk errichtet, so führt gerade Nietzsches Forderung nach grundsätzlicher Neuorientierung in ästhetischen und moralischen Fragen den Künstler in Versuchung, das übliche Regelwerk seiner Kunstform auf den Kopf zu stellen. Die Pathologisierung der Künstler um 1900 erfolgt nicht zuletzt dort, wo noch eine pejorativ moralisierende Einstufung des ästhetisch Hässlichen und des Ekelerregenden virulent ist. Die ästhetische Debatte bis hin zu Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen von 1852 belegt, sodass bis zu diesem Zeitpunkt das Hässliche meistens nicht als eigene Kategorie, sondern nur in Ableitung bzw. als Negierung der Kategorie des Schönen (und im Sinne des Guten und Wahren) verstanden wurde. Das Hässliche ist in der Kunst dort zulässig, wo es als ›Kontrastmittel‹ das Schöne umso heller erstrahlen lässt, insbesondere das Naturschöne, das im Übrigen noch bei Kant die Richtschnur für die Kunst und ihr höchstes Vermögen gewesen war, dass sie sogar die »Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt.«108 In Zuge des hegelschen Idealismus wird noch von Rosenkranz an einem Ausgleich zwischen den beiden Polen gearbeitet, einer Versöhnung objektiver und subjektiver Maßstäbe. Europaweit haben sich aber bereits um 1848 die ästhetischen Maßstäbe beträchtlich verschoben, die durch Mischkategorien wie die des Charakteristischen in der Romantik (bei Friedrich Schlegel) oder des Grotesken bei Victor Hugo zusätzlich aufgeweicht worden sind. Für die ästhetische Bewegung,

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Ebd., S. 281. Menninghaus, S. 55–58. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: ders., Werke in zwölf Bänden, Bd. 10, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 247.

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die sich, wie Ralph-Rainer Wuthenow es treffend formuliert hat, auf das Interieur verlagert, sind schließlich weder die Kategorien des Naturschönen noch die des Naturhässlichen (in mimetisch nachahmendem oder überhöhendem Sinne) länger eine Verpflichtung: Nachdem der Naturalismus die Repräsentation von Hässlichem und Ekelerregendem an den sozialen und moralischen Grundsatz gebunden hat, aufzurütteln und die Verhältnisse zu verbessern, macht die ästhetische Existenz »gerade als Negation des Faktischen ein positives Moment der gesellschaftlichen Entwicklung« fragwürdig:109 Schönheit, Natur und Moral stehen für »asoziale Ästheten« in keinem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis mehr.110 Nicht umsonst verstört Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray bis heute weniger dadurch, dass im welken und runzligen Körper von Dorian am Ende die einstige Schönheit seines Porträts von der ekelerregenden Realität hässlichen Verfalls eingeholt wird: Beide Erscheinungsbilder sind für sich genommen ›natürlich‹. Aber der Kontrast wird von Wilde quasi in der Rückbesinnung auf die Ästhetik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgereizt, um anhand dessen deutlich zu machen, wie vermessen der Protagonist seiner Romanhandlung versucht, alles ›Faktische‹ aus seinem Leben zu verbannen, was sich wiederholt in seinem Handeln äußert, neben den Spuren des eigenen Alterns auch die Leichen verschwinden zu lassen, die den Weg seines Abstiegs pflastern. So wird Basils Körper von einem durch Dorian unter Druck gesetzten, vormals befreundeten Wissenschaftler mit Namen Alan Campbell chemisch zersetzt, um alle Spuren der ekelhaften und vor allem ›verräterischen‹ Verwesung zu beseitigen. Dem Maler, der Dorian Gray einst schmerzlich auf die Verdammnis zum körperlichen Verfall aufmerksam gemacht hat (und damit ungewollt alles Übel auf den Weg gebracht hat), wird nicht einmal die Totenruhe zugestanden. Ein großes, spätes Auflodern der Diskussionen und Versuche, das Hässliche in der Kunst und, damit verbunden, eine Umwertung aller Werte im Sinne Nietzsches zu unterdrücken, ereignet sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in Wien, als Gustav Klimt und die Künstler der Wiener Sezession in die Öffentlichkeit drängen. Klimt und die Künstler der Sezession wenden sich genau gegen die akademische Hochkultur ihrer Zeit und ihre klassizistischen Normen. Gerade an Klimts Entwurf für die Allegorie der Philosophie in den für die Wiener Universität geplanten Deckengemälden entzündet sich 1901 der öffentliche Disput. Biologische Begründungsmodelle für das Hässliche in einer natürlichen bzw. ästhetischen Ordnung werden von einem Fürsprecher Klimts aus der kunsthistorischen Wissenschaft, Franz Wickhoff (1853–1909), ausgearbeitet: »Was ist häßlich?« In einer unter diesem Titel in der Philosophischen Gesellschaft gehaltenen Vorlesung gab Wickhoff zu verstehen, daß die Vorstellung des Häßlichen tiefe biologisch-soziale Ursprünge hat, welche in Klimts Gegnern noch am Werke seien. Der Mensch der Urzeit sah jene Formen als häßlich an, die »für die Erhaltung der Art« schädlich seien. Der Mensch in geschichtlichen Zeiten hat diese Verbindung natürlich beibehalten. Solange die herrschenden Klassen und das Volk die gleichen ethischen und religiösen Ideale geteilt hatten, hatten sich Künstler und Auftraggeber zusammen in eine

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Seeba, S. 47. Ebd., S. 37.

Richtung bewegt und gemeinsam neue Konzeptionen des Natürlichen und neue Maßstäbe 111 des Schönen entwickelt.

Bei Wickhoff ist es (ähnlich wie bei Freud) eine primitive Urzeit mit Unterlegung sozialdarwinistischer Momente, die zur Erhellung des zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Horizonts des fin de siècle bemüht wird. Doch hat sich die neue Kultur der Unvollkommenheit gegenüber denen zu behaupten, die noch am Ideal der Vollkommenheit festhalten. 2.2.4 Vom pathologischen Selbst zum Selbsthass – Otto Weiningers Wagner-Kult im double bind der antisemitischen Stereotypen Das Vorwort zur erwähnten Neuauflage von Otto Ranks Der Künstler im Jahr 1925 nutzt der Verfasser vor allem zur Entschärfung einer Debatte aus der Vorkriegszeit, die sich mit dem Prinzip künstlerischer Sublimierung beschäftigt hat. Isidor Sadger hatte knapp 20 Jahre vorher im Zuge seiner Nachforschungen nicht nur auf die narzisstischen Züge Homosexueller verwiesen, sondern er ist es auch, der im Zuge seiner Arbeit psychoanalytisch an eine prekäre Debatte der 90er Jahre anknüpft, die Max Nordau mit seinem Buch Entartung 1892 zum Sieden gebracht hat: die Verknüpfung von Kunst und Pathologie. Der Künstler wird in diesen Untersuchungen zum Patienten, freilich in Abweichung zu Freuds Prämissen ohne Eigenbeteiligung an der Untersuchung und ohne Widerspruchsrecht, wie Edward Timms vermerkt: Hauptvertreter dieser Vorgehensweise war Isidor Sadger, der Pathographien über Conrad Ferdinand Meyer (1907), Nikolaus Lenau (1909) und Heinrich Kleist (1909) veröffentlichte. Wilhelm Stekel lieferte mit seinem Buch zum gleichen Thema, Dichtung und Neurose (1909), das ein Schlußkapitel über Grillparzer enthält, einen allgemeineren Beitrag. Max Graf veröffentlichte eine tiefenpsychologische Untersuchung über Richard 112 Wagner (1911).

Timms, der sich mit dem zwiespältigen Verhältnis von Karl Kraus zu Sigmund Freud (respektive der recht eindeutigen Position des Satirikers zu Freuds Schülern und quasi-ideologischen Verfechtern der Psychoanalyse) beschäftigt, versäumt es nicht, den Argwohn zu erwähnen, den Freud selbst solchen ›Studien‹ entgegenbrachte: »Das ist kaum überraschend, da Sadgers Verfahren den Freudschen ›Mutterkomplex‹ durch ›Erbmerkmale‹ verfälscht, die er von Möbius und Lombroso herleitet.«113 Das Spannungsfeld zwischen sozialen und biologischen Faktoren, die als potentielle Ursachen für psychische Prozesse und Störungen verantwortlich gemacht werden (sozial betrachtet in der Familie als Mikrostruktur der Mutterkomplex, biologisch Komponenten problematischer Vererbungslehren), wird an dem Beispiel Sadger ersichtlich und macht spürbar, wie stark der ästhetische Diskurs in diesen empfindlichen Punkten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit dem des Narzissmus und Selbsthasses verflochten wird.

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Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 21997, S. 222. Edward Timms, Karl Kraus, Frankfurt a. M. 1999, S. 159. Ebd., S. 160.

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Heute zählt erneut Otto F. Kernberg zu den Psychologen, die auf die sozialen Projektionsvorgänge verweisen, die narzisstischen Deformationen bis hin zum Selbsthass vorausgehen. Die bei Freud behandelte »Regulierung der Selbstachtung«,114 als Variante des Narzissmuskonzepts im klinischen Gebrauch, wird von Kernberg noch genauer ausgeführt und differenziert: Auf der Ebene metapsychologischer Formulierungen ziehe ich es vor, das ›Selbst‹ für eine Unterstruktur des System-Ichs zu halten, das die Integration der beteiligten Selbstbilder oder Selbstrepräsentanzen reflektiert, die sich im Laufe der realen und phantasierten Interaktionserlebnisse mit anderen – Objekten – entwickeln.

Bei der Therapie der narzisstischen Individualpsychologie werden so die sozialpsychologischen Faktoren bedeutsam, die in der Interaktion mit den Objekten das Selbstbild bis hin zur Allmachtsphantasie mitbestimmen. Nach Kernberg sind gerade Objektlibido und Selbstlibido eng aufeinander bezogen und durch Aggression auf die parallelen Besetzungen der Selbst- und Objektrepräsentanzen gerichtet. So fährt Kernberg fort: Ein gesundes Selbst integriert nicht nur libidinös besetzte, sondern auch aggressiv besetzte Selbstrepräsentanzen. Im Gegensatz dazu ist ein pathologisches Größen-Selbst, wie es die narzißtische Persönlichkeit kennzeichnet, zu einer solchen Integration aggressiv besetzter Selbstrepräsentanzen unfähig und versagt dementsprechend auch bei der Integration libi115 dinöser und aggressiv besetzter Objektrepräsentanzen.

Dass laut Kernberg im gesunden Selbst auch aggressiv besetzte Selbstrepräsentanten integriert werden, erscheint wiederum für den Selbsthass von Bedeutung, der sich dort einstellt, wo die den Allmachtsphantasien des narzisstischen Typs gegenüberstehenden, aggressiv besetzten Selbstrepräsentanzen ein negatives Zerrbild des Größen-Selbst ergeben, das entsprechend externalisiert, auf Distanz zum Größen-Selbst gerückt werden muss. Vorstellungen von Grandiosität werden von denen der Inferiorität abgelöst. So wie das Größen-Selbst an gesellschaftlich sanktionierten Idealisierungen ausgerichtet werden kann, wird der Selbsthass von Merkmalen genährt, die dem gesellschaftlichen Außenseiter zugeschrieben werden. Der Begriff Selbsthass fußt im Gegensatz zum Narzissmus nicht auf einer mythologischen Basis, sondern ist, was seine diskursive Genese und Relevanz anbelangt, auf sozialpsychologische abendländische Phänomene des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gemünzt, wie auch auf scheiternde Versuche der Anpassung von Randgruppen an die gesellschaftliche Mehrheit: Selbsthaß entsteht dadurch, daß die Außenseiter das Wahnbild von ihnen als Wirklichkeit annehmen, das jene in der Gesellschaft entwerfen, die die Außenseiter definieren, und auf die die Außenseiter sich beziehen. Diese Übernahme eines Wahnbildes liefert die Grundlage für die Mythenbildung, die dem Selbstbild jeder Gemeinschaft zugrunde liegt. Die illusionäre Definition des Selbst, die Identifikation mit dem Wahnbild der Bezugsgruppe vom Anderen, ist so wandelbar wie die veränderlichen Größen innerhalb der 116 Gruppe, die dem Außenseiter als homogene Machtgruppe erscheint.

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Otto F. Kernberg: Eine zeitgenössische Interpretation von »Zur Einführung des Narzißmus«. In: Über Freuds »Zur Einführung des Narzißmus«, S. 187. 115 Ebd. 116 Sander L. Gilman, Jüdischer Selbsthaß, Frankfurt a. M. 1993, S. 12.

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So beschreibt Sander L. Gilman die dem Selbsthass zugrunde liegende soziale Grundkonstellation. Auf perfide Weise paradox ist sie insofern, als dem Außenseiter vorgegaukelt wird, es gäbe eine Möglichkeit sich zu assimilieren, indem seine Andersartigkeit in der Übernahme des Selbstbildes der Gemeinschaft aufgelöst, ›getilgt‹ wird. Doch gerade aus der Unterscheidung und Benennung des Anderen gewinnt die Bezugsgruppe ihre Macht und Autorität, die sich aus einer immer genaueren Differenzierung von Merkmalen, die den Außenseiter an umso kleineren habituellen Details zu erkennen ermöglicht, je weiter er sich in seiner Assimilation dem idealen Selbstbild anzupassen versteht. Gilmans spezifischer Ansatz für das Phänomen des jüdischen Selbsthasses geht davon aus, dass jeder als Außenseiter Etikettierte – nicht ausschließlich das europäische Judentum – sich in einem sogenannten klassischen double bind befindet, ein Begriff, den Gilman auf eine gleichnamige Studie zurückführt,117 die von kommunikativen Strukturen in der Familie ausgeht, innerhalb derer Menschen in die existentielle Not der Entscheidung zwischen zwei für sie gleich attraktiven, aber kompromisslos einander ausschließenden Alternativen geraten.118 Der double bind ist gekennzeichnet von einem Hängenbleiben des um Anpassung an das Idealbild der dominierenden Gruppe Bemühten, zwischen der Verzweiflung über die immer minimaleren, aber umso unerbittlicher werdenden Unterscheidungskriterien und dem unerfüllbaren Wunsch, nie ›anders‹ gewesen zu sein. Der Selbsthass, und darin trifft sich Gilman mit seiner individual- und sozialpsychologisches Instrumentarium verbindenden Methode mit modernen Psychoanalytikern wie Kernberg, ist Ausdruck einer Persönlichkeitsspaltung. Gilman unterlegt dieser für den ›andersartigen Außenseiter‹ allerdings ein klar gesellschaftlich generiertes Fundament, indem ihm eine Verwechslung der »Trugbilder der Stereotypen mit der Wirklichkeit« abgenötigt wird, »der Wunsch, akzeptiert zu werden, die ›Einsicht‹ in die eigene ›Andersartigkeit‹ erzwingt.«119 Den jüdischen Selbsthass hat Gilman als eine Sonderform dieser sozialen Konfiguration untersucht und anhand konkreter historischer Manifestationen belegt, die im Zuge der Assimilationsbestrebungen des europäischen Judentums und in ihrem Scheitern seit der Aufklärung aufgetreten sind. Vor allem ist es aber die Sprache der Juden, der Gilman als Projektionsfläche der Hetero- wie auch möglicher Auto-Stereotypen des Antisemitismus nachspürt. Das Stereotyp einer geheimen und heuchlerischen jüdischen Sprache, der bisweilen überdies Qualitäten schwarzer Magie unterstellt werden, lässt sich seit dem frühen Christentum über die Reformation bis ins Zeitalter der Aufklärung verfolgen und gewinnt im 19. Jahrhundert unter der gemeinhin bekannten Etikettierung des ›Mauschelns‹ eine neue Dimension: nämlich die einer Anti-Kunstsprache, deren einzige Möglichkeit literarischer Äußerung in der Parodie besteht, wofür als prominentestes Beispiel der Schriftsteller Heinrich Heine ins Feld geführt wird, namhaft 1850 von Richard Wagner in seinem Pamphlet Das Judentum in der Musik, das er zu diesem Zeitpunkt

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Carlos E. Sluzki/Donald C. Ransom (Hg.), Double Bind. The Foundation of the Communicational Approach to the Family, New York 1976. Für Gilman relevant ist insbesondere das Kapitel von Jay Haley, Development of a Theory, S. 71f. 118 Gilman, S 43 (fn.). 119 Ebd., S. 15.

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unter dem Pseudonym K. Freigedank in der von Robert Schumann herausgegebenen Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlicht, um der Schmäh- und Schandrede 1869 unter seinem wirklichen Namen in einer eigenen Broschüre Nachdruck zu verleihen. »Der Jude« sei »an sich unfähig [...] sich uns künstlerisch kundzugeben«, wie Wagner festhält.120 Dass Juden dennoch europaweit künstlerische Erfolge feierten, ist laut Wagner auf ein kulturelles Missverständnis zurückzuführen: Jüdische Kunst sei vollkommenes Blendwerk und Ausdruck perfekter Verstellung, grundsätzlicher mimikry im Habitus. Wagner beschränkt sich nicht darauf, dies am Beispiel seiner Komponistenkollegen Mendelssohn und Meyerbeer belegen zu wollen, von denen er Letzteren als Opfer einer »Selbsttäuschung«121 anführt, was sich zynisch gelesen als eine Vorwegnahme jüdischen Selbsthasses deuten ließe. Wagner geht noch weiter, indem er Heine als »Dämon des Verneinens« die Qualität zubilligt, den literarischen Täuschungen und Lügen seiner Zeit einen Spiegel des Spotts vorgehalten zu haben, »bis auf den Punkt, wo er nun selbst wieder sich zum Dichter log, und dafür auch seine gedichteten Lügen von unsren Komponisten in Musik gesetzt erhielt.« Gilman hat dies als Verdammung »aller Komponisten, die Heines Gedichte vertonten«, gewertet.122 Dem ließe sich selbstverständlich entgegnen, dass Wagner neben seinen französischen Liedvertonungen vor allem mit dem Fliegenden Holländer, partiell auch im Tannhäuser auf Heine-Vorlagen zurückgegriffen hat. Sie stehen im krassen Gegensatz zur im Judentum in der Musik vorbereiteten und gleichzeitig mit der in seiner Erstpublikation von Oper und Drama energisch vorangetriebenen Selbststilisierung zum wahren Künstler und Begründer des Musikdramas, die Gilman zu Recht thematisiert, und innerhalb derer der von Jens Malte Fischer konstatierte ›Vatermord‹ am Förderer und anfänglichen Vorbild Meyerbeers zu sehen ist:123 umso bemerkenswerter, dass Wagner den Fliegenden Holländer nicht ins Bayreuther Programm aufgenommen hat und sein Künstlerdrama Tannhäuser, wie er kurz vor seinem Tod 1883, äußerte, noch einer Überarbeitung unterziehen wollte, jenes Stück, das es, wie von Gustave Le Bon konstatiert, zu einer herausragenden Stellung in der Kultur der Täuschungen gebracht hat, auf die die Massen so anfällig ansprächen. Nach Richard Wagners Theorie wird diese Kultur der Täuschung und Verstellung von den Juden beherrscht – und von Heine als einem in ihre Kunstfertigkeiten Eingeweihten entlarvt. »Er war das Gewissen des Judentums, wie das Judentum das üble Gewissen unsrer modernen Zivilisation ist.«124 Wagner selbst erlag indes 1861 in Paris der Selbsttäuschung, sein Misserfolg ginge auf das Konto einer von Meyerbeer manipulieren Presse.125 Beachtung gilt auch Gilmans These, Das Judentum in der Musik sei ein Versuch Wagners, Gerüchten über seine eigene jüdische Abstammung entgegen zu treten.126 Die Etikettierung des ›andersartigen‹ Juden überträgt Wagner nun auf die Ebene des

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Jens Malte Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«, Frankfurt a. M./ Leipzig 2000, S. 153. 121 Ebd., S. 169. 122 Gilman, S. 109. 123 Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«, S. 70ff. 124 Ebd., S. 173. 125 Ebd., S. 93. 126 Gilman, S. 110.

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›andersartigen‹ Künstlers, der er sich selbst im antisemitischen Ausbruch und in künstlerischer Selbststilisierung enthebt. Für Wagners weiteren Weg als Musikdramatiker ist es umso bedeutsamer, dass das Bild der genuinen, unverstellten Künstlerbegabung, das er für sich selbst entwirft, explizit Eingang in sein Werk findet, im Gegensatz zu den bis heute umstrittenen, weil von Wagner-Exegeten wie Marc Weiner als camoufliert eingestuften ›Judenfiguren‹, wie dem Merker Beckmesser in Wagners zweitem großen Künstlerdrama nach Tannhäuser, Die Meistersinger von Nürnberg. Lässt sich darüber diskutieren, ob Beckmessers missglücktes Ständchen im zweiten Aufzug der Oper kompositorisch eher Rossini-Koloraturen oder Synagogen-Gesang parodiert, so steht außer Frage, dass es, womöglich als ein Hybrid aus beidem, für das steht, was Wagner sowohl hinter dem einen als auch dem anderen Gesangsstil sah: eine gänzlich unkünstlerische Konstruktion, die sich im wort- und somit sinnlosen Verdoppeln und Kopieren einzelner Bausteine erschöpft. In Oper und Drama heißt es im Zuge der Schmähungen über Meyerbeer: »Was er daher von seinem Dichter verlangte, war gewissermaßen eine Inszenesetzung des berliozschen Orchesters, nur – wohlgemerkt! – mit demütigendster Herabstimmung desselben zur seichten Basis Rossinischer Gesangstriller und Fermaten – der ›dramatischen‹ Oper wegen.«127 Im Gegensatz zum wahren Künstler ist der ›Anti-Künstler‹ (in diesem Fall wieder Meyerbeer) Arrangeur von beliebig reproduzierbaren ästhetischen Mitteln, ganz wie sich der auf eine mechanistische Weltsicht geeichte Jude am besten in einer Welt maschineller Reproduktion aller materiellen Werte zurechtfindet, so Wagners proto-rassistische These im Judentum der Musik.128 Doch sei ihm in den Ruinen des bürgerlichen Christentums auch kein Widerstand entgegengebracht worden, bis eben Wagner die Rückführung der abendländischen Kultur an ihre Ursprünge im antiken Theater und im (nicht nur christlichen) Glauben an eine unzerstörbare Individualität, anstrebt. Dies ermögliche das MusikDrama in seiner Vermittlung von Verstand und Gefühl durch die Tonsprache. Unter Vernachlässigung des Antisemitismus, ein halbes Jahrhundert nach Wagners Erstpublikation von Das Judentum in der Musik und Oper und Drama, üben Wagners poetologische Forderungen nach einem originär schöpferischen Genie für die dramatische Kunst anstelle der bloß nachahmenden Epigonen, am Beispiel Mallarmés und Gides nachgewiesen, auf Künstler und Intellektuelle, die sich an verbrauchten Bausteinen aus dem Fundus der Ästhetik und der Poetologie abmühen müssen, neue Faszination aus. Hierin trifft sich mehr als ein halbes Jahrhundert später Gides Theatertheorie mit Wagners Konzeption, nämlich indem der Dramatiker sich und seine Charaktere mit neuen Regeln zu versehen und zu beschränken habe, um zu neuen Ufern menschlicher Moral aufzubrechen, nach dem Vorbild der Auseinandersetzung mit dem Religiösen. Für Wagner war das Christentum für die Verdrängung der ursprünglichen Mythen der Völker verantwortlich: die christliche Kirche erzwang die Nivellierung, wie sie Gide als Begrifflichkeit von Kierkegaard entlehnen wird: »alle Kundgebungen des Lebens

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Richard Wagner, Oper und Drama, hg. und kommentiert von Klaus Kropfinger, Stuttgart, S. 100. 128 Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«, S. 146f.

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sollten in sie, als den Mittelpunkt des Lebens auslaufen.«129 Gide formuliert es bei seiner Forderung nach Charakteren so: »Qui dit drame, dit: caractère, et le christianisme s’oppose aux caractères, proposant à chaque homme un idéal commun.«130 Der Charakter wird nach Gides Theorie, wie bereits gemäß der Forderung nach freier Selbstbestimmung des Individuums in Wagners Oper und Drama, zur Möglichkeit gesellschaftlicher Selbstentgrenzung: er negiert ihre Gefahr der Nivellierung durch politische und religiöse Moral – dies jedoch nicht mit der zwangsläufigen Verdammnis zum Tode wie bei Wagner, und auch nicht im Sinne einer ›großen charismatischen Persönlichkeit‹, die noch im Scheitern ein Vorbild bleibt. Gide begreift die Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit menschlichen und individuellen Wissens als Chance, das »›offene Meer‹ Nietzsches« (»la ›pleine mer‹ dont parle Nietzsche«131) sehr frei nach der Fröhlichen Wissenschaft, anspielend auf den zu erweiternden Horizont des Theaters, aber auch seines Navigators, des Dramatikers. Das Bild ist das gleiche wie am Ende von Goethes Torquato Tasso, der Künstler wird zum Protagonisten eines Dramas, das sich um die Einsicht in die Grenzen seiner eigenen Individualität dreht. Eine biologisch determinierte künstlerische Unbegabtheit wie in Wagners Judentum in der Musik liegt Gide fern, Verhinderung künstlerischer Kreativität beruht auf Faktoren, die im Anti-Individualismus des Kulturbetriebes begründet liegen. Um diesem entgegenzuwirken, hält Gide in seinem Theaterkonzept für das frühe 20. Jahrhundert Mallarmés kritische Distanz gegenüber den immer weiter um sich greifenden Vervielfältigungsmöglichkeiten von Kunst aufrecht. Das Theater sollte eine Zufluchtsstätte für den Künstler sein, die sich der technischen Reproduzierbarkeit und Reduktion von Kunst auf einen Warenwert entzieht. Mallarmé (der dieses Phänomen im Verlagswesen und den Druckereien beobachtete) hat in Vorträgen und Artikeln wie La Musique et les lettres und in den letzten Jahren vor seinem Tod 1898 vor allem in den Essays unter der Rubrik Quant au livre eine medienästhetische Bestandsaufnahme für die Kultur des literarischen Lesens und Schreibens vorgenommen. An Wagner fasziniert Mallarmé wie auch seine Anhänger der synästhetische Aspekt einer direkten körperlichen Übertragung von akustischen und visuellen Reizen auf die Nerven des Rezipienten, die mehr erreicht als die bloße intellektuell-visuelle Vermittlung der Kunst über die Schriftzeichen. Die kultische Funktion des Theaters, in Abkehr von den Referenzmustern der Wirklichkeit im Naturalismus, bestimmt auch die Konzeption Mallarmés als Vorbereiter des symbolistischen Theaters, das durch André Antoine und sein Théâtre libre 1887 einen ersten Impuls erhält, vor allem aber 1893 im Théâtre de l’Œuvre durch Aurélien Lugné-Poe realisiert wird. Mallarmé motiviert diese Pioniere aber beileibe nicht zu einer grundsätzlichen Hinterfragung der dramatischen Form, trotz der symbolistischen »Zurückdrängung der Referenz auf die Wirklichkeit«132. Diese bedeutet primär die Reduktion und Befreiung von unreflektiert übernommenen Konventionen. 1891 untermauert Mallarmé in einem aus Material früherer Jahre zusammengefügten Artikel, Le Genre ou des modernes,

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Wagner, Oper und Drama, S. 174. Gide, De l’Évolution du théâtre, S. 440 und 1115 (fn. 18). Ebd., S. 443. Bettina Rommel, Erläuterungen zu Mallarmé, Kritische Schriften, S. 361.

lediglich den Anspruch, jene Mechanik dramatischer Handlungsabläufe abzuschaffen, die beispielsweise die Dramatik Zolas beherrsche. »Die durch die moderne Zivilisation auferlegte Selbstkontrolle macht die Tragödie noch dort unmöglich, wo das Zolasche Theater sie zitiert.«133 Als Beispiel dient Mallarmé Zolas eigene Romanadaption von La Curée für die Bühne, unter dem Titel Renée, die Mallarmé als Paradigma von Untauglichkeit moderner Romane für die Bühne anführt, in denen die neurotische Psychologie an die Stelle dramatischer Konflikte tritt. »Voilà une théorie tragique actuelle ou, pour mieux dire, la dernière: le drame, latent, ne se manifeste que par une déchirure affirmant l’irréductibilité de nos instincts.«134 Mit der Unbeugsamkeit der Triebe ist nicht nur das Individuum, sondern auch der Intellekt ins Hintertreffen geraten: schlechte Voraussetzungen für einen Ausgleich zwischen Verstand und Gefühl, den Wagner noch einforderte. Die Herausforderung des Literaten, das ›Drama‹ des Künstlers bestünde nach Mallarmé somit darin, Metaphysik aus der Materialität der Zeichen zu ›destillieren‹, einerseits aus der Schrift und den Wegen ihrer neuen medialen Verbreitung zum Trotz, andererseits mit den Mitteln reduzierter dramatischer Repräsentation. Zu diesem Zweck müssten Theater-Konventionen und eine vorherrschende Skepsis gegen das Metaphysische überwunden werden, die den Möglichkeiten des Theaters nicht gerecht wird, denn: »vous vous implanterez, au théâtre, avec plus de vraisemblance les paradis, qu’un salon.«135 Wie im Falle seiner Erwiderung auf Nordaus KünstlerPolemik ist Mallarmé ganz am Puls der Zeit, die nicht nur in der Literatur und auf der Bühne von Theorien erschüttert wird, nach denen das Subjekt nicht mehr als die Summe seiner Triebe wäre. 1885 stellt in seinen Antimetaphysischen Vorbemerkungen der später (ab 1895) als Professor in Wien tätige Physiker Ernst Mach zentrale Wertsetzungen und Ideale des Abendlandes in Frage, indem er das Ich zu einer instabilen Größe erklärte, die sich aus unterschiedlichen energetisch mess- und beliebig übertragbaren Elementen konstituiere, einerseits rationeller Natur, wie Erinnerungen, andererseits (überwiegend) emotionaler Natur, aus Stimmungen, Trieben und anderen Formen des Begehrens. Für eine Kontinuität des Individuums, gar im transzendentalen Sinne, gibt es in Machs System keinen Platz, da das Ich bereits im Leben ständigen Korrekturen unterzogen wird: »Das Ich ist so wenig absolut beständig wie der Körper. Was wir am Tod so sehr fürchten, die Vernichtung der Beständigkeit, das tritt im Leben schon in reichlichem Maße ein.«136 Die Expertisen des Empirikers Mach wären für die Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts vielleicht weniger bedeutungsvoll, wenn ihnen zu entgegnen nicht Otto Weininger auf den Plan treten würde: Seine Theorien verschaffen dem Bild des Künstlers als ›Handwerker der Metaphysik‹ und dazu seiner pathologischen, in Anlehnung an Wagner antisemitischen Verzerrung neue Resonanz – und fügen ihm mit dem Anti-Feminismus noch eine neue akute Nuance hinzu. Weininger bezieht Stellung gegen die antimetaphysische Haltung Ernst Machs und

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Ebd. Mallarmé, Crayonné au Théâtre. In: ders., Kritische Schriften, S. 208. Ebd., S. 202. Ernst Mach, Antimetaphysische Vorbemerkungen, zitiert nach: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne, Stuttgart 1981, S. 138.

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erhebt Einspruch gegen den »Wartesaal der Empfindungen«, als den er Machs Ich bezeichnet.137 Das Diktum Machs, das Ich sei »unrettbar«, hat in Wien bereits die Runde gemacht und heftige Diskussionen ausgelöst; Weininger trachtet danach, Machs »Positivismus«, der »unter den prägnanten Formeln ›unrettbares‹ Ich und ›Wertverlust‹ popularisiert wurde«,138 mit seinen psychologischen Forschungsergebnissen zur Individuation zu widerlegen. Doch der »jüdische Selbsthass« wird zur Barriere, an der Weininger auf seinem eigenen individuellen Lebensweg zerbricht. Weiningers Hauptwerk Geschlecht und Charakter ist gleichzeitig ein Kulminationspunkt der Krise des Individuums, die um 1900 das Denken der Intellektuellen, vor allem in Wien, aber auch im restlichen Europa erfasst hat. Doch erst mehrere soziologische Faktoren addieren sich zu diesem Selbsthass, der die spezifische Assimilation jüdischer Bürger in der Donaumonarchie ad absurdum führt. Weininger rückt so in direkte Opposition zum aufkeimenden Zionismus, wie Michael Pollak meint: »Bei Herzl ist es der zu schaffende Staat, bei Weininger nimmt die Sehnsucht den Weg der Anpassung an die Ideen, die die aufstrebende Macht verkörpern.«139 Der österreichische Staat verhindere die Durchsetzung dieser Ideen; sie werden von den assimilierten Juden, gegen die sich der ›Selbsthass‹ eigentlich richtet, unterdrückt, die »kraft dieser bequemen Position die soziale Realität verdrängen, verklären oder als Gesellschaftsspiel darstellen konnten.«140 Um dieses ›Spiel‹ offenzulegen, kann Weininger auf die Form der Kultur-, Kunstund schließlich auch antisemitischen Künstlerkritik zurückgreifen, die Wagner Jahrzehnte vorher etabliert hat, freilich ohne wie Wagner bei der Erstveröffentlichung seines Pamphlets damit eine eigene künstlerische Programmatik etablieren zu wollen. Er bedient sich aber Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk und des dazu aufgebauten Gegensatzes im »zerfasernden« Kunstschaffen der Juden, um zu einem verallgemeinernden Rückschluss über die jüdische Denkweise zu kommen, die biologisch betrachtet aus der Ähnlichkeit mit der Frau begründbar sein soll: Jeder sich der Ausschweifung hingebende Mann habe etwas Jüdisches an sich, denn die Sexualität sei das natürliche Element des Juden. Er habe keine Seele und kenne kein Bedürfnis nach Unsterblichkeit. Da er selbst kein »Mikrokosmus« sei, verstehe er nichts von der Natur und neige spontan zu materialistischen Reduktionen. Die jüdische Wissenschaft zerlege, analysiere und zerstöre, was sie berühre. Es gebe kein jüdisches 141 Genie.

Zeitgenössische Zielscheibe von Weiningers Antisemitismus ist wie bei Wagner eine ganz spezielle soziale Gruppierung im Wien der Jahrhundertwende, was Michael Pollak anhand von Weiningers These belegt, der Zionismus müsse aufgrund des Umstandes scheitern, dass ›der Jude‹ per se der »ungläubige Mensch«142 sei:

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Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, Wien 1903 (Reprint München 1980), S. 198f. Jacques Le Rider, Nachwort zum Fall Weininger. In: ders./Norbert Leser (Hg.), Otto Weininger. Werk und Wirkung, Wien 1984, S. 104. 139 Michael Pollak, Otto Weiningers Antisemitismus. In: Le Rider/Leser, S. 117. 140 Ebd. 141 Jacques Le Rider, Der Fall Otto Weininger, Wien/München 1985, S. 195. 142 Weininger, S. 430. 138

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Es genügt, »Jude« durch »Intellektueller« oder »Literat« zu ersetzen, und wir haben in diesen Zitaten alle Gemeinplätze einer konservativen moralisierenden Kritik der nutzlosen, frivolen, zersetzenden, kritischen Geister, denen es auf Grund ihres Sprachgeschicks gelingt nie zu einer Meinung stehen, geschweige denn für sie einstehen zu müssen. Weiningers Abscheu gegen das Jüdische ist zuallererst ein Abscheu gegen das 143 Literatenmilieu: »Jüdisch ist der Geist der Modernität.«

Dass Richard Wagners antisemitische Attacke 1850 eher die Züge einer Reaktion auf das bereits angeheizte Klima darstellt, dann aber bei der Wiederveröffentlichung 1869 antisemitischen Hasspredigern wie Adolf Stoecker willkommene Argumente zuspielt, hat Jens Malte Fischer hinreichend belegt.144 Für den Diskurs über den Selbsthass des jüdischen wie des künstlerischen Außenseiters könnte ihre Bedeutung leicht unterschätzt werden, gäbe es nicht das Dokument der Wende zum 20. Jahrhundert, das den jüdischen Selbsthass als kulturgeschichtliches Phänomen greifbar werden lässt: eben Otto Weiningers Hauptwerk Geschlecht und Charakter, in dem sich jüdischer Selbsthass, Antisemitismus und Antifeminismus auf prekäre Weise miteinander verknüpft finden und bezüglich dessen Freud den Vorwurf nicht autorisierter Verwendung unveröffentlichter Forschungsergebnisse erhob.145 Gerade im Versuch einer wissenschaftlichen Abgrenzung der Geschlechter voneinander lassen sich weitere wichtige Indizien dafür sammeln, wie (vor allem von der männlichen Warte aus betrachtet Selbst-)Definitionen von Kreativität um 1900 an Brisanz gewinnen, die sich mit antisemitischen Diskursen über ein angebliches ›kreatives Unvermögen des Juden‹ überschneiden. Dem Versuch Weiningers, humanbiologische Erkenntnisse zur Sexualität mit denen geschlechtlicher Identität aus der Philosophie zu verbinden, bietet, wie Sander L. Gilman zeigt, der spezifische Sprachgebrauch von »Juden« und »Frauen« einen geeigneten ›diskursiven‹ Knotenpunkt: Sowohl aus der biologisch determinierten sexuellen ›Degeneriertheit‹ des Weibes wie des ›effeminierten‹ Juden resultiere ihr Hang zur ständigen sprachlichen Verstellung und Lüge. »Und dennoch seien die Juden weit schlimmer als die Frauen, sie hätten nämlich keinen ›Schwerpunkt‹«.146 Die beiden gemeinsame materialistische Gesinnung könne beim Weib jedoch im hörigen Glauben an den Mann oder das Kind, der Dualität von Hure und Mutter, immerhin noch eine Erlösung, eine auf männliche Vermittlung hin zumindest indirekte transzendentale Richtung erhalten. Dagegen sei in der dem Juden angeborenen Sprache erkennbar, dass sein Materialismus unüberwindbar bliebe. »Hier taucht Wagners Rhetorik wieder auf, mit ihrer Verbindung zwischen der Sprache der Juden und ihrer ›angeborenen‹ Unfähigkeit, sich ästhetisch anspruchsvoll auszudrücken.«147 Nur dass diese Rhetorik bei Weininger noch ausdrücklicher als bei Wagner auf eine Ästhetik zielt, deren Vermittler – die Künstler – wie ihre antisemitischen und antifeministischen Gegenbilder, bei analoger Konzeption materialistisch determiniert sind: Der prekäre Irrtum Weiningers liegt nun hierbei in seiner durch Lüge der Neo-Romantik Wagners, aus Nietzsche und Novalis gehobenen Idee des Geniekultes: Schließlich ist das

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Pollak, Otto Weiningers Antisemitismus, S. 119. Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«, S. 14 und 121ff. Michael Pollak, Wien 1900, Konstanz 1997, S. 249. Gilman, S. 156. Ebd., S. 157.

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Sakrament für ihn gerade nicht das Band »transzendentaler Liebe« [...] Vielmehr bleibt für Weininger das Erhabene als Symbol des »Jenseits von Gut und Böse« in bloß abstrakt innerlicher Einheit von Geschmack und Zeitgefühl, ohne die trivialen Bedürfnisse in die Erweiterung ihres dialogisch-zwischenmenschlichen Interesses herauszuheben und 148 gesellschaftsethisch zu konkretisieren.

Auf das Beispiel Richard Wagners bezieht sich Weininger ganz explizit in seinem Kapitel zum Judentum in Geschlecht und Charakter, und zwar als Paradigma eines Künstlers, der das Judentum, von dem »z.B. sein Jugendwerk der ›Rienzi‹, in seinem thematischen Materiale wie in der Ausführung, noch [...] nicht gänzlich frei« gewesen sei, in sich selbst überwinden hätte müssen, »um zur klaren Erkenntnis und Bejahung des anderen Poles in sich zu gelangen, zum Siegfried und Parsifal sich durchzuringen, und dem Germanentum den höchsten Ausdruck zu geben, den es wohl in der Geschichte gefunden hat.«149 An Stellen wie diesen wird überdeutlich, was Weininger unter Berufung auf antisemitische Autoren wie Houston Stewart Chamberlain meint, wenn er das »Judentum für eine Geisterrichtung, für eine psychische Konstitution« erklärt »,welche für alle Menschen eine Möglichkeit bildet, und im historischen Judentum bloß die grandioseste Verwirklichung gefunden hat.«150 Diese rassistische Psychopathologie Weiningers zielt auf einen Mangel an transzendentaler Veranlagung des Jüdischen ab, der in seiner Amoralität auch jeglichem Anflug von Kreativität entgegensteht. Letztendlich ist laut Weininger »der Religionsstifter der genialste Mensch. Denn er hat am meisten überwunden.«151 2.2.5 Unvermögen und Überwindung Dass sich Weininger 1903, nicht lange nach der Veröffentlichung von Geschlecht und Charakter, das Leben nimmt, trägt nicht unerheblich zur Ausprägung eines Mythos der untergehenden Donaumonarchie bei: eine ›hässliche‹, sich selbst hassende und zerstörerische Begabung, die das – eigene – ›effeminierte‹ Judentum sogar noch unter dem mit (haltlosen) biologischen Argumenten inferior eingestuften weiblichen Geschlecht ansiedelt; in Hinblick auf seine Unfähigkeit, schöpferisch tätig zu werden. Die Annahme Weiningers einer verweichlichten Geschlechtlichkeit, die mit kreativer Impotenz einhergeht, steht dem dichterischen Konzept André Gides vom androgynen Narziss in seinem Traité geradezu diametral gegenüber. Gide verschweißt wie erwähnt die Referenzen der Bibel, der antiken und nordischen Mythologie, lässt Narziss im Garten Eden einen Zweig von Ygdrasil und damit im Sündenfall brechen und in die Erkenntnis durch die Ordnung der Zeichen eingehen. Wie in Wagners Oper und Drama wird das Historische im vor- und überzeitlichen Mythos aufgelöst, die Erfahrung des Narziss zur Urerfahrung. Weininger fixiert seine Stereotypen wie Wagner in Das Judentum in der Musik anhand punktueller

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Michael Benedikt, Die Stellung Otto Weiningers im Rahmen der Geschichte der Philosophie. In: Le Rider/Leser, S. 156. Weininger, S. 408f. Ebd., S. 406. Ebd., S. 438.

Beobachtungen, die wahlweise in der Biologie, Psychologie oder dem Drama Wagners oder Ibsens gemacht werden. Weiningers Antifeminismus und Antisemitismus zeigen überdeutlich, um welchen Preis die Idealisierung eines Subjekts betrieben wird, gegen dessen Autorität jene Außenseiter und Randgruppen auf Distanz gerückt werden müssen, für die das Ideal ewig unerreichbar zu bleiben hat. Von diesem antiintellektuellen Selbsthass führt der Weg zur antiintellektuellen Selbstauflösung. Theodor Lessing greift Weiningers Thesen 1930 noch einmal auf und verarbeitet sie schriftstellerisch unter dem Titel Der jüdische Selbsthaß,152 »ein weitschweifiges, oft ungenaues Buch voll überraschenden Anekdoten, das im Berliner Jüdischen Verlag in einer Reihe erschien, die sich weitgehend zionistischen Ideen widmete«.153 Lessings Projektionen des Ostjudentums, an dem er eine heftige Ausprägung einer Veranlagung zu Heuchelei und maskenhafter Verstellung zu sehen glaubt ist, sind zugleich »[d]as beste Beispiel für den Wunsch, sich von einem Selbstverständnis zu distanzieren, das als nicht adäquat empfunden wird«154. Sie zeugen außerdem von der Desorientierung eines seinem Wunsch nach integrierten, sich seiner Identität bewussten, »›erneuerte[n]‹ Westjude[n]«155 – zu einem Zeitpunkt, als die Zeichen der Zeit gegen die Integration bereits auf Sturm stehen. Zu Lessings Sicht auf Weininger, in dem er ein pathologisches Extrem gescheiterter Assimilation sieht, findet sich noch eine Gegenperspektive. Bereits vom Jahr 1922 datiert aus einem von Gustav Krojanker herausgegebenen Buch mit dem Titel Juden in deutschen Literatur, ein weiterer Text über Otto Weininger, der die folgende spukhafte Erscheinung heraufbeschwört: »Die dämonische Erscheinung dieses Jünglings, des ruhelosen, feuerzerfressenen, von erdhassendem Ewigkeitshunger entkörperten hat etwas gespensterhaft Fremdes [...]«.156 Überaus kritisch sieht es der Verfasser dieser Zeilen (der mit Kafka befreundete Prager Schriftsteller und Musikkritiker Oskar Baum) dass Weininger »lächerlichste Verallgemeinerungen [...] als Beweise zusammenträgt: Der Jude singt nicht, er hat keinen Humor, man kann sich ihn nicht als Gentleman vorstellen, er ist sinnlicher, aber weniger potent.« Die Polarisierung in der Rezeption von Weiningers Thesen, wird durch Baums Schlussfolgerungen aber nicht aufgehoben, sondern noch zugespitzt: »Was er im Weibe, im Juden, im Bürger haßte, war in Wahrheit Europa, die Aussicht vom Gipfel des Kapitalismus, die seine Epoche bot.« 157 Weininger wird in dieser Argumentation zu einem Paradigma erhoben, bezeichnend »für eine gewisse Schicht des Westjudentums«, wie der Herausgeber Krojanker in einer Nachbemerkung zu Baums Text hinzufügt, die sich rationalistisch der Spiritualität des Ostjudentums verschließt.158 Obwohl er einräumt, das Weininger in einem literarhistorisch intendierten Sammelband eigentlich fehl am Platze sei, argumentiert Krojanker ebenso wie Baum, dass die westjüdische Denkweise und Rationalität

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Theodor Lessing, Der jüdische Selbsthaß, Berlin 1930 (Reprint München 1984). Le Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 204. Gilman, S. 228. Ebd., S. 230. Oskar Baum, Otto Weininger. In: Gustav Krojanker (Hg), Juden in der deutschen Literatur. Berlin 1922, S. 137. 157 Ebd., S. 130f. 158 Ebd., S. 138. 153 154 155 156

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Weiningers zugleich einen wesentlichen Teil des spezifisch ›Jüdischen‹ in der deutschen Literatur ausmache. Daran entzündet sich im Gegenzug die heftige Kritik an Krojankers Buch, die Otto Flake in der Weltbühne veröffentlich hat. Flake gilt zu dieser Zeit als vehementer Befürworter der jüdischen Assimilation, zehn Jahre bevor ihn seine Unterschrift unter eine Ergebenheitsadresse an Adolf Hitler in den Augen vieler Gegner des nationalsozialistischen Terrors diskreditiert. Nicht verschwiegen werden sollte allerdings, dass Flakes an anderer Stelle auftauchende Verwendung des »Rasse«-Begriffs überaus problematisch ist.159 Während er dem Herausgeber Krojanker unterstellt, »aus Neigung zum Zionismus«, das »spezifisch Jüdische«160 von der deutschen Literatur und Kultur trennen zu wollen, kommt Flake zu einem anderen Ergebnis: ich leugne nicht die Möglichkeit, spezifisch jüdische Elemente zu finden [...] Aber ich behaupte: sie sind, obwohl jüdisch, zugleich allgemein menschlich, und man kann ihnen nicht begegnen durch antisemitische Feststellungen, sondern durch Duldung und 161 Überwindung.

Weininger ist für Flake »als Kronzeuge gegen die Juden [...] unbrauchbar«, denn wenn es einen typisch jüdischen Charakterzug des Rationalismus geben sollte, so dürfe dieser nicht grundsätzlich die Kreativität beeinträchtigen, denn: »man darf dem Leben gegenüber nicht logisch-konsequent-rational sein, sondern muß seine Extreme überschweben.«162 Zu guter Letzt stellt Flake in Abrede, dass (wie es Wagner und Weininger getan haben) »Jüdisches« als Kriterium für künstlerische Begabung oder Unbegabung angeführt werden könnte: »Die jüdischen Nerven Mahlers zu empfinden, ist nicht schwer; aber in ein Urteil über seine Musik gehört der Begriff Jüdisch nicht, es ist nur nach der Leistung zu fragen.«163 Die gegensätzlichen Standpunkte in der Kontroverse, ob die jüdische Identität des Schöpfers bei der Kritik von Kunstwerken qualitative Urteile gestattet, untermauern Sander L. Gilmans Theorie zum double bind, die dem Selbsthass zugrunde liegt. Das Subjekt stehe vor zwei, gleichermaßen attraktiv erscheinenden Optionen der Selbstverwirklichung, die aber in keiner Weise miteinander vereinbar seien. Der Selbsthass heftet sich in einem Teufelskreis abwechselnd an die Projektionen, welche innerhalb der Gesellschaft zur Stigmatisierung von Außenseitern erzeugt werden, und die Eigenschaften, die zur Überwindung des Außenseiterstatus und zur Anpassung genutzt werden könnten. Der jüdische Selbsthass beinhaltet, seitens der häufig konvertierten jüdischen Bürger in Westeuropa, die Projektionen von Fremdheit und Zerrbildern der eigenen Gruppenzugehörigkeit auf die sogenannten Ostjuden. »Das deutsch-jüdische Bürgertum empfand diese in seiner überwiegenden Mehrheit als schmutzig, laut,

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Otto Flake, Antisemitismus und Zukunft. In: Martin Buber (Hg.), Der Jude, Sonderheft 1 (1925), S. 10–17. Hier versucht Flake beispielsweise durch die Argumentation Anerkennung auszudrücken, dass der Jude einer »Rasse« angehöre, »in der jeder Einzelne [...] mitleidlos gezwungen wird, sich durch Überlegenheit zu behaupten – durch Überlegenheit und Überlegung« (S. 16). 160 Otto Flake, Juden in der Literatur. In: Die Weltbühne, 19. Jahrgang, 12 (1923), S. 333. 161 Ebd., S. 336. 162 Ebd. 163 Ebd.

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roh, unsittlich und kulturell rückständig.«164 Die Beherrschung von Sprache und Kenntnis von Kultur des Abendlandes, unabdingbare Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zu diesem Lebensraum, wird den Ostjuden im Westen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht selten von Juden, die damit die eigene Stigmatisierung zu verdrängen suchen, abgesprochen. Diese Form des jüdischen Antisemitismus unterscheidet sich freilich noch von der Ausprägung eines Selbsthasses, der sich bis zur Autoaggression und Selbstzerstörung steigern kann; und zwar, wenn nicht mehr, wie bei West- und Ostjudentum, Stereotypen externalisiert werden, sondern sich der gesellschaftlich Gebrandmarkte psychisch selbst weiter stigmatisiert und quält. Doch zieht in Analogie zu Narziss, dem Jüngling aus der antiken Mythologie, auch der Selbsthass die fatale Erkenntnis des Individuums nach sich, dass aus der Übereinstimmung von betrachtendem Subjekt mit dem Objekt der Betrachtung die Unmöglichkeit eines Ausgleichs zwischen beiden folgt? Der jüdische Selbsthass schließt weder die Wandelbarkeit des Subjekts noch seines Selbstbildes aus; er mündet, bei aller Verzweiflung und den psychischen Qualen, die mit ihm verbunden sind, nicht zwangsläufig in Resignation und Stagnation. Am Vergleich zwischen dem psychologischen Schlüsselmoment der Konfrontation mit dem Spiegelbild und der gesellschaftlichen Konfiguration des double bind wird aber schnell klar, dass sich, je nach psychoanalytischer oder sozialwissenschaftlicher Herangehensweise und Instrumentarium, die Achse zwischen Individuum und den Bildern, die ihm Alternativen und Idealvorstellung von seiner Existenz ›vorspiegeln‹, verschiebt. Der Wagnerismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts und das von Weininger ausgelöste Wiederaufleben von Wagners antisemitischer Polemik (die den Vorwurf der Unkreativität einschließt), die einen Prototyp des Anti-Künstlers hervorgebracht haben, machen es deutlich: Die künstlerdramatischen Entwürfe des fin de siècle und des frühen 20. Jahrhunderts müssen sowohl für das Sprechtheater als auch für das Musiktheater beispielhaft betrachtet werden, wenn man der gegenseitigen Beeinflussung beider Gattungen in diesem Zeitraum gerecht werden will. Klar erkennbar ist auch, dass speziell Avantgardisten, wie die auszugsweise mit ihren theoretischen Schriften zur Diskussion gestellten Mallarmé und Gide, die Möglichkeit am Musikdrama faszinierte, durch einen großen – nicht zwangsläufig musikalischen – formalen Zusammenhang die punktuelle inhaltliche Krise des Künstlers zu überwinden. Die psychologische Ausdeutung der innovativen Formgebung, das Drama beispielsweise als Sprache des »Unbewussten« zu entschlüsseln, stellt insofern nur die Ausgangs- und Grundlage wieder her, unter denen Gide seine Traktate und seine dramatischen Entwürfe verfasst hat. Das heißt nun nicht, dass beispielsweise die psychoanalytische Terminologie von Grandiosität und Inferiorität des Künstlers als Bezugsraster für die Analyse eines Dramentextes um 1900 unbrauchbar wäre, im Gegenteil: Im Folgenden wird zum einen zu sehen sein, dass der Künstler in vielen Texten deutlich pathologische Züge trägt, häufig psychoanalytische Definitionen und Systematisierungen vorbereitend oder vorwegnehmend.

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Julius H. Schoeps, Deutschland seit 1871. In: ders./Elke-Vera Kotowski/Hiltrud Wallenborn (Hg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 1, Darmstadt 2001, S. 85.

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Zum anderen ist jedoch nachzuprüfen, ob sich, über die Individualpsychologie hinauszielend, Dramen finden, die über die künstlerische Biographie ein gesellschaftliches Muster entwerfen, in dem der Künstler nicht nach romantischem Vorbild an dem Widerstand der Gesellschaft oder seinen eigenen Ansprüchen scheitern muss. Nachgefragt: Bestünde demzufolge die Möglichkeit des Eingeständnisses der Unvollkommenheit, die aber kein ›Selbsthass‹ sein müsste, sondern nur kluge Selbstbescheidung? Diese kann natürlich nur aus einer Verkettung von soziologischen Faktoren resultieren, denen der Künstler ausgesetzt ist, und die bereits thematisiert worden sind. Die weiteren Diskurse der Zeit um 1900, deren Relevanz für das Drama, sowohl des Sprechtheaters als auch der Oper, nun an Beispielen nachgespürt werden muss, wären nun: (a) die Pathologisierung der Künstler-Figuren, die sich nicht a priori in der Figurenpsychologie manifestiert, sondern sich in dem gängigen biologischen décadence-Modell des körperlichen Verfalls und der Krankheit umgesetzt findet; (b) eine künstlerische Figurenpsychologie, in der das psychoanalytische Schema narzisstischer Grandiosität und Inferiorität keine hermetische Individual-Konzeption bleibt, sondern die durch soziale Außenfaktoren wie die double bind-Konstellation näher bestimmbar wird; (c) die Hinterfragung der künstlerischen Mittel, zumal des Dramatikers, bis hin zum Wahnbild völliger Unbegabung, vollkommenem Mangel an Kreativität und Vereinnahmung; (d) Künstlerfiguren, die außerhalb jeglicher Moralbegrifflichkeiten stehen oder gestellt werden, dabei aber nicht notwendigerweise unter die Gruppe der ›Unbegabten‹ fallen, sondern sich (e) entweder auf den ihre Epoche beherrschenden Materialismus einlassen (f) oder auf Kampfplätzen wie im ›Krieg der Geschlechter‹ und der grundsätzlichen Befehdung der Triebe Möglichkeiten einer erneuerten Sublimation anstreben. Erhöhte Aufmerksamkeit verdienen hierbei die Frauenfiguren, sei es mit den Künstlern interagierend, sei es selbst deren Rolle übernehmend. Angesichts der enormen Zäsur, die der Erste Weltkrieg für Künstler und Intellektuelle bei der Beurteilung ihres eigenen Stellenwertes gegenüber dem technischen wie medialen Fortschritt und der Macht der Politik bedeutete, soll Modifikationen von künstlerdramatischen Entwürfen der Zwischenkriegszeit im Vergleich zu den Jahren vor 1914 in einem abschließenden Teil gesondert Beachtung geschenkt werden. Die ›Infektionen‹, von denen die Pathologisierung wie die Heilungsgläubigen der Jahrhundertwende für den Künstler ausgingen, waren noch nicht verschwunden, zumal sie auf eine lange Inkubationszeit zurückgingen.

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3. Künstleroper und Künstlerdrama des fin de siècle

3.1 Fieber und Rausch – E. T. A. Hoffmann, Jacques Offenbach und Gustave Charpentier Die Goethe-Begeisterung André Gides ist im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts keine Ausnahme. Am 16. Februar 1892 erlebt die Oper Werther von Jules Massenet ihre Uraufführung, nicht in Frankreich, wie zu erwarten wäre, sondern an der Wiener Hofoper, dies allerdings aufgrund einer Brandkatastrophe an der Opéra Comique in Paris, an der das Werk fünf Jahre vorher bereits aufgeführt hätte werden sollen. Doch auch ohne Massenets gewichtigen Beitrag ist für die Oper im Frankreich des späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Faszination der Komponisten und Librettisten durch das Bild des Künstlers und seiner selbstzerstörerischen Energie quasi seismographisch messbar. Einen Ausgangspunkt nimmt diese Entwicklung schon am 10. Februar 1881 in der Opéra Comique (Salle Favart) mit der Uraufführung von Jacques Offenbachs Les Contes d’Hoffmann; doch die Vorlage zu dieser Oper, Jules Barbiers und Michel Carrés Theaterstück, hat bereits weitere 30 Jahre vorher Einzug auf den Pariser Boulevardbühnen gehalten, als die französische Begeisterung über den deutschen Meister der Schwarzen Romantik hohe Wellen schlug. Der kontinuierliche Abstieg Hoffmanns von Akt zu Akt bis in die Niederungen des 4. Aktes, wo Hoffmann beim Buhlen um die Kurtisane Giulietta in der venezianischen Halbwelt sein Spiegelbild verliert, bleibt bezeichnenderweise dem Publikum der posthumen Uraufführung von Offenbachs unvollendetem Opus magnum vorenthalten, indem der fragmentarische Akt aufgelöst und seine musikalischen Nummern auf Olympia- und Antonia-Akt verteilt werden. Damit ist eine Aufführungstradition begründet, die sich nicht nur auf Les Contes d’Hoffmann auswirkt. Anlässlich der Wiener Erstaufführung, ebenfalls 1881, schreibt Eduard Hanslick in seiner Kritik zur Streichung des GiuliettaAktes: »Die Grundlage dieser Oper ist nicht sowohl eine organisch entwickelte Handlung als ein Potpourri aus Hoffmannschen Erzählungen – Potpourris kann man aber beliebig um einige Szenen verlängern oder kürzen.« Da Hanslick das en abyme der Handlungsebenen nicht als Gestaltungsprinzip erkennt, erscheint es ihm an gleicher Stelle auch als Zufälligkeit, dass »gerade das Sprunghafte, Willkürliche in diesem Libretto, sein traumhaftes Durcheinander zwischen wirklichen Personen und gespenstischen Erscheinungen, die Stimmung Hoffmannscher Poesie merkwürdig widerspiegelt.«1 Nun ist diese Spiegelung gar nicht so merkwürdig, als vielmehr

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Eduard Hanslick, Aus dem Tagebuch eines Rezensenten, hg. von Peter Wapnewski, Kassel 1989, S. 133.

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leicht systematisierbar, genießt man im Gegensatz zu Hanslick die editorischen Kenntnisse des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Hinsichtlich dieser Fragestellung ist in Les Contes d´Hoffmann das Augenmerk besonders auf die Buffo-Tenorrollen zu richten, die in einem besonderen Verhältnis zu den Protagonisten stehen. Und das, obwohl sie dramaturgisch eigentlich die am wenigsten relevanten Figuren des Geschehens sind. Die Dienerfiguren in Les Contes d´Hoffmann werden häufig unterschätzt oder als buffoneske Ergänzung zu den anderen drei gebrochenen und »gerahmten« Figuren (Titelheld, Geliebte und Bösewichter) abgetan. Nur zu gern übersieht man dabei, dass die Defekte dieser Dienerfiguren stets diametral zur jeweiligen Geliebten Hoffmanns angeordnet sind, »als deren spiegelverkehrtes Zerrbild sie gelten können:«2 Der Uhrwerk-Präzision Olympias wird das Stottern, dem vollendeten Künstlertum Antonias die Unbegabung und der Erotik Giuliettas die Entstellung Pitichinaccios gegenübergestellt. Das hat Methode, erschöpft sich aber nicht in bloßem Schematismus. Nicht umsonst ist es am Ende des Giulietta-Aktes (nach letztem quellenphilologischen Stand) ausgerechnet dieser Krüppel, der Hoffmann und jeden anderen Liebhaber Giuliettas schon längst ausgestochen hat. Das Spektrum möglicher Interpretationen dieser Konfiguration (inklusive des Mordes Hoffmanns an Pitichinaccio) ist beträchtlich. Ist Giuliettas Liebhaber nun der Spiegel der verdorbenen Seele der Kurtisane oder derer Hoffmanns? Für welche dieser Möglichkeiten man sich auch entscheidet, hinter jeder dieser Optionen scheint das Prinzip der »›perversité naturelle‹«3 des Marquis de Sade zu lauern, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Entstehungszeit des Stücktextes von Les Contes d´Hoffmann in der französischen Literatur mit Baudelaire aktueller denn je wird. Die Kehrseite jeder Form von ästhetischer Erfahrung, Sinnlichkeit und erotischer Anziehung ist die Perversion, die in den persönlichen Abgründen eines jeden Individuums schlummert. Dem entspricht auch der Preis, den das ingeniöse Individuum zahlen muss, das sich zu sehr auf die Freiheit und Selbstentgrenzung im Rausch kapriziert. So singt Hoffmann im Refrain seines Trinkliedes im Giulietta-Akt: HOFFMANN:

Ah! Au diable celui qui pleure Pour deux beaux yeux! À nous l´ivresse meilleure Des chants joyeux! 4 Vivons une heure dans les cieux! Ah!

Aus dem Œuvre Hoffmanns gespeist, tritt hier ein wohlbekannter poetischer Narzissmus hervor – die weinenden Augen der Geliebten als Korrektiv der Selbstverliebtheit eines beziehungsunfähigen Dichters werden zugunsten eines Rausches ignoriert, wie ihn Charles Baudelaire zum obersten Prinzip erhoben hat:

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Gerhard Neumann, Der Erzählakt als Oper. In: Gabriele Brandstetter (Hg.), Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen. Regensburg 1988, S. 81. Sabine Kleine, Zur Ästhetik des Hässlichen. Von Sade bis Pasolini, Stuttgart/Weimar 1998, S. 26. Textzitat aus dem zweisprachigen Librettoabdruck in: Attila Csampai/Dietmar Holland (Hg.), Jacques Offenbach. Hoffmanns Erzählungen. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek 1984, S. 148.

Baudelaires Narzißmus verträgt sich nicht mit Entpersönlichung im Sinne einer Absehung von der eigenen Person. Alles bei ihm ist von Subjektivität geprägt: die Auswahl der Maleridole und Abneigungen und sein Schönheitsideal, in dessen Definition das Subjektivste, 5 die Gefühlswerte, die entscheidendste Rolle spielten.

Haben Barbier und Carré in Les Contes d’Hoffmann diesen narzisstischen dichterischen Bewältigungsakt der Angst des Künstlers vor dem eigenen Selbst zu einem die Handlung prägenden Prinzip ihres Stücktextes erhoben, so erhält er für die Oper erst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts adäquate Möglichkeiten der musikdramatischen Umsetzung, vor allem durch die Komponisten. 19 Jahre nach der Uraufführung von Les Contes d’Hoffmann kann der zu diesem Zeitpunkt 40-jährige Gustave Charpentier in seiner Erfolgsoper Louise, um beim Publikum den erfolgsträchtigen Effekt der Rührung wie der Empörung hervorzurufen, auf einen dramatischen Konflikt setzen, der in Barbiers und Carrés Dramenvorlage und Offenbachs Oper im sogenannten Antonia-Akt zwar angedeutet ist, aber in der kaleidoskopartigen Episodenhaftigkeit des Stückes eben nicht abendfüllend ausgestaltet wird: die Verweigerungshaltung des patriarchalischen Bürgertums gegenüber den aus seiner Perspektive korrumpierenden Liebesavancen und dem Werben der Künstler, die ihnen ihre Töchter zu verführen und zu entführen drohen. Es gilt für die Männer, über den natürlichen inneren Impuls der Frau, sich im (Bühnen-)Gesang auszuleben, zu gebieten und zu verfügen: Der Vater Crespel in Les Contes d’Hoffmann will ihn bei seiner Tochter Antonia hemmen und dauerhaft unterbinden, um nicht die gleiche tödliche Wirkung wie bei der verstorbenen Mutter des Mädchens zu riskieren, und sie zu Hause behalten. Hoffmann macht ihn sich als Inspirationsquelle und zur Befriedigung seiner eigenen Abenteuerlust zunutze, die durch die akute Bedrohung der Krankheit Antonias zwar gebremst wird, zugleich jedoch dem maskulinen Überlegenheitsgefühl des Beschützers Vorschub leistet. Der Figurant des ›Bösen‹ und Dämonischen in dieser Episode wiederum, Dr. Miracle, disponiert über alle drei Gewalten: In der idealisierten Mutter-Imago lässt er die bürgerlich-häusliche Abgeschlossenheit und den Sog nach außen zur Täuschung vereinbar erscheinen – und so die Falle der letalen Krankheit zuschnappen. Das Dispositiv des Pathologischen bestätigt damit die Differenz zwischen Bürgerlichkeit und Boheme in ihrer einerseits sesshaften, andererseits aufbrausend schwärmerischen Lebens- und Liebesweise. Es rührt aber nicht, wie bei Charpentier ein halbes bzw. Vierteljahrhundert später, an der materiellen Grundlage des ästhetischen Lebens. Denn in Louise stellt sich der Vater der Protagonistin ihrem Geliebten, dem Dichter Julien, der sie zwischenzeitlich in den als Sphäre zwischen Traum und Wirklichkeit durchtaumelten Montmartre gelockt hat, als schonungsloser Realist in den Weg, der sie aber nicht dauerhaft von den Verführungen dieser Boheme fernhalten kann, aus der sich Julien als Titelfigur der Fortsetzungsoper von einer Vorstellungswelt in die nächste halluziniert. Charpentier vervollständigt hiermit scheinbar, was Hector Berlioz im Programm seiner Symphonie fantastique und dem Hybrid aus Symphonie, Oratorium und Melodram Lélio 1830/31 umzusetzen versucht hat: den Balanceakt der genialen Begabung mit ihren Hoffnungen und Enttäuschungen seitens der öffentlichen Wahr-

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Horst Baader, Charles Baudelaire. In: Wolf-Dieter Lange (Hg.), Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 2, Heidelberg 1980, S. 140.

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nehmung in eine Form zu gießen, die das Fragmentarische, das sich in seiner Flüchtigkeit der Zuordnung konkreter Kategorien entzieht, zum Organisationsprinzip hat. Die realistischen Situationen im Libretto von Julien, aus denen sich die imaginierten Episoden entspinnen, wie etwa Juliens Aufenthalt als Rompreisgewinner in der Villa Medici oder wiederum im Montmartre – sie haben nichts mit dem Postkartenrealismus gemeinsam, den man aus Puccinis La bohème kennt und der im Übrigen recht wenig mit der Mitte des 19. Jahrhunderts breit rezipierten Romanvorlage Scènes de la vie de bohème von Henri Murger (und seiner eigenen Sprechtheateradaption 1849 gemeinsam mit Théodore Barrière) zu tun hat, die der Komponistenkollege Ruggero Leoncavallo sich bei der Adaption für seine Oper mit demselben Titel wie der Puccinis stärker zum Vorbild genommen hat (und damit nach zunächst positiverem Echo im direkten »Wettlauf« der ersten Aufführungen 1896/97 schließlich den Kürzeren zog). Bei Murger wie später bei Leoncavallo stehen die unglücklich endenden Liebesbeziehungen nicht im Zentrum von auf Rührung und Anteilnahme ausgerichteten Episoden; es dominiert die Milieustudie einer Gruppe von Clochards, deren Überlebenskünste angesichts der ständigen finanziellen Misere die Fähigkeiten in ihrer jeweiligen ästhetischen Disziplin schier übertreffen. Von Puccinis großem Erfolg lässt sich eher auf eine Naturalismusmüdigkeit als auf den Höhepunkt des Opernverismo schließen; insofern nämlich, als diese fiktiven Künstlerexistenzen in ihrer Verweigerungshaltung gegenüber einer politischen Aussage und Deutung, wie bereits zum Zeitpunkt der primären Rezeption nach den gescheiterten 1848er Revolutionen, auf der Opernbühne Ende des 19. Jahrhunderts den Geschmack der Massen treffen. Überdies hat Leoncavallo 1886 mit La Nuit de mai nach Alfred de Musset ein poème symphonique, »ein merkwürdiges Parallelwerk« zu Julien verfasst, das hinsichtlich seiner gattungstechnischen Hybridität ebenfalls an Berlioz erinnert, durch Charpentiers »pessimistische Interpretation der Künstlerexistenz [...] mit der allmählichen Destruktion der physischen Existenz des Dichters« jedoch bei weitem übertroffen wird.6 Die naturalistische Pointierung des Unterschiedes zwischen materiell abgesicherter Bürgerlichkeit und artistischem wie artifiziellem Agieren ohne Netz und doppelten Boden hat Gustave Charpentier in seiner Louise jedenfalls nach dem Vorbild Zolas am deutlichsten auf die Opernbühne zu übertragen versucht, wobei die Entscheidung als sein eigener Librettist für ein vom traditionellen Opern-Französisch abweichendes Volksidiom sein Übriges tat, um Charpentier nicht nur in den Augen seines Komponistenkollegen Camille Saint-Saëns zu diskreditieren, der 1912 gegen Charpentiers Aufnahme in die Academie des Beaux-Arts stimmte. Insofern kann man es wirklich als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass die langjährige Rezeption von Charpentiers Louise-Partitur »in der Tradition der Wolzogenschen Leitmotivtafeln für das Werk Wagners«7 den Blick auf den (dem Michail Bakunin nahestehenden Wagner der Revolution von 1848 hierin nicht unähnlichen) Anarchisten Charpentier verstellt hat, dessen Sozialkritik in den vergangenen Jahren Jane Fulcher und Steven Huebner in den Kontext der Dreyfus-Affäre gerückt haben. Wie ihr Schöpfer und Alter Ego zwischen den Stühlen wird dementsprechend die Opernfigur

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Jürgen Maehder, Der Künstler und die »ville-lumière«. In: Opernhaus Dortmund (Hg.), Programmheft zu Louise/Julien von Gustave Charpentier, 2000, S. 15. Ebd., S. 16.

Julien im zweiten Teil des Opern-Diptychons auf der Schwelle zum Tempel der Schönheit, wo er sich bereits zu Beginn des 1. Aktes von La Vie du poète befindet, vom Oberpriester wie Christus auf den Leidensweg eines verkannten Heilsbringers geschickt. Die folgenden beiden Mittelakte (der zweite und dritte) zeigen denn auch Juliens Reise durch eine kärgliche slawische Landschaft, wo den Dichter mit seiner idealistischen Verheißung des Paradieses der Fluch der arbeitenden Landbevölkerung (deren Elend von Generation zu Generation weitergegeben wird) trifft, sowie die Begegnung mit den ›Urmüttern‹ in der archaischen Bretagne, deren als unreflektiert dargestellter Marienkult Juliens nihilistisches Abfallen vom Glauben auslöst, nachdem er zuvor noch einmal mit dem von ihm entweihten Traumbild des unschuldigen Mädchens (Louise) zusammengetroffen ist. Ähnlich der Dramaturgie von Les Contes d’Hoffmann tritt im vierten und letzten Akt von La Vie du poète ein Figurant des Oberpriesters in Erscheinung, die hier in der Realität des Montmartre angekommen ist, wo er als Magier im Stile eines Schaustellers um zehn Centimes Eintritt die Schönheit anpreist. Der desillusionierte Julien bleibt schließlich allein auf sich gestellt und zwar nicht, weil sich ein grausames Schicksal seiner Liebe zur Bürgerstochter in den Weg stellen würde: Stattdessen ist es das auf die Flüchtigkeit des Augenblicks und sein traumhaftes Vorbeiziehen in einem Narrenzug (der konsequenterweise in einem Nachtwandler seinen König krönt) ausgerichtete Dasein im Montmartre selbst, das dem jungen Mädchen wie dem Dichter eine Perspektive dauerhaften Liebesglücks verweigert – im Verbund mit seiner dichterischen Kreativität und Inspiration. Im Prolog von Julien oder (wie der alternative Titel durchaus an Murger erinnernd lautet) La Vie du poète) befand sich Julien bereits in der Villa Medici; die in einem Alkoven auf dem Bett liegende Louise ist nur eine Erscheinung der in Paris zurückgebliebenen, die die Ausgangssituation, vom Geliebten durch die eifersüchtigste aller möglichen Nebenbuhlerinnen getrennt zu sein, auf den Punkt bringt: »C’est ainsi qu’il m’échappe aux heures de travail, quand se dresse entre nous l’œuvre, jalouse amante!«8 Dass Charpentier mit der Fortsetzung Julien nicht mehr den Anklang findet, den sein Welterfolg Louise beim Publikum gefunden hat, ist keineswegs damit begründbar, dass Charpentier schlichtweg sich selbst kopiert habe, um an die Popularität von Louise anknüpfen zu können. Vielmehr stellt Julien das genaue Gegenstück zum melodramatischen ersten Teil dar – ein düsteres Nachtstück, das einer Stilisierung des Montmartre die Wanderung durch die Finsternis entgegensetzt. Ein bereits im realistischeren ersten Teil im Unklaren gelassenes Detail wird in Julien regelrecht zum Sujet ausgebaut: nämlich die Selbstfindung einer Künstlerfigur, von der nicht klar ist, ob sie eigentlich zuallererst Dichter, Musiker oder wie in Louise eine ›ausführende Synthese‹ aus allem darstellen soll, da sie sich auch als Troubadour der eigenen Lyrik betätigt und verausgabt. Charpentier bezieht sich auf dramatische wie auch narrative Vorbilder. Stürzt Louise mit ihrem Finale die Hierarchie des bürgerlichen Trauerspiels um – der liebende Vater ist gegenüber dem Verführer der behüteten Tochter kein Retter oder Rächer, sondern eine hilflose, wenn auch fluchbereite Nemesis –, so sind in Julien Anleihen beim Stationendrama im Stile von Strindbergs Traumspiel, vor allem aber auch beim Bildungs- und Reiseroman vorhanden: nur dass die Reisen Juliens imaginäre sind, die wie die Karriere Werthers, wenn auch

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Gustave Charpentier, Julien ou La Vie du poète, Paris 1913 (Klavierauszug), S. 11.

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nicht tödlich, in der Kapitulation des Künstlers vor den Härten der Realität enden. Der Rausch, der toxische wie der erotische, als den Julien seine Leidenschaft für Louise erkennen muss, taugt Julien schließlich nur noch dazu, sich über die eigene viehische Niederträchtigkeit zu betäuben: »Bêtes, vivons comme des bêtes, sans évangile! Lâchons la bride aux appétits qui fermentent dans notre argile. Il n’y a plus nie Bien nie Mal! L’Homme est mort: vive l’Animal!«9 Mit diesen letzten Worten zieht Julien das Resümee seiner vorgestellten Reise. Anders als die Bildungsreisen der klassischen europäischen Bildungsromane, die mit der Reife des Protagonisten belohnt werden, bringt Juliens Weg (in anti-aufklärerischer Manier) die Erkenntnis der eigenen Unmündigkeit. Wie in Les Contes d’Hoffmann wird das in der Titelfigur verankerte Künstlerbild durch ein wesentliches Element geprägt: das des Rausches. Im Kontext der pathologischen narzisstischen Abwehrmechanismen, die auf eine defizitäre Integration von Ich und Ideal-Ich zurückzuführen sind, bemerkt Janine Chasseguet-Smirgel noch 1989: »Die Liebe und die Kunst stellen für uns den möglichen Balsam dar, den uns das Leben für die Wunden zur Verfügung stellt, die durch eine Trennung des Ichs und Ideal-Ichs entstanden sind.«10 Im Falle der Künstler-Opernfiguren Hoffmann und Julien stehen nun gerade Liebe und Kunst als Heilung dieser Wunden einander im Wege, sodass die unheilvolle kompensatorische Alternative dieser Heilmittel, die Chasseguet im Folgenden beschreibt, umso wirkungsloser erscheint: Es gibt aber auch viele pathologische Mittel, um dies zu erreichen – die Toxikomanie (das sog. ›künstliche Paradies‹), Delinquenz oder die Schaffung von Fälschungen, um nur einige zu nennen. In jedem Fall besteht das Ziel darin, [...] Konflikte und die Notwendigkeit, 11 sich zu entwickeln, zu vermeiden, indem alle Hindernisse umgangen werden.

Wenn die Ausübung der künstlerischen Berufung die gesellschaftliche Akzeptanz einer Liebesbeziehung behindert, oder das Ausleben der Liebe die Kreativität zu hemmen droht, gerät der Rausch des künstlichen Paradieses zu einer selbstbezogenen Straße ohne Wiederkehr. Der Tatbestand des Verfallenseins an ein Rauschmittel wurde oft vor dem Hintergrund der romantischen Suche nach der blauen Blume gesehen, die in ähnlicher Weise keine Ablenkungen, Kompromisse oder Zwischenlösungen duldet und von dem leidenschaftlichen 12 Gralsritter den äußersten Einsatz seiner Kräfte bis hin zur Selbstzerstörung fordert.

Diese Beobachtung lässt sich bis zur französischen Rezeption von E. T. A. Hoffmann verfolgen, dessen Leben und Schaffen besonders in Frankreich stark auf die Selbstentgrenzung des dichterischen Genies hin ausgelegt wurde, und die Ende des 19. Jahrhunderts in der Oper wiederaufgegriffen wird, auch als Reaktion auf die von Italien ausgehende veristische Opernästhetik. Gewinnen für den Mallarmé-Kreis Victor Hugo und Richard Wagner bei der künstlerischen Selbstdefinition im Verhältnis zum Publikum wieder an Bedeutung, so ist es die Wiederentdeckung von E. T. A. Hoffmanns Schwarzer Romantik, die den Künstler in rauschhafter Abschot-

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Ebd., S. 271f. Chasseguet-Smirgel, Das helle Antlitz des Narzißmus, S. 243. Ebd. Alexander Kupfer, Die künstlichen Paradiese, Stuttgart/Weimar 1996, S. 326.

tung und Rückzug in sich selbst für die Oper (wie in Charpentiers Julien) wieder relevant werden lässt: Der Alkohol- und Drogenrausch als Auslöser und Beförderer der künstlerischen Phantasie war bei den französischen Romantikern nicht nur verbreitete Praxis, sondern von Sémancours Rêveries (1798) über Berlioz’ Lélio (1831) und Balzacs Gambara (1837) bis zu Baudelaires Paradis artificiels (1860) auch beliebtes literarisches Thema, das mitunter nur andeutend, häufig aber ganz offen behandelt wurde. Die E. T. A. Hoffmann-Rezeption in Frankreich seit den späten zwanziger Jahren ist zumal in ihren modischen Auswüchsen von diesem Aspekt bestimmt. Der deutsche Dichter wurde als Paradigma einer romantischen Künstlerexistenz zur Kultfigur der literarischen Avantgarde, sein Werk zum esoterischen 13 Dokument einer Ästhetik des Rausches.

Diese Ästhetik des Rausches erweist sich in der Oper des fin de siècle als umso ergiebiger, je stärker sich Wagners Tristan und Isolde im Zuge des internationalen Wagnerismus durchsetzen kann und eine neue Generation von Komponisten dazu anspornt, an die im Tristan musikalisch singulär umgesetzten Sinnestaumel und -trübungen anzuknüpfen. (Es sei in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass der Tristan seine französische Erstaufführung erst 1893 in Monte Carlo erlebte, 28 Jahre nach der Uraufführung in München.) Berühmt ist Wagners eigene Äußerung zum Tristan in einem Brief an Franz Liszt aus Zürich im Dezember 1854, die in der totalen Identifikation des Künstlers mit seiner »Handlung«, wie die eigene Gattungsbezeichnung lautet, gipfelt: »Mit der ›schwarzen Flagge‹, die am Ende weht, will ich mich dann zudecken um – zu sterben. –«14 Dem Fieberwahn und der Todessehnsucht eines Tristan gemäß stilisiert Wagner zum Jahreswechsel 1854/55 auch in einem Brief an Emilie Ritter die eigenen körperlichen Gebrechen: »in Spezzia hatte hatte ich eine völlige Vision: im Zustande der grässlichsten Nervenleiden, [...] mein Pariser Aufenthalt war wieder ein wahnsinniges Fieber«15 Überhaupt ist das Fieber für Wagner, ähnlich wie die Krankheit im von Freud zitierten Schöpfungslied von Heine (vgl. S. 29), häufig einem kreativen Motor gleichzusetzen. So findet sich in Ein deutscher Musiker in Paris von 1840/41 folgende künstlerische Selbststilisierung bezüglich des Anfangs seiner Komponistenkarriere: Ich weiß nicht recht, wozu man mich eigentlich bestimmt hatte, nur entsinne ich mich, daß ich eines Abends zum ersten Male eine Beethoven’sche Symphonie aufführen hörte, daß ich darauf Fieber bekam, krank wurde, und als ich wieder genesen, Musiker geworden 16 war.

Doch gibt es zu diesem Fieber, das Kreativität freisetzt, das Gegenkonzept, das Wagner kurze Zeit später in einem Brief an Ferdinand Heine in Hinblick auf seinen Kollegen Hector Berlioz und dessen Probleme mit der französischen Musiktradition, formuliert: »Berlioz hat aber keinen Vorgänger, u. er ist zu einem ewigen Fieber

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Sieghart Döring, Zur dramaturgischen Konzeption von Offenbachs Les Contes d´Hoffmann. In: Brandstetter, S. 306. Richard Wagner, Sämtliche Briefe, hg. im Auftrage der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth von Hans-Joachim Bauer und Johannes Forner, Bd. 6, Leipzig 1986, S. 299. Ebd., S. 309. Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe, Bd. 1, Leipzig o. J., S. 91.

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verdammt.«17 Hier ist die Krankheit nicht der Katalysator in einem schöpferischen Vorgang, sondern ein Dauerzustand, der mangels geeigneter Vorbilder – wie Beethoven in der deutschen Musikgeschichte – in keiner Formgebung gebündelt und aufgehoben werden kann. Es finden sich in Wagners Schriften und Briefen immer wieder Stellen, an denen dieses Verständnis des Fiebers wiedererkennbar ist. Noch wichtiger ist aber, dass von diesem Konzept im Zuge der Wagner-Begeisterung des späten 19. Jahrhunderts eine große, ja mitunter ›infektiöse‹ Ausstrahlung ausgeht. Besonders für Wien benutzte bereits Gerald Stieg »den medizinischen Ausdruck bewußt, denn er gehört der geläufigen Metaphorik der Epoche an, und er enthält alle wortspielerischen Möglichkeiten (heil, Heil, heilen, Heil, heilig), die den Übergang vom Biologischen ins Religiöse gefördert haben.«18 Verweist Uwe Japp für Richard Wagners Meistersinger von Nürnberg in der Figur des Ritters Stolzing auf die »Koinzidenz von Dichter und Liebhaber«19, so gewinnt ab 1890 verstärkt die Koinzidenz eines romantischen Dichterideals, das im Minnesänger Tannhäuser und seinem Ringen um den Ausgleich zwischen geistiger und sexueller Liebe angelegt ist und mit Wagners fieberndem Tristan und wundem Gralskönig Amfortas radikalisiert wird, an Bedeutung: Beide werden im fin de siècle zu Figuren, welche die von vielen Künstlern und Literaten thematisierte Angst der Generation Stefan Zweigs, Gustav Mahlers und Arthur Schnitzlers im mittelalterlichen Gewand widerspiegeln, der Angst vor Infektion mit Geschlechtskrankheiten beim Ausleben eines mit dem Künstlertum einhergehenden erotomanischen Naturells.20 Der Tristan wird zu einem regelrechten Gradmesser künstlerischer Sensibilität und nervöser Überforderung. So beschreibt die ausgewiesene Tristan-Kennerin Alma Mahler-Werfel, geborene Schindler, den ›infektiösen‹ Ausgang der Versuche einer malerischen Umsetzung vom 3. Aufzug des Tristan durch den Bekannten Fernand Khnopff wie folgt: »Vor ein paar Jahren wollte er den III. Act Tristan in Farben übersetzen. Und bei der Arbeit überfiel ihn ein Nervenfieber, und er konnte das Bild nicht mehr sehen. So wahnsinnig in Leidenschaft war er.«21 Die Infizierung des Künstlers mit der von ihm selbst heraufbeschworenen Todessehnsucht steigert sich noch im Zuge der europaweiten Dekadenzliteratur. Wagners Musik wird dabei zu einer ganz anderen Vergleichsgröße, als sie Mallarmé im Sinne einer protostrukturalistischen Erneuerung des künstlerischen Form- und Materialverständnisses definieren wollte. Sie wird vielmehr zu einer Zustandsbeschreibung ständiger Auflösung und Todessehnsucht. So rückt Gabriele d’Annunzio in seinem Roman Trionfo della Morte von 1894 sein – seit seinem Artikel Il Caso Wagner, den D’Annunzio 1893 veröffentlicht hat und dessen Titel auf Nietzsches Der Fall Wagner von 1888/89 anspielt – janusköpfiges Wagner-Bild in den Mittelpunkt, indem das Vorspiel der Oper die Selbstmordidee der Roman-Hauptfigur Giorgio Aurispa reifen lässt, einer Todessehnsucht, die gegen das dionysische Prinzip des Schaffens aus Nietzsches Zarathustra letztlich die Oberhand gewinnt. Wo die Musik für Giorgio zum Katalysator seines gescheiterten ästhetischen Mystizis-

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Ebd., S. 465. Gerald Stieg, Otto Weiningers »Blendung«. In: Le Rider/Leser, S. 63. Japp, S. 107. Jens Malte Fischer, Gustav Mahler. Der fremde Vertraute, Wien 2003, S. 137f. Alma Mahler-Werfel, Tagebuch-Suiten, hg. von Antony Beaumont/Susanne RodeBreymann, Frankfurt a. M. 1997, S. 476 (16. März 1900).

mus werden soll, gibt sie stattdessen am Beispiel Tristans und Isoldes die Anregung zum Todessturz mit der Verführerin Ippolita. Doch wie D’Annunzio der zerstörerischen Leidenschaft, die von Tristan ausgeht, in Trionfo della Morte ein Denkmal setzt, so hinterlässt dieses Werk in seiner eigenen Künstlerexistenz ein ›Fieber‹, das ihn nicht freigibt. Er schreibt am 18. Juni 1902 an seinen Verleger Emilio Treves, über eine Aufführung des Tristan in Ravenna, wohin er eigens für die Vorstellung gereist ist: »Nota per nota, essa mi passava a traverso le vene e moltiplicava indefinitamente la mia potenza di vivere.«22 Die infektiöse Qualität von Wagners Tristan wirkt sich demzufolge auf D’Annunzio eher energiesteigernd aus, im Gegensatz zu seinem effeminierten Roman(anti)helden Giorgio, der auch in seinen künstlerischen Ambitionen keine Erfüllung findet. Ganz in Analogie zu Wagners Kunst- und Künstlertheorie entwickelt sich in D’Annunzios Schaffen die Selbststilisierung eines Ästheten, dem in seiner Todessehnsucht bei Konfrontation mit dem vollendeten Kunstwerk nur noch die Selbstzerstörung bleibt – im Gegensatz zu dem, dessen Energien Note für Note noch gesteigert werden.

3.2 Sarah Bernhardt im Kontext der Neo-Romantik Dass die Faszination, die das Thema der Selbstzerstörung auf Künstler ausübt, zur Neuinterpretation und Adaption bewährter Sujets der Literatur- und Theatergeschichte anregt, wirkt sich international auch auf die Stoffwahl der Dramatiker des fin de siècle aus. Epochen wie beispielsweise das romantisierte Mittelalter werden in einem neuen Licht gesehen und als setting herangezogen. Doch wie im Tristan das Rollenkonzept des Lebensüberdrusses mit den Sängerdarstellern steht und fällt, sind es auch die großen Schauspielerpersönlichkeiten des fin de siècle, die diese Mode mitbestimmen und tragen. Eine von ihnen, Sarah Bernhardt sonnt sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts immer noch im Zenit ihrer Popularität, zu dem sie gut 20 Jahre vorher ihre ersten Schritte des Anstiegs unternommen hat, seitdem sie 1862–1863 ihre ersten Gastspiele an der Comédie Française gegeben und 1866 am Pariser Odéon ihr erstes festes Engagement angetreten hatte. Die körperliche Erscheinung und Ausstrahlung der Bernhardt haben ihr bekanntermaßen den Ruf einer vampirischen femme fatale eingebracht, der vor allem in Oscar Wildes Salomé zur Geltung kommt. Nicht nur die Überprüfung von Mythen der Bibel, der Antike oder des Mittelalters auf Selbstwertgefühl und -wahrnehmung des Individuums entwikkeln für die Theaterschaffenden der Jahrhundertwende eine große Faszination; auch Vorlagen aus weniger weit zurückliegenden Epochen werden für die Bühne entdeckt. Und auch nach 1900 geht Sarah Bernhardt, die bereits 1899 mit ihrer Darstellung der Titelrolle in Hamlet Diskussionen auslöst, das Wagnis ein, einen weiteren männlichen Protagonisten zu verkörpern, nämlich den Werther. In ihrem Theater spielt sie 1904 den unglücklich Verliebten, der sich das Leben nimmt. Sarah Bernhardt tritt diese Aufgabe mit Voraussetzungen an, die so keine europäische Schauspielerin, auch nicht die Duse erfüllt. Ihre Auftritte als Hamlet gelten im viktorianischen England noch keineswegs als außergewöhnlich, da sich zum Zeitpunkt ihrer Auftritte in London bereits einige Diven mit Erfolg an der Rolle des

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Gabriele d’Annunzio, Lettere ai Treves, hg. von Gianni Oliva, Mailand 1999, S. 235.

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Dänenprinzen versucht haben. Doch erhält die Bernhardt ihren singulären Status durch ein aggressives Auftreten und eine Bühnenpräsenz, die von Zeitzeugen als geradezu ›hypnotisch‹ geschildert, von Oscar Wilde in einem der Bernhardt gewidmeten Gedicht als vampirisch beschworen und in ihrem ›monströsen Egoismus‹ durch George Bernard Shaw gerade vom einfühlsam menschlichen Stil der Duse scharf abgegrenzt wird. Max Beerbohm dagegen sieht hinter dem Stil der Duse ebenfalls eine große egoistische Triebkraft am Wirken, die er einem Mann zubilligen würde, bei einer Frau aber ablehnt.23 Der Pariser Werther von 1904 ist somit Höhepunkt einer mittelfristigen Entwicklung: Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts rückt die Bernhardt mehr und mehr in den Status einer Verkörperung von Todestrieb und Selbstzerstörung, der viele ihrer Bewunderer aus dem Theater- und übergreifenden Kulturleben mit ihr verbindet. Eine Statistik von Holbrook Jackson verleitete Mario Praz 1930 sogar zu der These: »Die Sterblichkeitsstatistik der Décadents würde ebensoviel frühzeitige Todesfälle ergeben wie ein Jahrhundert zuvor im Sturm und Drang.«24 Schritte auf dem Weg zur Nekrophilie der Künstlerfigur Werther hatte die Bernhardt bereits seit 1895 mit Hilfe von Stückvorlagen eines Dramatikers vollzogen, der mit seinem Cyrano de Bergerac später Weltruhm erreichen sollte – Edmond Rostand. Und während die Bernhardt als Werther selbst in die Rolle des todessehnsüchtigen Künstlers schlüpft, hat sie knapp zehn Jahre vorher die Muse für einen solchen gemimt. Für La Princesse lointaine hat die ›tristaneske‹ Epoche den idealen Handlungsrahmen abgegeben, innerhalb dessen die Bernhardt nur ein exotischmittelalterliches Kostüm anlegen konnte, das sich ein Jahr später umso einfacher durch das exotisch-biblische der Salomé ablösen ließ. Bis auf den Exotismus haben die Stücke Wildes und Rostands allerdings wenig gemeinsam, denn die Geschichte der Princesse lointaine dreht sich nicht um die vergebliche Verführung eines heiligen Mannes, sondern um das freilich gleichermaßen tödliche Ende eines neuromantisch stilisierten Troubadours. Seine Minnelieder, in denen er die Unerfüllbarkeit der Liebe thematisiert, und jene Gesänge über ihn, die von seiner Überfahrt nach Tripoli im Jahr 1147 und der tödlichen Erkrankung handeln, machen die Form des Versdramas plausibel, für die sich Rostand entschieden hat. Bei Mallarmé gingen, wie erwähnt, mit Dichtern wie André Gide und Oscar Wilde wichtige Repräsentanten eines Ästhetizismus ein und aus, nach deren Programmatik die Realität von der Kunst zu beeinflussen ist und nicht umgekehrt. Der Dramatik der Jahrhundertwende eröffnen Zielsetzungen wie diese, sowie die anhaltende Begeisterung für die Ästhetik des Gesamtkunstwerks, Möglichkeiten einer Öffnung und Vermischung von Formprinzipien. Der klassizistische Geschmack dieser Epoche in Paris hält dennoch an und fordert zugleich immer wieder den avantgardistischen Ehrgeiz junger Dramatiker heraus; einen Anknüpfungspunkt bietet Mallarmés Verfahren in seinem Hérodiade-Fragment (das 1871 zum ersten Mal gedruckt vorliegt), dem (beim Publikum bekannten) mythologischen Hintergrund zum Trotz, im lyrischen Monolog die konventionell-dramatische zeitliche und dialogische Form aufzulösen. Dies bewegt Mallarmé letztendlich zu dem »Ent-

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Kerry Powell, Women and Victorian Theatre, Cambridge 1997, S. 15ff. 3 Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel, München 1988, S. 542 (fn.).

schluß, statt einer Tragödie ein Gedicht zu schreiben.«25 Ein Sprachstil, der Mallarmés oder Rimbauds Lyrik verpflichtet ist, trägt zu dieser Erweiterung, negativ ausgedrückt Aufweichung der dramatischen Form, maßgeblich bei. Die Mittelalter- und Renaissancemode der zweiten Romantik in England oder der deutschsprachigen Literaturzentren findet in Frankreich ihre Entsprechung in der Wiederbelebung des Versdramas, das auf den ersten Blick ganz der doctrine classique verpflichtet scheint. Die zunehmende Popularisierung archaischer Stoffe und Vorlagen unterstützt den medialen Charakter einer Dramatik, formal betrachtet neue Impulse für das Theater zu senden wie zu empfangen. Rostands Bezugnahme auf klassische und romantische Formen besteht, anders als die Charpentiers, weniger in einer (bei Letzterem ja eher brachial als subtil vorgenommenen) Umstülpung gewohnter Repräsentationsmodi; Rostands Dramen loten aus, inwieweit sich das Poetische vor einer tragisch bzw. tragikomisch nachgestalteten Künstlerbiographie als Widerstand behaupten kann, ohne die Tragik im Sublimen aufzuheben. Das en abyme ist hier allgegenwärtiges Gestaltungsprinzip, sei es in La Princesse lointaine, wo die tödliche Krankheit des Troubadours die Verlängerung seiner Reise zur fernen Geliebten – und damit die Motivation seiner Dichtung und Gesänge der Sehnsucht – zu ewiger Unerreichbarkeit ausweitet; oder sei es in Rostands berühmtestem Stück, Cyrano de Bergerac, wo der körperliche Makel des Titelhelden (seine übergroße Nase) dessen Selbstwertgefühl untergräbt, sein poetisches Genie aber bis zum Äußersten reizt und hervortreten lässt – (Dicht-)Kunst also als Hyper-Kompensation? 1897 erlebt die letztgenannte Komödie ihre Uraufführung, deren Erfolg bei einem breiten Publikum viele Jahre, bis zu den Filmadaptionen des 20. Jahrhunderts anhält, auch weil die Titelrolle des Cyrano die facettenreiche, Grenzen zwischen Komik und Tragik auslotende Fähigkeit zur psychologischen Charakterdarstellung sogenannter ›großer‹ Mimen herausfordert. Demgegenüber steht der artifizielle Aufbau und die Sprache des Stückes, die in den Adaptionen kaum noch eine Entsprechung finden. Bei Kritikern kam das Versdrama unter anderem aus diesem Grund seit seiner Uraufführung keineswegs nur gut an. Selbst als das Stück bereits ein fester Bestandteil des Repertoires ist, hält Paul Léautaud, jahrzehntelang einer der kritischsten Beobachter der Pariser Kulturszene, dem (nach seiner Meinung über den Cyrano de Bergerac allzu begeisterten) Publikumzuspruch entgegen: »Le théâtre en vers n’est pas la poésie.«26

3.3 Die Muse und der Troubadour – La Princesse lointaine (1895) Dem nicht nur von Paul Léautaud gescholtenen Edmond Rostand, 1868 in Marseille als Sohn eines Soziologen und Journalisten geboren, schaden, seitdem Sarah Bernhardt ihm den Weg zu seinem Durchbruch geebnet hat, alle kritischen Einwände wenig. Für die Bernhardt hat Rostand nach La Princesse lointaine von 1895 noch im Uraufführungsjahr des Cyrano ein zweites Drama mit dem Titel La Samaritaine

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Peter Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, Frankfurt a. M. 1992, S. 118. Paul Léautaud, Cyrano de Bergerac à la Comédie française. In: Nouvelle Revue Française, 1. Februar 1939, zitiert nach: Paul Léautaud, Œuvres, Paris 1988, S. 1710.

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verfasst. Vom jungen Dramatiker Edmond Rostand sind anfangs, als er seine Künste im ›Raubtierkäfig‹ der Bernhardt unter Beweis stellen darf, weder orientalisierende Erotik und Perversion noch schaurige Nacht- und Spukgestalten der Schwarzen Romantik zu erwarten, wohl aber ein Rückgriff auf Tendenzen der Romantik im Allgemeinen. Seinen Dramenerstling mit dem Titel Les Romantiques hat er 1891 bei der Comédie Française eingereicht (allerdings ohne damit berücksichtigt zu werden). Es handelt sich um eine Komödie, in der Rostand früh mit den dramaturgischen Ingredienzien arbeitet, die in ähnlicher Weise seine Bühnenerfolge bestimmen: zum einen mit dem Zitatcharakter von Figuren, Zeit und Ort des dramatischen Geschehens, den schon der Titel erwarten lässt, zum anderen mit dem doppelten Boden der inhaltlichen Strukturierung durch das Element der Täuschung, des Spiels im Spiel in der Handlung. Diese dreht sich um ein Liebespaar, das sich nach der gemeinsamen Lektüre dermaßen mit dem Titelpaar von Shakespeares Romeo und Julia identifiziert, dass dieses ›romantische‹ Lebensgefühl keinen Platz mehr für den realen Alltag zulässt. Diese Ausgangssituation, die auf die Fragestellung nach Risiken mangelnder ästhetischer Distanz und deren Notwendigkeit abzielt, ist nicht unbedingt typisch für eine neoromantische Komödie; sie verweist eher auf Lustpiele des 18. Jahrhunderts, so beispielsweise Pierre Marivaux oder, im internationalen Vergleich, Richard Brinsley Sheridan mit The Rivals oder The Duenna und dem dortigen Rückgriff auf den Spanish plot als beliebtes Genre der englischen Restaurationskomödie sich Les Romantiques mit ihren ›Mantel- und Degensequenzen‹ ebenfalls in Verbindung bringen lässt, in der eine der sentimentalen Lektüre verfallene junge Frau von einem analogen ›Defekt‹ kuriert werden muss. Allerdings bleibt dies hier noch das Problem einer einzelnen Figur. In der gemeinsamen Identifikation eines Liebespaares mit berühmten Idolen aus der Literatur übertreibt Rostand die Nebenwirkungen allzu emphatischer Lektüre noch zusätzlich und ironisiert sie en abyme: denn sie müssen kein tragisches Ende nehmen wie die aus Dantes Divina Commedia bekannte Figur der Francesca da Rimini. Diese lässt sich, während sie gemeinsam mit ihrem Geliebten Paolo die Liebesgeschichte von Lancelot und Guinevere nachliest, zum Ehebruch verführen, bei dem sie der Gatte (anders als der milde König Arthus) ertappt, erschlägt und so in den zweiten Kreis der Hölle versetzt. Den spezifischen Reiz seines Dramentextes Les Romantiques erreicht Rostand durch den Kunstgriff, dass – angeregt vom emotionalen Ausnahmezustand ihrer Kinder – die beiden Väter gegenseitigen Hass nach dem Vorbild der Capulets und Montagues vortäuschen. Sie wirken der Verwirrung von Lebenswirklichkeit und Fiktion also nicht mit rationalen Argumenten entgegen, sondern sie steigern sie durch ein Gauklerspiel noch. Erst nachdem sich die beiden Väter in die ästhetisierte Realitätswahrnehmung ihrer Kinder als Kunstfiguren eingefügt haben, eskaliert der eigentliche Konflikt in Rostands Les Romantiques: als nachträglich der faule Kulissenzauber einer simulierten Entführung, die der jugendliche Liebhaber vereitelt und damit die Versöhnung der Väter veranlasst zu haben glaubt, auffliegt, geraten die bürgerlichen Väter, ganz im Stile der romantischen Philisterkritik, angesichts der Kosten des von ihnen initiierten Spektakels und der Überspanntheit ihrer Kinder schließlich tatsächlich aneinander, und die Tochter Sylvette will den in seiner vermeintlichen Heroenehre bloßgestellten Bräutigam Percinet nicht mehr, der sich daraufhin zu echten Heldentaten in die weite Welt aufmacht. Eine weitere Maskerade ermöglicht das glückliche Ende: Der zuvor als Entführer engagierte (und endlich 68

das Salär der Väter einzustreichen gewillte) Schmierenkomödiant Straforel stellt Sylvette im Kostüm eines spanischen Marquis ein weiteres romantisches Abenteuer in Aussicht, um sie von ihren fixen Ideen zu guter Letzt schlagartig mit der Aussicht auf ein beschwerliches Zigeunerleben zu kurieren. Mit ähnlichen Erfahrungen kehrt auch Percinet nach Hause zurück, und die Komödie endet in konventioneller Harmonie. Eine ironisch überzeichnete deus ex machina-Konstruktion – etwa im Stile von Wildes The Importance of Being Earnest (1894, drei Jahre nach Les Romantiques geschrieben), in der die Figur des Jack tatsächlich noch zur Titelfigur des Earnest ›aufsteigt‹ und damit zumal die manische Fixierung der Gwendolyne auf diesen Namen bestehen bleibt – verwehrt der die Konventionen der pièce bien faite bedienende Rostand sich und seinen Romantiques. Wo bei Wilde die Maskerade als grundsätzliche soziale und kommunikative Umgangsform bloßgestellt wird, beharrt Rostand im Rahmen der Typenkomödie Les Romantiques noch auf der Inkompatibilität von utopischen Lebenskonzepten aus der Kunst und bürgerlicher Bequemlichkeit: Der Bürger ist nicht zum Zigeuner, zum Bohemien geboren, bezieht man diesen Begriff entsprechend der Bezeichnung für fahrendes, nicht sesshaftes Volkes auf seine Ursprünge zurück.27 Die Typisierung der Figuren kommt dieser sanften Gesellschaftskritik entgegen und beschränkt zugleich die Möglichkeiten (oder Notwendigkeiten) auf ein Minimum, individuelle Unterschiede hinsichtlich des Willens zur Überwindung dieser Bequemlichkeit aufzuzeigen. Sind die Romantiques »ein unendlich vorsichtiger Vorstoß der Neuromantik und der Maske der Selbstverspottung«,28 so reichert Rostand in seinen folgenden Dramen die Motive der Selbsttäuschung zunehmend mit ›moderner‹ Psychologie an; und das nicht erst im Cyrano de Bergerac, dessen Protagonist den jungen Christian de Neuvillette zum Objekt seiner Identifikation macht und in eine Form der Inszenierung einspannt, welche die Realität nach ästhetischen Maßstäben umzugestalten sucht, motiviert durch den Wunsch nach Kompensation seiner durch die übergroße Nase missgestalteten Physiognomie, einer ästhetischen Substitution der narzisstischen Wunde. Der erste von Rostand für die Bernhardt geschriebene Dramentext, uraufgeführt am 5. April 1895 im Théâtre de la Renaissance, hat die Liebesgeschichte um die Mélissinde, Gräfin von Tripoli, und den mittelalterlichen Minnesänger Jaufre Rudel aus Blaye zum Inhalt.29 Der Erfolg von Rostands La Princesse lointaine nach der Premiere ist weniger in Zuschauer- als in Leserzahlen messbar. Einer deutschen Schulausgabe der Rengerschen Buchhandlung aus den Jahren zwischen den zwei Weltkriegen lässt sich entnehmen, dass nach der raschen Absetzung des Dramas von der Bühne die stolze Zahl von mehr als 30000 Textexemplaren ihren Absatz auf dem Buchmarkt gefunden hat.30 So problematisch Zahlen dieser Art sind, so relativieren sie doch die Kritik, die Henry James 1901 am voneinander abhängigen Erfolgsgespann Bernhardt–Rostand formuliert: »M Rostand war romantisch, weil

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Vgl. Helmut Kreuzer, Die Boheme, Stuttgart 1968, S. 1–20. Edmond Rostand, Die Prinzessin im Morgenland, hg. von Friedrich von OppelnBronikowski, Berlin u. a. 1905, Einleitung, S. XII. Dieses Sujet diente im Übrigen noch 105 Jahre später der Komponistin Kaija Saariaho und dem Librettisten Amin Maalouf für ihre Oper L’Amour de loin als Vorlage, uraufgeführt am 27. August 2000 bei den Salzburger Festspielen. Edmond Rostand: La Princesse lointaine. Hg. von Fr. Kraft/L. Marchand. Leipzig 1926, S. VIII.

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Mme Sarah Bernhardt es ist.« John Stokes verweist in diesem Zusammenhang darauf, wie Henry James das Verhältnis von Muse und Künstler in Bezug auf Bernhardt und Rostand umdreht: »Welchen Platz Sarah Bernhardt auch immer in der Ewigkeit beanspruchen mag, sie wird ihn nur so lange einnehmen, wie La Princesse lointaine gelesen werden wird, und das könnte unter Umständen nicht sehr lange sein.«31 Wenn auch keine Ewigkeit, so doch immerhin 28 Jahre später, am 28. Oktober 1929, wurde das Stück in einer von Rostand überarbeiteten Fassung nicht nur gelesen, sondern sogar im Théatre Sarah-Bernhardt erneut aufgeführt, diesmal mit Vera Sergine als Muse und Paul Bernard als Troubadour Joffroy Rudel. Die in der Zeitschrift Théatre (No 454) vom 9. November 1929 abgedruckten Kostümentwürfe des Künstlers »Erté« (alias Romain de Tirtoff) sind in der Ornamentik dem Geschmack der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts angepasst und strenger gehalten als im Jugendstil, sie verleugnen aber keineswegs den Kontext der Décadence, dem das Stück entstammt. Das wird allein schon am Entwurf für den Protagonisten deutlich, der wie ein dahinsiechender Orpheus mit Harfe auf einer Bahre aufgestützt skizziert ist, die wie eine venezianische Totengondel anmutet. Und wie auf einer solchen kommt Rudel nach der in Frankreich angetretenen Schiffsreise im fernen Tripoli an. Die Lebensenergie des poetischen Schwärmers ist bereits in der Stückexposition am Verglühen, zudem schon in der ersten Fassung des Stückes, die primär heranzuziehen ist, will man sich die Relevanz der Princesse lointaine für ein neoromantisches französisches Künstlerdrama vor Augen führen. Das restliche vieraktige Drama um Prinzessin Mélissinde und Rudel nimmt in vielen Punkten den Cyrano de Bergerac, nicht nur hinsichtlich des angesprochenen Dreieckskonfliktes, vorweg. Die Liebe des Dichters ist schon aufgrund dieser räumlichen Distanz als Phänomen neuromantischen Fernwehs einzustufen, das, in der Projektion auf die ferne Geliebte, mehr mit den im Selbst verankerten Sehnsüchten und deren Aufarbeitung befasst ist als mit dem Objekt der Begierde selbst. Heinrich Heine hat 1846 die Ballade Geoffroy Rudel und Melisande von Tripoli verfasst, welche die narrativen Vermittlungsinstanzen der Liebesbeziehung des Troubadours mit der Prinzessin (die von Heine nach dem historisch verbürgten Titel »Comtesse de Tripoli« als Gräfin bezeichnet wird) mittels einer Rahmenhandlung um eine Brechung erweitert. Nach Art von Spuk- und Schauerromantik berichtet die Ballade zu Beginn von einem Wandteppich auf Schloss Blay, den Melisande einst selbst angefertigt haben soll, und der Rudèls Tod in den Armen Melisandes zeigt: Ihre ganze Seele stickte Sie hinein, und Liebesträne Hat gefeit das seidne Bildwerk, Welches darstellt jene Szene: Wie die Gräfin den Rudèl Sterbend sah am Strande liegen, Und das Urbild ihrer Sehnsucht 32 Gleich erkannt in seinen Zügen.

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John Stokes: Sarah Bernhardt. In: Susan Bassnett, Michael R. Booth, John Stokes: Sarah Bernhardt, Ellen Terry, Eleonora Duse. Berlin 1991, S. 76f. Heinrich Heine, Romanzero (Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripoli). In: ders., Werke und Briefe, Bd. 2, S. 46.

Die Technik der Rahmung, die in Heines Ballade eingesetzt wird, hängt, wie Frederick Burwick herausgearbeitet hat, mit der poetologischen Faszination (in der internationalen romantischen Literatur und Kunst) am kreativen Prozess und ästhetischer Erfahrung zusammen: In the poetry, we find a variety of experiments with framing devices: the problematic interpretative frame that Coleridge provides with the marginal glosses to The Rime of the Ancient Mariner; the narrator’s sceptical frame in the opening fifty and closing fifty lines of Keat’s Fall of Hyperion; the circular structure of Blake The Mental Traveller and the inside/outside and window/mirror illusions of his Chrystal Cabinet. Among the framing devices in the graphic arts, the »open window«, and the »picture-within-picture« pervade 33 Romantic iconography.

Das ›Urbild der Sehnsucht‹ tritt bei Heine aus dem Rahmen des Bildes und beginnt zu wandeln: Die Liebenden erwachen als Gespenster nachts zum Leben und treten aus der Wand, um die alten Liebesschwüre mit, wie es zu Heines Ironie gut passt, »postume[r] Galantrie / Aus des Minnesanges Zeiten«34 auszutauschen, allerdings nur bis zum Anbruch des neuen Tages. Bei Rostand nun dient die Thematik des Minnesangs, im Rückgriff auf die romantische Symbolik, der Versinnbildlichung ästhetischer Selbsterkundung: Mit der Wiederbelebung der Künstlerfigur Rudel lässt Rostand die Versform erneut aufleben – und in einem Akt von Selbstzerstörung noch einmal untergehen. Die Versform wird bei aller Strenge flexibel gehandhabt, bisweilen gewinnt das Spiel mit alten Formen in Relation zum dramatischen Geschehen ironischen Charakter: eine dramatische Ironie, die bisweilen das Makabere streift, so wie die Exposition von La Princesse lointaine, die in der Tradition von Clown-Szenen in der Art der Totengräber in Shakespeares Hamlet steht. Die erste Szene beginnt mit der Seebestattung eines Ritters vom Bord desselben Schiffes, auf dem Rudel im Fieber liegt: Les deux mariniers: PEGOFAT et BRUNO, au fond. Un… deux… trois… houp! (Ils lancent le corps par-dessus le bastingage. On entend sa chute dans l’eau.) PEGOFAT

C’est fait. BRUNO

Encore un camarade 35 Qui ne nagera pas, Tripoli, dans ta rade!

Die Qualität dieser Passage besteht darin, dass sich sowohl beim lauten Vorlesen (folglich sehr wohl gleichfalls bei der szenischen Realisation) sofort der Effekt einer poetischen Sprache einstellt, die sich in der Brechung und Verteilung der Worte auf die beiden Figuren erst entwickeln muss. Man versuche, den ersten zitierten Vers als einen Alexandriner mit sechs Hebungen und Zäsur in der Mitte zu sprechen, und wird feststellen, dass das ›realistische‹ Abzählen der Matrosen bis drei beim Skan-

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Frederick Burwick, Blake’s Laocoön and Job. In: ders./Jürgen Klein (Hg.), The Romantic Imagination. Literature and Art in England and Germany. Amsterdam/Atlanta 1996, S. 133f. Heine, Romanzero, S.47. Edmond Rostand, La Princesse lointaine. Paris 1910 (40. Tausend), im Folgenden PL abgekürzt, S. 1.

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dieren sofort Probleme bereitet. Erst im Folgenden nimmt der Vers Gestalt an, so als ob der künstlerischen Formgebung gegenüber dem dramatischen Geschehen erst zu ihrem Recht verholfen werden müsste. Auf der Handlungsebene ist in diesem Anfang außerdem bereits das Ende des Stückes angelegt: der Tod Joffroys und seine Verklärung. Das kündigt sich schon in der Dialogszene der Seefahrer an, die sich an die Seebestattung anschließt: Sie hat die Überfahrt in den Nahen Osten und vor allem den Einfluss des Troubadours auf die ganze Mannschaft zum Thema, bis hin zu dem Fieber, mit dem er alle anzustecken droht, und das mehr ist als die schiere physische Erkrankung, sondern im Zusammenhang mit seiner auf Sublimation der unerreichbaren Liebe gegründeten künstlerischen Besessenheit steht. Die ›Infektion‹ aller auf Rudels Schiff versammelten Seefahrer mit der Schwärmerei für die Prinzessin Mélissinde beschreibt Joffroys Leibarzt Érasme folgendermaßen: »Ils chantèrent, – avec quel zèle inopportun! – / La fille d’Hodierne et du grand Raymond Un; / Ils déliraient, parlant de cette fleur d’Asie!« (PL 8) Doch was der Arzt als Maßlosigkeit für verwerflich erachtet, hält der persönliche Seelsorger des Prinzen von Blaye, Bruder Trophime, für die einzige Tugend, die sich eines Sterbenden wie Rudel geziemt: »L’Enthousiasme!« (PL 11) Der narzisstische »Mechanismus der Idealisierung, der schon die Verliebtheit bestimmt«36, garantiert den Zusammenhalt der Masse, hier der Schiffsmannschaft. Dass die Krankheit des Künstlers, von dem die Idealisierung betrieben wird, diesen Zusammenhalt eher stärkt als abschwächt, wird sowohl als Bedrohung als auch als Triumph der Tugend wahrgenommen. Der Topos eines rechten Maßes, den Gide für den Künstler in der modération anmahnt, tritt an diesem frühen Punkt der Exposition von La Princesse lointaine hervor; umso auffallender, als Rostand aus dem möglichen dramatischen Figurenpersonal als Diskussionspartner zu dieser Fragestellung einen Arzt und einen Geistlichen wählt. Während aus medizinischer Sicht von der Verehrung für die ferne Prinzessin eine Gefahr in ihrer infektiösen Wirkung ausgeht, lässt sich diese aus der theologischen Perspektive als Chance einer Sublimation begreifen, die den umgekehrten Weg zurück zu der Quelle nimmt, aus der ihre ästhetische Idealisierung entsprungen ist. Der Arzt begreift die suggestive Qualität von Rudels Poesie auf die Schiffsmannschaft als ›verbales Delirium‹, wohingegen der Mönch in diesem ›Gift‹ ein Heilmittel gegen die ursprüngliche Abgestumpftheit der Seefahrer sieht. Die Mission des Poeten ist transzendenten Ursprungs, ihr göttliches Wohlgefallen steht nach Bruder Trophime auf einer Stufe mit dem Kreuzzug, dessen Ziel es ist, die heilige Grabstätte Christi zurückzugewinnen. Denn es sei dem Herren, der mit dem Eingreifen eines Engels umgehend alle Ungläubigen vom Grabe vertreiben könnte, an einer anderen Zielsetzung gelegen, die durch Joffroys ›infektiöses‹ poetisches Ideal in greifbare Nähe gerückt sei: FRERE TROPHIME Ce

qu’il voulut, c’est arracher tous ceux Qui vivaient engourdis, orgueilleux, paresseux A l’égoïsme obscur, aux mornes nonchalances, Pour les jeter chantants et fiers, parmi les lances, Ivres de dévouement, épris de mourir loin, Dans cet oubli de soi dont tous avaient besoin! (PL, 9)

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Stefan Breuer, Sozialpsychologische Implikationen der Narzißmustheorie. In: Psyche 770, Januar 1992, S. 5.

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Die Selbstvergessenheit im Rausch des missionarischen Fanatismus ist innerhalb dieses Konzepts über Egoismus und Stolz zu stellen. Doch damit nicht genug. Mit der Begeisterung, die Rudel in der Mannschaft für seine ferne Angebetete erweckt hat, wird dieses selbstlose Gemeinschaftsgefühl noch gesteigert: »La Dame du poète, ils en ont fait leur Dame; / On finit par aimer tout ce vers quoi l’on rame!« Diese Identifikation der Masse mit der individuellen Neigung des Künstlers begründet der Mönch schließlich folgendermaßen: »Parce que les petits aiment les grandes choses / Et sentent les beautés poétiques sans gloses! / Cette noble folie et que nul ne comprit / Apparaît toute claire à ces simples d’esprit!« (PL 10) Es ist – wohlgemerkt – keine charismatische künstlerische Persönlichkeit, die ihre suggestive Wirkung auf die einfachen Geister ausübt, sondern die von Rudel evozierte poetische S c h ö n h e i t wirkt durch sich selbst auch noch dann, als ihr Beschwörer bereits schwerkrank darniederliegt. Die Wahl einer durchgängigen, ebenmäßigen poetischen Sprache in La Princesse lointaine erhält in dieser Replik Trophimes implizit eine Motivation: Gibt es im dramatischen Zusammenhang das grundgegebene intuitive, weder erklärender noch verspottender Worte bedürfende Verständnis aller auftretenden Personen für die Überhöhung von Rudels Leidenschaft, so erhält die dramatische Form in der standardisierten und starren poetischen Sprache ein passendes Grundgerüst für die Ausdruckskapriolen des Sonderlings. Der Alexandriner als von Anfang an gepflegte Versform des Dramas erleichtert den organischen Übergang zu den Strophen Rudels, die im Zusammenhang nicht wie ein Fremdkörper wirken, sondern sogar eine Auflockerung im Verhältnis zu der formalisierten Sprache der anderen Figuren bedeuten. In ihrer kreisförmigen Struktur hat das Lied, das der aufgebahrte und sich wie in der Illustration aufstützende Rudel singt, beinahe etwas unangebracht Verspieltes: JOFFROY […] C’est chose bien commune De soupirer pour une Blonde, châtaine ou brune Maîtresse, Lorsque, brune châtaine, ou blonde, on l’a sans Peine Moi, j’aime la Lointaine Princesse! (PL, 18 f.)

Der Narzissmus der Form wird möglich aus der vorhergehenden Uniformität der Sprache. Während in einem Drama, das vorherrschend von freien Versformen Gebrauch macht oder vollends in Prosa abgefasst ist, der Gesang Rudels den Charakter einer Einlage erhalten würde, bricht er den vereinheitlichten Sprachduktus um ihn herum wie ein starres Sprachkorsett auf. Die künstlerische Sprache als Medium des Dichters fällt aus dem a priori artifiziellen Rahmen heraus und verweist dergestalt auf der inhaltlichen Ebene erneut auf seine Unangepasstheit im wohlgeordneten gesellschaftlichen Gefüge. Obschon auch bei Rostand wie in den bisher erwähnten neoromantischen Künstlerdramen eine Frauengestalt die Muse für den Dichter ist, fällt nicht nur das künstlerische Resultat ganz ungewöhnlich aus, das jeglicher provokativen (weil rauschhaft enthemmenden) Wirkung entbehrt. Das Verhältnis der Muse zum Künstler wird in La Princesse lointaine zu einer Nagelprobe beidseitiger interkultureller Annäherung, wohingegen es in den Dichterdramen des Boulevards 73

wie auch der Oper (nachzuvollziehen an den Figuren des Hoffmann oder Julien) auf eine einseitige Ausrichtung der Beziehung nach den Maßstäben des Protagonisten herausläuft. Den stets auf theatralen Effekt bedachten Rostand hindern die selbst gewählten formalen Begrenzungen nicht daran, die Figurenkonstellation auf einen konventionellen Dreieckskonflikt zu erweitern, ebenfalls gewissermaßen ein Vorgriff auf den Cyrano; dies ist vor allem aber ein Schritt, der die weibliche Hauptfigur ins Zwielicht bringen wird, was aber sorgfältig vorbereitet ist. Denn schon im 1. Akt erhält Rudel in der Figur seines Freundes Bertrand d’Allamon einen provenzalischen ›Doppelgänger‹ zur Seite gestellt, der als Werber für Joffroy vom Hafen loszieht und zwischenzeitlich entgegen seiner ursprünglichen Intention als Nebenbuhler Mélissinde von ihrer Pflicht, Rudel aufzusuchen, abhält. Er führt sich im 1. Akt mit der Selbstbeschreibung ein: »Mon cœur est faible à tout sentiment qui le gagne. / Un héros passe, il me séduit, je l’accompagne!« (PL 12) Außerdem ist Bertrand bei seinem Auftritt gleich als die zweite Instanz nach Joffroy gekennzeichnet, die in ihrer Sprache andere, freiere Register zieht als das übrige Personal, nämlich wenn er der Mannschaft ein sechsstrophiges Lied auf die Schönheit der Mélissinde von Tripoli vorsingt, nach folgendem Schema: BERTRAND:

Eh bien, bons mariniers, je veux Vous le raconter encore une: Du soleil rit dans ses cheveux, Dans ses yeux rêve la lune [...] (PL 13)

Wenn über die ersten Verse des Stückes festzustellen war, dass sie erst ›in Tritt‹ kommen müssen, so lässt sich über diesen Gesang Bertrands ohne weiteres behaupten, dass er regelrecht ›dahinstolpert‹, was vor allem auf die ungleichmäßigen Versauftakte zurückzuführen ist, die ab der zweiten Zeile unterschiedlich (wahlweise als Trochäus oder Anapäst) skandiert werden können, in jedem Fall jedoch weder die Starre des Alexandriners noch das elegante Gleichmaß von Joffroys Gesang aufweisen. Die Handhabung der Versstruktur lässt Interpretationsspielraum, innerhalb dessen man es dem ritterlichen Weggefährten des Troubadours als Übermut, Unvermögen oder sogar Vermessenheit auslegen kann, wenn er dichterisch auf diese Weise derselben Schönheit wie Joffroy Rudel zu huldigen versucht. »Je suis poète«, hat sich Bertrand zuvor eingeführt. Wie um dies in komischer Manier fragwürdig zu machen, schließt sich direkt an Bertrands Hymnus die Frage des verwirrten Matrosen Pégofat an: »Hein? Comme il parle! On ne comprend pas tout très bien. / Mais on voit qu’elle doit être bien elle, hein?« (PL 14) Vom kollektiven Delirium, das der Arzt Érasme als Schreckensvision gezeichnet hat, ist diese Frage weit entfernt. Zudem bietet sie eine deutliche Ironisierung des von Bruder Trophime dermaßen idealisierten, unverstellt emotionalen Verständnisses der einfachen Schiffsleute für das poetische Ideal der fernen Prinzessin. Wie sehr also Bertrand einerseits hinsichtlich der sprachlichen Freiheit (vom Alexandriner) dem von ihm bewunderten Joffroy gleichgestellt wird, so stark wird andererseits seine figurenpsychologische Abhängigkeit von der originären poetischen Vision seines Vorbildes kenntlich gemacht. Die Figur des Bertrand verführt, ausgehend von diesen beiden Repliken, zu einer Analyse nach den psychoanalytischen Interaktionsmustern narzisstischen Sozialverhaltens nach Kohut, nur dass umgehend diskutabel wird, welchen Persönlichkeitsty74

pen man sie zurechnen will: dem spiegelhungrigen, dem idealhungrigen Typ oder einer Alter-Ego-Persönlichkeit? Der erste erscheint dadurch unzutreffend, dass sein heroisches Handeln völlig irrational, eben gefühlsbestimmt und bei allem Streben nach persönlichem Ruhm auf klare Wertvorstellungen gegründet ist. Selbstdarstellung, um ein Gefühl von Wertlosigkeit zu kaschieren, scheidet also als Motivation seiner Handlungen aus. Doch dass er Rudel als Alter Ego unterstützen würde, um seinen Ehrenkodex zu bestätigen, erweist sich in der Begegnung mit der Prinzessin, ebenfalls als hinfällig. Der Schlüssel zu Betrands Charakter liegt tatsächlich (darin erschöpft sich allerdings die psychoanalytische ›Diagnostik‹) im Hunger nach einem ›dekadenten‹ Ideal, das ihm in der Begegnung mit der Prinzessin bewusst wird: Nicht die romantische Auflösung des Egoismus in der Vollkommenheit, sondern die an den Augenblick gebundene Einsicht in die Unvollkommenheit prägt Betrands künstlerische Physiognomie: »Le moment me possède! Oh! Je me connais bien. / Vous m’avez dites vous? M’avoir, c’est n’avoir rien!« (PL 74) Die auf Sarah Bernhardt zugeschnittene Prinzessinnenrolle der Muse Mélissinde kommt schließlich einer Bestätigung ihres Rufes gleich, Szene und Proszenium zu beherrschen. Einerseits definiert sich, noch stärker als die meisten von der Bernhardt verkörperten Figuren, die Prinzessin von vornherein als Objekt idealisierender und erotischer Projektionen ihrer Verehrer, angeführt von Rudèl. Andererseits entfaltet die von Mallarmé her bekannte, ambivalente Blumenmetaphorik bei Mélissindes Auftritt im 2. Akt (2. Szene) ihre volle Blüte. Mélissinde richtet an die französischen Pilger die Worte: Ainsi, vous reverrez la France, gens heureux! Ainsi, vers votre nef, vous croirez, que s’avance, Bientôt, dans un brouillard bleuâtre, la Provence! Je vous envie! – Hélas! Je suis comme ces fleurs Qui naissant sous des cieux qui ne sont pas les leurs, Et devinant au loin qu’elles ont des patries, Peuvent sembler fleurir, mais se sentes flétries! (PL 31)

Rostands Text verbindet geschickt den Appell an den französischen Patriotismus, mühelos vom Figurenpersonal der Pilger als Adressat auf das Publikum im Theater erweiterbar, mit der Heimatlosigkeit, die von der schönen Prinzessin in einem Anflug von Selbstmitleid beklagt wird. Der biographische Bezug zur in den europäischen Metropolen gefeierten, aber keineswegs gesellschaftlich integrierten Diva Sarah Bernhardt liegt nahe. Die Orientalisierung bei Rostand hat Methode: schließlich ranken sich um die Herkunft der Bernhardt früh Gerüchte, die sie als Tochter einer jüdischen Kurtisane und eines französischen Seemanns ausweisen.37 »Zu den Bestandteilen ihres Images, die sich auf ihre familiäre Situation beziehen, gehört, dass ihre Mutter und ihre Tante als Kurtisanen tätig waren und dass sie erst von Pflegeeltern und später in einem Konvent aufgezogen wurde.«38 Die gerüchteweise kolportierten sexuellen Ausschweifungen der Bernhardt und ihre kränkliche Zerbrechlichkeit aufgrund der Zurücksetzung und Verlassenheit als Kind verschaffen ihr so gleichermaßen eine physique du rôle als umjubelte Kameliendame, wie auch

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Elaine Aston, Sarah Bernhardt, Oxford 1989, S. 1f. Claudia Thorun, Sarah Bernhardt. Inszenierungen von Weiblichkeit im Fin de siècle, Hildesheim u.a. 2006, S. 271.

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die vermeintlich ideale psychische Disposition. Bezeichnend ist, dass sie ebenfalls in ihren Memoiren Ma Double vie (1907) alle Gerüchte mehr nährt als ihnen entgegenwirkt. Das lässt sich auch in der zeitgenössischen Rezension des ParisKorrespondenten für die Zeitschrift Bühne und Welt, Arthur Neißer, feststellen: Nicht nur ihre jüdische Herkunft und die damit verbundenen Kümmernisse, nicht nur ihre Abstammung von einer holländischen, also ausländischen Mutter, sondern vor allem ihr von Jugend an wenig vorteilhaftes Aeußere verlangten schon von dem ganz jungen Mädchen ein unendlich hohes Maß von opferwilligem Idealismus, von echter reiner Liebe zum Theater, und tiefe, glühende Leidenschaft zur Kunst war es denn auch, die der Künstlerin immer wieder Kraft verlieh, den Kampf gegen Neid und Eifersucht von neuem aufzuneh39 men.

Als Beispiel für Neid und Eifersucht hat der Rezensent bereits das Pamphlet einer früheren Kollegin Sarah Bernhardts, Marie Colombier, angeführt, die Bernhardts »Karriere als Frucht ihrer bodenlosen Reklamesucht hinzustellen« versucht hat. Wenn Neißer die Memoiren der Diva als willkommene Gelegenheit begrüßt, ihre Hingabe an die Kunst mit der Heimatlosigkeit und mangelhaften gesellschaftlichen Akzeptanz zu begründen, lässt sich aus der Colombier-Affäre das gegenteilige Klischee isolieren: eine merkantil und auf Profit ausgerichtete, jüdisch-niederländische Handelsmentalität, die dem Stereotyp zufolge statt Selbstaufopferung und genuiner Begabung nur fremde Kunst vermittelt und werbend anpreist. Die Bernardt wäre nach dem Stereotyp des kommerziell geschickten Judentums nur eine Agentin, keine selbstständige ästhetische Urheberin. Fest steht, dass die Bernhardt ohne Familienleben im Elternhaus aufwächst, der Vater stirbt 1857, die Mutter kümmert sich nicht um sie. Sarah wächst bei Verwandten, Freunden und schließlich im Internat auf. Selbstorganisation ist für das Kind das oberste Gebot, was nach eigener Aussage in den Memoiren rasch Krankheit und Nervenkrisen zur Folge hat. Die bisweilen vermutete, ja unterstellte deutsche Abstammung der Mutter (die holländische ist wahrscheinlicher) bringt der Bernhardt gerade nach 1871 immer harsche Kritik ein, die sie mit ihren ausführlichen, patriotisch gefärbten Schilderungen der Belagerung von Paris und ihres dortigen Engagements im zum Lazarett umfunktionierten Odéon zu zerstreuen sucht. Es stellt sich weniger die Frage, inwieweit hier Dichtung oder Wahrheit bzw. eine Vermischung von beidem vorliegt. Aufschlussreich ist das Gesamtbild, das sich ergibt, wenn man die Selbstbeschreibung der Diva mit den für sie maßgeschneiderten Stücken Rostands abgleicht und die Geschlechterbilder umkehrt: Was zuerst den Anschein einer Reproduktion der femme fragile zwischen Entwurzelung und Gefährdung erweckt, formiert sich als Gegenpol zum kranken décadent, dem männlichen Protagonisten. Und nicht dieser erkundet den steinigen Weg zur modération: Verführt zu werden droht die Muse, bevor sie den Mann erlösen kann und vor allem will, was (anders als noch im Musikdrama von und nach Wagner) zwischenzeitlich stark in Frage steht. Werden im 1. Akt von La Princesse lointaine die Figuren der Verehrer Mélissindes eindeutig als Künstlerfiguren eingeführt, so wird bei Mélissindes erstem Auftritt im 2. Akt dem Publikum schnell klargemacht, dass die Bernhardt nicht mit ihrer

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Arthur Neißer, Sarah Bernhardts Memoiren. In: Bühne und Welt, 1907/08 (5), S. 192.

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Figur eins wird, sondern vielmehr die Figur Elemente der in der Pariser Öffentlichkeit konstruierten und diskutierten Kunst- und Künstlerfigur Sarah Bernhardt aufgreift und weiter verhandelt. Diese Muse ist kein still duldsames Modell der sich an ihr weidenden Blicke des Poeten, die in Kreativität und Artefakte umgesetzt werden; sie ist eine aktive Stichwortgeberin und Mitgestalteri, wie in der Vision von der verlorenen Heimat. Von nationaler Zugehörigkeit und Identifikation bleibt in jedem Fall die Figur der Prinzessin Mélissinde als blumengleich stilisierte Physiognomie ausgeschlossen. Claudia Balk verweist darauf, dass die Blumenmetaphorik als »stilistisches Kennzeichen des Jugendstils« bei Sarah Bernhardt in Form von Schmuck aufgegriffen wird, in La Princesse lointaine etwa »mit bombastischem Ohrschmuck, der Lilien nachahmte«.40 Die Emblematik der Lilie verweist direkt auf Sarah Bernhardts Interesse an der englischen Bewegung der Präraffaeliten.41 Wie die Vertreter dieser künstlerischen Strömungen in London und Wien bricht Sarah Bernhardt mit den akademischen Stilvorgaben ihrer Zunft, nicht ohne aber von ihren Vorgängerinnen in bestimmten Rollen Kenntnis genommen zu haben. So soll sie dem Komponisten und Feuilletonisten Reynaldo Hahn gegenüber einmal bezüglich Racines Titelrolle Phädra angemerkt haben: »›Rachel jouait ce rôle d’une façon académique. Moi j’y ai tout de suite mis tout ce que ressent une femme qui aime à la folie.‹«42 Gerade Elisa Rachel hatte wie kaum eine Zweite dem Ideal einer ›statuesken‹ Darstellung in Ergänzung zur Ästhetik des tableau vivant entsprochen, und das über die französischen Landesgrenzen hinaus, wie Michael R. Booth feststellt: Kritiker bedienten sich oft der Terminologie der Bildhauerei, um die Schauspielkunst der großen französischen tragédienne Elisa Rachel – in den vierziger Jahren beliebter Gast der Londoner Bühne – zu beschreiben. Die Fähigkeit einer Schauspielerin, sich wie eine Statue zu geben, wurde besonders in der Rolle der Hermione geschätzt, wo Shakespeare eine Schauspielerin als Statue und als lebendigen Menschen auftreten läßt; auch die Figur der Galatea wurde im Drama des 18. und 19. Jahrhunderts mehrmals von einer Statue in eine 43 Schauspielerin verwandelt.

Kritiken und Zeitzeugenberichte zu den Auftritten der Bernhardt belegen, dass ihr Schauspielstil in dieser Hinsicht voll in diesen Kontext des 19. Jahrhunderts eingebunden ist. Doch die virtuos ausgespielten emotionalen Eruptionen, mit denen Sarah Bernhardt bei ihren Auftritten international so oft Furore macht, brechen diese Konvention des Statuarischen auf, wenn auch in einer wenig differenzierten Art und Weise, die sich im Wesentlichen auf Affekte und abrupte emotionale Ausbrüche stützt. Wenn Henry James mit seiner Kritik an Rostands Abhängigkeit von der Bernhardt richtigliegen sollte, so bedarf es der Überprüfung, ob Rostand in La Princesse lointaine tatsächlich den Schritt von einer pittoresken Neuromantik zur dynamischen Variation des Bernhardtschen Spiels textlich mitgeht. Die an den Auftritt Mélissindes anschließende 3. Szene des 2. Aktes mutet im Vergleich zu Mallarmés Hérodiade-Fragment wie ein direktes Zitat an. Die Prinzessin sinniert im Gespräch mit ihrer Ehrendame Sorismonde über die Liebe zu Joffroy

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Claudia Balk, Theatergöttinnen, München 1994, S. 157. Elaine Aston, Sarah Bernhardt, S. 88f. Philippe Jullian, Sarah Bernhardt, Paris 1977, S. 64. Michael R. Booth, Ellen Terry. In: Stokes/Booth/Bassnett, S. 109.

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Rudel. Wie bei Mallarmé entpuppt sich der vermeintliche Dialog zunehmend als Selbstgespräch der Protagonistin, die Einwürfe der Vertrauten markieren gleichsam nur Punkte des emotionalen Umschwungs. So zu Beginn der Szene, als Sorisonde die Güte der Prinzessin preist, und Mélissinde provozierend und sich selbst denunzierend entgegnet: »Oh! tu sais bien que je suis bonne par ennui!« (PL 32) Doch wird die die Figurenpsychologie weder auf der sprachlichen Ebene noch in der dramatischen Entwicklung so weit ausgearbeitet, wie es Mallarmé auf der einen Ebene gelungen ist und auf der anderen vorgeschwebt hat. Mit der abrupten Enttäuschung einer zunächst geweckten positiven Erwartungshaltung gegenüber der Protagonistin durch diese selbst kommt der Text abermals dem Schauspielstil der Bernhardt entgegen, sich dem Zuschauer immer zu entziehen und da Widerstand aufzubauen, wo die Figur zunächst Sanftmut und Güte ausstrahlt. Die Selbstbezichtigungen, in der sich Mélissinde selbst den ennui, jenes seit Baudelaire zum Grundbestand aller krankhaften Symptome der Zivilisation und Kultur gehörende Übel, zuweist, tragen zu diesem ambivalenten Figurenbild bei, ohne sich notwendigerweise zu einem schlüssigen psychologischen Gesamtbild zusammenfügen zu lassen. Es wäre, wie schon bei Bertrands Figurenexposition leicht, anhand des Dramentextes einseitig zu psychologisieren und die Figur der Mélissinde ›autoaggressiv‹ einzustufen. Weit führte dieser Ansatz allein schon deshalb nicht, weil die Bernhardt es mit dem ihr eigenen Bühnentemperament nicht versäumt hat, in der Aufführung die Aggression explosionsartig nach außen zu kehren, womit sie nicht nur die gewünschte Wirkung beim Publikum, sondern gleichermaßen scharfe Kritik von Bernard Shaw auf sich gezogen hat. Dieser machte sich in der Saturday Review am 22. Juni 1895, anlässlich eines Gastspiels der Bernhardt mit ihrem Ensemble in London, unter seinem Kritikerpseudonym Corno di Bassetto nicht nur daran, die Alexandriner Rostands zu verballhornen, indem er sie mit Versen aus Childe Harold von Byron »in einem Topf zum Kochen bringt«: Te voyant accoutré d’une manière telle, He rushed into the field, and, foremost fighting, fell, Pour porter monseigneur vers sa Dame Lointaine 44 And fertilize the field that each pretends to gain.

Nachdem Shaw (das allerdings ebenfalls mit einer gehörigen Portion Ironie) eingeräumt hat, nicht über die Französisch-Kenntnisse einiger seiner Kollegen zu verfügen, übt er vor allem an einem ganz entscheidenden Punkt von La Princesse lointaine scharfe Kritik: der theatralen Realisation, die sich nur von den Manierismen der Bernhardt überschattet entwickle. Als Vergleichsfolie für einen angeblich skandalösen Mangel in der professionellen schauspielerischen Einstellung der Bernhardt bei ihrem Londoner Gastspiel 1895 bedient sich Shaw der Duse-Auftritte in Sudermanns Heimat: I only ask anyone who saw that performance to try to imagine – if he has the heart to do it – such an artistic scandal as that great actress suddenly throwing her part to the winds and substituting for it a good two minutes rant, like the finish to the third act of La Prin45 cesse lointaine.

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Bernard Shaw, Our Theatres in the Nineties, Bd. 1, London 1948, S. 156. Ebd., S. 161.

Dadurch dass Shaw die bei der Bernhardt bereits zuvor monierte darstellerische Tobsucht ankreidet, wird zugleich der künstlerdramatische Entwurf Rostands in seiner Konzeption für gefährdet, wenn nicht sogar für vollkommen hinfällig erklärt. »Ranting is not, as it is generally assumed to be, bad acting. It is not acting at all, but the introduction of force for the sake of force.«46 Diese Unterstellung von Gewalt um der Gewalt Willen durch den Wagnerianer Shaw erinnert an Wagners Angriff auf Meyerbeer, sich des plumpen Effektes als Wirkung ohne sorgsame Vorbereitung und Ursache zu bedienen. Ist der Dramatiker Rostand, anders als von Henry James prophezeit, womöglich schon in der Uraufführungsproduktion durch seine Widmungsträgerin ins stilistische Abseits gerückt worden? Es würde in dieses Bild der Unberechenbarkeit einer kapriziösen Diva passen, dass Edmond Rostand mehr als fünf Jahre nach der Entstehung von La Princesse lointaine zu einem Bildband (in Briefform an den Verfasser) das Vorwort über Sarah Bernhardt in der Reihe Acteurs et Actrice d’aujourd’hui beisteuert,47 das mit den Worten, »J’ai le vertige.«, beginnt. Darin hält Rostand unter anderem in einer Aufzählung über einen typischen Arbeitstag der Diva fest: »démolit à coups de ciseaux leurs maquettes, pour les reconstruire.«48 Dieser Chiasmus von Zerstörung und sofortigem Wiederaufbau, von Konstruktion einer Illusion und umgehender Enttäuschung der geweckten Erwartungshaltung wird in La Princesse lointaine genau bedient, was die Protagonistin betrifft. Dass Sarah Bernhardt die Szene am Ende des 3. Aktes in einem Zornesausbruch enden lässt, ist insofern bei weitem nicht so abwegig, wie Shaw es versucht den Leser glauben zu machen, als Mélissinde aus der Liebesverzückung für Bertrand erwacht und mit sich selbst zu hadern beginnt. Wahrscheinlich irritierte Shaw diese gegen sich selbst gerichtete Aggression einer Muse ritterlicher Poeten, die über den Dingen stehend hätte gezeigt werden sollen; oder sie kam ihm bei seinem Feldzug gegen die Bernhardt zupass. Jedenfalls wirkt in der Rückschau das Konzept einer Diva, die den Reizen des Ästhetischen bis zur Selbstvergessenheit erliegt, schlüssiger und der Dekadenz zeitgemäßer als die so hoch gelobte Typologie des Naturalismus, in der sich die Schauspielerin als Tochter der Muse selbst befreien kann, die Ästhetik also ein Mittel der Emanzipation wird. Dabei sollte man nicht außer Acht lassen, dass Rostand nicht nur in der Bernhardt eine der ersten Kräfte ihrer Zunft zur Verfügung hatte. Mit dem Darsteller des Joffroy Rudel, Édouard Alexandre de Max, steht ein Darsteller neben der Bernhardt an der Spitze des Ensembles, der mit seiner Kunst vor allem den Nerv der Poeten seiner Zeit trifft. André Gide widmet ihm im Zuge seiner Bemühungen um das Theater schließlich sein Drama Saül, das er 1904 im Mercure de France veröffentlicht. De Max verkörpert genau den Typus des von Selbstzweifeln geplagten Repräsentanten der kulturellen Krise und des Verfalls. Er wird von Shaw beim verrissenen Londoner Bernhardt-Gastspiel in La Princesse lointaine ebenfalls mit leichtem Spott dafür bedacht, sich mittels darstellerischer Passivität von den schwachen Versen distanziert und emanzipiert zu haben: »As he lay moribund on his litter, his large dark eyes were fixed in profound pity for himself; and his lips were wreathed in a

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Ebd. Jules Huret, Sarah Bernhardt, Paris o.J., Vff. Ebd.

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smile of ineffable complacency at the thought of how well his eyes looked.«49 Ganz klar: Shaw seziert die Aufführung von Rostands Text ganz nach seinem Verständnis des l’art pour l’art, innerhalb dessen die sprachliche Konfusion des Dramatikers und seine Vergegenwärtigung durch die Schauspieler in keiner Weise dem Anspruch genügen können, in einem Gesamtkunstwerk (welches das Theater in den Augen des Wagnerianers Shaw sein sollte) verschiedene soziale Bewusstseinsstufen nicht nur zersplittert abzubilden, sondern vielmehr zu bündeln. Wo findet sich aber das antagonistische Prinzip zu diesen Doppelgängern und einander ergänzenden, kränklichen und um Fassung ringenden Verkörperungen einer um ihre Existenz kämpfenden Poesie? In der 5. Szene des 2. Aktes wird, offenbar zugunsten einer komischen Einlage und einer Auflockerung für die unter dem ennui leidende Mélissinde, nicht auf den Auftritt des Genueser Juden Squarciafico verzichtet, einer mit zahlreichen Stereotypen des Jüdischen – nämlich Profitsucht, List und Kuppelei – beladenen Figur. Wenn auch zunächst unfreiwillig, so geht der verhängnisvolle Dreieckskonflikt zwischen Mélissinde, Joffroy Rudel und Bertrand d’Allamon auf seine Vermittlung zurück. Überdies stiftet Squarciafico im letzten Akt Unruhe auf dem Schiff Rudels, indem er Zweifel an Mélissindes Integrität sät. Dass Mélissinde zu diesem Zeitpunkt tatsächlich ihren fernen Geliebten verraten hat, kann Squarciafico nicht wissen und dies stellt insofern einen weiteren ironischen Haken dar, den der Text in La Princesse lointaine ein ums andere Mal schlägt. Die Prinzessin hat Squarciafico zuvor bereits verbannt, nachdem er im 2. Akt Bertrand zur Verführung der Prinzessin anzustiften versucht hatte, in der Hoffnung, einen europäischen Mann an der Seite Mélissindes zu sehen, der seinen Geschäften nicht im Wege steht. Die Sicht des Juden Squarciafico auf die Kuppelei stellt sich bezeichnenderweise folgendermaßen dar: (à lui-même): Je crois que je n’ai pas manqué de ce qu’on nomme Du flair, en m’attachant au sort de ce jeune homme. Hé, hé, ceci pourrait bien nuire à Manuel… (Se retournant sur le seuil avant de sortir en un salut plein de grâce.) C’est dit, cent bons besants de crédit annuel. (PL 43) SQUARCIAFICO

Das Interesse am Ruhm des berühmten Künstlers ist stereotyp nur an jüdisches Profitdenken gebunden; wie auch das Kichern und die übertrieben grazilen Bewegungen als Vortragsbezeichnungen nicht an Klischees aus dem Fundus antijüdischer Vorurteile sparen. In diesem Punkt erhalten Squarciaficos Worte durch den weiteren Verlauf der Handlung prophetische Bedeutung, denn an Mélissinde und Bertrand bewahrheitet sich diese verächtliche Funktionalisierung des Poeten (Künstlers) durch den jüdischen Händler – allerdings nur vorübergehend. Äußerst aufschlussreich ist wie im Fall von Joffroy Rudel für die Figur des Squarciafico der Kostüm-Entwurf zur Aufführung der zweiten Fassung der Princesse lointaine von 1929, was die Kontinuität der Rollenstereotypen des Sprechtheaters und des Musikdramas seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert betrifft: Es ist genau die gekrümmt lauernde Gestalt abgebildet, deren verkrampfte und gespreizte Finger Habsucht und Raffgier suggerieren, und die dem Antisemitismus nach Wagners

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Shaw, Our Theatres in the Nineties, S. 157f.

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Judentum in der Musik auf den Bühnen (besonders der Opernhäuser) eine unerfreuliche Alltäglichkeit garantiert. An prominentester Stelle ist hier das Judenquintett zu nennen, das Richard Strauss in der Vertonung von Oscar Wildes Salomé in schrillster Kakophonie übertragen hat. Die – nicht minder angreifbare – Eigenständigkeit in der Struktur und im Rollengefüge von Rostands Versdrama beruht darauf, dass dieser Squarciafico in eine doppelte Opposition gesetzt wird: erstens zum kränkelnden, doch nicht ›degenerierten‹ Troubadour Rudel, der selbst in der niedergestreckten Position des Wagner’schen Tristan, dem Erté ihn nachgebildet hat, die Harfe nicht aus der Hand gibt; zweitens zur Titelheldin, die allein über die Identifikation mit der Bernhardt zwangsläufig mit dem Klischee der ›schönen Jüdin‹ in Verbindung gebracht wird. Doch muss sich Letztere erst auf der Handlungsebene der Oberflächlichkeit und des plumpen Materialismus entheben, der ihre Verehrungswürdigkeit als Makel zu beflecken droht – direkt proportional dazu, wie ihr Squarciafico nachstellt und kupplerisch die Geschehnisse um die Ankunft der Kreuzritter und deren Interaktion mit Mélissinde zu manipulieren versucht. Auf dem dramatischen Höhepunkt, unmittelbar vor dem von Shaw so torpedierten rasenden Abgang der Protagonistin, erfolgt im 3. Akt das gegenseitige Liebesgeständnis Mélissindes und Bertrands. Der inneren Gefährdung Mélissindes, ihr ursprünglich getrennt von Rudel ›mit‹ ihm gelebtes, idealistisches Liebeskonzept im Angesicht seines Todes zugunsten des momentanen Genusses und Rausches aufzugeben, kann der ritterliche Freund Bertrand schließlich nichts mehr entgegensetzen. Seinem zynischen Lachen und verzweifelten Ausbruch über den Tod seines brüderlichen Freundes und seinen Verrat setzt Mélissinde entgegen: »C’est affreux. Mais du moins, maintenant, je vous ai.« (PL 74) Mélissinde kostet den Moment in seiner Schönheit bis aufs Letzte aus, so wie sie es im Vorfeld der Liebesszene plötzlich genießt, selbst schön und attraktiv zu sein – im Gegensatz zu dem sterbenden Rudel mit seinem, sie von der ersten und letzten Begegnung mit ihm abschreckenden, kranken Körper. Hierin unterscheidet sie sich von Bertrand, wie die weitere Entwicklung des Dialogs offenlegt: BERTRAND: MELISSINDE: BERTRAND:

Oui, vous avez un traître, oh! le digne épousé? Mais traître par amour, n’est-il pas beau de l’être? Ah! je n’ai même pas la beauté d’un grand trâitre! Je suis, non le héros de qui le crime est fier, Mais l’enfant qu’amollit chaque douceur de l’air, Le faible cœur dont l’existence à la dérive N’est qu’une trahison incessante et naïve. (PL 74)

Die intime Szene zwischen den beiden Liebenden wird jäh unterbrochen von Rufen aus dem Hafen, die das Hissen eines schwarzen Segels verkünden. Mit diesem Signal soll der Tod des dahinsiechenden Rudel gemeldet werden, eine Anleihe an die Tristan-Sage unter Verkehrung der Konstellation von Überbringer und Empfänger der Nachricht. Dem auf den Tod verwundeten Tristan verheißt das schwarze Segel die fatale Gewissheit, dass Isolde sich nicht auf dem einlaufenden Schiff befindet. Die Liebesseligkeit wird jäh von Reue abgelöst und von Selbstvorwürfen der Protagonistin begleitet – ›modernes‹ Schuldbewusstsein gegenüber der eigenen erotischen Anfälligkeit tritt an die Stelle des Hedonismus ohne Rücksichten. Die vorübergehende ›narzisstische‹ Fixierung Mélissindes auf ihren eigenen Körper beim Versuch, ihn mittels Schmuck und anderer Accessoires erotischer zu 81

gestalten, verkehrt sich im letzten Akt in eine Stilisierung zur Büßerin, die vor die Kreuzritter wie eine Heiligenikone tritt. Zu einer Entschuldigung gegenüber Rudel für ihr verspätetes Kommen reicht die Zeit nicht mehr, und für Rudel ist die Ankunft ohnehin Glückes genug: »Vous êtes là. J’ai donc tout ce que j’ai rêvé.« (PL 89) Anders als etwa bei Heinrich Heine enden Sehnsucht und Leben gleichzeitig. Mit dem Tod des Poeten ist aber auch die irdische Mission seiner Muse erfüllt. Mit der Verkündigung Mélissindes, dass sie nach Rudels Ableben in ein Kloster eintreten wolle, wird der im fin de siècle beliebte Topos von Hure und Heiliger in einer Person bedient. Indes stellt der Text konsequent beide Muster auf den Kopf: Da das erotische Abenteuer (und damit auch der Verrat der Prinzessin an Rudel) nicht in der letzten Konsequenz in die Tat umgesetzt worden ist, erscheint auch die Hinwendung der Prinzessin zur religiösen Reue im Lichte der Selbsttäuschung, die als Tendenz der Selbststilisierung auf Sarah Bernhardt zurückfällt. Doch diese reizvolle Ambiguität des Textes wird um einen hohen Preis erkauft: nämlich den eines (nicht anders als unsäglich zu nennenden) martialischen Ausklang des Dramas nach Rudels Tod, mit säbelrasselnden Matrosen und Kreuzrittern, die zu Beginn des Aktes bereits den Juden Squarciafico buchstäblich über Bord haben gehen lassen, um der im Vorfeld geschürten Erwartungshaltung der Rezipienten ›endlich‹ nachzukommen.

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4. Kult und Mysterien

4.1 Hure, Muse, Heilige – La Samaritaine (1897) Für den Titelhelden des Cyrano besteht wie für Rudel in La Princesse lointaine eine scheinbar unüberbrückbare Kluft zur angebeteten Herzensdame. Doch ist sie im ersten Fall physiognomisch begründet: Bekanntlich ist es die Nase Cyrano de Bergeracs, die ihn davon abhält, Roxane seine Liebe zu gestehen. Seine geschliffene Formulierungs- und Dichtkunst werden zu Kompensationsformen dieses körperlichen Defektes. Rostands Tragikomödie verbindet so das Motiv der Selbstfindung der ›zweiten Romantik‹ mit populärer Unterhaltungskunst. Der Gegensatz zwischen der Umgestaltung der Protagonistin zu einer Ikone und dem Stereotyp jüdischer Zwietracht tritt im zweiten Theatertext, den Rostand für Sarah Bernhardt verfasst hat, überdeutlich zutage, nämlich in La Samaritaine. Noch stärker als zur Princesse lointaine bieten sich Details aus dem gerüchteumrankten Privatleben der Bernhardt dem ›eingeweihten‹ Rezipienten als Hintergrundfolie für dieses Versdrama an. Diesmal inspiriert sie in ihrer Rolle, die sie sich mehr ›einverleibt‹ als verkörpert, nicht irgendeinen Minnesänger oder Poeten in der Position der Muse, sondern ihre Anmut und missionarische Ausstrahlung machen sie zur Prophetin von Jesus Christus höchstpersönlich. Im Mittelpunkt von La Samritaine steht die Erweckung der Titelfigur, der Samariterin Photine für das Christentum. Die Assoziation, dass sich die Bernhardt als junges Mädchen taufen ließ, drängt sich geradezu auf. Rostands Text gestaltet diese Bekehrung nach dem Vorbild des Evangeliums, der Begegnung Jesu mit der Samariterin am Brunnen. Die Ausgangspositionen verlagern sich jedoch in Rostands La Samaritaine mehrfach, zum einen hinsichtlich der Stellung der Samariter innerhalb des Judentums und zu den römischen Besatzern, zum anderen was die szenische Ausarbeitung der Situation um den Brunnen, und damit die Einführung der Figur der Samariterin, anbelangt. Der Auftritt von Photine schließt an den Jesu und seiner Apostel an. Jesus hat in einem Disput mit diesen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt; allein gelassen lässt er sich ermattet am Jakobsbrunnen nieder. Photines Kommen antizipiert er in einer Vision, in der sofort Bewunderung für die Schönheit und Grazie der ihre Amphore auf dem Kopf Tragenden mitschwingt, die ihn an die eigene Mutter erinnert, im Unterschied zu der die Samariterin freilich von Sünden gebeugt naht.1 Photine singt bei ihrem Auftritt ein recht zweideutiges Frühlingslied (oder, wie Jesus bemerkt: »Elle chante en rêvant à des amours indignes.«)

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Edmund Rostand, La Samaritaine, Paris 1910, S. 29f.

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PHOTINE, descendant le sentier. Attrapez ces renards qui ravagent nos vignes... L’amour est bien fort sur les cœurs! Donnez-moi du raisin à sucer, car je meurs. Le bien-aimé me fait des signes... Attrapez ces renards qui ravagent nos vignes!

A travers le treillage, hier il me parla: »Debout, ma mie, et viens, ma belle! L’hiver a fui, la pluie et loin, les fleurs sont là: C’est le temps de la ritournelle. On prétend que quelqu’un dans le pays déjà Entendit une tourterelle; Que déjà, mûrissante, une figue coula! Debout, ma vie, et viens, ma belle: 2 L’hiver a fui, la pluie et loin, les fleurs sont là.«

Mit der Taube, den Trauben und dem Fuchs, dem listigen Fabeltier, taucht eine, über die erotischen Anspielungen des Liedes hinauszielende Metapher der Gefährdung innerhalb der besungenen Frühlingsstimmung auf, die im weiteren Verlauf des Dramas in einem anderen Kontext wieder aufgenommen wird. Zunächst einmal aber schlägt das Lied, von Rostand ein weiteres Mal an einem romantischen Topos orientiert, eine Brücke zwischen Naturerlebnis und innerem Empfinden Photines, ihrem Sehnen und ihrer Suche nach dem persönlichem Glück, das im Erwachen des Frühlings zunächst Sinnlichkeit und anschließende Sinnesverwirrung nach sich zieht: »›Ouvrez, cœur, fleur, astre, merveille!‹«3 Jesus kommentiert im Folgenden die Aktionen der Samariterin, die ihr Lied fortsetzt. Im Moment, als der Inhalt des Liedes im Sinnesrausch der nächtlichen Vereinigung der Liebenden kulminiert, fällt dieser Höhepunkt mit der Faszination Jesu des von ihm Beobachteten zusammen: PHOTINE.

[...] Viens te poser – avec douceur – comme un sachet, Puis avec force Comme un cachet! PHOTINE. Dans le rond de l’amphore pleine elle se mire... PHOTINE. Comme un cachet d’airain, comme un sachet de myrrhe! PHOTINE. ... S’adresse en ce miroir des rires puérils, Regarde si le fard tient bien au bout des cils, Si ses doigts restent blancs malgré l’eau qui les gèle, 4 – Et le Sauveur est assis, là, sur la margelle!

Bis zu diesem Punkt, einem sorgfältig auf die Bernhardt zugeschnittenen Auftritt der Titelfigur, hat diese Jesus nicht wahrgenommen. »C’est bien la pauvre Humanité / Qui frôle le bonheur et qui passe à côte!« Als sie sich auf den Rückweg begibt, zögert Jesus gleichwohl nur für einen Moment, ihr ein göttliches Zeichen zu geben. Im Wortlaut der Bibel spricht er sie an. Durch die Vorbereitung, welche die Verheißung vom Wasser des Lebens, »Le bondissement frais d’une eau perpétuelle«5 im

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Ebd. Ebd., S. 31. Ebd., S. 33. Ebd., S. 37.

Auftritt der Photine erhalten hat, wird der Samariterin von vornherein eine Teilhabe am göttlichen Heil eingeräumt. Es gilt für Jesus nur, sie aus der Versunkenheit in die eigene Schönheit herauszureißen. Indem die Bekehrung der Protagonistin von der Sinnlichkeit zur Religion auf der Bühne verhandelt wird, stellt La Samaritaine eine direkte Fortsetzung zu La Princesse lointaine dar: Die Muse wird zur Verkünderin und potentiellen Märtyrerin. Rostands Text mutet (anders als in Gides Poetik) wie ein Bekenntnis zu Victor Hugos These an, nach welcher der christliche Glaube die Poesie zur Wahrhaftigkeit führt. Die Schönheit Photines und ihre (in diesem Moment ästhetischer Eigen- und Fremdwahrnehmung durch Jesus ihren Anfang nehmende) Läuterung wird in der folgenden Szene einer genauen Überprüfung unterzogen, nämlich als die Heilsbotschaft von Rostands Jesus, die auf der Schönheit gründet, von Photine als prophetisches Mittlerin der samaritischen Öffentlichkeit verkündet wird. An diesem Punkt wird erneut die Doppelbödigkeit von Rostands Dramentexten offenbar: begegnen die Samariter der christlichen Verkündigung durch die schöne Ehebrecherin Photine durchaus misstrauisch, so zieht es sich wie ein roter Faden durch die Biographie der Bernhardt, dass ihrer mit missionarischem Eifer und Ehrgeiz verfolgten Karriere immer wieder Skepsis entgegenschlägt, die sich, neben Stereotypen gegenüber ihrer nationalen Herkunft oder konfessionellen Zugehörigkeit vor allem auf ihr Äußeres in Relation zu ihrer Ästhetik der Darstellung bezieht. Dies bekommt Sarah Bernhardt seit ihrem Debüt an der Comédie 1862 immer wieder zu spüren, von jenem Schlüsselmoment an, in dem sie erstmals in Racines Iphigénie en Aulide ihre überproportioniert langen, nach eigenem Verständnis der Diva allerdings äußerst bühnenwirksamen Arme zum Opfer hebt. Yet it was the fashionable beauty of the woman that so often captured the attention of audiences and critics, rather than the talent of the actress, and Sarah, whose physique was better suited to her art than was her looks, suffered from this superficial judgement. The laughter provoked by her physique on this occasion was a foretaste of the endless lampoons to which her mass of hair, slender figure and thin limbs would be subjected 6 throughout her career.

La Samaritaine arbeitet demgegenüber an der Einbindung von Bernhardts Physiognomie in die Konstruktion einer theatralen Ikone, die aus den Referenzmustern der Bibel wie der Ästhetik des fin de siècle zusammengesetzt wird. Der Forderung von Avantgardisten wie Mallarmé und Gide nach einer dramatischen Kunstform, die eine Synthese zwischen den Mythen alter Epochen und denen der modernen Zivilisation und Großstädte schafft, kann spielerisch im Unterhaltungstheater mit dem Künstleridol Sarah Bernhardt vollzogen werden. Denn beispielsweise die Figur des gefallenen Samaritermädchens, das zur Prophetin der christlichen Religion aufsteigt, gerinnt zu einer Allegorie auf die Karriere des heimatlosen jüdischen Mädchens, das der bourgeoisen Gesellschaft eine Kunstreligion vermitteln kann. Wie schon in La Princesse lointaine wird zur Akzentuierung der unterschiedlichen religiösen Konzepte in La Samaritaine nicht an Klischees der Judendarstellung gespart, vor allem in der Basarszene am Tor von Sichem, im zweiten Bild. Die Schreie der Händler mischen sich mit dem Unmut der müden und

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Aston, S. 4.

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hungrigen Jünger Jesu über das merkantile Treiben und summieren sich zu einer gereizten Stimmung, wie sie im gleichen biblischen Ambiente Jules Massenet, zu Beginn seiner 1881 in Brüssel uraufgeführten Oper Hérodiade nach Flaubert, zu einem effektvollen Eklat zu steigern wusste. Die Feindschaft der Menge gegen die Apostel bricht sich schließlich in offenen Beschimpfungen Bahn: »Les Juifs s’en vont! – Chiens! – Porceaux! – Voleurs!«7 Die Eröffnung des zweiten Bild verläuft somit parallel zu der des ersten, wo die Schatten der israelitischen Stammväter Abraham, Isaak und Jakob auftreten und den Stamm der Samariter, die Menschen von Sichem als unermüdlich in ihrem Hass gegen Rom und Jerusalem beschrieben haben (»De leurs haines jamais éteintes / Contre Rome et Jérusalem!«).8 In der zweiten Szene des ersten Bildes treten jedoch Samariter auf, welche die entschwundenen Geistererscheinungen der vorhergehenden Szene sehr wohl als Heilige anerkennen. Sie distanzieren sich nicht von ihrer jüdischen Abstammung, nur von dem jüdischen Glauben, dem sie einen von heidnischen Naturreligionen – mit grotesken Idolen – durchmischten Kult entgegensetzen. 9 Vor dieser Folie ist die im zweiten Bild erfolgende religiöse Unterweisung der Menge durch die von Jesus unterwiesene Photine zu lesen, einer »libertine«,10 wie es aus dem Mund eines Samariters kurz vor ihrem Auftritt auf dem Basar zweideutig heißt. Photine versucht sofort nach ihrem Auftritt im zweiten Bild, ihre Stammesgenossen vom Kommen des Messias zu überzeugen, prallt aber auf Widerstand. Die ihr von Jesus ermöglichte Selbsterkenntnis bleibt den meisten anderen Samaritern zunächst versagt. Vor allem die Figur des geltungssüchtigen Priesters der Samariter erhält äußerst negative Züge, als dieser die römische Wache von Photines Werben für Christus informiert. Nachdem der römische Zenturio aber erkannt hat, dass es sich um jenen Jesus von Nazareth handelt, den er seit der Vertreibung der Händler aus dem Tempel von Jerusalem als harmlosen »pauvre Juif pris de mélancolie«11 einstuft, hält er es nicht für nötig, Photine von ihrem Tun abzuhalten. Diese hat nach dem Verschwinden der römischen Wache umgehend Schwierigkeiten, ihre Samariter von einem Messias zu überzeugen, der womöglich mit den Römern sympathisiert. Doch Photine hält dagegen: Vous qui serez les éternels Samaritains, Ne pensez qu’au seul vrai royaume, qu’aux destins Du royaume secret dont aucune province Ne vous sera jamais prise par aucun prince! Puisqu’il faut tôt ou tard que vous soyez mangés, Que vous importe que les fauves soient changés, Et que celui, vers vous, dans l’ombre, qui se traîne, 12 Ce soit le renard juif ou la louve romaine!

Die Überwindung der double bind-Konstellation, in welcher sich in Rostands Bibeladaption die Samariter befinden, ermöglicht demzufolge der christliche Glauben. Der römischen Wölfin als gängiger Allegorie wird mit dem jüdischen

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Rostand, La Samaritaine, S. 52. Ebd., S. 8. Ebd., S. 39. Ebd., S. 10ff. Ebd., S. 76. Ebd., S. 79.

Fuchs ein weiteres Mal ein Bild zur Seite gestellt, das das antijüdische Klischee vom hinterlistigen Juden bedient. Das Auftrittslied, mit dem Photine ihren Weg der Selbstfindung in La Samaritaine beginnt, wird so hinsichtlich seines provokativen Gehalts im Nachhinein noch verständlicher. Weder La Princesse lointaine noch La Samaritaine sparen an Klischees und Stereotypen, die von jüdischen citoyens in der Assimilation zirkulierten. Im Falle des Squarciafico in La Princesse lointaine wird der Antisemitismus mehr als nur gestreift. Beide Dramen Rostands stellen gleichwohl Versuche dar, mittels der vollends zur Integrationsfigur und Ikone stilisierten Sarah Bernhardt das bürgerliche Pariser Publikum der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, ausgehend von einer ästhetischen Eigenschau, an eine Kunstreligion nach dem Vorbild Richard Wagners heranzuführen. Am Ende von La Samaritaine wird deutlich, dass diese keineswegs als Eskapismus, als Abwendung von den Realitäten des alltäglichen bürgerlichen Lebens zu verstehen ist – nämlich als Jesus unter den Samaritern auch einem Händler das Heil mit den Worten verkündet, nur die Tempel wollte er vom Handel freihalten.13 Der feierliche Abschluss des Stückes, bei dem Photine auf die Knie sinkt und der Menge das Vaterunser vorbetet, macht deutlich, dass auf der Diskursebene des Dramas Tempel und Theater eine Synthese bilden sollen, für die ausgerechnet die Außenseiterin Photine innerhalb der dramatischen Handlung alias die gesellschaftliche Grenzgängerin Sarah Bernhardt, welche die heterogenen Gruppen auf der Bühne – wie auch die im Zuschauerraum – zu meditativer Andacht zu ›verführen‹ versteht, Medium und Integrationsfigur wird. Die konsequent paratextuelle Linie, die von La Princesse lointaine zu La Samaritaine gezogen wird, nämlich von der orientalischen Schönheit, die sich nach dem Tod des platonisch Geliebten ins Kloster zurückzieht, zuvor aber noch die Kreuzritter auf ihre Mission einschwört, zur Büßerin, die eine zersplitterte jüdische Gemeinde auf den Weg des ›richtigen‹ (christlichen Glaubens) bringt, relativiert empfindlich den symbolistischen Einschlag, unter dem beide Stücke im Repertoire der Bernhardt meistens subsumiert werden. Als überaus problematisch hervorzuheben bleibt an der Zusammenarbeit Bernhardts und Rostands die vorurteilsbehaftete Einfärbung vom Bild des jüdischen Glaubens zugunsten der skizzierten (pseudo-)christlichen Kunstreligion, sowohl in La Princesse lointaine als auch in La Samaritaine, zum einen durch die Squarciafico-Figur, zum anderen durch die im Vergleich zur Bibel gewaltig verschobene Konstellation von Juden, Römern sowie den von beiden unterdrückten Samaritern.

4.2 Schauspielerinnen und Projektionen – die Verklärung der Eleonora Duse La Samaritaine ist nicht zuletzt aufgrund der eschatologischen Perspektive in der Schlussszene mit D’Annunzios Le Martyre de Saint Sébastien parallelisierbar; in den Mittelpunkt dieses ›Mysteriums‹, einem Hybrid aus den Gattungen des Sprechtheaters, des Oratoriums und der Oper rückt wie in La Samaritaine die Selbstfindung als eine entscheidende Bedingung für die Verwirklichung des

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Ebd., S. 99.

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göttlichen Heilsplans. Doch geht D’Annunzio mindestens einen Schritt weiter als Rostand: Mit dem Martyre verursacht er 1911 in Paris einen Skandal, der die Androhung der Exkommunikation aller an der Aufführung Beteiligten, einschließlich des Publikums, durch den Pariser Erzbischof nach sich zieht (tatsächlich setzt der Heilige Stuhl später D’Annunzios Gesamtwerk auf den Index). »Die Aufnahme der Kritik war verschieden und reichte von schrankenloser Begeisterung bis zu niedrigster Verleumdung.«14 Mit dem Mysterium Le Martyre de Saint Sébastien hat D’Annunzio zugleich seinen Theaterreformbestrebungen eine völlig neue Wendung gegeben, nachdem er sie 1901 an der Seite der bis dato vor allem auf naturalistische Rollen abonnierten Eleonora Duse verfolgt hat. Mit dem Mysterium vom Heiligen Sebastian ›krönt‹ dagegen D’Annunzio eine Mode, die Paul Sabotiers mit der Veröffentlichung von La Vie de Saint François 1893 unter Europas Künstlern und Dichtern ausgelöst hat, und an die sich auch Rostands La Samaritaine anheftet. »Franciscan symbolism accorded with the pseudo-mysticism of the decadents who readily confused art and religion.«15 Zur gleichen Zeit, in der D’Annunzio mit dem Martyre Paris in Aufruhr versetzt, versucht unter einer Schar von regelrechten Jüngern Eleonora Duses der besonders engagierte Rainer Maria Rilke, die Karriere der Duse in Deutschland wieder anzukurbeln, unter anderem mit der Idee einer Aufführung des mittelalterlichen französischen Mysterienspiels Mystère de la passion der Brüder Arnoul und Simon Gréban, »in dem er die Rolle der Maria als Inbegriff der leidenden Frau von der Duse gespielt sehen wollte.«16 Die Duse als Prototyp der Schmerzensmutter im Martyre de Saint Sébastien? Aus ihrer Glorifizierung, die von vielen ihrer schriftstellerisch tätigen Bewunderern betrieben wird, spricht eine andere, diskurstechnisch leicht decodierbare Sprache. Die Duse bietet eine ideale Identifikationsfigur für die eifrig gepflegte Leidenshaltung bekannter Vertreter der europäischen Dekadenz, die über sie auf der Bühne nach den poetischen Vorstellungen ideal transportiert werden kann. Im Unterschied zur Bernhardt spielt die Duse nicht die Muse, auf deren Eingebung jede künstlerische Schöpfung beruht. Sie verkörpert vielmehr die inneren Nöte der, ihren beinahe aussichtslosen Kampf um die persönliche Freiheit schier zelebrierenden, Künstlerriege. Nicht umsonst wird die Figur der Magda in Hermann Sudermanns Heimat (in der italienischen Version mit der Duse unter dem Titel Magda oder Casa paterna17 gespielt), rasch nach der Uraufführung von 1891 im Berliner Lessing-Theater ins Italienische übertragen, eine Paraderolle im Repertoire der Duse. Die deutlich an der 14 Jahre älteren Nora Ibsens orientierte weibliche Emanzipationshandlung wird rasch, wie 1892 in einem Brief der Duse an Sudermann dokumentiert, von der Schauspielerin als Möglichkeit erkannt, ein weiteres Mal die »Neue Frau« zu repräsentieren, die sie als Hedda Gabler und eben als Nora bereits gekonnt gespielt hat. Anders als in diesen Ibsen-Rollen entflieht die Protagonistin hier aber keiner Ehehölle. Stattdessen wird ganz ohne Umschweife das Vaterhaus als ein Gefängnis des Patriarchats dargestellt, in das die Heldin Magda als gefeierte Sängerin, als Bühnenkünstlerin zurückkehrt, zu einem, wie sich am Ende

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Leon Vallas, Debussy und seine Zeit, München 1961, S. 358. Giovanni Pontiero, Eleonora Duse, Frankfurt a. M. 1986, S. 156. Ilsedore B. Jonas, Rilke und die Duse, Frankfurt a. M./Leipzig 1993, S. 117. Olga Signorelli, Das Vermächtnis der Duse, Herrenalb 1962, S. 294.

herausstellt, letzten Kampf um Anerkennung in der Familie, der mit dem Tod des Vaters endet. 1895 setzt sich die Duse in London in Heimat dem direkten Vergleich mit der in derselben Rolle gastierenden Bernhardt aus, um von Shaw als Kritiker höchstes Lob zu ernten.18 Es mutet wie eine Ironie des Schicksals an, dass die Figur der Magda in Sudermanns Heimat, welche die Duse wie erwähnt mit großem Erfolg 1892 in ihr Repertoire aufgenommen hat, vergleichbar Ibsens Nora aus der patriarchalischen Struktur ausbricht, sich mit der autoritären Vaterfigur überwirft und ihre Emanzipation ausgerechnet in einer Bühnenkarriere vollzieht. Die Idealisierung der Theaterkunst als Möglichkeit zur Entfaltung der individuellen Persönlichkeit, in der deutschen Geistesgeschichte kaum von Goethes Wilhelm Meister als Hintergrund ablösbar, lebt mittels Sudermanns Drama in der weltweit auf breiter Basis rezipierten ›Nervenkunst‹ der Duse ein weiteres Mal auf; umso größer der Kontrast, dass die Bernhardt sich wie erwähnt mit dem Werther die Demontage eines Konzeptes der Selbstfindung aus dem ästhetischen Empfinden heraus auf den Leib geschrieben hat. Den Weg einer Aussöhnung des Individuums zwischen den Gegensätzen der Kunst und des gesellschaftlichen Lebens (den ein Jahrhundert vorher als Italienreisende Goethe und sein Romanheld Wilhelm Meister von der Theatralischen Sendung zu den Lehrjahren vollzogen haben) schlagen die sozialkritischen Dramatiker der Jahrhundertwende ebensowenig ein, wie die Virtuosin Bernhardt ihr ›animalisches‹ Temperament zähmen kann und will (um die Begrifflichkeit Shaws und Hofmannsthals aufzugreifen). Als Konsequenz aus dieser Konstellation ergibt sich das künstlerische Risiko, dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine nachschöpfende Künstlerin wie die Duse erliegt und der Dramatiker Shaw zumindest ausgesetzt ist: nämlich dass ein künstlerisches Konzept der Selbsthinterfragung, die sich tradierten ästhetischen Formschemata und Idealen unterordnet, ideologisch inkorporiert und institutionalisiert wird. Shaw, der in der Kunst seine sozialistische Vision exemplarisch entwickeln zu können glaubt, reproduziert Moralvorstellungen, gegen die er Stellung beziehen will, teilweise über die als vorbildlich eingestuften dramatischen Form und die moralische Imprägnierung ästhetischer Kategorien: etwa wenn er als Kritiker das Toben der Bernhardt als verwerflich einstuft und das französische Theater speziell gegenüber Wagners Musikdrama als unterentwickelt einstuft.19 Die Duse, deren internationale Karriere zu Beginn eine Revolution der Schauspielästhetik verheißt, steuert zunehmend in eine Sackgasse, oder vielmehr einen ›Kreisverkehr‹ ästhetischer Selbstvervielfältigung, welche die ambivalente Vision der Ästheten von einer Selbstverdopplung noch potenziert. Die Duse hat, bevor sie Gabriele d’Annunzio kennenlernte, ihre Erfolge vor allem mit Dramen vergangener Jahrzehnte gefeiert, so wie mit Dumas’ La Dame aux camélias oder Giovanni Vergas Cavalleria rusticana. Vom Repertoire her unterscheidet sie sich von der Bernhardt hauptsächlich durch ihre Darstellungen der Frauenrollen von Ibsen, um welche die Bernhardt einen Bogen macht. Als Antipodin der Bernhardt bedarf es mehr, nämlich eigens auf die darstellerischen

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Susan Bassnett, Eleonora Duse. In: Stokes/Booth/Bassnett, S. 213f. Shaw, Our Theatres in the Nineties, S. 158 (»The great modern master […] Richard Wagner, with regard to whom the French nation is still in a comparatively benighted condition«).

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Qualitäten der neuen Diva zugeschnittener Texte. Denn die Bernhardt, in Kenntnis der plötzlichen Gefährdung ihrer Vormachtstellung auf den Theaterbühnen Europas angesichts der überschwenglichen Kritiken für die Duse wie der Shaws, gesteht ihrer Konkurrentin zu, eine »sehr große Schauspielerin« zu sein, aber »keine große Künstlerin«. Zwar bezichtigt die Ikone der Pariser Theaterszene ihre Rivalin nicht der Kopierung, jedoch: sie pflanzt Blumen, wo jene Bäume gepflanzt hatten, und Bäume, wo bei jenen Blumen gewesen sind; aber sie hat mit ihrer Kunst niemals eine Gestalt geschaffen, die man als eins mit ihrem Namen betrachten könnte; sie hat niemals ein lebendiges Wesen oder eine Vision gestaltet, die uns unmittelbar an sie denken ließe. Sie hat nichts anderes getan, als 20 die Handschuhe der andern anzuziehen, nur daß sie sie verkehrt angezogen hat.

Insbesondere der letzte Satz macht unter Theaterkennern die Runde. Die Bernhardt versteht es, die Duse zu ihrem Schatten oder eben, dem Zeitgeist entsprechend, zu ihrer spiegelverkehrten Kopie zu degradieren, wie einerseits am Beispiel der Handschuhe ersichtlich, andererseits bereits vorher im Kontrast von Bäumen und Blumen. Tatsächlich besteht eine Gemeinsamkeit der beiden Rivalinnen in der floralen Symbolik und Ästhetik, derer sie sich auf der Bühne spielerisch bedienten. So steht wie erwähnt der Blumenschmuck der Bernhardt im Zusammenhang mit der Ästhetisierung und Wirklichkeitsauffassung des Jugendstils. Die Duse dagegen »fügte echte Blumen in ihr Bühnenspiel ein.«21 Dass sich in der heutigen Aufarbeitung und Beschäftigung mit den beiden Schauspielerinnen die Konkurrenz beider nicht mehr ausblenden lässt, nimmt angesichts dieses Beispiels nicht wunder: das Diktum der Bernhardt, nach welchem die Handschuhe der andern von der Duse nur verkehrt angezogen werden, lässt sich auf diese florale Metaphorik zurückwenden. Die Duse avanciert zur Doppelgängerin, einem Spiegelbild, das sein Vorbild aber in der Natürlichkeit übertrifft, wie die wichtigen Beschreibungen von Shaw, Bahr oder Hofmannsthal hervorheben. Letzterer hat unter seinem JugendPseudonym Loris im Jahre 1892 einen Text Eleonora Duse – Eine Wiener Theaterwoche verfasst, der in den Duse-Monographien gerne zitiert wird und signifikanterweise genau das Gegenteil vom Urteil der Bernhardt über die Konkurrentin formuliert: Ich möchte eine geniale Künstlerin, wie die Duse, nicht gerne mit einer bedeutenden Schauspielerin, wie die Wolter vergleichen. Sie treiben verschiedene Künste; zumindest wirken sie in derselben Kunst zweierlei... Ich möchte auch nicht gern eine geniale Künstlerin, wie die Duse, mit einer großen Virtuosin, wie die Sarah Bernhardt, vergleichen. Die Sarah Bernhardt hat keinen Stil, die hat nur Temperament. Sie spielt sich selbst, die raffinierte Stimmungslyrik ihrer Glieder, die Tragikomödie ihrer Nerven, die Tierhetze 22 ihrer Leidenschaften. Ihr Temperament sprengt jede Charakteristik.

Hofmannsthals Bewertung deckt sich mit der Shaws in der Kritik zu La Princesse lointaine, was die Unbeherrschtheit der Bernhardt bis zur Raserei und die

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zitiert nach Frederic W. Nielsen, Eleonora Duse, Freiburg i. Br. 1984, S. 41f. Balk, S. 157. Hugo von Hofmannsthal, Eleonora Duse. Eine Wiener Theaterwoche. In: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa 1, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt a. M. 1950, S. 66f.

formvollendete Natürlichkeit der Duse anbelangt. Demnach ist Künstlertum einzig und allein der Duse einzuräumen, wobei Hofmannsthal trickreich ästhetische Kategorien, zumal für das Theater, je nach argumentativem Bedarf einsetzt und adaptiert. So am Ende des zitierten Abschnitts, nach welchem das ›animalische‹ Temperament der Bernhardt jegliche Charakteristik unterminiere. Das Charakteristische als ästhetische Kategorie wird in der Romantik gerne als Legitimierung ›hässlicher‹ Parameter der Darstellung benutzt. Was der Opernforscher Carl Dahlhaus über die Kontroverse des 19. Jahrhunderts um das Charakteristische bemerkt, ist auch auf Hofmannsthals Versuch beziehbar, die Bernhardt gegen die Duse auszuspielen: Sowohl die idealistische als auch die realistische Interpretation war von dem Bewußtsein getragen, daß der Streit über das Charakteristische, wie immer er ausgehen mochte, jedenfalls nichts Geringeres als eine Auseinandersetzung über die ästhetischen Grundlagen der Moderne darstellte, eines Zeitalters, das insgesamt – sei es in einer Stimmung der Resignation oder des Fortschrittsenthusiasmus, also mit konservativer oder liberaler Akzentuierung – davon überzeugt war, daß die Kategorie des Schönen zur Begründung einer Kunst, die der »Forderung des Tages« – oder pathetischer: dem, was geschichtsphilosophisch an der Zeit war – gerecht zu werden versuchte, nicht mehr 23 genügte.

Die Konzeption der Moderne des jungen Hofmannsthal, der dem Fortschrittsglauben skeptisch gegenübersteht, ist auf der Romantik aufgebaut, um die ›Charakteristik‹, die im Spiel der Bernhardt durch eine Verdoppelung ihrer ›realen‹ Affekte substituiert wird, wieder in eine idealistische Größe, ein allgemein Charakteristisches umwandeln zu können. So heißt es bei ›Loris‹ zur Duse: Die Duse spielt nicht sich, sie spielt die Gestalt des Dichters. Und wo der Dichter erlahmt und sie im Stich läßt, spielt sie seine Puppe als lebendiges Wesen, in dem Geiste, den er nicht gehabt hat, mit der letzten Deutlichkeit, die er nicht gefunden hat, mit einheitlicher 24 schaffender Gewalt und der Gabe der intuitiven Psychologie.

Nach dem Ende der künstlerischen und persönlichen Verbindung mit D’Annunzio sieht sich die Duse allerdings einstweilen nicht im Stand, ihre schauspielerische Laufbahn weiterzuverfolgen, sehr zum Leidwesen ihrer Bewunderer. Von Hermann Bahr stammt eine Tagebuchnotiz vom 5. April 1905, in der Folgendes zu lesen ist: Sie klagt nämlich: Das Apostolat für d’Annunzio ist erfüllt, was soll ich also noch? Mein Amt ist aus. Ich: Ihr Amt fängt erst an. Durch d’Annunzio hat Sie das Besoin de beauté auf das Äußerste erregt, erfüllen können Sie es nur, wenn Sie das Höchste vollbringen, wonach unsere ganze Epoche drängt: Faire revivre l’antiquité. Du moment que vous la toucherez elle sera neuve. [...] Wir sind auf das Thema gekommen durch eine Bemerkung Isidorens, sie sei immer durch die Anwesenheit der andern Schauspieler neben der Duse auf der Bühne verletzt. Presque jalouse, möchte sie auf einer ganz leeren Bühne allein sich bewegen sehen. Ich denke an Darmstadt, denke an Keßler – Weimar, denke an meinen alten Salzburger Plan. Mein Gefühl ist, daß sie aus einem Theater der Emotion heraus will, zu dem Theater der Anschauung, der dionysischen Versunkenheit, das nun freilich kaum 25 mehr ein Theater genannt werden kann.

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Carl Dahlhaus, Musikalischer Realismus, München 21984, S. 45. Hofmannsthal, Eleonora Duse, S. 67f. Joseph Gregor (Hg.), Meister und Meisterbriefe um Hermann Bahr, Wien 1947, S. 207.

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Für Bahr verkörpert die Duse gerade nach der Enttäuschung mit und über D’Annunzio eine klassische Schönheit; in einer vorangehenden Notiz vom selben Tag meint er, die Duse wolle im Gegensatz zur Duncan »ihr ›Ideal‹ den Traum der erhabenen Stunden vor der Welt ((verbergen)), am liebsten vergraben sich in irgend einer Hütte verkriechen, damit es ihr nicht verhöhnt und besudelt wird – das ist Abseits-Kultur ganz wie im sinkenden Athen [...].«26 In Bahrs Idealisierung haben weder der Aspekt eines Karrieretiefschlags noch der der persönlichen Kränkung als Gründe für die Niedergeschlagenheit der Duse Platz. Und wenn, so haben sie primär die Funktion, die Duse als Künstlerin auf dem Weg der Erkenntnis zur Verwirklichung einer ästhetischen Vision weiterzubringen. In diesem Sinne ist auch die Mutmaßung Bahrs zu verstehen, nach der es die Duse aus einem ›Theater der Emotion‹ herausdrängt. Für ihn, der im Café Griensteidl 14 Jahre zuvor die Überwindung des Naturalismus gepredigt hat, kann der in Francesca da Rimini kulminierende Irrweg von D’Annunzios neoromantischem Historismus nur der lang erwartete Wendepunkt im Werdegang der verehrten Schauspielerin sein, der in naturalistischen Dramen des italienischen Verismo, wie Cavalleria rusticana, seinen Ausgangspunkt genommen hat. Die weiteren Berufsjahre der Eleonora Duse halten der Utopie Bahrs nicht stand: es reproduziert sich vielmehr das Leben in der Kunst, wie es D’Annunzios Parisina suggeriert. Der Reifungsprozess, den die Duse ihren ambitionierten Verehrern aus der Dramenproduktion so eindrucksvoll vorzuspielen vermag, erschöpft sich in den bekannten dramatischen Formen und Rahmenbedingungen. Mit Ibsens Frau vom Meer kann sie an ihre großen Erfolge anknüpfen, ihnen sogar noch Nuancen hinzufügen. Sie bleibt eine Primadonna in der Vergegenwärtigung des flüchtigen Augenblicks, eine Hohepriesterin der Vergänglichkeit. Doch Bahrs Hoffnungen einer Wiederbelebung der Antike erfüllen sich nicht. Die Duse versucht zwar, Hofmannsthals Elektra in ihr Repertoire aufzunehmen, stößt dabei aber nicht auf ausreichendes Interesse der Produzenten. Auch Hofmannsthals Rosenkavalier weist noch deutliche Spuren der Begeisterung für die Darstellungskunst der Duse, wie am Beispiel der Nora gezeigt, für den Moment der inneren Wandlung und Selbsterkenntnis auf: der erste Aufzug des Rosenkavalier schließt haargenau wie der vierte der Second Mrs Tanqueray von Sir Arthur Wing Pinero bzw. der Seconda Moglie, wie das Stück in der italienischen Fassung im Repertoire der Duse heißt. Als ein weiterer, zeitgleich zu D’Annunzios und Duses Scheitern mit »einem modernen Drama, das aus den Wurzen des alten griechischen Dramas entspringen soll«,27 entstandener Beleg für diese Ästhetik der Wiederholung, derer sich Oscar Wilde als Gefahr so stark bewusst war, kann das Dramolett Die weiße Fürstin gelten, das Rainer Maria Rilke der Duse gewidmet hat. Spätestens mit dem Blick in den Spiegel der Protagonistin am Ende des Textes28 wird klar, wie sich die Gesten und Posen einer großen Schauspielerin im Mystischen verlieren, das von Programmatikern wie Bahr mit zusätzlichen Inhalten aufgeladen worden ist. Doch sind dies nur noch späte symbolistische Lichtreflexe eines Theaters der Abhängigkeiten, in dem die Schauspielerin einerseits von einer geheimnisvollen

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Ebd. 3 Maria Gazzetti, Gabriele d’Annunzio, Reinbek 2000, S. 73. Vgl. Jonas, S. 43–70 (hier S. 69).

Aura umgeben, andererseits durch die in sie gesetzten Erwartungshaltungen schier erdrückt wird. Für alle großen Schauspielerinnen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist der Ruhm noch in dem faustischen Pakt erworben, gleichermaßen ewig jugendlich für die Bühne wie als ›gefallene Frau‹ im Privatleben zu gelten. Die Duse steht diesbezüglich gleichsam zwischen den beiden Extremen der Bernhardt und der spätviktorianischen Shakespeare-Darstellerin schlechthin: Ellen Terry. An ihr lässt sich, zusätzlich zur Verpflichtung, auf der Bühne nicht zu altern, die Unvereinbarkeit des Berufs der Schauspielerin mit einem stabilen und zurückgezogenen Familienleben, selbst wenn ihr nicht der Ruf der Amoralität anhängt, am deutlichsten nachvollziehen. Ihre drei Ehen scheitern, die erste mit einem Maler, die zweite mit dem »vielbegabte[n]« William Godwin, Edward Gordon Craigs Vater, der sie mit den Präraffaeliten in Verbindung bringt, und zuletzt die mit einem jungen amerikanischen Schauspieler.29 Kritiker wie Bernard Shaw erheben sie zur Kultfigur, nehmen sie jedoch ebenfalls als von Henry Irving geknebelte Künstlerpersönlichkeit wahr, der sie 1878 ans Lyceum Theatre bindet. Dass sie derartig doppelt festgelegt ist, steht ihrem Erfolg in zeitnäheren Stücken im Weg, so 1903 in Ibsens Helden von Helgeland im Imperial Theatre, unter der Regie von Craig. »Das Strahlende und Heitere, ihr Frohsinn und ihre Weiblichkeit; das waren ihre Stärken als Schauspielerin, [...] sie waren aber auch ihr ›Gefängnis‹, ein Gefängnis, aus dem heraus sie nur zögernd eine gnaden- und schonungslosere Realität erblicken konnte.«30

4.3 Ent-Mystifizierung in Franziska (1912) Künstlerschicksale wie etwa die der Duse oder der Terry, zwischen enger Festlegung auf ein weibliches Rollenbild und der gleichzeitigen, maßlosen Verklärung zur Ikone innerhalb dieses Bildes, machen nachvollziehbar, wie Frank Wedekind 1911 dazu kommt, das »moderne[s] Mysterium« eines weiblichen Faust zu schreiben. Die theatrale Form des Mysteriums, deren europaweites Wiederaufleben D’Annunzio wie beschrieben für den Skandal um Le Martyre de Saint Sébastien zu nutzen versteht, wird in Kombination mit der Frage nach einer möglichen Emanzipation der Frau innerhalb der Kunst von Frank Wedekind einer Zerreißprobe unterzogen, nämlich mit dem modernen Mysterium in fünf Akten Franziska. Die Überlagerung von Stationendrama mit der klassischen fünfaktigen Anlage findet ihre inhaltlich-motivische Entsprechung in den Parallelen zu Goethes Faust. Hartmut Vinçon weist in diesem Zusammenhang auf ein Missverständnis in der Wedekind-Rezeption hin: »Zugleich scheint das Werk Parodie und Pastiche der Faustsage und der Faust-Dichtung Goethes zu sein, aber mit dem Anspruch, WeltTheater zu sein, ein Mysterienspiel, Theater im Theater, ausgestattet mit Chören und Liedern.«31 Mitnichten aber steht die Parodie dem ›Anspruch‹ des Welttheaters im Wege, denn der Untertitel »modernes Mysterium« gibt zu erkennen, »daß auch er

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Booth, S. 90 f. und 106. Ebd., S. 156. Hartmut Vinçon, Frank Wedekind, Stuttgart 1987, S. 231.

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schon ironisch gefärbt war, eine zitierte Phrase, von der damals, nicht nur in der Literatur – geradezu inflationär Gebrauch gemacht wurde.«32 Im 4. Akt von Franziska, kurz bevor der verhinderte Mephisto Veit Kunz seine Paktiererin an den Heldendarsteller Breitenbach verliert, erläutert Kunz dem Zeitungskorrespondenten William Fahrstuhl sein künstlerisches Credo: VEIT KUNZ: Kunst ist der Spiegel, in dem der Mensch seine Lebensfreude betrachtet. Denn solange ihm das Leben nur Unannehmlichkeiten bringt, hat er keine Zeit und keine Lust, in den Spiegel zu sehen. FAHRSTUHL (schreibend): Das stimmt. Davon kann ich ein Liedchen singen.

Allein schon diese Replik spottet aller künstlerdramatischen Entwürfe der Jahrhundertwende, die sich am idealistischen Anspruch der gesellschaftlichen Veränderung durch die Kunst messen. Egal ob Kunstproduzent oder -rezipient, alle sind sozialpsychologisch in ihrer Bequemlichkeit durchschaubar. Der Anspruch einer transzendentalen oder quasireligiösen Erfahrung im Sinne Wagners oder der französischen Romantik und Neoromantik bleibt im Materialismus und Egoismus der Moderne auf der Strecke, für den der antike Narziss kein Krankheitsbild abgibt. Er gibt vielmehr die Marschroute für einen Wettbewerb vor, der als alles beherrschendes Prinzip die menschliche Psyche dominiert: VEIT KUNZ: Nun wirkt aber der Spiegel belebend und anregend auf den zurück, der sich darin spiegelt, da der Glückliche nicht nur die Freude, die er selber empfindet, sondern obendrein auch den Anblick des Spiegelbildes seiner Freude genießt. Dadurch wird nun aber auch das Spiegelbild wieder um ebensoviel belebter und angeregter. Und so feuern und spornen sich die beiden, Mensch und Spiegelbild, gegenseitig zu immer wilderem Genießen an, bis... BREITENBACH: Bis der Mensch seinem eigenen Spiegelbild ins Gesicht speien möchte. FRANZISKA: Oder bis er vor seinem Spiegelbild behaglich einschläft. FAHRSTUHL: Oder bis die hohe Obrigkeit kommt und den Spiegel in tausend Scherben 33 schlägt.

Fahrstuhls Bemerkung am Ende der zitierten Passage, die wie in vielen Stücken auf Wedekinds Erfahrungen mit der Zensur rekurriert – bedarf nach dem Finale des vorangegangenen Aktes keiner Bestätigung mehr, da dort das Spiel im Spiel am Hofe des Herzogs von Rotenburg tatsächlich vom Rotenburger Polizeipräsidenten gesprengt worden ist. Die Spiegelmetaphorik von Kunz dagegen lässt sich anhand dieser Festspiel-Darbietung im herzoglichen Garten im Rückblick eingehend hinterfragen. Franziska hat die Bühne im 6. Bild des 3. Aktes »im mittelalterlichen Frauenkleid, mit breitem Halsausschnitt, einen Blumenkranz im Haar, die Hände in Handschuhen, eine halb gefüllte Glasschale tragend«34 betreten. Die Anleihen bei den Moden der Jahrhundertwende sind klar ersichtlich, von der mittelalterlichen Kostümierung bis zur floralen Dekoration, derer sich die Bernhardt wie die Duse als Accessoires bedient haben. Doch die Anspielungen werden im Folgenden noch klarer; die von Veit Kunz geschwängerte Schauspielerin Franziska beklagt sich in ihrer Rolle über die Last der gefüllten Schale und setzt sich zur Rast an den Rand

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Ebd. Frank Wedekind, Franziska. In: ders., Werke in zwei Bänden, hg. von Erhard Weidl, Bd. 2, München 1996, S. 721. Ebd., S. 703.

eines Brunnen, während sie einem mit sich hergeführten Kind nahelegt, sich währenddessen beim Blumenpflücken zu vergnügen. Auf die Frage des Kindes, von wem sie den Kranz erhalten habe, entwickelt sich folgende Szene: FRANZISKA (danach tastend): Den Blumenkranz? – Den hatt’ ich fast vergessen. Ich weiß nicht, wer ihn mir ins Haar gedrückt. Nie sah ich mich bekränzt. Ob er mich schmückt, Läßt sich wohl aus dem Spiegel nur ermessen. DAS KIND (taucht die Hand in den Brunnen): Das Wasser ist so still, so rein, so klar, Daß man den blauen Himmel drin erblickt. FRANZISKA (beugt sich über den Brunnen): Ich seh mein Bild und bin von ihm entzückt. Wie kommt es, daß ich in den schönsten Jahren 35 An Leid soviel, an Freude nichts erfahren?

Diese ganz und gar narzisstische Selbstbegegnung einer Frau verbindet Wedekind nun mit dem romantischen Doppelgängermotiv, indem aus dem schäumenden Brunnenwasser die Geliebte des Herzogs, Gislind, als feenhafte Erscheinung »nur mit einem weißen Schleier um die Hüften bekleidet«, auftaucht.36 Zwischen beiden Frauen entspinnt sich ein Dialog um die gefüllte Schale Franziskas und ein Pendant, das Gislind aus dem Brunnen hervorholt. Der jugendstilhafte Mystizismus der Szenerie kippt unversehens in eine deutliche Sexualmetaphorik um: FRANZISKA: Den Menschen bring ich diesen heiligen Trank. An seiner Glut erquicken sich Millionen, Die meine Mühe nur mit Undank lohnen. GISLIND (sich auf den Brunnenrand setzend) Mir ward für meine Fröhlichkeit ihr Dank In reichstem Maß zuteil. Auch eine Schale Mit schimmernd bunten Farben wunderbar Geziert wie deine, brachten sie mir dar. Wir tranken draus bei manchem lust’gen Mahle. Stets schwimmt sie obenauf. Sie wiegt so leicht! Wer weiß, ob sie nicht gleich mein Arm erreicht. (Sie taucht den Arm in den Brunnen und hebt eine flache Kristallschale heraus.) FRANZISKA: Du Glückliche, zeig mir die Schale her! 37 Beneidenswerte Schwester! Sie ist leer!

Es schließt sich der Auftritt des Drachen mit dem Kopf eines Hundes und dem eines Schweins an, der Franziska die Anstiftung zur Unzucht vorwirft und vom Herzog im Sankt-Georgs-Kostüm bekämpft wird. Müßig, auf die Metaphorik der Schalen hinzuweisen, die Wedekind für die Nacktheit der beiden Frauen eingesetzt hat. Das Spiel im Spiel stützt genau die im 3. Akt von Kunz, Breitenbach und Franziska entworfene Poetik, nach welcher jede Form von Massen-Kunst zur Affirmation der alten Hierarchien gerät. Selbst vermeintlich provokative Pornographie wie die eines Aubrey Beardsley befriedigt nur im Privaten die Gelüste ihrer Zensoren, die bisweilen noch mit ihrer Liberalität kokettieren. Denn über Zensur und – je nach Bedarf – bürgerliche Selbstfeier der erotischen Freizügigkeit bleibt die Sexualität immer ein Mittel, die Regulierung der Selbstachtung ›anders‹ Denkender und Fühlender zu manipulieren. Die ästhetische Selbstbefreiung aus der Klammer der

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Ebd. Ebd., S. 704. Ebd.

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Pathologisierung bestätigt nur die bestehende Moral. Wenn die Duse als Magda in Sudermanns Heimat als Frucht ihres künstlerischen Ruhms den Tod des Vaters herbeiführt, erhält sie vom Arzt am Ende immerhin die Erlaubnis, an seinem Sarg zu beten. Die von Sarah Bernhardt vorexerzierte Kunstreligion erschöpft sich in martialischen Kreuzritterparolen und dem wortwörtlichen Vaterunser. Für die Titelheldin in Wedekinds Franziska bleibt nur der Rückzug in die Dachauer Künstlerkolonie als abgeschottete Eremitenbehausung unter Gleichgesinnten. Wedekind zieht in Franziska die Summe aus seinen Erfahrungen zur Verschränkung sozialer Fragestellungen mit einer Form des Dramas, die in ihrer Selbstreferentialität einem für die Gesellschaft nutzbaren Erkenntnisgewinn der Protagonisten entgegensteht.

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5. Grandiosität und Inferiorität – Künstlerdrama als Beziehungsdrama

5.1 Studie der Beziehungsunfähigkeit – Der Kammersänger (1899) Franziska ist Schlusspunkt einer Entwicklung in Wedekinds dramatischem Werk, die mit dem Kammersänger ihren Ausgangspunkt genommen hat. Die Polemik dieses Einakters aus dem Jahr 1897 (uraufgeführt am 10.12.1899 an der Berliner Sezessionsbühne) richtet sich in dem Wagner’schen Heldentenor auf ein Ziel, dessen Faszination aus Wedekinds satirischer Sicht auf den Wagnerismus des fin de siècle eben nicht die dekadenten und empathischen Momente ausmachen. Statt des Künstlerdramas greift Wedekind auf die Künstlerparodie zurück, um am Beispiel des von seinen Anhängerinnen vergötterten Wagner-Heroen ein Bild von virtuosester Selbstüberschätzung, Größenwahn, sozialer Inkompetenz und zuletzt peinlicher Hilflosigkeit zu zeichnen. Dass diese Satire sich an einem Phänomen fanatischer Publikumsbegeisterung entzündet hat, das sich historisch an überaus prominenten Beispielen als ›Infektion‹ mit dem Hang zur übermäßigen Verehrung Wagner’scher Helden diagnostizieren lässt, belegt (wie zuvor im Fall des Nervenfiebers der Wagner nacheifernden Neoromantiker) ein Blick in die Tagebuchaufzeichnungen der jungen Alma Mahler-Werfel, geborene Schindler, deren Vergötterung des Wiener Staatsopernsängers Erik Schmedes als Meister der Vergegenwärtigungskunst mehrmals die Schwärmerei für die schöpferische Vorlage Wagners schier zu übersteigen droht. Schmedes war 1898 von Dresden nach Wien gekommen und hatte 1898 dort in der Titelrolle von Wagners Siegfried debütiert, um am selben Ort erst ein Vierteljahrhundert später seinen Bühnenabschied zu nehmen.1 Über einen Auftritt in seiner Debütrolle, zwei Jahre nach der ersten Vorstellung, hält Alma Schindler in ihren Aufzeichnungen fest: »Ich bin halt wahnsinnig. Diese verzehrende Leidenschaft. Und dann... Schmedes! Er war so gut. Wenn ich ihn jetzt da hätte, wäre ich zu allem fähig.« Die persönliche Begegnung freilich hat Alma Mahler-Werfel zu diesem Zeitpunkt längst einen ganz anderen Eindruck von der Künstlerpersönlichkeit Schmedes vermittelt, den sie am 3. März 1899 festhält: Er lässt natürlich keinen seiner Collegen gelten, copiert alle, carikiert sie trefflich und thut einem dabei doch leid wegen seiner Dummheit. Jeder Mensch sieht doch, dass das nur Brotneid ist. Wenn man da einen bildenden Künstler ansieht – diese Bescheidenheit und Zurückhaltung. [...] Man muss bedenken, dass der ausübende Künstler nur den momentanen Erfolg hat, und also trachten muss, in die Mode zu kommen, was beim 2 bildenden K. absolut nicht der Fall ist.

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Fischer, Gustav Mahler, S. 375. Mahler-Werfel, Tagebuch-Suiten, S. 198.

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Wären Notizen wie diese schon zu Lebzeiten von Zeitgenossen einsehbar gewesen, so fänden sich wohl weniger schmeichelhafte Meinungen wie etwa die von Shaws Übersetzer Siegfried Trebitsch, der Alma, als »mit reichen Gaben des Körpers und des Geistes beschenkte junge Dame« beschrieben hatte, als »Tochter des ruhmreichen Wiener Malers Schindler [...] wie geschaffen dafür, großen Künstlern den Lebensweg voll tiefen Verstehens zu erleichtern«.3 So klischeebeladen und sentenzenhaft sich besagter Tagebucheintrag der Alma Schindler liest, zeigt er doch, wie die gerade dem ›Teenager‹-Alter entwachsende Alma Schindler bestrebt ist, bei aller Begeisterung zwischen der Bühnenaura des bewunderten Sängers und seiner in ihren Augen defizitären Persönlichkeitsstruktur zu differenzieren. Was auf der Bühne in seiner Natürlichkeit sexuell geradezu enthemmend wirkt, entpuppt sich im Kontext der letzten Jahre der Donaumonarchie als nicht gesellschaftsfähige Plumpheit. Darin erfährt zugleich das Bild des wenn auch nicht notwendigerweise amoralischen, so doch des zwangsläufig außerhalb der kodifizierten Moral stehenden Künstlers eine kurios anmutende Bestätigung. Wedekind baut seine Satire im Kammersänger im Wesentlichen darauf auf, dass sich der sinnliche Ausnahme- zum Dauerzustand der vor allem weiblichen Anhängerschaft des Wagnertenors ausweitet. Ganz im Gegensatz zum kränklichen, asexuellen und transzendental orientierten Minnesänger, der von Rostand in La Princesse lointaine in einem Wagner’schen Mittelalter gezeichnet wird, steht bei Wedekind mit Gerardo ein zeitgemäßer Opernsänger des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf der Bühne, der durch und durch Materialist ist. Mittels dieser Figur eines (Anti-)Künstlers stellt Wedekind in vielfacher Hinsicht ein Klischee bloß, das mit der Pflege von Wagners Musikdramen eng verknüpft ist: Es ist vor allem der kultische Aspekt, der, als Reverenz vor dem Bühnenweihfestspiel Parsifal, Wagners Schaffen – entgegen allen finanziellen Schwierigkeiten, mit denen die Realisierung seiner Festspielidee verbunden war – den kommerziellen Zwängen und Mechanismen aller anderen Formen des Theaterbetriebes zu entheben sucht. Hinzu kommt, dass Wagners Sängerideal (an dessen posthumer Umsetzung seine Witwe Cosima kräftig durch die Einrichtung einer eigenen Schule für den Wagnergesang in Bayreuth weiterarbeitet) auf einer genauen Instruktion im Geiste des Meisters fußt, derer Wedekinds Kammersänger als Naturtalent, das zuvor seinen Lebensunterhalt mit der ehrlichen Arbeit eines Tapeziergehilfen bestritten hat, nur bedingt bedurfte. Dem Komponisten Dühring, der Gerardo seine Oper vorstellen will, zerstört der Kammersänger einen Lebenstraum, indem er mit der Wagnerschen Musik und ihrer Aufführung idealistische wie ideologische Ausrichtungsversuche jedweder Kunst ins Reich der Fabel verweist und dem Gesetz nicht manipulierbarer wirtschaftlicher Mechanismen unterstellt: GERARDO:

[...] Der Maßstab für die Bedeutung eines Menschen ist die Welt und nicht die innere Überzeugung, die man sich durch jahrelanges Hinbrüten aneignet. Ich habe mich auch nicht auf den Markt gestellt; man hat mich entdeckt. E s g i b t k e i n e v e r k a n n t e n

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Siegfried Trebitsch, Chronik eines Lebens, Zürich 1951, S. 223.

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G e n i e s . Wir sind nun einmal nicht die Herren unseres Geschickes; d e r M e n s c h i s t 4 zum Sklaven geboren!

Die Negation des künstlerischen Credos von menschlicher Freiheit und Emanzipation, das der revolutionäre Wagner formuliert hat, wird von Wedekind einem Vermittler der zweiten Generation von Wagners Kunst in den Mund gelegt. Propagieren Wagner-Ideologen im Wahnfried-Kreis, angeführt von dem seit 1878 als Herausgeber der Bayreuther Blätter tätigen Hans von Wolzogen, dass die Aufführung der Musikdramen ihres Meisters religiösen Charakter haben sollte, der dem Materialismus ihrer Epoche entgegensteht, wird im Kammersänger die glatte Verkehrung dargestellt. »Sehen Sie in mir keinen berühmten Sänger, sondern das unwürdige W e r k z e u g in der Hand eines erhabenen M e i s t e r s .«5 Diesen Rat hat Gerardo zu Beginn der sechzehnjährigen englischen Verehrerin Miss Coeurne gegeben. Doch hinter dem Gesang dieses Heldentenors, der Ausdruck der individuellen Freiheit sein sollte, liegt das Künstlerschicksal materialistischen Zynismus versteckt. Der Kammersänger Gerardo hat mit dem dummen Naturburschen, als den Alma Schindler beispielsweise den Bühnenhelden Schmedes im Privatleben charakterisiert, nichts gemeinsam. Der Naivität, einem unschuldigen oder gar paradiesischen Urzustand, die noch in den Aufzeichnungen späterer Generationen auf den Heldentenor projiziert werden, entzieht Wedekind mit dem mechanistischen Weltbild seines Protagonisten jegliche Glaubwürdigkeit. Gerardo, diese Karikatur eines Kammersängers, ist ein Narzisst, der zwar beim ersten Besehen nicht durch Eitelkeit und Verschlossenheit Distanz hält, ja sogar umgänglich wirkt. Er lässt aber keinen Moment des Stückes Zweifel an der Unfähigkeit, Mitgefühl für seine Mitmenschen aufzubringen, schon gar nicht für die im Stück in Erscheinung tretenden. ›Prophetisch‹ in der Rigidität dieser narzisstischen Persönlichkeit für die Gesellschaft des späten 20. Jahrhunderts und ihren Hang zum schlichten gesellschaftlichen Funktionieren ist Gerardos Verständnis von Kunst als Ware gestaltet. Wie in einer psychoanalytischen Studie scheiternder Kommunikationsversuche (indes mit komischer Wirkung) weist die Szenenfolge von Wedekind wiederholt den Moment auf, in dem jeder der drei Dialoge auf ein Abprallen der Werbungen und Anliegen, die alle ihn aufsuchenden Figuren vorbringen, von Gerardo herausläuft. Es ist die Abschottung einer auf störungsfreie Funktionstüchtigkeit bedachten, spiegelhungrigen Persönlichkeit, die nur ihre eigenen, inhaltslosen Positionen widerspruchslos verteidigen will, ohne auf ihre Sinnentleertheit gestoßen zu werden. Weniger ›klinisch‹ ausgedrückt: Wie in der mythologischen Konfrontation von Narziss mit Echo hat der stolze Mann seine Verehrer(innen) angelockt, um sie und sich selbst in der Frustration zurückzulassen, keine eigenen Worte zu finden, auch im richtigen Leben nur die Rollen zu spielen, in die sie gedrängt wurden. Der fallengelassenen Geliebten Helene Marowa, die über ihren Ehebruch und Gerardos Gefühlskälte schließlich so verzweifelt ist, dass sie sich vor Gerardos Augen erschießt, hält er noch vor: »Deine gesellschaftliche Stellung gab dir die

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Frank Wedekind: Der Kammersänger. In: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg. von Harmut Vinçon, Darmstadt 1994, S. 32. Ebd., S. 21.

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Möglichkeit, mich zu provozieren.«6 Just die Argumente, die Gerardo anbringt, um seine drei Antagonisten zu demontieren, entziehen Gerardo im jeweils anschließenden Zwiegespräch jegliche Glaubwürdigkeit, indem er sich selbst ad absurdum führt – und so die Sinnentleertheit seiner marktschreierisch vorgetragenen Scheinargumente umso drastischer (und tragikomisch) aufgezeigt wird. Seiner Verehrerin Isabel Coeurne hält er die Erhabenheit seiner Kunst entgegen; die Kunst wird im Gespräch mit dem Komponisten Dühring zum Luxusgut einer bourgeoisen kapitalistischen Gesellschaft erklärt, während er sich der Verfolgung durch die bürgerliche Moral im Gespräch mit seiner verleugneten heimlichen (und verheirateten) Geliebten Helene wiederum unter Vorschiebung der vertraglichen Gebundenheit des Künstlers entzieht; ein Teufelskreis, der wie den Narziss über dem Wasserspiegel von Gerardo nur eine oberflächliche Hülle ohne Tiefe und Sinn zurücklässt. »Ich begriffe es, wenn die Frauen meiner endlich satt würden! – Aber die Welt hat ihrer so viele! – Und ich bin allein. – Jeder trägt sein Joch und muß es tragen!«7 So sinniert der Sänger beim Repetieren seiner Tristan-Rolle für den bevorstehenden Brüsseler Auftritt, der schließlich die überstürzte Abreise am abrupten Ende der Szenenfolge motiviert, als Gerardo den Kopf der selbstmörderischen Helene aus seinem Schoß jäh auf dem Hotelboden aufschlagen lässt, um noch seinen vor dem Eingang geparkten Wagen zu erreichen, der ihn auf den Weg zum nächsten glorreichen Gastspiel bringen soll. Die Verringerung des Verehrerinnenkreises um eine verheiratete Frau hat Gerardos Chancen nur unwesentlich steigen lassen, dass die Frauen seiner einmal satt werden könnten. Spätestens hier gleicht Gerardo einer Clownsfigur, einem verirrten Nachfahren der Commedia-dell’arte-Tradition, der am Schluss damit überfordert ist, im Mittelpunkt einer Grand-Guignol-Szene zu stehen. Wer die Grandiosität auf der Wagnerbühne als Markenzeichen vor sich her trägt, ist nicht vor der Furcht geschützt, auf der Bühne des menschlichen Zwischenlebens ein stets inferiorer Versager zu sein, den die vertraglichen Verpflichtungen daran hindern, noch einen letzten Rest menschlicher Regungen zu zeigen. Dass sich Gerardo gegenüber dem alten Komponisten Dühring abweisend verhält, zeugt davon, wie die Singularität der Wagneropern unter rein merkantilen Argumenten von Angebot und Nachfrage hermetisch abgesichert wird. Als Dühring beklagt, er müsse, wie sein Verleger ihm brieflich nahelege, erst sterben um aufgeführt zu werden, führt Gerardo weiter aus: GERARDO:

Ich kann Ihnen nur das eine sagen, daß seit Wagners Tod noch nirgends ein Bedürfnis nach neuen Opern besteht. [...] Wenn Sie an die Bühne gelangen wollen, dann schreiben Sie eine Musik, die der heutigen zum Verwechseln ähnlich sieht; kopieren Sie einfach; stehlen Sie Ihre Oper aus allen Wagnerschen Opern zusammen. Dann können Sie 8 mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit darauf rechnen, daß Sie aufgeführt werden.

Lange vor der Expertise eines Niklas Luhmann von der Codierbarkeit der Kunst reduziert Gerardo die Kunst einfach auf den Faktor der Leistung. Während sich aus dem en abyme in André Gides Poetik eine Technik zur Durchbrechung von autoritä-

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Ebd., S. 41. Ebd., S. 22. Ebd., S. 32.

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ren Reproduktionsmechanismen ableiten lässt, werden bei Wedekind, durch die Wagners Musik ohne jeden Idealismus reproduzierende Künstlerfigur Gerardo, Kopie und Duplikat zu einem Organisationsprinzip erhoben, das der Kunst übergeordnet ist. Am Text des Kammersängers lässt sich ablesen, wie die Debatte um Kunst als Ware sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auf den Künstler als Produzenten verlagert und dieser in der Diskussion mehr und mehr selbst vom Subjekt zum Objekt gestempelt wird. Ein besonderer Reiz von Wedekinds Spielvorlage ergibt sich daraus, dass zwar nicht an Klischees gespart wird, jedes einzelne dieser Abziehbilder aber auch wieder mit Widersprüchlichkeiten konterkariert wird. Gerardo mag der ›Aufstieg‹ vom Tapeziergehilfen zum Wagnersänger geglückt sein, doch verkörpert er keinesfalls den antiintellektuellen Typus des dummen Tenors. So grausam seine Diagnose zum Musikleben gegenüber dem Mitleid erregenden Professor Dühring anmutet, dient sie doch innerhalb des Stückes zur Bestätigung einer Innenperspektive, die sich eben nur demjenigen bietet, der wie Gerardo selbst geknechteter Rattenfänger für eine blinde Anhängerschaft zunehmend kommerzialisierter Kunstformen ist. Ergänzend dazu ist der Stolz des als gebrochener Mann auftretenden Dühring eine Maske für ungebrochenen Größenwahn eines sich zeitlebens verkannt Wähnenden. Die Künstlertypologie eines eremitenhaft Inspiration Suchenden findet sich im Entwurf Dührings durch Wedekind radikalisiert, auf größtmöglicher Distanz zur Gesellschaft bis hin zur Verkennung ihres vorherrschenden Massengeschmacks. Paradox gestaltet sich dieses Verhältnis der beiden Künstler, des genuin schöpferischen Komponisten wie des reproduktiv ›performativen‹ Sängers, im Hinblick auf ihren jeweiligen Freiheitsbegriff: der Komponist fühlt sich zwar dort unterlegen, wo er nach seinem Selbstverständnis als wahrhaftiger Musensohn im Kulturbetrieb über Geltung verfügen müsste. In seiner nicht vermittelbaren Partitur hat er sich allerdings Idealismus und die Illusion persönlicher Freiheit bewahren können, wohingegen Gerardo über grenzenlosen materiellen Spielraum und Auftrittsmöglichkeiten verfügt, die er allerdings selbst als Fesseln und Versklavung durch das Opernwesen seiner Zeit betrachtet, die Allmachtsphantasie der Beherrschung und Verführung insbesondere seiner weiblichen Zuhörerschaft also in ein Inferioritätsgefühl vor den Mechanismen des Kunstmarktes umkippt. Die sozialpsychologische Utopie, nach der noch Sudermann in der Heimat die Hauptfigur Martha als berühmte Schauspielerin in ihr Vaterhaus zurückkehren lässt, um sich endgültig von dessen Beschränkungen zu lösen, trifft auf den ehemaligen Tapeziergehilfen Gerardo in keiner Weise zu. Dass sich der Sänger als Teil einer ›Kulturmaschinerie‹ erkennt, ist eine vorweggenommene Variante des Spiels im Spiel von Franziska, das den angeblichen Unterschied zwischen der herzoglichen Konkubine und der schwangeren Wanderschauspielerin als Täuschung entlarvt. Wo für die Frau vordergründig in der musischen Selbstverwirklichung Möglichkeiten der Funktionalisierung von Unschuld und erotischer Verruchtheit eröffnet werden, setzt sich am Ende doch die pure biologische Funktion der Sexualität durch. Diese Schranke erweist sich aber als heilsam, zumindest wenn man der These des Dachauer Malers Almer glauben möchte, der am Ende von Franziska der geeignete Stiefvater für Franziskas Kind zu sein verspricht. Almer begründet (aus Franziskas Frage) den Unsinn, den die Menschen in der Welt begingen, denkbar einfach: »Weil sie die Grenzen ihrer Begabung und die Grenzen der 101

Welt nicht kennen. Die Männer sowohl wie die Weiber!«9 Aus der Beschäftigung mit Goethes Faust hat Wedekind den (ironisierten) Topos von der Überwindung des Egoismus im Durchstreifen »der großen und kleinen Welt« gezogen. Wer den Kammersänger kennt, dem dürfte klar sein, dass die Erkenntnis der eigenen Grenzen auch ein Größen-Selbst generieren kann, dessen Zynismus schlimmer ist jede Ausprägung von Selbstüberschätzung. Im Kammersänger besitzen die Figuren (wie es für einen Einakter selbstverständlich ist) nicht die über den Kunstdiskurs hinausgehende figurenpsychologische Durchformung und Ambivalenz, die Wedekind in Franziska geschaffen hat – ein Grund, warum das Stück in seiner Vielschichtigkeit bei der Realisation große Schwierigkeiten in sich birgt. Das dem Kammersänger in der 4. Auflage vorangestellte »Je länger die Striche, desto größer die Schauspielkunst!« – laut Kutscher eine verbitterte Reaktion auf Max Reinhardts skrupellos nach Bedarf eingerichtete Spielfassung10 – ist dennoch nicht nur als Sarkasmus, sondern auch als eine Aufforderung lesbar, dass textliche Eingriffe durch die Qualität einer entsprechenden nonverbalen Darstellung aufzufangen sind. Ganz und gar nicht übertragbar ist dieses Motto auf Franziska, da die zahlreichen Anspielungen ohnehin nicht den Raum zum komödiantischen Extemporieren lassen, der dem Darsteller des Gerardo gegeben ist. Sie sind etwa dort angedeutet, wo der Sänger am Klavier mit sich selbst zu korrepetieren beginnt. Je nach gesanglichem bzw. bloßem deklamatorischen Vermögen des Schauspielers kann hier das parodistische Zitieren Wagners textlich wie musikalisch mannigfaltig fortgesponnen werden. Dass diese Option in einem Sprechtheaterstück über spezifische Phänomene der Rezeption von Wagners Musikdramen im Umkehrschluss sogar bei einer Vertonung von Wedekinds Text gezogen werden kann, dafür soll aus der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte der (1952 uraufgeführte) Operneinakter The Tenor von Hugo Weisgall angeführt werden. Es ist ein Werk, das einen besonderen Reiz gerade aus der Überwindung von Wagners Schatten in der direkten Konfrontation mit einem Zitat und Bruchstück aus dem Tristan bezieht, das jäh in ein gänzlich anderes musikalisches Idiom kippt. Vor allem haben die Librettisten der Oper, Karl Shapiro und Ernst Lert, ihrer Umarbeitung von Wedekinds Vorlage mit Gerardos leibhaftig in Erscheinung tretendem Manager Maurice eine Spielmacherfigur hinzugefügt, die den Diskurs noch stärker um die Komponente des Agenturwesens im 20. Jahrhunderts erweitert.

5.2 Schnitzlers Der einsame Weg (1904) als Künstler- und Familiendrama Hatte Alma Schindler in ihren Tagebuchaufzeichnungen über Schmedes vermerkt, bei einem bildenden Künstler wären Eitelkeit und Brotneid nicht wie beim Sänger anzutreffen, so kann man mit Arthur Schnitzlers Einsamen Weg wiederum einen ganz anderen Eindruck gewinnen, was es mit der sozialen Kompetenz eines Malers auf sich hat. Und dass der Maler wiederum nicht als Repräsentation für den Künstler

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Wedekind, Franziska, S. 742. Artur Kutscher, Wedekind, München 1964, S. 164.

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im Allgemeinen gesetzt wird, erschließt sich hier ebenfalls schnell und konturenscharf, wenn man sich das Figurenpersonal des Einsamen Wegs vor Augen führt: dem Maler Julian Fichtner, dem im Stück mehr Genialität attestiert wird, steht der todkranke Dichter Felix von Sala gegenüber, dessen Vers-Drama Jahre zuvor durchgefallen sein soll, mit Irene Herms in der Hauptrolle, ihrerseits die langjährige einstige Geliebte des Malers Fichtner. Die Schauspielerin hat sich zu Beginn des Stückes bereits von ihrem Beruf verabschiedet; Fichtners und Salas Schaffensdrang ist seit geraumer Zeit ins Stocken geraten. Zwischen diesen drei Künstlerfiguren bewegt sich der Akademieprofessor Wegrat. Über diese Figur soll Alma Mahler Schnitzler gegenüber (nach seinen Tagebuchaufzeichnungen) am 20. November 1913 bemerkt haben, sie würde sie an Max Burckhard erinnern11, der gegen Almas Heirat mit Mahler gewesen sei, wohl auch weil er zu ihren einstigen, nur vom Alter her als ›väterlich‹ zu bezeichnenden Verehrern zählte. Als Alma im März 1902 dennoch die Ehe mit Mahler einging, endete der intime Umgang mit Burckhard und Mahlers Komponisten- und Dirigentenkollegen Alexander Zemlinsky. Damit begann zugleich eine Phase im Leben der jungen Frau, die für Alma Mahler die Abkehr von der Leichtfertigkeit in menschlichen wie kulturellen Ansichten und die Hinwendung zum aufopferungsvollen künstlerischen Ernst Mahlers mit sich brachte. Zugleich büßte sie jedoch den Rückhalt für ihre eigenen künstlerischen Absichten ein, den sie eben von Zemlinsky oder Burckhard erhalten hatte (wenn auch deren Wertschätzung vor allem auf die erotische Faszination an Alma gegründet blieb). Dass Burckhard zu den Vertretern der Lässigkeit und Nachlässigkeit im Kulturbetrieb gezählt werden könnte, wurde von Karl Kraus in der Fackel mehrmals zum Vorwurf erhoben, vor allem was das Festhalten an überkommenen Traditionen der Shakespearepflege am Burgtheater anbelangt. Mehr zählt jedoch, dass sich Max Burckhard, verstorben im März 1912, für seinen Freund Arthur Schnitzler 1894 als Direktor des Burgtheaters mit der Annahme der Liebelei und später als Kritiker immer wieder stark für das dramatische Schaffen Schnitzlers eingesetzt hat.12 Worin könnten nun die Parallelen zur Figur des Akademieprofessors Wegrat bestehen, die Alma Mahler in dem Gespräch mit Schnitzler angesprochen hat? Wegrat ist zunächst wie Burckhard ein Kunstrichter, kein selbst vor Kreativität strotzendes ›Originalgenie‹, was bereits bei seinem ersten Auftritt deutlich wird, den er rasch mit Sentenzen über den einstigen Künstlerfreund Fichtner bestreitet: WEGRAT: Julian war gewiß zu Höherem bestimmt. Was ihm gefehlt hat, war die Fähigkeit, sich zu sammeln, der innere Friede. Er konnte sich nirgends dauernd heimisch fühlen; und 13 das Unglück war, daß er sich auch in seinen Arbeiten nur vorübergehend aufhielt.

Allein in diesen zwei Sätzen stecken zwei gängige, leicht stereotyp anmutende Wendungen, die zum Fundus der Kunst- und Kulturkritik gehören: erstens, dass die Begabung und ›höhere‹ Berufung eines Künstlers durch seinen Hang zu Rast- und Heimatlosigkeit gefährdet ist; zweitens, dass gerade zum Schaffen eines abgeschlossenen Kunstwerkes und künstlerischer ›Tiefe‹, Gründlichkeit und Ruhe des Schöpfers gehören – deren Mangel man in dieser Epoche im Übrigen

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Fischer, Gustav Mahler, S. 529. Arthur Schnitzler, Tagebuch 1913–1916, Wien 1983, S. 76. Arthur Schnitzler, Meisterdramen. Frankfurt a. M. 1955, S. 224, i.F. als Sigel AS zitiert.

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beispielsweise dem Komponisten Gustav Mahler bei den ersten Aufführungen seiner Symphonien regelmäßig vorgehalten hat. Später setzt Wegrat noch hinzu: »Man kann doch nur von den Leuten sprechen, für die es überhaupt Grenzen gibt. Und da find ich nun freilich: Wer seine Grenzen besser kennt, das ist der bessere Mann. Und in dieser Hinsicht hab ich gewiß allen Grund, mich hochzuschätzen.« (AS 225) Erneut überwiegt hier Selbstgefälligkeit, anstelle von tugendvoller Selbstbescheidung, einer modération wie bei Gide und der Akzeptanz von Grenzen für jedes Individuum, die der Maler Almer am Schluss von Franziska anmahnt. Eines jeden Maß wäre demzufolge jeder sich selbst. Ein Argument Max Burckhards gegen die Ehe Alma und Gustav Mahlers lautete, »dass wenn 2 starke Individualitäten zusammen kommen, sie sich so lange bekämpfen, bis eines von Beiden unterliegt.«14 Die Verkapselung und Konfliktscheu erscheint dem Kunstakademiker der untergehenden Donaumonarchie als geeigneter Schutz wider die gefürchtete Erkenntnis der Unterlegenheit. Im Umkehrschluss taucht in den Ausführungen von Schnitzlers Akademieprofessor rasch die folgende Replik auf, als Sala auf die womöglich neu erwachende Kreativität Fichtners zu sprechen kommt: SALA: Bei jemandem, der einmal ein Künstler war, ist man nie vor Überraschungen sicher. WEGRAT: Ja, so ist es, Herr von Sala. Das ist eben der Unterschied. Bei einem Beamten

kann man in dieser Hinsicht ganz ruhig sein. Mit heiterer Selbstironie. Der malt jedes Jahr sein braves Bild für die Ausstellung und kann beim besten Willen nicht anders. (AS 225)

Der Akademieprofessor erkennt in sich selbst sehr wohl den Gegenpol zu dem ungebundenen Genie, dessen Werk auch in der Skizzenhaftigkeit die Genialität verrät, während seine eigenen Bilder immer ihren bescheidenen Rahmen behalten. Später, im Gespräch mit dem wieder getroffenen Julian wird noch deutlicher, dass dieser Unterschied eben auch auf einen grundsätzlichen Wesensunterschied der Jugendfreunde zurückzuführen ist, der bereits in einem Gespräch der beiden im Jahr vor der Hochzeit Wegrats mit der von Julian schwangeren Gabriele offenbar wurde, wie sich Wegrat erinnert: In mir erwachte ein Gefühl, als könnt ich auch alles – wenn ich nur wollte. Es gab so viel zu sehen, zu erfahren – das Leben strömte so mächtig hin; man mußte nur etwas frecher sein und selbstbewußter und sich hineinwerfen... Ja, so war mir zumute, während du redetest... Und da kam Gabriele heraufgeschritten, auf dem schmalen Weg zwischen den Akazien, vom Dorfe her, den Strohhut in der Hand und nickte mir zu. Und alle meine Zukunftsträume schwebten nur mehr um sie, und die ganze Welt war wieder wie in einen Rahmen gefaßt und war doch groß genug und schön genug... (AS 259)

Die Sesshaftigkeit zwingt nicht nur das Leben Wegrats, sondern auch seine Kreativität in den Rahmen bloß ›braver‹ Bilder, die sich nicht im Entferntesten mit dem welterobernden Elan Julians messen können. Im Konflikt mit dem anderen Geschlecht, in der jäh aufgegebenen Beziehung mit Gabriele wie in der langsam gescheiterten mit Irene, hat sich Julians genialischer Funke entzünden können. Dagegen ist es Wegrat gelungen, um den Preis des philiströsen, kunstrichterlichen Beamtentums sein Familienleben aufrechtzuerhalten. Am Ende des Stückes verblasst allerdings auch dieses Bild der Idylle angesichts des Todes der beiden Frauen des Hauses, erst der Familienmutter Gabriele, die einst dem Maler Fichtner

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Mahler-Werfel, S. 742.

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erlegen ist, dann der Tochter Johanna, der Gefangenen einer durch und durch ästhetischen Weltanschauung, die seit ihrer Kindheit von Vorahnungen des Todes verfolgt wird, so bereits von dem der kleinen Tochter Salas, die wie dann ihre Mutter, biblische sieben Jahre vor dem Beginn der Bühnengeschehnisse, verstorben, ist. Dieser doppelte Tod von Frau und Tochter des Ästheten wiederholt sich im Einsamen Weg, als Johanna sich im Teich ertränkt hat. »SALA: Und seltsamerweise sprach Johanna gestern dieses Wort: ›So wenig dies Wasser mein Bild behalten kann...‹ Und als ich an dem Teich vorüberkam, war mir, als hätte... das Wasser doch ihr Bild behalten.« (AS 286) Die vermeintliche trompe l’œil einer Perpetuierung der vorübergehenden Spiegelung der geliebten Person, dem Sala sich ausgesetzt glaubt, entpuppt sich am Ende als morbide Realerfahrung der ästhetischen Utopie. Das Bewahren des Momentes im Bild, das in den Kunst-Reflexionen des Stückes thematisiert wird, verkehrt sich in diesem Gegenstück zur narzisstischen Urszene, in der Narziss im paradiesischen Garten seinem Spiegelbild als geliebtes Wesen im Wasser begegnet: Für Sala wie für alle übrigen Figuren des Einsamen Weges offenbart sich in diesem Tod der Johanna die Nekrophilie des künstlichen Gartenparadieses. Der Eindruck des Sublimen, den der Ästhet Sala erfahren möchte, kippt um in die groteske Situation der brutalen Wirklichkeit von Johannas Tod, mit der Verspieltheit bitterer Ironie, die in der Bewahrheitung vom Behalten des Bildes durch das Wasser des Teichs liegt. »Die Gestalten bewegen sich gewissermaßen in einem Netz vergangener Situationen, die ihnen die Fähigkeit nehmen, in der Gegenwart zu leben und mit anderen zu kommunizieren.«15 Dieses Netz der vergangenen Situationen, auf das Giuseppe Farese ganz treffend Bezug nimmt, wird von den Figuren immer wieder aus Kunstwerken der Malerei gewoben, die ihre Wahrnehmung von Personen und Naturerscheinungen eingefroren und damit Alter und Tod vorübergehend ausgesperrt haben. Wenn Kunst in Anlehnung an Freuds Schülerin Lou Andreas-Salomé perfektgewordene Erinnerung ist, dann blockieren die perfektgewordenen Erinnerungen im Einsamen Weg von Schnitzler, den Freud lange Zeit mit »Doppelgängerscheu« gemieden hat16, jegliches soziales Interagieren der männlichen Figuren mit ihrer Umwelt bis zum Schock des doppelten Verlustes der Frauen, die aus den Erinnerungen in eine hermetische Traumwelt geflüchtet sind. Im bereits zitierten Auftrittsgespräch von Wegrat steuert seine Tochter einen Beitrag bei, als sich das Gespräch um die jüngsten Skizzen Fichtners zu Landschaftsbildern dreht: »JOHANNA: Ich habe einmal im Traum eine Frühlingslandschaft gesehen, ganz sonnig und mild, und doch hab ich über sie weinen müssen.« (AS 224) Man könnte einerseits eine solche Replik, psychologisch auf den Suizid Johannas am Ende bezogen, als Ausdruck der von Grund auf labilen Persönlichkeit des Mädchens werten. Andererseits erfolgt mittels dieser Replik einer einzelnen Figur im Verhältnis zum tödlichen Ausgang die Umwertung eines ganzen philosophischen und kulturhistorischen Diskurses, der sich seit der Aufklärung um die Kategorie des Erhabenen dreht: der als unheilvoll empfundene Traum von der Frühlingslandschaft fügt sich in die Entwicklung der Erhabenheitserfahrung einer Moderne, die Adorno später der kulturgeschichtlichen Perspektive Kants gegenübergestellt hat;

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Giuseppe Farese, Arthur Schnitzler, München 1999, S. 113. Ebd., S. 233.

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die hohen Berge sprechen als Bilder eines vom Fesselnden, Einengenden befreiten Raums und von der möglichen Teilhabe daran, nicht indem sie erdrücken. Erbe des Erhabenen ist die ungemilderte Negativität, nackt und scheinlos wie einmal der Schein des Erhabenen es 17 verhieß.

Wie eng Heiterkeit der Landschaft und Jahreszeit mit der Erfahrung des Todes verwoben sind, erweist sich ganz konkret an einer Bilderfolge Julian Fichtners, die sein unehelicher Sohn Felix im Dialog mit ihm durchsieht, und in der das Aquarellbild von Gabriele enthalten sein soll, an das sie sich am Vorabend ihres Todes in Felix’ Gegenwart erinnert hat: JULIAN:

Das hier ist das Häuschen, in dem sie wohnten, deine Großeltern und deine Mutter. Blättert weiter. Und dies hier, das ist der Ausblick ins Tal vom Friedhof aus. FELIX: Sommer... JULIAN: Ja. – Und dies hier, das ist das kleine Dorfwirtshaus, in dem ich und dein Vater wohnten... Und das – – Er betrachtet das Blatt still. Beide schweigen längere Zeit. FELIX nimmt das Blatt in die Hand: Wie alt war meine Mutter damals? (AS 247)

Bei dem Blick vom Friedhof ins Tal und dem Wiedererstehen der jugendlichen Gabriele im Bild verkehrt sich die Perspektive: Von Felix ›erkannt‹, ist Julian gezwungen, im Spiegel seiner eigenen Kunst den zu Grabe getragenen Lebensentwurf im düsteren Licht des Herbstes zu sehen. Das Bild der Mutter schlägt für den Sohn zwar eine Brücke in die Vergangenheit. »So wie sie mich aus diesem Bild anblickt, hat sie auch Sie betrachtet.« Doch für die Gegenwart oder eine Zukunft, die den Vater und den leiblichen Sohn zusammenbringen könnte, reicht dieser Blick nicht aus. »FELIX: [...] So sieht man Menschen an, die aus einer andern Welt kommen, nach der man sich sehnt und die man doch fürchtet.« (AS 248) Vor allem ermöglicht das Artefakt, das in Fichtners Œuvre von der Liebe zu Gabriele erhalten geblieben ist, mitnichten eine Kommunikation zwischen den Generationen, wie sie im letzten, nur referierten, aber nicht von Schnitzler in der Szenenfolge dramatisierten Gespräch zwischen Mutter und Sohn möglich geworden ist. »FELIX: [...] Ich glaube, ihre eigene Jugend, die sie selbst kaum mehr verstand, vertraute sich unbewußt der meinen an.« (AS 249) Für die Mutter, die ihre Rolle in der Familie angenommen hat, war noch ein unbewusster Rückschritt in die Jugend möglich, der es ihr kurz vor dem Tod gestattete, den jugendlichen Sohn zu erreichen. Ganz anders im Falle von Julian, dem der uneheliche Sohn beinahe zweckmäßig zu etwas anderem ›dient‹, wie er Sala gegenüber bemerkt: »Sein frisches Wesen berührt mich so angenehm, macht mich geradezu selbst jünger.« (AS 231) Indem Julian sein Kind als Verlängerung der eigenen Jugend idealisiert, verschließt er sich weiterhin der Einsicht, selbst dem Alter und der Veränderung ausgesetzt zu sein, in einem »unmodizierten Narzissmus«: Die fortdauernde Aktivität dieser Konfiguration kann zwar bei einem begabten Menschen die Ausschöpfung seiner letzten Fähigkeiten und somit wirkliche überragende Leistungen stimulieren, ebensogut aber Arbeitshemmungen, Rastlosigkeit oder übergroße narzißtische Verwundbarkeit auslösen [...], weil nicht das reale, unvollkommene, reife Selbst

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Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. In: ders., Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Bd. 7, hg. von Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 296.

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narzißtisch besetzt ist, sondern das archaische, grandiose Selbst, das sich verächtlich gegen 18 die Außenwelt abschottet.

Julians Behauptung, durch Felix’ Jugend seinerseits verjüngt zu werden, folgt unmittelbar auf die Mitteilung Salas, dass Gabriele vor einer knappen Woche verstorben sei, von der Julian zuvor noch bemerkt hatte, sie »soll sich ja im Laufe ihrer Krankheit recht sehr verändert haben.« Es entbehrt nicht der tragischen Ironie, dass Julian gleich anschließend – auf die Schilderung Salas hin, Johanna hätte »eine Art Grauen vor der kranken Frau« gehabt und sei jetzt »eher ruhiger« – die Tochter als »[s]eltsames Geschöpf« bezeichnet (AS 230). Schließlich entspricht diese angsterfüllte Distanz zum körperlichen Verfall ganz und gar der eigenen Angst, die seinem Leben und eben seinem künstlerischen Schaffen jeglichen Ansporn raubt, wie er Sala nach einer Weile doch noch zu verstehen gibt: »Winden Sie dem Schauspieler seine Rolle aus der Hand und fragen Sie ihn, ob ihm die schönen Kulissen Spaß machen, zwischen denen er stehenblieb.« (AS 233) Die Rolle im soziokulturellen Gefüge, die sich Fichtner selbst zugewiesen hatte, und in der er auf dem frühen Höhepunkt seiner Reputation als Maler den Blick unerfüllter Sehnsucht von Irene wie von Gabriele einfangen konnte, war die des hedonistischen Lebemannes, eines Verführers vom Geblüt Don Juans oder Casanovas, die nun unweigerlich am Verblassen ist, aller Auflehnung gegen das Gesetz der Ewigkeit zum Trotz: »Soll wirklich von aller Glut, mit der ich die Welt umfaßt habe, nichts übrigbleiben als eine Art törichter Grimm, daß es vorbei sein – daß ich, ich menschlichen Gesetzen so gut unterworfen sein muß wie ein anderer?« Besitz- und Totalitätsanspruch, der von der Frustration über die eigene, inferiore Machtlosigkeit gegenüber dem Gesetz des Alterns durchbrochen wird, unterbinden Fichtners Reifeprozess, als Künstler wie als soziales Individuum. Johanna, selbst ein gebrochenes Sinnbild für die décadence in ihrer unbestimmten Todessehnsucht, die in Grauen umschlägt, sobald sie unmittelbar mit Krankheit und Verfall konfrontiert wird, nimmt orakelhaft das Ende dieser Kulturmenschen vorweg, die ihren gegenwärtigen Verfall verleugnen: »JOHANNA: Ich denke, Felix, daß es die Bestimmung mancher Menschen sein mag, einander gar nichts anderes zu bedeuten als Erinnerung.« (AS 257) Die von Martin Teising aus der Therapie zu Beginn des 21. Jahrhunderts berichteten narzisstischen Konflikte des Alterns19 finden sich im Kunst-Diskurs der Männer in Der Einsamen Weg vorgezeichnet. Schon Alfred Polgar hat das für die Figur des Sala hervorgehoben: Die traurige Not des Alters, dieses in Erinnerungen leben müssen, schreckt ihn nicht, weil er, als Künstler, nicht nur das Talent hat, Erinnerung mit Gegenwarts-Stärke auszukosten, sondern auch jenes, die unmittelbare Gegenwart gleich als Entschwundenes zu schmecken. Herr von Sala ist ein Virtuose der Einsamkeit. Ein Gentleman alles Unentrinnbaren. Ein 20 Dandy der Todgeweihtheit.

Salas Bezug zur gelebten Zeit ist wie das Zeitempfinden aller Figuren in Der einsame Weg Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung, die auf der Suche nach dem

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Breuer, S. 13. Vgl. S. 51. Alfred Polgar, Ja und nein. Schriften des Kritikers, Hamburg 1956, S. 64.

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entscheidenden Augenblick den Verlust der Fähigkeit nach sich zieht, die jeweiligen Momente in einen fließenden Prozeß zu integrieren. Noch weiter geht die Interpretation von W. Mann im Sammelband Juden in der deutschen Literatur von 1922;21 W. Mann stellt die Behauptung in den Raum: »Schnitzler ist in Stefan Sala restloser enthalten als in seinen anderen Werken, Schöpfer und Geschöpf sind kaum mehr zu trennen.«22 Die Begründung, mit der Mann die These zu untermauern versucht, ist ebenso stereotypenbehaftet wie mangelhaft begründet: Gemeinsam sei Schnitzler und seinem Alter Ego Sala die Weltsicht der »Literaturjuden«; die Entwurzelung, die Heimatlosigkeit ihres Volkes als Kainszeichen an der müden Stirn, geschmeidig geworden durch eine fast gewaltsam schnelle Emanzipation, sind sie überall zu Hause, während sie in Wahrheit nirgends zu Hause sind, unfähig, das Leben zusammenfassend zu spiegeln, aber begabt mit dem unheimlichen Blick des Analytikers und ohne die wohltätige Schranke, die das nationale Gebundensein in den andern 23 errichtet.

Im Gegensatz zur abstrahierenden Interpretation Polgars findet hier die konkrete Ausrichtung auf nationale Zuordnung und Ausgrenzung statt, die fatalerweise über die Qualität des »Literaturjuden« als hervorragender Analytiker in einer zum Fragment tendierenden Epoche den Ausschluss vom harmonischen und sinnfälligen Ganzen zu rechtfertigen scheint. Dabei ist gerade die ›Virtuosität der Einsamkeit‹, von der Polgar schreibt, kein Spezifikum der Sala-Figur, das ihn zum Literatentypus des modernen Ahasver stempeln würde. Sein Umgang mit der Isolation und dem unentrinnbaren Verfall wird nicht als Variante der Frustration gesehen, die ja alle Figuren von Der einsame Weg eher vereint als voneinander unterscheidet und trennt: Fichtner, Sala, Irene und Johanna – sie alle taumeln in Frustration über die verpassten Gelegenheiten, unfähig das Gewesene mit dem Gegenwärtigen in Kontinuität zu bringen, den einsamen Weg in die Dunkelheit herab. Voneinander unterschieden sind die Figuren hinsichtlich ihrer Lösungsversuche der Spannung zwischen Lebensrealität und Ästhetisierung, besonders was ihren jeweiligen familiären Lebensentwurf betrifft. Dass er in seiner Jugend die Sesshaftigkeit verschmäht hat, ist für Julian im Alter nicht mehr wettzumachen, mag er auch seine Meriten als Maler beim Versuch, Felix für sich zu gewinnen, mit in die Waagschale werfen. Seiner vermeintlichen erblichen Vorbelastung zum Trotz entscheidet sich Felix für den ›akademischen‹ Ziehvater. Diametral zu diesem Überlebenstypus verhält sich die (Halb-)Schwester Johanna, die, obwohl oder gerade weil sie als unzweifelhaftes Kind Gabrieles und Wegrats von der Rastlosigkeit Julians unvorbelastet ist, den geschilderten ›schönen‹ Tod im heimischen Garten stirbt. Mit den mythologischen Figuren Echo und Narziss verbindet Johanna und Sala die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, die jeweils beide zwingt, über den Ursprungspunkt und Ort der Herkunft nicht hinauszukommen. Der Fluchtversuch Salas vor dem eigenen unabwendbaren Schicksal verwickelt ihn entgegen seiner Absicht nur tiefer in die Familientragödie der Wegrat-Familie, der er sich mit seiner Reise entziehen möchte. Das Vorhaben der archäologischen Erkundungsreise, ihrerseits nur noch ästhetizistisches Artefakt aus den Zeiten einer klassischen Bildungs-Begrifflichkeit – es stößt Sala,

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Vgl. S. 75f. W. Mann, Arthur Schnitzler. In: Krojanker, S. 210. Ebd., S. 214.

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Johanna und auch Felix nur umso schmerzlicher auf die Unerfüllbarkeit ihrer illusorischen Wünsche. Die Ästhetisierung der Visionen von einer besseren Zukunft erweist sich als trügerisch, denn die Bilder, die Julian seinem leiblichen Sohn präsentiert hat, zeugen von der fatalen Bewahrung des verlorenen Augenblicks voller falscher Hoffnungen. Die Lebenslügen, die der Naturalismus anprangert, holen erst recht die Jünger des Ästhetizismus ein; allerdings nicht in einer offenen Eskalation der Konflikte zwischen den Figuren, sondern in ihrer unüberwindlichen Unfähigkeit zur Kommunikation und Interaktion miteinander. Außerdem hat Der Einsame Weg, so schonungslos analytisch er Julians und Salas Illusionen von persönlicher Freiheit im Alter, in der Vereinsamung und im kränklichen körperlichen Verfall zerbrechen lässt, nur am Rande (am Beispiel Irenes) die ökonomischen Zwänge zum Thema, die neben den Milieuschilderungen der Boheme an anderer Stelle zum Familien- und Generationendrama ausgestaltet werden.

5.3 Scheinbeziehungen – Wedekinds Lulu und ihre Künstlerpartner im Wandel der Fassungen von 1894 bis 1913 In Frank Wedekinds Dramenwelt findet sich kein Platz für Vaterfiguren, die, aus einer hervorragenden Position im Kulturbetrieb ihrer Epoche heraus, darauf verzichten könnten, der Nachwelt wie Julian Fichtner ein glaubwürdiges Vorbild zu sein. So zweifelhaft, weil in der Angst vor der eigenen Nichtigkeit nur »spiegelhungrig« und nicht tatsächlich emphatisch, Fichtners Beweggründe sein mögen – Wedekind hat in Ergänzung zu seiner berühmtesten Dramenprotagonistin, der Kindfrau und femme fatale Lulu, den Typus der »fusionshungrigen« Vaterfigur scharf umrissen – und das gleich in mehrfacher Ausführung, jedoch nicht als Maler, sondern als Auftraggeber von Gemälden, welche die männliche Besitznahme von der Frau abbilden. Das betrifft nicht nur Lulu selbst, die der Maler Schwarz auf den Auftrag von Lulus erstem Mann Goll als Pierrot malt. Auch Dr. Schön lässt bei Schwarz ein Bild seiner Braut anfertigen, bzw. in der Urfassung der »Monstretragödie« von 1894 (in der Schön noch Schöning heißt) seiner verstorbenen Frau, der Mutter Alwas.24 In beiden Fällen findet das Porträt von Schwarz keine Zustimmung beim Auftraggeber Schön(ing), bis er durch das Bild von Lulu im Kostüm des Pierrot abgelenkt wird. Bild und Maler entwickeln sich in der Folge zu dem verhängnisvollen Umweg, über den Lulu zu ihrem Ziehvater Schön(ing) zurückfindet. Zwar ist die Wedekind-Forschung in den letzten Jahren weitgehend zu dem Konsens gekommen ist, dass die Urfassung eigentlich die »radikalere und

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Primär werden im Folgenden jeweils die letzte Fassung von Erdgeist und Die Büchse der Pandora aus dem Jahr 1913 zitiert: Frank Wedekind, Erdgeist (1913). In: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 3/I, hg. von Hartmut Vinçon, Darmstadt 1996, S. 401–476; sowie Wedekind, Die Büchse der Pandora (1913). In: ders., KSA, Bd. 3/I, S. 541–613. Bezüglich solcher Textpassagen, die sich gravierend von der Urfassung unterscheiden, wird diese gesondert herangezogen: Wedekind, Die Büchse der Pandora (1894). In: ders., KSA, Bd. 3/I S. 145–311.

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modernere Version«25 ist: »modern als groteske Theater-Montage aus unterschiedlichsten Elementen französischer Tradition, modern auch in seiner radikalen Kritik des Sexualdiskurses.«26 Darüber sollte aber nicht vernachlässigt werden, dass einer der zensurtechnisch weniger problematischen Aspekte des Stückes in den späteren Fassungen keineswegs zurückgestellt, wenn auch anders akzentuiert wurde; unabhängig von der reichlich erörterten Fragestellung, »wer und was denn Lulu wirklich sei«27, kann nämlich vorab festgestellt werden, dass die Künstlerfiguren Schwarz und Alwa diejenigen Figuren sind, die durch ihre Unterlegenheit und Überforderung entscheidend dazu beitragen, dass Lulu überhaupt die Möglichkeit erhält, sich mit Schön zu messen, um nach seinem Tod umso tiefer zu stürzen. Schnitzlers Maler Julian ist an der Möglichkeit gewachsen, der Gesellschaft in der Abbildung des Verführerischen wie der Verführbarkeit die Stirn zu bieten – ganz anders die Figur des Malers Schwarz, der an der Titelgestalt von Wedekinds LuluDramen insofern verzweifelt, als der ins Bild gepackten künstlerischen Vision des positiven Urzustands die Gefahr eines Sündenfalls mit Lulu, die er nicht umsonst während der Arbeit am Bild von ihr in seinem Atelier in Eva umbenannt hat, innewohnt. Mit dieser Namensgebung stellt Schwarz bereits den vierten Mann in Lulus Leben dar, der ihr einen neuen Namen gibt. Auf Schigolch, auf den das kinderlaut-artige »Lulu« zurückgeht, ist Dr. Schön(ing) gefolgt, der das Mädchen beziehungsvoll Mignon getauft hat – eine Goethe-Anspielung, die sowohl als dramatische Ironie als auch figurenpsychologisch gegen ihren Namensgeber gewendet werden kann: sei es ein Vorgriff auf die zum Schicksal Mignons gegensätzliche Wendung, dass die Kindfrau bei Wedekind im Moment ihrer Unerwünschtheit durch den erotisch anderweitig faszinierten Geliebten eben nicht schlagartig stirbt, sondern zurückschlägt; sei es die Offenlegung vom Wunschdenken der Figur Schön, dass er sich selbst in einer usurpiert bildungsbürgerlichen Wilhelm-Meister-Nachfolge sieht (die ästhetischen Kategorien des Schönen und Guten für sich reklamierend) und die androgyne »Mignon« demnach nur eine erotisch ungefährliche Spielgefährtin (eben keine ›Gespielin‹) verkörpern soll. Als Lulus ersten Mann Goll, beim Eindringen in das Atelier (um Lulu und Schwarz in flagranti zu ertappen), der Schlag trifft, versucht Schwarz verzweifelt, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. (führt sie zur Ottomane, nötigt sie, neben ihm Platz zu nehmen): Sieh mir in die Augen! LULU: Ich sehe mich als Pierrot darin. 28 SCHWARZ: (stößt sie von sich): Verwünschte Tanzerei! SCHWARZ

Das neckische Kostüm, in welchem Lulu vor Schwarz’ Staffelei postiert worden ist, erinnert Schwarz jetzt nur an die zwei Nadelstiche, die ihm Lulu in ebendiesem Kostüm zuvor zugefügt hat: bei der kostümgemäß clownesken Verfolgungsjagd durchs Atelier hat sie sich zunächst erfolgreich seiner sexuellen Zudringlichkeit

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Johanna Bossinade, Wedekinds Monstretragödie und die Frage der Separation (Lacan). In: Ortrud Gutjahr (Hg): Frank Wedekind, Würzburg 2001, S. 143. Ruth Florack, Wedekinds »Lulu«. Zerrbild der Sinnlichkeit. Tübingen 1995, S. 173. Hartmut Vinçon, Frank Wedekind, Stuttgart 1987, S. 194(ff). Wedekind, Erdgeist (1913), S. 423.

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entzogen, und dann ›auf der Flucht‹ noch ein Bild zerstört und Schwarz so um einen Teil seines Verdiensts gebracht. Dass Schwarz die Tanzerei verwünscht, ist also nicht allein darauf zurückzuführen, dass der Tanz ihn in der vorangegangenen Konversation zu allzu neugierigen Fragen über das gesellschaftliche Leben der Frau Medizinalrat und ihre variantenreiche erotische Garderobe als Tänzerin provoziert hat. Die Leichtfertigkeit des Tanzes als Form ästhetischer Verführung treibt Schwarz dazu, vollends seine künstlerische Distanz zu dem Modell aufzugeben. Mit dem Entfallen dieser Distanz sieht sich Schwarz postwendend vor einen Abgrund gestellt. »Hast du denn keine Seele?«, fragt er Lulu vor der Leiche Golls verängstigt weiter, um wie bei allen Fragen zuvor (nach Lulus Fähigkeit die Wahrheit zu sagen oder ihrem Glauben an einen Schöpfer) nur ein »Ich weiß es nicht« als Antwort zu erhalten.29 Der Blick in die Augen und die Frage nach der Seele sind jedoch in der Urfassung Die Büchse der Pandora von 1894 nur die letzte Stufe einer regelrechten ›Vermessung‹, der Schwarz das Objekt seiner Begierde unterzogen hat. Dort hat er Schöning gegenüber, sein Pierrot-Bild beschreibend, das Modell analytisch zergliedert und fragmentiert: »SCHWARZ. Der Arm ist ein Juwel – [...] und nun die Achselhöhle [...] Da zeigt sie Ihnen mitten in dem kräftigsten matten Fleischton zwei brandschwarze Löckchen! [...] Gefärbt natürlich! [...] Sie sind dunkler als ihr Kopfhaar – dunkler als die Brauen – während die Körperhaare...«30 Dass diese Begeisterung über ein Modell die Regel wäre, hat Schwarz zuvor bestritten: »Mich packt schon der Ekel, wenn eine – ihre Brüste entblößt.«31 Wohlgemerkt: Der an die Person des Modells gebundene Entblößungsakt ruft den Ekel beim Maler Schwarz der Urfassung hervor. Sobald er die einzelnen Körperteile für sich betrachtet (wie den Arm, die Achselhöhle, Kopf- und Körperhaare), beginnt seine ästhetische Begeisterung und Sublimation einzusetzen. Doch diese kann nur ausgehend von der narzisstischen Depersonalisation vonstatten gehen. Dieses Element hat Wedekind bei der ersten Umarbeitung zurücktreten lassen. Die Besprechung des Pierrot-Bildes zwischen Schwarz und Schön ist auf den »Einklang« von Lulus Körper »mit dem unmöglichen Kostüm« reduziert, das Schwarz seinem Gast dann vorführt und mit ihm zugleich über die reizvollen Aspekte der Verhüllung und Enthüllung, mit einem »Atlas«-Stoff, »riesigen Hosenpfeifen« und »transparente[n] Strümpfen«, diskutiert.32 Er ist zu einem Mitspieler in der Fokussierung des männlichen, begehrenden Blicks geworden, den er in der Urfassung für seine eigene Person nicht im Mindesten kontrollieren kann. Die Beobachtung Artur Kutschers für den zweiten Akt des Erdgeistes, dass der Maler »mehr Haltung, mehr [...] gesellschaftliche Reife« habe, lässt sich insofern bereits von der veränderten Exposition her entwickeln.33 Auch von einer »wahnhaften Fixierung auf der Virginität der Frau«34 (die Johanna Bossinade für die Urfassung feststellt) kann in der letzten Version von 1913 nicht mehr wirklich die Rede sein. Schwarz gibt einen grundsätzlichen Skeptizismus preis, als er vor der Leiche Golls steht und sich als

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Ebd. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1894), S. 151. Ebd., S. 149. Wedekind, Erdgeist (1913), S. 409. Kutscher, S. 114. Bossinade, S. 144.

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Lulus nächster Mann sieht: »Ich möchte tauschen mit dir, du Toter! Ich gebe sie dir zurück. Ich gebe dir meine Jugend dazu. Mir fehlt der Mut und der Glaube. Ich habe mich zu lange gedulden müssen. Es ist zu spät für mich.«35 Statt narzisstischer Fragmentierung des Blickes, die weder das Gegenüber noch das Selbst zu einem Ganzen integrieren kann, spricht aus dieser Figur der Selbsthass des inneren Kritikers, der nur auf den Anlass zur suizidalen Lösung wartet. Egal wie sich Schwarz entscheidet, es ist zu spät, weil es zu spät sein soll. Die spätere Enthüllung der bereits verlorenen Unschuld Lulus durch Schön ist nicht der Grund für den Selbstmord, sondern das vorgeschobene Argument des Ehrverlustes. »Ich passe nicht hinein in die Gesellschaft«36 – diese Feststellung gehört zu den letzten Worten von Schwarz, die erst im Erdgeist, nicht in der Büchse der Pandora von 1894 zu finden sind. In der Urfassung ist der Monolog des vor der Leiche Golls allein gelassenen Malers Schwarz im ersten Akt noch etwas länger: Ich könnte sie emporziehen – die Seele in ihr wecken – sie würde gleich mitgehen – – – sie ist grenzenlos verkommen – – – meine Eltern, meine armen Eltern [...] ich bin kein Kind – ich war es auch nie – – – – – seufzend Ich bin – er kniet nieder und bindet Goll sein Taschentuch um den Kopf – eine alte Jungfer! – – – – – Ich flehe zum Himmel – hier flehe ich zum Himmel, zum Himmel, er möge mich befähigen, glücklich zu sein – er möge mir den Mut dazu geben – und die Kraft und die Herrlichkeit – – nur ein klein wenig glücklich 37 zu sein – um ihretwillen – einzig um ihretwillen –

Wenig überraschend (berücksichtigt man das zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch schnell herangezogene Argument der Blasphemie) ist in der letzten Fassung das direkte Zitat aus dem Vaterunser (»die Kraft und die Herrlichkeit«) verschwunden. Dort heißt es nur noch: »Hier flehe ich zum Himmel, er möge mich befähigen, glücklich zu sein. Er möge mir die Kraft geben und die seelische Freiheit, nur ein klein wenig glücklich zu sein.«38 Schwarz sitzt speziell in der Urfassung einem Irrglauben auf: in der (irrtümlichen) Annahme von Lulus jungfräulicher Unschuld versucht er seine kindlichen Schuldgefühle zu ›sublimieren‹: um einer höheren Mission der sexuellen Erweckung Lulus durch männliche Stärke willen, die er gerne im Atelier unter Beweis gestellt hätte. Doch diese Rolle ist (ohne sein Wissen) bereits durch den Patriarchen Schön besetzt. An diesem frühen Punkt der Monstretragödie ist entlarvt worden, dass weder die Künstler noch ihre Auftraggeber bereit sind, die Konsequenzen aus ihrem körperlichen Begehren und ihrem Hang zu artifizieller Verklärung und Camouflage zu ziehen. »By placing art between themselves and Lulu, by treating her as a voyeuristically pleasurable artifact, men are able to avoid their own and Lulu’s sexuality.”39 In Lulu stürzen alle Männer bei der Instrumentalisierung der Kunst über den unbeabsichtigten Skandal, der mittelfristig über jeden hereinbricht, der sich mit Lulu einlässt, so sehr er auch darauf hinarbeiten mag, der Gefahr durch verschiedene

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Wedekind, Erdgeist (1913), S. 424. Wedekind, Erdgeist (1913), S. 440. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1894), S. 176. Wedekind, Erdgeist (1913), S. 424. Peter Jelavich, Munich and Theatrical Modernism, Cambridge (Massachusetts)/London 2 1996, S. 109f.

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Konzepte der Domestizierung und Stilisierung zu entkommen. Anhand der LuluFigur wird vor Augen geführt, dass der Skandal nicht narzisstisch beherrschbar ist, jedenfalls nicht ohne sich als »Echo« zu verselbständigen und denjenigen einzuholen, der in Selbstüberschätzung die fatale Kettenreaktion auslöst. So widerfährt es dem Verleger Dr. Schön, der sich bei den, von ihm eingefädelten, ersten beiden Ehen Lulus noch auf die Inszenierung des Skandalösen zu seinen Gunsten versteht – sowohl bei der Verheiratung Lulus mit Goll, der ihre Herkunft über ihren ästhetischen Qualitäten als Modell und Künstlerin vernachlässigt; als auch bei den Andeutungen über Lulus Vorleben, die Schwarz in den Selbstmord treiben. Schön bemüht sich bis zuletzt, den Abstand zu dem von ihm ›geretteten‹ Kind aus der Gosse zu halten, bis Lulu es wagt, »die Szene gegen« ihn »auszuspielen«,40 indem sie als Tänzerin zusammenbricht, als sie ihn in einer Loge mit der Verlobten erblickt und fixiert hat. Schwarz’ Untergang beginnt mit Lulus Demonstration ihrer Tanzkünste (die ihr Goll beibringen ließ). Im Umkehrschluss gibt für den Zeitungsmagnaten Schön die Unterbrechung des Tanzes den Auftakt zum Lebensabend in der todbringenden Ehe mit Lulu. Schöns Besessenheit von Lulu hat sie von einem Straßenkind zu einer Bankiersgattin, dem Modell und der Muse eines lebensunfähigen Künstlers und schließlich zu einer im Tanztheater bewunderten Bühnenbegabung aufsteigen lassen. Doch all diese Versuche, sie zu einem ästhetizistischen Kunstgeschöpf zu machen, können sie nicht von Schön abnabeln, der ihr erst den Zugang in die Gesellschaft und zur ›Kultur‹ ermöglicht hat; »mehrfach wurde darauf verwiesen, daß es sich hier um die Liebe eines Geschöpfes zu seinem Schöpfer handelt«.41 Äußert sich der Narzissmus der Männer Schön, Goll und Schwarz über ihre Neigung, aus ihrer Sicht und Manipulation von Lulu als ewiges Kind jegliche Triebhaftigkeit auszublenden, so rächt sich der »Narzissmus der kleinen Unterschiede« dahingehend, dass Lulu ihren erotischen Reiz des Verbotenen umso deutlicher ausspielt und mit naivem Lächeln Skandale hervorruft, je stärker sie die Männer innerhalb geschlossener artifizieller Rahmenkonstruktionen zu bändigen suchen. Die Manege des Prologes von Erdgeist steckt den Rahmen der so genannten Kulturlandschaft ab, in der die wendige ›Schlange‹ Lulu en abyme alle zur Selbsterkenntnis bringt, sterblich werden lässt und dominiert. Gefährdet werden kann sie nur von denen, die wie der Athlet oder Jack the Ripper ohnehin auf ihre Körperlichkeit und animalische Brutalität reduziert sind, oder wie Schigolch als Clochard außerhalb der moralischen und ästhetischen Konventionen stehen. Lulu hingegen vollends verfallen ist der zweite Künstler in ihrem Leben, Schöns Sohn Alwa. Wie bei Schwarz lohnt sich für diese Figur der Fassungsvergleich. Um kleine, gleichwohl markante Nuancen hat Wedekind diese Figur verändert. Erst nach der Urfassung sieht Alwa im Leben von Lulu, die wie seine Schwester aufgewachsen ist, genießerisch die perfekte Dramenvorlage, was Nike Wagner auf den Punkt genau als ein »poetisches Boulevard-Verfahren« einstuft,42 das Alwa

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Wedekind, Die Büchse der Pandora (1913), S. 455. Hauke Stroszeck, »Ein Bild, vor dem die Kunst verzweifeln muß«. In: Hans-Peter Bayerdörfer/Karl Otto Conrady/Helmut Schanze (Hg.), Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter, Tübingen 1978, S. 228. Nike Wagner, Traumtheater: Kraus/Lulu/Alwa. In: Staatsoper Unter den Linden (Hg.), Programmheft zu Lulu von Alban Berg, Berlin 1997, S. 19.

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zwar nicht, wie ihre anderen Liebhaber, zum Verräter an Lulu werden lässt; wohl aber hat er mit einem »blumigen Zwitterstil zwischen Lyrik und Feuilleton«43 die Berechtigung eingebüßt, wie in der Urfassung despektierlich über Schwarz nach dessen Selbstmord zu sagen: »Er war um ein volles Jahrhundert hinter seiner Zeit zurück.«44 Mit Beginn des 20. Jahrhunderts ist Alwa selbst hinter der Zeit zurückgeblieben, wie im Folgenden zu sehen sein wird. In der Urfassung flieht Lulu, nachdem sie, von Schön zum Selbstmord gedrängt, diesen erschossen hat, umgehend nach Paris. Ihre Inhaftierung und ihr Entkommen aus dem Gefängnis ist ein später, nach der Zweiteilung des Dramas, hinzugefügter Abschnitt der Handlung. Während Erdgeist als erster Teil der Tragödie mit dem Tod Schöns endet, bildet Lulus Rückkehr in das Haus des Erschossenen den Anfang des zweiten Teils der Tragödie (Die Büchse der Pandora von 1903/1913). Im dortigen Dialog mit Alwa findet sich die Stelle: (im Märchenton): Mir träumte alle paar Nächte einmal, ich sei einem Lustmörder unter die Hände geraten. Komm, gib mir einen Kuß! ALWA: In deinen Augen schimmert es, wie der Wasserspiegel in einem tiefen Brunnen, in 45 den man einen Stein geworfen hat. LULU

Der Traum von einem Lustmörder ist zweifellos ein Vorgriff auf das blutige Ende des Dramas, figurenpsychologisch betrachtet eine Vorahnung Lulus. Die Urfassung bietet demgegenüber ein anderes Bild. In deren dritten Akt bedrängt Alwa Lulu, als sie noch mit seinem Vater verheiratet ist, unter anderen mit den Worten: »ich muß meiner Schwärmerei Ausdruck geben, wenn sie mich nicht zum Lustmörder machen soll.«46 Erst auf diese Übertreibung hin und während sie von Alwa bereits zur Ottomane geführt wird, entgegnet Lulu: »Ich möchte einmal einem Lustmörder in die Hände fallen.« Der Unterschied ist eklatant, genauso wie der Fortgang des Gesprächs: »LULU: [...] Ich begriff die Geschwitz als ich in den Spiegel sah. Ich hätte ein Mann sein mögen, nur ganz für mich allein.«47 In der Urfassung widerspricht Alwa dem nicht; er hält ohne Scham ein Liebesmahl mit seiner ›Stiefmutter‹; nichts mehr davon in der letzten Fassung, in der Alwa sich zunächst entsagungsvoll gibt: »LULU: Als ich mich im Spiegel sah, hätte ich ein Mann sein wollen... (sich unterbrechend) mein Mann! – ALWA: Du scheinst deinen Mann um das Glück zu beneiden, das du ihm bietest.«48 Erst nach langem inneren Ringen gibt Alwa zu verstehen: »du stehst so himmelhoch über mir wie – wie die Sonne über dem Abgrund... (Kniend) Richte mich zugrunde! – Ich bitte dich, mach ein Ende mit mir! – Mach ein Ende mit mir! [...] Ich l i e b e dich.«49 Es ist, als ob Maler und Dichter zwischen der Urfassung und derjenigen letzter Hand die Rollen getauscht haben: Das Gefühl narzisstischer Zurücksetzung, Unmündigkeit und Inferiorität liegt nun eindeutig bei Alwa, während die zynischen Untertöne der Resigniertheit wie gesehen auf Schwarz übergegangen sind. Insofern ist die Entwicklung Alwas zur Identifikationsfigur für

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Ebd. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1894), S. 206. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1913), S. 569. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1894), S. 216. Ebd. Wedekind: Erdgeist (1913), S. 469. Ebd., S. 471f.

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Karl Kraus und, noch stärker, für Alban Berg, bei dem »Alwas Liebe zu Lulu authentisch«50 ohne Pathos und Übertreibungen wirkt, keine willkürliche Umdeutung der Vorlage Wedekinds. Bereits durch die Verschiebung von Alwas Ästhetisierung der Schönheit Lulus (die Berg in abgründig schwindelerregende tenorale Höhen verlagert) an den Anfang des zweiten Teils des ›halbierten‹ Dramas, erhalten die Worte mehr Ernst als im Liebesspiel der Urfassung, hält man die analogen Textstellen des dritten Aktes der Urfassung und des ersten Aktes der Endfassung von Die Büchse der Pandora nebeneinander: ALWA: Nein! – ich lasse diese Füße nicht! Diese schmalen Knöchel! – Dies – dies – ruhige Anschwellen – jeder Zoll ein – ein – – – Diese Knie – oh du barmherziger Gott! – dies kindlich üppige Capriccio – zwischen dem Andante der Wollust – und dem – und dem unsäglich zarten Cantabile dieser Waden! – – Diese Waden! – Ich höre es – wie Kinderstimmen! – – An allen Fingerspitzen – Katja – fühle ich die Umschlingung! – Ich glaube nicht – ich glaube nicht, daß ich noch hinauf 51 gelange...

ALWA: Durch dieses Kleid empfinde ich deinen Wuchs wie eine Symphonie. Diese schmalen Knöchel, dieses Cantabile, dieses entzückende Anschwellen; und dieses Capriccio; und das gewaltige Andante der Wollust. Wie friedlich sich die beiden Rivalen in dem Bewußtsein aneinanderschmiegen, daß keiner dem andern an Schönheit gleichkommt – bis die launische Gebieterin erwacht und die beiden Nebenbuhler wie zwei feindliche Pole auseinanderweichen. Ich werde dein Lob 52 singen, daß dir die Sinne vergehn!

Abgesehen von der Interpunktion zeichnet sich die Urfassung durch eine ausgesprochene Atemlosigkeit und Heterogenität der sprachlichen Elemente aus. Man kann dies als Parodie auslegen, oder als der Situation geschuldeten, mangelnden Ernst der Figur bei ihrem Liebesspiel. Die spätere Fassung wirkt pathetisch übertrieben, aber die Sprache ist im Fluss und lädt auch durch die ›symphonische‹ Steigerung (dieser musikalische Bezug fehlt in der ersten Version) zur Musikalisierung an. Dass Lulu in der späteren Fassung tatsächlich die Muse Alwas ist, erscheint glaubwürdig. Der Entschluss Alwas, mit Lulu nach Paris zu gehen (der in der Urfassung noch spontan gefasst wird) gewinnt an Plausibilität. Zu stark hat sich Alwa bereits in Lulus Bild versenkt und in Abhängigkeit begeben. Die »unheilvolle Analogiebeziehung« von weiblichem Narzissmus und männlichen Voyeurismus, die Carola Hilmes als kennzeichnend für die Geschichte der femme fatale beschrieben hat,53 wird bezüglich der Qualität der Betrachtung durch Alwa in eine andere Richtung gelenkt. Zwar wird auch in der LuluDoppeltragödie, was die Projektionen der Männer Goll, Schwarz und Schön auf Lulu anbelangt, gemäß den zahlreichen Gestaltungen des Rollenbildes der femme fatale der »weibliche Narzissmus« des Gesehenwerdens überlagert durch den »Ausdruck eines in sich gespaltenen patriarchalischen Blicks.«54 Alwas Blick indes unterscheidet sich grundsätzlich von dem seiner Geschlechtsgenossen in seinem

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Kordula Knaus: Gezähmte Lulu. Alban Bergs Wedekind-Vertonung im Spannungsfeld von literarischer Ambition Opernkonvention und »absoluter Musik«. Freiburg i. Br. 2004, S. 103. Wedekind: Die Büchse der Pandora (1894), S. 218. Wedekind: Die Büchse der Pandora (1913), S. 570. Carola Hilmes, Die Femme fatale, Stuttgart 1990, S. 237. Ebd., S. 238.

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Hang, bei der Beschreibung seiner Beobachtungen zu inkommensurablen Größen zu greifen. Er empfindet nicht nur Lulus »Wuchs wie eine Symphonie.« Es besteht kein Zweifel daran, dass der Ästhet Alwa Lulus Physiognomie immer noch zu einem sinnlichen Ganzen zusammensetzen kann, zumal sein Interesse an ihrer Biographie und ihrer Entwicklung ungebrochen ist. Aber sein fragmentierender Blick, der Lulus Glieder nach ästhetischen Kategorien sortiert und bemisst, erscheint im düsteren Lichte des Mordes von Jack the Ripper an Lulu, der nur noch auf die fetischisierte Vulva seines Opfers fixiert ist, wie eine Vorstufe des zerstörerischen Blicks brutaler Vergegenständlichung der Objektwahl. Alwas romantischer Grundsatz der Harmonie von Form und Inhalt, um die isolierten Elemente des Gegenübers in eine geschlossene Form zu bringen, unterscheidet ihn von dem des Mörders. Das voyeuristische Zerlegen und, im Gegensatz zum psychopathischen Mörder, der die Resultate seines zerstörerischen Wütens in klinischer Isolation voneinander zurücklässt, das erneute, ›sinnvolle‹ Zusammenfügen der sinnlichen Eindrücke dominiert das Wesen dieses Künstlertypus. Als die aus dem Gefängnis ins Haus Schön zurückgekehrte Lulu von Alwa, der über sie regelrecht herfällt, wissen will, ob der Diwan noch derselbe ist, auf dem Dr. Schön sein Leben ausgehaucht hat, fordert der Sohn sie auf zu schweigen. Ähnlich wie Schwarz in der Urfassung überhaupt nicht in Erwägung zieht, dass Lulu ihre Unschuld verloren habe könnte, so blendet der Dichter Alwa des zweiteiligen Dramas jegliche verbale Zweideutigkeiten und makabre Schlüpfrigkeiten aus seinem poetischen Vokabular aus. Mit den Künstlerfiguren innerhalb der tragischen Entwicklungen um Lulu kollabieren auch die ästhetischen Formprinzipien und -elemente, da sie weder den drastischen Lebensumständen, inmitten derer die Figuren sich wie die Raubtiere gegenseitig zerfleischen, noch ihrer bizarren zirzensischen Leichtigkeit und Verspieltheit etwas entgegensetzen können. »Und trotzdem, wenn deine beiden großen, dunklen Kinderaugen nicht wären, müßte ich dich für die abgefeimteste Dirne halten, die je einen Mann ins Verderben gestürzt hat.«55 Wie in der Urfassung Schwarz, gibt in der letzten Fassung Alwa die Figur eines Ritters traurigster Gestalt ab, der Lulu an seinen weiblichen Idealbildern zu messen sucht, deren Leben der breiten Öffentlichkeit längst ein ganz anderes Bild von Weiblichkeit vermittelt hat. Es ist signifikant, dass der aus gesicherten Verhältnissen stammende Alwa zum treuen Begleiter von Lulus gesellschaftlichem Abstieg wird, gemeinsam mit (und doch auf Distanz gerückt zu) Geschwitz und Schigolch. Denn anders als jene, deren Außenseitertum von Anfang an aus der inneren Logik der Charakterbilder und Geschehnisse begründet ist – Geschwitz durch ihre von der Norm ›abweichende‹ Sexualität, Schigolch durch sein heimatloses Vagabundieren – scheint Alwa zu Beginn noch die Wahl zu haben. Er wird dann jedoch aus der Rolle eines faszinierten Zuschauers, ja ›boulevardesken‹ Voyeurs, immer stärker in jenen abgrundtiefen, undurchschaubaren Strudel hineingezogen, den ihm der Blick aus Lulus Augen suggeriert. Es ist ein Austausch von Blicken, der nur in gegenseitiger Entfremdung enden kann. Zu Beginn des letzten Aktes der Büchse der Pandora (fassungsübergreifend) streiten sich Alwa und Lulu wie ein altes Ehepaar, das sich auseinandergelebt hat, und nur noch gelegentlich daran belustigt, wie leicht beide füreinander auszurechnen

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Wedekind, Die Büchse der Pandora (1913), S. 570.

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geworden sind. Dass die Geschwitz das alte Porträt Lulus, das Schwarz einst von ihr angefertigt hat, in die armselige Londoner Wohnung mitbringt, weckt bei Alwa allein Erinnerungen, keine Vitalität mehr, wie bei Lulu, die sich noch einmal mit ihrem verführerischen Abbild messen will. Darin unterscheidet sie sich bis zuletzt von Alwa, der sich bereits vor seinem Dazwischengehen in der Szene mit Kungu Poti aufgibt, ja diese wie eine Vollstreckung des Urteils lenkt, das er im Dialog mit Schigolch über sich selbst verhängt hat. »Sie hat mich aufs Krankenlager geworfen und mich von außen und innen mit Dornen gespickt!«56 In der Urfassung steht der noch deutlichere Zusatz: »Sie hat mich zu einem Versammlungspokal gemacht, in dem alle Gifte und Parasiten ihre babylonischen Orgien feiern...«57 Die Krankheit, die Lulu auf Alwa übertragen hat und gegen die sie selbst immun ist, bewegt ihn dazu, »den Gnadenstoß« einzufordern, der »[k]einen Verwundeten [...] jemals dankbarer finden« wird.58 Diesmal erwecken Alwas Repliken, in Entsprechung zu Schwarz in den Textversionen nach der Urfassung, den Eindruck einer dekadenten, von Selbstmitleid erfüllten Todessehnsucht. Sie ist weniger physisch, als durch einen überhitzten künstlerischen Wahn begründet: anders als sein Vater überträgt Alwa seine Aggressionen auf sich selbst. Die Eifersucht wie auch die Versuche, Lulu zu beschützen, sind nur untergeordnete Hilfsinstrumente zur Erfüllung dieses Todeswunsches. Die Künstler jagen Lulus Lebenslust hinterher, um sich selbst in den Tod zu stürzen. »Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig-weißen strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns.«59 So äußert sich Alwa in der letzten Fassung von Die Büchse der Pandora über das Bild von Schwarz. Der depersonalisierende Blick auf Lulu, der in der Urfassung noch Schwarz vorbehalten war, ist auf Alwa verschoben worden. Überdies zitiert Alwa, wenn schon nicht das Vaterunser, so doch bruchstückhaft Worte Jesu aus dem Johannes-Evangelium – um sich selbst zu freizusprechen. Der ästhetisch verklärte Blick auf die erotische Erscheinung der Frau entschuldigt und legitimiert den tiefen Fall des Mannes. Von diesem narzisstischen Akt männlicher Selbstbestätigung im autoaggressiven Handeln ist es nur noch ein kleiner Schritt, die Aggression gegen die Verführerin zu wenden. Als Selbstopfer psychologisch stärker motiviert, wirkt Alwa im Vergleich zur ersten Fassung trotzdem nicht weniger grotesk. Mit einem Totschläger trifft ihn der afrikanische Prinz Kungu Poti, was dieser (anders als in der Urfassung, in der er wie Jack the Ripper Englisch spricht) in euphemistische Worte kleidet, wie maßgeschneidert für sein Opfer: »Hier hast du Schlafmittel! Hier hast du Opium! – Schöne Träume kommen! Schöne Träume!«60 Die tragische Ironie dieser Worte ist nicht zu übersehen: die künstlichen Paradiese, die Alwa sich auf seinem Weg nach Paris ausgemalt hatte, von einem Rausch zum nächsten, enden in der brutalen Realität der Zuhälterei, für die er nicht geschaffen ist. Als Schigolch es anschließend übernimmt, Alwas leblosen Körper fortzuschaffen, lauten seine Worte gerade so, als ob er Kun-

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Wedekind, Die Büchse der Pandora (1913), S. 604. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1894), S. 292. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1913), S. 605. Ebd., S. 602. Ebd., S. 607f.

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gu Potis Beschönigung der gewaltsamen ›Ruhigstellung‹ aufgreift: »Er will seine Ruhe haben. – Aber hier wird nicht geschlafen.«61 Dass Alwas Leiche, die Schigolch auf das Bett in Lulus Kammer legt, in der folgenden Szene den finanziell vielversprechenden Freier Dr. Hilti in Angst versetzt und in die Flucht schlägt, zählt zu den makabersten Wendungen von Wedekinds Humor: Der Leib des Ästheten, von dem Schigolch in der Urfassung der Büchse der Pandora noch sagt, er sei »am ganzen Leib wie Porzellan«62, verkommt entgegen aller Tragik am Ende von Wedekinds Monstretragödie zum Requisit einer monströsen Farce. Nicht wie dort der heimliche Liebhaber wird er im Schrank versteckt; stattdessen blockiert der letzte tote Partner Lulus als Rudiment aus ihrem bürgerlichen Leben das Bett, in dem sie mit der Prostitution, ›ganz unten‹ angekommen, ihr Auskommen bestreiten soll – und vor allem das des unverwüstlichen Schigolch, der darauf hinweist, das dies schon vor zwanzig Jahren funktioniert hätte. Doch mit jeder Wiederholung wird das Spiel trostloser. Ganz gemäß der Manege des Prologs in den Fassungen nach 1894 ›rundet‹ sich die Tragödie im Finale: Das Bild, das Schwarz von Lulu angefertigt hat, ist wie erwähnt von Geschwitz auf den Dachboden nach London gebracht worden. Wie Schwarz im Atelier, so wird Jack the Ripper in der Kammer zum Jäger Lulus. Nachdem Lulus Körper und ihre artistische Körperbeherrschung durch den Maler und Dichter (wie auch den Athleten) zum formalen Maßstab erhoben worden ist, pervertiert die gruselige Fragmentierung und Vivisektion durch den Psychopathen auf einen Streich jeden dieser Versuche, der erotischen Anziehungskraft dieser Frauengestalt in einem ästhetischen Akt, der den sexuellen sublimieren sollte, habhaft zu werden. Wenn Jacques Le Rider im Kontext des Antifeminismus um 1900 schreibt, »Lulu verkörpert die ständig von der männlichen Phantasie entstellte Weiblichkeit«,63 so wäre hinzuzufügen, dass diese Verkörperungen in keiner Weise Rückschlüsse auf die »Seele« dieser Weiblichkeit zulassen, nach der Schwarz seine »Eva« gequält gefragt hat. Jack the Ripper sucht nicht mehr nach dieser Seele und auch den »Wuchs« von Lulu würde er »nie wie Musik« empfinden, wie es Alwa formuliert hat. Er schließt von ihren Bewegungen auf die Art, wie sie gebaut ist, um sie nach seinem Mordschema verstümmeln und ›ausweiden‹ zu können, was bei dem einzigen Opfer des historischen Jack the Ripper, das (1888 in London) in einem geschlossenen Raum aufgefunden wurde, in einer besonders abstoßenden »Inszenierung« gipfelte: »im Abtrennen der Brüste und der Herauslösung von Herz und Nieren, Teile der Toten, die symmetrisch auf einem Tisch arrangiert wurden.«64 In der Urfassung bei Wedekind sagt der Mörder, der Lulus Vulva erbeutet hat: »When I am dead and my collection is put up to auction the London Medical Club will pay a sum of three hundred pounds for that prodigy I have conquered this night.«65 Verklärt und verkleidet trat Lulu in Erscheinung – vom Maler als Eva apostrophiert und als Pierrot porträtiert. Der décadent Alwa verehrte sie anfangs

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Ebd. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1894), S. 292. Le Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 156. Joachim Kalka, »Nein, gib mir das ganze.« Jack the Ripper: das Ende Lulus. In: Bayerische Staatsoper (Hg.), Programmheft zu Lulu von Alban Berg, München 2004, S. 88. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1894), S. 311.

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platonisch gleich einer Schwester, der er (wie ein Antiheld der Novellistik D’Annunzios und Thomas Manns) Wagners Tristan und Isolde erklären konnte.66 Unter Jack the Rippers Messer bleibt von all dem nichts als ein anatomisches Studienobjekt. Wedekinds Monstretragödie hat sich in der letzten Fassung für den Schriftsteller Alwa zur Vertreibung aus dem Paradies entwickelt, aus dem er sich im Lauf des Dramas wissentlich verabschiedet. Alwa ist zugleich der Typus eines Bohemien, der das Herausgerissensein aus seiner ursprünglichen, behüteten Bürgerlichkeit nicht verkraften kann. Wer Wedekind grundsätzlich als Kritiker des Bürgertums und seiner Zensurmaßnahmen auslegt, droht bisweilen zu übersehen, dass die Figuren von Schwarz und Alwa ein Missverhältnis zwischen dem hedonistischen künstlerischen Begehren und öffentlicher Anerkennung aufzeigen.

5.4 Ein heiteres Nachspiel? Tod und Teufel (1906) Im Jahr 1905, nachdem Karl Kraus in Wien die als Privataufführung an der Zensur vorbeigeschleuste Inszenierung der Büchse der Pandora im Trianon-Theater (mit Wedekinds späterer Frau Tilly Newes als Lulu) organisiert hat, fügt Wedekind diesem Erfolg noch einen Akkord hinzu, indem er den Einakter Totentanz oder Tod und Teufel (dem bis heute, vor allem um Verwechslungen mit Strindbergs gleichnamigem Drama zu vermeiden, üblichen Titel), der thematisch und in der Figur des Mädchenhändlers Casti Piani an die Lulu-Monstretragödie anknüpft, zur Veröffentlichung bei der Fackel einreicht. Wie mit Alwa tritt hier die Identifikationsfigur eines Poeten in Erscheinung: Wedekind geht sogar, in dem Briefentwurf »An einen Theaterdirektor« vom 4. Juni 1907, in dem er sich für eine Bühnenaufführung des Totentanz einsetzt, so weit, diese Dichterfigur auf sich selbst zu beziehen: »In der Figur des Herrn König habe ich mich selbst als Autor in die Handlung gestellt und geschildert, wie ich die Anregung zu dem Einakter empfangen. Der abstrakte Idealismus dieses Charakters kann meines Erachtens kaum als anstößig empfunden werden.«67 Der Auftritt dieses Herrn König in Tod und Teufel führt in der Gestaltung des Verhältnisses zwischen künstlerischem Blick und Betrachtungsgegenstand den Voyeurismus des Alwa sowie seine Enttäuschungen fort, er setzt ihnen jedoch auch Widerspruch entgegen. Während Alwa die Kinderaugen der Lulu noch als Alibi für ihrer Dirnenhaftigkeit auslegt, kann es König bereits mühelos mit sich vereinbaren, dass seine Muse im Moment käuflich verfügbar ist und nicht aus der Ferne angehimmelt und idealisiert werden muss. Die Angst des Poeten, die noch in La Princesse lointaine aufscheint, dass die distanzierende und distanzierte Idealisierung der plötzlichen Nähe und dem Dazwischentreten des Dritten unterliegen muss, löst sich in ein dichterisches Eintreten für ›Freiheit‹ auf – und dass die Lust doch keine Ewigkeit will. Herrn Königs Auftritt in Tod und Teufel ist vor allen Dingen als ein Nachspiel zur LuluTragödie zu sehen (wie sich bereits aus dem erneuten Auftauchen Casti Pianis erschließt): ein Nachspiel, das zum Ästhetentypen Alwas ein ironisches

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Wedekind, Die Büchse der Pandora (1913), S. 598. Wolfdietrich Rasch (Hg.), Der vermummte Herr. Briefe Wedekinds aus den Jahren 1881– 1917, München 1967, S. 173.

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Gegenkonzept skizziert, das durch die formalisierte Sprache jedoch von vornherein von einer realistischen Interpretation und vor allem Identifikation in die Irrealität abgerückt wird. Noch stärker hat Wedekind mit der weiblichen Hauptfigur von Tod und Teufel, der Frauenrechtlerin Elfriede von Malchus, seiner Frau Tilly eine Rolle auf den Leib geschrieben (und ihr das ganze Stück »in innigster Liebe gewidmet«), die mit ihrer Wiener Glanzrolle Lulu so rein gar nichts gemeinsam hat, was ihrer »Prachtleistung« als Elfriede in der Uraufführung im Nürnberger Intimen Theater am 2. Mai 1906 keinesfalls im Wege stand.68 Die Szene zwischen Herrn König und der Prostituierten Lisiska zieht den Tod des »Teufels« Casti Piani nach sich. Aber indem sie durch (mit Endreimen zusätzlich überladene) Blankverse gebrochen und ironisiert wird, widerspricht sie klar allen Mutmaßungen früher LuluInterpretationen, nach denen das Kunstverständnis Wedekinds und Gleichgesinnter in der Figur Alwas verkörpert wäre. »[E]r ist jener, der den Sinn des Dramas fortlaufend enthüllt und kommentiert und der als Sohn, Rebell und Dichter sowohl Wedekind wie Kraus (wie Berg) zu euphorischer Identifikation einlädt«.69 Die poetische Form dient, in Opposition zu Alwas Ästhetizismus, der Entfremdung vom Inhalt, was Wedekind, durch die Übertragung des kompletten Einakters Tod und Teufel in eine Versfassung, in späteren Jahren noch auf die Spitze treiben wollte.70 Nach dieser Demaskierung Alwas müssen, wie von Nike Wagner weiter dargelegt, jene Komponenten des Dramas ausgeblendet werden, die Karl Kraus und später Alban Berg darüber hinwegsehen lassen, dass Alwas lyrische Ergüsse genau jener blumigen feuilletonistischen Stilistik zuzurechnen sind, die Kraus aufgrund ihres vorbehaltlosen Bedienens des Boulevardgeschmacks verabscheute. Dieses Missverhältnis findet in der Abhängigkeit Alwas vom väterlichen Vermögen eine Entsprechung, als er, wie ihm der Athlet Rodrigo vorhält, das von seinem Vater redigierte »Käseblatt« für zwei Millionen veräußert hat,71 ohne von seiner Schriftstellerei auch nur im Geringsten leben zu können. Mochte die Dekadenz als klassifizierendes Lebensmotto für die aus der abgesicherten Bürgerlichkeit stammenden und der eigenen Wahl nach geflüchteten Poeten und Bohemiens noch angehen, so provoziert die Einpassung der Kunst ins materielle Denkschema von Werten und Gegenwerten letztlich eine ästhetische Abwehrhaltung, die den Sympathien mit der kränklichen Schwäche und der zur Prostitution gezwungenen Weiblichkeit keinen Platz mehr lässt. Wenn der ›artistische‹ Außenseiter sich bis dato noch mit seinesgleichen verbunden fühlt, drückt im Rahmen der im nächsten Kapitel folgenden Typologie die Künstlerfigur wenig Empathie (oder Selbstmitleid) aus: die Solidarität wird stattdessen zum Selbstzweck eines Zynikers, der mit seinen artifiziellen Erzeugnissen dem Selbstbetrug seines Publikums zuarbeitet und dafür um jeden Helfershelfer und Zuarbeiter froh ist, die seinen Marktwert als Exoten am Rande der gesellschaftlichen Intoleranz bestätigt und bisweilen noch steigert.

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Kutscher, S. 250. Nike Wagner, S. 18. Frank Wedekind, Tod und Teufel, In: ders., KSA, Bd. 6, hg. von Mathias Baum und Hartmut Vinçon, Darmstadt 2007 [die Versfassung findet sich auf S. 127–151]. Wedekind, Die Büchse der Pandora (1913), S. 560.

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6. Provokation und Prophetie

Exkurs: Bernard Shaw im Blickwinkel der deutsch-jüdischen Assimilation Zur gleichen Zeit, in der Wedekind mit seinem Kammersänger die Verehrung für Richard Wagners Musikdramen und seine Heldendarsteller zum Gegenstand einer parodistischen Demontage macht, gelingt es dem bis dato vor allem als Musikkritiker und Propagator Ibsens und Richard Wagners auf der Grünen Insel in Erscheinung getretenen Bernard Shaw als Dramatiker Fuß zu fassen – eine Karriere, die bekanntermaßen mit dem Nobelpreis für Literatur 1925 ihre krönende internationale Würdigung findet. Eigentlich ist es müßig herauszustellen, dass sich in diese Akklamation teilweise auch heftiger Widerspruch mischt. Doch überrascht in der Retrospektive, an welchen Punkten sich die mitunter überaus scharfe Kritik, Polemik und der Spott, die an die Adresse von Bernard Shaw gerichtet werden, entzünden. Noch im Jahr der Verleihung des Nobelpreises an Shaw veröffentlicht Herbert Eulenberg (1876–1949), der renommierte, von der Zensur bekämpfte und schließlich von der antisemitischen Hetze des Dritten Reichs mundtot gemachte Bühnenautor und Satiriker, seine »Streitschrift« Gegen Shaw. Eulenberg hängt an dieses Pamphlet noch eine »Shaw-Parodie« aus eigener Feder an, in der Shaw über die »elysäischen Felder« wandelt, die allerdings »durchaus nichts Himmlisches noch Verklärtes oder Entrücktes an sich« haben: »Sondern [sie] sind ähnlich regelmäßig und langweilig aufgeteilt wie die nach ihnen benannten Champs-Elysées in Paris. Mit Baumwegen, Beeten, Rasenplätzen, Seitengängen und Blumenanlagen.«1 Wie ein narzisstischer Flaneur bewegt sich die »Seele Shaws« durch dieses künstliche Paradies, um ihm begegnenden Dichterkollegen früherer Generationen in blasierter Selbstüberschätzung seine Reverenz zu erweisen, angefangen mit William Shakespeare, der nach der Meinung der Shaw-Figur Eulenbergs »sehr rückständig geworden war« und einer zeitgemäßen Anpassung durch einen kongenialen Geist bedurft hätte. Eine Steigerung bietet dann aber noch das Aufeinandertreffen mit Heinrich Heine, das Eulenberg mit der folgenden fiktiven Äußerungen Shaws unterlegt: Verdammt! Ich merke, ich bin auf den Juden gekommen. Macht nichts. Er ist nicht der schlechteste unter den sogenannten Geisteshelden [...] Mein lieber Heine, wiewohl Sie Jude sind – ich bemerke, daß dies in England kein Schimpfwort ist – fühle ich eine gewisse Zuneigung für Sie.

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Herbert Eulenberg, Gegen Shaw, Dresden 1925, S. 63.

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Doch dem so Angesprochenen, der sich rasch entfernt, ist Shaw einer knappen Entgegnung nach schlichtweg »zu langweilig«, was mit dem eindeutigen Ausspruch, »Frecher Judenjunge!«, quittiert wird.2 Es könnte beim Lesen dieser Parodie verwundern, welchen Anlass Shaw seinen Zeitgenossen zu der Unterstellung gegeben haben könnte, sein Betonen einer unbelasteten britischen Wahrnehmung der »jüdischen« Identität würde nur ähnliche Vorbehalte und Überlegenheitsgefühle wie auf dem Kontinent kaschieren, die in seinem fingierten Zusammentreffen mit Heinrich Heine zum Vorschein kommen. Einen anderen Hinweis in diese Richtung integriert Eulenberg in seine Parodie, indem er Shaw vom ersten Übersetzer seiner Werke ins Deutsche, dem Wiener Juden Siegfried Trebitsch, als »the silky fellow, the funny man, my translator«3 sprechen lässt. Tatsächlich ist die frühe deutschsprachige Shaw-Rezeption über Trebitsch untrennbar mit der deutsch-jüdischen Assimilation verknüpft. Den durch seine Übersetzungen ausgelösten Siegeszug von Shaws Dramen setzt Siegfried Trebitsch in seinen Memoiren, die er nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht hat, sogar in Relation zu dem frühen Tod Herzls – ein Ereignis, das Trebitsch in seiner Autobiographie geradezu ›romantisch‹ verklärt, denn »mit irgendeiner Krankheit war fast jeder Körper gezeichnet, dessen Seele einen allzu hohen Flug nahm [...]«.4 Trebitschs Übersetzungen ziehen, obwohl oder gerade weil sie Shaw nach anhaltenden Misserfolgen endlich den Durchbruch bringen, im deutschsprachigen Kulturraum ständig neue, böse Kritik auf sich. Karl Kraus schreibt in Der Fackel eine Satire auf den Satiriker Shaw. »Für den besten Witz [...], den Herr Shaw in seinem ganzen Leben gemacht hat«, hält Kraus »den Trebitsch«.5 Kraus kann aus seinem Sprachgefühl heraus gar nicht anders, als Shaw über Trebitsch zu attackieren, da beide im denkbar größten Widerspruch zu seinem Glauben an die Sprache als letzte Instanz der Wahrheit stehen. Shaw kann kein Satiriker sein bzw. nicht als solcher in der deutschen Sprache rezipiert werden, da seine Paradoxien und Witze womöglich keiner Intention, sondern dem Unvermögen von Trebitsch entspringen: Man erinnert sich noch der Fülle von Stilproben, die dargeboten wurde, als Herr Trebitsch die ersten Stücke des Herrn Shaw aus dem Englischen in eine ihm gleichfalls fremde Sprache übersetzte, und es wurde damals die Beobachtung gemacht, daß viel Lustigkeit zum englischen Original hinzugekommen sei, was ja die Treue des Autors für den 6 Übersetzer hinlänglich erklären könnte.

Damit reiht Kraus Shaw wie seinen Übersetzer in jene Schar von Epigonen ein, die zu einer Erneuerung in der Kunst gar nicht fähig sind – ohne dass dieses Epigonentum wie noch bei Richard Wagner automatisch mit dem Judentum und der Assimilation, eben auch künstlerischer Gepflogenheiten und Vorgaben, zusammenfallen müsste. »Kraus’ selbstgewählte Feinde waren Juden und typische

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Ebd., S. 74 f. Ebd., S. 75. Siegfried Trebitsch, S. 186. Kraus, Die Fackel, 668–675, Dezember 1924, S. 139. Ebd., S. 140.

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Vertreter der ›jüdischen‹ Sprache oder Sprechweise«:7 Diese Schlussfolgerung von Sander L. Gilman, ist leicht zu relativieren, denn, wie Lionel Kochan bereits vor Gilman zum »jüdischen Selbsthass« festhielt: If a Jewish journalist or littérateur is attacked by Kraus for his debasement of literary and cultural values, then likewise the non-Jewish journalist or littérateur. If a Jewish profiteer is castigated, likewise the non-Jewish. The Jews are not isolated and made subject to a special 8 set of values.

Kraus polemisiert folglich allgemein, ähnlich Mallarmé, gegen eine immer schneller und ruinöser mit der Sprache verfahrende Kulturindustrie, in der die literarische Qualität nicht mit der Geschwindigkeit der Druckerpressen Schritt hält. Er beruft sich in seinen Schmähreden gegen Siegfried Trebitsch, was die Unfähigkeit im englischen Idiom anbelangt, primär auf den Anglisten Leon Kellner, der Trebitschs Shaw-Übersetzungen vom philologischen Standpunkt aus nach den ersten Veröffentlichungen schnell und heftig zu attackieren verstanden hat. Gänzlich gegen Trebitsch bringt Karl Kraus die Vergabe des Bauernfeldpreises im Jahre 1913 auf, weil diese mit einem für Kraus vollkommen indiskutablen Hintergrund erfolgt: Der ehemalige Schauspielstar Ferdinand Gregori muss zugeben, die Preisverleihung an Siegfried Trebitsch für dessen Novelle Des Feldherrn Traum maßgeblich protegiert zu haben, ohne diese Erzählung überhaupt gelesen zu haben.9 Doppelt pikant wird dieser Sachverhalt dadurch, dass Gregori ihn vor Gericht eingestehen muss, und zwar ausgerechnet im Kontext der scheiternden Ehrenbeleidigungsklage zwischen Siegfried Trebitsch und seinem Bruder Arthur. Arthur Trebitsch nimmt spätestens mit der Veröffentlichung seines Buches Geist und Judentum im Jahr 1919 eine besonders prekäre Stellung im Spektrum des jüdischen Antisemitismus seit Otto Weiningers Studien ein, mit dem gemeinsam er als junger Mann dem Wiener Kreis um Houston Stewart Chamberlain angehörte. 1909 trat Arthur Trebitsch aus der Jüdischen Kultusgemeinde Wiens aus, um fortan zu leugnen, jemals Jude gewesen zu sein.10 Geist und Judentum hat die Hypothese einer grundsätzlichen psychopathologischen Disposition des Judentums zum Inhalt. Wie Weininger wird Trebitsch bald nach Erscheinen seiner Studie das Opfer seiner eigenen, pseudowissenschaftlichen Erkenntnisse. Trebitsch, der seine jüdische Identität verleugnete, litt an der paranoiden Vorstellung, er werde von der »Alliance Israélite Universelle« verfolgt, einer in Paris gegründeten Selbsthilfeorganisation von Juden, die den Wert jüdischer Identität in Europa betonte. 1919 litt Trebitsch an akuter Paranoia, die fixe Idee einer jüdischen Weltverschwörung 11 beherrschte seine Wahrnehmung der Wirklichkeit vollkommen.

Mit Arthur Trebitschs Verleugnung der eigenen jüdischen Identität wie auch seinen Projektionen internationaler Verschwörungen und mit Siegfried Trebitschs Übersetzertätigkeit stehen sich zwei konträre Lebensentwürfe der jüdischen Assimilation in Österreich-Ungarn gegenüber: Der Einsatz von Siegfried für die

¯¯¯¯¯¯¯ 7 Gilman, S. 139. 8 Lionel Kochan: Jewish Self-Hatred, London 1970, S. 8. 9 Kraus, Die Fackel, 374, 8. Mai 1913, S. 45. 10 Brigitte Hamann, Hitlers Wien, München 1996, S. 329. 11 Gilman, S. 159.

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internationale Dramatik aus der Feder Courtelines und Shaws dokumentiert den idealistischen Anspruch auf ein literarisches Weltbürgertum, für das die Theaterbühne als Sprachrohr zur Äußerung dieses Anspruchs dient, wohingegen Arthur in Geist und Judentum ausgerechnet die spezifische Gestik und Sprache der Juden als Symptome ihres psychischen Defekts und »ihrer ›materialistischen Ausrichtung‹« in der Literatur greifbar zu machen versucht, nämlich vor allem in der Ironie Heines: Die Gestik, Teil der Sprache, enthülle das Wesen »des Juden« in seiner ganzen Auf-sichselbst-Bezogenheit – welche sich sogar in den Texten wiederfinde, die in makellosem Deutsch verfaßt seien. Trebitsch konzentriert sich sofort auf Heine und den Ton gebrochener Ironie, der dessen Verse kennzeichne. Dieser enthülle Heine als einen Menschen ohne Tiefe, ohne Charakter und bewußt zwiespältig, was seine jüdische Identität 12 betrifft.

Bei seinem Halbbruder Siegfried kann der literarisch immer wieder erfolglose Arthur Trebitsch eine vorgeblich jüdische Eigenschaft attackieren, die in der Aneignung origineller künstlerischer Meriten besteht, die einem ›Handlungsreisenden‹ in Kunstangelegenheiten, wie ihn Siegfried Trebitsch in den Augen des Halbbruders repräsentiert, überhaupt nicht zustehe: »Wer ist imstande rasch zu sagen, wie die Übersetzer Wildes, Swinburnes, Paillerons, Scribes, Ibsens oder Tolstois heißen? Darum bekümmert sich kein Mensch – aber den ShawDolmetsch muß jedermann beim Namen nennen, dafür ward gesorgt.«13, Dabei sei dieser »Dolmetsch« doch nur Teil einer jüdischen »GmbH für Literatur und Theater«, die in wesentlichen Teilen über die Wiener Neue Freie Presse organisiert sei, und das Agenturwesen jüdischen Anti-Künstlertums ausbaue: »Im Wettbewerb der Ware, da ist Reklame und Agententum, Anpreisung [...] und geschäftliches Entgegenkommen am Platze. [...] Im Bereich des Schöpferischen aber gibt es nicht Ware, sondern Werk, nicht Werbung sondern Tat.«14 Die divergenten Wege der Assimilation der Trebitsch-Brüder werden von Karl Kraus bei seinem Streifzug durch die Wiener Presselandschaft vor dem Hintergrund des Prozesses nur angetippt. Die Gefahr, dass Siegfried Trebitschs sprachliche Inkompetenz als Schriftsteller und Übersetzer eines bühnenbeherrschenden Dramatikers seiner Zeit dem jüdischen Selbsthass des Bruders Arthur die falschen Verbündeten zuspielt, ist damit aber nicht gebannt. Dies legt der Umstand nahe, dass Arthur Trebitsch in seiner Streitschrift Karl Kraus zum Vorkämpfer gegen die jüdische Sache in der Neuen Freien Presse macht: »Herr Karl Kraus hat Recht, gegen dieses Institut zu kämpfen, hier herrscht ein Cliquenwesen, hier hat jene G. m. b. H. für Lit. u. Th. ihren Hauptsitz, und es ist ein gutes Werk, diese Mißstände und Betriebs-Usancen vor aller Welt aufzudecken!«15 Karl Kraus macht seinerseits bei späteren Vorstößen und Seitenhieben wider Siegfried Trebitsch davor nicht Halt, den ›Sprachverstümmler‹ in einem Atemzug mit Felix Salten zu nennen; in Kraus’ Augen einer der größten jüdischen

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Ebd., S. 161. Arthur Trebitsch, Der Fall Ferdinand Gregori und Siegfried Trebitsch, München 1914, S. 47. Ebd., S. 57 f. Ebd., S. 17.

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Sprachvernichter seiner Zeit. Rückblickend hat sich Siegfried Trebitsch selbst folgendermaßen über die Entwicklung seines Stiefbruders geäußert und eine unheilvolle Entwicklung skizziert, die bereits im Jahr 1906, dem Todesjahr von Siegfrieds Stief- und Arthurs leiblichem Vater eingesetzt habe: Inzwischen hatte ein Stiefbruder von mir, der ausersehene Nachfolger meines Vaters, der das sehr groß gewordene Unternehmen führen sollte, geheiratet, und zwar in eine Umgebung, die ihn nicht vorteilhaft beeinflußte. Ich kann mir die Überzeugung nicht nehmen lassen, daß diese eheliche Verbindung die Keime zu dem späteren durch Hitler und die Volksdemokratien noch beschleunigten Untergang gelegt hat. Er hatte in diesem Kreis Gesinnungen kennengelernt, die den Zwanzigjährigen in eine Richtung zogen, aus der es für ihn, den Schwachen, Haltlosen, keine Umkehr mehr geben konnte. Sein Vater hatte das auch erkannt und ausgesprochen, aber er konnte und wollte nicht ernstlich 16 einschreiten, um den verstrickten Sohn nicht ganz zu verlieren.

Bemerkenswerterweise kehrt Siegfried Trebitsch, der von seinem Bruder als typisches Assimilations-»Produkt« diffamiert worden ist, den Sachverhalt hier regelrecht um: Für die ideologische Verblendung und Verbiegung Arthurs sei demzufolge vor allem die Eheschließung als Grund anzuführen gewesen (ohne dass diese Beobachtung auf eine grundsätzlich antifeministische Einstellung schließen ließe). Es ist außerdem aufschlussreich, im Sinne einer Gegendarstellung in der Sache Karl Kraus gegen Siegfried Trebitsch, wiederum in Trebitschs Memoiren, Chronik eines Lebens aus dem Jahr 1951 nachzublättern. Dort ist Trebitsch souverän genug, Karl Kraus überaus positiv in einem Überblick über das Wiener Kulturleben der Jahrhundertwende zu erwähnen: Ein genialer, wenn auch nicht allen gleich willkommener, aber die meisten überragender Schriftsteller ist der Satiriker Karl Kraus gewesen, dessen Werk erst jetzt so richtig gewürdigt wird. Es hat aber zu seinen Lebzeiten kaum einer einen solchen Einfluß auf die Jugend gehabt wie er, weniger als großer Dichter, sondern mehr als Beurteiler und Deuter 17 seiner Zeit.

Seine »prophetische Gabe« habe Kraus nicht umsonst eine große Gefolgschaft verschafft. Es zeugt einerseits von bescheidener Größe, dass der von Kraus so häufig angefeindete Trebitsch mit keinem bösen Wort auf die Polemik des derartig Gelobten eingeht. Andererseits könnte man Trebitsch vorwerfen, allzu beflissen den Mantel des Schweigens darüber zu breiten, dass gerade ihm manche Aussage von Kraus nicht eben willkommen gewesen sein dürfte. Wesentlicher fällt allerdings ins Auge, dass Trebitsch die Kluft zwischen Dichter und Kritiker, eigentlich schöpferischem Künstler und Deuter der Kunst, am Beispiel von Kraus vergrößert. Nicht dass er Kraus die schöpferische Energie abspricht, zumal er ja gleichermaßen über die visionäre Begabung des Prophetischen verfügt habe. Es sei noch einmal auf Gides Künstlertypologie in der Nachkommenschaft des ›alttestamentarischen‹ Narziss verwiesen, nach welcher der Dichter seine Kräfte auch in der Einsamkeit und Stille zu sammeln habe. Was bei Trebitsch nicht explizit formuliert, wiewohl latent thematisiert scheint, ist die aus Kraus’ ständiger Teilnahme an öffentlichen Diskussionen des politischen wie kulturellen Lebens (und beider Überschneidungen) resultierende Wahrnehmung des Kritikers, die eine poetische Weltsicht schließlich

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Siegfried Trebitsch, S. 198. Ebd., S. 233.

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verdrängt. Die virtuose Sprachbehandlung und Angriffslust von Kraus wäre demnach ein Indiz für eine psychische Barriere, der eigentlichen dichterischen Berufung nachzugehen. Auf Trebitsch machten gerade Bernard Shaws zwischenzeitliche Bekehrung zum Vegetarier und Asketen großen Eindruck. Die Notwendigkeit für eine musische Begabung, ihren Hang zur Maßlosigkeit und zur Selbstverausgabung zu bändigen, sahen auch Trebitsch und viele seiner Zeitgenossen (und sie soll im nächsten Abschnitt als Motiv in Shaws Theatertexten und ihrer Rezeption überprüft werden). Trebitsch spart in diesem Zusammenhang nicht mit genau jener Art von Selbstkritik, die Kraus Jahre zuvor verhöhnt hat: nämlich dass Trebitsch die ersten Übersetzungen von Shaws Dramen unter großem Zeitdruck erstellt habe und nur zu ungünstigen Bedingungen an die Theater zu vermitteln imstande gewesen sei. Umso deutlicher stellt Trebitsch seine Fähigkeit heraus, unter den damals gegebenen Umständen das Optimum für die Aufführungen der Shaw-Premieren erreicht zu haben, wie beispielsweise die listige Überredung des auf das Fach des jugendlichen Helden abonnierten Schauspielers Carl Wiene (1855–1913), den Trebitsch trickreich für die Besetzung der Titelrolle in der Uraufführung von The Devil’s Disciple (Der Teufelsschüler) am Raimundtheater gewinnen konnte.18 Der Vorkämpfer und findige Agent ist in den Augen seiner erbitterten und vom antisemitischen Wahn verblendeten Feinde ein Kuppler im Beziehungs-Sumpf des Theaters. Der Kampf für eine adäquate Aufführung des Theatertextes, der zum Identifikationsgegenstand des Übersetzers geworden ist, gewinnt aus dessen eigener Sicht dagegen die Qualität eines Künstlerdramas, das sich unversehens im Alltag des Wiener Feuilleton abspielt, führt man sich den Streit der Brüder Trebitsch nochmals vor Augen. Selbst wenn man diesen Hintergrund bei der Lektüre von Herbert Eulenbergs zu Beginn des Kapitels zitierter Shaw-Parodie einbezieht, bleibt die Frage bestehen, inwiefern sich Eulenbergs Anspielungen auf ein Vorhandensein antisemitischer Stereotypen bei Shaw unmittelbar in seinem Schaffen, und nicht nur in der von der Sprachkritik eines Karl Kraus bestimmten Rezeption der Übersetzungen, weiterverfolgen lassen. Unter diesem Aspekt fallen vor allem Shaws kritische Urteile zu Komponisten wie Mendelssohn und Meyerbeer auf, die zwar nicht wie bei Wagner in den Zusammenhang einer antisemitischen Argumentation gebracht werden, in der alles in allem negativen Gesamtbewertung aber auf deren Gedankengänge zurückzugreifen scheinen, insofern nämlich, als an die Stelle der Originalität bei beiden die Vorliebe zum bloß virtuosen, oberflächlichen Effekt gesetzt wird. So heißt es bei Shaw in einer Kritik vom 23. Februar 1889 (zu einer Aufführung des Es-Dur-Streichquartetts Nr. 1 op. 12) pauschal über den Komponisten Mendelssohn zunächst ebenso gönnerhaft wie letztendlich verächtlich: »[...] he expressed himself in music with touching tenderness and refinement, and sometimes with a nobility and pure fire that makes us forget all his kid glove gentility, his conventional sentimentality, and his despicable oratorio mongering […]”19 Von der Sentimentalität und Weichheit ist die Verweichlichung und Schwäche nicht allzu weit entfernt, unter deren Vorspiegelung Richard Wagner Mendelssohn die Fähigkeit absprach, an »die Gestalt tiefer und markiger

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Ebd., S. 160. Bernard Shaw, The Great Composers, hg. von Louis Crompton, Berkeley u.a. 1978, S. 122.

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menschlicher Herzensempfindungen«20 rühren zu können, womit er auch nie zur dramatischen Form hätte finden können – ein Argument, das noch bei Shaw durchscheint. Dies gilt auch für die Wendung »oratorio mongering« (wörtlich »Oratorien-Krämerei« oder »-Handel«), die extrem stereotypenbehaftet im Sinne bloß merkantil anpreisender Rhetorik (ohne ›tiefe‹ Empfindung) gesetzt ist. Von der Dekadenz grenzt sich Shaw insofern bereits als Kritiker ab, und zwar in unheilvoller Nachbarschaft zu der Ideologie, ihre Ästhetik als pathologisch abzutun: Denn selbst wenn Shaw in seiner Erwiderung auf Nordaus Theorie der Degeneration als übergreifender kunstgeschichtlicher Entwicklung widersprach, so suchte er doch zeitlebens Stärke und den »Willen zum Leben« als Grundbedingung der ästhetischen Existenz zu proklamieren und vorzuleben.

6.1 Under the Hill (1895) – Beardsleys Künstlerdrama in Novellenform Der Transfer von Wagners Musik in die Malerei oder die Erzählliteratur unter der Wahrung der dramatischen Situation ist ein ›Medienwechsel‹, für den es weit über den deutschsprachigen Raum hinaus Beispiele gibt. Wagners Musikdramen liefern so den Rahmen für experimentelle Formen erzählten Theaters. Ein englischer Künstler, dessen Leben und Schaffen gleichermaßen mit der Wagner-Rezeption der Dekadenz in Verbindung gebracht wurde, ist der 1872 in Brighton geborene Aubrey Vincent Beardsley, der im Alter von nicht einmal 26 Jahren im französischen Menton gestorben ist. Am bekanntesten sind seine Illustrationen zu Oscar Wildes Salomé von 1893/94, die ihm große Aufmerksamkeit und den eigentlichen Durchbruch in der öffentlichen Wahrnehmung einbrachten – wohl auch, weil sie Oscar Wildes eigenen Vorstellungen gar nicht so recht entsprachen. Vier der Salomé-Zeichnungen sind sogar regelrechte Wilde-Karikaturen, die einen ganz persönlichen Kommentar Beardsleys zu Wilde enthalten, der weit über die Enttäuschung in Sachen Salomé hinausgeht: »Beardsley hatte sich um die Übertragung bemüht, Bosie Douglas jedoch führte sie – für Wilde unbefriedigend – aus«.21 Dass die Karikaturen in einem weniger biographischen Kontext zu sehen sind, darauf haben Elliot L. Gilbert, Stanley Weintraub und Eike Schönfeld hingewiesen: sie ironisieren zum einen in der einzigen Karikatur, die Oscar Wilde als Schriftsteller (an seinem Schreibtisch und beim Abfassen des Salomé-Textes) zeigt, eine arrogante Seite vieler Poeten der Dekadenz (nicht nur Wildes allein): sie behaupteten, es nicht nötig zu haben, im Rahmen ihrer schöpferischen Tätigkeit auf Vorbilder zurückzugreifen. Zum anderen lassen sich Beardsleys Karikaturen als regelrechte Form der Inszenierung von Wildes Text verstehen, die den Verfasser en abyme in bestimmte szenische Situationen der Salomé einschleust und zur Kenntlichkeit seiner Homosexualität ›entstellt‹, was sich zum einen anhand des als Beobachter des jungen Syrers Narraboth ins Bild eingeschleusten Wilde (dessen Gesicht in der

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Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«, S. 164. Eike Schönfeld, Der deformierte Dandy: Oscar Wilde im Zerrspiegel der Parodie, Frankfurt a. M. 1986, S. 202.

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Mondscheibe angedeutet ist) entschlüsseln lässt, zum anderen durch »die Darstellung des mit Wildes Zügen ausgestatteten Herodes. Auf beiden Bildern zeigt sich der Tetrarch immun gegen die weiblichen Reize«,22 der, abweichend von der Erregung der Figur in Wildes Text, in der Manier eines Conférenciers die Faszination der femme fatale auf andere in bizarrer Monstrosität vorführt, ohne ihr selbst verfallen zu sein. Auf diesem Wege verleibt Beardsley Wildes Salome seiner Ästhetik des Androgyns ein. Über das »künstliche Bild des doppelgeschlechtlichen Menschen«, wie es Gert Mattenklott in einem breiten kulturhistorischen Zusammenhang geschildert hat, wird Kritik an der »Genitalisierung der Sexualität« geübt23, an die Stelle der auf den Fortpflanzungstrieb reduzierten Sexualität mit ihren (in der analytischen Systematisierung so genannten) ›kleinen Unterschieden‹ eine geschlechterübergreifende, hedonistische und vor allem ›freie‹ Lust gesetzt. Dass dieses Freiheitsstreben neben der zwangsläufig als skandalös empfundenen und angeprangerten Pornographie in Beardsleys Illustrationen oft in eskapistischer Kunstgewerblichkeit dem urbanen Naturalismus zuwiderläuft, begünstigt seine (vor allem posthume) Reputation in der städtischen Werbeindustrie, die plakatiert, was ihren Strategen als eben plakativer Blickfang tauglich und stereotyp genug erscheint, um Aufregung und Aufsehen zu erzielen. Ein Jahr nach dem aufsehenerregenden Erscheinen der illustrierten Salomé wurde Beardsley von John Lane, dem Verleger des Yellow Book, aus seinem dortigen Arbeitsverhältnis entlassen – unmittelbar nach Oscar Wildes gerichtlicher Verurteilung zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit wegen unsittlicher Handlungen. Es folgt in Beardsleys kurzem Leben die produktivste Phase, in der er Illustrationen zu Werken von Poe, Johnson und Pope sowie Theaterplakate gestaltet. Die Herausgeberschaft der Zeitschrift The Savoy, die ihm der Verleger Leonard Smithers nach seiner Entlassung anvertraute, teilte sich Beardsley mit niemand anderem als Arthur Symons, Übersetzer Gabriele d’Annunzios und Biograph von Eleonora Duse. Wilde, der noch seinen Anteil an der Entdeckung von Beardsleys Begabung hatte, nahm die zunehmenden Schwierigkeiten des Tuberkulose-Kranken, auch über den gemeinsamen Freund Robert Baldwin (»Robbie«) Ross, noch im Gefängnis wahr und schrieb am 25. September 1895 aus Reading an More Adey quasi einen verfrühten Nachruf: Er bereicherte die englische Kunst um eine frappante neue Persönlichkeit; auf seine Art war er ein Meister der phantasievollen Anmut, ein Beschwörer des Irrealen. Seine launische Muse verfügte über ein schreckliches Lachen. Hinter seinem Grotesken schien 24 sich eine wunderliche Philosophie zu verbergen...

Als Beardsley drei Jahre später tatsächlich stirbt, schreibt der nun in Paris lebende Wilde am 18. März 1898 an den Verleger Leonard Smithers, der auch über die Rechte an Beardsleys Werk verfügt: Sein überaus früh erblühtes und gereiftes Genie war trotzdem noch äußerst entwicklungsfähig und er selbst noch lange nicht am Ziel. Im Grund seiner Seele waren

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Ebd., S. 205. Gert Mattenklott, Bilderdienst, München 1970, S. 97. Merlin Holland (Hg.), Oscar Wilde. Ein Leben in Briefen, übersetzt von Henning Thies, München 2005, S. 333f.

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stets große Möglichkeiten verborgen, und es liegt etwas Makabres und Tragisches darin, dass ein Mensch, der das Leben um eine weitere Schreckensdimension bereicherte, in der 25 Blüte seiner Jahre sterben musste.

Ein unvollendetes Werk des keineswegs ›Frühvollendeten‹ – mit Wagners Gesamtkunstwerk als Vorbild – lässt sich in der Erzählung The Story of Venus and Tannhäuser erkennen. Beardsley hat sie nicht zu Ende geschrieben und 1895 in einer mittels Kürzungen entschärften Fassung (für die überdies die Namen der Wagner-Figuren in französische Aristokratennamen geändert wurden) in der Zeitschrift The Savoy unter dem originalen Titel Under the Hill veröffentlicht. Krankheit und Siechtum, von denen Beardsleys Leben früh überschattet ist, bestimmen auch sein Interesse an den großen mittelalterlichen Epen. Unter den zahlreichen Illustrationen zu Sir Thomas Malorys Le Morte d’Arthur finden sich weitere Zeichnungen, die auf eine stoffverwandte Adaption Richard Wagners für die Opernbühne bezogen werden können. Sie bilden Sir Tristram, die schöne Isolde (La Beale Isoud) und König Marke ab. Zu den Projekten, die Beardsley zwischen 1892 und 1895 in Angriff genommen, aber nicht vollendet hat, zählt auch eine illustrierte Ausgabe des Secret of Narcisse von Edmund Gosse (1849–1928), die vom Verleger William Heinemann geplant und wohl wieder verworfen wurde.26 Immer wieder ranken sich Skandale um Projekte, an denen Beardsley beteiligt ist: Tabuthemen wie Sadismus und Nekrophilie, vor allem aber Beardsleys immer wieder explizit pornographischen Entwürfe verhindern eine längerfristige Festigung seiner künstlerischen Reputation in seiner Heimat. Außerhalb Englands sieht man Beardsley schon bald nach seinem Tod dies nicht nur ›nach‹, wie sich am Beispiel des deutschen Kunstschriftstellers Julius Meier-Graefe nachlesen lässt, der 1904 über Beardsley schreibt: »Er wäre ein Lautrec geworden und wurde der er war, weil es ihm für einen Engländer und für sein Metier so am besten dünkte.«27 Beardsleys Künstlerkarriere mit ihren Höhen, vor allem aber auch Tiefschlägen, gilt dem Kunstkenner Meier-Graefe als ein typisches Phänomen der spezifischen nationalen Kulturgeschichte. Die Provokation durch Erotik und bisweilen bildlich überdeutlich ausgestaltete Sexualität wie etwa in Beardsleys Illustrationen zu Aristophanes’ Lysistrata (1896), die etwa bei der pornographischen Bebilderung der Ankunft von spartanischen Gesandten keinen erigierten Phallus ausspart – dergleichen sieht Meier-Graefe auf einer spielerischen Ebene: »Er verdankte mehr noch als den Japanern den Griechen, daß er nicht nötig hatte, es [zimperlich] zu sein, daß diese ausgelassene Erotik gewisser Blätter wirklich, was sie sein wollte, blieb: ein Spiel, das der Rhythmus ergötzte.« Zu diesem Spiel gehört es, dass das sonst so Derbe und Obszöne stilisiert und so gefällig werden kann. Dass viele von Beardsleys Werken Skizze geblieben sind, die Tuschezeichnung die beherrschende Form bleibt, erweist sich dabei nur als konsequent in Leichtigkeit und Flüchtigkeit. Eine Vergleichsgröße in dieser Argumentation Meier-Graefes stellt, freilich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, Antoine Watteau (1624–1721) dar, in der Beardsley ähnlichen

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Ebd., S. 514. Henry Maas/J. L. Duncan/W. G. Good (Hg.), The Letters of Aubrey Beardsley, London 1970, S. 64. In: Heinz Spielmann (Hg.), Aubrey Beardsley. Mit einem Essay von Julius Meier-Graefe, Herrsching 1976, S. 12.

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Farbigkeit der Figuren, bei Watteau vor allem an der Grenze zur Unanständigkeit in seinen Darstellungen höfischer Feste. Der Kunsthistoriker des fin de siècle betont aber noch eine weitere ihm wichtige Vergleichsebene: »Kränkliche Melancholiker waren beide, die gern vor der Welt in ihre Phantasien flohen, wie um sich für den frühen Tod behutsam vorzubereiten.«28 Die Kunst als Kompensation dessen, was der Todkranke entbehren muss: eine gängige interpretatorische Projektion, die an dieser Stelle anklingt. Wo ließen sich nun Momente des Rauschhaften in der Kunst, um das Kränkliche zu betäuben, trefflicher isolieren als in der Erzählung Beardsleys nach Richard Wagners Künstlerdrama Tannhäuser, das dem Künstlerbild der Jahrhundertwende und dem seiner Gefährdung durch die Sexualität angepasst werden kann? Under the Hill (im Sinne der ursprünglichen Version mit dem Untertitel The Story of Venus and Tannhäuser) stellt tatsächlich nach Wagners Vorbild den Versuch einer Theatralisierung der Prosa dar, mehr noch einer Zusammenführung aller Künste und ästhetischen Reize, von denen auch die Pornographie nicht ausgeschlossen ist. Bei der Gestaltung der beiden Titelfiguren entwickelt Beardsley eine Exposition, die dem Narzissmus-Diskurs seiner Zeit Rechnung trägt. Den Beginn der Erzählung bildet eine Schilderung Tannhäusers am Eingang zum Hörselberg ganz in der Manier eines Dandys auf dem Weg in die Halbwelt, der von Säulen mit prächtigen Verzierung umsäumt ist: They surpassed all that Japan has ever pictured from her maisons vertes, all that was ever painted in the cool bathrooms of Cardinal La Motte, and even outdid the astonishing 29 illustrations to Jones’s Nursery Numbers.

Als Musik aus diesem Ort dringt und der Mond in Form einer »kalte[n] Scheibe« aufgeht, die an Wildes Salome erinnert, seufzt Tannhäuser: «Would to heaven […] I might receive the assurance of a looking-glass before I make my debut! However, as she is a goddess, I doubt not her eyes are a little sated with perfection, 30 and may not be displeased to see it crowned with a tiny fault.”

In genauer (wenn man so will: symmetrischer) Entsprechung zu dieser Sequenz bereitet sich Venus auf die Begegnung mit Tannhäuser an ihrem Schminktisch vor, nachdem die fette Maniküre Priapusa – eine Inversion der Geschlechter, vergegenwärtigt man sich die Ableitung vom römischen Fruchtbarkeitsgott – ihr das Nahen Tannhäusers gemeldet hat: »Venus slipped away the dressing-gown, and rose before the mirror in a flutter of frilled things. She was adorably tall and slender.«31 Hier handelt es sich mit der Venus vor dem Spiegel um ein seit Velázquez beliebtes Motiv der Malerei, das von Beardsley auf diesem Wege als malerische Impression in die ›theatrale‹ Narration um Tannhäuser nach Wagners Gesamtkunstwerk eingespeist wird.

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Ebd., S. 14f. Aubrey Beardsley, Under the Hill. In: ders., In Black and White. The Literary Remains of Aubrey Beardsley, hg. von Stephen Calloway/David Colvin, London 1998, S. 21. Ebd., S. 22f. Ebd., S. 31f.

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Zum Dreischritt einer dergestalt ›verspiegelten‹ Einleitung der Geschichte komplettiert das theatrale en abyme des Spiels im Spiel den ersten Erzählabschnitt, und zwar durch das Ballett im Venusberg, das bei der Orgie, im Rahmen derer sich Venus und Tannhäuser zum ersten Mal begegnen, zur Aufführung kommt. »Titurel had written a ballet for the evening divertissement, founded upon De Bergerac’s comedy of Les Bacchanales de Sporion, in which the action and the dances were designed by him as well as the music.«32 Titurel ist der Dirigent des an Venus’ Hof aufspielenden Orchesters, ein weiteres Indiz dafür, wie Beardsley in unterschwelliger Ironie Richard Wagners Sagenwelt auf den Kopf stellt, heißt in dessen Parsifal doch der Gründer der keuschen Gralsritterschaft Titurel. Die provokanteste Verschmelzung von ästhetischer Selbstreferentialität und pornographischem Autoerotismus, der nach Barangers Schema von Freuds Narzissmus-Definitionen zweifelsohne zur perversen Variante zählen würde, erfolgt beim Erwachen von Beardsleys Chevalier am Morgen nach der sexuellen Vereinigung mit der Liebesgöttin. Nach dem Erwachen in einem luxuriösen Zimmer mit Kupferstichen an den Wänden, auf denen »fürchterliche kleine Pierrots, die wie verliebte Damen posierten oder auf irgend etwas außerhalb des Bildes deuteten«, wodurch der auf diese Bilderwelt gerichtete Voyeurismus wie im Spiegel gegen den Betrachter gewendet wird, wird der Selbstwahrnehmung des Chevaliers folgende Schilderung eingeräumt: At eleven o’clock Tannhäuser got up and slipped off his dainted night-dress, and postured elegantly before a long mirror, making much of himself. Now he would bend forward, now lie upon the floor, now stand upright, and now rest upon one leg and let the other hang loosely till he looked as if he might have been drawn by 33 some early Italian master. […]

Das Tabu der Selbstbefriedigung wird durch das narzisstische Posieren im Stile eines Aktmodells zunächst noch ›sublimiert‹. Wie unverblümt Tannhäuser in der folgenden Textpassage, beim Baden und Abtrocknen, seine Neigung zur Onanie mit den jugendlichen Dienern der Venus auslebt, könnte weit über die Epoche des Viktorianismus dagegen kaum skandalöser ausfallen, und das in jener Zeit, in der Wilde als ›sodomitischer‹ Päderast gilt. Tannhäuser stood for a moment like Narcissus gazing at his reflection in the still scented water, and then just ruffling its smooth surface with one foot, stepped elegantly into the cool basin and swam round it twice very gracefully. »Won’t you join me?« he said, turning to those beautiful boys who stood ready with warm 34 towels and perfume.

Der Gedanke, dass diese Provokation nicht an die Öffentlichkeit zu gelangen hat, weshalb Beardsley den Text auch unter Verschluss hielt, findet sich wiederum direkt in der Narration reflektiert, und zwar beim Ausritt der Venus mit Tannhäuser. Tannhäuser steht, als er an die Grenzen des Reichs der freizügigen Göttin gelangt, an einem romantisch anmutenden See:

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Ebd., S. 54. Ebd., S. 82. Ebd.

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Sometimes the lake took fantastic shapes, or grew to twenty times its size, or shrunk into a miniature of itself, without ever once losing its unruffled calm, its deathly reserve. When the water increased, the Chevalier was very frightened, for he thought how huge the frogs must have become. He thought of their big eyes and monstrous wet feet, but when the water lessened, he laughed to himself, whilst thinking how tiny the frogs must have grown. […] Perhaps the lake was only painted, after all. He had seen things like it at the theatre. Anyway, it was a wonderful lake, a beautiful, lake, and he would love to bathe in it, but he 35 was sure he would be drowned if he did.

Müßig, auf die Vielschichtigkeit dieses See-Symbols hinzuweisen: die Parallele zu der überlieferten Variante des Narziss-Mythos, von der Wilde Gide erzählt haben sollt, ist offensichtlich: der See verweist auf Grenzen und Weitläufigkeit des künstlerischen Bewusstseins und bietet ein Biotop für die unterschiedlichsten Lebensformen künstlerischer Existenzen. Die Umweltbedingungen, unter denen der, nicht so sehr in sich selbst als in sein selbst gewähltes Außenseitertum verliebte, Künstler und Dandy sich und seine Ideen bis zum Platzen aufblasen könnte, wie die Frösche in der Fabel von Jean de La Fontaine, bleiben dem Zufall unterworfen und unberechenbar. Daraus folgt die paradoxe Erkenntnis, dass Impulse und Provokationen der Kunst von Produzenten und Rezipienten künstlich abgegeben und eingedämmt, jedoch zugleich mit der Regelmäßigkeit von natürlichen Gezeiten bildlich und auf der Bühne abgegeben werden. Es ist auffällig, dass Beardsley gerade diese ironische Brechung in einen Mythos integriert, der durch Richard Wagners Adaption in Form einer Künstleroper als durch und durch ernstes Sujet rezipiert und als solches auch in England wahrgenommen wird – vor allem, als mit Beginn der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts Bernard Shaw in seinen Rezensionen gerade dieses Stück immer wieder als eines der weniger geglückten Musik-Dramen ins Feld führt. Heines Ballade dürfte dort wenig geläufig gewesen sein, wobei gerade von Beardsley ein Dokument vorliegt (ein Brief an André Raffalovich vom 11. Februar 1897) in dem er sich, was Heine anbelangt, durchaus kundig gibt: Heine certainly cuts a poor figure beside Pascal. If Heine is the great warning, Pascal is the great example to all artists and thinkers. He understood that, to become a Christian, the 36 man of letters must sacrifice his gifts, just as Magdalen must sacrifice her beauty.

Eine vergleichbare, ebenfalls von Wagner inspirierte Situation wie die, in der Beardsleys Tannhäuser am Rand des Sees steht, hat Beardsley bereits um 1892/93 in eine Zeichnung gebannt, Siegfried im 2. Aufzug des gleichnamigen Teils der RingTetralogie. Auf diesem Bild37 ist beinahe direkt hinter dem Helden versteckt und sich nahtlos in die floralen Ornamente eingliedernd der Lindwurm zu erkennen. Siegfried betrachtet offenbar den Ring an seinem Finger; doch durch den angedeuteten Teich im Vordergrund stellt sich der Eindruck ein, dass der Held auf der Suche nach sich selbst wie der Minnesänger Tannhäuser zur narzisstischen Eigenbetrachtung übergegangen ist. Dadurch erscheint das Bild als vollkommen in sich abgeschlossen und bezieht, anders als viele Zeichnungen Beardsleys den

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Ebd., S. 99f. Maas/Duncan/Good, S. 249. Reproduziert u. a. in: Spielmann, S. 18.

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voyeuristischen Betrachter, nicht mit verstohlenen Blicken und Gesten ein (wie die kleinen Pierrots auf den Kupferstichen in Tannhäusers Gemach). Sowohl Beardsleys Novelle als auch die zuletzt beschriebene Zeichnung rücken den ästhetischen Narzissmus seiner Epoche auf Distanz und banalisieren ihn. Es sollte trotzdem nicht übersehen werden, dass Beardsleys kommerzielle Erfolge, die zweifellos ohne den Voyeurismus seiner (weniger an kulturkritischen Subtexten als an der Befriedigung der eigenen Schaulust interessierten) Rezipientenschaft undenkbar wären, ihn auf genau jenes Niveau zurückwerfen, das er gerade in seinen Karikaturen von Wilde und der in seinen Augen durch diesen repräsentierten ästhetischen Bewegung anprangern wollte. Franz Blei hat, einem Gespräch mit Beardsley im Jahr 1897 zufolge (nach der Entlassung Wildes aus dem Gefängnis), in seinen Zeitgenössischen Bildnissen Beardsleys Äußerung festgehalten, Wilde habe die »Sünde als Sport« betrieben38 – was bei allen möglichen Zweifeln an der Verlässlichkeit Bleis durch von Robert Ross verbürgte abschätzige Bemerkungen Beardsleys über Wilde und Alfred ›Bosie‹ Douglas (mit dem Wilde die für ihn so unheilvolle Liebesbeziehung einging) durchaus beglaubigt wird.39 Steht für Beardsley (nach Bleis Aufzeichnungen) Wildes Urheberschaft der bedeutendsten englischen Komödie außer Frage (während Shaw »Zeitungsartikel für verteilte Rollen schreiben« würde), so findet sich zum ästhetischen Programm Wildes ein ungnädiges, in der Formulierung bekannt anmutendes Urteil: »Oscar denkt immer an den Effekt, wobei nur Vulgäres herauskommt Er kriegt das Material, in dem er arbeitet, nicht unter, sondern das Material ihn.«40 Die Polemik des auf die Entfesselung der reinen Emotionalität pochenden Künstlers gegen den Virtuosen des sinnlosen Effektes, die Wagner über Meyerbeer formulierte (und die Shaw in »cleverness« eines konzentriert Strebsamen abmilderte41) – sie wird in der Beurteilung Wildes durch Beardsley (referiert von Blei) zu einer durch und durch modernen Tragik des Künstlers, der bei der Wahl von Effekten, seien sie vulgär und/oder werbewirksam, sein Publikum außer Acht lässt. Noch 1891 hatte Wilde in seiner (als Reaktion auf eine Rede Shaws bei einer Fabier-Zusammenkunft hin verfassten) Schrift The Soul of Man Under Socialism folgende Kunst-Regel aufgestellt: »The work of art is to dominate the spectator: the spectator is not to dominate the work of art.«42 Wilde bewunderte am berühmtesten britischen Schauspieler seiner Epoche, an Henry Irving, genau diese Fähigkeit zur Dominanz, die sich scheinbar nahtlos in das Konzept des Schauspielers der Dekadenz bei Nietzsche fügt; die Beobachtung eingeschlossen, dass das Muster beherrschender Grandiosität eben mit dem einer Unterordnung gegenüber Maßgaben technischer Selbstbeherrschung verwoben ist, bis zur regelrechten Unterdrückung der schauspielerischen Persönlichkeit zugunsten des vom Autor vorgegebenen Materials: »Irving was, as Wilde recognized, an actor who had both to exaggerate and suppress his personality.«43 Diese Einschätzung teilte Wilde wiederum mit Shaw, und beide versuchten, sich in der Öffentlichkeit

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Franz Blei: Das große Bestiarium, Zeitgenössische Bildnisse. München 1960, S. 97ff. Schönfeld, S. 208. Blei, S. 99. Shaw, The Great Composers, S. 195 (10. Mai 1893). Oscar Wilde, The Soul of Man Under Socialism. In: ders., The Artist as Critic. Critical Writings of Oscar Wilde, hg. von Richard Ellman, Chicago 1969, S. 278. W. D. King, Henry Irving’s Waterloo, Berkeley u. a. 1993, S. 188.

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eine Irving vergleichbare Autorität und Dominanz anzueignen – mit dem Vorteil, die eigene Persönlichkeit nicht hinter Vorbildern und festgefügten Rollenbildern zurückstellen zu müssen. Gegen ein ebensolches spielte Henry Irving interessanterweise als Shylock in Shakespeares Merchant of Venice an, und es ist in Hinblick auf diese Rollengestaltung ebenfalls interessant, wie stark der Widerspruch war, dem sich Irving ausgesetzt sah, als er in seiner liberalen Grundhaltung Shylock in eine tragische Figur verwandelte. »He [Irving] also had a natural sympathy for outcasts, stemming from his own experience. As an actor, he was member of a tribe of rogues and vagabonds, to whose social acceptance he devoted much of his career. «44 Umso gewagter war es, dass Irving dieses soziale Engagement allerdings ausgerechnet auf eine Rolle zu übertragen suchte, in welcher die Zeitschrift Punch den Premierminister Benjamin Disraeli trotz seines Übertritts zur anglikanischen Kirche karikiert hatte.45 Obwohl Irving den Wunsch äußerte, Shylock vor einem jüdischem Publikum zu spielen, sein Presseagent Austin Brereton von einer großen Resonanz der Interpretation bei der jüdischen Gemeinde und Frank Harris von einer Rehabilitation des Juden sprach, überwogen in den literarisch gebildeten Kreisen gerade die Stimmen, die das neue Rollenbild als zu weit abgerückt vom Shakespeare’schen ›Original‹ bewerteten.

6.2 Shaws Virtuosenkritik Aubrey Beardsley zielt, aus nächster Nähe zum Theaterleben seiner Epoche, in seiner Tannhäuser-Erzählung weit über das Opernsujet hinaus. Er lehnt sich an die nicht immer schmeichelhafte Kritik an, die Kunstschaffende an Künstlern üben. Dazu greift er am Ende des Tannhäuser-Textfragments zum Beispiel eines Darstellers, dessen Persönlichkeit und grundsätzliche Bühnenpräsenz seine konkreten Rollengestaltungen bisweilen zur Nebensächlichkeit zu degradieren drohten. Die Verflechtung von Narrativem und Theatralität erfährt durch Beardsleys Anleihen an die Musikkritik noch eine Steigerung. Rossinis Stabat Mater wird mit der Bezeichnung »delicious démodée pièce de décadence«46 versehen und, kurz bevor die Erzählung abreißt, beschreibt Beardsley den Maler De La Pine in seinem Atelier: »His hair magnificently curled, his heavy eyelids painted, his gestures large and romantic, he reminded one a little of Maurel playing Wolfram in the second act of the Opera of Wagner.«47 Mit Victor Maurel, dem Uraufführungssänger des Jago in Verdis Otello und der Titelfigur in der letzten Oper des Meister aus Busseto, Falstaff, verknüpft Beardsley seine erotische Novellette dicht mit dem europäischen Theaterleben der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Maurels einnehmendes Äußeres und sein Auftreten findet sich in zahlreichen zeitgenössischen Rezensionen beschrieben. Berühmt ist die Schilderung von Blanche Roosevelt anläßlich der Uraufführung von Verdis Otello, 1887 in Mailand, die Maurel als den einzigen echten Künstler des Abends auf der Bühne schildert,

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Jeffrey Richards, Sir Henry Irving, Hambledon/London 2005, S. 424. Ebd., S. 420. Beardsley, S. 104. Ebd., S. 109.

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ideal in Stimme, Darstellung und Erscheinung.48 Am Royal Opera House von Covent Garden war Maurel zwischen 1873 und 1904, wie von Beardsley angedeutet, als Wagner-Sänger erfolgreich, nicht nur als keuscher Wolfram, sondern auch als Antagonist Telramund zum Titelhelden von Lohengrin sowie in der Titelpartie vom Fliegenden Holländer. War er in letztgenannter Rolle nur der erste Interpret dieser Rolle am Haus von Covent Garden, so prägte er in Tannhäuser und Lohengrin den ersten Eindruck, den das Londoner Publikum überhaupt von diesen Werken Wagners gewinnen konnte, entscheidend mit. Nicht geringere Faszination als auf Beardsley üben Aufführungen wie diese seit 1876 auf den aus Irland übergesiedelten George Bernard Shaw aus, der als Musikund Theaterkritiker in der Londoner Musik- und Theaterszene Fuß fasst, zunächst aber nicht als Dramatiker. Am 22. Juli 1891 rezensiert Shaw eine Aufführung von Verdis Otello mit Maurel als Jago am Lyceum Theatre, jener Stätte, an der Henry Irving seit 1878 an der Seite von Ellen Terry Londoner Theatergeschichte schreibt und zum actor-manager aufsteigt. Das Lob Shaws über Maurel sagt Einiges über das Kunst- und Künstlerverständnis des Rezensenten selbst aus: »His performance is to be admired rather as a powerfully executed fantasy of his own than as the Iago either of Verdi or Shakespear [sic]. If his successors in the part try to imitate him, their wisdom will be even less than their originality.«49 Mit Kritiken wie dieser vollzieht der erst Schritt für Schritt in der Londoner Kulturszene Anschluss findende Shaw den Wechsel von seinem gefürchteten Kunsturteil zu einer eigenen Poetik, die auch nicht die Polemik gegen Säulenheilige der spätviktorianischen Theatertempel scheut. So sorgt 1905 ein Nachruf Shaws auf Henry Irving in der englischen Presse für hitzige Debatten. Was dem Verfasser teilweise als pietätlose Bösartigkeit gegenüber einem großen Künstler ausgelegt und in Zeitungen wie der Times angekreidet wird, führt Shaw später beim Edieren seiner Kritiken auf unglückliche Kürzungen und Ungenauigkeiten bei der Übersetzung und Rückübersetzung des Nachrufs zurück, wie er ursprünglich von der Wiener Neuen Freien Presse auf deren Auftrag hin publiziert wurde.50 Doch selbst in der originalen Form enthält diese letzte Würdigung Irvings mehr Kritik, als dass noch von leicht zu übergehenden Untertönen die Rede sein könnte. Stattdessen ist hier ein regelrechter künstlerischer ›Vatermord‹ unter Theatermachern zu konstatieren, der wohlgemerkt keine ideologischen Schlüsse und Verblendungen nahelegt wie bei Richard Wagner, aber eine ähnliche Argumentation aufbaut wie dieser gegenüber Giacomo Meyerbeer. Zentrale Argumente gegen den bevorzugten Londoner Bühnen-Darstellungsstil der Jahrhundertwende, für den Irving wie der zuvor erwähnte Victor Maurel symptomatisch gesehen werden, bringt Shaw alias Corno di Bassetto (so sein Kritikerpseudonym) ganz in der Manier von Wagners Degradierung des Virtuosen und des Effektvollen vor. Beides wäre einer Rollenverkörperung, die aus den geschichts- und dramenspezifischen Hintergründen entwickelt werden sollte, und der nur über diese Rollenaneignung erzeugbaren Illusion des Zuschauers im Weg gestanden: »Just as Paganini fascinated the world with trumpery music by his own

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Vgl. Charles Osborne, The Complete Operas of Verdi, London 1997, S. 415f. Bernard Shaw, The Great Composers, S. 212. Bernard Shaw, Pen Portraits and Reviews, London 1949, 160ff.

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skill and strangeness, so Irving fascinated London with trumpery plays.«51 Überdeutlich wird hier der Vorwurf formuliert, dass Irving sein darstellerisches Talent unter Wert verschleudert hätte. Die Aufgabe des Künstlers, über die schiere Faszination seiner Beherrschung der Form hinaus ein Vermittler von Inhalten sein zu können, habe Irving innerhalb des englischen »actor-manager system« nicht erfüllen können, was Shaw kurzerhand angesichts der Veröffentlichung seines Textes in einer deutschsprachigen Zeitung nutzt, um einen Kontrast zur Nationaltheater-Tradition aufzubauen. Im Vergleich zu dieser habe sich Irving sein großes Ansehen ohne zwei wichtige Faktoren erarbeiten müssen: »a highly trained audience and an established artistic tradition.«52 Wie ein Echo der späten 80er und der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts liest sich diese Randbemerkung Shaws, der gemeinsam mit William Archer Ibsens Theaterstücke etablieren wollte, gleichsam als einsamer Ruf in der Wüste mangelnden zeitgenössischen Niveaus der englischen Theaterlandschaft und Dramenliteratur. Am höchsten bewertet Shaw in Irvings Lebenswerk, für das er alles in allem wenig schmeichelhafte Worte findet, eben keine vom kulturellen, sondern vielmehr vom sozialen Gesichtspunkt aus einzustufenden Kriterien: His greatest achievement was his social achievement, the redemption of his profession from Bohemianism, the imposing himself on the nation as one of the most eminent men in 53 it, and the official acknowledgment of that estimate by the accolade.

Dieses Lob hinterlässt einen schalen Nachgeschmack in Anbetracht des zuvor entworfenen Szenarios einer englischen Kulturlandschaft, in der das Theater weder (wie im Nationaltheater) auf einen weiten Bildungshorizont aufbaut noch diesen erweitert. Der Triumph des Erringens gesellschaftlicher Anerkennung und Wertschätzung erweckt in dieser Argumentation einen stark ichbezogenen Eindruck. Irvings Erlösung seines Berufsstandes aus der sozialen Randexistenz wird dem Leser so nur als ein möglicher Ausgangspunkt zu einer Form des Bildungstheaters (statt des Londoner Unterhaltungstheaters der Bilder) dargelegt, die Shaw aus seinen Dramen heraus entwickelt verstanden wissen möchte. Frank Harris, vor allem als Fürsprecher des vor Gericht demontierten Oscar Wilde bekannt, hat, in seiner unautorisierten und dann (nach Harris’ Tod) vom Porträtierten mit einem Vor- und Nachwort versehenen Shaw-Biographie, auf genau diesen Widerspruch hingewiesen: einerseits zwischen der Wahrnehmung Shaws durch seinen früheren engen Kollegen Archer, nach der er als Sprechtheater-Kritiker mit Polemiken wie jener gegen Irving eine lähmende Kraft ausgeübt hätte (»that as a dramatic critic Shaw was a paralyzing and sterilizing force«), und dem von Shaw selbst proklamierten Glauben, das zeitgenössische Theater und sein Kritiker könnten die Menschen beeinflussen wie im Mittelalter die Kirche andererseits (»[...] under all his criticism lay the belief that the contemporary theatre was to our times what the Church had been to the Middle Ages«).54 So war vor allem John Ruskin Shaws Vorbild, in dessen Hinwendung zur Ökonomie und Soziologie er aus Ruskins

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Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Ebd., S. 165. Frank Harris, Bernard Shaw, Hamburg, S. 104.

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kulturhistorischer Bedeutung einen Akt religiöser Sublimation herauslas. Und so wie Shaw noch zwanzig Jahre später Henry Irving als Repräsentanten einer durch und durch kommerzialisierten Bühnenkunst verabschiedet, so hat er bereits ab 1885 als Marx-belesener Kunstkritiker »jede Gelegenheit in seiner Kunstspalte, um den Einfluß des Sozialismus auf die Strukturen des Kunsthandels aufzudecken«, ergriffen. Wir sollten nicht nach achtenswertem Fortschritt in den Künsten Ausschau halten, erklärt uns Shaw, solange wir uns nicht um eine Verbesserung im Sinn einer Verschönerung unseres Lebens kümmerten, das heißt »erst unseren unendlichen Reichtum und unser unendliches Freizeitpotential umverteilen, so daß jedem ehrlichen Menschen sein Anteil an 55 beidem zukommt als Gewinn aus seinem Anteil an der kollektiven Arbeitsleistung.«

Solange diese Umverteilung nicht stattgefunden hat, und der »Wunschtraum der Diebe« die Gesellschaft bestimmt, »gut zu leben und nichts zu tun«, solange »muß ein großer Künstler, falls er nicht über zwanghafte Anziehungskraft verfügt, entweder heucheln oder hungern.«56 Das Heucheln wird von Shaw (im englischen Original der hier in Michael Holroyds monumentaler Shaw-Monographie auszugsweise zitierten Quelle) noch präziser gefasst: nämlich im anheimelnden Blendwerk gesellschaftlich irrelevanter Kunstwerke: »paint landscapes (which have no social significance)«57. Die Kunst und ihre Zielsetzung, moralische Festsetzungen in Frage zu stellen und neu zu vermitteln, krankt in den Augen des in England ansässigen Iren daran, dass die Künstler, die ihre Bilder, literarischen und theatralischen Leistungen verkaufen wollen, die Moral hinter dem Gefälligen zurückstellen müssen, um nicht zu verhungern: der Bohemien befindet sich im double bind, sich seiner moralischen Verpflichtung bewusst zu sein und sie, zur schlichten Selbsterhaltung gezwungen, zu vernachlässigen. Er bedient deshalb die Erwartungshaltungen. Dabei wäre es eigentlich die Aufgabe des schreibenden, darstellenden und des bildenden Künstlers sowie seiner Kritiker, sich gegenseitig anzuspornen und das Publikum herauszufordern. Das künstlerische Pathos gerät zur Pathologie, zum krankhaften Leiden des Bohemiens an seiner unheilbaren Kultur. Dass zu diesem Zweck eine über jeden Zweifel erhabene technische Beherrschung der Mittel vonnöten wäre, steht bei Shaw außer Frage. Doch im Unterschied zu Irving, dem er diese technische Qualität zuerkannte, ohne dass er dem Kommerz entgegengewirkt habe (sondern vielmehr Vorschub geleistet), erweckte die l’art pour l’art-Bewegung bei ihm den argwöhnischen Verdacht doppelter Heuchelei, neben der Anbiederung an das Schönheitsbedürfnis der Masse: »Oscar Wilde erschien ihm als Inbegriff des dilettantischen Ästheten«.58 Wie Frank Harris zu berichten wusste, rührte dieser Eindruck vor allem daher, dass sich Wildes Einlassungen über bildende Kunst und Musik bei Shaw äußerst negativ einprägten, da sie nicht etwa eine kenntnisreiche Durchdringung, sondern die unreflektierte Sozialisierung in einer musisch orientierten Familie und die elitären Anmaßungen

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Michael Holroyd, Bernard Shaw. Magier der Vernunft, Frankfurt a. M. 1995, S. 132f. [Die Zitate Shaws entstammen einem Vortrag über Kunst von 1885, der sich im engl. Original in Shaws Tagebüchern findet: Bernard Shaw, The Diaries, Bd. 1, Pennsylvania 1986, S. 130.] Ebd. (Zitate wörtliche Shaw-Übersetzung) Shaw, The Diaries, Bd. 1, S. 130. Holroyd, S. 136.

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seiner Studienjahre in Oxford verraten hätten. Außerdem missfiel Shaw der Hang Wildes zum großen Stil, sei es hinsichtlich der Kleidung, sei es im Benehmen, seinen Stücken und dem übrigen Lebenswandel – einem Stil, der im Verhältnis zur Bedeutung des auf ihn angewandten Gegenstandes unverhältnismäßig übertrieben aufgetragen wurde (»[...] he put up more style than the matter would carry«). 59 Vor allem, so bringt es Harris auf den Punkt, war dem in dieser Hinsicht puritanischen Shaw der Eindruck des Müßiggangs zuwider, den Wilde stets erweckte. Nicht umsonst zollte Shaw der Disziplin und Ausdauer der Maler den größten Respekt, während der Alkoholismus und das Verlottern Wildes als Clochard in Paris das Grauen des in späteren Jahren so rigorosen Vegetariers und Abstinenzlers erregten. Aus dieser snobistischen Laxheit leitete Shaw, wie Harris aus einem Brief vom 14. Juli 1918 zitiert, Wildes mangelnde Bereitschaft ab, in der Kunst die nötige Oppositionshaltung einzunehmen (»he shrank from seeing nice and innocent people wounded and scorned merely because they were not geniuses«), was ihn zum Resümee nötigt: »Wilde did not matter socially«.60 Die kreative Leistung, selbst des zunächst einmal nur nachschöpferischen Schauspielers und Sängerdarstellers, leitet Shaw konsequent aus seiner Befähigung und seinem Willen ab, den Widerstand des Publikums mit einer vom Gewohnten abweichenden Umsetzung bekannter Rollenmodelle und -spiele herauszufordern, besonders den der kritisch urteilenden Publikumsschicht. Über eine andere genuine Rollengestaltung des Opernsängers Maurel, des Mephistophélès in Gounods Faust, vermerkt Shaw: He challenges criticism as a creative artist, not as a mere opera singer. In doing so he at once rouses antagonisms from which his brother artists are quite exempt, since his view of the characters he represents may conflict with that of his critics – a risk not run by eminent 61 baritones who have no views at all.

Shaws Elogen auf einen ›echten‹ Künstler wie Maurel schließen stets die Distanzierung von seinem oberflächlichen Gegenbild, einem vom ›Original‹ entfremdeten Virtuosen wie Irving, ein. Die Unterschiede zwischen Schauspiel und Oper nivelliert Shaw in diesem Kontext des Öfteren. So bemerkt er anlässlich des Todes von Giuseppe Verdi 1901 (in einem Artikel in der Anglo-Saxon Review) einmal: »for the truth is that instead of Otello being an Italian opera in the style of Shakespear [sic], Othello is a play written by Shakespear in the style of Italian opera.«62 Vor allem das zweite Zitat aus einer seiner Rezensionen über Maurel lässt erkennen, dass Shaw auf Konfrontation mit den eingefahrenen Sichtweisen von Kritikerkollegen aller Theatersparten gehen will, die hinter dem belesenen Sängerdarsteller zurückfallen, der sich aus dem Geiste Shakespeares heraus seine Opernrolle des Jago aneignet. Aus dieser Idealisierung der Rollenarbeit Maurels spricht ein komplett anderes Kunstverständnis und vor allem Künstlerbild als das Beardsleys, das sich an Under the Hill studieren lässt. Die Figuren, die bereits Wagner aus der Sagenwelt entlehnt hat, dienen Beardsley als ikonographischer ›Kleiderständer‹, der selbst

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Harris, S. 213. Ebd., S. 219. Shaw, The Great Composers, S. 283f. Ebd., S. 224.

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pornographisch entblößt noch vom Feigenblatt der Scham des Betrachters bedeckt bleibt. Bei Beardsley übt der Habitus eines Künstlers dort Faszination aus, wo er Distanz und Raum für idealisierende Projektionen des Zuschauers schafft: Der Maler De la Pine beherrscht am Ende des Fragments nicht die Leinwand, sondern er verkörpert sie, indem er die Pose Maurels einnimmt, die im Gegensatz zu den Rollenbeschreibungen Shaws keinerlei tiefere Bedeutung oder Rückverweise auf eine ursprüngliche historische Bedeutung aufweist, sondern einen ebenfalls dandyhaften Habitus einnimmt. Shaw, dem die Arbeit Beardsleys und sein dekorativer Stil von den Theaterplakaten und Buchillustrationen bekannt waren, ließ es sich indes nicht nehmen, wenige Jahre später seinen eigenen Blick auf dieses Künstlerbild in Form eines Dramentextes in Worte zu fassen. Und wie der Jahrhundertwende-Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe in seinem Vergleich von Beardsley mit Watteau nutzt Shaw für sein Drama The Doctor’s Dilemma die zeitgemäße Typologie des kränklichen Künstlers, dessen unmoralische Eskapaden als Kompensation der eigenen körperlichen Gebrechlichkeit dienen, und der sich seinen Lebensunterhalt erheucheln muss, um nicht zu verhungern.

6.3 Ästhetizismus als Selbstausgrenzung – The Doctor’s Dilemma (1906) Als sich ab 1905 für Shaw die Bühnenerfolge vom europäischen Festland aus, nämlich über die deutschsprachigen Übersetzungen des Wieners Siegfried Trebitsch, einstellen, präsentiert er mit The Doctor’s Dilemma seine Abrechnung mit dem IchKult, den er posthum neben Beardsley an weiteren realen Vorbildern festmacht, und zwar verankert in der Figur des tuberkulosekranken Malers Dubedat: Based upon Aubrey Beardsley, from whom he inherited his mortal disease, and Dante Gabriel Rossetti, from whom he acquired his unscrupulousness in mulcting patrons, Louis Dubedat (his surname is suggestive of double-dealing) is seen sketching during the play, 63 although none of his drawings is seen by the audience.

Für die posthume Ausstellung von Dubedats Werken im finalen 5. Akt ging Shaw so weit, aus der Carfax Gallery zeitgenössische Bilder zur Uraufführung seines Stücks leihweise ins Court Theatre transportieren zu lassen – was ihm deutliche Kritik von Max Beerbohm mit dem schwer von der Hand zu weisenden Argument einbrachte, die Genialität des betrügerischen Dubedat müsse auf suggestiver Ebene der Imagination der Zuschauer vorbehalten bleiben:64 die Dramaturgie von The Doctor’s Dilemma ist nämlich – darin erweist sich Beerbohms Kritik als schlüssig – auf die Momente ausgerichtet, die den Existenzkampf Dubedats mit amoralischen Mitteln und doppeltem Spiel ausmachen, wie auch die Wirkung seiner Bilder auf deren Käufer, die in ihrer verführerischen Qualität einerseits jener Anbiederung an den Geschmack des Rezipienten unterworfen zu sein scheinen, andererseits auf subversive Art und Weise über diese Verführung auch die manipulierbaren Seiten der Abnehmer bloßstellen.

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Stanley Weintraub (Hg.), Bernard Shaw on the London Art Scene 1885–1950, Pennsylvania 1989, S. 27 (Einführung von Weintraub). Ebd., S. 28.

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Zeitgemäß kleidet Shaw diese Thematik in das Gewand der Ärztesatire, zu der Schnitzler mit Professor Bernhardi wenig später als der irische Kollege Shaw, 1908 bis 1911, seinen gewichtigen Beitrag ausarbeitet. Im Gegensatz zum Bernhardi dreht sich Shaws Stück nicht um eine im double bind zwischen christlicher und aufklärerisch-medizinischer Moral aufgeriebenen Untergruppierung der Ärzteschaft wie ihre jüdischen Vertreter in Österreich-Ungarn. Der Moral wird in The Doctor’s Dilemma, der englischen Literatur und Dramatik des späten viktorianischen Zeitalters gemäß, die Funktion eines Dispositivs zur Selbstbestätigung des viktorianischen Gesellschaftsgefüges zugeordnet. Kunst, die eine solche Moral attackiert, kann Repräsentanten der vordergründig moralischen Ärzteschaft nur dort treffen, wo sie sich mit dem unmoralischem Verhalten der Mediziner deckt, ihr dermaßen den sprichwörtlichen Spiegel vorhält. Während Professor Bernhardi sechs Jahre später dem Theaterpublikum mittels der Ärztesatire das Scheitern der jüdischen Assimilation in Wien demonstriert, verbindet sich die Künstler- und Ärztesatire in The Doctor’s Dilemma zu einer Vorführung gesellschaftlicher Dissimilation als Erfolgsgeheimnis. Shaws Drama lässt im Haupt- wie im Nebentext keinen Zweifel aufkommen, dass sich auf dem Weg zum äußerlichen Erfolg in der Kunst wie in der Therapierung von Krankheiten mitunter eine Glaubensfrage stellt: nämlich die, ob nicht der Prophet letztendlich überzeugender sein muss als das, was er verkündet. Diese Problematik mag nun gerade Schnitzler dazu bewogen haben, am 1. Dezember 1909 nach dem Besuch einer Aufführung vom Arzt am Scheideweg – so der deutsche Titel von Shaws Stück in der Übersetzung von Siegfried Trebitsch – in seinem Tagebuch zu vermerken: »sonderbar dies Gemisch von Genie und Feuilletonismus.«65 Die Exposition von The Doctor’s Dilemma gibt bereits einen wichtigen Hinweis auf die Überschneidung von Medizin und Kunst in Hinblick auf die Notwendigkeit einer werbewirksamen Technik der Verheißung. Unter den Gratulanten anlässlich des Ritterschlags für den Protagonisten Colenso Ridgeon reiht sich als Erstes der jüdische Arzt Schutzmacher ein, der im Nebentext folgende Beschreibung zugeschrieben bekommt: A middle-aged gentleman, well dressed, comes in with a friendly but propitiatory air, not quite sure of his reception. His combination of soft manners and responsive kindliness, with a certain unseizable reserve and a familiar yet foreign chiselling of feature, reveal the Jew: in this instance the handsome gentlemanly Jew, gone a little pigeon-breasted and stale 66 after thirty, as handsome young Jews often do, but still decidedly good-looking.

Der Doktor Schutzmacher verfügt nicht nur über eine gutaussehende, ›ästhetische‹ Erscheinung; er hat es verstanden, wie er im Gespräch mit Ridgeon zu erkennen gibt, seine Autorität als Arzt in einer Arbeitersiedlung mit zwei einfachen Worten, »Cure Guaranteed« (PS 506), auf dem Messingschild im Fenster seiner Praxis zu etablieren. Nun ist er bereits im Ruhestand. Schutzmacher ist das Gegenteil vom ehrgeizigen Forscher Ridgeon, dem es zuwider ist, seine Ansprüche auf neue Methoden der Heilung von Tuberkulose dem Werbeeffekt pauschaler Verheißungen

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Arthur Schnitzler, Tagebuch. 1909–1912, Wien 1981, S. 106. Bernard Shaw: The Doctor’s Dilemma. In: ders., The Complete Plays, London 1965, im Folgenden zitiert als Sigel PS, S. 505. [Wie stets bei Shaw ist seine Abneigung gegenüber dem Apostroph und seine orthographische Missachtung zu berücksichtigen.]

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zu opfern. Als die Frau des Künstlers Dubedat ihn am Ende des 1. Aufzugs aufsucht, mit der Bitte, er m ü s s e ihren Mann heilen, entgegnet Ridgeon: »I am not a curemonger; if you want cures, you must go to the people who sell them […] But I have at the hospital ten tuberculous patients whose lives I believe I can save.” (PS 516) In der nicht-patentierten Heilungsmethode Ridgeons und dem noch nicht erkannten Talent des Genies Dubedat kreuzen sich die beiden Stränge der Satire. Die Künstlergattin Jennifer Dubedat schließt von der Qualität der Bilder, die in Ridgeons Wartezimmer hängen, auf einen hohen Kunstverstand des Arztes. Sie hofft daher, dass er ihren Gatten für der Behandlung würdig erachtet. Ridgeons Kunstsinn ist aber nicht nur auf eine kompetente Ausführung, sondern auch auf ein ansprechendes Modell fixiert. Es ist eine Aktzeichnung von Jennifer, die Ridgeon dazu bewegt, sich Dubedat zunächst einmal bei einem Abendessen mit seinen Ärztefreunden anzusehen, bei dem Abendessen, mit dem er seinen Ritterschlag feiert. Mit dem für ihn typischen Humor verdeutlicht Shaw im Laufe der Szene, dass Ridgeons Ritterschlag viele Traditionen fortsetzt, nämlich als er im Bezug auf die ansprechende Aktzeichnung fragt: RIDGEON

[devouring it with his eyes]. Thats a wonderful drawing? Why is it called

Jennifer? MRS DUBEDAT. My name is Jennifer. RIDGEON. A strange name. MRS DUBEDAT. Not in Cornwall. I am Cornish.

It’s only what you call Guinevere. (PS 517)

Der Ritterschlag rückt den Arzt Ridgeon in die direkte Nachfolge von Lancelot, dem Verführer von König Arthus’ Gattin Guinevere. Da der bei seiner Patientenwahl so skrupulös vorgehende Ridgeon dem Ehebruch durchaus nicht abgeneigt ist, erscheint der Rat an Jennifer nicht sonderlich altruistisch, sie möge in Anbetracht einer hohen Ansteckungsgefahr bei ihrem kranken Mann größtmögliche Vorsicht walten lassen. Und dass Ridgeon am Ende des 1. Aktes allein gelassen den Slogan seines Kollegen Schutzmacher seufzend wiederholt (»Consultation free. Cure guaranteed«), relativiert er angesichts seiner Verabschiedung von Mrs Dubedat mit den Worten: »Shall we say a beautiful drawing of his favorite model for the whole treatment, including the cure?« (PS 518) Noch vor dem ersten Auftritt des Antagonisten Dubedat ist klar, dass dieses Künstlerdrama im Hinblick auf die Heilung des kreativen Kranken in eine Sackgasse steuert. Wiewohl die Tuberkulose ein künstlerischer Impuls für Dubedat sein mag, eignet sich seine Kunst doch nicht als Therapeutikum, nicht einmal als Ware im Tausch gegen ein Heilmittel. Denn im Arzt Ridgeon weckt sie nur jene moralischen Schwächen, die er im weiteren Verlauf Dubedat zum Vorwurf machen wird, um das Therapiegesuch abzulehnen, wenn auch rein äußerlich betrachtet die Erkrankung von Ridgeons glücklosem Arztkollegen Blenkinsop den Ausschlag gibt. Hinzu kommen zwei weitere Momente des Schocks und der Erregung, in die Dubedat im Rahmen der abendlichen Zusammenkunft seine erhofften Retter versetzt: nämlich einmal, als die vom Talent und Charme Dubedats eingenommenen Ärzte, nachdem er sich von ihnen verabschiedet und auf den Nachhauseweg gemacht hat, erkennen müssen, dass sie einer nach dem anderen unter Vorschiebung der verschiedensten Gründe von ihm erfolgreich um Beträge ›angepumpt‹ worden sind, die genau auf das Portemonnaie des jeweiligen Äskulapjüngers abgestimmt waren – vom 141

wohlbetuchten Schutzmacher bis zum ärmlichen Blenkinsop. Ein weiteres Mal geht ein Sturm der Entrüstung durch die Runde, als sich ein Zimmermädchen des Hotels, auf dessen Terrasse Ridgeons Ritterschlag gefeiert wird, als die eigentliche Frau Dubedats vorstellt. Die Ehe mit Jennifer ist erst geschlossen worden, nachdem Dubedat Minnie Tinwell, wie sich das Mädchen nennt, nach den Flitterwochen verlassen hat, weil beide, völlig verarmt, unabhängig voneinander ihr finanzielles Auskommen finden mussten. Als notorischer ›Schnorrer‹ und Bigamist ist der so talentierte Dubedat in den Augen Ridgeons nun diskreditiert. Als Ridgeon Ende des 2. Aktes seinem alten Freund Sir Patrick gesteht, es laufe auf seine Heirat der Witwe Dubedats hinaus, wenn er den Künstler dem Tod überantworten würde, wird Sir Patrick die Replik in den Mund gelegt: when you live in an age that runs to pictures and statues and plays and brass bands because its men and women are not good enough to comfort its poor aching soul, you should thank Providence that you belong to a profession which is a high and great profession because its business is to heal and mend men and women. (PS 524)

Doch diese vermeintliche Hilfestellung bei Ridgeons Entscheidung für einen der beiden Patienten ist reine Makulatur: Vorsehung und Prädestination, die über eine Zugehörigkeit zu einem höheren Beruf der Heilung und Wiederherstellung eines Kranken entscheiden, werden im 3. und 4. Akt vom todkranken Maler für sich reklamiert, der den Geist seiner Epoche in der von Sir Patrick skizzierten Weise ideal repräsentiert. In seinem Atelier werden die Ärzte Zeuge des ganz zeitgemäßen Schauspiels eines dahinsiechenden Künstlers, der im Zwiegespräch mit seiner aufopferungsvollen Gattin zuvor noch eine klare Rollenverteilung angibt: »LOUIS (fondly) I know. I know. I’m a wretch and youre an angel.« (PS 525) Auf der Szene sitzt eine Gliederpuppe, ein Gevatter Tod in Kardinalsrobe mit Stundenglas und Sense, die Dubedat zunächst böse anzugrinsen und im folgenden 4. Akt über dem Geschehen thronend Modell zu sitzen scheint. Tribunal halten dazwischen die Ärzte, deren moralische Ansprüche Dubedat freilich wie eine Waffe in der Hand seiner Richter gegen diese selbst wendet. An den Bildern Aubrey Beardsleys wie an der Künstlergestalt in The Doctor’s Dilemma ambivalent und strittig bleibt, ob sie einen Blick in den seelischen Abgrund der Perversion gestatten oder nicht doch eher denen einen Spiegel vorhalten, die über die vermeintlich amoralische künstlerische Botschaft richten und dabei womöglich ihre eigenen Perversionen auf das Gegenüber projizieren. So gibt Dubedat Ridgeon gegenüber zu verstehen, dass ihm das Interesse des Arztes an seiner Frau nicht entgangen sei. Und der Vorwurf, ein Bigamist zu sein, trifft Dubedat nicht halb so schwer wie ein weiterer Schock, den er allen in seinem Atelier zusammengekommenen Ärzten beibringt: Jennifer führe ebenfalls ihre zweite Ehe, ohne dass die erste (mit einem Schiffssteward) geschieden wäre. Doch auch wenn Dubedat darauf beharrt, Jennifer vor allem das Eheversprechen gegeben zu haben, um ihre Selbstachtung zu erhalten, so wird angesichts seines fortschreitenden körperlichen Verfalls immer stärker das Imponiergehabe hinter dieser zur Schau getragenen Ritterlichkeit offensichtlich – spätestens als er kurz vor seinem Ende der Gattin ein Versprechen abringen will, sie solle nie eine Witwe sein, nämlich mit einer ganz eigenwilligen Begründung: LOUIS: I want you to look beautiful. I want people to see in your eyes that you were married to me. The people in Italy used to point at Dante and say »There goes the man who has

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been in hell.« I want them to point at you and say »There goes a woman who has been in heaven.« It has been heaven, darling, hasnt it – sometimes? (PS 538)

Im psychoanalytischen Sinne findet sich hier der Typus der spiegelhungrigen AlterEgo-Persönlichkeit minutiös ausgestaltet, denn Jennifer ist nicht nur Dubedats Halt und Bestätigung, während er im Leben mit seiner Prophetenattitüde gescheitert ist und die Verunsicherung über seine Ästhetik des Amoralischen tief sitzt. Die unheilbare physische Erkrankung dient insofern noch der Verschärfung dieser Charakterzeichnung, als sie eine Besessenheit des zum Tode Verurteilten zur Folge hat, seine Frau als Alter Ego über den Tod hinaus für diese Ästhetik zu instrumentalisieren. Im drohenden Konflikt der über die Geschlechterrollen vorgegebenen Interessen kommt der Ästhetik dabei die Funktion eines Machtausübungsapparats zu. Für Dubedats Inszenierung des eigenen Sterbens und Todes greift Shaw immer tiefer in den Fundus des gerade verblassten fin de siècle. Der ›schöne Tod‹, das Ziel von Ibsens Hedda Gabler, wird in so vielen Varianten wie nur irgend möglich durchgespielt und parodiert. Zunächst gibt Dubedat zu verstehen, dass er sich über seinen Zustand genau im Klaren ist, und damit eine höhere Stufe von Selbsterkenntnis erreicht hat. Als nächster Schritt erfolgt die Stilisierung seiner Frau zu einem Modell der Schönheit, welches das Arrangement seines Hinüberscheidens in idealer Manier ergänzt. Im Zuge dieser ›malerischen‹ Anordnung beruft sich Dubedat auf Dante, den passenden Gewährsmann für einen zwischen Himmel und Hölle, zwischen Moral und Amoralität schwankenden Ästheten inmitten einer internationalen Phalanx von Künstlern, die Dantes Divina Commedia für sich wiederentdeckten. Besonders die Figur der Francesca von Rimini, mit ihrem Liebhaber Paolo in flagranti vom Ehemann ertappt, erschlagen und gemeinsam mit Paolo in der Hölle im Zentrum des fünften Gesangs von Dantes Divina Commedia stehend, inspiriert Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend die Theaterschaffenden Europas, nachdem in der Programmmusik und in der Oper dieser Trend sich bereits früher verstärkt.67 Vor allem bezieht die Episode um Francesca da Rimini für die

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An vorderster Stelle ist hier selbstverständlich Tschaikowskis sinfonische Dichtung von 1876 zu nennen. Für das Opernrepertoire zu verzeichnen sind, 1877 in Mannheim uraufgeführt, eine Vertonung von Hermann Goetz, heute bestenfalls noch mit seiner Shakespeare-Oper Der Widerspenstigen Zähmung bekannt, der seinen Text selbst schrieb, 1882 eine französische Adaption mit dem Titel Françoise de Rimini von Ambroise Thomas und dem Librettisten-Duo Barbier und Carré sowie zwei russische Versionen: zum einen jene von Eduard F. Naprawnik, dem Leiter des Mariinski-Theaters in St. Petersburg, die dort 1902 Premiere feierte (Text von Paletschek und Ponomarew) zum anderen Sergej Rachmaninows 1906 in Moskau uraufgeführter Einakter auf ein Libretto von Modest Tschaikowski, beide wie Goetz’ Version mit dem Titel Francesca da Rimini. Doch auch auf dem Sprechtheatersektor entwickelte sich Francesca von Rimini zu einem weit verbreiteten Sujet: So schrieb 1899 der Engländer Stephen Phillips im Auftrag des Schauspielers George Alexander die Tragödie in vier Akten Paolo and Francesca. Der prominenteste Dichter der italienischen Dekadenz, Gabriele d´Annunzio, legte das Versdrama Francesca da Rimini vor, das unter enormem finanziellen Aufwand am 9. Dezember 1901 am Theater Constanzi di Roma uraufgeführt wurde. Eine weitere, italienische Opern-Version von Luigi Mancinelli Paolo e Francesca folgt. Die Popularität von D’Annunzios Tragödie in Italien übertraf allerdings nur Riccardo Zandonai mit der Vertonung des Textes von D’Annunzio in einer Einrichtung des Verlegers Tito Ricordi, die

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Verwendung des en abyme im Ästhetizismus ihre ›amoralische Vorbildfunktion‹ daher, dass das von Dante verewigte Liebespaar bei der gemeinsamen Lektüre der Romanze um Jennifer Dubedats Namensbase Guinevere mit Lancelot zum Ehebruch angeregt worden ist. Nicht nur das ästhetische Ideal des Bigamisten, sondern mit ihm seine Suggestion im Sinne einer ›Lebensanleitung‹ außerhalb der Moral erhält durch das Vorbild Dantes seine Legitimation. Doch damit nicht genug: der Maler Dubedat steigert seine Verklärung in eigener Sache und die seiner Ehe als Gegenentwurf zur bürgerlichen Moral, mit der er sich vertreten durch die anwesenden Ärzte konfrontiert sieht, noch ins Biblische. In beinahe logischer Konsequenz wird die mit Jennifer geteilte Erinnerung an einen brennenden Busch, den er mit ihr im Winter betrachtet haben will, von ihm beschworen: LOUIS. Such a color! Garnet color. Waving like silk. Liquid lovely flowing up through the bay leaves, and not burning them. Well, I shall be a flame like that. I’m sorry to disappoint the poor little worms; but the last of me shall be the flame in the burning bush. Whenever you see the flame, Jennifer, that will be me. Promise me that I shall be burnt. (PS 539)

Die Vergleichsebene dieser Metapher macht zunächst stutzig: Geht es wie im Alten Testament um eine Emanzipation von gesellschaftlicher Unterdrückung? Der brennende Dornbusch ist für Moses das Signal zum Auszug aus Ägypten, ein Bild, das in der europaweiten jüdischen Emanzipation des 19. Jahrhunderts neue Verbreitung findet. Dieser Bezug ist schon im zweiten Akt hergestellt worden, nämlich exakt über den jüdischen Arzt Schutzmacher, den Dubedat wie alle anderen Ärzte, mit denen er zu Abend gegessen hat, um Geld gebeten hat, im Falle Schutzmachers aber mit einer ganz besonderen Begründung: SCHUTZMACHER.

Well, the fact is, when I joined Dubedat after his conversation with Mr Walpole, he said that the Jews were the only people who knew anything about art, and that though he had to put up with your Philistine twaddle, as he called it, it was what I said about the drawings that really pleased him. He also said that his wife was greatly struck with my knowledge, and that she always admired Jews. Then he asked me to advance ₤50 on the security of the drawings. (PS 521)

Auf die Empörung der Kollegen hin, die Dubedat alle Geld geliehen und nicht unerhebliche Summen für während des Essens angefertigte Porträtzeichnungen gezahlt haben, gibt Schutzmacher noch die Begründung für sein gegenteiliges Handeln an: SCHUTZMACHER. Well, he made a very uncalled-for-remark about a Jew not understanding the feelings of a gentleman. I must say you Gentiles are very hard to please. You say we are no gentlemen when we lend money; and when we refuse to lend it you say just the same. I didnt mean to behave badly. As I told him, I might have lent it to him if he had been a Jew himself. SIR PATRICK [with a grunt]. And what did he say to that? SCHUTZMACHER. Oh, he began trying to persuade me that he was one of the chosen people – that his artistic faculty shewed it, and that his name was as foreign as my own. (PS 521/522)

¯¯¯¯¯¯¯ 1914 in Turin uraufgeführt wurde. Zuvor hatte bereits Antonio Scontrino für die Uraufführung des Sprechdramas 1904 eine Schauspielmusik verfasst.

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In seinem Doppelspiel versucht Dubedat spielerisch, den double bind zu instrumentalisieren, dem der englische Jude Schutzmacher ausgesetzt ist, in Fragen pekuniärer Großzügigkeit stets um den sozialen Ruf des ›Gentleman‹ bemüht zu sein und ihn doch nie erwerben zu können, egal wie die Entscheidung ausfällt. Zudem kommt dieser jüdische Arzt aus der Provinz, wo er zwar einerseits (wie in der Eingangsszene gezeigt) für seine Praxis umsatzsteigernde Werbestrategien entdeckt hat, andererseits hinter seinen Kollegen in der Stadt an Prestige und Renommee zurückstehen muss. Der versuchte Schulterschluss Dubedats mit Schutzmacher ist Teil seines Versteckspiels in der großen Stadt, zu dem sich auch der folgende Auftritt der ersten Frau Dubedats im Gewand einer einfachen Hotelangestellten fügt, der sich der Maler durch sein Untertauchen, gleich nach den Flitterwochen, in der Anonymität Londons entzogen hat. Dubedats provokativ parasitäre Existenz in der englischen Großstadt entlarvt alles in allem einen Zug, den Schutzmacher im Umkehrschluss von seiner jüdischen Existenz her auf den englischen Gentleman »an sich« übertragen hat: »You see, when an Englishman borrows, all he knows or cares is that he wants the money; [...] if a Jew makes an agreement, he means to keep it and expects you to keep it.« Die Referenz für diese Aussage wiederum ist en abyme eine meta-dramatische, denn Schutzmacher erläutert für ihren ersten Teil, nach der jeder Engländer zwangsläufig denjenigen zum Schurken stempelt, der die finanzielle Abmachung zu seinem Nachteil wendet: »like the Merchant of Venice, you know.« (PS 522) Obwohl diese Analogie nun bemüht worden ist, wird sie nicht weiter verfolgt, da Schutzmacher in den folgenden Akten nicht mehr in Erscheinung tritt. Zu seinem Abgang bemerkt er noch Ridgeon gegenüber, der ihm nahelegt, Dubedat kein Geld für sein Schutzmacher-Porträt zu schicken, da der Maler dies wohl ohnehin nicht wolle: »Well, of course I shant if you feel that way about it. But I dont think you understand Dubedat. However, perhaps thats because I’m a Jew.« (PS 523) So befremdlich sich diese Schlussbemerkung in Relation zum zuvor Geäußerten ausnimmt, so klar wird sie zu Beginn des 3. Aktes, als Dubedat seinem Ärger über die produktive Abhängigkeit von im Voraus zahlenden Auftraggebern Luft macht: »Damn those fellows! they think of nothing and care for nothing but their wretched money.« (PS 525) Der 3. Akt illustriert folgerichtig die Hilflosigkeit des mit der lebensgefährlichen Krankheit geschlagenen Malers, der heimlich ein Porträt des anwesenden Sir Patrick zeichnet und es ihm zu einem hohen Preis verkaufen möchte, dann aber die Demütigung hinnehmen muss, dass ihm Dr. Bonington das Bild zum vorgeschlagenen Preis abkauft und es dem Kollegen Patrick schenkt, nicht ohne den Hinweis anzubringen, seine Tuberkulosebehandlung (die er anstelle von Ridgeon übernehmen wird) dürfte das kranke Genie ungleich teurer zu stehen kommen. Plötzlich fühlt sich der Immoralist Dubedat bei seiner Ehre gepackt, was Bonington zu einer SchnellDiagnose veranlasst: »Whenever I meet dignity and self-possession without any considerable basis, I diagnose good family.« Doch Ridgeon hält dagegen: »Diagnose artistic genius, B.B. Thats what saves his self-respect.« (PS 533) Plötzlich rücken die pathologischen Bestandsaufnahmen zum Charakterbild des Provokateurs in die Nähe zur Fragestellung, inwieweit sich das Außenseitertum und die gesellschaftliche Opposition Dubedats doch in Relation zum »erwählten Volk« und dem double bind setzen lässt, dem auch der Arztkollege Schutzmacher ausgesetzt ist. Obwohl in Schutzmacher als Figur das jüdische Stereotyp souveräner (Selbst-)Beherrschung 145

pekuniärer Angelegenheiten eingeflossen ist, macht er im Eigenkommentar deutlich, dass er sich insofern wie Dubedat widersprüchlich zum bestehenden Moralkodex der englischen Gesellschaft verhält, als beide den symbolischen Wert ihrer Arbeit und geschäftlichen Verabredungen über den materiellen stellen – und die Anpassung an diese Grundregel nicht ohne den Verlust der Selbstachtung vonstatten gehen kann. Der selbst gewählte Außenseiter-Status Dubedats im Sinne eines ästhetischen Programms stellt vor allem den Versuch dar, in Form dieser Manipulation der gesellschaftlichen Zuschreibungen und Codierungen das zugrunde liegende System mit seinem Spott zu überziehen. Am Juden Schutzmacher scheitert dieses Spiel zumindest partiell, da dieser selbst seine gesellschaftliche Position durchschaut hat, wohingegen die um Kunstverständnis und Moral bemühten ›Gentlemen‹-Kollegen Schutzmachers Dubedats spielerischem Zugriff auf gesellschaftliche Konventionen und Konstellationen aufsitzen. Nur die unmittelbaren Erfahrungen Schutzmachers erweisen sich – im Gegensatz zu den prädeterminierten Wertvorstellungen der übrigen Ärzte – als unbestechlich. Dubedats im Sterben in Erinnerung gerufene Vision vom brennenden Dornbusch wird demgegenüber, ironisch umgedeutet, zu einem Aufruf an seine Gattin, gleichsam aus der viktorianischen Unterdrückung der Frau in England des frühen 20. Jahrhunderts auszubrechen, die Genialität ihres amoralischen Ehemannes zu propagieren. Es ist eine weitere Wendung von The Doctor’s Dilemma, dass diese Prophetie sich im letzten Akt erfüllt, nämlich in der Loslösung von Ridgeon und seiner nicht eingehaltenen Neutralität als Arzt. Der Ausbruch von Dubedat und seiner Frau aus der viktorianischen Häuslichkeit gründet mit der ins Metaphysische gesteigerten Vision vom brennenden Busch paradoxerweise aber wieder auf dem materiell-physikalisch kinderleicht erklärbaren Phänomen der Spiegelung des im Hause der Dubedats entzündeten Kaminfeuers, das sich als Reflektion im Fenster ›über‹ den im Garten zu beobachtenden Busch legt. Der, wenn nicht religiöse, so doch metaphysische Anspruch Dubedats kann nur in der paradoxen Verflechtung von Materialismus und Idealismus gewahrt bleiben, die im menschlichen Geist, genauer gesagt seinem künstlerischen Genius zu erfolgen hat. Obwohl Dubedat wie Narziss, nachdem er sich selbst erkannt hat, kein langes Leben vergönnt gewesen ist, stehen am Ende von The Doctor’s Dilemma die Chancen für ein Fortleben seiner Kunst besser als für Ridgeons moderne Heilungsmethoden; ausgerechnet der von ihm (anstelle von Dubedat) geheilte Kollege Blenkinsop kuriert erfolgreich nach konventionellen Methoden tuberkulöse Patienten. Aus dieser Paradoxie spricht weniger eine Verachtung der Ärzteschaft durch Shaw als ein Versuch, des Gegensatzes zwischen der Kunst als selbstreferentieller Reproduktionsstätte von Amoral gegenüber der Medizin als stagnierender Wissensgenerierung unter vorsätzlich moralischen Vorgaben habhaft zu werden. Der biographische Konflikt Shaws mit Sir Almoth Wright, dem Chefpathologen in Paddington und Vorbild für Ridgeon, den der »verhinderte[r] Akademiker« Shaw68 in The Doctor’s Dilemma austrägt, klingt auch aus Dubedats letzten Worten, in denen er sich auf die Verkörperungen seines künstlerischen Ideals – »Michael Angelo, Velasquez and Rembrandt« – beruft, und dies in einem

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Holroyd, S. 505.

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Credo, das der alttestamentarischen Verheißung im brennenden Dornbusch nahtlos die Erfüllung der immerwährenden Schönheit (»Beauty everlasting«) beiordnet. Den Verkünder dieser Kunstreligion nach dem Vorbild Wagners, dem D’Annunzio und Beardsley so sehr nachgeeifert haben, erhebt die Witwe Jennifer in einer posthumen Dubedat-Biographie zum Messias, zum »King of Men«, der den Opfertod einer Ikone gestorben ist. Ridgeon bringt hierfür kein Verständnis auf; stattdessen sieht er sich als Retter von Jennifers Reputation, die er in ihrer Witwenschaft wiederhergestellt zu haben glaubt. Es wiederholt sich die bereits in Man and Superman vollzogene Demaskierung der in ihrer gesellschaftlichen Funktionalisierung diskreditierten Ehe. Die von Dubedat (und Beardsley) hintertriebene Polarisierung der Geschlechter entfaltet für den toten décadent eine ruhmfördernde Wirkung, die sich mit dem Nachruhm des androgyn unfruchtbaren Narziss durchaus messen kann: Auf seinem Grab florieren seine hinterlassenen Bilder, umhegt und gepflegt von seiner Witwe, angefeindet vom Arzt, der ihn hätte retten können, und sich stattdessen (von Dubedats Aktzeichnung verführt) erotisch ›verspekuliert‹ hat. Mag durch Dubedats provokante Bildkunst die Ehe der Instrumentalisierung durch den scheinbar so ›moralischen‹ Arzt Ridgeon ausgeliefert worden sein, so bleibt am Ende doch der Nachruhm des Malers bestehen, der Wunsch des Arztes unerfüllt. Dieser hat seinen moralischen Zwiespalt, welchen Tuberkulose-Patienten – den unmoralischen, aber genialen Dubedat oder den gutmütigen, aber als Mediziner unbedeutenden und rückständigen Blenkinsop – er zu heilen habe, zuletzt vor allem nach der (auf sich selbst gerichteten) viktorianischen Devise von Selbstdisziplin entschieden: »Wer ein Objekt genießt, gerät in die Gefahr, von der Lust zugrunde gerichtet zu werden und seine Mittel zu vergeuden.«69 Zur Zeit der Entstehung von The Doctor’s Dilemma ist dieses Motto wider die maßlosen Ästheten Wilde, Beardsley und ihre Werke zu setzen. Shaw, selbst in der Bekanntschaft mit Trebitsch auf Maßregelung und Abstreifen eigener Laster pochend, richtet es aber in einer weiteren paradoxalen Wendung gegen diejenigen gesellschaftlichen Instanzen, die Kultur in der Rezeption erst zu ermöglichen vorgeben. Das lustvolle Interesse am ›Objekt‹ ist im Falle Ridgeons zwiefacher Natur: zum einen richtet es sich auf Dubedats Kunst, zum anderen auf dessen Frau. Am Ende des Dramas, als er erkennen muss, dass weder sein Anspruch auf scharfsinnige Urteilskraft über Dubedats Bilder und künstlerische Vision, noch auf die Verliebtheit Jennifers in ihn selbst gerechtfertigt war, stürzt die Fassade der viktorianischen Selbstdisziplin in sich zusammen. Welcher Mittel der ästhetischen Gestaltung bedient sich Shaw demgemäß in The Doctor’s Dilemma für diese Kritik an der amoralischen Lebensphilosophie eines Beardsley und des in Shaws Augen durch jenen repräsentierten Teilbereichs des Künstlertums? Für Shaws Sprachstil in den Dramen um 1900 kennzeichnend ist eine flexible Handhabung der Sprechsituation, auf die bereits 1984 Walter Kluge hingewiesen hat.70 Diese Sprache oszilliert zwischen realistischen und stilisierten Momenten, was immer wieder despektierliche Kommentare provoziert hat, wie etwa den von Franz Blei dem exilierten Beardsley in den Mund gelegten. Kluge verweist

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Sennett, S. 110. Walter Kluge, Der Stil der dramatischen Sprache in den Stücken George Bernard Shaws, München 1984.

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in diesem Zusammenhang auf die konkurrierenden poetologischen Theorien des mot propre und der »Auffassung vom Stil als Ausdruck der Persönlichkeit«.71 Dass naturgemäß die Überzeugungen des Dichters in seine ästhetischen Formmodelle einfließen, ironisiert Shaw in The Doctor’s Dilemma mittels der Zuspitzung der dramatischen Entwicklung, die Dubedats Bekenntnis mit sich bringt, ein Anhänger von Shaws Begrifflichkeit der Moral zu sein. Zugleich ist es eine feine Ironie, dass die Selbstverliebtheit Dubedats für einen kurzen Moment aufgehoben scheint, indem sich die dandyhafte Malerfigur wie eine zappelnde Marionette auf den Dramatiker, der sie kreiert hat, als höhere Instanz beruft. Das Motto der ästhetischen Bewegung um Oscar Wilde, nach welchem das Leben sich an der Kunst zu orientieren hat, und nicht umgekehrt, wird auf diesem Wege ad absurdum geführt. Das Dilemma des Künstlertums, mindestens so gravierend wie das der Ärzte, besteht in Shaws Drama darin, dass alle Versuche derjenigen Vertreter ihrer Zunft, die moralische Maximen in ihre Arbeit einfließen lassen, zwangsläufig in das Gegenteil umschlagen, sobald sie der Interpretation und Bewertung ausgesetzt sind. Ridgeons Heilungsmethode, die einem elitären und ›integren‹ Patientenkreis vorbehalten sein sollte, bleibt einem amoralischen Genie zugunsten eines mittelmäßigen Arztkollegen vorenthalten. In dieser Versuchsanordnung wird der gesellschaftlich geächtete Dubedat gleichwohl durch seine Krankheit zum Gradmesser dafür, ob der Anspruch von Moralität in der Medizin noch gewährleistet ist. Insofern wird Dubedat doch zum Sprachrohr der moralischen Vorstellungen Shaws, so rein satirisch Dubedats Replik im 3. Akt, »I’m a disciple of Bernard Shaw« (PS 530), zunächst anmutet, und mit der Shaw die Kritiker bei der Uraufführung irreführte, da sie auf dem authentischen Fall eines in London inhaftierten Erpressers basierte, der behauptete, von Shaw beeinflusst zu sein, ohne dessen Werke tatsächlich näher (als über die Kritik) zu kennen.72 Der Konflikt des Stückes erwächst aus der zeitgemäßen Verschmelzung von kränklicher Veranlagung, moralisch verwerflicher Promiskuität und unumstrittenem Genie und Formverständnis, woraus keine eindeutige Sympathielenkung für den Arzt Ridgeon abgeleitet werden kann, der am Ende in puncto Selbstherrlichkeit und sexuellem Besitzanspruch in keiner Weise hinter Dubedat zurücksteht. Das Problem an The Doctor’s Dilemma, das in der Rezeption immer wieder moniert wird, nämlich dass unklar bleibt, auf wen die Satire eigentlich zielt, wird durch die Eigencharakterisierung Dubedats indirekt zum Formprinzip erhoben. Ebenso wie die Moral der Ärzte kann die des Künstlers Dubedat dem Anspruch Shaws nicht genügen, da nach Shaw eine moralische Theorie, vermittelbar durch die Kunst, erst im Werden begriffen ist. Damit wird aber die Frage nach einem Künstler, dessen Programmatik per se eine gesellschaftliche Korrektivfunktion aufweisen könnte, in The Doctor’s Dilemma negiert. Bereits 1904, mit Man and Superman, ist in Shaws Dramen eine Wendung hin zum Übergeschichtlichen vollzogen: Im Traum John Tanners, dem Zwischenspiel des dritten Aktes, wird verdeutlicht, dass die großen Figuren der Kulturgeschichte genau dann an Bedeutung gewinnen, wenn die geschichtliche Beständigkeit ihres sozialen Rollenverhalten ins Wanken kommt; so hier, wo sich der gender-atypisch von der Braut bis nach Spanien verfolgte Verführer als Don Juan in der Hölle sieht,

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Ebd., S. 10. Holroyd, S. 508.

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konfrontiert mit dem viktorianisch moralisierenden Vormund seiner Zukünftigen Ramsden in Gestalt des Komturs, der im Gegensatz zur finsteren Mozart’schen Bass-Rolle unglücklicherweise nur über einen Counter-Tenor gebietet (PS 371). Als schließlich noch der Teufel als Alter Ego des sozialistisch-anarchistischen Räuberhauptmanns Mendoza auftritt, ergäbe sich die Gelegenheit einer hochwertigen Gesangseinlage, statt dessen wird aber auf Umwegen der Konsum klassischer Musik und Konzerte in England als Pflichtübung genussunfähigen Philistertums erörtert, bis Don Juan und dem Teufel schließlich ein großer kulturtheoretischer Schlagabtausch in den Mund gelegt wird, der sich zwar wohl an Shaws gängige, Man and Superman häufig als Hauptmotiv unterlegte Auslegung der life force nach Henri Bergson anschließen lässt. Bergsons L’Evolution créatrice enthält den Begriff des élan vital, »eine[r] strömende[n] Energie [...], die einer naturwissenschaftlich meßbaren zeitlichen Einteilung nicht unterworfen werden könne«73. L’Evolution créatrice erschien 1907 und wurde ab 1911 auch in ihrer englischen Übersetzung auf breiter Basis rezipiert. Es sollte aber nicht übersehen werden, dass der Begriff von Shaw (zu seinem eigenen Stolz)74 in Man and Superman bereits vor dieser Verbreitung des Vitalismus nach Bergson verwendet wird, und erst langsam vom ästhetischen in einen biologischen, (pseudo-) wissenschaftlichen Kontext gerückt wird. Obwohl man erwarten könnte, dass in Man and Superman die Kunst grundsätzlich einer intellektuellen und moralischen Bändigung der life force dient, stützen die im Zwischenspiel gesammelten Argumente und Gegenargumente zunächst eine Denunziation der Kunst und ihrer Produzenten als Beschaffungsinstanzen moralischer Alibis. »THE DEVIL. Man measures his strength by his destructiveness. […] What is his morality? Gentility! an excuse for consuming without producing. What is his art? An excuse for gloating over pictures of slaughter« (PS 376). So sieht der Teufel in der Kunst nur eine von mehreren kulturellen Praktiken, eine Sicht auf das menschliche Dasein, auf die Don Juan alias Tanner bei der Auflistung seiner Erlebnisse mit Geistesgrößen, Spiritisten und Politikern scheinbar eingeht: Then came the romantic man, the Artist, with his love songs and his paintings and his poems; and with him I had great delight for many years, and some profit; for I cultivated my senses for his sake; and his songs taught me to hear better, his paintings to see better, and his poems to feel more deeply. But he led me at last into the worship of Woman. (PS 380)

Demzufolge wäre sowohl die Kunst nur ein ›Vollstreckungsorgan‹ der biologischen life force als auch ironisch der Schluss des Stückes vorweggenommen, der die Kapitulation des Anti-Helden Tanners vor der ihm nachstellenden Frau und der unabwendbaren Ehe mit dieser bringt. Die Degradierung des Künstlers zum ›Geschmacksverstärker‹ für den universal-ästhetisch empfänglichen Frauenverehrer wird am Ende des Zwischenspiels noch einmal pointiert aufgehoben, als der Teufel vom Streit eines gewissen »deutsch-polnischen Verrückten« namens Nietzsche mit

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Stephan Kohl, Die Zeitkonzeption der Literatur. In: Christoph Bode/Ulrich Broich (Hg): Die Zwanziger Jahre in Großbritannien, Tübingen 1998, S. 160. Vgl. Arthur Ganz, George Bernard Shaw, London/Basingstoke 1983, S. 50f.

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Richard Wagner in der Hölle berichtet, kurz bevor sich Ersterer nach Wiedererlangung seines Verstandes in den Himmel verabschiedet hätte: Oh, it was not about music. Wagner once drifted into Life Force worship and invented a Superman called Siegfried. But he came to his senses afterwards. So when they met here, Nietzsche denounced him as a renegade; and Wagner wrote a pamphlet to prove that Nietzsche was a Jew; and it ended in Nietzsche’s going to heaven in a huff. (PS 389)

Der Übermensch wird auf diesem Wege seinerseits zum Artefakt erklärt, auf dessen Niveau sich der Philosoph aufgrund seines vermeintlichen Judentums angeblich gar nicht bewegen könne. Der Wagnerianer Shaw erweist sich in dieser Parodie erwartungsgemäß ebenfalls als kenntnisreich im Diskurs über Künstlertum und Anti-Künstler, den Wagners Kunsttheorien nach sich gezogen haben. Klar ist überdies, dass der Übermensch, für den Doña Ana (Alter Ego der weiblichen Hauptfigur von Man and Superman Ann) rasch großes Interesse entwickelt, erst in einem angemessenen kulturellen Umfeld Lebenswirklichkeit werden kann, in dem die Kunst als soziales Korrektiv neue Kräfteverhältnisse, vor allem hinsichtlich der Geschlechterrollen, austariert. »The worship of Woman«, die quasireligiöse Verehrung der Frau durch den Poeten wird dabei vollends aufgehoben. Insofern sind Shaws künstlerdramatische Entwürfe über mehr als nur ein Stück (wie The Doctor’s Dilemma) hinaus mit der Ästhetik eines ›dissimilierten‹ Künstlers wie Beardsley korrelierbar: in den ständigen Metamorphosen eines Individuums, das die ästhetizistische Starre mit Hilfe provokativer Selbsthinterfragung überwindet (frei nach Sören Kierkegaard, mit dem Shaw das Interesse an Mozarts Don Giovanni teilt). Ann sagt am Ende von Man and Superman über ihren verzweifelten Verehrer, den Dichter Octavius: »The poetic temperament’s a very nice temperament, very amiable, very harmless and poetic, I daresay; but it’s an old maid’s temperament.« (PS 403) Eine solche Veranlagung verdammt den Ästheten, allein und vom (Über-)Leben ausgeschlossen zu bleiben. Bereits in The Doctor’s Dilemma stellt Shaw das Ideal der künstlerischen SelbstOpferung für die Generation, der auch Beardsley angehört, in Abrede. Während bei Beardsleys Denker-Vorbild Pascal der esprit de géométrie menschliches Denken und Fühlen und vor allem die menschliche Neigung zur Moral beeinflusst, integriert Shaw über die Figuren Dubedat und Jennifer die Einheit von zwei Ehepartnern in ihrem sozialen Status der Ächtung in den Kampf um die Vormachtstellung der Ratio, die von Ärzten und Sittenwächtern verkörpert wird, oder dem Gefühl, zu dessen rebellischen Advokaten sich Dubedat selbst stilisiert. Die Verkehrung der sozial definierten Geschlechterrollen aus Man and Superman wird in Doctor’s Dilemma durch Dubedat und seine Frau Jennifer nicht nur wieder rückgängig gemacht: der bedingungslose Einsatz der ›Nachlassverwalterin‹ Jennifer für das kulturelle Erbe ihres verstorbenen Mannes kontrastiert stark mit der FrauenfigurenKonzeption der Ann aus Man and Superman, der Personifikation der Life force schlechthin, die für die Selbstmorddrohungen des unglücklich in sie verliebten Dichters Octavius nur eine äußerst handfeste Prognose bereithält: »Oh no, you wont: that wouldnt be kind. You wont have a bad time. You will be very nice to women; and you will go a good deal to the opera. A broken heart is a very pleasant complaint for a man in London if he has a comfortable income.« (PS 398) Um eine entscheidende Nuance weicht die Attitüde des in dieser Replik angesprochenen 150

Octavius von der Dubedats, in den Shaw all die Selbstsucht der ästhetischen Bewegung Englands projiziert hat, ab. Diesen Unterschied benennt wiederum die nicht eben männermordende, aber doch auf Männerjagd befindliche Ann auf den Vorschlag von Octavius hin, als Unterhändler ihrer Liebe zu Jack Tanner zu gehen: »Thats self-sacrifice, I suppose; but there must be some satisfaction in it. Perhaps it’s because youre a poet. You are like the bird that presses its breast against the sharp thorn to make itself sing.« (PS 399) Wie am Ende von Candida wird an dieser Stelle zum zweiten Mal in Shaws dramatischen Werken der Verdacht genährt, dass die märtyrerische Haltung der Demut und des Duldens bei Künstlern nur ein willkommener Katalysator steigerungsbedürftiger Kreativität sein könnte. In The Doctor’s Dilemma werden versuchsweise die soziokulturellen Faktoren in diesen kritischen Ansatz einbezogen, die eine pseudo-religiöse Selbstverklärung im Stile Dubedats noch begünstigen – von der ihre Chance auf gesellschaftliche Rehabilitierung witternden Ehefrau des Malers, über das auf Faszination an Erotik und Amoralität gegründete Kunstinteresse der Ärzteschaft bis hin zur Anbiederung des Sterbenden an den Konflikt der Assimilation, in dem sich ein Vertreter der Mediziner befindet. Am Ende wird aus dieser Verklärung Dubedats eine zeitgemäße Werbekampagne, die Jennifer in einer Galerie, an der Seite eines modisch gewandeten Sekretärs und mit einer selbstverfassten Biographie über das Leben ihres verstorbenen Gatten durchzieht: »RIDGEON (reading the title) The Story of a King of Men. By his Wife.« (PS 542) Die Evangelistin des Genies wird zu seiner Agentin, die den Materialismus ihrer Zeit mühelos durchschauen und dem Arzt vorwerfen kann: »You made a dreadful mistake about Louis; but you would not have made it if you had not trained yourself to make the same mistake about dogs. You saw nothing in them but dumb brutes and so you could see nothing in him but a clever brute.« (PS 544) Nur vorgeschoben bleibt das Argument des Doktors: »(with a sweep of his hand towards the pictures) He is not dead. He is there.« Der Arzt, der das irdische Leben des Künstlers nicht retten konnte, stilisiert sich selbst noch zum Urheber seiner Sublimierung. Schließlich gibt Ridgeon Jennifer zu verstehen, aus Verliebtheit in sie den Tod Dubedats in Kauf genommen zu haben, um sie so vor dem korrumpierenden Einfluss ihres Mannes zu retten: RIDGEON.

What truth! Why, that Louis Dubedat, King of Men, was the most entire and perfect scoundrel, the most miraculously mean rascal, the most callously selfish blackguard that ever made a wife miserable. JENNIFER. (unshaken: calm and lovely) He made his wife the happiest woman in the world, doctor. RIDGEON. No: by all that’s true on earth, he made his w i d o w the happiest woman in the world; but it was I who made her a widow. (PS 545)

Doch dieser vermeintliche Triumph verpufft umgehend als Chimäre: Jennifer ist bereits wieder verheiratet – mit einem offensichtlich gut situierten Mann, der auch die von Ridgeon begehrten Bilder erworben hat. Im Vorwort zum endgültigen Text von The Doctor’s Dilemma schreibt Shaw: In the play to which I am at present preluding I have represented an artist who is so entirely satisfied with his artistic conscience, even to the point of dying like a saint with its support, that he is utterly selfish and unscrupulous in every other relation without feeling at the smallest disadvantage. The same thing may be observed in women who have a genius for personal attractiveness: they expend more thought, labor, skill, inventiveness, taste and en-

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durance on making themselves lovely than would suffice to keep a dozen ugly women honest; and this enables them to maintain a high opinion of themselves, and an angry contempt for unattractive and personally careless women, whilst they lie and cheat and slander 75 and sell themselves without a blush.

Man kann an diesen Ausführungen in seinem Vorwort ablesen, wie Shaw mit seiner Künstlerpsychologie immer noch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verharrt. Diese Psychologie wäre undenkbar ohne die Studie Entartung von Nordau, die Shaw 1907 mittels des Artikels The Sanity of Art scharf kritisiert hat. Diesen Bezug hat bereits 1910 Julius Bab in seiner frühen Shaw-Monographie hervorgehoben, der darauf abzielt, dass Ridgeons Entscheidung gegen das Leben Dubedats vor allem der Akt eines (schlechten) »puritanischen Gewissens« sein soll: Und es ist gar keine Frage, daß diese Entscheidung die Entscheidung Shaws ist. Für diejenigen, welche das aus dem Ton des Stücks herauszuhören nicht imstande sind, hat Shaw mit aller überhaupt möglichen Deutlichkeit und Energie sich darüber geäußert in der 76 Vorrede zum Neudruck seiner Nordau-Polemik:

Bab schließt daran ein Zitat aus der deutschen Version von The Sanity of Art, Wie Shaw den Nordau demolierte, an: Die Behauptung, daß der große Künstler kein Unrecht tun könne, ist ebenso verderblich falsch wie die Behauptung, daß der König kein Unrecht tun könne oder daß der Papst unfehlbar sei und daß nicht das Beste für sie die Macht getan habe, die alle drei erschuf. In meinem letzten Drama »The Doctor’s Dilemma« habe ich das hervorgehoben [...]

Dieses Zitat dient Bab zum Nachweis dafür, dass nicht, wie in der frühen deutschen Rezeption von The Doctor’s Dilemma behauptet, die freigeistige Künstlertypologie des fin de siècle in der Figur des Dubedat eine einseitige Verherrlichung erfährt, sondern in ihrer sozialpsychologischen Funktion ambivalent bleibt. Diese Sicht deckt sich durchaus mit einer Kritik zur deutschen Erstaufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters von Berlin, die die Darstellung durch Alexander Moissi schildert: »Moissi gab den liederlichen Taugenichts, das verlumpte Genie ebenso liebenswürdig wie den sterbenden Künstler, und man sieht selten eine Sterbeszene, die so rührend und zugleich so humoristisch ist.«77 Bei der Besprechung der nicht minder prominenten Schauspielerin in der Rolle der Jennifer schlägt das Pendel in der Rezension dann aber ganz stark in Richtung Tragik aus, was die Zweischneidigkeit der weiblichen Totalidentifikation mit dem schurkischen Maler außer Acht lässt: »Tilla Durieux gab als junge Malersfrau vollendetes; die Uebergänge von der Trauer um das dahingemordete Opfer, bis zum Hohn, den sie seinem Mörder gegenüber an den Tag legte, fand sie mit verblüffender Sicherheit.«78 Der Vergleich, den Shaw im später geschriebenen Vorwort zwischen dem künstlerischen Bewusstsein und dem weiblichen Selbstwertgefühl zieht, bedient das Klischee des effeminierten Künstlers des fin de siècle, das zudem variiert in

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Bernard Shaw, Preface To The Doctor’s Dilemma. In: ders., The Complete Prefaces, London 1965, S. 245f. Julius Bab, Bernard Shaw, Berlin 1910, S. 362. Richard Zoozmann, Von den Berliner Theatern. In: Bühne und Welt, 1908/09 (5), S. 218. Ebd.

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jüdischen Stereotypen auftaucht. Um den Moralbegriff, den er in diesem Künstlerbild angreift, noch deutlicher herauszuarbeiten, bedient Shaw sich im Vorwort zu The Doctor’s Dilemma einer seiner so gerne benutzten und auf die Gesellschaft angewandten Paradoxien, die Nordaus These von der Gefährdung der Gesellschaft amoralisch ›entarteter‹ Kunst konterkariert: An actor, a painter, a composer, an author, may be as selfish as he likes without reproach from the public if only his art is superb; and he cannot fulfil this condition without sufficient effort and sacrifice to make him feel noble and martyred in spite of his selfishness. It may even happen that the selfishness of an artist may be a benefit to the public by enabling him to concentrate himself on their gratification with a recklessness of every other consideration that makes him highly dangerous to those about him. In sacrificing others to himself he is sacrificing them to the public he gratifies; and the public is quite content with that 79 arrangement. The public actually has an interest in the artist’s vices.

Die Wirkung des Künstlers, seine Stilisierung zur Ikone resultiert, in diametraler Verkehrung einer Heiligengestalt, aus seinen Lastern heraus. Shaws Vorwort bereitet die im Haupttext geübte Gesellschaftskritik vor, die den Künstler zu einem Agenten der geheimen spätviktorianischen Wünsche macht, die um der Wahrung einer Scheinmoral willen nicht ausgelebt werden. In der Kunst dagegen könnten sie ausgesprochen, somit gegeißelt und schließlich sublimiert werden, zur gesellschaftlichen Befriedigung wegen der selbst geschlagenen narzisstischen Wunde und der moralischen Selbstkasteiung. Im künstlerischen Konkurrenzkampf ergibt sich daraus die Gefahr, dass mangelndes kreatives und formalästhetisches Potential von der Stimulation durch Reize des Verbotenen übertüncht wird, die eigentliche moralische Aussage hinter der Provokation eines Künstlers zurücktritt, der anstelle einer konkret materialistischen oder abstrakt transzendentalen Botschaft nur eine selbstsüchtige Leere in Anbiederung an das Publikum bemäntelt. Mit der Kritik am selbst gewählten Martyrium und der scheinbaren Aufopferung des Künstlers, die in Wirklichkeit dem Publikum einen Götzendienst erweist, verabschiedet Shaw jegliche Konzeption einer moralischen Kunst, um im direkten Gegenzug die Begründung für die eigentliche Thematik von The Doctor’s Dilemma zu liefern. An die bereits zitierte Passage aus dem Vorwort schließt direkt im nächsten Absatz der Satz an: »It has no such interest in the surgeon’s vices.«80 Dahinter verbirgt sich zugleich die bittere Abrechnung mit einer Künstlertypologie des späten 18. und 19. Jahrhunderts, die moralische Integrität überhaupt erst in ein ungebührliches Verhältnis zum schöpferischen Impuls brachte. Shaws Kritik an einem akademischen, aber von Kulturbanausen durchsetzten Medizinertum81, bricht sich am Ende von The Doctor’s Dilemma auf der Bühne Bahn, indem Ridgeon widerlegt wird: nicht die Akademiker schreiben Kulturgeschichte oder legen die am kulturellen ›Erbe‹ ausgerichteten moralischen Regeln und kulturellen Ordnungen fest, sondern Kulturgeschichte wird von jedem auch noch so unmoralischen Künstler geprägt, der seiner Vision eine überzeugende ästhetische Form geben kann. So vorsichtig biographische Verbindungen zu ziehen sind, so offenkundig sind sie doch in Hinblick auf Shaws (und Schnitzlers

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Shaw, The Complete Prefaces, S. 246. Ebd. Holroyd, S. 505.

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Ärztedrama) möglich. Während der double bind, sowohl der jüdischen Herkunft in der Donaumonarchie als auch des Künstlers aus einer Medizinerfamilie, Schnitzler dazu inspiriert hat, beide Ebenen in eine Bühnensituation zu übersetzen, lässt sich Shaw angesichts seiner sozialen Herkunft und Positionierung gegenüber Akademikern dazu hinreißen, trotz aller Kritik an Künstlerkollegen wie Beardsley, in den modischen Narzissmus der Epoche zurückzuverfallen. Im Gegensatz zu Schnitzlers Bernhardi, der aus Versehen in die soziale Rolle des Außenseiters rutscht, in dieser Situation aber als Arzt trotzdem Veränderungen in die Wege zu leiten im Stande ist, liefern Dubedat und Ridgeon eindeutige Beispiele dafür, wie – im Verhältnis zur Moral – die Systeme der Kunst (als ständige Opposition) und der Medizin bei Shaw hermetisch voneinander getrennt zur undurchlässigen Abschottung voneinander gebracht werden. Schnitzlers ästhetisches Konzept beinhaltet die Analyse sozialer Dynamik und Mechanismen, wohingegen Shaw an einem ›idealistischen‹ ästhetischen Entwurf festhält, durch den jedes gesellschaftliche Koordinatensystem wenn schon nicht neu ausgerichtet, so doch erschüttert in ferner Zukunft transzendiert werden kann. Darin kündigt sich das große kreative Genie an, das Shaw später in seiner St Joan für die Bühne ebenso verklären wird, wie er dem Heldenkult um T. E. Lawrence zuarbeitet. Demgegenüber sind die Figuren in Schnitzlers Bernhardi in ihrem sozialen Rollenverhalten soziokulturell und sozialpsychologisch umso stärker eingeengt. An eine Entfaltung der individualpsychologischen Ausnahmefigur Bernhardi ist nicht zu denken, sie wird, zwar nicht wie Wedekinds Hetmann zu einer Zirkus-, so doch zu einer Hofattraktion. The Doctor’s Dilemma bringt dem Autor (erneut in Trebitschs Übersetzung) den nicht zu verachtenden Erfolg einer Inszenierung Max Reinhardts, der sich mit Man and Superman noch nicht als ein Wunschpartner Shaws für weitere Projekte empfohlen hatte. Mit gravierenden Streichungen wie der des Intermezzos hatte Reinhardt Man and Superman noch »zu einer unverständlichen Farce« verstümmelt.82 Dagegen ermöglicht der Berliner Erfolg von The Doctor’s Dilemma (Der Arzt am Scheideweg) in der Regie von Felix Hollaender im Jahr 1908 mit 82 Aufführungen in der ersten Spielzeit83 nicht nur Rückschlüsse auf die Ensembleleistung am Deutschen Theater. Das zeitgemäße Thema der Ärztesatire, mit der Arthur Schnitzler in Professor Bernhardi gleichermaßen heftige Kritik an moralischen Codices und Instanzen übt, erhält durch den Dramatiker Shaw eine Erweiterung und Koppelung mit einer Revision des Bildes vom künstlerischen Genie auf der Bühne, aufbauend auf Ibsens Baumeister Solneß mit dem Bild vom angeschlagenen Künstler in Abhängigkeit von starker weiblicher Identifikation. Obwohl The Doctor’s Dilemma an Candida anknüpft, indem das Künstlertum sich hier wie dort gegenüber gesellschaftlichen Normen in einer autarken Position behauptet, ist die Distanz, die Shaw zu Dubedat einnimmt, nicht nur wesentlich größer als zu Marchbanks; sie wird vielmehr in den deutlichen Anspielungen wie auf das Schicksal Beardsleys, das großen Teilen, zumindest des englischen, Publikums geläufig war, offenkundiger ästhetischer Gegenstand der Vermittlung.

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Elisabeth Knoll, Produktive Mißverständnisse. George Bernard Shaw und sein deutscher Übersetzer Siegfried Trebitsch, Heidelberg 1992, S. 153. Ebd., S. 153.

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Shaw selbst verfolgt von London aus seine Aufführungen in Deutschland währenddessen häufig mit Beunruhigung, ja sogar Argwohn. Vor allem der (letztlich nicht realisierte) Plan Reinhardts und Felix Hollaenders, den letzten Akt von The Doctor’s Dilemma zu streichen, gräbt sich bei Shaw dermaßen traumatisch ins Gedächtnis ein, dass er noch 1924, anlässlich der Erstaufführung der St. Joan scharfe Einwände gegen Reinhardts Inszenierung vorbringt84. Auch Viktor Barnowskys Produktion von Fanny’s First Play kann Shaw nicht gutheißen, da in der Berliner Fassung Shaws Parodien auf die in Deutschland ohnehin unbekannten, (hinter den Namen der ins Lächerliche gezogenen Theaterfiguren erkennbaren) realen Theaterrezensenten namhafter Zeitungen (Times-Kritiker A.B. Walker, E. A Baughan von den Daily News und Gilbert Cannan vom Star85) in Prolog und Epilog durch die Vorab-Nennung Shaws als Autor doppelt entschärft werden. Was Elisabeth Knoll als eine »sträfliche Nachlässigkeit« von Shaws Übersetzer Siegfried Trebitsch bezeichnet86, nämlich dessen Sorglosigkeit bei theaterpraktischen Eingriffen in die Struktur von Shaws Stücken, muss aber paradoxerweise auch als begünstigender Faktor bei der Verbreitung von Shaws Dramatik im deutschsprachigen Raum gewertet werden. Die metapoetischen Reflexe der Selbstkritik, Selbstrechtfertigung und im Extremfall Selbstverherrlichung, mit der Shaw beispielsweise in Fanny’s First Play gegen die Kritikerzunft, der Shaw lange genug selbst angehört hat, ins Gericht geht, werden in der von Trebitsch angeregten deutschen Rezeption zugunsten der Strukturen von well-made plays (nicht zufällig hatte Trebitsch vor der Bekanntschaft mit Shaw Stücke von Georges Courteline übersetzt und an deutsche Bühnen empfohlen) und einer leicht verständlichen marxistischen Gesellschaftskritik ausgespart. Dass Shaw sich als ehemaliger Kritiker auf der Bühne gewissermaßen selbst vernichten muss, um als Dramatiker in London glänzen zu können, findet auf den deutschen Bühnen keine Berücksichtigung. Damit entfällt zugleich Shaws Diagnose von der Inkompatibilität der Systeme Kunst und Bürgertum; vielmehr ist die deutsche Rezeption Shaws noch bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts bestimmt von seiner Einverleibung ins bürgerliche Leben und der affirmativen Adaption, bis zum Verschwinden der Stücke Shaws von den deutschsprachigen Bühnen in den nachfolgenden Jahrzehnten. Gewisse Vorbehalte Shaws gegen Max Reinhardts Regiestil erscheinen als nicht unbegründet. So muss Trebitsch Shaw noch 1924 vor der Berliner Premiere »mit der Besetzung seiner Johanna in Deutschland [Elisabeth Bergner] versöhnen, denn er sah nun einmal kein zartbeseeltes, bis in seine letzten Nervenfasern von seiner Sendung durchschauertes Wesen, sondern ein robustes, viel ungeistigeres, aber körperlich um so tapfereres Geschöpf [...]«87 Die Abschaffung des kränklichen und schwachen Heroentums der Jahrhundertwende wird entgegen den Vorstellungen Shaws in der Theaterproduktion nicht nahtlos vollzogen. Seine Bedenken sind auf die paradoxe ästhetische Anlage von Shaws Dramatik rückführbar, nach der das vorbildliche Individuum oder Genie zur Revision der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung nicht unter allen Umständen seinen Beitrag leisten kann – was für die

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Ebd., S. 154f. Holroyd, S. 600. Ebd., S. 162. Siegfried Trebitsch, S. 332.

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Kunst in die ständige Falle der Affirmation führen würde, weil sogenannte Unmoral und Selbstzweifel die entscheidenden Veränderungen zweifelhafter sozialer Richtlinien nach sich ziehen. Diese Paradoxie hat sich sowohl im Schlussakt von The Doctor’s Dilemma als auch in der poetologischen Rahmung von Fanny’s First Play mit den Kritiker-Parodien niedergeschlagen und erklärt Shaws Skepsis gegenüber den deutschen Theaterproduzenten seiner dramatischen Vorlagen. Das ästhetische Mittel der poetologischen Selbsthinterfragung hat in Shaws Augen noch keine geeignete ästhetische Entsprechung für die theatrale Umsetzung gefunden. Fanny’s First Play bildet den folgerichtigen Schlusspunkt der Entwicklung des Dramatikers Shaw, der sich als Autor im Bewusstsein des Publikums zum Verschwinden bringt, ohne dabei ›Selbstverleugnung‹ zu betreiben. Die metadramatische Anlage von Fanny’s First Play transportiert überdies auch sprachlich Shaws Hinterfragung der eigenen Tätigkeit, der poetischen Mittel und sozialen Stellung als Theaterschaffender. Entsprechend arbeitet Shaw von Grund auf ein der Sprachsituation angemessenes rollenspezifisches Sprachniveau aus, nach Vergleichsmustern des passenden Dialekts oder Soziolekts. Dies erschöpft sich aber keineswegs in naturalistischer Verdopplung: wie erwähnt kann Shaw in Fanny’s First Play seine Übung auf den verschiedenen Sprachniveaus metatheatralisch nutzen, um sich selbst in seiner angeblich so charakteristischen Stilistik vor den parodierten Kritikern verschwinden zu lassen. So stellt Fanny’s First Play die Abrechnung mit Kritikern dar, die den Dramatiker stilistisch festzulegen und dermaßen zu gängeln suchen. Mit Fanny’s First Play vollzieht Shaw zugleich eine Wende in der Ausrichtung seiner Gesellschaftsdramen, durch die sich als Grundkonstante (in Candida, The Doctor’s Dilemma und partiell auch Man and Superman) der Antagonismus von Kulturschaffenden und Kulturkonsumenten zieht. Nach der Parodie auf die Kritiker als Vermittler zwischen beiden Lagern – eine Mission, die zum Ding der Unmöglichkeit bzw. zur Scharlatanerie erklärt wird – beschäftigt sich Shaw zunehmend – wie in Pygmalion oder Saint Joan – mit der für die moderne Gesellschaft relevanten Übertragbarkeit von Mythen verschiedener epochengeschichtlicher Provenienz. Eine Gestaltung, die gleichzeitig so sozialpsychologisch konkret wie abstraktionsfähig in der Parallelisierung der selbst gewählten Isolation der Künstlerfigur Dubedat, der Emanzipation Jennifers und der Assimilationsproblematik Dr. Schutzmachers ausfiele, gelingt indes bei dieser Mythenadaption nicht ohne Weiteres. Der Fabier Shaw vollzieht damit im Einklang mit seiner sozialistischen Ideologie den Schritt zu einem ›dramatischen Universalismus‹88, den er aus den Auflösungstendenzen des ›Ich‹ im poetischen Narzissmus des fin de siècle heraus entwickeln kann. Paradox bleiben in der Aufführungsgeschichte die erfolgsträchtigen Konsequenzen daraus, dass Shaws Übersetzer Siegfried Trebitsch Verstümmelungen oder Verkürzungen von Shaws Werken um einen philosophischen Kern ›verschuldet‹, auf Kosten der häufig utopischen Ziele der Sozialkritik (wie im Zwischenspiel von Man and Superman, das die Umorientierung im Geschlechterkonflikt auf eine Neubewertung philosophischer und kunstgeschichtlicher Theorien nahelegt). Solche Verkürzungen kommen oft gerade der deutschen Rezeption von Shaws Dramen zugute, da die

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Vgl. ebd., S. 210ff.

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vermeintlichen kulturgeschichtlich retrospektiven Elemente der Texte und das Drama primär als zeitgemäße Reflexion über die Situation gesellschaftlicher Außenseiter und die Möglichkeiten ihrer Integration interpretiert werden, die sich eben zu dem Diskurs der Assimilation und der Emanzipation in Relation setzen lässt. Shaws Dramen haben mit Marchbanks, Octavius und vor allem mit Dubedat den Typus des gesellschafts-untauglichen dissimilierten Künstlers thematisiert. Der Glaube an Bescheidenheit und Zurückhaltung übersteigt das bloß künstlerische Credo. Die dandyhafte Arroganz verweist auf ein sozial generell (nicht nur im musischen Zirkel) unzulässiges Verhalten. Nun wäre das englische Jahrhundertwendedrama (am Beispiel Shaws als wichtigen Repräsentanten) als moralisierend und typisch für englisches und speziell viktorianisches Hochhalten eines korrekten »conduct«, der auf seinen Urheber zurückfällt, einzustufen, wenn es nicht am europäischen Naturalismus geschulte Gegenbeispiele gäbe. Im Gegensatz zu naturalistischen Texten, die vor allem die Nöte sowohl materiell als auch im Bildungswesen unterprivilegierter Gesellschaftsschichten und ihr Potential zur Auflehnung behandeln, gewinnen Shaws Dramen um die Sorgen durchaus elitär eingestellter Kulturschaffender durch Trebitschs Übersetzungen auch im Kontext der Assimilation deutschsprachiger jüdischer Literaten an Relevanz. Dass die erwachende Aufmerksamkeit für Shaw gerade im Wien der Jahrhundertwende stark mit der Theatralisierung des publizistischen Lebensbereichs zusammenhing, wie sie zuvor am prominentesten mit dem literarischen Wunderkind ›Loris‹ alias Hofmannsthal betrieben worden war, sucht Trebitsch selbst in seinen Memoiren nach dem Zweiten Weltkrieg damit zu belegen, dass er noch vor der wichtigen Premiere der Candida (1904) einen Artikel über Shaw in der Neuen Freien Presse unterbringen konnte, den ihm ein Feuilletonredakteur namens Theodor Herzl durchgehen ließ. »Hören Sie, mein Lieber, mir können Sie’s ruhig sagen – dieser Mann mit dem frommen Namen ist eine Mystifikation, irgend ein Schlich von Ihnen, hinter den wir schon noch kommen werden. Ich bringe den Aufsatz, weil er interessant ist – aber unsere Leser werden 89 an Ihren Teufelskerl so wenig glauben wie ich und Sie selber.«

Regelrecht ›spiegelverkehrt‹ zu dieser Bemerkung Herzls verhält es sich mit dem Kommentar Christian Morgensterns zur Dresdner Uraufführung von Candida, den Trebitsch wie folgt festgehalten hat: »Jetzt weiß ich, wer der Dichter ist, auf den ich die ganze Zeit gewartet habe. Ich meine nicht Ihren Bernard Shaw, sondern den Eugen Marchbanks, den er so wundervoll geschaffen hat.«90 Obwohl Trebitsch in der Rückschau eine leichte Verzerrung der referierten Urteile alter Dichter-Kollegen zuzutrauen wäre, so verschaffen sie doch einen Eindruck von einem wesentlichen Teil der Wahrnehmung von ersten Shaw-Aufführungen im deutschen Sprachraum: das Spiel um die Vermittlung von Kunst wird als ein Umschlagware mehrerer Agenten begriffen, das wiederum dramatische Lebenssituationen von Kunst- und Kulturschaffenden wie Marchbanks oder später Dubedat im gesellschaftlichen

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Ebd., S. 158. Ebd., S. 183.

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Leben zum Inhalt hat – im en abyme einer metapoetischen Dramatik, die sich bis auf die Bühne des öffentlichen Lebens im Feuilleton fortspinnt. Zum Zeitpunkt der besagten Aufführung von Candida hatte Trebitsch bereits das Interesse Max Reinhardts an Shaws Dramatik wecken können, gerade mit einer Künstlerfigur wie der des Marchbanks. Unter Reinhardts Leitung avanciert schließlich, trotz des Achtungserfolgs von The Doctor’s Dilemma, mit Agnes Sorma wieder eine weibliche Größe der Darstellerzunft zur Erfolgsgarantin der wichtigen Shaw-Aufführungen, die in den folgenden Jahren in Berlin gegeben wurden. Wie in seinem ›vatermordenden‹ Epitaph auf Henry Irving war Shaw erfolgreich darum bemüht, den kränklichen und schwächlichen décadent als männlichen Protagonisten zu Grabe zu tragen. Lassen sich noch, was die zuvor behandelten Werke Schnitzlers oder Wedekinds anbelangt, hinsichtlich der Figur des Dubedat in Shaws The Doctor’s Dilemma Gemeinsamkeiten der Künstlergestalt in der Interaktion mit den anderen Figuren feststellen? Anders als der wie Beardsley früh dem Tod geweihte Maler bei Shaw hätte der Schnitzlers durchaus die Chance zu einem ›normalen‹ Familienleben gehabt, die er aber verpasst hat und im Stückverlauf in der Begegnung mit dem nun erwachsenen Sohn vergeblich zu erneuern versucht. Dabei sticht vor allem eine typische Beobachtung der therapeutischen Behandlung von narzisstisch gestörten Persönlichkeiten ins Auge: der alles andere als souveräne Umgang mit dem fortschreitenden Alter. Wo einem Maler nicht wie Dubedat (oder in den Augen mancher Zeitgenossen Beardsleys) die ›göttliche Gnade‹ widerfährt, erliegt er dem Wahn des Narzissten, mittels der artifiziellen Beherrschung der Bildlichkeit gleichermaßen das idealisierte Bild der eigenen Jugend aufrecht erhalten zu können. In Oscar Wildes Roman The Picture of Dorian Gray wird dieser Charakterzug nur durch die Kunst als Medium – das titelgebende Porträt des Dorian Gray – nach außen reflektiert, wozu sich in der reichlich vorhandenen Sekundärliteratur zum Roman (in den letzten Jahren wiederum bei Jeffrey Berman) eifrige Studien finden. Der Maler ist in Wildes narrativem Text nicht fähig, auf den Horror Einfluss zu nehmen, der sich als übersinnliches (gothic) Element über die visuell ›eingefrorene‹ Schönheit Dorians wie ein Schatten moralischer Verwerflichkeit legt. Das Erzählmuster suspendiert letztlich den schöpferischen, wenn man so will ›performativen‹ Vorgang, was sich auf der Bühne des Dramas erst durch Spielmacher-Figuren umsetzen lässt, die beispielsweise Hugo Weisgalls Librettisten nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Vorbild Pirandellos in eine WedekindVorlage transplantieren: MANAGER You are only their fiction, Gerardo, Idol, Tristan, A roar in the darknes, The bellow of the bull. Women don’t love you, You arrogant pampered fool; They can see your paunch, The cords in your neck, The sweat in your creases, But they dim their eyes to try to see you

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As you see yourself. 91 Women don’t love you.

Nicht der künstlerische Akt ist per se gefährliche Manipulation, sondern das, was das Publikum autosuggestiv darin sieht und in der Rückübertragung dem Idol als Selbstauffassung aufzwingt (so wie Dorian Gray der Schauspielerin Sibyl). Bei Schnitzler und Shaw hat es den Anschein, dass im Ausleben der musischen Begabung der Vorwurf der Amoralität seitens gesellschaftlicher Ordnungsfanatiker bereits vorprogrammiert ist, selbst wenn der Künstler sein sittenwidriges Handeln gar nicht als solches wahrnimmt. Diesen Zug mangelnder kunstethischer Selbstwahrnehmung und wahnhafter Vorstellungen von der Reinheit der eigenen Ästhetik hat dagegen Wedekind in der Figur des Malers in Lulu maßlos übertrieben.

6.4 Künstlerträume: J. M. Barries Dear Brutus (1918) und The Boy David (1938) Mit dem Schock und Trauma des Ersten Weltkriegs erschüttert die in allen Gesellschaftsbereichen festzustellende Depression bekanntermaßen auch jene Vertreter des Ästhetizismus und der Avantgarde, die sich von den konfliktgeladenen geschichtlichen Tendenzen abgeschottet, oder, im noch prekäreren Fall, den Krieg wie ein ›reinigendes Gewitter‹ begrüßt hatten. Auch wenn der Expressionismus besonders in Deutschland einen radikalen Ausbruch aus dieser Zurückgezogen- und Distanziertheit mit sich bringt, ist die ästhetische Bewegung damit allerdings längst noch nicht abgeschlossen. Die Aufarbeitung von privaten Krisenerfahrungen und verpassten Gelegenheiten des individuellen Zusammenlebens, die im artifiziellen Gewand und ihrer Demaskierung Analogien zur großen Katastrophe stiftet, findet in einigen Fällen sogar größeren Zuspruch denn je: so für Schnitzlers Traumnovelle, die in Fortsetzungen zur Jahreswende 1925/26 in der Berliner Zeitschrift Die Dame gedruckt wird und anschließend im S. Fischer Verlag in »dreißig Auflagen bis 1930« Verbreitung findet.92 Die unwirkliche Verflechtung zweier Maskenbälle, von denen der zweite die männliche Hauptfigur Fridolin in eine bizarre Situation der Rettung durch eine sich opfernde Fremde manövriert, findet sich in der abschließenden Traumerzählung seiner Frau Albertine konterkariert. Der Traum und der Kostümball wirken sich auf die aufgestauten Sehnsüchte und Aggressionen beider gleichermaßen als Katalysator wie eine Katharsis aus. Diese ›dramatischen‹ Effekte der Handlungsführung auf parallelen, aber gegenläufigen Erzählebenen haben nicht unwesentlich den Versuch Stanley Kubricks inspiriert, in seinem (posthum edierten) Film Eyes Wide Shut Schnitzlers Erzählung versuchsweise vom Wien der 20er Jahre ins New York des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu verlegen (mit einem umstrittenen Ergebnis).93 In demgegenüber historistischer Manier hat das

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Hugo Weisgall, The Tenor. Opera in One Act, Libretto by Karl Shapiro and Ernst Lert, Bryn Mawr (Pennsylvania), S. 18. Farese, S. 265. Sucht man nach dem Geist des Ästhetizismus im Drehbuch, bleibt am Rande immerhin festzuhalten, dass die Figur der Ehefrau zur Kunstgaleristin ›aufgestiegen‹ und die im

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amerikanische Kino dem Leben von Sir James Matthew Barrie (1860–1937) nachgespürt, einem britischen Zeitgenossen Schnitzlers, ohne sich bisher eines seiner Erfolgsstücke anzunehmen, das der Traumnovelle zeitlich nahe und thematisch verwandt, im Unterschied zu ihr aber auf die Ehe eines Künstlers bezogen ist. Einige Jahre nach dieser Adaption der Vorlage eines JahrhundertwendeDramatikers, im Jahr 2004 bestimmt eine Reihe von biographisch fundierten FilmGroßproduktionen, rasch so bezeichneten Bio-Pics, das US-amerikanische und internationale Kinojahr. Der Film Finding Neverland dreht sich in Barrie um einen Dramatiker der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, dessen Produktivität und Erfolg zur Zeit des Ersten Weltkriegs noch einmal gewaltig zunimmt, um in den 20er Jahren völlig zu versiegen: In Anspielung auf sein berühmtestes Werk liegt dem Film das biographische Theaterstück The Man who was Peter Pan von Allan Knee zugrunde. Die Verflechtung von phantastischen Elementen mit den ›realistisch‹ abgebildeten Produktionsbedingungen des kommerziellen Theaters im London des Jahres 1905 erweist sich in diesem Film als ebenso wichtig wie die psychologische Motivierung von Figurenentwicklungen. Schockerlebnisse und Erkenntnismomente werden sowohl für J. M. Barrie als auch für die Kinder der Familie Llewelyn Davies, die ihm als Inspiration für seine Peter Pan-Konzeption dienen, immer wieder eingebaut und vielfältig inszeniert: so etwa wenn Barrie anhand des Schicksals der vaterlos heranwachsenden Jungen die Tragödie seiner eigenen Kindheit erneut vor Augen geführt wird, als sein eigener Bruder starb. Barries Abkapselung und das Scheitern seiner Ehe werden mit diesem Themenkomplex verwoben. Ein Freund warnt ihn vor den Gerüchten, die sein Umgang mit einer Witwe und deren Kindern auslösen. Ehebruch erscheint dabei noch als die harmlosere Variante, sogar die Päderastie wird Barrie offenbar nachgesagt. Doch auch der Vorwurf der Selbstsucht lässt im Film nicht auf sich warten; er wird von der Großmutter der Halbwaisen, Emma du Maurier, erhoben, die Barrie vorhält, ihrer verwitweten Tochter die Chancen einer erneuten Heirat zu verbauen. Die Schlussszene des Films Finding Neverland spielt im Jahr des überwältigenden Erfolgs der Uraufführung von Peter Pan, 1904. Insbesondere den nicht-englischsprachigen Theatergängern dürfte heute kaum noch bekannt sein, dass Barries Erfolgspotential als Dramatiker zu seinen Lebzeiten damit noch keineswegs ausgeschöpft war, obwohl er bereits 1892 mit der Komödie Walker, London seine Erfolgsgeschichte im Londoner West End begründet hatte, wo seine Stücke trotz harter Konkurrenz vor vollem Haus und mit langen Laufzeiten auf den Spielplänen standen – ganz im Gegensatz zu denen seines Freundes und Weggefährten George Bernard Shaw, mit dem zusammen er 1928 als einer der Bahrenträger in die Westminsterabtei berufen wurde – zum Begräbnis von Thomas Hardy, der für die jüngeren Literaten nicht nur mit seiner Kenntnis von Goethe und Schopenhauer, die

¯¯¯¯¯¯¯ Vergleich zu Schnitzler hinzuerfundene Spielmacherfigur des eingangs gastgebenden Tycoons beziehungsreich von Kubricks Regisseurskollegen Sydney Pollack gespielt wird.

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sich in Jude the Obscure oder The Dynasts niederschlug, ein Vorbild abgegeben hatte.94 Der übermächtige Schatten von Peter Pan hat immer wieder den Blick auf die anderen wichtigen Bühnenwerke Barries verstellt, die unter keinen Umständen als Nebenprodukte seines umfangreichen Schaffen einzustufen sind. Auch dass hinter der vordergründigen Unschuld dieses Kinderstücks die Abgründe eines vom ödipalen Mutterkomplex geschädigten Päderasten klaffen könnten, wurde unvermeidlich zum Spekulationsgegenstand der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Für diejenigen, denen trotz vereinzelter Belege für pädophile Neigungen Barries (das Photographieren der sich an- und entkleidenden DaviesJungen) die Argumentationsgrundlage zu unsicher blieb, fanden sich ganz andere psychologische Erklärungsmuster, die sich Barries Schaffen zugrunde legen ließen; so für David Daiches, der 1960 Barries Œuvre als Abwehrreaktion gegen die Herausforderungen des Erwachsenenlebens wertete: »revenge [...] on life for daring to pose adult problems involving real human relationships.«95 Für Harry M. Geduld schließlich werden der Unfalltod von Barries älterem Bruder David bei einem Sturz auf dem Eis im Jahre 1867 und die Krankheit der Mutter zu den Schlüsselmomenten einer zeitlebens traumatisierten Poetenseele erhoben, um eine Vielzahl von Barries Prosa und Dramen als autobiographisch zu entlarven.96 In jüngerer Zeit hat R. D. S. Jack nicht nur einen wichtigen Impuls geliefert, den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Dramen Barries stärker in die Lektüre einzubeziehen, sondern mit dem Druck im hauseigenen Verlag der Aberdeen University auch einem Phänomen entgegengewirkt, das Jack selbst folgendermaßen benennt, bezogen auf eine nicht selten vorhandene Idiosynkrasie gegen Barrie bei seinen schottischen Landsleuten: On the negative side there is an essentially nationalistic argument. This has three major strands. First, it is argued that he is a literary traitor through having made his name in London. Secondly, his dramas are found to be lacking in specifically Scottish themes. Thirdly, there is often stated but all too seldom examined contention that he mocked his own people 97 in order to please Southern audiences.

Der ›Verrat‹ des Schotten an seiner Herkunft, indem er sich die englischen Stereotypen aneignet, gleichsam ›assimiliert‹ und darüber die Mythen seines Landes (trotz seiner zum Mythischen neigenden künstlerischen Linie) vernachlässigt, wird von Jack umgehend in Abrede gestellt, da der Aufstieg Barries in London wohl ebenso wenig ein qualitätsminderndes Merkmal seiner Kunst sein kann wie die Abkehr vom Nationaldrama. Mit der Entschärfung des dritten Arguments tut sich Jack schwerer. Zwar verweist er zurecht auf die (nicht nur) englische Komödientradition, Figuren aus Nachbarländern oder Provinzen ins Lächerliche zu ziehen, besonders durch die grelle Zeichnung ihrer zivilisatorischen ›Zurückgebliebenheit‹. Zudem weiß Jack zu belegen, dass, bei aller diesbezüglichen

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Holroyd, S. 859f. [Als weitere Bahrenträger sind John Galsworthy, Edmund Gosse, A. E. Housman und Rudyard Kipling genannt.] David Daiches, The Sexless Sentimentalist. In: Listener, 12. Mai 1960. Zitiert nach: R. D. S. Jack, The Road to the Never Land. A Reassessment of J. M. Barries’s Dramatic Art, Aberdeen 1991, S. 11. Harry M. Geduld, James Barrie, New York 1971. Ebd., S. 17.

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Kompatibilität von Barries Stücken mit Konditionen des kommerziellen Theaters, das Pendel nicht nur zu Lasten der eigenen verleugneten nationalen Identität ausschlägt, sondern sich die komischen Figuren in ausgleichend ungerechter Stereotypie quer über Großbritannien verteilt finden.98 Während 1917/1918 der Erste Weltkrieg auf dem europäischen Festland in seiner letzten Phase wütet, erreicht Barries dreiaktige Komödie Dear Brutus in Englands Hauptstadt sage und schreibe 364 Aufführungen. Die Konzeptionsphase des Stückes lässt sich, unter dem Arbeitstitel »The Second Chance«, bis ins Jahr 1904 zurückverfolgen. Die Ausführung der alten Idee erfolgt im Jahr 1917 innerhalb weniger Wochen, nachdem sein Freund A. E. W. Mason Barrie zu einer Umsetzung rät, da Barrie im Februar des Jahres sich darüber beklagt, kein geeignetes Thema für ein neues Stück zu finden.99 Wie gut der Rat Masons war, erweist sich rasch nach der Premiere von Dear Brutus am 17. Oktober 1917 im Wyndham’s Theatre. Sechs Wochen später, am 29. November, hält William Archer in Londons Nation in der Rubrik »The Drama in London« in Anspielung auf das offenkundige Vorbild Shakepeares und das Finale des zweiten der drei Akte fest: »As it was, when the curtain fell on Margaret’s pathetic cry, ›I don’t want to be a might-have-been!‹ we confessed ourselves conquered once more by a spell as potent as Puck’s – the enchantment of the true Barrie touch.”100 Das Handlungsgerüst zu Dear Brutus liefert grob zusammengefasst ein Konglomerat aus Shakespeares Midsummer Night’s Dream und Dickens’ Christmas Carol. In einer magischen Mittsommernacht (Johannisnacht lautet der deutsche Titel der Komödie) erhalten mehrere Menschen die Gelegenheit (die »zweite Chance«), eine Nacht lang ihr Leben anders führen zu können: nämlich unter der Voraussetzung, dass sie sich in einer wichtigen Lebenssituation diametral zu der mittlerweile bitter bereuten, einst gewählten Alternative entschieden hätten. Die auf die Probe Gestellten werden von ihrem geheimnisvollen Gastgeber, dem koboldartigen Lob, aus einem hochherrschaftlichen Haus zur Mittsommernacht in einen Zauberwald geschleust, der sich hinter dem sorgsam gepflegten Garten Lobs erstreckt. Bis auf den Maler Dearth scheitern alle an der Herausforderung, im Nachhinein einen positiven Schluss aus den Erlebnissen in der Traumwelt zu ziehen. Ob auf die dankbar angenommene Erfahrung der Selbsterkenntnis dieser Künstlerfigur Taten folgen werden, bleibt am Ende des Stückes eine offene Frage – nicht zuletzt, weil Barrie das Drama des Künstlers mit dem der Familie verflochten hat, durchaus im Stil des, seit Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts von Shaw und (bereits zuvor von) William Archer, in London als Vorbild dramatischer Dichtkunst ausgerufenen Henrik Ibsen. Auf dessen Hedda Gabler hatte Barrie bereits 1891 die Parodie Ibsen’s Ghost, or Toole-up-to-date: Hedda in one act geschrieben, die deutlich macht, dass er für das Gesellschafts- und Frauenbild von Ibsens Ehedrama einige Ironie und Skepsis hegte. In dieser Fortsetzungs-Persiflage zu Ibsens Stück haben Thea Elvsted und Jörgen Tesman, aufgrund von Heddas Machenschaften und Selbstmord verwitwet, einander

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Ebd., S. 19 (»[...] if MacPhail in Walker, London is a stereotype of the over-serious Scot, he is matched by Nanny O’Brien, an exaggerated portrait of Irish verbosity and Kit Upjohn, a parody of the Englishman whose only outstanding quality is the ability to play cricket.«) 99 Leonee Ormond, J. M. Barrie, Edinburgh 1987, S. 119. 100 Zitiert nach Carl Markgraf, J. M. Barrie. An Annotated Secondary Biography, Dexter (Michigan) 1989, S. 128.

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geheiratet. Doch während Hedda von ihrem Großvater militärische Disziplin und Waffenvernarrtheit geerbt hat, wird Thea von einem ganz anderen Übel in den Selbstmord mit einem ›Spielzeuggewehr‹ getrieben: sie muss nämlich jeden Mann, der ihr begegnet, zwanghaft küssen, weil sie eine Neurose aus dem Erlebnis entwickelt hat, dass ihr Großvater an ihrem Polterabend eine ihrer Freundinnen geküsst hat. Mit der Aufführung am Vaudeville Theatre, wohin Henry Irving die Persiflage vermittelt hat (nachdem er die Aufführung an seinem Lyceum freilich abgelehnt hatte), erzielt Barrie zum ersten Mal als Dramatiker Aufsehen beim Londoner Publikum. »Ideas of female emancipation from A Doll’s House are interwoven with motifs from Ghosts and Hedda Gabler to produce a burlesque version of an Ibsen plot.«101 Im Gegensatz zu seinen Dramatikerkollegen Wilde und Shaw scheint Barrie von Beginn seiner Laufbahn an keine Scheu zu haben, die Fülle des Materials und der Formen verspielt bis an ihre Grenzen auszureizen. Die Frage, ob, wie es Beardsley über Wilde gesagt haben soll, das Material den Dramatiker unterkriegen könnte, erübrigt sich jedenfalls für ein Stück wie Dear Brutus, das auf einen Schlag Shakespeare’sches Zaubertheater, post-viktorianische Gesellschaftskomödie und ein Künstler-, Geschlechter- und Familiendrama im Stile Ibsens und Strindbergs vorstellt. Bemerkenswert ist allemal, wie sich bereits anhand des Zitats aus Archers Kritik schließen lässt, dass der Rahmen des Zauberspiels alle Einwände spontan außer Kraft zu setzen geeignet scheint. In Zweifel ziehen lässt sich dennoch, ob die »magische Berührung« Barries auch den zwischenmenschlichen psychologischen Konflikten, wie sie noch Ende des 19. Jahrhunderts zur Problematisierung des Verhältnisses von schöpferischer Risikofreudigkeit und familiärer Verantwortung behandelt wurden, neues Theaterleben einflößen kann. Dass für die einzigen Hoffnungsträger von Dear Brutus eine tatsächliche Umkehr und Neuorientierung dennoch das Zurücklegen einer weiten Wegstrecke bedeuten würde, daran lässt die Figurenexposition im ersten der drei Akte keinen Zweifel: Dearth steht am Anfang des Stückes vor jenem Abgrund, an dessen Rand sich der gefährdete Bohemien der Jahrhundertwende wie zwangsläufig selbst manövrieren musste. Nicht unbedingt deskriptiv im Sinne eines theatralen Nebentextes, sondern eher (wie stets bei Barrie) narrativ ausgestaltet, liest sich die Regieanweisung beim Auftritt Dearths: Not so much a man, this newcomer, as the relic of what has been a good one; it is the most he would ever claim for himself. Sometimes, brandy in hand, he has visions of the WILL DEARTH he used to be, clear of eye, sees him but a field away, singing at his easel or, fishing-rod, leaping a stile. Our WILL stares after the fellow for quite a long time, so long that 102 the two melt into the one who finishes LOB’S brandy.

Der Alkoholismus wird hier zur letzten Stufe des künstlerischen Rausches gestaltet, der der künstlerischen Avantgarde der décadence noch zur Entfesselung ihres kreativen Potentials gedient hat. Im Falle von Dearth hat der Alkohol längst die Kreativität des Abhängigen unterspült und nahezu ausgelöscht. Vor allem ist aus dem ›künstlichen Paradies‹ die einsame Insel eines Kommunikationslosen geworden, dessen primärer menschlicher Bezugspunkt das ›performative‹ Selbstbild

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Ormond, S. 46. J. M. Barrie, Dear Brutus, London 1932, i.F. in Klammern zitiert als Sigel DB, S. 44.

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vor der Staffelei aus der Vergangenheit ist, nicht mehr aber eine auf die Zukunft gerichtete künstlerische Vision. Das Resultat zwischenmenschlicher Zerrissenheit bis in die Plakativität übersteigert vorzuführen, wird in Barries Text keineswegs als Risiko gescheut. Doch ist dieser die Figur einführende Nebentext eben auch eine Aufforderung, den Dearth-Darsteller nicht als völlig verwahrlost zu zeigen, sondern vor allem als entzweit mit seinem früheren Selbst, das zu einem unerreichbaren Punkt in der Ferne verschwommen ist. Der Sucht verfallen, bietet der Maler bei seinem ersten Auftritt ein Bild des Jammers, der im Umgang mit seiner Frau Alice in der analogen zwischenmenschlichen Entfremdung gipfelt. Auch hier versammelt Barrie Klischees aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts, die bereits zuvor den Regieanweisungen zu entnehmen waren, diesmal bezüglich Alice: »Mrs Dearth is tall, of smouldering eye and fierce desires, murky beasts lie in ambush in the labyrinths of her mind, she is a white-faced gipsy with a husky voice, most beautiful when she is sullen, and therefore frequently at her best.« (DB 6) Bevor der Eindruck entstünde, Barries Bemühen um präzise Figurencharakterisierung auf knappem Raum erschöpfe sich im Nebentext, sei noch auf eine Stelle im Dialog zwischen den Frauenfiguren Alice und Joanna, die im Zauberwald die Erfahrung der Austauschbarkeit im Partnertausch mit ihrer Schwester Mabel und deren Ehemann Purdie machen wird, hingewiesen: JOANNA. You certainly have good ears. ALICE (drawling). Yes, they have always JOANNA (snapping). By the painters for

been rather admired. whom you sat when you were an artist’s model?

(DB 43)

Bezieht sich Joannas erste Replik noch auf Alice’ Hellhörigkeit angesichts einer kaum vernehmbaren Bemerkung, mit der Joanna ihrem Unmut über die Anwesenheit der Gattin des Malers Ausdruck verliehen hat, so bringt die Stichelei im zweiten Anlauf die persönliche Tragödie der Alice auf den Punkt: Wenn auch Alices Ohren zunächst einmal bezüglich des Gehörs gute Qualitäten aufweisen sollten, sind sie für einen Ästheten wie Alices Mann nach Joannas Meinung hinsichtlich ihrer Portraitierbarkeit von Bedeutung. Alices Sinneswahrnehmung hat sie nicht davor bewahrt, vor allem in ihrer Sinnlichkeit zum Objekt künstlerischer Beobachtung und Abbildung zu werden, wobei ihrer eigenen Rezeptionshaltung und Reflexion wenig Beachtung eingeräumt wird. Im Gegenteil: wie die Regieanweisung und das folgende Gespräch mit ihrem Ehemann nahelegen, wirkt sie am reizvollsten in unreflektierter Gereiztheit, die von vornherein jede Kommunikation mit dem Gegenüber ausschließt. »It isn’t your company I want, Will.« Mit diesen Worten nimmt Alice ihren im nächsten Moment eintretenden Ehemann in Empfang (DB 45). Trotzdem ist sie es, die Will auffordern muss, sich dem Gang der Gäste in den Zauberwald zur Mittsommernacht anzuschließen. Die einstige erotische Spannung zwischen Alice und Will Dearth hat unter den gegebenen Voraussetzungen einer müden ›Neuauflage‹ des Geschlechterkampfes aus dem fin de siècle Platz gemacht, wo sich aufbegehrend tatkräftige Frauen und taktierend abwartende (und mitunter wie gelähmte) Männer getummelt haben. Doch geht es den Kontrahenten in diesem Duell nicht darum, auf dem Rücken der/des Unterlegenen die neu- oder zurückgewonnene Stärke und Selbstverwirklichung zu feiern, wie man es aus Strindbergs Fräulein Julie, Der Vater oder auch Ibsens 164

Hedda Gabler kennt. Ein Vierteljahrhundert nach seiner Ibsen-Parodie wagt sich Barrie daran, seine eigene, mit fantastischen Elementen angereicherte Version einer Ehe- und Familientragödie für die Bühne zu entwickeln, anders motiviert als durch Vererbungslehren des ausgehenden 19. Jahrhunderts und die kommunikative Leere zwischen den Ehepartnern, die vom divergenten Bildungs- und Karrierebegriff der Ehepartner herrührt. Vor allem kann Barrie zugunsten seiner Dramaturgie der verpassten und vorübergehend aufzuholenden Chancen die »Lebenslüge« opfern, die Ibsens Dramen bestimmt, bis zum finalen Geständnis und Zusammenbrechen der Fassaden. Durch die Umstülpung der Zeitstruktur ist dem Künstlerehepaar Barries bereits zu Beginn eine Abrechnung mit den eigenen Illusionen von Liebe und Jugend, in bestürzender analytischer Kühle, vorbehalten. »DEARTH. […] Wonder why I have become such a waster, Alice?« Auf diese Frage eines zu Therapierenden gibt die Gefragte eine denkbar kurze und vernichtende Antwort: »ALICE. I suppose it was always in you.« (DB 47) In dieser Replik klingt die Erkenntnis Purdies im letzten Akt an, die mit einem Zitat aus Shakespeares Julius Cæsar auch die Erklärung für den Titel von Barries Stück bringt: »Shakespeare knew what he was talking about – ›The fault, dear Brutus is not in our stars, / But in ourselves, that we are underlings.‹« (DB 111) Dass das persönliche Unglück der Figuren in Dear Brutus aus ihrer inneren Veranlagung resultiert, kann en abyme natürlich nur als eine vergröbernde Beobachtung und Verallgemeinerung bezüglich aller Beteiligten gewertet werden, für die die einzelnen Charakterbilder unterschiedliche Fallbeispiele abgeben. Dass Dearth von Grund auf ein Verschwender gewesen ist, belegt auch seine Selbsteinschätzung aus der Zeit, in der er um Alice geworben hat: DEARTH (with perhaps a glimpse of the fishing-rod). […] I suppose so; and yet I was rather a good sort in the days when I went courting you. [...] I didn’t know I was a wrong ’un at the time; thought quite well of myself, thought a vast deal more of you. Crack-in-my eye Tommy, how I used to leap out of bed at 6 A.M. all agog to be at my easel; blood ran through my veins in those days. And now I am middle-aged and done for. (DB 47)

An dieser Stelle taucht, etwa wie bei Julian Fichtner, das Motiv des zügellosen Genies sans modestie auf, das sich in der Vergeudung seines Talents und seiner Energien schließlich erschöpft hat. Vor allem blieb ihm im familiären Zusammenleben ein Widerpart versagt, der seine Tendenz, sich selbst zu verschleißen, gemaßregelt hätte. Barrie skizziert das entgegengesetzte Beziehungsschema zur Ehe von Dubedat und Jennifer in The Doctor’s Dilemma aus der Feder seines Freundes Shaw, indem anstelle der posthumen Verklärung eines amoralischen Ästheten sich seine Gattin bereits zu Lebzeiten sowohl von seinem Wirken als auch von seinen Exzessen entfremdet hat. Während Jennifer zunächst hofft, mit der Überzeugung anderer vom Genie ihres Mannes sein Leben retten zu können, und später als Dubedats Nachlassverwalterin ihr gesellschaftliches Ansehen steigert, verhält es sich bei Alice Dearth genau andersherum: Sie glaubt nicht an die Genialität Wills und hat deswegen selbst die Absicht fallengelassen, sich für das gemeinsame Leben einzusetzen. Ihr Interesse an der Schaffenskraft ihres Mannes hält nicht mit ihrem Ehrgeiz und Verlangen nach dem sozialen Aufstieg in die adeligen Kreise, denen sie aus bloßem Statusdenken, nicht etwa aus elitären geistigen Ansprüchen heraus angehören möchte, Schritt.

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Doch steht offenbar ein Mittel gegen das völlige Abreißen der Kommunikation zur Verfügung: Erst als die mit feurigem Werben eingeleitete Ehe schon am Zerbrechen ist, wird diese Zerrüttung ihrer Paarbeziehung von Alice und Will Dearth zum Gegenstand einer womöglich ersten, offenen Auseinandersetzung zwischen beiden Partnern, als die Enttäuschung über die emotionale Leere und mangelnde Urteilsfähigkeit hinter der attraktiven Maske des vergangenen Augenblicks zum Vorschein kommt: DEARTH. [...] When did you begin to despise me, Alice? ALICE. When I got to know you really, Will; a long time ago. DEARTH (bleary of eye). Yes, I think that is true. It was long time

ago, and before I had begun to despise myself. It wasn’t till I knew you had no opinion of me that I began to go down hill. You will grant that, won’t you; and that I did try for a bit to fight on? (DB, 47 f.)

Aus dieser Gesprächsposition Dearths konstituiert sich ein gravierender Unterschied zum Selbstverständnis des Dandys und Bohemiens der Jahrhundertwende, der seine ästhetische Position zum tagtäglich propagierten, prahlerischen Habitus umgeformt hat, bis in die völlige ›narzisstische‹ Isolation und Abschottung von der Bewertung durch Außenstehende. Für Dearth dagegen steht fest, dass sein Niedergang begonnen hat, als er feststellen musste, dass seine Frau und erste Bezugsperson zu keiner Meinung über ihn gefunden habe, im guten wie im schlechten Sinn. Damit gesteht Dearth aber indirekt seine Abhängigkeit als Menschen wie als Künstler von der Beurteilung anderer ein. Der Figurenbeziehung dieser beiden Protagonisten unterscheidet sich radikal von dem der Anti-Helden des ausgehenden 19. Jahrhunderts, deren »Lebenslüge« Gegenstand einer stetigen Enthüllungsdramaturgie ist. Sie ist aber ebenfalls anders als die der Helden des Expressionismus ausgerichtet, die sich mit Gebärden der blinden Wut und des gezielten Zorns auf die auseinanderbrechenden, alten Gesellschaftsstrukturen stürzen. Barrie reaktiviert paradoxerweise das Konversationsdrama im Sprechen über die Lüge: Für das Ehepaar Dearth wird die Selbstbezichtigung zum letzten Anknüpfungspunkt rudimentärer Kommunikation. Sie dreht sich um das Eingeständnis eigener Schuld am Scheitern der Beziehung, jedoch zunächst noch ohne daraus eine therapeutische Wirkung zu schöpfen: »ALICE. Well, I found I didn’t care for you and I wasn’t hypocrite enough to pretend I did. That’s blunt, but you used to admire my bluntness.« Weder Alice noch Dearth machen Anstalten, sich aus der Lähmung angesichts der Erkenntnis der Schwächen, eigener wie des Gegenübers, zu befreien, dem Zerfall ihrer Beziehung und damit ihres persönlichen Lebensentwurfs Einhalt zu gebieten. Und das bei vollem Bewusstsein, das sich selbst Dearth durch seine Trunksucht nicht trüben lässt: statt von einer begehrten und zwischenzeitlich vermeintlich eroberten femme fatale unachtsam und wehrlos ins Verderben gezogen zu werden, macht er keinen Hehl daraus, mit der ersten Faszination gleichermaßen der Gefahr ins Auge geblickt zu haben: DEARTH.

The bluntness of you, the adorable wildness of you, you untamed thing! There were never any shades in you; kiss or kill was your motto, Alice. I felt from the first moment I saw you that you would love me or knife me. (DB 48)

Mit der zur Lüge unfähigen Direktheit, die ein Ausdruck ungezähmter Wildheit ist, finden sich in Dearths Frauenbild gängige antifeministische Stereotypen 166

versammelt, deren Bündelung in Geschlecht und Charakter von Weininger in der Bewunderung Strindbergs über den deutschen Sprachraum hinausgehend bekannt wurde. »Unabhängig von Neigung und Geschmack, Ansichten und dergleichen, findet man, wenn das Weib einen Mann liebt, so haßt sie ihn«, nannte Strindberg in seinem Nachruf auf Weininger vom 12. Oktober 1903 als eine der ›Weisheiten‹, die der Verschiedene der Menschheit vor seinem Freitod hinterlassen habe.103 Das Dearth in Dear Brutus zugeschriebene Frauenbild scheint von den gleichen Kategorien beherrscht zu sein. Es erfährt im ›Traumspiel‹ des Mittelaktes noch eine groteske Steigerung: Alice ist dort, an der Seite des ›Alternativpartners‹ zu Dearth, ebenfalls keine glückliche Frau geworden, im Gegenteil: Sie tritt Dearth und seiner Tochter Margaret, die im Zauberwald seinen erfüllten Wunsch nach einem anderen Leben verkörpert, als verwahrloste und heruntergekommene Fremde, »The Honourable Mrs. Finch-Fallowe« (DB 92), gegenüber, fallengelassen von dem Mann, durch den sie dauerhaften Zugang zur Oberschicht finden wollte: A vagrant woman has wandered in their direction, one whom the shrill winds of life have lashed and bled; here and there ragged graces still cling to her, and unruly passion smoulders, but she, once a dear fierce rebel with eyes of storm, is now first of all a whimperer. (DB 90)

Diese Begegnung von ›Fremden‹ löst, als Dearth Mitleid für Alice empfindet, zugleich das Zusammenbrechen der heilen Traumwelt in Harmonie mit seinem Wunschkind aus. Mit dem Anliegen, der herumstreunenden Mrs. Finch-Fallowe einen Bissen im plötzlich (wieder-)entdeckten Haus Lobs verschaffen zu können, verlässt Dearth Margaret und kehrt in die Realität zurück. »DEARTH. […] That woman rather affects me, Margaret. I don’t know why. Didn’t you like her husky voice?« (DB 94) Die heisere Stimme und die Zweideutigkeiten in den Repliken der mittellos Geschiedenen (»If I had my rights, I would be as good as you – and better«, DB 91), üben auf Dearth einen unwiderstehlichen Reiz aus. Damit wird weniger der von Alice verkörperte Frauentyp desavouiert als die gesellschaftliche Haltung, die sie auf ihre ›Wildheit‹ reduziert. Ein Resümee von bereits vor den Dearths erwachten Figuren (die dann der schmerzlichen Wiederkennung des Paares beiwohnen) lautet: MABEL. If she were not such a savage! PURDIE. I daresay there is nothing the matter

with her except that she would always choose the wrong man, good man or bad man, but the wrong man for her. (DB 138)

Wenn sich für Alice jede Entscheidung als falsch erweisen muss, so besteht die Lehre für Dearth darin, dass die an sich richtigen Optionen für ein Leben als Ehemann oder Vater mit seiner künstlerischen Anmaßung nicht in Einklang zu bringen waren – jedenfalls nicht innerhalb der Handlungsebenen in Dear Brutus, weder der magischen noch der ›realen‹. Vor dem Gang der Erkenntnis in der Mittsommernacht, im ersten Dialog zwischen den Dearths, war die Konfiguration noch klar: DEARTH (whose tears would smell of brandy). Perhaps if we had had children. Pity. ALICE. A blessing I should think, seeing what sort of a father they would have.

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Kraus, Die Fackel, Nr. 144, 17. Oktober 1903, S. 2.

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DEARTH.

I daresay you’re right. Well, Alice, I know that somehow it’s my fault. I’m sorry for you. ALICE. I’m sorry for myself. If I hadn’t married you what a different woman I should be. (DB 49)

Nach dem Spiel im Spiel ist das Überlegenheitsgefühl von Alice zerstört. Für sie wäre die Partnerschaft mit dem reichen aristokratischen Freddy Finch-Fallowe noch verheerender als die mit dem Künstler. Noch tiefer blicken lässt jedoch Dearths letzte Replik nach der Rückkehr aus der Traumwelt: Er erkennt Alice wieder und wird damit auf die Nicht-Existenz seiner Tochter gestoßen. »DEARTH. Alice!... I – (He tries to smile.) I didn’t know you when I was in the wood with Margaret. She… she… Margaret…” (DB 137) Dearths (erotische) Reizbarkeit durch Alices ›Wildheit‹ ist demnach nicht vereinbar mit der als Vision kindlicher Unschuld gehaltenen Vater-Tochter-Beziehung. Genau diese hält aber im Traum seine unversiegte künstlerische Produktivität aufrecht. Am Ende des Stückes festigt sich der Eindruck einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen dem Maler und seinem ehemaligen Modell, dass sie sich selbst, um den Preis einander gegenseitig abverlangter, rasch ermatteter sexueller Leidenschaft und schonungsloser Offenheit um die Option gemeinsamer Kinder gebracht haben: nicht dass, wie von Alice als segenshaft bezeichnet, die Kinder keinen würdigen Vater fänden. Bezeichnenderweise entfällt die Rolle der Mutter im Spiel im Spiel von Vater und Tochter Dearth, ohne die Biographie einer Halbwaisen auch nur anzudeuten. Zu seiner Tendenz zur Bevormundung Margarets merkt Dearth ihr gegenüber nur an: »I suppose it’s owing to my having had to be a father and mother both.« (DB 85) Doch in der Zauberwelt erhält die Mutter eine unerwartete und zugleich bezwingende Stellvertreterin: MARGARET (pelting him with nuts). I can’t sleep when the moon’s at the full; she keeps calling to me to get up. Perhaps I am her daughter, too. DEARTH. Glad, you look it to-night. MARGARET. Do I? Then can’t you paint me into the picture as well as Mamma ? You could call it ›A Mother and Daughter‹ or simply ›Two ladies‹, if the moon thinks that calling me her daughter would make her seem too old. (DB 74)

Die Mondscheibe als Adressat stellt seit Jahrhunderten sowohl in der Lyrik einen beliebten Topos dar, als auch (und dies noch länger) ein auf Naturreligionen rückführbares Fertilitätssymbol. Mit dem Dialog von Dearth und seiner TraumTochter Margaret parodiert Barrie nicht nur diese beiden Traditionen, sondern zugleich daran geknüpfte Weiblichkeitsvorstellungen, die mit dem Vehikel der Mond-Metapher transportiert worden sind: von der Wandelbarkeit und Wechselhaftigkeit der unkontrollierbaren Naturgewalt über die süchtigmachende Schönheit bis zur krankhaft ansteckenden Blässe der décadence. Die (altersgemäße) Naivität der Protagonistin im Mittelakt von Dear Brutus bietet die Gelegenheit, dieses Motiv indes mit einer gewissen Nonchalance zu handhaben: »MARGARET (critical, as an artist’s daughter should be). The moon is rather pale to-night, isn’t she?« (DB 73) Scheint das bleiche Gestirn in Oscar Wildes Salomé künftiges Unheil anzukündigen und wird die todbringende Kindfrau in ihrer Blässe mit der Mondscheibe verglichen, so taugt sie Dearth als Vorlage eines Bildes, mit dem er 168

die Naturerscheinung in den Augen seiner Tochter noch übertrifft: »MARGARET (considering the picture). And what a moon! Dad, she is not quite so fine as that.« Aus dem lobenden ästhetischen Urteil der Tochter als kindliche Betrachterin des Werks ihres Vaters leitet sich jedoch rasch eine Kritik ab, die, vordergründig banal, doch punktgenau die Schwachstelle dieser Ästhetisierung der Wirklichkeit trifft: »MARGARET. The world – everything – and you Daddy, most of all. Things that are too beautiful can’t last.« (DB 76) Die Kehrseite des Ästhetizismus und seiner Verschönerung realer Vorgaben liegt darin, dass das Artefakt den realen Zeitverläufen und Verfallserscheinungen nicht gewachsen ist. Jedes Symbol, das die Herausforderungen des (Beziehungs-)Lebens substituiert oder naiv verdrängt, erhöht die Gefahr der narzisstischen Entfremdung. Dass die ›zweite Chance‹ für mehr als eine Nacht Bestand hat, ist insofern auch für die Dearths mehr als fraglich. Denn während Dearths ästhetisches Selbstverständnis offenbar darauf beruht, in der Kunst die Schönheit des Augenblicks reproduzierbar und wiederholbar wie Mondphasen machen zu können, sind die Stadien seiner zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nach Belieben festzuhalten oder wiederzubeleben. Es gibt zu dieser Skepsis gegenüber partnerschaftlichen Bindungen und dem Familienleben mit Kindern Überschneidungen mit der Dichterbiographie Barries, die allerdings der Präzisierung bedürfen: so scheiterte Barries 1894 geschlossene Ehe mit der Schauspielerin Mary Ansell, und es ist darüber gemutmaßt worden, ob die Ehe überhaupt vollzogen wurde. Ohne sich diesen Spekulationen anschließen zu wollen, hat Leonee Ormond in ihre Barrie-Monographie 1987 dennoch eine Randbemerkung eingeflochten, die für das Figurenverhältnis der Dearths in Dear Brutus nur von Relevanz ist, wenn man Alice Dearths gesellschaftlichen Ehrgeiz außer Acht lässt: »it is certain that Barrie was a less than eager lover, and never satisfied his wife’s strong sexual instincts.«104 Vergleichsweise ergiebiger, was die Enttäuschung der Mrs Dearth im zweiten Leben als Mrs Finch-Fallowe anbelangt, wirkt die zweite Ehe von Mary Barrie, die sie mit dem jüngeren Schriftsteller Gilbert Cannan schloss und die ein noch größeres Desaster wurde als die Ehe mit Barrie, den sie 1909 verlassen hatte. Sicherlich hat Barrie in seiner Ex-Gattin ›die Frau, die sich zwangsläufig immer für den (für sie) falschen Mann entscheidet‹, gesehen, bevor er mit Alice Dearth dieses Beziehungsschema im Drama reflektierte. Doch finden sich zu diesen biographischen Übereinstimmungen deutliche Abweichungen zwischen der Künstlerehe der Dearths und ihren möglichen Vorbildern, den Barries. Diese Widersprüche begünstigen es, dass Barries (Tragi-)Komödie stärker als eine weiter gefasste, kritische Beschäftigung mit dem Künstlermilieu seiner Umwelt verstanden werden kann, als dass man dieser Auseinandersetzung durch Beschränkung auf Barries Biographie und Enttäuschungen in Beziehungsfragen habhaft werden könnte. Vor allem für den Versuch von Alice Dearth, die zweite Chance an der Seite eines Partners aus der höheren Gesellschaft zu nutzen, wären weitere Vergleiche zu bemühen. Nicht nur das Verhältnis von Barrie zur von ihm bewunderten Mutter Sylvia Llewelyn Davies, die mit dem Schriftsteller und Zeichner George Du Maurier als Vater und dem Bruder Gerald, einem Schauspieler, ebenfalls einer musischen Familie angehörte. Nachdem Sylvia, drei Jahre nach dem

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Ormond, S. 4.

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Tod ihres Mannes, wie dieser 1910 an Krebs gestorben und der von seiner Frau verlassene Barrie gleichzeitig zum Vormund der fünf Waisenjungen (von denen nur einer das Erwachsenenalter erreichte) und wiederum zum Junggesellen geworden war, lebte er in der direkten Nachbarschaft zu Bernard Shaw. Shaw war 1898 die Ehe mit Charlotte Payne-Townshend eingegangen, die ihm zwei Jahre vorher im Kreise der Fabier an der School of Economics vorgestellt worden war. Charlotte Shaw repräsentierte in ihren Mädchenjahren viele der Gegensätze, zwischen denen sich Frauen der Gesellschaft Großbritanniens auf der Schwelle zur »Moderne« bewegten. Väterlicherseits aus Derry stammend, gehörte sie zu jenen Familien reicher Industrieller, deren Töchter sich aus der Sicht ihrer Eltern (im Hause PayneTownshend nach dem frühen Tod des Vaters und der Mutter) »möglichst in den Hochadel«105 ›hineinverheiraten‹ sollten. Im Gegensatz zu Virginia Woolf wird man Charlotte Shaw nicht der »Statusgruppe« der »Geistesaristokratie« zurechnen können, doch gehörten ihre Sympathien entgegen dem gesellschaftlichen Ehrgeiz der Mutter unverhohlen einer Generation für den Feminismus bedeutender Frauen, zu der »Sozialreformerinnen wie Beatrice Webb, Ray Strachey, Margaret Llewelyn Davies und Molly Hamilton, Pädagoginnen wie Pernel Strachey und Margery Fry, Ärztinnen wie Octavia Wilberforce und Elinor Rendel«106 gerechnet werden können. Erstere schilderte in einem Tagebucheintrag vom 16. September 1896 die unverheiratete Charlotte Shaw so: She is romantic but thinks herself cynical. She is a Socialist and a Radical, not because she understands the collectivist standpoint, but because she is by nature a rebel. She has no snobbishness and no convention; she has »swallowed all formulas« but has not worked out principles of her own. She is fond of men and impatient of most women; bitterly resents her enforced celibacy but thinks she could not tolerate the matter-of-fact side of marriage. Sweet-tempered, sympathetic and genuinely anxious to increase the world’s enjoyment and 107 diminish the world’s pain.

Da der in jungen Jahren als Frauenheld berüchtigte Bernard Shaw auch in der Ehe nur schwer im Zaum zu halten war, lernte seine Frau Charlotte noch ganz andere ›Wirklichkeitsseiten‹ dieses Familienstandes kennen, vor allem als 1913 Shaws über Jahre gehegte und zunehmend gesteigerte Leidenschaft für die Schauspielerin Mrs Stella Patrick Campbell ihren Höhepunkt erreicht. »Shaws Bemühungen, sich zwischen Charlotte und ihr im Gleichgewicht zu halten«, provoziert die Campbell schließlich dahingehend, »sich auf das zu werfen, was sie als die Schwachstelle der Shawschen Ehe ansah: ihre Kinderlosigkeit.«108 Schließlich kann die Campbell nur mit Mühe ihre Kompromittierung abwenden, indem sie einen Ferienaufenthalt in Ramsgate abrupt abbricht, um Shaws dortigen Nachstellungen zu entgehen. Es ist die gleiche Zeit, in der Shaw mit der Eliza Doolittle in Pygmalion versucht, endlich die Dramatiker-Kollegen auszustechen und Stella Patrick Campbell dazu zu bringen, eine von ihm eigens auf sie zugeschnittene Rolle zu kreieren. Dieses Unterfangen ist schließlich, wenn auch auf Umwegen, von Erfolg gekrönt, ganz im Gegensatz zu

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Holroyd, S. 369. Hermione Lee, Virginia Woolf, Frankfurt a. M. 1999, S. 80. Beatrice Webb, Our Partnership, hg. von Barbara Drake/Margaret I. Cole. Cambridge 1975, S. 90. 108 Holroyd, S. 629. 106 107

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Shaws Liebesavancen, die nach dem Erlebnis von Ramsgate nachlassen und im Briefwechsel eine zwischenzeitliche Verstimmung und Reserviertheit beider Seite nach sich ziehen. Sowohl Shaw als auch der Campbell steht Barrie als gemeinsamer Freund vermittelnd und beschwichtigend zur Seite, in seiner eigenen Perspektive sogar »väterlich«, wie er einige Jahre später (brieflich am 21. November 1921 an Campbell), freilich mit feiner Ironie bemerkt, als die aufgrund ihres verblassten Starruhms finanziell angeschlagene Campbell Barrie um seine Zustimmung zur Veröffentlichung der miteinander gewechselten Briefe bittet.109 Doch alle väterliche Abgeklärtheit wird Barrie nicht darüber hinweggetäuscht haben, dass sich in den außerehelichen Sehnsüchten und Projektionen, welche die Schauspielerin und Mutter Stella Patrick Campbell bei Shaw auslöste, auch das eigene Dilemma des Künstlers zwischen poetischer Phantasiewelt und einem Kompromisse erfordernden Familienleben widerspiegelte. Deutlich sind sowohl der vaterlose Künstler Dearth als auch sein in die Tochter vernarrtes Alter Ego der Traumhandlung von der Diskrepanz betroffen, die aus dem männlichen Verhalten entsteht, bei der Idealisierung der Weiblichkeit nicht vom alten viktorianischen Geschlechterbild abrücken zu können, nach welchem bis in die Zeit zwischen den Weltkriegen feste Rollen zugeordnet wurden: »den Frauen eine ›anabolische‹, will sagen eine bewahrende passive Natur [...], den Männern eine katabolische, d.h. aggressiv-aktive«110. Selbst Sexualforscher wie Havelock Ellis und Marie Stopes, die 1918 mit ihrem ersten Buch (und Bestseller) Married Love Aufsehen erregt, gehen noch von dieser Vorstellung aus. Barrie legt mit dem fiktiven Beispiel der Dearths nahe, dass sich dieses Verhältnis umdrehen kann, nachdem das Werben des Mannes von Erfolg gekrönt und von der Sehnsucht nach Verständnis für seine (speziell künstlerische) Betätigung abgelöst worden ist. Findet sich in der Ehe der Dearths das Motiv der erloschenen Leidenschaft und verpassten Chance auf Familiengründung parallelisiert mit versiegter Kreativität und sozialem Prestigedenken, so ist die Harmonie im Vater-Tochter-Verhältnis ihrerseits von Momenten durchsetzt, die das heranwachsende Mädchen ins Licht einer modernen Variante des Mythos von Pygmalion rücken. Nur müsste, anders als die Eliza Doolittle in Shaws Stück gleichen Namens, Margaret sich einer Erziehung entziehen, deren wissenschaftlicher Zugriff, nicht ausgehend von der Alltagskommunikation, eine Veränderung des gesamten Habitus der Probandin nach sich zieht. Vielmehr begreift Dearth Margaret, wie auch sie sich selbst, ganz und gar als Geschöpf ihres Vaters, das eines Aktes der ästhetischen Ausarbeitung (nicht der biologischen Zeugung), bis ins kleinste physiognomische Detail, bedurft hat: »MARGARET. I know I have nice ears. DEARTH. They are all right now, but I had to work on them for months.« (DB 87) Nicht nur die akustische Wahrnehmung der Tochter, auch ihre Kommunikation mit einem möglichen Schwiegersohn, steuert Dearth, der, wie bereits zitiert, dem Kind Vater und Mutter gleichzeitig ist. Während er in seinem anderen Leben so beschäftigt gewesen ist, die Ohren seiner Frau ästhetisch wiederzugeben, dass er darüber versäumt hat, sich bei ihr Gehör zu verschaffen, nutzt Dearth seine zweite

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Viola Meynell (Hg.), The Letters of J. M. Barrie, London 1942, S. 39. Ingrid von Rosenberg, Die Emanzipation der Sexualität und die Entdeckung des Unbewußten. In: Bode/Broich, S. 148.

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Chance dahingehend, seiner Tochter solange an den – modell- und vorbildlosen – Ohren zu ›schnitzen‹, bis diese gar keine eigene Wahrnehmung der Welt mehr hat. Der Zauberwald wird damit zu einer Widerspiegelung der hermetischen Kunstwelt eines jeden, der dort seine Illusionen nach außen kehrt, von denen er selbst gefangen genommen ist. Davon wird der Künstler Dearth keineswegs ausgenommen und idealisiert (was die Beziehung zur Tochter auf den ersten Blick suggeriert). Er entpuppt sich nach und nach als gefangen in einer Weltsicht, die eine geschlechtsatypische Aggressivität seiner Ehefrau (nicht berechenbar wie die Mondphasen und zwischen den Extremen der Verliebtheit und der Zerfleischung) ausschließt. Die narzisstische Kränkung, dass die Frau seiner Kunst kein Interesse entgegenbringen könnte, hemmt seine Kreativität. Der Rückzug Will Dearths in die Inferiorität des Alkoholismus wird zu einem Reflex seiner Furcht vor dem Leben und der Familiengründung, jener »Dschungelfurcht«, die Ralph-Rainer Wuthenow bereits in Henry James’ Erzählung The Beast in the Jungle aus dem Jahr 1903 (also ein Jahr vor der ersten Konzeptionsphase von Dear Brutus) am Wirken sieht, in der sich der Protagonist und Künstler John Marcher nicht an die Frau seines Lebens May Bartram binden will. Doch anders als John Marcher, der sich auf die Beziehung gar nicht erst einlässt, weil er auf den Sprung der Bestie aus dem Dickicht heraus wartet (ein Bild für den Ruck, der durch sein schöpferisches Leben gehen soll), kommt Will Dearth, der beim Werben um Alice in ihr eben jene instinktive Lebensenergie und Kreativität gefunden zu haben glaubt, an den Punkt der Lebensfurcht und Flucht, wo es gilt, die »Realien des Lebens«111 in seinen artistischen Kosmos eindringen zu lassen. Das Resümee bleibt bei James wie bei Barrie das gleiche, wenn auch bei Letzterem noch mit einer Hintertür, die durch eine mögliche Besinnung nach dem Erwachen aus dem Traum im Zauberwald offengehalten wird: »So wird ein Leben, nein, zwei Leben werden vertan, verwartet und vergeudet.«112 Vor diesem Hintergrund fällt es jedenfalls schwer, das Zauberspiel Dear Brutus um menschliche Selbsterkenntnis als eine Form von Eskapismus abzustempeln, mit der Barrie auf die Bedürfnisse eines vom Kriegsschicksal verfolgten Publikums reagiert. Dear Brutus unterscheidet sich in einem weiteren wichtigen Punkt von anderen Stücken Barries, über welche dieses Urteil eher zu fällen wäre: Das Spiel im Spiel lässt die Unveränderlichkeit der gesellschaftlichen Ordnung nur noch stärker hervortreten. Wolfgang Kollbau hat auf die Ausweitung von Barries ›Leitmotiv‹ der menschlichen Grunderfahrung von Isolationserfahrung und ihrer Verschärfung in einem »insularen Sonderbereich«113 verwiesen, die in Dear Brutus erfolgt. Dabei verdient der metapoetische bzw. metadramatische Aspekt, der bereits im Titel anklingt (und der in der deutschen Übersetzung Johannisnacht unglücklicherweise verloren ging), eingehende Berücksichtigung. Die Grenzüberschreitungen des Textes werden um ein weiteres Stück ausgeweitet. Mit der im ›Traumspiel‹ durchlebten Affäre Lady Carolines mit dem Diener Matey variiert Barrie das Grundmotiv von der Aufhebung sozialer

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Wuthenow, S. 183. Ebd., S. 176. Wolfgang Kollbau, Das Thema der Isolierung in der Dramatik von James M. Barrie, Freiburg i. Br. 1969, S. 246.

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Niveauunterschiede, das schon Barries Erfolgsstück The Admirable Crichton von 1892 bestimmt hat: der vorübergehende Aufstieg eines sozial Niedrigstehenden unter vorübergehend veränderten Bedingungen seines sozialen Umfeldes, der sich letztlich nur als eine verunglückte Versuchsanordnung erweist. Während dort eine idealistische Überwindung der sozialen Kluft im Spiel möglich wird, bleibt sie in Dear Brutus ohne Möglichkeit der Durchbrechung, da sich die sozialen Rollenmuster unverrückbar in der Psychologie der Lady und des Dieners eingegraben haben, mag auch an beider Festgefahrenheit in den Augen der anderen dramatis personae kein gutes Haar gelassen werden. Die Trans- und Regression der Figuren Purdie, Mabel und Johanna verweisen in ihrer Scheinhaftigkeit auf die Gefahr der Selbsttäuschung und Eitelkeit männlicher Partnerwahl, die austauschbare erotische Faszination in ein Phantasma der ewigen Harmonie mit der im jeweiligen Moment begehrten Frau verwandelt. Coades vollkommener Rückzug in die asexuelle Isolation verhält sich dazu als unbeholfene Ausflucht, in der die Ehefrau nur Luxus, keine Notwendigkeit der Schöpfung bedeutet. Die ›dekadente‹ florale Metaphorik des Gärtners Lob, Gastgeber der Träumer und Kobold nach der Prägung von Shakespeares Puck, stellt für alle diese partnerschaftlichen Modelle nur das anfangs angedrohte Verschwinden im Zauberwald, ein Verblühen ohne Wiederkehr in Aussicht. Aber auch die Ehe der Dearths muss nach der lehrreichen Nacht zuerst zurück auf den richtigen Weg gebracht werden, den Dearths Vision von der Tochter Margaret angedeutet hat. Im zweiten Akt beugt sich Margaret über einen Teich als Spiegel, um ihre Haare hochzustecken – ein Symbol für das Reifen des Mädchens zur Frau, das ›Flüggewerden‹ unter den Fittichen des Vaters. Noch einmal gleitet die Wasserspiegelung wie in der fin de siècle-Lektüre des Mythos vom Narcissus durch den märchenhaften Dramentext. Barries Drama nähert sie (denkt man an Goethes Faust II) einer weiblichen Euphorion-Figur an, um einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Desorientiertheit zu weisen. Das Theaterstück Barries richtet nicht, wie Hofmannsthals Erzählung und das Opernlibretto Die Frau ohne Schatten aus der gleichen Epoche, einen emotionalen Appell an sein Publikum und lässt kein Hohelied auf die Liebe zwischen Eltern und Kindern singen. Es hält vergleichend individual- und sozialpsychologische Strukturen neben- und gegeneinander, innerhalb derer ein Künstler durch das Verlassen seiner selbst gewählten Isolation im Geiste der Jahrhundertwende-Boheme einen neuen Aufbruch markieren könnte. Die Möglichkeiten der Realisierung bleiben eine offene Frage. Ein Problem der Rezeption von Dear Brutus ergibt sich daraus, dass die Komponente eines auf Projektionen Dearths beruhenden Charakters für die Figur Margarets von der ersten Aufführung an übersehen wurde; das Vater-TochterVerhältnis wurde nach Maßgaben realistischer Dramatik psychologisiert; so hat Kollbau noch 1969 Barries Zeitgenossen H. M. Walbrook zitiert, um selbst nahtlos an dessen Auslegungsart anzuknüpfen: »The scenes between this pair, the father and the child, literally ›made‹ the play. Within a week all London was talking of them… Nothing could have been sweeter than the spirit in which they were conceived, or more exquisitely delicate than the art with which they were [2] composed.« In die psychologisch feinfühlige Nachzeichnung der seelischen

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Schwingungen zweier Menschen, die trotz dunkler Schatten, die sich ihnen zeitweise 114 nähern, füreinander dasein wollen, hat Barrie sein ganzes Herz hineingelegt.

Damit gerät unweigerlich aus dem Sichtfeld des Rezipienten, wie Barrie seine individuell gezeichneten Rollenentwürfe der Exposition im zweiten Akt aus den gängigen individualpsychologischen Schemata herauslöst und sozialpsychologischen Faktoren (z.B. Standesbewusstsein, Zurücksetzung durch Scheidung und Vaterschaft) akzentuiert. Noch im simplen ›Rollentausch‹ verweisen sogar Mabel und Joanna auf die immer nach einer Seite hin unerfüllbare Leidenschaft des notorischen Ehebrechers Purdie, ohne dabei einer individuellen Rollenzeichnung zu entbehren: Sie gehen jeweils gegensätzlich und komplementär mit der Dreieckskonstellation um. Die Ehe des zum Lord ›hinaufgeheirateten‹ Bediensteten Matey mit Lady Caroline bringt nur vollends seinen Materialismus im Gewand eines zigarrerauchenden, prahlerischen Rolls-Royce-Besitzers zum Vorschein, während Caroline ihn (verdreifacht: im Spiel im Spiel im Spiel) mit infantilen Kosenamen überhäuft, sich selbst als Rosalinde und ihn als Orlando aus noch einem anderen Shakespeare-Waldstück apostrophiert (woraufhin die Nachtigall sogleich Reißaus nimmt, DB 60). Dem Protagonisten Dearth präsentieren die Tochter und die verhinderte Ehefrau zwei miteinander in Einklang zu bringende Seiten seiner Veranlagung, der verspielten Naivität und dem wohltätigen Verantwortungsgefühl. Margaret dabei als »geistige Vorläuferin einer Mary Rose«115 in eine geschlossene psychologische Rollenkonzeption umzuwerten, ist problematisch: Mary Rose ist die Titelfigur in einem weiteren Barrie-Drama (1920), deren Tragik dadurch konstituiert wird, dass als zwischenzeitlich verschollene ›reale‹ Figur aus einem zeitenthobenen Zustand nicht mehr in die reale Zeit zurückfindet. Dagegen baut Dear Brutus durch das Figurenkonstrukt Margaret als Manifestation von Dearths Wunschtraum ähnliche Widerstände aufbaut, wie sie 45 Jahre später Stanislaw Lem in seinem Roman Solaris (wie auch die Film-Regisseure Andrej Tarkovski und Steven Soderbergh bei ihren Verfilmungen) so faszinierend ausgeformt hat. Der Zuschauer/Leser kann den wichtigsten Dialog-Partner eines Protagonisten nur en abyme durch das ›Bewusstsein‹ der Figur wahrnehmen, der sie durch seine Erinnerungen/Wünsche zum Leben erweckt. Die Urszene in Dear Brutus zwischen Vater und Tochter, deren Blick in den Wasserspiegel eine Abkehr vom ewig geschlechtlosen und unreifen Narcissus und die Hinwendung zur Akzeptanz des Alterns und der Reife bringen soll, birgt eine Verweisstruktur: zurück auf den antiken Mythos und die Notwendigkeit für den Künstler Dearth, seine Kreativität (anders als die der Ästheten des fin de siècle) im unaufhaltsamen Fluss der Zeit zu bündeln. Ob der Kinderwunsch in dieser Realität noch Erfüllung finden kann, bleibt offen, jedenfalls nachdem Barrie das Ende in der edierten Version von Dear Brutus im Vergleich zur Uraufführung geändert hat: Unhappily, his [Barrie’s] nerve failed him at the time of the first production, and he reintroduced Margaret, skipping behind her ›parents‹ in a tableau which preceded the fall of the curtain. By the time of the Uniform edition, however, Barrie recognised that he had fal-

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Ebd., S. 176. Das englische Zitat entstammt H. M. Walbrook, J. M. Barrie And The Theatre, London 1922, S. 143. 115 Ebd., S. 175.

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sified the conclusion of the play. Margaret was omitted from the third act, and the final concord between the Dearths becomes a more uncertain, tentative thing, deprived of un116 natural brightness.

Mag aus der Perspektive des ausgehenden 20. Jahrhunderts dieser ursprüngliche Bühnenschluss unnatürlich aufgehellt erscheinen, so vermittelte er in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs doch eine klare Botschaft des Aufbruchs, und das ausgehend von der Figur des in Lethargie versunkenen Künstlers. Es liegt aber wahrscheinlich nicht nur am offenen Ende, dass in späteren Jahren ausgerechnet diese Figuren- und Konfliktzeichnung auch Befremden hervorrief. Graham Greene sah jedenfalls anlässlich einer Wiederaufnahme von Dear Brutus im Globe Theatre, die er am 24. Januar 1941 im Spectator rezensierte: The flaw is Dearth, the artist, his unsatisfactory wife and the daughter who might-havebeen. Barrie should have kept, like Wilde, to the surface, for below the surface he discov117 ered only a rather shameful infantilism and an immense self-pity.

Nach der Vorrede von Wildes The Picture of Dorian Gray gilt für die Kunst: »All art is at once symbol and surface. Those who go beneath the surface do so at their peril.«118 Wenn Graham Greene zu erkennen glaubte, Barrie sei dieser Gefahr erlegen, könnte man Greene genauso gut nahtlos bei Wilde anschließen und entgegnen: »Those who read the symbol do so at their peril. It is the spectator, and not life, that art really mirrors.«119 Graham Greenes Position fügt sich einerseits in das Teilbild einer englischen Gesellschaft, die auch nach dem Ende des Viktorianismus und dem Schock des Ersten Weltkrieges ihre Ressentiments gegenüber der künstlerischen Selbstreflexion pflegt, ohne dieser außer dem anhaltend als suspekt empfundenen Prinzip des l’art pour l’art die Anbindung an eine konkrete soziale Wirklichkeit zuzugestehen. Andererseits behaupten sich, so wie Schnitzler mit seiner Traumnovelle, in der englischen Kulturszene der 20er Jahre, während sich die Moderne formiert – in der Literatur bekanntermaßen an vorderster Stelle vorangetrieben durch Verfasser einer revolutionären Narration wie Joyce, D. H. Lawrence und Virginia Woolf – mit anhaltendem Erfolg Texte, etwa von Arnold Bennett, John Galsworthy und H.G. Wells, die noch weitgehend einem viktorianischen Literaturkonzept verpflichtet waren, die aber trotzdem – oder eben 120 deshalb – weit höhere Verkaufszahlen erreichten als die der modernistischen Neuerer.

Diese Texte haben trotzdem zeitnah die schwierige Vereinbarkeit der alten Lebensentwürfe mit dem gesellschaftlichen Umbruch in den Nachwehen des Ersten Weltkrieges zum Inhalt. Exemplarisch auf diese Thematik richtet der Nobelpreisträger John Galsworthy die Fortsetzung seiner Forsyte Saga aus, deren erzählte Ereignisse er im Jahr 1881 hatte einsetzen lassen, und an deren Verwicklungen er die zweite Trilogie dieses Erzählkomplexes, die Modern Comedy,

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Ormond, S. 125. Zitiert nach Markgraf, S. 132f. Wilde, The Picture of Dorian Gray, S. 168. Ebd. Ulrich Broich/Christoph Bode, Die Zwanziger Jahre: ein Jahrzehnt voller Gegensätze. In: dies., S. 13.

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im London des Jahres 1922 anknüpfen lässt. In The White Monkey, dem ersten Teil dieses Gesellschaftsporträts der Zwischenkriegszeit, lässt Galsworthy die Gegensätze der späten viktorianischen Zeit und der Kriegsgeneration aufeinanderprallen. Im Mittelpunkt steht die von Distanz und Enttäuschung beherrschte Ehe der Forsyte-Tochter Fleur mit dem Verlagsteilhaber Michael Mont, der, wie sein bester Freund, der Dichter Wilfrid Desert (dessen unglückliche Liebe zu Fleur statt in einer klassische Dreiecksbeziehung in resignativer Flucht Deserts in die afrikanische Wüste endet), über die Kriegserlebnisse den Anschluss an das alte England der Vorkriegszeit verloren hat, noch weniger aber in den Nihilismus und die anhaltende kapitalistische Ausbeutung des Wiederaufbaus einwilligen möchte. Einem einfachen Arbeiter, den er wegen Diebstahls aus seiner Firma entfernen muss, will Michael Mont den Traum von einer Emigration ins vermeintliche australische Paradies ermöglichen, indem er dessen Frau, eine femme fragile von besonderer Delikatesse, als Aktmodell an einen befreundeten Maler namens Aubrey Greene vermittelt – der gemeinsame Vorname mit Beardsley erweist sich nicht in der Charakterisierung, wohl aber in der Stilistik der Figur als begründet. Doch so erfolgreich dieses Unterfangen in ästhetischer Hinsicht – denn die ebenso zarte wie herbe Arbeiterehefrau inspiriert nicht nur Greene zu einem wirkungsvollen Bucheinband und einem Gemälde – und unter finanziellen Gesichtspunkten ist, so sehr erschüttert es die bis dahin intakte Ehe des Modells, dessen Ehemann sich bei der Entdeckung der plötzlichen Geldquelle seiner Ehepartnerin, die er nackt abgebildet in einer Galerie hat hängen sehen, beinahe dazu hinreißen lässt, das gemeinsame Glück der Wut und der ›alten‹ Moral zu opfern. Anstelle des Malers, dessen Familienleben wie das Dearths in Dear Brutus der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt ist, enthält Galsworthys Roman das knappe und scharf umrissene Porträt eines Malers, dessen Beruf den familiären Zusammenhalt anderer gefährdet. Während viele Kritiker an Galsworthys Prosa der 20er Jahre jene naturalistische Sozialkritik vermissen, mit der er vor dem Ersten Weltkrieg auf die materiellen Nöte und Sorgen der Unterschicht aufmerksam gemacht hatte, gilt sein Augenmerk in The White Monkey den moralischen Differenzen zwischen den Schichten, die gerade im Umgang mit Kunst und Künstlern ein Richten mit zweierlei Maß offenbaren. Der Ehemann Michael, der seinerseits kaum den eifersüchtigen Verdacht aushalten kann, dass seine Frau mit dem befreundeten Dichter eine Liaison eingehen könnte, findet im Umkehrschluss nichts dabei, die hübsche Arbeiterfrau begehrlichen Blicken, die sich auf Bucheinbände oder auf in Kunstgalerien aushängende Bilder richten, auszusetzen. Für Michael zählt nur, dass er Aubrey als Ehrenmann schätzt, der die Situation des Aktmalens nicht für sich ›ausnützt‹. Er lässt außer Acht, dass die für die Frau so verfänglichen Momente im Kunstwerk des Bildes für die voyeuristischen und selbstgefälligen Blicke derer perpetuiert werden, die diese Kunst erst ermöglichen und dann konsumieren. Der Kunst und ihren Schöpfern ist es allenfalls vorbehalten, das ihr zugrundeliegende System verdoppelnd wiederzugeben und seine Ungerechtigkeiten zu bestätigen. Galsworthys Gesellschaftsporträt Englands vor und zwischen den Weltkriegen schließt den Künstler als eine beobachtende und nachzeichnende, nicht aber mitgestaltende Größe ein. Wie für Graham Greene kann bei Galsworthy die schöpferische Phantasie weder die Wirkung eines Katalysators noch die einer Katharsis sozialer Konfliktspannungen entfalten, da sie auf die spiegelnde Oberfläche festgelegt bleibt. 176

Barries poetische Konzeption bleibt ein Sonderweg ohne prominente Mitstreiter oder Nachahmer. Nach den großen Erfolgen mit Dear Brutus und Mary Rose versinkt der schottische Erfolgsdramatiker für anderthalb Jahrzehnte in Schweigen. Erst für ein biblisches Sujet wendet er sich ein letzten Mal der Bühne zu, und es ist einerseits eine Schauspieldiva in der Tradition der Bernhardt und der Duse, die ihm zum idealen Protagonisten wird, andererseits hat sich Elisabeth Bergner spätestens 1924 durch ihre Darstellung von Shaws Johanna von Orleans und die Zusammenarbeit mit Max Reinhardt aus dem Schatten dieser Vorgängerinnen gelöst. Als ihr der letzte überlebende Adoptivsohn Peter Llewelyn Davies Barrie vorstellt, soll laut den Lebenserinnerungen die Beschreibung eines Rembrandt-Gemäldes die beiden für Barries letztes großes Bühnenprojekt zusammengeführt haben: Ich mußte ihm das ganze Bild beschreiben, und versuchte zu erklären, was mich so erschüttert hatte: wie Saul auf den Harfe spielenden David mit dem Wurfspieß zielt und sich gleichzeitig mit der anderen Hand die Tränen abwischt mit dem Zeltvorhang. Und das verzweifelte, verhärmte Gesicht Sauls und das unschuldige strahlende Gesicht Davids. Barrie war aufgestanden. Die Pfeife war wieder ausgegangen. Er legte sie weg und sagte: 121 »That’s my play.«

Barrie interessierte also an der biblischen Erzählung von David und Saul vor allem die Krisensituation, in der sich der musisch betätigende Knabe, für den die Bergner eine ideale androgyne Verkörperung zu sein schien, in einer militarisierten Welt zu behaupten hat und der ihn als Rivalen um den Thron erkennende König Saul ihm zugleich ans Leben will und unwillkürlich von seiner Erscheinung und seinem Gesang gerührt ist. Die Begegnung zwischen Saul, der sich bei seiner Figurenexposition zu Anfang des zweiten Aktes einen Affront gegenüber Samuels Boten geleistet hat und dafür wie von der Geißel Gottes mit einer umgehenden temporären Amnesie bestraft worden ist, stattet Barrie folgerichtig mit der gegenseitigen Sympathie von König und einfachem Knaben aus. Die Koinzidenz in der Kindheit verbindet sie, jeweils als Schäfer für die große Herde des Vaters verantwortlich gewesen zu sein. Noch vor der Harfe verstärkt die Pantomime in der Form eines beinahe satyrhaften Tanzes, die integrative Kraft des Erinnerungsaustausches zwischen David und Saul, die für Letzteren die Rückbesinnung auf ein verlorenes Paradies bedeutet. SAUL. Ah me, none of my goats danced. DAVID (proudly). Two of my father’s goats

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dance, as thus. (He shows)

Der kindlich-verspielte Umgang miteinander (eine weitere meta-dramatische Einlage sind die drei Rätselfragen Sauls an David, ohne dass wie bei Turandot um das Leben des Antwortgebenden gespielt wird) kommt zu einem Abschluss, als die gegenseitige Zuneigung begründet werden soll: Sauls Begründung bringt seine innere Entwicklung und Entfremdung von sich selbst auf den Punkt: »I believe you are close to me because I was such as you when a boy.« Dagegen wird mit Davids Erklärung in tragischer Ironie einerseits sein weiteren Weg auf den Thron vorge-

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Elisabeth Bergner, Bewundert viel und viel gescholten, München 1978, S. 113. J. M. Barrie, The Boy David, London 1938, S. 73.

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zeichnet, andererseits legt sie die Komponenten der Alter-Ego-Persönlichkeit offen, die Davids Handeln bereits im Elternhaus des ersten Aktes von Barries Drama zugrunde gelegt worden sind und in seinem Hang zum mimetischen Nacheifern und -spielen Anderer bis zum (von der »Spielleiterfigur« Samuel anvisierten) Punkt ekstatischer religiöser Exaltation ihren Ausdruck finden: »I think it must be because I want to be such as you when I am a man.«123 Der Zwiespalt dieser Figur an der Schwelle des Verlustes kindlicher Unschuld wird bis zum Ende des Dramas erhalten, ja sogar im dritten Akt intensiviert, in dem Davids weiteres Leben in einer filmschnittartigen Traumsequenz des in sein Elternhaus Zurückgekehrten abläuft, und dieser Traum seinerseits im abschließenden Dialog zwischen David und Jonathan reflektiert wird. Diese rasche Szenenabfolge hat allerdings zur Folge, dass diese Begegnung nicht mehr die dialogische Dichte der beiden Dialoge zwischen Saul und David aufweisen können. Dazu passt auch, dass Shaw trotz mancher Vorbehalte gegenüber der Londoner Erstaufführung, die er in seiner Rezension äußert, das erste Gespräch zwischen Saul und David als eine der ergreifendsten Sequenzen beschreibt, die er seit jungen Jahren auf der Bühne verfolgt habe. Wenn auch ungewollt, so bestätigt er damit die überwiegenden Pressestimmen, die das Stück im Hintertreffen gegenüber den zeitgenössischen kulturellen Entwicklungen sehen.124 Dazu gehören zum einen die Popularisierung des Films und der leichten Unterhaltung wie des Musicals auf den Bühnen, zum anderen jener in den 20er Jahren einsetzende high modernism in der Literatur Großbritanniens, der sich, betrachtet man die Meilensteine im Schaffen von Eliot, Joyce und Virginia Woolf, primär in der narrativen Form herausbildet. Tatsächlich konnten wohl nur Angehörige der Generation Shaws, der seiner Künstlerfigur Dubedat noch die Transformation einer biblischen in eine dichterische Vision (die des brennenden Dornbuschs) in den Mund gelegt hat, Barries Vorgehen nachvollziehen, den Knaben David zum naiven Psalmen-Dichter zu machen. Die Bibel dergestalt einer metapoetischen Hinterfragung zu unterziehen, widerspricht der Mode des Mysteriums im beginnenden 20. Jahrhunderts jedoch mehr, als es an sie anknüpft. Denn nach Barrie leiden sowohl Saul als auch David an den Selbstzweifeln, die ihnen das Erwachen aus dem Zustand der religiösen Beseelung und des fanatischen Glaubens bereitet. Die Szene des Kennenlernens zweier AlterEgo-Persönlichkeiten an unterschiedlichen Stationen ihres Lebens- und Glaubensweges zeigt Entsprechungen zum Vater-Tochter-Verhältnis des Malers Dearth und seiner Margaret in Dear Brutus: In beiden Konfigurationen bezaubert die adaptionsfreudige und (gut-)gläubige Naivität, wenngleich nur vorübergehend, eine in seinem festgelegten sozialen Rollenschema ermüdete und verunsicherte Psyche. Insofern könnte man Greenes Vorwurf des unterschwellig Infantilen und Selbstmitleids einer gekränkten Ästhetenseele auch für die Konzeption von The Boy David erheben. Doch räumt gerade Barries letztes Bühnenstück der Abstraktion großen Platz ein, die mit dem kreativen Menschen auch den Politiker als Repräsentanten seiner Gesellschaft den Gesetzen der Phantasie und ihrer Krisen unterstellt. Der Verlust kindlich-spielerischer Souveränität beim Heranreifen des Erwachsenen kann nach The Boy David nur in einem Glauben aufgefangen werden,

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Ebd., S. 77. Bergner, S. 164.

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der zu den Kunstreligionen des fin de siècle auf Distanz gerückt wird: Dieser Glaube beruht auf Subordination unter ein göttliches Prinzip, das sich im von ihm Erwählten verwirklicht, unter dem der auf ein »Medium« reduzierte Auserwählte aber mit immer wiederkehrenden Gefühlen der Wertlosigkeit zu kämpfen hat, wie am Ende des Dramas der Protagonist: »DAVID (in despair) He did not need my help. (With a cry) I want to do something all by myself.«125 Nur das ehrgeizige Ziel des Königtums, das auf der Bühne dem ersten Repräsentanten der Schauspielkunst entspricht, kann diesem Gefühl kindlicher Zurücksetzung Abhilfe schaffen, um den Preis der Freundschaft und Familie. So hoch ist der Preis für die Negation der individuellen Stärke, die auf die Spitze getriebene, von Gide angemahnte Form der modération.

6.5 Schauspielertheater – Gides Saül André Gide hatte bereits Jahre zuvor ein Drama über das biblische Sujet von Saul und David verfasst, das erst mit einiger Verspätung auf die Bühne gelangte, und dennoch auf bereits weitaus radikalere Art und Weise das Theater an seine Grenzen führen sollte als das ›Traumspiel‹ am Ende von Barries Boy David. Die Ausarbeitung von Saül durch Gide war, wie im Vorwort der Ausgabe von 1903 erwähnt, 1897 begonnen worden. Im Frühjahr 1898 erfolgte die Fertigstellung. Eine erneute Begegnung Gides mit Oscar Wilde, der sich zu dieser Zeit in Paris aufhielt, veranlasst Jonathan Fryer, bei seiner Beleuchtung des literarischen Verhältnisses zwischen dem Franzosen und Iren, zu der These, in der biblischen Titelfigur des Dramas eine literarische Hybridisierung beider Schriftsteller zu sehen: Like Ménalque, Gide’s highly fictionalised Saul was a composite figure made up largely of Oscar Wilde and himself. Gide described the subject of his play as the ruin of the soul and the bankruptcy and annihilation of personality brought about by non-resistance to temptation. In the case of Gide’s Saul, the temptations are both aesthetic and sexual. At times, when Saul speaks in the play it sounds as if it is Oscar Wilde talking: »The least sound, the faintest perfume takes possession of me, my senses are open to the outside world, and no 126 sweet thing passes unperceived by me.«

Wie so oft bei der Analyse von dramatischen Texten, fordert das Ziehen einer solchen Parallele zwischen Fiktion und Biographie eine Differenzierung geradezu heraus. Wie in Barries späterem Drama hat Gide in Saül vor allem die Parallele zwischen Saul und David, das Hüten der Schafherde des Vaters, als Ausgangspunkt auf dem Weg zum Königtum benutzt, um den inneren Konflikt des Verlustes der naiven Unbefangenheit gestalten zu können, der Saul ergriffen hat (von allen homoerotischen Implikationen einmal abgesehen). Wenn man Saül als ein Künstlerdrama liest, dann kann David, ähnlich wie dieselbe Figur bei Barrie (und dessen Margaret in Dear Brutus), als kindliches Alter Ego des ästhetischen Subjekts in der Krise gesehen werden, für das Saül steht. Als wichtigen theatralen Aspekt gilt es überdies zu berücksichtigen, dass Gide ursprünglich an Edouard de Max als Darsteller für seinen Saül dachte, jenen Schauspieler, der als Rudel in La Princesse

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Barrie, The Boy David, S. 167. Jonathan Fryer, André and Oscar, New York 1998, S. 214.

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lointaine wie auch in einer Werther-Adaption von Decourcelle und Crisafulli geradezu prädestiniert dafür schien, einen Künstler in der Krise zu zeigen. Offenbar vor dem Hintergrund dieser Konzeption geht der Dramatiker Gide am Ende des Dramas radikal vor, wenn er den Protagonisten vor der letzten Schlacht in seiner Maßlosigkeit den Rahmen der Bühnenwelt sprengen lässt. (s’avance sur la rampe vers les spectateurs. Sa voix domine tout le bruit.) Je voudrais, avant de partir, me résumer en quelques mots. (Le tumulte des démons augmente.) Mais taisez-vous donc, tapageurs ! Vous voyez bien que je parle au public ! – (Vers les spectateurs.) Avec quoi l’homme se consolera-t-il… LES DEMONS. Mais tu l’as déja dit... tu l’as déja dit... Ah ! ah ! ah ! (Tapage. Tout ce murmure grossissant des démons est obtenu par une musique très réglée.) SAÜL (retourné vers et contre les démons.) Eh bien quoi ? – Voyons ! – Si vous voulez prendre place… jouez-nous quelque chose au moins, montrez ce que vous savez faire. (Les démons se culbutent – tapage réglé – Saül regarde longuement, gravement.) SAUL (avec dégoût). Ça n’est pas beau. LES DEMONS Mais, Saül, tu ne nous as rien appris. 127 SAUL Assez ! alors. Assez ! SAUL

Während Barrie am Ende seines Boy David den biblischen Stoff noch ein Mal für die vollkommene Illusion eines Traumtheaters benutzt, das wie in Dear Brutus die ästhetische Erfahrung als Möglichkeit zur Überwindung des Egoismus aufscheinen lässt (mit dem Künstler als Vorbild), hat Gide bereits zur Jahrhundertwende die Dämonen einer unkontrollierbaren Chaos-Ästhetik entfesselt, die den Protagonisten als Epigonen bloßstellen, der sich selbst zitiert, wiederholt und nur den Einsatz zu ›unschönen‹ Clownerien gibt, die im kindlichen Spiel legitimiert werden können, was Gide abseits des Theaters in der pädophilen Unterweisung nach antikem ›humanistischen‹ Vorbild umzusetzen versuchte. Barrie interessieren an seinem Lebensabend primär die Umschlagpunkte und -momente eines naiven und verspielt kreativen Bewusstseins, verkörpert durch David (und die Bergner als seine kongeniale Bühnenrepräsentation für diese Idee), vor den Initiationserlebnissen der politischen Instrumentalisierung und des Misstrauens. Der junge Gide hingegen macht in seinem Saül von den Möglichkeiten Gebrauch, den alten König als verbrauchte Repräsentanz, weniger im politischen Sinne, als vielmehr der alten Formen der dramatischen Bühne darzustellen. Zweifelsohne haben sich in der Zwischenkriegszeit dramaturgische Vorgehensweisen herausgebildet, die in der Rückschau ganz und gar nicht (wie Barries Dramaturgie in Greenes Augen) den oberflächlichen Eindruck hervorrufen, Klischees einer Künstlertypologie der Jahrhundertwende zu versammeln und zu verabschieden; es dominiert vielmehr eine Dramaturgie, in der die Künstlerfigur zum Brennpunkt einer ›Realität‹ wird, die den Beschauer en abyme mit seiner eigenen Alltagswahrnehmung von Kunst und ihren Schöpfern konfrontiert und den verheerenden Zusammenprall zum Regelfall erklärt. Märchen und Mythen sind für den Dandy kein sicheres und entrücktes Luftschloss mehr, wenn der Geschmack der Mäzene und der Masse auch in diese künstlichen Welten und Paradiese einbricht und sie nach ihrem Dafürhalten einrichtet und begrenzt. Davon bleibt auch und gerade die massentaugliche Theaterform der Oper nicht unberührt.

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André Gide, Saül. In: ders., Théâtre, Paris 1942, S. 148f.

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7. Franz Schreker und Alexander Zemlinsky: Das ›andere‹ Musikdrama

7.1 Der ferne Klang (1912) und der Versuch einer Zusammenarbeit (Der rote Tod, 1908) »Darüber willst du nachdenken? Wo menschliche Gemeinheit, stier wie die Meduse, einem entgegengrinst«1, so sieht der Komponist in Hofmannsthals und Strauss’ Ariadne auf Naxos die Forderung seines Mäzens nach einer hybriden Aufführung seiner Oper mit dem anzüglichen Personal der Commedia dell'arte und ihrer koketten Zerbinetta. Die Maske der Medusa wird auch am Ende des Vorspiels beschworen, wenn der in die Welt der Anderen hineingeworfene Komponist lieber »versteinern« möchte in der seinen. Die Maske steht hier nicht, wie von RalphRainer Wuthenow beschrieben, für die eigene Verstellung des Dandys in seiner Lebensführung. Sie steht vielmehr für das Ringen des genialen Menschen um einen unverstellten Ausdruck, der durch die aufoktroyierten Formalia von Produkten der Kunst getrübt wird, die mit der ursprünglichen Inspiration nichts mehr zu tun haben. Das schöne Frauengesicht, das Idealbild der Ariadne aus der Mythologie, verkehrt sich in ein Medusenhaupt der »hässlichen« Gemeinheit, weil es wie einst Baudelaires plötzlich als Dirnen erkannte Musengestalten der Muse vénale2 durch die Finanzmacht des Mäzenatentums käuflich geworden ist. Nicht umsonst stellt Hofmannsthal dem Feuerkopf, der die »Notenarbeit« angefertigt hat, den kühlen Kunstgewerbler, den Musiklehrer und Mentor des Genies zur Seite, der gemeinsam mit dem Tanzmeister von Zerbinettas Truppe als erster pragmatisch auf die Änderungsanordnung reagiert (und die durchzuführenden Kürzungen und Striche der Primadonna wie des Tenors jeweils im Solopart der ›Gegenpartei‹ anzubringen verspricht). Anders als im Tod des Empedokles verweist Hofmannsthal im Vorspiel seines Librettos zu Ariadne auf Naxos auf die ästhetische Unmöglichkeit für die Neuzeit, dass das originäre Genie und der Lehrmeister ästhetischer Vermittlung noch in einer Person verkörpert werden könnten. Glaubt Goethes Titelheld in Torquato Tassso noch, die Gesellschaft, die über die Kunst richtet, über das ästhetische Gefallen überlisten und so seine Dichtung außerhalb der geziemenden ›Spielregeln‹ legitimieren zu können, treiben nunmehr gegen den Willen des Komponisten in Ariadne auf Naxos mitbeteiligte Kulturproduzenten sein Werk über die Grenzen dessen, was er seinem Schaffen als Rahmen gesetzt hat. Seine

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Hugo von Hofmannsthal, Ariadne auf Naxos (1916). In: ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 24 (Operndichtungen 2), hg. von Manfred Hoppe, Frankfurt 1985, S. 19. Wuthenow, S. 60.

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schlimmste narzisstische Kränkung erfährt er schließlich, als er seine Vorstellungen des Sublimen nicht in Einklang damit bringen kann, dass es sich nur noch geziemt, zu gefallen. Insofern bleibt es konsequent, dass die Gegenüberstellung des mythologischen Personals mit dem der Komödianten in Ariadne auf Naxos ebenfalls zur domestizierten Gefälligkeit gerät, zu einer Aneinanderreihung heterogener Elemente führt, und die Synthese ausbleibt, aber sich auch keine spannenden Reibungsmomente ergeben. Dass Ariadne sich am Ende der Oper nicht von Bacchus, sondern von Hermes als Todesboten abgeholt glaubt, und über den Todestrieb letztlich doch wieder Eros obsiegt, diese Verwandlung und Verwechslung bleibt der Mysterienmode der Jahrhundertwende verhaftet. Nicht zuletzt durch die pompös im ungetrübten Dur dahindonnernde und dann einschmeichelnd verklingende Musik wird die Täuschung und Enttäuschung, die dem Komponisten des metatheatralen ersten Teils die Eingebung zu diesem glücklichen Ende geliefert haben soll, wie weggewischt und unter dem (zweifelsohne effektvollen) dionysischen Bombast begraben. Wie bereits in der ersten Zusammenarbeit von Hofmannsthal und Strauss für Elektra wird unter der antiken Maske ein Spiel um den von Nietzsche nachgestalteten Impuls der starken Idee inszeniert, nur dass sich hier aus dem Irrglauben, dem Tod ausgeliefert zu sein, eine neue Liebe und ein neues Leben beginnen lässt, während die besessen verfolgte Zerstörungsphantasie in Elektra nur in eigener Auflösung im dionysischen Taumel bestehen kann: »Ob ich nicht höre? Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir.«3 Dieses Antikenverständnis, das anhand der archaischen Mythen Eros und Destruktivität als menschliche Triebfedern vorführt, erweist sich für die deutschsprachige Oper noch bis in die Zwischenkriegszeit hinein als stilbildend und zieht auch Variationen nach sich. So wird selbst die vom Handlungsentwurf her recht texttreu aus der Stückvorlage des Aristophanes entwickelte Oper Die Vögel von Walter Braunfels, die im Dezember 1920 im Münchner Nationaltheater unter Bruno Walter uraufgeführt wurde, nicht nur umgehend für seine poesievolle Musik und szenische Ausgestaltung (in der Ausstattung von Leo Pasetti) gerühmt, sondern von Alfred Einstein gar als »Künstlerwerk« rezipiert,4 wobei er im Vergleich mit Wagners Meistersingern und Pfitzners Palestrina präzisiert, dass in Braunfels’ Vertonung einer antiken Komödie eben nicht der einzelne Künstler und seine biographisch begründeten Krisen und Höhenflüge zur Diskussion stünden, sondern die dem Künstler zur Verfügung stehenden Mittel für den Rückzug aus dem Alltag ins Reich der Fantasie – und seine Gefährdung durch den ehrgeizigen Hang zur Agitation. Darin unterscheidet sich diese Oper in ihrem Ausgang schließlich drastisch von Aristophanes’ Komödie, die das Wolkenkuckucksheim als eine Bastion wider die alte Weltordnung bestehen lässt. Fast erwartungsgemäß für ein Musikdrama nach dem Ersten Weltkrieg steht in Braunfels’ Libretto am Ende der Zusammenbruch der ›Künstlerkolonie‹, nachdem am Anfang des 2. Aktes der Träumer Hoffegut noch verzückt den Gesängen der

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Hugo von Hofmannsthal, Elektra (Libretto). In: ders., Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 7 (Dramen 5), hg. von Klaus E. Bohnenkamp/Mathias Mayer 1997, S. 149. Alfred Einstein, Die Vögel. In: Münchener Kunstschau, 1920 (46), S. 1 [Einstein bespricht hier die Uraufführung von Braunfels’ Oper am 30. November 1920 im Münchner Nationaltheater].

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Nachtigall über den fernen Narcissus und Ithys (dem zerstückelt als Mahl seines vom Kriegsgott Ares abstammenden Vaters Tereus endenden Königssohn) lauscht: Über die mit beiden Gestalten verbundenen Mythen kündigt sich die Vertreibung aus dem Paradies an, die dem für die Schönheit empfänglichen Hoffegut wie Narziss seine Vergänglichkeit bewusst werden lässt: so muss auch das Wolkenkuckucksheim unter dem Blitz von Zeus zusammenbrechen, der Unausweichlichkeit von Krieg und gegenseitiger Zerstörung unter den Menschen folgend, von denen sich die gastfreundlichen Vögel zu Machtspielen haben verleiten lassen. Die Antikenrezeption in diesen Opern hat mit dem avantgardistischen Anspruch von André Gide zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr viel gemein. Auch wenn die Vorlagen in der Tat neugestaltet und uminterpretiert werden, ist der Wille zur Hinterfragung und Erneuerung der Kategorien und Formen der beharrlichen Trauer um das verlorene Paradies gewichen, zu denen die Figur des Narziss nur einen Klagegesang, aber keine Aufbruchsstimmung mehr beisteuern kann. Obwohl das Erfolgsduo Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal mit der Figur des Komponisten in Ariadne auf Naxos ein künstlerisches Stimmungsbild im Künstler- und Literatenkreis von zeitübergreifender Aktualität zeichnet, so gelingt es den beiden doch nicht, wie vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Rosenkavalier (1911), einen Standard für die Oper der ersten Zwischenkriegsjahre zu setzen, sondern Strauss’ Konkurrent Franz Schreker trägt mit den Gezeichneten maßgeblich dazu bei, dass die Prinzipien dionysischer Ästhetik und ästhetischer Amoralität neue Diskussionen entfachen. Ein Jahr nach der Uraufführung, am 25. April 1918 in Frankfurt, folgt die Münchner Erstaufführung, 1920 die an der Wiener Hofoper, wieder ein Jahr später die erste Berliner Premiere des Dreiakters. Schreker avanciert zu dieser Zeit zum erfolgreichsten deutschsprachigen Musikdramatiker der Zwischenkriegszeit, und in der Nachfolge Richard Wagners – was viele Wagnerianer, die dem Nationalismus und Antisemitismus ihres Meisters ebenso anhängen wie seinem Œuvre, gegen Schreker aufbringt. Denn dass Schrekers Vater ein jüdischer Photograph war, ist für diesen Teil des Opernpublikums nicht tolerierbar. Diese Ablehnung verstärkt sich noch, als 1919 mit Paul Bekker ein prominenter Kritiker für Schreker als würdigen Nachfolger und Weiterentwickler des Bayreuther Genies Partei ergreift. Die polemische Formierung der Gegenpartei lässt nicht lange auf sich warten. Deren wortmächtigster Anführer war Hans Pfitzner. [...] In einer üblen Polemik mit dem Titel Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz [...] geiferte Pfitzner nicht ohne antisemitische Untertöne: »Es kann also auch sein, daß die Musik die Wege geht, die Herr Bekker als Führer einer großen, ähnlichen Strömung in der Kunst will, und daß die Klassikerköpfe im Pantheon deutscher Musik in zweihundert Jahren mehr östliches 5 Gepräge tragen.«

Diese Polemik, die Pfitzner im Jahr 1919 geschrieben und 1920 veröffentlicht hat, richtete sich gegen eine vermeintliche »jüdische Bewegung« in der Musik – gegen

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Jens Malte Fischer, Im Schatten Wagners. In: Udo Bermbach (Hg.): Oper im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 2000, S. 30. Hier wiederum zitiert wird: Hans Pfitzner, Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz, München 1920, S. 123.

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Bekker (dessen jüdische Herkunft zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannt ist6), wie auch gegen Schreker. Pfitzner lieferte damit den Auftakt zu weiteren Anfeindungen. »Auf dem Höhepunkt von Schrekers Ruhm erschien 1923 in der ehemaligen Zeitschrift für Musik, nun Kampfblatt für deutsche Musik, ein Artikel, der einzig die Diffamierung des Komponisten zum Ziel hatte.«7 Wie hybrid sich die Anschuldigungen gegen den angeblich von ganz unterschiedlichen ›Lobbys‹ hochgejubelten Schreker zusammensetzen, hat dieser bereits mit seinem eigenen »Charakterbild« in den Musikblättern des Anbruch vom April 1921 ironisch zugespitzt formuliert: Ich bin Impressionist, Expressionist, Internationalist, Futurist, musikalischer Verist; Jude und durch die Macht des Judentums emporgekommen, Christ und von einer katholischen 8 Clique unter Patronanz einer erzkatholischen Wiener Fürstin »gemacht« worden.

Auf engerem Raum lässt sich Schrekers Dilemma der Assimilation kaum treffender beschreiben, Sohn eines zum Protestantismus konvertierten Juden und einer katholischen Mutter zu sein. So widersprüchlich und wenig haltbar die daraus resultierenden Unterstellungen sind – in den Augen seiner Gegner verkörpert Schreker den geniearmen Anti-Künstler, der mit seinen Figuren Deformation und pathologische Perversion auf die Bühne bringt. Keine Berücksichtigung (wenn überhaupt von Kenntnis ausgegangen werden kann) erfährt unter den gegen eine ›Entartung‹ der deutschen Kultur Streitenden, dass sich die Verfechter einer »Ästhetik des Hässlichen« – gerade vor dem Hintergrund der gleichlautend betitelten theoretischen Schrift von Karl Rosenkranz aus dem Jahr 1852 – auf die ästhetischen Kategorien des deutschen Idealismus berufen können, nach denen sich beispielsweise das Erhabene im Kontrast zum Niedrigen umso heller abheben könnte. Bereits 1908 hat Franz Schreker, für das Gartentheater der Kunstschau, die Musik zur Pantomime Der Geburtstag der Infantin nach dem Kunstmärchen The Birthday of the Infanta von Oscar Wilde geschrieben. Dort ist ein Zwerg, ein verwachsener, verkrüppelter Sänger, die Personifikation jenes »hässlichen Mannes«, dessen Tragödie das Sujet zu einem Libretto liefern sollte, das zu schreiben der Komponistenkollege Alexander Zemlinsky den vier Jahre jüngeren Schreker bittet. Nachdem Schreker das Libretto zu Die Gezeichneten für sich selbst zur eigenhändigen Vertonung zurückbehalten hat, bietet er Zemlinsky 1911 noch ein weiteres Libretto, inspiriert durch eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe, an. Dass Zemlinsky den als Libretto von Schreker ausgeführten Einakter Die Maske des

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So argumentiert ein Kritiker der Polemik aus dem Jahr der Veröffentlichung paradoxerweise gegen Pfitzner: »Vergebens erwartet man einen Beweis, daß Bekkers Theorien mit dem Judentum etwas zu tun haben, zumal Bekker kein Jude ist. « [Wolfgang Schumann, Hans Pfitzners Aesthetik der musikalischen Impotenz. In: Münchener Kunstschau. 1928 (8), S. 1.] Udo Bermbach, Franz Schreker – Komponist wider den Zeitgeist? In: Franz Schreker, Der ferne Klang, hg. von der Staatsoper Unter den Linden, Frankfurt a. M./Leipzig 2001, S. 25. Franz Schreker, Mein Charakterbild, zitiert nach Paul Bekker: Franz Schreker. Studie zur Kritik der modernen Oper (1918), hg. von Bernhard Albers/Reinhard Kiefer, Aachen 1983, S. 11.

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roten Todes nicht in Musik umgesetzt hat, lässt sich nicht nur mit geringer Qualität des Textes bzw. den grundlegenden Schwierigkeiten angesichts der Adaption der Vorlage für die Bühne erklären: die Parabel von der Festgesellschaft in einem Schloss, wo sie sich vor der außen wütenden Pest sicher wähnt, um beim Ablegen der Masken den ohne Ausnahme sein Recht einfordernden Tod in ihrer Mitte vorzufinden. Allein schon die bühnengerechte ›Aufstockung‹ und Profilierung des Figurenpersonals für diesen Grundriss stellt ein beträchtliches Problem dar. Interessant ist gleichwohl, dass offenkundig Schreker bemüht war, den Stoff in eine Zemlinsky und einer Oper der gemeinsamen Epoche angemessene Libretto-Form zu bringen. Selbstverständlich tauchen dabei einige Motive und Konstellationen auf, die Schreker in eigenen Opernkompositionen verarbeitet. Auch finden sich solche, auf die Zemlinsky in anderen Werken zurückkommt, wiewohl ihm letztendlich Schrekers Libretto für eine Vertonung nicht adäquat erscheint: »Wunderbare Gelegenheiten für orchestrale Tonmalerei hätten sich angeboten und in der Tat fand Zemlinsky das Libretto ›sehr originell‹. Trotzdem wandte er sich statt dessen dem Malva-Thema zu, denn er fühlte sich von dem Symbol des ewigen Dreiecks magnetisch angezogen«9; aus welchen Gründen, darüber kann im Folgenden nur spekuliert werden; doch können eben auch Spekulationen bisweilen ein scharfes Licht auf bestimmte Merkmale des jeweiligen Personalstils eines Komponisten und Musikdramatikers werfen. Da ist zunächst der festliche Rahmen, innerhalb dessen sich die Handlung abspielt. Dass dieses aristokratische Vergnügen vor dem Hintergrund der Pest wie der sprichwörtliche Tanz auf dem Vulkan anmutet, muss einen besonderen Reiz auf die Komponisten-Generation der Décadence, der Zemlinsky wie Schreker angehört, ausgeübt haben. Gerade im Jahrzehnt des Ersten Weltkrieges war der Wiedererkennungsfaktor einer dem Untergang geweihten Gesellschaft, deren Festivitäten primär auf die Selbstfeier ausgerichtet sind, bei Künstlern und Intellektuellen in der Donaumonarchie groß. In Schrekers Gezeichneten wird im Schlussakt zugleich das mögliche Umkippen der orgiastischen Ausschweifung (in der Elysiumsszene) in Perversion und Sadismus (im Schlussbild, der Grotte) vorgeführt. Mag sein, dass Zemlinsky auch die Ähnlichkeit von Schrekers einaktigem Libretto Der rote Tod mit den Gezeichneten hinsichtlich der fatalen Schlusswendung der Festivitäten als Handlungsrahmen von einer Vertonung abgehalten haben. Aber auch auf der Figurenebene entpuppt sich Der rote Tod als Beleg dafür, wie sehr der Komponist (und eben nicht der Textdichter) Schreker bereits im Textentwurf die von ihm selbst bevorzugten musikalischen Charakterisierungsmöglichkeiten vormodelliert hat. Dass Zemlinsky sich davon vermutlich nicht einengen lassen wollte, war verständlich. So ist die weibliche Hauptfigur von Schrekers Libretto, die Schwester des Schlossherrn Maria, genau jener Typ der femme fragile, der beispielsweise mit Carlotta in Die Gezeichneten oder Els in Der Schatzgräber Schrekers Textbücher mitbestimmt: Frauen, die trotz ihrer Neigung zu den künstlerischen Helden und eigener erotischer Anziehungskraft der Stärke materieller

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Antony Beaumont, Zemlinsky, aus dem Englischen von Dorothea Brinkmann, Wien 2005, S. 348 [Zemlinskys Zitat entstammt einem Brief an Schreker aus dem Sommer 1911].

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und brutaler maskuliner Verführung unterliegen oder in deren Bann verstrickt bleiben. Auch Maria, die Protagonistin von Der rote Tod, kann sich entgegen ihrer Erkenntnis, dass die höfische Welt ihres Bruders dem Untergang geweiht ist, diesem nicht entziehen, auch wenn Der rote Tod in Gestalt eines Künstlers, eines geheimnisvollen Uhrmachers, von ihr selbst ins Haus gelockt wurde. Seine Verstoßung kommt einer narzisstischen Wunde gleich, die am Ende den Tribut aller einfordert, die sich an der Geschicklichkeit des Gekränkten erfreuen, als er als rote, blutige Gestalt aus dem Schatten der großen Uhr des Festsaales tritt.10 Die Vorlage Poes wird dahingehend abgewandelt, dass der Künstler zum Rächer an der dekadenten, also im direkten Wortsinne untergehenden Kultur wird, die zu allem Überfluss an dem Risiko des Festes in Zeiten der Seuche noch einen besonderen Reiz verspürt. Dieser Eindruck deckt sich mit einer weiteren kultur- und literaturgeschichtlichen Perspektive der Dekadenz, die Wolfdietrich Rasch festgehalten hat: »Schwächung der Lebenskraft macht nicht nur empfänglich für immer neue, immer ausgefallenere Reize, für künstlerische Belebungsmomente, für Sensationen der Nerven, es macht geradezu süchtig nach ihnen.«11 Das Kunstgewerbe des Uhrmachers weist auf die Verweigerungshaltung der Aristokraten hin, den Lauf der Zeit und das Fallen sozialer Barrieren (die den Künstler von seiner adeligen Geliebten trennen) anzuerkennen, während Poes maskierter Tod primär über die eigene Demaskierung den Ästhetizismus des Schlossherrn bloßstellt, der die Krankheit der Außenwelt mit schönem Schein zu übertünchen sucht. Die zugleich sündhafte und unschuldige Frau, weil sie meistens machtlos den (Selbst-)Zerstörungsprozess der männlichpatriarchalischen Gesellschaft begleitet (so beispielsweise auch Grete in Der ferne Klang) – das ist ein Thema, das Schreker stets fasziniert hat. Zemlinsky wiederum scheint die Perspektive auf die Frau in der Oper dagegen häufiger zu brechen und mit unterschiedlichen Bewertungen zu versehen. Die männliche Hauptfigur in Der rote Tod, Prinz Prospero, deckt sich hinsichtlich ihres Rollennamens bereits in Poes Vorlage offenkundig mit dem gestürzten und zauberkundigen Herzog von Mailand in Shakespeares The Tempest; gemeinsam ist den beiden gleichnamigen Figuren der Charakterzug, die Natur und ihre Elemente herauszufordern. Diese doppelte Verweisstruktur auf Shakespeare und Poe bringt es allerdings auch mit sich, dass sich Konnex und Assoziationen zur Entstehungszeit von Schrekers Libretto nicht so recht herstellen lassen. Das Klima einer künstlerfeindlichen Aristokratie, an der sich der Tod am Ende rächt, ist zwar skizziert; unklar bleiben jedoch alle möglichen sozialpsychologischen Implikationen der künstlerischen Eigenwahrnehmung, verursacht durch den ähnlich Barries Versuchsanordnungen ›insularen‹ Spielort des Schlosses, zu dem jedoch im Gegensatz zu den Texten Barries keine Außenperspektive entworfen wird. Im Jahr 1912, als sich sein Kollege Zemlinsky anderen Opernplänen widmet, kann Schreker mit dem Fernen Klang den ersten wichtigen Erfolg verbuchen, doch mit der unglaublichen Resonanz der Gezeichneten kann sich dieses Werk seines Durchbruchs noch nicht messen. Gleichwohl befindet sich Schreker seit dem Fernen

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Franz Schreker, Der rote Tod. Operndichtung in einem Akt. In: Der Merker 1912 (8), S. 230. Wolfdietrich Rasch, Die literarische Décadence um 1900, München 1986, S. 21f.

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Klang in der leicht anachronistischen Situation, sowohl als der ›Nachlassverwalter‹ der Form des Musikdramas seit Wagner zu gelten, als auch als deren radikaler Erneuerer. Dieses Paradox erklärt sich einerseits aus einem Stilpluralismus Schrekers, das ihm auch immer wieder das pejorative Etikett des Eklektizismus einbringt. Andererseits versteht es Schreker seit dem Fernen Klang (nachdem er vor diesem Erfolg in Intellektuellenkreisen wenig bekannt war), sich als zwielichtige Gestalt darzustellen. So betont Schreker in Selbstzeugnissen, die Inspiration zum Fernen Klang und dem zwischenzeitlichen Lebenswandel seiner Protagonistin in der Halbwelt sei ihm tatsächlich in finsteren Spelunken gekommen. Im Gegensatz zu frühen Schreker-Biographen hat Magali Zibaso bereits darauf hingewiesen, dass Der ferne Klang auch musikalisch zu großen Teilen von Versuchen »theatralische[r] Schilderung des Milieus« durchzogen ist12 – trotz aller dekadenten Morbidezza und der Tendenz zum introspektiven Psychodrama, das sich aus der Sicht von Grete gestalten lässt, die mit ihrem sozialen Abstieg anders als die Künstlerfigur des Fritz in jeder Szene präsent ist. Für diese Lesart entschied sich auch Peter Mussbach bei seiner Berliner Inszenierung 2001 in der Staatsoper Unter den Linden, die die Figurenperspektive der verführten und missbrauchten Frau in den Fokus rückte. In der anlässlich dieser Produktion zusammengetragenen Textsammlung (ursprünglich für das Programmheft, dann in einer anschließenden Buchausgabe) hält SchrekerSpezialist Gösta Neuwirth fest: »Der Ferne Klang ist auch keine Künstleroper«.13 Im Folgenden lokalisiert Neuwirth die Traumerzählung von Greta (so ihr der Demimonde angepasster Name) im 2. Akt14 als Dreh- und Angelpunkt einer Diskontinuität der Klangzeichen, der Neuwirth bei seiner Lektüre (unter Berufung auf die Weiterentwicklung der Zeichentheorie von Saussure durch Lacan) nachgeht: »einer Logik der unbewußten Prozesse, die nicht der diskursiven Zeit gehorcht.«15 Neuwirth geht es dabei vor allem auch darum, die noch bis auf Adorno zurückgehende Einschätzung vieler Opernexperten zu revidieren, nach der Schrekers Arbeitsweise, wie Wagner als Librettist und Komponist in Personalunion tätig zu sein, den Tribut einer Dramaturgie nach sich zieht, die den Eindruck naiver Schlichtheit erweckt. Neuwirth stellt dies bereits für den Fernen Klang in Abrede. Die Traumerzählung Gretas und ihre mehrfache Revision zwischen 1903 und 1907 entschlüsselt Neuwirth als Herantasten an die rückläufige Form, innerhalb derer sich die Greta des 2. Aktes als Urbild all dessen entpuppt, was auf der Strecke des zeitlichen Handlungsablaufs zu Beginn im Aufbruch Gretes und Fritz’ vorweggenommen war. Schrekers Nachtstück, eine Komposition Schrekers aus dem Jahr 1906, wird nach Neuwirth gemäß der Form des en abyme in die endgültige Version der Traumerzählung übertragen: »In der endgültigen Version wird der schaurige Reigen als ›Traum im Traum‹ ins Zentrum von Gretas neukomponierter Traum-Erzählung eingearbeitet: der Text der früheren Version von 1903 wird dabei Vers für Vers krebsgängig umgruppiert.«16 Wenn Neuwirth also betont, Der ferne Klang sei keine Künstleroper, so kann man dies einerseits mit der Definition des

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Magali Zibaso, Franz Schrekers Bühnenwerke, Saarbrücken 1999, S. 58. Gösta Neuwirth, Greta – Grete. In: Schreker, Der ferne Klang 2001, S. 93. Franz Schreker, Der ferne Klang. Klavierauszug, Wien 1911, S. 109–120. Neuwirth, S. 90. Neuwirth, S. 95.

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Künstleroper, so kann man dies einerseits mit der Definition des Künstlerdramas nach Uwe Japp bejahen. Nach dieser steht mit Fritz in Schrekers Musikdrama sicherlich keine Figur im Zentrum des Geschehens, die sich durch ihre künstlerischen Leistungen dafür qualifiziert hätte. Das Ergebnis seiner Produktivität kann der Rezipient der Oper auch nur ›aus dem Off‹ und der Äußerung urteilender Figuren erahnen. Doch die somnambule Stimmung des 2. Aktes zieht noch weitere Kreise narrativer Selbstbezüglichkeit, in der nicht nur Gretes/Gretas Traumerzählung im abyme die Ereignisfolge umstellt und das Geschehen kommentiert. Obwohl die dramaturgisch in Sprüngen (nicht kontinuierlich) erfolgende Charakterisierung des Komponisten Fritz eine psychologische Analyse dieser zweiten Hauptfigur (neben Grete) leicht erschwert, liegt doch zweifellos Fritz’ anfängliche Gier nach Ruhm und seine »idealhungrige« Suche nach dem titelgebenden fernen Klang selbst jenen Szenen zugrunde, in denen er nicht in Erscheinung tritt. Die Kenntnisnahme von der ›Verirrung‹ der zuvor geliebten Frau lässt als Klimax im Moment der Verstoßung im eskalierenden Finale des 2. Aktes aus Fritz die gekränkte Eitelkeit hervorbrechen. Fritz erweist seine Unfähigkeit zum künstlerischen wie zum gesellschaftlichen Überleben, als er sein idealisiertes Liebesobjekt zerstört sieht, weil er die Illusion einer intimen Beziehung mit der Tochter aus einfachem Hause (die er auf seinem Weg zum Ruhm zurückgelassen und vergessen hat) gegen den direkten erotischen Wettbewerb mit dem aristokratischen (und wohlhabenden) Rivalen eintauschen (und sich behaupten) müsste: »Genugtuung? Dame? Ich schlag mich nicht einer – Dirne willen!«17 Der Ferne Klang ist demnach sehr wohl eine Künstleroper, schließt man in die Definition dieses Genres die grundsätzliche Fragestellung danach mit ein, welche sozialen Triebkräfte erst die künstlerische Inspiration und dann ihr plötzliches Versiegen im musisch veranlagten Individuum auslösen. Die Bedingungen für die Rezeption von Schrekers Œuevre unterscheiden sich damit grundsätzlich von denen einer Oper wie Jacques Offenbachs unvollendeten Contes d’Hoffmann, mögen auch deren Libretto, nach einer SprechtheaterTextvorlage des Duos Michel Carré und Jules Barbier von 1851, die gesellschaftlichen Abgründe der Prostitution und des Alkoholismus nicht aussparen. Anders als die Gestalt E. T. A. Hoffmann, dessen Zeichnung als Dramenfigur bei Barbier/Carré und Offenbach das im Frankreich Baudelaires geläufige Bild des Meisters der Schwarzen Romantik reproduziert, werden über Schrekers Selbstbekenntnisse die Figuren und Geschehnisse des Fernen Klangs an ihren Schöpfer gekoppelt. Der Komponist Fritz und seine Greta, gleichen Namens mit Schrekers Geliebter aus der Kompositionszeit des Fernen Klangs, der (verheirateten) Greta Jonasz, tragen Züge einer sozialpsychologischen Studie des Wiener Jugendstils. Christopher Hailey zeigt anhand des Briefwechsels zwischen Jonasz und Schreker, seinen Auswanderungsplänen und Selbstmorddrohungen (die auf eigene Gedichte und Werther-Zitate folgen) auf, dass das typische (Adaptionen von Romanfiguren wie Manon Lescaut oder der Kameliendame nicht unähnliche) Opernsujet des Fernen Klangs, Gretes Frauenschicksal, letztlich doch ein wesentliches Merkmal der

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Schreker, Der ferne Klang 2001, S. 181.

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»Künstleroper« einschließt, das durch Fritz’ Auftritt am Anfang, in der Mitte und am Schluss dominiert: »Schreker inszeniert seine Liebe, findet den Punkt, wo es in der Berauschung zu bröckeln beginnt, trifft somit den abgründigen Kern seines mehrschichtigen Kunstwerks.«18 Das zentrale Element von Schrekers erstem Opernerfolg, die unterschiedlichen Modi der narrativen Ausgestaltung geheimer Sehnsüchte und Urängste – in der erotisch somnambulen Traumerzählung, der aristokratisch formalisierten Ballade und den übersensibel morbiden Fiebervisionen – sie alle beleuchten die katalytische Funktion von Kunst und Poesie bei der Überwindung der Hürde erotischer Spannungen und Rivalitäten. Der Komponist Fritz unterscheidet sich von der Geliebten und dem zwischenzeitlichen Rivalen insofern, als sich mit der Professionalisierung auch seine Obsessionen steigern, die in der völligen Entfremdung von der Realität und einem krampfhaftem Streben nach erlösender Rückkehr in den natürlichen Urzustand gipfeln, den nur die vom »Winkeladvokaten«19 Dr. Vigelius eingefädelte, schlichte soziale Interaktion der Aussöhnung mit der einst beim Aufbruch in die Welt verlassenen Grete bringen kann. Mit dem Verlust der Unschuld Gretes und ihrer Wandlung zur Edeldirne Greta in einem artifiziellen Venedig-Ambiente, wo sie nach anfänglichem Widerstreben ohne Reue diesen Beruf ausübt, hat Schreker vordergründig an den Antifeminismus Weiningers angeknüpft; doch die Reaktion von Fritz auf die Begegnung mit der ›gefallenen‹ Grete hin vermittelt einen weitaus präziseren Eindruck von der Überheblichkeit des männlichen ›Geistesmenschen‹ vor dem stets seinen Instinkten ausgelieferten ›Weib‹. Bemerkenswert mutet die Schlusswendung an, dass Grete am Ende als Überlebende zurückbleibt, die noch Zeugin von Fritz’ Einsicht wird, dass der letzte Akt seiner (beim Publikum durchgefallenen) Oper verfehlt war. Nach den Worten von Fritz’ Freund Rudolf sollte dieses Werk »ein Hohelied der Not, des Elends, der Sehnsucht« sein20. Fritz’ Versöhnung mit Greta, die er nach eigener Erkenntnis »in kleinlichem Stolz«21 verstoßen hat, kann seine Überarbeitung en abyme nicht mehr beeinflussen. Die Auflösung der irreführenden ästhetizistischen Sehnsucht nach Perfektion gewährleistet diesmal die dramatische Handlung (nicht wie bisher die metadramatische). An ihre Stelle tritt eine Rechtfertigung des Defizitären und sich Vervollkommnenden. Es bleibt dem Zuschauer und -hörer des Fernen Klangs vorbehalten, den Eklat des Mittelaktes im Licht der (aus der Exposition bekannten) schöpferischen Eitelkeit von Fritz zu sehen und so den vermeintlichen Vorsprung an Kreativität gegenüber der fatalen Verstoßung der Muse und ihrer Reduktion auf Triebhaftigkeit zu relativieren. Schreker kannte Weiningers Geschlecht und Charakter, wie ein Brief an Paul Bekker vom 10. Juli 1918 bezeugt: »Weininger – ich habe dessen Buch vor langen Jahren, gleich nachdem es erschienen gelesen. Mein Verstand hat zu vielem ›nein‹ gesagt, mein Gefühl – so scheint es ohne Reue – ja.«22

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Christopher Hailey, Inszenierung der Liebe. In: Schreker, Der ferne Klang 2001, S. 109. So steht es im dem Libretto vorangestellten Rollenverzeichnis: Schreker, Der ferne Klang 2001, S. 146. Ebd., S. 192. Ebd., S. 193. Paul Bekker/Franz Schreker, Briefwechsel. Mit sämtlichen Kritiken Bekkers über Schreker, hg. von Christopher Hailey, Aachen 1994, S. 61.

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Zwar konkretisiert Schreker im Brief nicht, welche Stellen in Weiningers prekärem Kultbuch er für zutreffend, welche für ›falsch‹ erachtet. Deutlich wird gleichwohl bereits im Fernen Klang, dass Schreker als sein eigener Textdichter, (trotz geringfügiger Übertreibungen und handwerklicher Mängel) den zentralen Konflikt zwischen den Geschlechtern plastisch herauszuarbeiten versteht, der auch Die Gezeichneten beherrschen wird. Die Unmöglichkeit der Beziehung des lebensfremden Moralisten und Ästheten Fritz zu der Hure Greta, die mit seinem Bild einer Heiligen (»Du göttliches Weib!«23) vereinbar ist, wird in der dramatischen Situation des zweiten Aktes hinterfragt, welche die Edelkurtisane als Gegenstand eines künstlerischen Wettstreits der verschiedenen (wiewohl zahlungsfähigen) Anwärter auf ihre Gunst zeigt. Schreker versäumt es auch im dritten und letzten Akt nicht, nach dem Vorbild Wedekinds im Kammersänger oder Mammon, die Kunst in ihrer Abhängigkeit von materiellen Faktoren vorzuführen.

7.2 Tragödien des hässlichen Mannes: Die Gezeichneten (1918) und Der Zwerg (1922) Auch Die Gezeichneten weisen Bezüge zu Wedekind auf, diesmal hinsichtlich der kritischen Auseinandersetzung mit dem Körperkult seiner Epoche, wie in Hidalla. Bei Wedekind finden wir das Modell dieses Alviano in Karl Hetmann, dem verwachsenen, von der physisch schönen, aber seelisch verkrüppelten Fanny geliebten Initiator einer Gemeinschaft wohlgebildeter Menschen, die sich zur Promiskuität verpflichten, um eine 24 Edelrasse zu zeugen (»Hidalla«).

Diese eugenische Zielsetzung hinter der Errichtung eines Elysiums durch den hässlichen Antihelden Alviano Salvago in Die Gezeichneten rückt Schreker näher an eine Narzissmus-Begrifflichkeit heran, die im Unterschied zu Wedekinds Karl Hetmann durchaus freudianisch die therapeutische Möglichkeit des Schönheitskults in Betracht zieht. Alvianos Anspruch liegt nicht in einer biologischen Anmaßung, die seine physische Deformation in einer rassistischen Ideologie des wohlgeformten Körpers zu hyper-kompensieren sucht. In der Erschaffung eines künstlichen Paradieses, wiederum einer insularen Konstruktion – der des Genua vorgelagerten »Elysiums« – möchte Alviano primär als Ästhet wahrgenommen werden und so seine Erscheinung im Leben der genuesischen Adelsgesellschaft sublimieren: der Versuch, den Weg des Narziss in den paradiesischen Garten zurückzugehen. Diesem Ideal steht die kulturelle und ästhetische Verrohung gegenüber, die sich parasitär in Alvianos Konstrukt einrichtet. Abgesehen davon, dass der Handlungsrahmen der Renaissance seit Jacob Burckhardts Studie Die Kultur der Renaissance in Italien ein beliebtes Motiv der Décadence gewesen ist, erweist sich die gängige Semantisierung der ›hässlichen‹ Physiognomie in der Renaissance für Schreker von Bedeutung. Nach deren Verständnis fällt das moralisch Schlechte noch mit »Hässlichkeit« zu-

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Schreker, Der ferne Klang 2001, S. 179. Haidy Schreker-Bures/Hans Heinz Stuckenschmidt/Werner Oehlmann, Schreker, Wien 1970, S. 45.

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sammen (dies ist zur Entstehungszeit des Werkes nicht mehr gegeben). Alviano durchbricht mit seiner Wohltat dieses Repräsentations-Schema und wird damit zu einem Risiko im System des Herzogs Adorno. Der ›Hässliche‹ kann kein Wohltäter sein, weil er das Repräsentationschema von staatlicher Gewalt in der Kunst gefährdet. Der Herzog Adorno unterstützt demzufolge den zur Ausschweifung und zum Verbrechen tendierenden, aber eben schönen Vitelozzo, des »Hofes glänzendste[n] Kavalier.«25 Alviano Salvago vergleicht sich selbst im Verhältnis zu seiner Umwelt mit einem Tier, nämlich in der berühmtesten Szene des ganzen Stückes, der Atelierszene, in der er gegenüber der Malerin Carlotta folgenden Vergleich bemüht: ALVIANO (bebend): Doch wenn Ihr an einem prangenden Tage, in einem Bette voll schönster Blumen, fändet irgend ein scheußliches Untier, das Euch die Laune 26 vergällte?

Das Bild des Gartens, ästhetischer Widerschein von Gides Narziss-Traktat und Projekten wie denen Kokoschkas und anderer zu Beginn des 20. Jahrhunderts, entzieht sich nunmehr dem Zugriff des Menschen als ordnende Kraft. Die Natur und das triebhaft Chaotische zerstören in Schrekers Musikdrama Kunst und Künstler. Vitelozzo Tamares Feststellung über Carlotta gegenüber Alviano in der letzten Szene, »Größer / als Du – schuf sie sich frei.«27, verweist auf eine dionysische »Selbstverbrennung«. Vitelozzo ist das Gegenstück zu Alviano, dessen Konzeption einer Verschönerung der Realität noch dem Ästhetizismus zuzurechnen ist. Der animalisch Schönheit und Genuss an sich reißende wie den künstlichen Rahmen des Elysiums für sich vereinnahmende Gegenspieler Vitelozzo dagegen entspricht in all seiner Brutalität genau dem Bild des Subjekts, das Bertolt Brecht mit der Titelfigur seines Baal exemplarisch gestaltet hat. Wie dieser kennt Vitelozzo Tamare keine Rücksicht, was ihn aber auch wie Freiwild enden lässt, als er gestellt wird. Eine sinnvolle Ergänzung bietet die intertextuelle Analogisierung von Schrekers Protagonisten Alviano über Wedekinds ›Zwergriesen‹ Hetmann hinaus; eine noch viel prominentere Figur des Sprechdramas kommt einem wieder in den Sinn – die tragikomische Gestalt von Rostands Cyrano de Bergerac. Auch er schwankt wie Alviano zwischen Masochismus und Narzissmus angesichts seines Makels (der Nase) und versucht seine Eingeschränktheit zu kompensieren. Im Gegensatz zum tragikomischen Heroen Cyrano ist Alviano allerdings ein durch und durch tragischer Antiheld. Dem Verführer Vitelozzo spielt er die Geliebte nicht (wie Cyrano dem Kadetten Christian) absichtlich als heroische Geste der eigenen Entsagung zu, und die Erfüllung, die er seinen Freunden mit der Schaffung des Elysiums ermöglicht

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Franz Schreker, Die Gezeichneten, Wien 1918 (faksimiliertes Textbuch der UniversalEdition im Programmheft der Oper Frankfurt 1979), S. 37. Schreker, Die Gezeichneten, S. 52. Schreker, Die Gezeichneten, S. 86.

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hat, wird von diesen heimlich pervertiert. Vitelozzo Tamare figuriert weder als das schöne Gegenprinzip zum hässlichen Alviano, noch im Chiasmus zu dieser Dichotomie der moralisch ›Böse‹ im Gegensatz zum ›edlen‹ Entstellten. Vitelozzo ist schlichtweg die Ergänzung zu Alviano, der aufgrund seiner hässlichen Gestalt seine Körperlichkeit und Sexualität verdrängt und nach außen projiziert, was in beiderlei Hinsicht (der Verdrängung und Enthemmung) fatale Konsequenzen nach sich zieht. Im Rückgriff auf Peter Szondis analytischen Ansatz für die späten Strindbergdramen lässt sich in den Gezeichneten der für das Musikdrama innovative Schritt der Sprechtheaterentwicklung nachvollziehen, dass die Sprecherfunktionen verschiedener Figuren eine zusammengehörige, allerdings in ihren auseinanderstrebenden Energien gefährdete Bewusstseinsebene wiedergeben. Männliche Ratio und Libido sind, wie bereits bei der Figur des Malers in Wedekinds Lulu, dem Glück nicht gewachsen und bei der Integration der formvollendeten Verwirklichung ihrer Träume in der Realität überfordert. Anders verhält es sich dagegen mit der weiblichen Konzeption Schrekers für Carlotta, die nicht wie die Männer der Desintegration einer Seite des menschlichen Bewusstseins erliegt. Für sie finden sich erneut Übereinstimmungen mit Strindberg’scher Dramenkonzeption wie auch mit dem Gedankengut Otto Weiningers. Schreker hielt gegenüber Bekker an seiner verstandesmäßigen Ablehnung von Weiningers Antifeminismus fest, ohne sein emotionales Einverständnis zu leugnen. Als Vitelozzo Alviano schildert, wie er Carlotta überwältigt hat, heißt es im Operntext: »Ihre Lippen baten um Schonung; stammelten wirr das uralte Lied angstvollen Sich-Wehrens. Doch ihre Augen flehten um Lust.«28 Wenn nicht in Selbsthass, so gipfelt Carlotta Schwanken im double bind zwischen Keuschheit und Wollust – der innere Konflikt von Wagners männlichem Protagonisten im Tannhäuser wird so auf das ›schwache Geschlecht‹ übertragen und um den Aspekt der Krankheit ergänzt – letztendlich in der eigenen Vernichtung. Der Tod ist für sie, die das Morbide und die sich ans Herz krallende Hand des Todes in die Kunst ihrer Malerei gebannt hat, der einzige Ausweg aus zwei gleichermaßen erwünschten Alternativen. Ihre Krankheit symbolisiert vor allem die Unvereinbarkeit der beiden Optionen, die sich aus dem Abgleiten von einem ins andere Extrem der in eins fallenden narzisstischen wie ästhetischen Objektwahl ergibt. Dass der durchaus emanzipierte Frauentypus der Carlotta überdies real inspiriert sein könnte, dafür findet sich im Kontext von Otto Weininger ein Beispiel: Die Jung-Wien-Autoren besaßen für die »femme fragile« ein historisches Modell: Marie Bashkirtseff, eine junge russische Künstlerin, die einige großartige Bilder gemalt und deren Gesangsstudium ihre Kräfte aufgezehrt hatte, als sie 1884 mit vierundzwanzig Jahren in Paris an Lungenschwindsucht starb. Das nach ihrem Tod erschienene Tagebuch wurde zum 29 Kultobjekt für eine ganze Generation.

Den männlichen Umgang mit einer so faszinierenden, lebenshungrigen und -verzehrenden Künstlerfrau reflektieren en abyme die beiden männlichen Protagonisten der Gezeichneten: Es bleibt keine andere Wahl als der Tod zur Beendigung des leibgebundenen Begehrens und des Ekels – zwischen dem

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Ebd. Le Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 146.

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Verhalten des ›hässlichen‹ Ästhetizisten, der das Trauma seines eigenen Begehrens in der Erschaffung einer artifiziellen Insel der Glückseligkeit überkompensiert einerseits, und des raubtierhaften Adonis andererseits, der mit seinem souveränen Kavaliershabitus und der herausfordernden Ausreizung aristokratischer Verhaltensnormen nur den ennui maskiert, der sich als bodenloser Abgrund unter der Oberfläche dieses Auftretens auftut. Dennoch überwiegt Schrekers »Nein« zur zentralen antifeministischen Position Weiningers in der Figur der Malerin Carlotta. Sie verhält sich mit dem metaphysischen Anspruch ihrer Malerei diametral zum Frauenbild Weiningers, der in Geschlecht und Charakter seine These vom Mangel an Kreativität der Frau und transzendentalem Streben aufgestellt und mit dem Stereotyp des effeminierten Juden verschmolzen hat. »Die Juden stecken gerne beieinander wie Weiber, aber sie verkehren nicht miteinander als selbständige, voneinander geschiedene Wesen, unter dem Zeichen einer überindividuellen Idee.« Indem Weininger sowohl Frauen als auch Juden in den gesellschaftlichen double bind unerfüllbarer sozialer Interaktion und Sublimation treibt, unterstellt er ihnen »weibische Titelsucht, die nur auf einer Linie steht mit [...] Protzerei.«30 Schreker liefert mit seinem Psychodrama wie schon im Fernen Klang die Enttarnung eines gesellschaftlich normierten ästhetischen Diskurses, der den um eine wahrhaft idealistische Aussöhnung des Dualismus von Körper und Geist, Form und Inhalt bestrebten Außenseiter in die Selbstzerstörung treibt.31 In diesem Punkt treffen sich Franz Schreker und Alexander Zemlinsky, der, nachdem Schreker den ursprünglich auf Bitten Zemlinskys verfassten Text zu den Gezeichneten selbst vertont hat, auf ein Sujet zurückgreift, das Schreker (wie erwähnt) bereits für das Gartentheater der Kunstschau adaptiert hat: Oscar Wildes Märchen The Birthday of the Infanta. Doch hat Georg Klaren, der Librettist von Zemlinskys Operneinakter mit dem Titel Der Zwerg (1922 in Köln unter Otto Klemperer uraufgeführt), einige wesentliche Änderungen an Wildes Vorlage vorgenommen: zunächst hinsichtlich der Herkunft des Zwerges, der bei Wilde der missratene Sohn eines Köhlers ist. Dieser hat keinerlei Skrupel, das unnütze Kind loszuwerden und an die Jäger König Philips zu verkaufen. Bei Klaren und Zemlinsky ist der Zwerg ein Geschenk des ›Sultans‹, also von vorneherein eine Ware, ein Spielball der Mächtigen. Anthony Beaumont sieht darin sogar eine Anspielung Klarens auf »Zemlinskys türkisch-sephardische Herkunft«.32 Darüber hinaus birgt diese Herkunft sicherlich eine Variante zum Exotismus in der Opernliteratur in sich. Liegt der Reiz des Fremden und Exotischen dort in der schönen Opulenz von Orient und Fernost (die im 19. Jahrhundert zahlreiche Balletteinlagen inspiriert hat), so sind es bei Zemlinsky und Klaren seine hässlichen Kuriosa, die dazu dienen, eine saturierte Hofgesellschaft zu unterhalten: eine weitere autostereotype Verfallserscheinung der Décadence, in der noch einmal koloniale Klischees wie in Rostands Princesse lointaine durchschimmern.

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Weininger, S. 412. Gilman, S. 155ff. Anthony Beaumont, Zemlinsky, »Der Zwerg« und der Tod. In: Zemlinsky, Der Zwerg. Köln 1996 (CD-Booklet der EMI), S. 9.

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Der Textdichter Klaren ist über die Literaturszene des Wiener Kaffeehauses hinaus durch eine bizarre, in ›neu-platonischer‹ Dialogform (zwischen zwei fiktiven Wiener Flaneuren) verfasste Biographie über Otto Weininger aufgefallen. In seinen Schlussworten zu dieser ›Studie‹ betont er Weiningers maßgeblichen Einfluss der zeitgenössischen Epoche, so auch in der Musik: »Schreker, der gewaltigste lebende Komponist, hat sogar die Weiningerschen Geschlechtsprobleme vertont, auf seine Bücher jedenfalls haben sie stark abgefärbt.«33 In der Figurenpsychologie hat Klarens Beschäftigung mit Weininger ihren Niederschlag in der Transformation der Infantin zur jungen Frau gefunden. Ein Artikel des Librettisten über Zemlinsky sowie über die gemeinsame Zusammenarbeit in der Zeitschrift Der Auftakt im Jahr 1921 belegt dies, bereits vom Titel des Aufsatzes, Zemlinsky, vom psychologischen Standpunkte, an. Schließlich entstand nun der »Zwerg« und es wird jedem Leser nicht schwer sein, aus dem Gesagten die psychologischen Verbindungslinien zu konstruieren, wenn er die Handlung kennt: ein Mensch ist unter Menschen gestellt, ohne zu wissen, daß er a n d e r s geartet ist als sie, – n u r d a r a u f kommt es an! – und er zerschellt am Weibe, das nicht zur Kenntnis seines t i e f s t e n Wesens gelangen will, ihm aber auch nicht sagt, w o d u r c h er sich von Anderen unterscheidet, sondern mit ihm spielt; alles dies ist mit einem musikalischen Raffinement psychologisch unterstrichen, dessen Besprechung zu weit 34 führen würde und nicht meine Sache sein kann.

Im ›Zerschellen am Weibe‹ klingt ein Echo Weiningers an. Und es tönt auch aus der im Vergleich zu Wilde modifizierten Konfrontation des Zwerges mit dem Spiegel. Klarens und Zemlinskys Zwerg hat (im Gegensatz zu Wildes Figur) früh die Vorahnung, von einem »Gespenst«35 verfolgt zu werden – das sich als sein Spiegelbild erweist. Es wird ihm aber erst im Palast bewusst, dass die Erscheinung, die er verzerrt im Wasser und en miniature auf der Schneide seines Schwertes gesehen hat, vor einem großen Spiegel sein detailgetreues Abbildung ergibt – die logische Schlussfolgerung hat er verdrängt. (Selbst-)Zweifel gewinnen erst die Oberhand, als die Erscheinung in Relation zu seiner Verliebtheit in die Prinzessin gesetzt werden muss: Das Eingeständnis der eigenen Hässlichkeit legt ihm das Wiedererkennen der Kleider nahe, mit denen er für den Geburtstag der Prinzessin ›schön‹ gemacht werden sollte: »Weh mir, im Kleid zu Ehren der Prinzessin! Mit Krause, Stickereien. (Er starrt einen Moment wie wahnsinnig in den Spiegel, dann bricht er mit einem Schrei zusammen.) Er ist wie ich!« (Z 83) Mit anderen Worten: Klaren und Zemlinsky bringen das Problem der Beurteilung von Hässlichkeit auf den Punkt, indem sie das Problem der (Eigen-)Wahrnehmung von Hässlichkeit im Verhältnis zur ästhetisierten Umgebung verschärfen. Der Zwerg erkennt seine Hässlichkeit erst, als er gezwungen ist, sich durch die Liebe zur Infantin an den anderen Menschen und ihrem Habitus zu messen.

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Georg Klaren, Otto Weininger. Der Mensch, sein Werk und sein Leben, Wien/Leipzig 1924, S. 229. Georg Klaren, Zemlinsky, vom psychologischen Standpunkte. In: Der Auftakt. Musikblätter für die tschechoslowakische Republik, 14–15 (1921), S. 206f. Libretto in: Alexander Zemlinsky, Le Nain/Une tragédie florentine. L’Avant Scène Opéra, No186, Paris 1998 (im Folgenden als Sigel Z zitiert), S. 81.

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Zemlinskys und Klarens Zwerg ist ein Sänger, zweifelsohne eine Künstlerfigur. Sein Auftreten dient der Unterhaltung der höfischen Gesellschaft. Doch ist er sich weder seiner Rolle, noch seiner ihm von der Natur aufgenötigten Maske, die abzustreifen ihm nicht möglich ist, bewusst. Umso bemerkenswerter ist es, dass der Zwerg, ohne eine Rolle spielen zu müssen, aus seiner Unkenntnis der eigenen Hässlichkeit heraus imstande ist, mimetisch perfekt höfische Haltung und Etikette nachzuahmen: »Der Zwerg ist nach spanischer Hofmode gekleidet, bewegt sich mit vollendeter Grandezza, die nur durch sein Äußeres zur Groteske wird.« (Z 65) Der Zwerg ist durch seine ›Hässlichkeit‹ also nicht körperlich behindert. Vielmehr gibt die »vollendete[r] Grandezza« Aufschluss über die tragische Diskrepanz zwischen mimetischer Begabung und auratischer Beschränktheit. Der Zwerg reizt die Hofgesellschaft damit wohl zum Lachen; doch die groteske Erscheinung des Zwerges beeinträchtigt sein Künstlertum keineswegs. Erst die Erkenntnis seiner Hässlichkeit hemmt seine Fähigkeiten. Sein Herz zerbricht, als seine Muse – die Infantin – nicht bereit ist, seine Kunst als Sublimierung, als Verklärung seiner Hässlichkeit anzunehmen. Hierin mag tatsächlich ein (von Anthony Beaumont immer wieder hergestellter) biographischer Bezug zur Beziehung zwischen Zemlinsky und Alma Mahler-Werfel verborgen liegen. Seit der Ablehnung von Zemlinskys Einakter Die Florentinische Tragödie durch Alma verlagert der durch die Heirat Almas mit Mahler persönlich enttäuschte Zemlinsky sich zunehmend auf eine Rechtfertigung seiner künstlerischen Programmatik gegenüber der einst so Verehrten. Beaumonts Ansatz geht so weit, vor dem Hintergrund von Zemlinskys jüdischer Identität und Alma Mahler-Werfels Antisemitismus von einer quasi den double bind bewältigenden Arbeit Zemlinskys an seiner zweiten Wilde-Vertonung zu sprechen. Hierzu Antony Beaumont: »Den Zwerg zu komponieren war ein orphisches Ritual von Selbstzerstörung und Selbstreinigung.«36 Verändert ist in Zemlinskys Zwerg die symbolische Ebene, auf welcher in Schrekers Gezeichneten durch die physiognomische Hässlichkeit des Protagonisten vor allem seine gestörten Objektbeziehungen nach außen gekehrt werden. Es ist klar, dass in beiden Opern die Entstellung des (Anti-)Helden auch symbolisch für dessen künstlerisches Außenseitertum steht. Während sich Alviano noch als Unfreier im Sinne Nietzsches deuten lässt, dessen Entstellung und Selbstwahrnehmung zum Impuls für Veränderung und Erschaffung des Elysiums wird, ist die groteske Erscheinung des Zwerges eine spielerische Laune der Natur bzw. sie erscheint seiner Umwelt als solche. Der Zwerg ist in der Unkenntnis seiner »Hässlichkeit« künstlerisch nicht von Selbstzweifeln belastet wie Alviano. Durch diese Unbedarftheit erzielt er auch mit seinem Lied die bei der Hofgesellschaft beschriebene Wirkung. Wie Schrekers Gezeichneten wirft Zemlinskys Zwerg die Frage auf, inwieweit sich in der Titelfigur jüdischer Selbsthass oder Minderwertigkeitsgefühle des Komponisten widerspiegeln, und ob tatsächlich von Selbst-Zerstörung und -Reinigung im Sinne Beaumonts die Rede sein kann. Es lässt sich vermuten, dass Zemlinsky mit der musikalischen Charakterisierung des Zwerges, den übermäßigen Intervallsprüngen seines »exotischen« Liedes oder der durchgehend hohen Tessitura

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Beaumont, Zemlinsky, S. 441.

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implizit auf Wagners Judentum in der Musik und die darin enthaltene Polemik gegen jüdischen Gesang und Musikstil anspielen wollte. Um diese Interpretation weiterverfolgen zu können, muss zweifelsohne das Libretto, vor allem die orientalische Herkunft des Zwerges herangezogen werden. Natürlich behandelt Der Zwerg das Problem der (unmöglichen) Assimilation von (freilich nicht nur künstlerischen) Außenseitern innerhalb einer geschlossenen Gesellschaft. Die Schiffserzählung des Zwerges, seine bruchstückhaften Kindheitserinnerungen und sein Weg über den Orient (Sultan) nach Europa, lassen durchaus eine Judenfigur vermuten. Wie für die Hauptfigur in Schrekers Gezeichneten konstituieren die physiognomische Hässlichkeit und die sich diametral dazu äußernde Leidenschaft für das Schöne einen double bind, der die Schwierigkeit einer Anpassung (für Assimilation der soziologischen Definition nach spricht im Falle des Zwerges wie erwähnt der verinnerlichte höfische Habitus) des Selbstbildes an die glänzende Umgebung ins Grenzenlose steigert und einer selbstzerstörerischen Frustration Bahn bricht. Sowohl Schreker als auch Zemlinsky ordnen ihrem Protagonisten indes eine hochexpressive Tonsprache und Klangrede zu, die als Idiom Wagners Erbe zwar nicht verleugnet. Dass sie im Liedhaften (des Zwerges) und im deklamatorisch Rezitativischen (Alvianos) höchst eigenständig abgewandelt und variiert wird, kommt auf der formalen Ebene jedoch einer Destabilisierung des double bind gleich, in den die beiden Komponisten von den antisemitischen Wagnerianern getrieben werden sollten. Wie in seiner Selbstcharakterisierung entledigt Schreker sich spielerisch der Klischees, die er in seiner eigenen Textvorlage aufgebaut hat, vom (nach dem Ersten Weltkrieg bereits retrospektiven) Renaissance-Sujet über den mit einem Heldentenor besetzten ›hässlichen‹ Mann. Dementsprechend wird in Klarens Libretto das Persönliche im gesellschaftlichen Rahmen durch Kunstgewerbliches und ästhetische Gegenstände wie die Rose sublimiert, die Zemlinsky durchaus anders als sein Textautor gesehen hat, wie Anthony Beaumont nachgewiesen hat. Zemlinsky seinerseits komponiert bereits mit dem naiv gehaltenen Tonfall der Infantin und ihrer Gespielinnen regelrecht gegen das Libretto an, das so angelegt ist, Wildes Märchen in eine Weininger-Studie ersten Grades umzuwandeln. Der Komponist entwickelt außerdem das Bild des Exoten, das in Klarens Libretto vorgezeichnet ist, musikalisch weiter. Der Gesang der Titelfigur in der Oper ist ganz und gar nicht lächerlich, mögen die Gespielinnen, die Zofen und Haushofmeister auch noch so sehr über diese lachen. Das Lachen über das »Hässliche« war Zemlinsky suspekt, wie er gegenüber Schönberg bereits 1902 betont hat, und zwar im Zusammenhang mit dem Studium der Partitur von Strauss’ Heldenleben und dem WidersacherMotiv in dieser Programmsymphonie: Ein großer Künstler, der alles hat um das Bedeutendste zu sagen, muss die Grenze des Schönen, wenn er sie auch viel weiter, als es bisher geschehn, zieht, einhalten. D.h. Wo u n s e r Ohr, also z.B. das Deinige u. das Meinige Hässlichkeiten hört, wo die Kunst der Tonmalerei, der schärfsten Charakteristik ins Karikiren, in die Parodie hineingeräth –

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Operette, Tonmalerei des Ueberbrettels – wenn auch mit grösster Technik – dort ist die 37 Grenze überschritten.

Wie vermittelt Zemlinsky musikalisch zwischen den beiden Ebenen des Stückes, der spielerischen und der brutal ernsten? Zunächst ist die Musik der Oper kleinteiliger angelegt als viele andere Werke des Komponisten, was darauf zurückzuführen ist, dass er sich hier so stark wie nie zuvor (und später nicht mehr) an Wagners Leitmotivtechnik angelehnt hat (was für die These spricht, dass er sich ganz bewusst wie Schreker bis zur Anfeindung dem Vergleich stellen wollte). Kennzeichnend für dieses Vorgehen ist ein charakteristisches Motiv, das im Fagott bei der ersten Erwähnung der Titelfigur durch den Haushofmeister eine hinkende und stolpernde Bewegung evoziert.38 Doch signalisieren das plötzliche sforzato, ein dissonantes »Schleifgeräusch« der Streicher nach oben auf das Wort »hinkt«39 umgehend, dass hier keine Belustigung intendiert ist, sondern expressive Schärfe. Die vokale Charakteristik der Figur ist von geradezu exotistisch anmutenden Melismen und übermäßigen bzw. verminderten Intervallen bestimmt (ob Zemlinsky die orientalische Herkunft seines ›Helden‹ für diese vokale Gestaltung ins Libretto einbauen ließ oder sich davon inspirieren ließ, lässt sich nicht klären). Sogar die Diskrepanz zwischen der äußeren Erscheinung und der anfangs noch unangefochtenen Selbstwahrnehmung findet in der Variantentechnik Zemlinsky eine kongeniale musikalische Umsetzung: So wird das charakteristische Motiv des Zwerges in Moll bei der ersten Schilderung dieser Figur durch den Haushofmeister just an dem Punkt nach Dur gewendet, wo von der Ahnungslosigkeit des Protagonisten die Rede ist, mit der er seinen Mitmenschen begegnet und ihr Verhalten ihm gegenüber missdeutet.40 Zemlinsky setzt also alle wichtigen Kriterien der Darstellung von Hässlichkeit und ihren Folgen auf der Bühne systematisch in der Musik um, nicht ohne auf die Sangbarkeit zu achten. Dass diese Flexibilität von Zemlinskys musikalischem Idiom, zwischen lyrischem und dramatischem Einsatz, in der Premiere eine adäquate Umsetzung fand, daran lässt Otto Klemperers (in einem Telegramm an Schönberg von Zemlinsky mitübersandter Kommentar) anlässlich der Kölner Uraufführung keinen Zweifel: »Schade, daß Sie Zemlinskys s c h ö n e n Zwerg nicht hören können.«41 Auf der Handlungsebene kommt im Zwerg, wie beschrieben, vor allem der Ritualcharakter höfischen Zeremoniells zum Tragen, das tödlichen Ernst, wie in Wildes Erzählung, mit dem Kampf eines Papier-Stiers spielerisch ummäntelt. Der Zwerg gerät in ein Spiel hinein, von dem er als Einziger – wie von seiner Hässlichkeit und belustigenden Wirkung – zunächst keine Kenntnis hat. Er ist der Einzige, der von Anfang an nicht spielt, sich nicht verstellt. Der Wendepunkt im Stück ist der, als der Zwerg die Spielsituation unfreiwillig aufhebt, indem er auf das Angebot

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Alexander Zemlinsky, Briefwechsel mit Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg und Franz Schreker, hg. von Horst Weber, Darmstadt 1995, S. 8 [18. Februar 1902] Alexander Zemlinsky, Der Zwerg. Klavierauszug, Wien/Leipzig 1921, S. 47ff. Ebd. Ebd. Zemlinsky: Briefwechsel, S. 233 [Hervorhebung durch Klemperer].

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der Infantin hin, eine der anwesenden jungen Frauen als Braut zu wählen, diese selbst begehrt. Hier kippt das Spiel in tödlichen Ernst. Der Zwerg antizipiert den Situationswechsel zwischen Spiel und Ernst. INFANTIN (ruhig, lächelnd) Warum denn flieht mein Freund? ZWERG (scheu und leise, doch schon mit verhaltener Leidenschaft)

Weil ein Gefährliches in deinen Augen ist, verzeih! Meine Seele fühlt es so... Ich weiß nicht was. INFANTIN (für sich, leise) Wie klug, – es ist das Echo deines Liedes, das sehr schön war, wie ein dunkler Schatten in einem Teppich aus bunter Seide. (Z 73)

In der neo-romantischen Augensymbolik steckt bereits der Vorausblick auf den Spiegel, der den Zwerg der entsetzlichen Wahrheit über seine Hässlichkeit und der physiognomisch begründeten Unfähigkeit zur Assimilation aussetzt. Mit seinem erfundenen Szenario, in welchem er zum Helden und Retter der Infantin avanciert (Z 73), stellt der Zwerg unbewusst und nur vorübergehend die Spielebene wieder her. Wenn er sagt, den Augen der Infantin weiche er aus, weil er dort Unheil ahne, so beinhaltet dies nichts anderes als die Angst, dass ihm die Augen des geliebten Objekts als Spiegel des eigenen Selbst dienen könnten. Dadurch überlagern sich Spiegelsymbolik und Geschlechtsproblematik (die aber wie in Schrekers Gezeichneten ambivalent bleibt), indem sie figurenpsychologisch über die SozialHierarchie differenziert werden. Die Dienerin Ghita signalisiert mit ihrer letzen Replik, »Es ist schade um das gute Spielzeug, wie schade! Gott hat ein armes Herz zerbrochen, es war schön« (Z 86), dass, wie schon in Schrekers Gezeichneten, die Frauen mitnichten biologisch prädestiniert sind, triebhafter Zerstörungswut zugetan zu sein, statt dem Streben nach ›Höherem‹. Anders als in Weiningers Rollenbild der »Dirne«, deren Wirken »durchaus auf Zerstörung angelegt« ist,42 lassen sich die Frauenfiguren Schrekers und Zemlinskys nur widerstrebend in die ›Wegwerfgesellschaft‹ eingliedern: Das gilt sowohl für den hedonistischen Renaissancehof in den Gezeichneten als auch für den mit kolonialistischer Gebärde auftrumpfenden, aber nach innen ethisch ausgehöhlten spanischen Hof im Zwerg. Beide Welten versinnbildlichen eine gesellschaftliche Dekadenz, die den Ästhetizismus der schönen Gegenstände zur verachtungsvollen Degradierung von Individuen missbraucht hat. Ghitas Trauer über das zerbrochene Spielzeug gilt somit auch der ›alten‹ Kunstauffassung, die der narzisstische Zwerg repräsentiert. Er identifiziert sich zunächst vollkommen mit seiner zum (unerreichbaren) Ideal-Ich erhobenen Rolle eines Troubadours. Den double bind der höfischen Repräsentation und der künstlerischen Utopie setzt die Natur, der er sich auf der Flucht vor dem Spiegelbild entzogen hat, außer Kraft. Weil aber das Spielzeug, das Spielobjekt – der Zwerg – in Wahrheit die einzig natürliche Komponente in diesem artifiziellen Rahmen ist, bricht das Spiel in sich zusammen und vernichtet bei seinem Untergang den letzten Rest Natur. Denn der Zwerg selbst ist in dieser Umgebung voll verwurzelt. Der Konfrontation mit der schrecklichen Wahrheit des Spiegels ist er nicht gewachsen. Der Zwerg sagt selbst über sein Spiegelbild: »Es ist nicht denkbar, daß es so Häßliches auf einer schönen Erde gibt!« (Z 83) Die weiße Rose, die der Zwerg von der

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Weininger, S. 309.

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Infantin geschenkt bekommen hat, wird folgerichtig zum letzten Indiz der Beweisführung des Zwerges gegen sich selbst. Wenn er im Sterben diese Rose küsst, ist es, um die Illusion der Liebe aufrecht zu erhalten. Der Zwerg ist ebensowenig fähig, außerhalb seiner Phantasiewelt weiterzuleben, wie die übrigen Figuren. Zemlinsky muss zwangläufig von dieser Thematik fasziniert gewesen sein, da sie ihm noch einmal die Unmöglichkeit, in der Beziehung zu Alma die eigene Hässlichkeit (deren Beschreibung in vielen ihrer Tagebucheinträge und späteren Schilderungen von Zemlinsky das Bild des ehemaligen Geliebten beherrscht) durch seine Kunst zu kompensieren, vor Augen führte. In der vergeblichen Hoffnung, mit der weißen Rose einen Beweis wechselseitiger Zuneigung in Händen halten zu können, schwingen auch Töne eines Abgesangs auf das stolze Flanieren des Dandys mit, der sich mittels einer angesteckten Blume als Accessoire im Glanze der prächtigsten Erscheinungen präparieren und präsentieren zu können glaubte. Dass die Infantin dem Zwerg dieses ›Schmuckstück‹ achtungslos und beiläufig zuspielt und ihm prompt die übermäßige Bedeutung eines Fetischs zugemessen wird, macht eine Abnutzung und Unverhältnismäßigkeit in der ästhetizistischen Lebensführung und Lebensart deutlich. Der Versuch, die Realität von den vorbildhaften Attraktionen der Kunst abhängig zu machen, bleibt ein aussichtsloses Unterfangen, da die Verabsolutierung der poetischen Zeichen- und Bedeutungsebenen von der Gesellschaft höchstens toleriert oder konsumiert, nicht aber als Norm übernommen wird. Der Wunsch der Infantin nach einem Geschenk ohne Herz für den nächsten feierlichen Anlass kontrastiert daher nur folgerichtig mit Ghitas Wahrnehmung des zerbrochenen schönen Herzens als einem missbrauchten ›Spielzeug‹. Lulus Männer sind der tödlich ungekünstelten Verspieltheit der grazilen Naturbegabung in der Manege dekadenter Kultur nicht gewachsen, wohingegen im Musikdrama von Schreker und dem Duo Klaren/Zemlinsky die männliche Hässlichkeit einen unüberwindbaren Graben zwischen den Geschlechtern aufreißt. Doch wenn diese Überforderung beider Geschlechter auch zunächst diametral einander gegenübergestellt und zur schematischen Polarität zugespitzt wird, so ergänzt sie sich doch zum Symptom einer übergeschlechtlichen, menschlichen Entfremdung von der Ursprünglichkeit seiner physiognomischen Spiegel- und Selbsterfahrung. Das Streben nach beherrschter Formvollendung und moralisch befreitem (Über-)Menschentum hat die Unvereinbarkeit der Individualitätskonzepte nach sich gezogen. Sie lässt einer kultivierten Elite die vampirische Libido und vom Begehren gemarterten Außenseitern des Schönheitskults das abstruse Ringen um Heiligkeit und Ritterlichkeit zum Verhängnis werden. Das Spiegelerlebnis als Grenzerfahrung des beschriebenen Figurenpersonals bei Schreker und Zemlinsky, in den Gezeichneten, im unvertonten Roten Tod und in Der Zwerg wird auch in einer für das Theater geeigneten Raumkonzeption betont. Wie bei Barrie ist das Elysium in den Gezeichneten ein insularer Ort, an dem das Innerste nach Außen gekehrt wird, unverheilte Wunden der Ich-Werdung aufbrechen und die Masken der Umherstreifenden notdürftig zu kaschieren versuchen, was die Pracht des künstlichen Paradieses an abgründigem Begehren in denen wachruft, die sich dort als flanierende Besucher aufhalten (anders als in Barries Tragikomödien gibt es für die mit ihrem zerrütteten Selbst Konfrontierten keine Rückkehr oder Chance auf Besserung). Bezeichnenderweise wird vom Elysium auch kein naives Bewusstsein 199

verdorben, wie anhand der Replik eines Kindes deutlich wird, das dort die antiken ›heidnischen‹ Verkörperungen des Eros, der Nymphen, der Faune und der übrigen Bacchanten betrachtet und von seinem Vater beinahe aufgeklärt wird: EIN KLEINER BUB. Wer weiß, Vater, ob das nicht Engel sind? VATER. Ho, Engel! Dummer Bub! (Die Mutter stößt ihn, da 43

besinnt er sich.) Natürlich

sind’s Engel.

Der nächste (parodistische) Redebeitrag eines Bürgers bei der Bewunderung der artifiziellen Landschaft gibt ebenfalls zu erkennen, dass das Elysium nur eine eingeschränkte suggestive Verführungskraft auf die Masse seiner Besucher ausübt. Das Elysium wirkt keinesfalls wie eine Droge, bewusstseinserweiternd oder enthemmend, sondern es ermöglicht jedem Geist, sei er kindlicher, ›perverser‹ oder schlichter Natur, einen Einblick in die eigene individuelle ästhetische Rezeptionshaltung, die eben neben dem Mitgerissenwerden im dionysischen Zug auch in distanzierter Verständnislosigkeit verharren kann. Für einen unbescholtenen Handwerker bleibt das Gebotene unzugänglich: 3. BÜRGER (wichtig). Seht, Frau – das versteht ihr nicht: Das ist – ›Kunst‹! Unter dem sel’gen Dogen Francesco Sforza – Gott geb’ ihm Ruh – s’war ein strenger Herr – da hab’ 44 ich mal mitgeholfen bei so ’nem Bilde – .

Der Gerüstesteller eines Malers, ein ›einfacher‹ Tischler, wie ein Umstehender auf diesen Einwurf hin höhnisch bemerkt, wird durch seine Hilfstätigkeit im künstlerischen Produktionsprozess sowohl bewahrt als auch um die Erfahrung beraubt, in das theatrale Geschehen auf der Insel hineingezogen und emotional verwickelt zu werden. Für denjenigen, nach dessen Verständnis Kunst nur eine Formel bleibt, zu deren Erfüllung es ›bloß‹ handwerklichen Geschicks bedarf, birgt diese artifizielle Welt der Verführung keine Gefahr. Die Übersensiblen und narzisstisch Anfälligen einer dekadenten ›Oberschicht‹ dagegen sind den unheilvollen Verstrickungen in gekränkte Eitelkeit (seitens Vitelozzo Tamare), ungestillte Triebhaftigkeit und Sehnsüchte (bei Alviano Salvago) und schließlich dem double bind von enthaltsamer Verklärung und hedonistischer Entfesselung ohne Rücksicht auf die eigene kränkliche Konstitution (von Carlotta) ausgesetzt. Die unheilvolle Grotte, in der das Geschehen sein katastrophales Ende findet, stellt nur die klaustrophobische und unausweichliche letzte Stufe dieser Annäherung an Carlottas Todestrieb dar, der ihr als Malerin Inspiration und Movens gewesen ist, ebenso wie Vitelozzos raubtiergleiche Hybris die höchste eines in Allmachtsphantasien und Streben nach Übermenschentum Verrannten. Für ihn gibt es kein Entrinnen vor der Strafe durch den gekränkten Meister der artifiziellen Luststätte; so wie am Ende des Librettos zum Roten Tod mit dem Uhrmacher ein zuvor als minderwertig stigmatisierter Todesbote die Runde unter den unversehens in eingesperrte Todeskandidaten verwandelten Festgästen macht.

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Schreker, Die Gezeichneten, S. 57. Ebd., S. 58.

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7.3 Rückbezug zur Jahrhundertwende im Lied des Zwerges Der Topos der widernatürlichen Abschottung von Zeit und Natur schlägt in Der Zwerg schließlich räumlich noch im Bühnenbildentwurf des Nebentextes durch: Die Enge des luxuriösen Innenraums (in den königlichen Gemächern) kontrastiert mit der Loggia und dem Ausblick auf einen Garten, der als Spielfläche für die Prinzessin indes auch nur noch rudimentäre (weil künstlich angelegte) Natur suggeriert. Nicht zuletzt dieser Aspekt verstärkt die Rückbindung des Zwergs an die Musikkultur des Wiener fin de siècle. Zwischen 1907 und 1909 hatte Zemlinskys Schwager und anfänglicher Schüler Arnold Schönberg mit seiner Vertonung von Gedichten nach Stefan Georges Buch der hängenden Gärten (1895) das Gefühl künstlerischer Vereinsamung kompositorisch auf den Punkt gebracht, indem er zu der in Wiener Künstlerkreisen verehrten formal-sprachlichen Erneuerung alter poetischer Modelle durch George einen musikalischen Widerpart schuf, wohlweislich im avantgardistischen Eifer die Entfremdung vom angestammten Musik-Publikum in Kauf nehmend. Die Abkehr von der Tonalität und die stetige Entwicklung zur Dodekaphonie vollziehen sich im Reizklima durch öffentliche Anfeindungen und Proteste gestörter Konzerte in Wien. Schönbergs Buch der hängenden Gärten ist eine wichtige Station auf diesem Weg, den zeitgleich mit ihm seine Schüler, allen voran Anton Webern beschreiten. Inspirierend an Georges Gedichten ist besonders die (dem spätromantischen Gefühl der Naturverbundenheit diametral entgegengesetzte) Verzweiflung über die Entzweiung des Menschen mit seinen Ursprüngen. Der Garten des fin de siècle ist ein oasenartiger Zufluchtsort für den aus der Zivilisation (der ›verpöbelten Stadt‹) Flüchtenden, ein privates Refugium des Bürgertums zwischen politischer und ökonomischer Arbeitswelt (von der sich die Angehörigen des George-Kreises abnabeln wollten), aber zugleich eine artifizielle Insel der Privilegierten und des (Geld-)Adels, von deren Ausschluss sich der Poet und Dandy bedroht fühlt. »Ihm, dem ewigen Fremdling, ›Pilger‹ und ›Neuling‹, dem Nichtadligen und Ungeliebten, drohte tendenziell immer die Versagung; eine Metapher dafür ist der verschlossene Garten.«45 Diese Metaphorik des Gartens ist keineswegs auf den deutschen Sprachraum beschränkt: Ein in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu Wildes The Birthday of the Infanta (1891) besonders erfolgreicher französischer Poet ist der früh verstorbene Albert Samain, der sein Renommee zu Lebzeiten primär auf der 1893 veröffentlichten Gedichtsammlung Au Jardin de l’Infante gründen konnte. In diesem Zyklus von Gedichten aus der Feder des am 3. April 1858 in Paris geborenen Symbolisten liegt das Spektrum eines zur Zeit seiner Entstehung und Publikation europaweit beliebten Topos und Motivs gebündelt vor. In Oscar Wildes Märchen The Birthday of the Infanta tritt die spanische Infantin primär als Verkörperung eines, selbst angesichts der Zerstörung ihres beseelten Geburtstagsgeschenkes (so sieht sie den Zwerg) unbeeindruckten, mitleidlosen Herrschertums in Erscheinung. Samain hat seinem Gedichtband ein (Mallarmé gewidmetes) Gedicht vorangestellt,

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Albrecht Dümling, Die fremden Klänge der hängenden Gärten, München 1981, S. 75.

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das den Rundgang in der königlichen Gartenanlage mit den selben Worten beginnt wie beschließt: »Mon Ame est une infante en robe de parade.«46 Die (musikalisch bezeichnet) Rondo-Form stiftet den Spiegel, durch den das lyrische Ich sich in der Infantin erkennen lässt: »Dont l’exil se reflète, éternel et royal«.47 Die Königstochter des spanischen Bourbonenhauses in der Nachfolge Karls des Fünften ist bei diesem Erkundungsgang in den Garten dekadenter, da unweigerlich dem Verfall geweihter Schönheit, die Identifikationsfigur. Während ein Erzählabschnitt in Wildes Birthday of the Infanta mit dem Besuch des Königs in der Gruft dem Fest die irdische Vergänglichkeit gegenüberstellt, appelliert Samain an Momentaufnahmen im kollektiven historischen Bewusstsein, die die Weltmacht und den Niedergang Spaniens eng zusammenrücken lassen. Grandiosität im Machtdenken und Inferiorität der poetischen Eigenwahrnehmung prallen am Ort höchster politischer Repräsentation aufeinander. Bis diese Kontrastdramaturgie des monumentalen Schauplatzes und der lyrischen Introspektion im musikalischen Drama zum Tragen kommt, sind die Durchsetzungsversuche des lyrischen Dramas auf den Sprechtheaterbühnen Europas schon der nächsten Avantgarde gewichen. Ohne diesen Hintergrund wäre die Funktion des Liedes von der blutenden Orange, das Klaren der Wilde nachgestalteten Titelfigur des Opernlibrettos zum Zwerg in den Mund legt, schwerer verständlich. Das lyrische Ich darin richtet sich an ein Mädchen, die »blutende Orange« (Z 69) als einzige Frucht seines kleinen Gartens zu nehmen. Die Orange, »das Herz« der Sprechinstanz, wird vom Mädchen durchbohrt und in den Staub geworfen. Der Protagonist zieht damit die Hofgesellschaft bei seiner Einführung vor den Geburtstagsgästen der Infantin zunächst in den Bann und amüsiert sie. Doch die Schlusswendung des Liedes nimmt, nach der die adressierte Schönheit am Ende des Liedes wie der Oper mit ihrem Lachen das Herz des lyrischen Ichs tödlich trifft, en abyme den Schluss des ganzen Einakters vorweg. Die stumme Ergriffenheit der Zuhörer und ihr plötzliches Tuscheln, Kichern und Witzeln über das eben Gehörte legt nahe, dass sich die Masse der Zuhörer dieser Art der stilisierten Äußerung nicht komplett verschließt, ihr aber entwöhnt ist. Die Figur des Haushofmeisters Don Estoban bringt, als Reaktion auf das Lied des Zwerges mit seinen ›verbogenen‹ Harmonien hin, die Stimmqualität und Musik des wunderlichen Geschöpfes auf folgenden Nenner: »Er kennt die Register. Der Text ist nicht übel. Ein wenig verwachsen wie er, haha!« (Z 69) Darin scheint genau jene Argumentation der Künstler-Pathographien Sadgers oder Grafs aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf, die den Versuch unternehmen, Verbindungen zwischen der Physiognomie des Schriftstellers oder Komponisten, ihren narzisstischen Folgeerscheinungen und den Kunstprodukten dieser psychischen Konfigurationen herzustellen. Als der Zwerg seine eigene Hässlichkeit wahrnimmt, bricht damit vor allem der innere Konflikt auf, aus der Welt der eigenen Träume gerissen zu werden, die ihm mit der Berufung zum Liedersänger zugleich den Ritterschlag vorgegaukelt hat. Das Klammern des Zwerges an sein Liebeskonzept und die ihm von der Prinzessin zugesteckte Rose lässt die Unvereinbarkeit der Wunschwelt des Lyrikers mit

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Albert Samain, Au Jardin de l’Infante. In: ders., Œuvres, Bd. 1. Paris 1921, S. 10. Ebd., S. 7.

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der prosaischen Realität der von ihm verehrten Kindfrau unmissverständlich hervortreten. Das Bild eines Gärtners für den unglücklichen Liebhaber erinnert an die frühen Liedzyklen der Generation Schönbergs und Zemlinskys. Die Sprecherinstanz des gekränkten Gärtners stellt eine aus den Gedichtvorlagen von Heinrich Heine oder Paul Heyse (in seinen freien Übersetzungen spanischer und italienischer Lyrik) zu den Liedzyklen der Dichterliebe von Robert Schumann oder Hugo Wolfs Spanischem und Italienischem Liederbuch geläufige Metapher dar: für den Poeten in dem Reich seiner Sehnsüchte und der ihm zur Verfügung stehenden Formen, diesen Gefühlen und der Enttäuschung über ihre Aussichtslosigkeit lyrischen Ausdruck zu verleihen. »Am leuchtenden Sommermorgen«, Lied Nr. 12 der Dichterliebe, wandelt das verbitterte lyrische Ich durch den Garten, in dem ihn die Blumen um Nachsicht mit der ungetreuen »Schwester« bitten, nachdem bereits zuvor, im frischverliebten Überschwang wie im ersten Zorn, immer wieder an die Flora appelliert worden ist. Im Vergleich zu dieser traditionellen Motivgestaltung hat Oscar Wilde bereits in seinem Märchen vom Birthday of the Infanta dieses Bezugsschema auf den Kopf gestellt, wenn der hässliche Zwerg bei seinem Gang durch den königlichen Garten zum verabscheuten Gesprächsgegenstand der eitlen, von sich selbst eingenommenen Blumen wird. Wieder, wie in Wildes fortgesponnener NarzissErzählung, wird die Selbstverliebtheit nicht dem Menschen zugeschrieben. Sie liegt in den Schönheiten der Natur begründet. Zemlinskys Librettist Klaren greift diesen Aspekt dahingehend auf, dass der Zwerg aus seiner Weltsicht heraus nicht akzeptieren will, dass es etwas derartig Hässliches in der schönen Natur geben kann wie sein Spiegelbild. Übertragen auf die Figurenexposition des Zwergs, seine sängerische Begabung und Selbststilisierung, beinhaltet dies auch die Kritik an der ästhetischen Existenz, die Natur einseitig aufgefasst und unzureichend in eine stilisierte Form der Selbsttäuschung gezwungen zu haben. Bezüglich eines vorherrschenden spezifischen Stils für die Liedkultur der Jahrhundertwende finden sich kritische Ansätze, die den Zwerg insofern als ein Abbild von Lyrikern und Komponisten der unmittelbaren Vorkriegszeit erscheinen lassen. Weitet man das Blickfeld beim Aufspüren von Analogien zwischen dem Zwerg und von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen Komponistenschicksalen, sind es eben nicht nur die jeweils von ›ihrer‹ Alma gequälten Zemlinsky oder Mahler, auf deren persönliche Enttäuschungen und Schwierigkeiten, sich in der Gesellschaft zu behaupten, die Elemente des Künstlerdramas im Zwerg sich rückbeziehen lassen. So war das Bild, das sich das frühe 20. Jahrhundert von Hugo Wolf unmittelbar nach seinem Tod 1903 – nach fünf Jahren des Siechtums in der Heilanstalt – machen konnte, maßgeblich von Ernst Decseys Monographie bestimmt, in der er einige der gängigen Künstlerstereotypen zusammenträgt (und in einer Fußnote auf die in Wiesbaden publizierte »ärztlich-psychologische Studie« Die Laune von Ernst Jentsch aus dem Jahre 1902 verweist): den »Dualismus« im Wesen »der genialen Menschen«, »von starken Affekten hin- und hergerissen«. Auch bemüht Decsey in diesem Zusammenhang einen Brief Wolfs an seinen Schwager Josef Strasser von 1885, Wolf aus dem Zusammenhang herausgerissen zitierend: »Mit Weibern lässt sich auf

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Distanz ja recht gut verkehren.«48 Neben der Launenhaftigkeit wird Wolf an diesen Stellen Gehemmtheit und eine distanzierte Anbetungshaltung zum ›schwachen Geschlecht‹ zugeschrieben. Im zweiten der insgesamt vier Bände seiner (ab Wolfs Todesjahr über mehrere Jahre veröffentlichten) Biographie macht sich Decsey schließlich daran, diesem von ihm, wiewohl zwischenzeitlich im Café Griensteidl verorteten, so doch weitestgehend entrückten Komponisten noch eine aus seiner Sicht gebührende Stimme in den Mund zu legen, so in einer zeitgenössischen Schilderung von Wolfs deklamatorischen, wenn auch nicht wirklich sängerischen Qualitäten, die auf eine »›sofort sich einprägende, Hugo Wolf ganz eigne Art der deklamatorischen Intervalle‹« zurückzuführen war, dem »›bis zum Brennen und Bohren gesteigerte[n] Vortrag Wolfs selbst‹« seiner »›feurig zarten, innig beseelten kleinen Gebilde‹«49. Der performativ-deklamatorische, genialische Akt der Vergegenwärtigung musikalischer Kunst kehrt einzig und allein das Wesen nach außen, das dem inneren somatischen Impetus des Künstlers entspricht. Das, »Ein wenig verwachsen wie er«, aus Klarens Libretto liegt nur einen kleinen Schritt weit entfernt von dieser Psychologisierung der Liedkomposition und des Liedgesangs in ihrer direkten Entsprechung und Abhängigkeit voneinander: Der organische Zusammenhang staut sich in der Künstleroper des späten Ästhetizismus zum physiognomischen Zwang und Trauma auf. Während der Monograph über die syphilitische Infektion Wolfs einen Mantel des Schweigens breitet oder sich in Andeutungen ergeht, scheut sich Klaren ebensowenig wie Schreker, den Dualismus und das Getriebensein »von einem dunklen Dämon« (so wiederum Decsey50) explizit in Relation und Missverhältnis zu den geschlechtlichen Trieben und Unterlegenheitsgefühlen des Künstlers zu rücken (was als Thema an narrativ prominenter Stelle ein Vierteljahrhundert später in Thomas Manns Doktor Faustus wiederkehren wird). Dass der Tänzer aus Wildes Vorlage von Klaren und Zemlinsky operngerecht (wohl auch um Vergleiche mit der Pantomime Schrekers zu vermeiden) in einen Liedinterpreten seiner selbst ersonnenen Gesänge umfunktioniert wird, leuchtet umso stärker ein, je genauer man Zemlinskys Stil im Kontext der Liedkultur seiner Zeit betrachtet. Hartmut Krones hat in seiner kurzen und präzisen Analyse der Lieder Zemlinskys herausgearbeitet, dass die von Zemlinsky in der intimen Liedform angewandte Stiftung und Verknüpfung von musikalischen Bedeutungsebenen gleichermaßen im Opernschaffen zum Tragen kommt; so etwa, was die »Bedeutungsgenerierung«, inhaltliche »Doppeldeutigkeit« und momentane gedankliche »Aufhellung« bzw. »Eindunkelung« durch Veränderungen des harmonischen Gefüges (beispielsweise im neapolitanischen Sextakkord)51 oder Trugschlüsse anbelangt, wie sie sich bei Schubert, Wolf und Mahler finden. Im Zwerg ist es interessanterweise besonders der Zwiespalt und die Verwirrung in der Wahrnehmung des Artifiziellen wie des Natürlichen, die in diesem Dur-Moll-Sigel

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Ernst Decsey, Hugo Wolf, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1903, S. 136ff. Decsey, Hugo Wolf, Bd. 2. Leipzig/Berlin 1904, S. 144 (Decsey zitiert Richard Sternfeld in der Deutschen Revue). Decsey, Hugo Wolf, Bd. 1., S. 136. Hartmut Krones, Tonale und harmonische Semantik im Liedschaffen Alexander Zemlinskys. In: ders. (Hg.), Alexander Zemlinsky. Ästhetik, Stil und Umfeld, Wien u. a. 1995, S. 180ff.

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zum Ausdruck gebracht werden: »›So sing ein trauriges Lied‹ (Ghita) führt zum Nebeneinander von D-Dur und h-Moll, und des Zwerges ›Nein, du liebst mich‹ (nach der Infantin ›und ich dich hasse, weil du häßlich bist‹) sieht die Tonarten desMoll und b-Moll nebeneinander.«52 Während Paul Bekker noch an Hugo Wolfs Lyrikvertonungen eine Rückwärtsgewandtheit der hermetischen Form des Konzertliedes monierte, galt ihm die neue Subjektivität und formale Offenheit von Schönbergs atonaler Liedkomposition (die sich durchaus von Georges formaler Strenge absetzt) als wegweisend für die Moderne. Zemlinsky, der wie Schreker, Mahler und eben auch Wolf Schüler des (nach verschiedenen Berichten hervorragend instrumentierenden, aber formal konservativ denkenden) Robert Fuchs gewesen war, nutzt die von Klaren in das Libretto des Zwerges eingebaute Liedform unmissverständlich mit voravantgardistischen Mitteln, indem er das Lied mit seinen kühnen Harmonien und Dissonanzen in eine klar formalisierte und strenge Tonsprache für das höfische Zeremoniell der Geburtstagshuldigungen an die Prinzessin einbettet. Die unmittelbare Verständlichkeit des subjektiven Ausdrucks lässt er, was die Reaktion des übrigen Figurenpersonals auf die Einlage des Protagonisten anbelangt, zunächst in der Schwebe, bis das Libretto eine explizit geäußerte Beurteilung folgen lässt.

7.4 Rückblick: Der Traumgörge (1906) vor der Vertreibung aus dem Paradies Dass dieses Gefühl des Unverstanden-Seins sich im Spannungsfeld des Wiener Musikbetriebes von Zemlinsky und der Zweiten Wiener Schule noch bis auf die von Hugo Wolf angeführten Jünger Richard Wagners zurückführen lässt, bestätigt ein Blick zurück auf das Opernschaffen Zemlinskys: In seinem dritten Bühnenwerk, Der Traumgörge, das Zemlinsky zwischen 1904 und 1906 auf ein Libretto von Leo Feld komponierte, konnte die Titelfigur, anders als der Zwerg, noch der Gefahr eigener Ideal-Vorstellungen, Größen-Phantasien und ihrer Enttäuschungen ebenso erfolgreich entgehen wie dem alltäglichen Hang seiner Umwelt zur Stigmatisierung von Außenseitern. Noch vor dem Abfassen des Librettos durch Leo Feld schildert Zemlinsky in einem Brief vom 14. Oktober 1902 an Schönberg die Idee, die dem Stück ohne jegliches Handlungsgerüst zugrunde liegen sollte: In Kürze: »Der arme Peter« d.i. der Mann, der ideale junge Schwärmer oder Träumer (ich weiss noch nicht aus welchem Milieu) der voll Sehnsucht nach Liebe ungeliebt ein kurzes Leben lebt. Aber nicht nur bei den Frauen, auch sonst lebt er unverstanden seinen 53 Träumen, weil er so ganz anders als alle seine Mitmenschen.

Zu Recht wird in der zitierten Briefausgabe darauf hingewiesen, dass der kurze Zyklus von drei Gedichten Der arme Peter aus Heinrich Heines Buch der Lieder (Romanzen IV) Zemlinsky durch Robert Schumanns Vertonung op. 53/3 bekannt gewesen sein dürfte. Geschildert wird die Hochzeit von Hans und Grete, vor deren

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Ebd., S. 180. Zemlinsky, Briefwechsel, S. 31.

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Ausgelassenheit der zunächst bleich am Rand stehende »arme Peter«, wohl um aus Enttäuschung über den Verlust seiner Liebsten aus dem Leben zu scheiden, flüchtet. Im selben Jahr wie Der arme Peter, 1840, wurde von Schumann Hans Christian Andersens thematisch ähnliches Gedicht Der Spielmann vertont (op. 40/4), in dem der auf einer Hochzeit aufspielende, im Begehren nach der Braut dem Wahnsinn nah erscheinende Geiger sich am Ende als Spiegel des lyrischen Ichs erweist: »O Gott – bewahr uns gnädiglich, / Daß keinen der Wahnsinn übermannt. / Bin selber ein armer Musikant.«54 Leicht lässt sich bei diesem Zitat Schumanns eigenes MusikerSchicksal assoziieren. Doch sollte nicht außer Acht bleiben, dass im Finale von Schrekers Gezeichneten ebenfalls diese Situation bildhaft aufgegriffen wird, wenn Vitelozzo dem Nebenbuhler Alviano, den er übertrumpft hat, zum Hohn entgegenwirft, er habe den missgestalteten Spielmann mit seiner Fiedel erschlagen (um umgehend selbst von Alviano getötet zu werden). Von diesen tragischen Effekten des ›klassischen‹ Dreieckskonfliktes ist Der Traumgörge in seiner endgültigen Gestalt noch gänzlich freigehalten worden. Dass auch dem Görge eine Grete vom Draufgänger Hans ›ausgespannt‹ wird, kommt eher einer Befreiung gleich, soll doch Görge als Erbe des Müllers ohnehin nur auf Betreiben von Gretes Vater verkuppelt werden. Für den Büchernarren hat diese Frauenfigur kein Verständnis, wie auch Görge ihrer Bodenständigkeit nichts abgewinnen kann. Die von Zemlinsky anfangs skizzierte »narzisstische« Familienkonstellation des nicht-vorhandenen Vaters und der als Einzige an Görge glaubenden Mutter, die, wie (im Übrigen zuletzt auch Görge »an seiner Kraftlosigkeit«55) sterben sollte, wurde ebensowenig ausgeführt. Mit dieser Oper, die ursprünglich als künstlerische Sublimation von Zemlinskys Verhältnis zu Alma Mahler und seiner Reifung zur arrivierten Wiener Komponistenpersönlichkeit konzipiert wurde, erlitt Zemlinsky eine herbe Niederlage in der Donaumetropole. Ironie des Schicksals: Während 1897 Hugo Wolfs Geisteskrankheit zum Ausbruch kam, nachdem sich die (in Erwartung einer Aufführung seines Corregidors) von Wolf hoffnungsvoll wahrgenommene Ernennung Gustav Mahlers zum neuen Hofoperndirektor (bei der Ablehnung) in rasende Enttäuschung verkehrt hatte, ist es zehn Jahre später Mahlers Demission, die Zemlinskys Zuversicht, mit der Uraufführung des Traumgörge im Haus am Ring zu reüssieren, einen Strich durch die Rechnung macht. Der Titelheld Görge dieser (erst 1980 in Nürnberg auf die Bühne gebrachten) Oper ist zugleich bereits (wie im Vorgriff auf den Zwerg) alles andere als der gängige Opernheld des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Der Traumgörge ist weder ein romantisches Künstlerdrama noch die Demonstration eines tragischen Heldenschicksals. Bezeichnenderweise ist Görges künstlerisches Potential auf passive Rezeption beschränkt; seine Lektüre ist der Impuls für nicht steuerbare Träume – im Gegensatz zu konzentrierten Schaffensakten eines Dichters bis hin zur (Selbst-)Zerstörung, die Wagner in seinem Tannhäuser oder Massenet mit Werther auf Goethe zurückgreifend thematisiert hatten. Gerade mit Blick auf Wagners Tannhäuser scheint das Schwanken Görges zwischen den einzelnen Lebens-

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Dietrich Fischer-Dieskau (Hg.), Texte deutscher Lieder, München 1997, S. 135. Zemlinsky, Briefwechsel, S. 31.

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entwürfen anspielungsreich; mag auch die von ihm erträumte Frau im ersten Akt keine mythische Liebesgöttin sein, die sich der ›Künstler‹ Görge in einem kreativen Akt erobert wie der Sänger Tannhäuser seine Venus. Seine phantasmagorische Begegnung mit der Traumprinzessin, die sich ebenfalls auf Wagners Musikdramen beziehen lässt,56 beruht dagegen zunächst auf der Reproduktion und Rückbesinnung auf dichterische Schaffensprozesse. Zugleich ist Görge durch seine Belesenheit bei aller Weltfremdheit aber auch kein ›reiner Tor‹ wie Parsifal, Siegfried oder noch Pedro in Eugen d’Alberts Tiefland. Vielmehr sind die gängigen Rollenklischees der Opern- und insbesondere Tenor-Helden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, also des Künstlers und des naiven Helden, hier vermischt und – ganz dem Geist des fin de siècle entsprechend – in die Passivität gewendet. Den Bauernaufstand im zweiten Akt erlebt Görge nur als Zuschauer, nicht im Stile zahlreicher Opern-Helden als Antreiber revolutionärer Machenschaften, wie im 19. Jahrhundert Wilhelm Tell oder Masaniello. Er ist auch kein mit der Revolution Sympathisierender: ein zu Lebzeiten Zemlinskys bewährtes Opern-Heldenkonzept, denkt man etwa an die Dichterfigur Andrea Chénier in der gleichnamigen Oper Umberto Giordanos oder den Maler Cavaradossi in Puccinis Tosca nach Sardou (die sich ihrerseits durch ihre sehnsuchtsvollen Todesgesänge eher einer neo-romantischen Prägung in historistischem Gewand zuschlagen lassen als der ihnen so häufig aufgedrückten Etikettierung des Verismus). Opfern jene Künstlerfiguren des populären Opernrepertoires ihren Visionen von einem besseren gesellschaftlichen Zusammenleben sogar das persönliche Glück mit der gleichwohl idealisierten Frau, tritt für den wenig heldischen Gegenentwurf des Protagonisten in Felds und Zemlinskys Der Traumgörge die Neigung zum Verkünden seiner Ideale hinter dem Unterfangen zurück, zumindest einen Abglanz der Idealität ins häusliche Privatleben retten zu können, nachdem sich eine Partnerin für Görge findet, die für seine musische Seite Verständnis aufbringt. Im Traumgörge markiert der Traum als Akt der Selbstbespiegelung für die Titelfigur einen Aufbruch, mag seine Suche auch einer unerreichbaren Traumprinzessin gelten. An ihre Stelle tritt in Görges Leben nach dem Erwachen aus der erträumten Parallelwelt schließlich die im Nachbardorf als Hexe diskriminierte Gertraud. Görge rettet sie, und im Nachspiel gleicht Gertraud in Görges Augen seiner Vision von der Traumprinzessin nahezu vollkommen. Görge hat im Verlauf des Stückes gelernt, seinen eigenen Willen und sein Streben nach ›Höherem‹ (einer poetischen Vision) im friedlichen Spielen und Träumen zu kontrollieren, ohne weltfremd zu werden. Seine Distanz zur Gesellschaft hat zwar einerseits ein Abrücken von den politisch-revolutionären Machenschaften Kaspars und seiner Mitstreiter zur Folge, andererseits aber eine Solidarisierung mit der sozial an den Rand Gedrängten. Für Görge wäre somit die intellektuelle Oppositionshaltung gegenüber gesellschaftlichen Hierarchien nur bedingt feststellbar, die die Charakterisierung eines Romanhelden des ausgehenden 19. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt, und wie ihn Antony Beaumont als dem Görge durchaus vergleichbare Figur nennt. Der Librettist Feld vollziehe eine Aufwertung der »Titelfigur vom einfachen Bauernjungen zu einem frustrierten Intellektuellen [...]

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vgl. Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 13 (Die musikalischen Monographien), Darmstadt 1998, S. 82ff.

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und machte sie (ganz ähnlich Thomas Hardys Jude the Obscure) zu einer tragischen Figur.«57 Die Hinterfragung des menschlichen Willens und die Entsagung, die Hardy an Schopenhauers Philosophie faszinierten, geht über die Grundidee für das Libretto, Heinrich Heines kurzen Gedichtzyklus Der arme Peter für die Oper zu adaptieren, weit hinaus, nachdem der Librettist Leo Feld bereits auf Motive aus Richard Volkmanns (1830–1889) Volksmärchen Vom unsichtbaren Königreiche zurückgegriffen hat. Zwischen Görge und Hardys Jude gibt es jedoch (neben Görges mangels narzisstischer Kränkungen von vornherein ausbleibender Protesthaltung) einen weiteren gravierenden Unterschied: Judes Ringen um einen sozialen Aufstieg als Intellektueller, das seiner grüblerischen Natur durchaus entspricht, scheitert am festgefahrenen englischen Klassenbewusstsein, das Judes Übertritt in die Universität quasi wie den Übergang in eine andere Kaste verbaut. Feld und Zemlinsky pflegen mit ihrer Oper Der Traumgörge noch das positive Abbild der künstlerischen und intellektuellen Begabung, deren große Stärke und zugleich Schwäche naive Naturverbundenheit ausmacht. Der avantgardistische Anspruch auf eine Rückbesinnung zum natürlichen Urzustand hat hier seine Berücksichtigung gefunden, während Hardy diesem noch Skepsis entgegenbrachte, die dem (städtischen) Intellektualismus vorhält, zuungunsten naturverbundener Schöngeister normiert zu sein. Hardy setzt dem ländlichen Ideal drastisch die städtische Kultur entgegen, die Zemlinsky bereits früh in der Werkgenese seiner zweiten Oper ausgeblendet wissen wollte, nämlich in Hinblick auf die Gestaltung der idealen Frauenfigur, die nach dem Modell der angebeteten Muse Alma Schindler, doch außerhalb ihres kulturellen (auf die Wiener Großstadt bezogenen) städtischen Umfelds gestaltet werden sollte. Darunter hat allerdings die individuelle Figurenzeichnung gelitten. Das Künstlerdrama bleibt aus, da die Figur des Ästheten im stilisierten Dorfleben ein Träumer ohne künstlerische Programmatik bleibt. Musikalisch ist Zemlinsky hier ebenfalls weit entfernt vom Idiom des Zwergs. Formalästhetisch bemerkenswert ist, dass Natur und Poesie hier noch im gleichen Spektrum der Klangfarben leuchten: Die große Traumszene des Traumgörge im ersten Akt bringt neben Anklängen an Wagners Waldweben im Siegfried solche an die große Szene des Siegnot in Pfitzners Die Rose vom Liebesgarten (1901). Doch während für Siegfried das Waldweben zur Selbstfindung wird, ist für Görge dieses Rauschen nur der eskapistische Weg aus der Realität, die Begegnung mit der Prinzessin bestenfalls eine Andeutung, nicht aber der direkte ›Wegweiser‹ zur idealen Frau (wie in Wagners Siegfried der Waldvogel). Wenn Görge die Grimm’sche Märchenformel einer geltungssüchtigen Königin, »Spieglein, Spieglein an der Wand!«58, anstimmt, so ist dem auch eine deutliche Ironisierung dieses Anti-Helden beigemischt. Der Zauberspiegel soll hier dem Mann (nicht der bösen Stiefmutter) den Weg zur schönsten Frau zeigen. Und er muss sich selbst nicht (wie später der Zwerg) im Spiegel als ›hässlich‹ erkennen und auf die geliebte Frau verzichten.

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Beaumont, Zemlinsky, S. 212. Alexander Zemlinsky, Der Traumgörge, Librettoabdruck nach der revidierten Fassung von Anthony Beaumont (Ricordi 2007) in: Deutsche Oper Berlin (Hg.): Programmheft zu Der Traumgörge von Zemlinsky, Berlin 2007, S. 87.

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Allen Irritationen zum Trotz bewähren sich in dieser Oper Solidarität und Zuneigung zwischen dem musisch orientierten Menschen und der von einer revoltierenden Masse bedrohten Angehörigen einer einstigen Elite (Gertraud ist die Tochter eines enteigneten Aristokraten). Bezeichnend ist gleichwohl, dass am Ende offenbleibt, ob Görge fündig geworden ist: Der Schluss der Oper, der auch musikalisch keine Auflösung bietet, sondern offen bleibt, verweist zurück auf den Beginn. Das Traumspiel konnte und musste – in neuen Konstellationen – noch einmal durchgespielt werden. »›Wir tanzen und spielen‹, sangen Görge und Gertraud, und eine Solovioline griff nach dem Himmel. In gewissem Sinn macht Der Zwerg da weiter, wo diese Musik aufhört. Aber im Laufe des Dramas wird die Traumwelt zu einer mentalen Folterkammer.«59 Während die ›Folterkammer‹ des Zwerges bei der Uraufführung noch in eine (jugend-)stilechte Palastloggia verlegt wurde, hat in der Zwischenkriegszeit auch das Interesse seitens der Dramatiker zugenommen, das Schicksal der Ästheten quasi-dokumentarisch bis in die finstersten Vollzugsanstalten zu verfolgen.

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Beaumont, Zemlinsky, S. 441.

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8. Geschichte und Mythos

8.1 Verklärendes Dokumentartheater von Maurice Rostand – Le Procès d’Oscar Wilde (1935/36) Eine Schlüsselstelle in der Vorlage zu Zemlinskys Wilde-Oper ist wie erwähnt jene, an der sich der Zwerg durch die königliche Gartenanlage auf den Weg in die Gemächer des Palastes macht und dabei argwöhnisch von den als wunderschön beschriebenen Blumen beobachtet wird. Ähnlich der Titelfigur in The Picture of Dorian Gray, aber in Gegensatz zu dieser mit dauerhafter Nachwirkung hinsichtlich der musiktheatralen Adaption, liefert dieser Erzählabschnitt das vollkommene Gegenteil von Wildes gewohntem Bild des Dandys und Flaneurs, der sich, selbst mit einer Blume als Ornament angetan, durch sein soziales Umfeld bewegt, extravagant hervorsticht, provoziert und mitunter auf diese Weise Vorbildfunktion für eine Befreiung seiner Kultur von ihrer schmuck- und trostlosen Funktionalität ausüben kann. Der Zwerg ist dagegen ein Störenfried in der bereits hermetisch perfekt arrangierten und in ihrer Arroganz unanfechtbaren Umgebung der monarchischen Repräsentation. Schon früh, seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, war Oscar Wilde, noch ohne das Stigma des gerichtlich verurteilten Außenseiters, zum Gegenstand einer, in dramatischer Form gestalteten, kritischen Darstellung geworden, sei es in den Karikaturen des Punch oder in der Operette Patience (1881) des Erfolgsduos Gilbert & Sullivan. Eike Schönfeld weist darauf hin, dass die Figur des Bunthorne in besagter Patience seitens der Produzenten ausdrücklich nicht nach dem Vorbild von Oscar Wilde konzipiert worden ist. Schönfeld konstatiert: Nicht von Wilde ist hier die Rede, sondern von einer bestimmten Gruppe unter den Ästheten, die die an sich positiven Lehren von Ruskin und seinen Anhängern verfälscht haben. Die Klage über die Lust am Niedergang deutet schon hier den Streit um die 1 Dekadenz an, der erst zehn Jahre später in vollem Gang sein sollte.

Dass diese Defekte durch einen geheuchelten ästhetischen Geist maskiert werden, das künstlerische Programm also nur Fassade ohne Hintergrund wäre, ist indes der für einen Künstler ungleich schwerwiegendere Vorwurf. Hier sitzt gerade der eigentlich parodistische Stachel der Bunthorne-Figur in Patience, die in ihrem Auftrittslied dem Publikum zu erkennen gibt, dass sie sich der eigenen Schurkenhaftigkeit voll bewusst ist, ebenso wie ihres Künstlertums als bloßer Pose. Das Lied kulminiert in den Versen: »In short, my mediaevilism’s affectation, / Born of a morbid love of admiration!«2 War dieses Zerrbild nicht von vornherein auf

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Schönfeld, S. 101. William Gilbert/Arthur Sullivan, Patience or Bunthorne’s Bride!, London 1911, S. 12.

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Wilde zugeschnitten, so gaben die Parodisten damit doch über Jahre eine Sicht auf ihn vor. Sie haben das public image des effeminierten Apostels der Schönheit geprägt, der mit der Lilie in der Hand über Piccadilly spaziert und sich vorzugsweise eines gespreizten Soziolekts bedient. [...] Die Legende von Wilde als Führer der »Ästhetischen Bewegung« 3 war geboren, eine Legende, die sich als überaus zählebig erweisen sollte.

Blumen wie die Lilie als Accessoire der öffentlichen Selbstinszenierung des Dandys begünstigen derartige Assoziationen, und sie sind es auch, die sich in die Unterhaltung der Gartenflora in The Birthday of the Infanta einklinken, als der Zwerg, die weiße Rose in absurder ekstatischer Verzückung küssend, durch ihr Reich zieht: »›He should drink poppy-juice, and go to sleep for a thousand years,‹ said the great scarlet Lilies, and they grew quite hot and angry.«4 Diese amüsante und gleichermaßen bezeichnende Textpassage verdeutlicht, dass der Zwerg ruhiggestellt werden soll, weil er die sorgsam arrangierte Ordnung der Parkanlage stört und aus dem Gleichgewicht bringt, eben wie der ästhetische Flaneur die verhärtete gesellschaftliche Grundordnung. Dass der Zwerg im Spiel mit den Vögeln und den Eidechsen hingegen Gefährten gewinnen kann, veranlasst die Blumen folgerichtig zum Resümee: »›It only shows ,‹ they said, ›what a vulgarizing effect this incessant rushing and flying about has. Well-bred people always stay exactly in the same place, as we do.[‹]«5 Mit dieser Bestimmung des Differenzmerkmals der Motorik ist der märchenhafte Rahmen noch nicht vollends ausgeschöpft. Wildes Kurzgeschichte veranschaulicht noch, wie von diesem Verhaltensmuster Abweichende pauschal zum vagabundierenden Gesindel abgestempelt werden: »[›]This is dignified and as it should be. But birds and lizards have no sense of repose, and indeed birds have not even a permanent address. They are mere vagrants like the gipsies, and should be treated in exactly the same manner.‹«6 Erneut erscheint es keineswegs abwegig, dass der in Übersee und Frankreich als Literat gefragte, weltreisende und dafür auf der heimischen Insel beargwöhnte Wilde mit den Mitteln der Fabel einen entscheidenden Wesenszug seiner bürgerlichen Kritiker einfangen wollte: herablassende Sesshaftigkeit, voller Verachtung für die unstete Boheme, die sich als Begriff von den »Zigeunern und Vagabunden« (»vagrants like the gipsies« bei Wilde) ableiten lässt.7 Die mangelnde Bereitschaft und Einsicht in die Notwendigkeit, sich im rastlosen Tanz und Taumel von einem exotischen Ort zum nächsten an die festen Rahmenbedingungen und Gepflogenheiten anzupassen, erweist sich als genau jenes Verhängnis, das die deformierte Hauptfigur des Märchens ereilt wie den Ästheten. Die Entstehung von Wildes Märchen fällt nicht umsonst in die Zeit nach seiner Eheschließung und Familiengründung mit Constance Lloyd zwischen 1883 und 1886, dem Geburtsjahr des zweiten gemeinsamen Sohnes Vyvan (dem Vater von Merlin Holland). In dieser Zeit unternahm Wilde den Versuch, seine Erfahrungen als Vortragsreisender in der Neuen Welt und in Paris in ein

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Norbert Kohl: Oscar Wilde. Leben und Werk. Frankfurt a. M./Leipzig 2000, S. 42. Oscar Wilde, The Birthday of the Infanta. In: ders., The Happy Prince and Other Stories, Harmondsworth 1994, S. 112. Ebd., S. 116. Ebd. Vgl. S. 97.

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Auskommen als Journalist in London umzumünzen. Merlin Holland setzt 1887 den Wendepunkt an, der diesen Lebensentwurf zum Verblassen bringt. Wilde habe in jenem Jahr begonnen, den körperlichen Verfall der vormals wunderschönen Constance (wie er gegenüber Frank Harris geäußert haben soll »weiß und schlank wie eine Lilie«) wahrzunehmen, die nach zwei Jahren Schwangerschaft »schwer, unförmig unansehnlich« geworden sei.8 Der letale Schock des Zwerges im Märchen, angesichts der Unvereinbarkeit seiner ästhetischen Vision wechselseitiger Zuneigung mit der im Spiegel erblickten Hässlichkeit, gewinnt noch an Brisanz, da ihm die Enttäuschung der Vorfreude, der Infantin im Prunkgemach zu begegnen, vorausgeht: His hand trembled, a cry of joy broke from his lips and he moved out in the sunlight. As he did so, the figure moved out also, and he saw it plainly. 9 The Infanta! It was a monster, the most grotesque monster he had ever beheld.

Die groteske Monstrosität der Begegnung entwickelt sich zunächst aus einer Suche nach dem adäquaten Partner. Die Fratze der Deformiertheit grinst dem Zwerg entgegen, der sich wie der Dandy Wilde ins Häusliche zurückziehen will, der Bereitschaft zum Trotz, für »ein unbekanntes Land voller fremdartiger Blumen und feiner Düfte, [...] ein Land, in dem alles vollkommen, alles giftig ist.«,10 alles aufzugeben. Nicht die zuvor begehrte Frau entpuppt sich in Wildes Erzählung als hässlich, doch die Idee, an ihrer Seite Anschluss an die kodifizierten Gesellschaftsformen zu finden und dort die Schönheit hochzuhalten, zerbricht brutal an der Erkenntnis der eigenen Unterlegenheit in einer Welt, die sich den Ästheten als Hofnarren hält und ihn sich selbst als Karikatur erfahren lässt. Die Märchenfigur des Zwerges unterscheidet sich von Wildes späteren Hauptfiguren, dem Romanhelden Dorian Gray, aber auch den Männern Jack alias Earnest und Algernon in The Importance of Being Earnest insofern, als ihm nicht die Flucht in die Verstellung und die Option eines Doppellebens zwischen nach außen gelebter Fassade und innerer moralischer Opposition offensteht. Man muss darin nicht zwangsläufig eine Prophetie Wildes in Hinblick auf sein eigenes Schicksal sehen, doch entbehrt die Argumentation keineswegs an Stichhaltigkeit, dass Wilde von der restriktiven Gesellschaftsform des (gleichwohl unausweichlich seinem Ende entgegensteuernden) viktorianischen Zeitalters und einigen seiner typischen Repräsentanten und Kontrollinstanzen in einer Art und Weise erdrückt und erniedrigt wurde, zu der die Stigmatisierung des Zwerges mit seiner Hässlichkeit und Reduzierung auf ein Spielzeug, dem kein eigenes Herz zugestanden wird, ein mehr als nur märchenhaftes Äquivalent ausmacht. Mit Wildes Tod in Frankreich nach Verbüßung seiner Haftstrafe in Reading trägt die ästhetische Bewegung Frankreichs und Englands auch ihre Hoffnung zu Grabe, dass sich ein scharf als solcher wahrgenommener Mentalitätsunterschied des französischen und des englischen Bürgertums überbrücken ließe. Bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs und noch länger avanciert Wilde mehr und mehr, abstrahiert von seinem höchst individuellen Schicksal und Fall, der sich aus seiner (noch weit über die zeitlichen

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Merlin Holland, Das Oscar-Wilde-Album, München 1998, S. 117ff. Wilde, The Birthday of the Infanta, S. 123. Holland, Das Oscar-Wilde-Album, S. 125.

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und räumlichen Begrenzungen des englischen Viktorianismus hinaus) ›abnormen‹ Sexualität ergab, zu einer Symbolfigur für das Scheitern der verpassten Anpassung innerhalb der europäischen Kultur. Der Ästhetizismus gewinnt in seiner neuerlichen Reflexion eine politische Dimension, die im Zwerg von The Birthday of the Infanta, dem Opfer einer erstarrten imperialen Umwelt zwar nachträglich betrachtet durchaus antizipiert erscheint, die sich aber vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung noch viel stärker bemühen lässt. 1934 veröffentlicht Maurice Rostand, der 1891 (im Jahr der Fertigstellung von Les Romantiques für die Comédie) geborene Sohn Edmonds, ein dreiaktiges Theaterstück mit dem Titel Le Procès d’Oscar Wilde im Pariser Verlag Flammarion. Wie der Titel nahelegt, handelt es sich um einen Text, der (vergleichbar dem zu Die Affäre Dreyfus von Hans José Rehfisch aus dem Jahr 1929), gut zwei Jahrzehnte vor den Erfolgen Hochhuths, den Schritt zu einer Art von frühem Dokumentartheater vollzieht. Damit geht Rostand noch einen Schritt weiter als ältere Kollegen, die sich bereits früher an diesem Fall versucht haben. Das öffentliche Interesse an Oscar Wildes Schicksal und der tragischen Verflechtung seines Lebenswandels mit der von ihm vertretenen ästhetischen Linie ist seit seiner Verurteilung nicht erloschen. Zu dieser Thematik finden sich unter den dramatischen Texten der Zeit unmittelbar vor und zwischen den Weltkriegen Versuche von ganz unterschiedlichen Verfassern. Carl Sternheim schrieb 1925 Oskar [sic] Wilde. Sein Drama.11 Der Roman The Picture of Dorian Gray inspirierte Künstler bis weit ins 20. Jahrhundert zu Adaptionen. Zu den Bühnenadaptionen gehört eine von Jean Cocteau, bereits 1909 geschrieben, die allerdings erst 1978 zur Aufführung gelangte.12 Rostand orientierte sich seinerseits offenkundig an dem dokumentarischen Material, das bereits früh, wenngleich nur bruchstückhaft, zu der gerichtlichen Causa Wilde kursierte, beginnend mit seiner Klage gegen den Marquis von Queensberry, den Vater seines Geliebten Alfred ›Bosie‹ Douglas, und den beiden im Gegenzug wider Wilde eröffneten Verfahren. Bereits 1896 erschien im Leipziger Max-SpohrVerlag Der Fall Wilde und das Problem der Homosexualität, basierend auf der Grundlage von Zeitungsberichten. Ebenfalls nur ein Kondensat von Reportagen gerät 1906 in Umlauf, »als Privatdruck von Charles Carrington in Paris erschienen, The Trial of Oscar Wilde, angeblich auf der Basis der stenographischen Verhandlungsprotokolle; [...] 1912 veröffentlichte Christopher Millard, ein enger Freund von Robert Ross und später (unter dem Pseudonym Stuart Mason) auch Wildes erster Bibliograph, anonym Oscar Wilde: Three Times Tried.«13 Auf diese drei Quellen konnte sich Maurice Rostand in seinem Theaterstück stützen, um die Tragik eines Künstlers vorzuführen, dessen Hybris darin bestand, sich vor Attacken und Beleidigungen seines erbitterten Feindes Queensberry sicher zu fühlen. Wilde glaubte nicht, dass sein Widersacher über andere Beweise für die Amoralität des Poeten verfügen könnte als seine Schriften. Rolf Italiaander, der 15 Jahre nach dem französischen Erstdruck die deutsche Übersetzung Der Prozeß Oscar Wilde von Rostands Drama vorlegt, lässt in der Einleitung zur Buchausgabe jegliche

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Kohl, S. 284f. Ebd. Merlin Holland, Oscar Wilde im Kreuzverhör, aus dem Englischen von Henning Thies, München 2003, S. 46.

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professionelle Distanziertheit beiseite und schwärmt ungehemmt von der Uraufführung am Théâtre de l’Œuvre, die Italiaander als Student in Paris am 15. März 1935 erlebt hat – nach eigener Schilderung mit einem überragenden Harry Baur in der Rolle Wildes.14 Vor allem ist in dieser deutschen Ausgabe eine Anordnung des Textmaterials vorgenommen worden, die bereits beim ersten Lesen befremdet: Die Vorrede zu The Picture of Dorian Gray wird ausgiebig zitiert, um einige der Aphorismen zum Künstler, seine ästhetischen Erzeugnisse und das Verhältnis zum Rezipienten klarzustellen. Wer die deutsche Rostand-Übersetzung und eine Romanausgabe von Dorian Gray15 nebeneinanderlegt, dem werden vor allem drei Dinge auffallen: Gleich nach dem ersten Aphorismus werden die nächsten drei ausgespart; davon dreht sich der eine um das Verhältnis des Kritikers zur Kunst, die übrigen beiden lauten zum einen: »Die Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verstecken ist die Aufgabe der Kunst.« Zum anderen: »Wer häßlichen Sinn in schönen Dingen findet, ist verderbt, ohne Anmut zu haben. Das ist ein Fehler.« Der komprimierte Text in der Ausgabe von Rostands Drama schließt stattdessen an, »Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge«, nahtlos an: »Wer in schönen Dingen schöne Absichten erblickt, hat Kultur. Für ihn steht zu hoffen.« Wer nun bereits den Verdacht hegen könnte, dass die Verknappung mit der Strategie erfolgt, das ambivalente Verhältnis zwischen Rezeptionsästhetik und Moral einer klaren Aussage über den Künstler zu opfern (der laut Dorian Gray-Vorrede in der Kunst verborgen bleiben sollte), sieht sich im Folgenden bestätigt, wenn außerdem noch der Aphorismus der Vorrede in der Rostand-Ausgabe ebenfalls verschwindet: »Das moralische Leben bildet einen Teil des Stoffgebietes des Künstlers, aber die Moralität der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mittels.« Zuletzt wird im Vergleich zur Vorlage noch der Beschluss der Vorrede gekappt: Wir können einem Menschen verzeihen, daß er etwas Nützliches gemacht hat, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung dafür, daß einer etwas Nutzloses gemacht hat, ist, daß man es sehr bewundert. 16 Alle Kunst ist völlig nutzlos.

Der Übersetzer Italiaander umreißt die Absicht, die Maurice Rostand mit seinem Stück verfolgt habe, folgendermaßen: »So hat dieses Stück nicht nur eine künstlerische Mission – und es ist ein Kunstwerk! – sondern schlechthin eine menschliche. Das Drama will mithelfen, den versklavten Menschen zu befreien. Dafür litt ja auch Oscar Wilde.«17 Die Kürzung der vor Koketterie strotzenden Passagen in Wildes Text sind Indizien einer Manipulation, die eine nicht vorhandene ›Autorintention‹ und Programmatik Wildes fingiert. Der Narzissmus der Form, die jedem Leser sein eigenes Verständnis, sowohl des Schönen als auch des Hässlichen, widerspiegelt, wird suspendiert. Italiaanders Einführung lässt einen Schauspieltext erwarten, der die Psychologie und das Schicksal des Künstlers von Neuem in direkte Entsprechung zu seiner Kunst setzt. Mit Wildes Neuauslegung des Narziss-Mythos

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Maurice Rostand, Der Prozeß Oscar Wilde, Glückstadt 1951, S. 10. Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray, Frankfurt 1985, S. 7 f. und ders., The Picture of Dorian Gray, Oxford 2005, S. 167f. Ebd. Maurice Rostand, Der Prozeß Oscar Wilde, S. 17f.

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hat dies nichts zu tun. Anstelle zu erwägen, dass der Ästhet (Narziss) unbewusst ein Medium der Kunst (des Flusses) ist, erhebt Italiaander den Dichter Wilde zum Märtyrer und Rostand zu seinem Verkünder. Er betont nimmermüde, dass sich Arthur ›Bosie‹ Douglas nach anfänglicher juristischer Intervention nicht nur mit Rostands Drama abgefunden habe, sondern überdies bei einem Treffen den Franzosen für unerwartet sympathisch erachtet habe. Wenn schon nicht die ›nutzlose Kunst‹ im Dorian Gray, so wird denn das Künstler-Leben Wildes zur christushaften Passion für eine bessere Welt, in einem Bild, das schon Frank Harris zur Illustration des Wilde-Kultes diente: »Wilde hat die Dornenkrone getragen und ein schweres Kreuz dazu.«18 Es bleibt nachzutragen, dass Italiaander sich 1948 unmittelbar nach dem Erscheinen des Wilde-Bandes in der Reihe Notable British Trials, versehen mit der »hervorragende[n] Einleitung«19 des Anwalts H. Montgomery Hyde, beschlichen von »einem bangen Gefühl« an die Lektüre dieses Kompendiums machte, um festzustellen, daß es dem französischen Dichter Maurice Rostand in geradezu erstaunlicherweise gelungen ist, sein Drama so zu konzipieren und zu gestalten, daß es zwar die poetische Verklärung einer Dichter-Tragödie darstellt, sich aber in keiner Weise von den Tatsachen 20 entfernt oder sie auch nur irritierend verzeichnet.

Stellt Rostands Drama also faktengetreu eine historische Persönlichkeit und eine ›sittliche Wahrheit‹ dar? Dann wäre mit Wildes Leben als Paradigma des Ästhetizismus tatsächlich die Synthese zwischen Historie und Poesie möglich geworden, die Goethe, Hugo und Gide dramentheoretisch behandelt haben. Die ›realistische Sublimation‹ von Tatsachen ist im Stücktext nachzulesen und anhand einer lückenlosen Dokumentation überprüfbar. Unter den Fakten, an die sich Rostands Drama hält und die heute in der Niederschrift des Queensberry-Prozesses (ediert von Wildes Enkel Merlin Holland) vorliegen, stößt man auf eine bemerkenswerte Vermischung von Kunst und Leben: Bevor Wilde der Prozess mit Fakten und Unterstellungen aus seinem Doppelleben gemacht wurde, diente The Picture of Dorian Gray dem Kronanwalt Edward Carson und Rechtsbeistand Queensberrys als ein Indiz zum Nachweis der moralischen Verwerflichkeit des Klägers. Offenbar vertraute Oscar Wilde, als er am 3. April 1895 mit einer Verleumdungsklage gegen Queensberry vor Gericht zog, tatsächlich darauf, dass sein Widersacher Wildes Unmoral einzig und allein mit dem Roman The Picture of Dorian Gray zu belegen gedachte. Dort redete sich Wilde im Vertrauen auf seine rhetorische Fertigkeit um Kopf und Kragen. Der Spiegel, der ihm von der Staatsanwaltschaft in der anschließenden Verhandlung vorgehalten wurde, war weitaus vernichtender, als es Wildes ästhetisches Zeugnis Dorian Gray bei einem mit der schärfsten Konsequenz verfolgten Indizienprozess jemals hätte sein können. Mit dem vernichtenden Beweismaterial allerdings, das Queensberrys Anwälte aus der homosexuellen Halbwelt der Stadt ans Licht zerrten, kann er nicht gerechnet haben; einiges davon wurde ihm kurz vor Beginn des Verfahrens zugänglich gemacht. Wäre er zu diesem Zeitpunkt nur mit einem Katalog »unzüchtiger Handlungen« konfrontiert worden, hätte er

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Ebd. S. 11. Holland, Oscar Wilde im Kreuzverhör, S. 47. Maurice Rostand, Der Prozeß Oscar Wilde, S. 19.

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vielleicht den Rückzug angetreten, doch in diesen Unterlagen wurde Dorian Gray attackiert als ein »unmoralisches und obszönes Werk, das darauf abzielt, die Moral zu 21 untergraben und widernatürliche Laster zu fördern«.

So heißt es im Gerichtsprotokoll vom 3. April 1895 just an der Stelle, wo Carson versucht, Parallelen zwischen der, von ihm als ›sodomitisch‹ eingestuften, homoerotischen Bewunderung seitens der Romanfigur Basil, dem Maler, für Dorian Gray und Wildes privaten Gefühlen herzustellen: CARSON:

Haben Sie je dieses Gefühl [wie es Basil gegenüber Dorian Gray zu erkennen gibt, St] verspürt, eine schöne männliche Person, die viele Jahre jünger war als Sie selbst, rasend zu verehren? WILDE: Ich habe noch nie jemanden verehrt – außer mich selbst. (Lautes Gelächter.)

Beim Innehalten an dieser Stelle entsteht der Eindruck eines Belegs für Oscar Wildes narzisstische Haltung, überspreizt bis zur Selbstherrlichkeit. Doch Wilde erhebt im Folgenden scharfen Einspruch auf die Frage Carsons, ob er die Situation mit dieser Antwort ins Lächerliche ziehen wolle. Er präzisiert: »Verehrung ist ein Gefühl, das ich für mich selbst reserviert habe.« Und weiter: WILDE:

Ich habe Ihnen schon geantwortet. Ich habe noch nie einen jungen Mann verehrt, der jünger war als ich selbst, noch eine Person irgendeiner Art, die älter war als ich. Ich verehre sie einfach nicht. Entweder liebe ich jemanden oder ich liebe ihn nicht. CARSON: Dann hatten Sie also niemals das Gefühl, das Sie hier schildern? WILDE: Nein, es tut mir Leid, dass ich das hier zugeben muss, aber es war von Shakespeare entlehnt. (Gelächter.) CARSON: Von Shakespeare? 22 WILDE: Ja, aus Shakespeares Sonetten.

Bis zu diesem Moment, an dem er sich darauf beruft, den großen Dichter des Elisabethanischen Zeitalters zitiert zu haben, läuft alles für Wilde nach Plan. Er kann anschließend am Beispiel Shakespeares den Unterschied zwischen Konzepten wie Verehrung und Liebe genauer erläutern und mit seinem ästhetischen Programm in Beziehung setzen. Dabei bedient er sich der Hypothese von einem jungen Mann als Widmungsträger von Shakespeares Sonetten, die er einige Jahre zuvor (1889 im Blackwood’s Magazine) bereits in den Essay »The Portrait of Mr. W. H.« in Form eines Protestes eingearbeitet hatte: gegen die schändliche Perversion, die [Henry, St] Hallam und zahlreiche französische Kritiker mit Shakespeares Sonetten in Verbindung gebracht haben. Ich habe erläutert, dass die Liebe Shakespeares zu dem jungen Mann, dem er sie [die Sonette] gewidmet hat, die Liebe eines Künstlers zu einer Erscheinung (personality) sei, in der ich einen Teil seiner 23 Kunst sehe.

Es ist an diesem Punkt der Verhandlung bereits ein äußerst riskantes Spiel, das Wilde treibt. Einerseits behauptet er, ›seiner‹ Romanfigur Basil ein ShakespeareZitat der (nach Carsons Bezichtigung homoerotischen) Verehrung in den Mund gelegt zu haben. Damit wäre er eigentlich entlastet. Ohne dass es Wilde vorzuhalten wäre, ist der Eigenaussage eines fiktiven Künstlers im Roman en abyme die

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Holland, Das Oscar-Wilde-Album, S. 158f. Holland, Oscar Wilde im Kreuzverhör, S. 163f. Ebd., S. 166.

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literarische Äußerung einer – im Sinne (freilich widersprüchlicher) historischer Verbürgtheit – ›realen‹ Künstlerpersönlichkeit unterlegt. Doch lässt sich Wilde im direkten Gegenzug von Carson dahingehend provozieren, das en abyme zu Lasten seiner eigenen Künstlerpersönlichkeit wieder aufzuheben (oder sich selbst en abyme einzuschließen) und zwar mit der Darlegung seiner Position zu Shakespeares eventuell homoerotischer Adressierung der Sonette. Merlin Holland hat diesbezüglich darauf hingewiesen, dass es Carson am zweiten Verhandlungstag, dem 4. April 1895, gelungen war, Wilde mit der Möglichkeit zur literaturtheoretischen Reflexion (und Selbstbespiegelung) einzulullen, um ihn umso überraschender mit seinen Halbweltkontakten in England und Paris konfrontieren zu können. Vollends schnappte nach Holland diese Falle zu, als sich Wilde auf Carsons Frage hin, ob er Walter Grainger (Bosies minderjährigen Diener in Oxford) je geküsst hätte, zu der leichtsinnigen Antwort hinreißen ließ, das sei wegen Graingers Häßlichkeit nie in Frage gekommen.24 Darüber sollte aber nicht verschwiegen werden, dass Carson noch einmal verheerend Wildes Lebenswandel in Relation zu seinem künstlerischen Berufsethos setzte, nämlich in seinem Plädoyer, das umgehend zum Fallenlassen der Klage Wildes gegen Queensberry (und damit zur juristischen Verfolgung Wildes durch den englischen Staat) führte. Für das »Posieren als Sodomit«, das als handschriftlich hinzugefügte Grußformel auf Queensberrys Visitenkarte Wilde zur Klage provozierte, sind laut Carsons Verteidigung genügend Anhaltspunkte geliefert worden, die sich nicht nur in Wildes Gebaren in öffentlichen Gebäuden wie Hotels und Restaurants (wo er auch mit niedrigstehendem Personal auf Du und Du stand) äußerte, sondern auch in verfänglichen Texten, die in Carsons Argumentation nur als ›Literatur‹ maskiert wurden. The Picture of Dorian Gray wird zum Corpus Delicti einer Beweisführung erhoben, die es zum Ziel hat, das Werk, mit dem sein Verfasser eigentlich in den Dialog mit der Öffentlichkeit treten sollte, als Ausdruck seiner sozialen Inkompetenz zu entlarven. Je stärker demzufolge Oscar Wilde seine rhetorische Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen bestrebt war, desto mehr verstrickte er sich zwangsläufig in die Falle, den Eindruck des selbstverliebten Neurotikers zu verstärken, dessen perverses Doppelleben vor allem auf das gestörte libidinöse Verhältnis zur Außenwelt zurückzuführen ist. Im Prozess Wildes gegen Queensberry münzt Carson zwei zentrale Punkte in seinem Schlussplädoyer auf dieses Persönlichkeitsbild, zum einen bezüglich Alfred Taylors Mittäterschaft bei Wildes »Inszenierung all dieser Orgien mit Künstlern und Dienern«25, mit denen, wie Carson suggeriert, Wilde sich seine eigene Grandiosität beweisen musste, indem er sozial tiefer Gestellte um sich scharte und zu amoralischen Lustobjekten herabwürdigte. Zum anderen degradiert Carson auf der Basis dieses Vorwurfs schließlich auch Wildes Schreiben und theatralisches Gebahren vor dem hohen Gericht zu einer narzisstischen, weil selbstreferentiell über die eigenen Unzulänglichkeiten hinwegtäuschenden Sprache und Form. »In Bezug auf seine Bücher schrieb er nur in der Sprache eines Künstlers für Künstler. Und nun, meine Herren Geschworenen, vergleichen Sie das noch einmal mit der Haltung, die er in Bezug auf diese jungen Burschen einnimmt.«26

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Holland, Das Oscar Wilde-Album, S. 164 und ders., Oscar Wilde im Kreuzverhör, S. 301. Holland, Oscar Wilde im Kreuzverhör, S. 356. Ebd., S. 357.

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Nicht nur dass Carsons Attacke äußerst scharf vorgetragen ist: sie vernachlässigt überdies, indem sie Wildes Werk einer Amoralität bezichtigt, die durch hermetische ästhetische Abgeschlossenheit und gegenseitiges Verständnis unangreifbar werden sollte, einen wichtigen Aspekt: Wilde hat in seinem Hauptwerk The Picture of Dorian Gray dieses stumme Einverständnis unter den ›ästhetischen Subjekten‹ gerade in Abrede gestellt. Die Schauspielerin Sibyl Vane geht ja an Dorian Grays Lebenswandel zugrunde, weil sie seine ästhetische Weltwahrnehmung und den kritisch distanzierten Umgang mit seinen Mitmenschen nicht überwinden und zu ihrer liebevollen Zuneigung und dem Anspruch auf ein Privatleben abseits der Theaterbühne hinlenken kann, auf der sie Dorian als Shakespeare-Darstellerin bewundert hat. »Wenn sie erklärt, sie hasse die Bühne, sie könne eine Leidenschaft zwar spielen, die sie nicht empfindet, aber keine, die in ihr brennt, da ist das in seinen Augen nichtswürdiger Dilettantismus.«27 Wenn in der Analogie zum antiken Mythos Dorian Gray die Rolle des Narziss für das fin de siècle übernimmt, so nimmt die Schauspielerin Sibyl in der Abhängigkeit von ihrem Liebesobjekt und von den Texten, die ihr die Dramatik des längst vergangenen Elisabethanischen Zeitalters in den Mund legt, die des Echos ein. Die Nymphe wird in ihrer Klage versteinert – die Schauspielerin ist, genau wie die realen Diven von Wildes Zeit – eben beispielsweise Sarah Bernhardt und Ellen Terry – zur ewigen Jugend verdammt, ein Stück Inventar des immer gleichen Bühnenmobiliars, zu dem der Ästhet Dorian Gray keinerlei Beziehung entwickeln kann, sobald er in persönlichen Kontakt mit dieser, nur auf der Bühne verehrten, Frau tritt. In diesem Punkt baut Wildes »Amoralität«, die gegen ihn vor Gericht (zusätzlich zu seinem skandalösen Privatleben) ebenfalls bezüglich seiner literarischen Produktion zum Vorwurf erhoben wird, auf dem Desinteresse des Theaterpublikums daran auf, dass den ›Vorarbeiterinnen‹ in der Traumfabrik spätviktorianischen Theaters kaum zugestanden wurde, eigene Träume und private Ziele zu verfolgen; es sei denn, diese hätten sich wiederum als Gegenstand öffentlicher Spekulation oder Skandale geeignet. Maurice Rostand hat nun seinerseits nicht nur wortwörtlich lange Passagen aus den Vernehmungs- und Prozess-Protokollen in Sachen Oscar Wilde übernommen, sofern sie ihm eben aus den erwähnten Quellen zugänglich waren. Auch die um diesen Komplex herum angeordneten Szenen, die Wilde primär im Umgang mit Bosie und Frank Harris zeigen, werden um Zitate zum und aus dem Schaffen Wildes angereichert. So findet die Erweiterung des Narziss-Mythos, die Wilde im Gespräch mit Gide vorgenommen haben soll, ihre Verwertung in der fünften und letzten Szene des ersten Aktes von Rostands Drama, in einem Dialog zwischen Oscar und dem Groom Jimmy. Dieser hat Wilde einen Brief von Bosie überbracht, in welchem dieser Wilde Feigheit vorwirft, wenn er sich nicht den Vorwürfen seines Vaters stellt. Ironischerweise bemerkt Wilde noch, bevor ihn der Brief erreicht: »Londres devient moins ennuyeux, la nuit, quand la reine dort... Oui, il faut que quelque chose arrive«. Nun ist also wirklich ›etwas passiert‹, denn Wilde hat die Erkenntnis über Bosie gewonnen: »Comme le père et le fils se ressemblent tout de même«28. In Maurice Rostands Text wird im direkten Anschluss die Homoerotik in das Angebot

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Wuthenow, S. 165. Maurice Rostand, Le Procès d’Oscar Wilde, Paris 1934, S. 71f.

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Wildes an Jimmy projiziert, dem Jungen Geschichten zu erzählen, um am Abend der drohenden Einsamkeit zu entgehen: OSCAR: Je ne voudrais pas être seul ce soir, Jimmy. Il y a des soirs comme cela, des soirs où la souffrance vient de partout, des quatre coins de la vie et où l’on a peur d’être seul. 29 Nous irons nous promener le long de la Tamise et je te raconterai des histoires.

Nachdem Oscar seinen Groom noch mit etwas Taschengeld bestochen hat, um ihn zum Zuhören zu bringen, willigt dieser ein. »A la devanture du petit café de mayfair«: dort, meint Wilde, werde er Jimmy die schönste Geschichte von allen erzählen, nämlich von Narziss und den Blumen am Fluss. Doch auf die Frage Jimmys, wer Narziss gewesen sei, löst Wilde sein Versprechen umgehend ein und erzählt die aus dem Gespräch mit Gide bekannte, abgewandelte Version des Mythos, anfangs mit bebender Stimme, um schließlich in Schluchzen auszubrechen: Et puis, non, non qu’est-ce que tout cela me fait? Que peuvent me faire Narcisse et son reflet dans la rivière et tout cette mythologie morte? Il n’y a qu’une chose qui compte ce soir, une seule, c’est Bosie. Est-ce que tu me comprends, pauvre petit? Je te retiens, comme ça, je ne sais pourqoi, pour pas être seul, pour me donner la chance, pour parler à quelqu’un qui m’écoute! Mais tous m’est égal en dehors de lui, tout, me comprends-tu? C’est sa beauté à lui que je cherchais en toi, sa jeunesse à lui, sa présence à lui, rien 30 d’autre, tu comprends, riens d’autre…

Der Verdacht, den Italiaanders Vorwort zur deutschen Textausgabe geweckt hat, bestätigt sich: Um die Dramenfigur Oscar Wilde zu tragischer Größe aufzubauen, wird sie psychologisch von dem Narzissmus der Form entfremdet, der ihr historisches Vorbild bis heute so undurchschaubar macht. Sehr wohl ›verzeichnet‹ wirkt das Selbstmitleid und Empathie-Bedürfnis, das ihr von Rostand noch in der Folge angedichtet wird. Der Akt schließt damit, dass Wilde den Groom zurück zu Bosie schickt, um ihm von Zusammenbruch und den Tränen seines Geliebten Nachricht geben zu lassen. Trotz oder eben aufgrund der Ähnlichkeit von Bosie mit seinem Vater, liefert sich Wilde beiden gewissermaßen aus. Bereits zuvor, in der dritten Szene des ersten Aktes, als die Folgen eines möglichen Gangs vor Gericht unter Freunden diskutiert werden, wird deutlich, dass dem Vater Bosies die Rolle des unbarmherzigen Patriarchen zugewiesen wird: LORD ALFRED: Un fils qu’il na jamais cessé de haïr, un fils dont il s’est désintéressé plus que d’aucun étranger. HARRIS: La justice anglaise ne verra pas si loin. Si Queensbury [sic] s’est trompé, on dira que c’est par un excès de zèle paternel. Il faudrait que vous fussiez un saint, Oscar, pour 31 avoir raison de lui, en Angleterre.

Der zweite Akt geht auf die Protokolle des ersten Verhörs im April 1895 und die Prozessakten zurück – soweit sie eben wie beschrieben zur Entstehungszeit von Rostands Stück in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nach außen kommuniziert worden waren. Dabei wird besonders der Aspekt der Bewunderung Wildes für Bosies Schönheit herausgestellt; sei es bei der Verlesung eines eifersüchtigen

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Ebd., S. 74. Ebd., S. 75ff. Ebd., S. 51.

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Briefes von Wilde, der Bosie »si Grec et si gracieux, déformé par la passion« schildert32, sei es, als die für Wilde verhängnisvolle Bemerkung, er habe Walter Grainger primär aufgrund seiner Hässlichkeit nicht geküsst, mit ihren vollen Konsequenzen im Vorgehen Carsons, einschließlich Wildes Selbstverteidigung, die ihn als Anwalt der Schönheit ausweist, wiedergegeben wird.33 Der dritte Akt zeigt Wilde in seiner Zelle in Reading. Das Stück endet mit der Heimsuchung Wildes durch die geisterhafte Stimme seiner Mutter. Hierfür als Inspiration mag dem Dramatiker Maurice Rostand die Erzählung Wildes gegenüber seinem Freund Vincent O’Sullivan gedient haben, nach welcher die Mutter in der Nacht ihres Todes 1896 dem Inhaftierten nach Verbüßen der Hälfte seiner Gefängnisstrafe in der Zelle erschienen war, allerdings als stumme Erscheinung.34 Als Wilde sie in Maurice Rostands Drama um Verzeihung bittet, entgegnet sie, ihrerseits um Verzeihung zu bitten: LA VOIX:

Pardon, Oscar, de t’avoir fait ce cœur trop semblable au mien. Pardon de t’avoir retenu contre moi lorsque tu étais enfant et d’avoir laissé de mon âme se répandre dans la tienne. Ah! Je le comprends maintenant, tu as été l’enfant de mes rêves, de mes aspirations, de ma jeunesse: je t’ai fait pareil à moi avec ce coeur déchiré de la femme, toujours prêt à aimer. Pardonne-moi. C’est de ma faute. Tu es trop né de moi et rien ne pouvait être au35 trement.

Maurice Rostands Wilde-Drama bedient mit dieser holzschnittartigen Psychologisierung noch einmal die Meinung derer, die hinter Selbstverliebtheit und -stilisierung des Dandy Kindheitstraumata und Neurosen am Wirken sehen wollen. Die Auslegung der homoerotischen Anziehung (ausgelebte Homosexualität deutet Maurice Rostand nur behutsam an) als die Manifestation einer effeminierten Männlichkeit, die aus der dominanten mütterlich-narzisstischen Identifikation und Inbesitznahme des Kindes resultiert – eine solche Interpretation, die außerdem mögliche Anflüge von Antifeminismus als Form von Selbsthass mit einschließt, fügt sich in das Schema, mit dem Richard Aldington nach dem Krieg noch den seiner Expertise nach pathologischen Fall T. E. Lawrence sezierte. Man kann auch sonst keineswegs behaupten, dass die Pathographie über Geistesgrößen und kreative Persönlichkeiten in der Zwischenkriegszeit verschwunden wäre. Keineswegs als Kuriosum angeführt seien die Publikationen des Münchner Nervenarztes Gaston Vorberg, der in einer Fülle von Publikationen in den 20er Jahren nicht nur die Geschichte der Geschlechtskrankheiten bis in die Antike zurückverfolgte: Vorberg reiht in seinem Band Von Seelenkranken – von Ansteckung – von Geschlechtsnöten eine ganze Schar prominenter ›Krankheitsfälle‹ aneinander, von Martin Luther, Simon Lemnius, Benvenuto Cellini, François Villon, über Friedrich den Zweiten, Jean-Jacques Rousseau (dessen Kindheit bereits 1912 Havelock Ellis auf der Suche nach möglichen Traumata zu wilden Spekulationen Anlass gab), August von Platen und Franz Schubert bis hin zu Kapiteln, die sich bereits in der jeweiligen Überschrift mit Eduard Mörikes Ehe, Flauberts Epilepsie und D’Alemberts geschlechtlicher Unfähigkeit beschäftigen. Zu Wilde zieht Vorberg, nachdem er unter anderem

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Ebd., S. 88. Ebd., S. 104ff. Holland, Das Oscar-Wilde-Album, S. 126. Maurice Rostand, Le Procès d’Oscar Wilde, S. 181.

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dessen »Ekel vor der menstruierenden und schwangeren Frau« festgestellt hat, folgendes Fazit: »Oskar Wilde hat verwandte Züge mit Lord Byron. Beide waren Söhne polygener Väter und anmaßender Mütter. Beide hatten in ihrem Leben etwas Weibliches. Beide waren willensschwache Psychopathen und Genußmenschen.«36 Das Ende von Rostands Drama aus dem Jahr 1934 lässt im Vergleich mit weitaus tragfähigeren Argumenten, die in den Jahren vorher der Sympathie mit Wilde als einem Märtyrer im Kampf um Meinungsfreiheit Ausdruck verliehen haben, stark zu wünschen übrig. Noch neun Jahre zuvor hatte Arthur Eloesser in der Weltbühne (1924, Nr. 15) die Rezension zur Wilde-Biographie von Frank Harris genutzt, um Versuche, den Außenseiter zu schützen, zu einem konfessions-übergreifenden Akt von Humanität und Toleranz zu erklären, der indes im Widerspruch zum außenseiter- und assimilationsfeindlichen Klima des europäischen Festlandes gestanden sei: Um auf Oscar Wilde zurückzukommen; der sehr unverdächtige Arier Frank Harris versicherte uns, daß es ein Jude war, der für den gefährdeten Dichter eine Yacht zur Flucht nach Frankreich bereit hielt, und daß es eine Jüdin war, die während der Gefangenschaft still und hilfreich für ihn sorgte. Der Dritte aber, der sein Vergehen oder seine Sünde in gar keine Beziehung zur irdischen Justiz bringen konnte, war ein englischer Bischof. Wir 37 haben solche Juden – aber solche Bischöfe haben wir nicht: Christ und Gentleman.

Die Beschwörung von der Toleranz eines anglikanischen Bischofs für Wildes moralische Verfehlungen nutzt Eloesser als Gelegenheit, die generelle Intoleranz der christlichen ›Kollegen‹ auf dem Festland anzuprangern. Trotz der durchscheinenden Ironie liefert diese Stimme intellektuellen jüdischen Außenseitertums in ihrer Solidarität mit einem als kriminell verurteilten homosexuellen Dichter wiederum denen Munition, die über Stereotypen eben diese beiden längst ins Visier genommenen Gruppen zu einem einzigen Feindbild hybridisiert haben.

8.2 Ästhetizismus als Offenbachiade – La Guerre de Troie n’aura pas lieu (1935/36) Diametral zu der Dramen-Konzeption Maurice Rostands, die die in die Öffentlichkeit getragene Kausa Wilde zu einem voyeuristischen Blick in die psychischen Nöte einer gequälten Ästheten-Seele umfunktioniert, verhält sich der Typus des ästhetischen Chauvinisten, der vom Ich-Kult der Jahrhundertwende in maßlosen Nationalismus verfällt. An vorderster Stelle ist hier Maurice Barrès zu nennen, dessen Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch erahnen lässt, dass ihn Léon Blum noch in den späten 90er Jahren des 19. Jahrhunderts für eine Pro-Dreyfus-Kampagne zu gewinnen versuchte. On a en effet oublié à quel point Barrès avait été le Prince de la jeunesse fin de siècle, à quel point son style, son »culte de moi« et son engagement politique au côté de Boulanger

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Gaston Vorberg, Von Seelenkranken – von Ansteckung – von Geschlechtsnöten, Stuttgart 1928, S. 107. Zitiert nach W. B. van der Grijn Santen, Die Weltbühne und das Judentum, Würzburg 1994, S. 162.

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avaient pu séduire ces jeunes écrivains et intellectuels admirateurs de Wagner et 38 Mallarmé.

Als Barrès 1906 der Action Française beitritt, weicht die dekadente Verführung den aufwieglerischen Signalen für jüngere Autorengenerationen. Nach dem Ersten Weltkrieg gehören die bis heute prominentesten Stimmen der französischen Literatur einerseits denjenigen, die wie Henri Barbusse in der reportageartigen Beschreibung und Ursachenforschung dem Grauen des Krieges auf den Grund gehen oder andererseits jenen, die wie die Dadaisten und Surrealisten auf den Umsturz der hinfälligen alten ästhetischen und moralischen Normen drängen. Die direkte Auseinandersetzung mit der ästhetizistischen Avantgarde findet bei spektakulären öffentlichen Anlässen statt, wie dem Schauprozess von André Breton gegen Barrès, die freilich stärker der Etablierung der neuen Kunstform dienen, als einer gründlichen Aufarbeitung a posteriori, inwieweit die Maske des eitlen Dandys in den Kriegsjahren dem Gesicht des Chauvinisten preisgegeben wurde. Selbst als Gabriele d’Annunzio im September 1919 mit seinem Einmarsch in Fiume und der dortigen Kommandantur für zwei Jahre die programmatische Synthese von Künstler und ›Tatmensch‹ in massentauglichen Posen der Selbstgefälligkeit bis zum Äußersten ausreizt, bleibt das Echo des internationalen Interesses angesichts der jeweiligen nationalen Schwierigkeiten gedämpft, so beispielsweise in der deutschen Presse spätestens, als im Herbst 1919 schnell klar wird, dass die Verhandlungssituation des italienischen Kabinetts mit den Alliierten einen ›zählbaren‹ Erfolg D’Annunzios unmöglich macht, den nur die Eingemeindung von Fiume in den italienischen Staat mit sich hätte bringen können. Da der Marsch auf Fiume nicht zu Status des Erlöst-Seins geführt hatte, erschöpften sich alle Handlungen in bloßem Symbolwert. Das Fiume-Abenteuer mußte zu einem rituellen 39 Opfer uminterpretiert und das Erlöst-Sein mußte aufgeschoben werden.

Die von Hans Ulrich Gumbrecht ins Feld geführte Erlösungsideologie ist einerseits auf Wagner und Nietzsche rückführbar, andererseits vorausweisend auf den ProtoFaschismus D’Annunzios und seiner Anhänger, in vorderster Reihe des futuristischen Piloten Guido Keller, der seiner Wut über die Verlogenheit und Angst der italienischen Politik mit dem Abwurf von Flugblättern über Rom Luft macht. Die Diplomatie opfert in den Augen dieser Erlösungsbedürftigen den Tatmenschen der Dichtung und seine pseudo-eschatologische Perspektive der Beschränktheit ihres Verhandlungs(un)geschicks. Zu dieser Momentaufnahme aus einer Zeit des Übergangs, in der faschistoide Tendenzen nicht nur den ›alten‹ Ästhetizismus abzulösen beginnen, bietet anderthalb Jahrzehnte später das kulturpolitische Klima reichlich Anlass, das Verhältnis des Ästheten zur Politik mit der Waffe in der Hand und am grünen Tisch neu zu definieren und zu beleuchten. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg greift der auf dem europäischen Diplomatenparkett gewandte Jean Giraudoux zu einer Mythentravestie im Stil Jacques Offenbachs, um nicht nur die ausgehöhlten Konventionen politischer Verhandlungen dem Spott preiszugeben und gegen einen Kulturbegriff auszuspielen, hinter dem sich

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Michel Drouin, L’affaire Dreyfus de A à Z, Paris 1994, S. 148. Hans Ulrich Gumbrecht, I redentori della vittoria. In: ders./Friedrich Kittler/Bernhard Siegert (Hg): Der Dichter als Kommandant, München 1996, S. 107.

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nichts als Voyeurismus und chauvinistische Geilheit verbergen, unterfüttert vom trügerischen Glauben an die Unantastbarkeit der eigenen Besitzstände. Am 22. November 1935 feiert La Guerre de Troie n’aura pas lieu Premiere im Pariser Théâtre de l’Athénée. Noch im folgenden Jahr wird das Stück in Annette Kolbs Übersetzung in Wien (Theater in der Josefstadt) erstaufgeführt. Die vom Zweiten Weltkrieg unterbrochene Verbreitung des Stückes setzt sich in den 50er und 60er Jahren fort, wozu neben Kolbs Version die englische Fassung von Christopher Fry beiträgt. Dagegen ist der Ruhm des 1882 geborenen Giraudoux aus der Zwischenkriegsund Nachkriegszeit in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich verblasst. Zwar ist die Originalität seiner anti-illusionistischen und humanistischen Dramatik unbestritten, doch wird seiner ausgefeilten Bühnensprache häufig Manieriertheit und Spannungsarmut vorgeworfen. Auch die Stoffwahl Giraudoux’, die nach der Mythologie und Sagenwelt Ende der 30er Jahre auch noch auf die UndineErzählung von Friedrich de la Motte Fouqué fällt, hat seine Stellung nicht gerade gegenüber dem Agitationstheater und den Manifesten der Epoche gestärkt. Trotzdem oder genau deshalb gilt es zu berücksichtigen, dass Giraudoux sein durch und durch literarisches Theaterverständnis klar und programmatisch von der Theaterreformbewegung derer abgrenzt, die die Funktion des Theaters in der Organisation von Aktionen und weniger im verbalen und semantischen Nuancenreichtum seiner Sprache sieht. Obwohl diese Opposition Giraudoux’ den Eindruck von rückwärtsgewandter Unkenntnis und Verschlossenheit eines Intellektuellen in seinem Elfenbeinturm erwecken könnte, rührt sie doch von seinen Erfahrungen, insbesondere mit dem deutschen Theater her, die er während seines Studiums in Deutschland ab 1905 von München aus machen konnte. Von seiner Kenntnis der deutschen Sprache profitieren auch noch die späteren deutschsprachigen Premieren seiner Stücke. Diesbezüglich kann man sich erneut in den Memoiren von Elisabeth Bergner kundig machen (wie auch am Rande über Giraudoux’ spätere, verfängliche diplomatische Freundschaft mit Hitlers außenpolitischem Berater Joachim von Ribbentrop), die anlässlich der deutschen Erstaufführung von Amphitryon 38 auch mit diesem Dramatiker persönlich zusammengearbeitet hat: »Giraudoux verstand und sprach ganz gut Deutsch und war sehr hilfreich auf den Proben. Er hatte viel besseren Geschmack als Barnowsky und zwischen Barnowsky und mir waren es meistens Geschmacksfragen, die zu Geplänkel führten.«40 Keinerlei Geplänkel gab es zwischen Giraudoux und Louis Jouvet, dessen Vorstellung vom Theater als nécromancie Autor und Regisseur zusammenschweißte: Denn Magie und Verwandlung, das ist es, worauf es dem Stückeschreiber ankommt, und wobei ihm der Schauspieler und Regisseur Louis Jouvet zur Seite steht, mit dem er zehn Jahre lang zusammenarbeitet, in einer der wunderbarsten, fruchtbarsten 41 Arbeitsgemeinschaften, die das moderne Theater gekannt hat.

Diese »wunderbare« Zusammenarbeit ist eine wichtige Basis für den Erfolg von La Guerre de Troie n’aura pas lieu wie überhaupt aller vorangegangenen GiraudouxPremieren seit 1928 (Siegfried, Amphitryon 38, Judith und Intermezzo). In La

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Bergner, S. 91. Gertrud Mander, Jean Giraudoux, Velber 1969, S. 35.

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Guerre de Troie n’aura pas lieu übernahm Louis Jouvet zusätzlich zur Regie die Hauptrolle des trojanischen Kriegshelden Hector (Hektor), den Giraudoux zum Pazifisten umgestaltet hat. Nach der Heimkehr von einem erfolgreichen Feldzug, von dem Hector hoffte, es würde sein letzter sein, lässt Giraudoux Hector, konfrontiert mit der Entführung Hélènes (Helenas), zwei Konflikte austragen: Im ersten tritt er gegen den perfiden Dichter Demokos an, der mit seinen Gesängen auf die Schönheit Hélènes das ästhetische Ideal besingt, das als verführerische Motivation zum Krieg idealisiert wird: DEMOKOS.

[…] Belle Hélène, Hélène de Sparte, À gorge douce, à noble chef, Les dieux nous gardent que tu partes, 42 Vers ton Ménélas derechef.

Mit verunglückten Versen wie diesen trägt der Hofdichter Demokos nicht nur zur Erheiterung bei, sondern zieht stückimmanent den Zorn Hectors auf sich, der bereits erkannt hat, dass von der Verherrlichung der nach Troja entführten Schönheit der nächste Weg in eine kriegerische Auseinandersetzung mündet. Im direkten Anschluss heißt es an der gleichen Stelle: »DEMOKOS. Qu’as-tu à me regarder ainsi? Tu as l’air de détester autant la poésie que la guerre. HECTOR. Va! Ce sont les deux sœurs!« (GT 68) Dass insbesondere die Figur des Demokos auf historische Persönlichkeiten der Vorkriegszeit beziehbar ist, ist kein neuer Gedanke: So hat bereits Catherine Poisson als mögliche Vorbilder von Demokos auf Paul Déroulède, der in Folge des deutschfranzösischen Krieges 1870/71 mit martialischer Lyrik und im Zuge der DreyfusAffäre mit nationalistischen Parolen von sich reden machte, hingewiesen, sowie auf Charles Maurras, den Mitbegründer der Action Française und Verfasser von Le Chemin de paradis.43 Allerdings bedürfen solche Parallelisierungen einer Überprüfung, denn während die genannten Dichter sich kategorisch von der décadence distanzierten, betreibt Demokos, was Hélène anbelangt, einen regelrechten Kult der Schönheit um ihrer selbst willen, der eher dem Ästhetizismus verwandt als abgewandt zu sein scheint. Zudem lässt sich Giraudoux’ Troja nicht eindeutig als Allegorie auf Frankreich oder eine andere europäische Nation entschlüsseln. Fest steht so viel: Die Figur des Demokos ist als die eines a l t e n Poeten angelegt, der dennoch (oder genau deshalb) nicht davon absieht, seinen Mitmenschen sein Schönheitsideal und seine daraus abgeleiteten politischen Schlussfolgerungen kundzutun. »Caricature de vieillard sénile, libidineux, phraseur, vantard, Déroulède bavant, il est pourtant le ›poète troyen‹, qui se tait pour laisser la parole au ›poète grec‹«.44 Demokos ist die letzte, niedrigste Stufe des Dichterbildes der Dekadenz, das die eigene Grandiosität beschwört, nur um ins »délire verbal« holpriger Verse zu verfallen. Das Zeitalter der großen Epen wird er nicht mehr erleben. Zum Mythos wird der »griechische Dichter«, Homer, der über den Krieg berichtet, nicht vor Kriegsbeginn das Loblied der Gewalt singt. Mit den nationalistischen Dichtern, die

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Jean Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu, hg. von Catherine Poisson, Évreux 1994, S. 68 (i. F. in Klammern als GT zitiert). Ebd., Annexes, S. 187. Jacques Body: Notice sur La Guerre de Troie n’aura pas lieu. In: Jean Giraudoux, Théâtre complet, Paris 1982, S. 1496.

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sich gegen die Dekadenz wandten (oder deren Spuren in den eigenen Werken hinter chauvinistischen Tönen verschwinden ließen), teilt Demokos die Ablehnung der Schwäche und Müdigkeit, im schlimmsten Fall der Kriegsmüdigkeit. Die Aufgabe seiner Kunst besteht darin, der Körperkraft der Trojaner im Kriegsfall einen weiteren, rauschhaften Impuls zu geben. Dass der Vitalismus (der bereits Shaw einen Ausweg aus dem von der Gesellschaft abgeschotteten Ästhetizismus zu weisen schien) in diesem Fall ein Blutrausch an der Schwelle des Todes ist, spielt für Demokos keine Rolle. DEMOKOS.

Car il ne suffit pas, à la guerre, de fourbir des armes à nos soldats. Il est indispensable de porter au comble leur enthousiasme. L’ivresse physique, que leurs chefs obtiendront à l’instant de l’assaut par un vin à la résine vigoureusement placé, restera vis-àvis des Grecs inefficiente, si elle ne double de l’ivresse morale que nous, les poètes, allons leur verser. (GT 59)

Wie verwandt Poesie und Krieg im Sinne Hectors einander sein können, macht das Beispiel des Demokos im zweiten der beiden Akte von La Guerre de Troie n’aura pas lieu deutlich, als er anstelle der Verherrlichung von Hélènes Erscheinung einen Kriegsgesang als neuestes Werk seiner dichterischen Produktivität anpreist. Dabei liefert er eine genaue Beschreibung von seiner Vorstellung des Krieges: DEMOKOS.

Elle dédaigne les affronts du temps de paix. Mais, dès qu’elle est présente, son orgeuil est à vif, on ne gagne pas sa faveur, on ne la gagne que si on la complimente et la caresse. C’est alors la mission de ceux qui savent parler et écrire, de louer la guerre, de la flatter sans arrêt aux places claires ou équivoques de son énorme corps, sinon on se aliène. (GT 96)

Dass der Krieg in ein erotisches Verhältnis mit dem Dichter treten könnte, ist der Gipfel einer Selbsttäuschung (wie schon bei Hectors Replik der »Schwestern« Krieg und Poesie ist der sprachliche Genusunterschied zwischen »dem« Krieg und »la guerre« hinderlich). Die Grundidee für die Kriegshymne macht dies noch deutlicher: »DEMOKOS. Elle [la guerre] doit être lasse qu’on l’affuble de cheveux de Méduse, de lèvres de Gorgone: j’ai l’idée de comparer son visage au visage d’Hélène.« (GT 97) Im Krieg als Idealpartner(in) hyper-kompensiert Demokos, dass er selbst vor diesem Ideal, dem »gewaltigen Körper«, eine kümmerliche Erscheinung abgibt. Die Königin Hécube (Hekuba) hält ihm vor: »Je dis que si les serins avaient la bêtise, la prétention, la laideur et la puanteur des vautours, tu serais un serin.« (GT 100) Die Masken eines Poseurs fallen: Unfreiwillig enthüllt Demokos, dass sowohl der Krieg als auch Hélène nur Mittel zum Zweck sind, seine Verführungskünste in Wort und Schrift in Szene zu setzen. Hécubes Äußerung lässt schließlich keinen Zweifel daran, dass dieses Selbstbild nicht einmal mehr als Fassade taugt: Der »Gimpel« Demokos singt von Schönheit, ist aber selbst hässlich und ekelerregend übelriechend wie ein Aasgeier, seine Einfalt und Anmaßung widersprechen seiner vorgeblichen kommunikativen Geschicklichkeit und Geistesgröße. Der Lyriker mutiert zum Hymniker auf den vermeintlichen Heroismus des Krieges, ganz wie es zahlreiche Schöngeister zur gebotenen Stunde in Europa taten, als im Zuge des Ersten Weltkriegs das Feindbild klar umrissen war und der Gegner dementsprechend minderwertig in seinen Idealen und in seinem kulturellen Geschmack abgestempelt werden konnte. Unter ihnen war auch der Verkünder des 225

Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti, der mit seinem Manifest, das 1909 im Pariser Figaro erschien, endlich weithin jene Beachtung fand, die ihm zuvor zehn Jahre lang versagt geblieben war, nachdem er bereits 1898 bei einem Lyrikwettbewerb in Paris, der von Catulle Mendès und Gustave Kahn gefördert wurde, erstmals Aufmerksamkeit erregt hatte. Während seine ersten Bücher, symbolistisch beeinflusste Gedichte und eine von Alfred Jarry inspirierte »satirische Tragödie« keinen nachhaltigen Effekt machten, zog nicht zuletzt die »geschickte Inszenierung seiner in den Metropolen durchgeführten ›serate futuriste‹« ein breites Publikum in den Bann. Das »Lebensprogramm einer ›heroischen‹ Moderne und die ekstatische Feier einer umfassend technisierten Lebenswelt«,45 mit dem Marinetti auf eine gesellschaftliche Veränderung durch die neue Kunst drängte, schloss zugleich eine rigorose Kritik an allem und allen Alten mit ein, so wie die Futuristen – neben Marinetti etwa Georges Sorel – die Avantgarde der Jahrhundertwende als überholt ansahen. Ausgerechnet Gabriele d’Annunzio erregte ihren Unmut, von dessen heroischem Gestus in seinen literarischen Texten wie der Selbstinszenierung seiner öffentlichen Auftritte (etwa als aufsässiger italienischer Abgeordneter schon vor dem Fiume-Abenteuer in den 90er Jahren) die Futuristen denn doch unbestreitbare Impulse empfangen hatten. Doch war es gerade die dekadente Erotik in D’Annunzios Texten, von der sich die auf eine neue Männlichkeit drängenden Futuristen scharf abgrenzten. Marinetti predigte sogar die Verachtung des Weibes, worin sich die Nachwirkungen von Nietzsche, »in der Umkehrung von Positionen, wie sie Otto Weininger [...] formuliert hatte,«46 noch nicht erschöpfen. Denn die Überwindung der »Weibheit« und der Triumph der »Mannheit« wird in den Manifesten des Futurismus für beide Geschlechter als eine erstrebenswerte Maxime ausgegeben. Darin ähneln die Konzepte des Futurismus demjenigen Weiningers von der dauerhaften menschlichen Doppelgeschlechtlichkeit, das eine von Individuum zu Individuum unterschiedliche Verhältnismäßigkeit von Männlichem (m) und Weiblichem (w) bedingt. Die Frau des Futurismus, wie sie Valentine de Saint-Point (so das Pseudonym der dem Pariser Kreis um Marinetti zugehörigen Anne-JeanValentine-Marianne Desglans de Cessiat-Vercell) in einem weiteren Manifest entwirft, verbindet die Qualitäten der Geliebten und Mutter mit dem männlichen Heroismus: Ihr Begehren oder ihre Fürsorge kennt weder Furcht um den Mann noch um das Kind, und sie unterstützt und feuert beide in ihrer soldatischen Sendung an. Der Feminismus findet daher keine Akzeptanz, da die Frau wieder unberechenbar und bisweilen gar instinktiv grausam bleiben müsse. Im Manifest der futuristischen Frau von Saint-Point heißt es denn auch: »In meinem ›Poèmes d’orgueil‹ und in ›Le soif et les mirages‹ habe ich den Sentimentalismus verleugnet als eine verächtliche Schwäche, der die Kraft vermindert und tötet.«47 In der Figur der Hélène wird bei Giraudoux diese Abwehrhaltung gegenüber allen moralischen Verpflichtungen grell übersteigert: HÉLÈNE. Les gens ont pitié des autres dans la mesure où ils auraient pitié d’eux-mêmes. Le malheur ou la laideur sont des miroirs qu’ils ne supportent pas. Je n’ai aucune pitié pour

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Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 1993, S. 57f. Ebd., S. 63. Ebd., S. 94.

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moi. Vous verrez, si la guerre éclate. Je supporte la faim, le mal sans souffrir, mieux que vous. Et l’injure. (GT 124)

Hélène ist die Grausamkeit schlechthin, da sie niemandem Schonung gewährt, schon gar nicht sich selbst. Sie übertrifft auf diesem Wege noch das Frauenbild, das Demokos und seine kriegsbegeisterten Mitstreiter sich zurechtgelegt haben, um ihr Ideal soldatischen Heldentums wider den Überdruss zu stützen. Denn im Gegensatz zu all den Musen der Jahrhundertwende, von Mélissinde über Jennifer Dubedat, ja sogar Lulu bis hin zu Alice Dearth, fehlt dieser Figur die Kampfeslust. Sie ist von erschreckender Gleichgültigkeit statt von Lebenskraft gekennzeichnet. Anstelle des Sadismus und der erotischen Dominanz der femme fatale der Dekadenz bestimmt ein gänzlich hoffnungsloser ennui Hélènes Handeln, ein beängstigender Wesenszug der vollkommenen Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit. Einerseits ist diese Zynikerin von der Ausgeliefertheit einer ihrer Heimat Entrissenen an die fremde exotische Umgebung, die das Bild der ebenfalls zu einer Ikone kriegerisch gesinnter Männer stilisierten Mélissinde bei Edmond Rostand prägte, denkbar weit entfernt; andererseits lässt der Diskurs, den Giraudoux’ Text um die schöne Hélène absteckt, keinen Interpretationsspielraum zu, das missbrauchte Opfer könnte sich, quasi wie eine Lulu des Altertums, an den Männern rächen wollen, die sie entführt und als ›Symbol‹ für ihre militanten Absichten instrumentalisiert haben. Das erweckt den nur schwer von der Hand zu weisenden Eindruck, dass Hélène und die anderen Frauen in La Guerre de Troie n’aura pas lieu nicht das subversive oder revolutionäre Potential auszeichnet, das andere weibliche Figuren in Dramen desselben Autors vorweisen können. Doch bleibt ebensowenig zweifelhaft, dass nach diesem Antikenverständnis narzisstische Rücksichtslosigkeit grundsätzlich eine männliche Eigenschaft zu sein scheint, bis hin zum Chauvinismus und der Unterjochung des ›schwachen Geschlechts‹ unter die beharrlich gepflegten ästhetischen Erwartungshaltungen und Reduktionen. Doch was den Anschein maßloser Selbstüberschätzung seitens der trojanischen Greise hat, verschleiert größtenteils nur die krampfhaften Versuche, die eigene defizitäre Körperlichkeit und Depersonalisation auszugleichen. Nach Demokos’ Vorstellung müssen die Männer die Idealität der Frau zum Artefakt formen, da es der Frau selbst versagt ist, ihren eigenen Wert zu erkennen und demgemäß zu leben: DEMOKOS. Tant pis si la femme nous trompe! Tant pis si elle-même méprise sa dignité et sa valeur. Puisqu’elle n’èst pas capable de maintenir en elle cette forme idéale qui la maintient rigide et écarte les rides de l’âme, c’est à nous de le faire... (GT S 63)

Auf menschen- und selbstverachtende Weise bestätigt Giraudoux’ Hélène nun Demokos’ dem Futurismus nahestehende Position, nach der das Weibliche eine Energiequelle kämpferischer »Mannheit« wäre (GT 63: »Elle [la femme] est le principe de notre énergie. [...] Les guerriers qui n’ont pas un portrait de femme dans leur sac ne valent rien«). An diesem Punkt erweist sich die These als stichhaltig, Demokos als einen Dekadenz-feindlichen Dichter zu sehen. Das Prinzip der Energie ist eine pervertierte Form des élan vital48, denn der vom Bild der Frau gesteigerte

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Vgl. S. 149.

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Überlebenswille des Kriegers intensiviert gleichzeitig die Zerstörungswut und Unerbittlichkeit der gegeneinander Kämpfenden. Dass Demokos dem Krieg in seiner Hymne statt eines Medusen- oder eines Gorgonenhauptes ein Gesicht wie das Hélènes verleihen möchte, ist ein Impuls narzisstischer Selbstzerstörung. Ein entscheidender Unterschied vom Schönheitskult im Jahrhundertwende besteht darin, dass die Kunst nur dem Prinzip der Destruktion zuarbeitet, anstelle dass (wie für Rostands Rudel oder Shaws Dubedat) das eigene Sterben in die künstlerische Vision eingegliedert wird. Demokos’ Vereinnahmung der Frau als »Symbol«, ohne die Frauen selbst reden zu lassen, ist geradezu antifeminin, denn in Übersteigerung des ›nur‹ antifeministischen Denkens sieht er im Weiblichen nur eine Motivation für narzisstisch gesteigerte männliche Destruktivität, während für ihn die antifeministische Klassifizierung der Frau (vor allem bezüglich der Mutter) als lebensbewahrendes Prinzip keine Rolle spielt. Zu ihrer erwähnten rigiden Emotionslosigkeit ohne Rücksichtnahme auf sich selbst bekennt sich Hélène im letzten Zwiegespräch, unmittelbar vor der diplomatischen Zusammenkunft der vor dem Krieg stehenden Nationen, und zwar im Dialog mit Hectors Frau Andromaque (Andromache), die zuvor zur Hoffnungsträgerin einer neuen Weiblichkeit aufgebaut worden ist und hier, gegen Ende des Stückes in kürzester Zeit demontiert wird. Giraudoux, der in der Zwischenkriegszeit durchaus ein zwiespältiges Verhältnis zu der männlichen Krise und Apathie und zum Eindringen von Frauen in zuvor maskulin dominierte berufliche und gesellschaftliche Positionen entwickelte,49 spielt in La Guerre de Troie n’aura pas lieu virtuos mit den unterschiedlichen Auffassungen der weiblichen Geschlechterbilder, indem er beider Abgrenzungen voneinander am Beispiel der Ehefrau und werdenden Mutter Andromaque und der Geliebten Hélène verschwimmen lässt. Als bei der Landung der griechischen Flotte von den einlaufenden Schiffen Musik ertönt, weiß Demokos dem nur eine Kritik entgegenzusetzen, deren Abwertung auf der reinen Differenz vom Gewohnten gegründet ist: »Quelle musique! Quelle horreur de musique! C’est de la musique antitroyenne au plus haut point!« (GT 112) Zuständig für formale Kriterien, die im Gegensatz hierzu eine begründete Abgrenzung des griechischen Musik- und Kunstgeschmacks von dem der Trojaner ermöglichen würden, ist ohnehin in Giraudoux’ trojanischem Stadtstaatswesen ein anderer als Demokos: Bereits im 1. Akt prominent mit einem gewichtigen rhetorischen Beitrag in Erscheinung getreten ist der Geometer: Dieser schaltet sich in den ersten Disput zwischen Demokos und Hector ein, der sich um ein Für und Wider der Rückgabe Hélènes an ihren düpierten Ehemann Ménélas dreht. Demokos ergreift das Wort, als in der Diskussion der königlichen Familie König Priam(os) die Unempfänglichkeit seines Sohnes Hector für die Schönheit Hélènes beklagt: »l’ignorance de la beauté.« (GT 56) Demokos fügt hinzu: »Et par conséquant de l’amour. Au réalisme, quoi! Nous autres poètes appelons cela le réalisme.« So untauglich diese Realismusdefinition von Demokos literaturgeschichtlich sein mag, so bleibt doch festzuhalten, dass sich Demokos mit dieser Replik einführt und seine eigene Programmatik damit abgrenzt von einer dermaßen

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Victoria B. Korzeniowska, The Heroine as Social Redeemer in the Plays of Jean Giraudoux, Bern 2001, S. 22ff.

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in Misskredit gebrachten ›realistischen‹ Verneinung der Kategorien Schönheit und Liebe. Seine Beispielgebung für Symbole wird von Hector dagegen als ästhetizistisch entlarvt: »DEMOKOS. Ainsi le rubis personnifie le sang. HECTOR. Pas pour ceux qui on vu du sang. Je sors d’en prendre.« (GT 56) Der Vorwurf eines Realismus ohne Poesie wird mit dem Argument entkräftet, dass dem in seine eigene Sprache und Metaphorik verliebten Wortkünstler der Realitätsbezug abhanden gekommen ist. Doch als Hector auf die Frage, ob er in Frauen die Personifikation mehrerer Tugenden gesehen hätte, entgegnet, kein derartiger Eindruck hätte einer näheren Betrachtung standgehalten, und Hectors Mutter Hécube aufgrund von ›fremdartigen‹ Merkmalen wie Hélènes blondem Haar ihre Untauglichkeit zu einem trojanischen Schönheitssymbol schlussfolgert, schlägt die Stunde des Geometers. Und dieser richtet im Gegensatz zu Hécube und Hector, welche die Physiognomie der fremden Griechin anhand bestehender Gegebenheiten und Normen bemessen, die trojanische Natur am neu entdeckten Schönheitsideal aus: »Or, depuis qu’Hélène est ici, le paysage a pris son sens et sa fermeté. Et, chose particulièrement sensible aux vrais géomètres, il n’y a plus à l’espace et au volume qu’une commune mesure qui est Hélène.« (GT 58) Der vermessende Blick, mit dem der Maler in Lulu bereits mehr die Formen als die Person wahrnimmt (und in dieser Hinsicht dem sezierenden Lustmörder ähnelt), verbindet Demokos und den Geometer. Hélène wird benötigt, um die narzisstischen Versuche beider zu stützen, ein eigenes Wertesystem zu begründen. Konsequent verweist Giraudoux die Synergien literarischer Kenntnisse und wissenschaftlicher Erkenntnisse (beispielsweise der Phrenologie oder wie sie Weininger durch Beobachtungen aus der Biologie bei Wagner und Ibsen anvisierte) ins Reich der Märchen und (antiken) Mythen. Mit Stellen wie diesen parodiert Giraudoux aber auch ganz deutlich Barrès und dessen Le Jardin de Bérénice, den letzten Teil der Romantrilogie Le Culte de moi aus den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, die mit Barrès’ autobiographisch unterfütterter Hauptfigur des Philippe eine Metamorphose vom narzisstischen Ästhetizisten des fin de siècle zur hedonistischen Autorität des frühen 20. Jahrhundert ins Zentrum der Erzählung gestellt hat. Dabei erinnert die schöne Bérénice, der sich Philippe in der ländlichen Abgeschiedenheit von Arles widmet, nicht nur durch ihren Namen an die berühmte literarische Figur bei Dante. Die parodistische Wendung, die Giraudoux seinem Geometer für Hélène als ›Maß‹ des Naturschönen in den Mund legt, findet sich bei Barrès ernsthaft vorformuliert: »Bérénice, de qui je presse contre moi le bras, est harmonique à ce pays.«50 Noch deutlicher, was die Vorbilder für den verquasten, von Demokos wie von einem revolutionären Lyriker des anbrechenden 20. Jahrhunderts ›überwundenen‹ Schönheitskult seiner Mitstreiter in Sachen Hélène anbelangt, wird Giraudoux’ Dramentext kurz vor dem Ende, wenn sich Stimmen aus der Schiffsbesatzung von Paris’ Überfahrt mit Hélène melden, um den Trojanern wie der griechischen Gesandtschaft auch kein noch so schlüpfriges (und verfängliches) Detail vorzuenthalten, das sich vom Ausguck aus beobachten und erlauschen ließ: »LE GABIER. Et toi mon bouleau, lui disait-il, mon bouleau frémissant! Je me rapelle bien le mot bouleau. C’est un arbre russe.« (GT 144) Aus dem heutigen Blickwinkel mag die Pointe, dass Paris seine Hélène beim

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Maurice Barrès, Le Culte de moi, Saint-Amand 1966, S. 324.

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Liebesspiel mit dem Kosenamen eines russischen Baums, der Birke, umschmeichelt haben soll, schlichtweg absurd anmuten. So manchem Barrès-Leser (derer es im Frankreich der 30er Jahre freilich noch zahlreiche im Publikum von Giraudoux’ Trojanischem Krieg gegeben hat) könnte dabei allerdings eine andere, kaum stärker zu parodierende Stelle des Jardin de Bérénice in den Sinn gekommen sein, nämlich als der Ich-Erzähler auf einen Streifzug durch einen arlesianischen Marktflecken mit Bérénice zu sprechen kommt: »Elle franchit avec aisance ces trois kilomètres, sans daigner regarder ce paysage plus qu’un jeune bouleau ne s’inquiète de la noble tristesse des horizons du Nord dont il est un des caractères.«51 Zur Erklärung wäre bestenfalls noch zu ergänzen, dass das Thema der Verwurzelung in Barrès’ zunehmend nationalistisch ausgerichtetem Œuvre wiederholt auftaucht und in der Baum-Metapher ein willkommenes Vehikel gefunden hat, das spätestens mit Giraudoux’ Matrosen, der dem ursprünglichen Verbreitungsraum besonders liebgewonnener Bäume nachspürt, zur Gänze der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Während Demokos eine nach den Kategorien des 20. Jahrhunderts überaus diskutable Definition von Realismus (die eher ins 19. Jahrhundert zurückweist) in den Raum stellt, bewegt sich die Parteinahme des Geometers für die schöne Hélène auf einer recht präzise nachvollzogenen Route in der Richtung der futuristischen Ästhetik, die die Schönheit als universellen Maßstab, selbst für die alltäglichsten Lebensbereiche, der Geradlinigkeit enthoben hat: Denn die Gerade ist die eine geometrische Abstraktion, sie besteht nicht für sich, man muß sie sich vorstellen, sie ist der Triumph des Syllogismus, der Metaphysik, des reinen Abstraktionsvermögens. Für uns deshalb die Kurve, die LEONARDO DA VINCIS, von der er sagte, sie charakterisiere das lebendige Werk; [...] der Umriß des Strandes, der das Meer bei jedem feuchten Kuß der Flut auf dem Sand begrenzt; die Linie, die die 52 Gliedmaßen des Tieres einschließt, das Profil der Blütenblätter aller Blumen.

Man kann aus diesem Wortlaut einer Poetik des Futurismus die parodistische Verfremdung durch Giraudoux in den Worten seines Geometers ableiten, der wie der soeben zitierte Gian Pietro Lucini an der Stelle der ›alten‹ Ebenmäßigkeit eine weich dahinfließende Lebendigkeit der maßgeblichen Form (Hélène) einsetzt, und das unter Einbeziehung biologistischer und erotischer Bezugsgrößen, die zwar immer noch mit der Dekadenz korrelierbar sind, in ihrem Totalitätsanspruch über diese jedoch hinausgehen. Mit dieser Sublimierung des Profanen durch das Idol der Schönheit erscheint es dem König Priam sogar geboten, Hélène zum Fixstern einer moralischen Umorientierung zu erklären, der sich Trojas Bürger widmen, nachdem sie durch die schöne Fremde ihre bisherigen Fehler und Laster erkannt haben sollen. Was die Figur des Demokos an Schlichtheit durch die ihm in den Mund gelegten Parolen offenbart, erhält in der des Geometers und seiner Funktion als regionalkultureller Kunstrichter und Kritiker Formen und Konturen: Die Kategorie der Schönheit wird von einer abstrakten Größe in den Zugriffsbereich nationaler Identifikation und räumlicher Zuordnung gerückt. Das Bestreben von Demokos und dem Geometer, die physiognomische Schönheit Hélènes in Korrelation zu Trojas ›landschaftlicher Beseelung‹ zu bringen, ist auch als Parodie Giraudoux’ auf Griechenland-begeisterte fin-de-siècle-Literaten

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Ebd., S. 335. Gian Pietro Lucini, Der Freie Vers (Mailand 1909). In: Schmidt-Bergmann, S. 268f.

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Frankreichs lesbar: Sie hatten ihre eigene periodische Gliederung der attischen Antike und der Geschichte der Neuzeit, insbesondere des abgelaufenen Jahrhunderts vorgenommen – mit erheblich voneinander abweichenden, mitunter regelrecht kontroversen Ergebnissen und Bewertungen. So ging Barrès zur griechischen Antike auf Distanz und verteidigte das »französische Wunder« in seiner Unterlegenheit. Aufgrund seines rationalen Relativismus lehnte Barrès es ab, eine absolute Schönheit anzuerkennen, vor der das Französische zum Barbarentum degradiert 53 wurde.

Barrès’ Griechenlandverständnis unterschied sich damit drastisch von dem anderer Autoren wie Jean Maurras, der in seinem Werk Anthinéa. D’Athènes à Florence 1901 »eine Parallele zwischen den von der Décadence gezeichneten Nationen Griechenland und Frankreich zog« und die klassische Zeit zum »Höhepunkt der Weltgeschichte« erhob. Gleichwohl: »Die Zeit Homers und das aristokratische Griechenland der geometrischen und archaischen Zeit wurden von Maurras lediglich in ihrer die Klassik vorbereitenden Bedeutung berücksichtigt.«54 Indem Giraudoux drei Jahrzehnte später einem kriegshetzenden Poeten einen zur abstrusen Landschaftsvermessung neigenden décadent zur Seite stellt, nach dessen Expertise sich der Reiz der Natur durch eine attraktive Frau erhöht, erscheint die Antike nunmehr als Abbild einer Weltgeschichte, innerhalb derer der Verfall einer Hochkultur unvermittelt von dem der nächsten abgelöst wird, die Krise einen permanenten Dauer- und Wiederholungszustand darstellt. Zynischerweise bleibt es in Giraudoux’ Stück ohnehin einem Publikum, das an der Schwelle zu keinem neuen Zeitalter mehr steht, vorbehalten, die formvollendete Erscheinung Hélènes mit Ovationen zu würdigen, wie sie sonst nur Theater- oder Sport-Arenen erschüttern. Wie von Hector und seiner Mutter eingewandt, sind es vor allem die Greise, die sich an der Physiognomie der Griechin ergötzen und so von der eigenen Hinfälligkeit abgelenkt werden. Nicht einmal unüberbietbar erscheinende körperliche Attraktivität ist davor gefeit, in ihrer Akklamation von den kräfteökonomischen Zwängen einer bereits mit heftigen Erschöpfungszuständen kämpfenden Claque abhängig zu sein. Zwei der glühendsten dieser Bewunderer beratschlagen schon über eine ganz genaue Einteilung ihrer Kräfte, um noch gleichermaßen auf ihre Kosten als Rezipienten zu kommen und den ›Kulturgenuss‹ honorieren zu können: »PREMIER VIEILLARD: Veux-tu que nous alternions. Un jour nous l’acclamerons? Un jour nous la regarderons?« (GT 50) Wie farcenhaft sich Stellen wie diese in La Guerre de Troie n’aura pas lieu auch ausnehmen, so geben sie doch vor allem kulturelle Gepflogenheiten und Rituale der Lächerlichkeit preis, welche die Zustimmung und Akklamation zu allem, was dem Betrachter und/oder Zuhörer geboten wird, regelrecht automatisiert und für bestimmte ideologische Zwecke instrumentalisiert haben. Es geht an den Alten, die nach ganz persönlicher Lust und Laune Hélène als Attraktion begaffen und beklatschen, vollkommen vorbei, dass dieses Objekt der Begierde und seltene Beutestück trojanischer Begehrlichkeit in der Regierungsetage von Troja bereits als Politikum diskutiert wird. Indem sich der Dichter Demokos zum Hüter des Prinzips der Schönheit erklärt,

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Wiebke Bendrath, Ich, Region, Nation, Tübingen 2003, S. 204. Ebd., S. 206f.

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entpuppt er sich als radikaler Ästhet, der das ganze Leben nicht nur nach dem Ideal der perfekten Form gestalten will, sondern es zu einem beharrlichen Kampf auf Blut und Tod für ein für richtig und verbindlich befundenes Formprinzip erklärt. Vor allem wäre nach Demokos die attraktive Frau eine Energiequelle, ein Ansporn und eine Trophäe für den männlichen Mut, wobei das Paradigma für seine Ausführungen immer der Krieger ist. Die selbst gestellte poetische Mission der Sublimierung des angebeteten Geschlechts gründet also wiederum auf der elitären Eitelkeit des BesserwissenWollens, sowohl gegenüber der allzu kritiklos begeisterten Masse, als auch gegenüber dem eben nur in der Poesie als ideal anzupreisenden Wesen der Frau, die unter realistischen Maßgaben der Verklärung eigentlich gar nicht für würdig befunden wird. Wie die gaffenden Greise entlarvt sich dieser Anspruch jedoch selbst als greisenhafte Regression in infantile Unschuldsvorstellungen, denen Priams Absolutionstheorie unfreiwillig Hohn sprich: »Si la beauté avait été près d’eux, aussi près qu’Hélène l’est aujourd’hui, ils n’auraient pas devalisé leurs amis, ni vendu leurs filles, ni bu leur héritage.« (GT 58) Wenn Demokos die betörende Physiognomie der Königin von Sparta zum Maßstab erhebt, bedient er damit die Selbstgefälligkeit eines Publikums, das in der Sublimierung vor allem eine Gelegenheit erkennt, für die eigene Unzulänglichkeit einen Ausgleich in der Projektion eines narzisstischen »Idealhungers« zu schaffen. Bezeichnenderweise spiegelt dieses Ideal jedoch die Vision einer besseren Vergangenheit derer, die wie die Hauptfiguren in Barries Dear Brutus ihre Chancen bereits verpasst haben. Demokos’ symbolische Ordnung richtet sich ganz nach dieser Rückwärtsgewandtheit eines entschuldeten Ursprungszustands. Der makellose Körper und seine Überhöhung verweisen auf keine über- oder nachzeitliche Utopie. Ganz klar ausgespart bleiben in La Guerre de Troie n’aura pas lieu biologisch-rassistische Argumentationsstränge, wie sie in der zeitgemäßen Hinterfragung des trojanischen Mythos, eben mit Kenntnis von Barrès These des griechischen ›Wunders‹ als Ergebnis einer günstigen ›rassischen‹ Vermischung, durchaus möglich gewesen wären. Mit der Bewunderung der physiognomischen Makellosigkeit wird kein ideologischer Entwurf von Züchtung vergleichbarer Perfektion angedeutet. Die Versunkenheit in das idealisierte Abbild ist so tief und lähmend, dass sie nicht mehr zulässt als das Hinterhertrauern nach verpassten Gelegenheiten eines bereits gelebten Lebens, das für das Lebensgefühl des fin de siècle so maßgeblich war und noch nach dem Ersten Weltkrieg reflektiert wurde. Der dekadente trojanische Massengeschmack nach Giraudoux entspricht dem einer grotesken Anhängerschar von Greisen, die von einer kollektiven narzisstischen Selbsttäuschung erfasst werden, die ihnen das Bild Hélènes vermittelt und zugleich ihre eigene verkorkste Existenz und mangelhafte soziale Kompetenz verschleiert. Wer in seinem Leben nie den freundschaftlichen und familiären Zusammenhalt geschätzt hat, kann sich im Schein der verklärten Attraktion aus Griechenland der Illusion hingeben, dass es ihm nur an einem Vor-Bild gemangelt hat, das ihm die Moralvorstellungen plastisch vor die Augen (und die übrigen Sinne) geführt hätte. Doch wird der Irrtum und die Täuschung durch den demagogischen Poeten Demokos (nomen est omen) dadurch erst komplett: Ganz wie der Ästhet dem nicht gelebten Leben nacheifert (und es bisweilen in ferne Länder und Epochen wie die Renaissance projiziert), so öffnet diese Verkennung politischer Konsequenzen einer 232

blutigen Zukunft Tür und Tor. Denn die Behauptung, dass das Symbol der Schönheit zur Etablierung moralischer Kategorien taugt, wird von Giraudoux unmissverständlich als Maskierung einer Ideologie vorgeführt, die an die schiere Besitznahme von Schönheit das Postulat knüpft, immer im Recht zu sein. Anders als bei Wilde kann das Schöne nicht nur heimliche Grausamkeiten tarnen – es berechtigt sogar dazu, sie ganz offen dem zum unästhetischen ›Barbaren‹ gestempelten Widerpart anzutun. Für Gesten der Beschwichtigung und Mäßigung in der Positionierung gegenüber anderen Kulturen ist in dieser Poetik kein Platz. Die modération, die Gide einst zur poetischen Spielregel erklärt hat, wird in Giraudoux’ Drama paradoxerweise einem pazifistischen Feldherrn zugeschrieben und gerade nicht einem militanten Barden des Untergangs. Ganz in seinem Element befindet sich Demokos, als es gilt, den Krieg mit den Griechen auf allen Ebenen mit stilvollem Niveau auszustatten, sowohl was die Beleidigungen als auch was die Neufassung der allzu friedfertigen trojanischen Nationalhymne anbelangt. In Szenen wie diesen stellt Giraudoux die unmittelbarsten Assoziationen zu der Textproduktion vieler Literaten der Zeit des Ersten Weltkriegs her, mit all ihren Entgleisungen im Register nationaler Stereotypen und strapazierter Klischees zwischen den erklärten ›Erbfeinden‹. Bleibt die in Demokos’ Ohren als antitrojanisch klassifizierte Musik der Fantasie und Gestaltung des jeweiligen Regieteams einer Aufführung von La Guerre de Troie n’aura pas lieu überlassen, so besteht die tragikomische Ironie des von Demokos komponierten Kriegsgesangs darin, dass Hector, indem er Demokos mund- und mausetot zu machen und damit die kriegstreiberische Lyrik zu ›zensieren‹ glaubt, stattdessen den sofortigen Kriegsausbruch provoziert. Der letzte Haken, den Giraudoux’ Satire auf den nationalistischen Typus des Dichters vom Zuschnitt Demokos’ schlägt, resultiert daraus, dass weder seine verherrlichende Vermessung Hélènes im Verbund mit dem Geometer noch seine propagandistische Kriegslyrik den eigentlichen Impuls zur Katastrophe liefern. Erst als Demokos im Angesicht des Todes den entscheidenden Sprung vom realitätsverzerrenden Ästheten zum verleumderischen Denunzianten macht, ist das Schicksal der Kriegsparteien besiegelt: nämlich als er den Mord, den Hector an ihm begangen hat, mit den letzten Atemzügen dem griechischen Rabauken Oiax (Ajax) in die Schuhe schiebt. Demokos dringt demnach zur Meisterschaft in seinem künstlerischen Metier erst in der Selbstzerstörung vor. Denn, in völligem Widerspruch zu Priams Theorie von der Absolution, die Hélènes Schönheit den Alten Trojas für ihre einst begangenen Vergehen gewähren sollte, ist die ›höchste‹ Form der chauvinistischen Kunst die propagandistische Lüge, die alle Aggressionen freizusetzen und in neue Verbrechen wider alle Menschlichkeit umzusetzen vermag. Cassandre beschließt wie zuvor bemerkt die Tragikomödie mit der lakonischen Bemerkung: »Le poète troyen est mort... La parole est au poète grec.« (GT 165) Es hat fast den Anschein, als ob dieser Schluss auf einen Schlag den Sinn von gut zweieinhalb Jahrtausenden Dichtkunst hinterfragen soll. Suggeriert wird, dass der Unterschied zwischen Homer und Demokos kein allzu großer ist. Die Verherrlichung der Kriegshelden ist ihnen gemeinsam, unabhängig von der künstlerischen ›Qualität‹ ihrer Werke. Während Gide mit seinem Traité du Narcisse im Mythologischen eine Möglichkeit sah, zum paradiesischen Ursprung der Poesie zurückzufinden, ist die Wiederbegegnung mit den alten Mythen bei Giraudoux ein 233

schmerzhafter Prozess: Statt unendlicher Schönheit im Strom der Geschichte reflektiert die Poesie die immer wiederkehrenden Konflikte, die sich vor allem über die Sprache entspinnen. Denn den zweiten großen Konflikt des Dramas trägt der Soldat Hector mit sich selbst aus, vor dessen innerem Aufruhr keine poetische Sprache und Idealität mehr bestehen kann, ohne von dem Verdacht der Täuschung und Blendung eines Opfers entlastet werden zu müssen. Bei seinem ersten Auftritt erklärt Giraudoux’ Hector, sich von der gloriosen Maskierung der Realität militärischer Auseinandersetzungen befreit zu haben, ja den Krieg selbst zu hassen, der ihm zuvor im Bild des Ruhmes ein erstrebenswertes Lebensideal vorgegaukelt hatte. In der 3. Szene des 1. Aktes wird seine Bekehrung zum Pazifisten bei einem Feldzug in Asien wie folgt in der Selbstaussage, mit der er seiner schwangeren Frau Andromaque gegenübertritt, geschildert: HECTOR. [...] Est-ce l’âge? Est-ce simplement cette fatigue du métier dont parfois l’ébéniste sur son pied de table se trouve tout à coup saisi, qui un matin m’a accablé, au moment où, penché sur un adversaire de mon âge, j’allais l’achever? Auparavant ceux que j’allais tuer me semblaient le contraire de moi-même. Cette fois j’étais agenouillé sur un miroir. Cette mort ce que fait j’allais donner, c’était un petit suicide. (GT 40)

Noch einmal wird für eine Heldenfigur auf der Bühne der dramatischen Kunst die Konfrontation mit einem Spiegelbild bemüht, um den inneren Wandel durch Erkenntnis des Protagonisten zu motivieren. Jedoch muss ausgerechnet das zuvor für den ärgsten Feind gehaltene Gegenüber als Spiegel für das verblendete Selbst dienen, um den neuen Erkenntnisstand zu erreichen. Und auf der Basis dieser neugewonnenen Weltsicht erweist sich alles zuvor Gewesene als lügenhaftes Konstrukt, mit dem der Krieg in seiner pompösen Aufmachung seine Grausamkeit unter einem Klangteppich trügerischer Harmonien der Paraden und Triumphzüge verborgen hat: »[...] tout avait sonné jusque-là si juste, si merveilleusement juste...« Als Hector soldatisch weitertötete, ist dieser Wohlklang seiner Wahrnehmung eines anhaltenden Missklanges gewichen, den er als ästhetische Umschreibung für das Kriegsgeschehen einsetzt: »Je ne sais ce que fait l’ébéniste dans ce cas, s’il jette sa varlope, son vermis, ou s’il continue... J’ai continué. Mais de cette minute, rien n’est demeuré de la resonance parfaite.« (GT 40) Giraudoux’ Drama ist (an Ovids Narziss-Erzählung erinnernd) so konstruiert, dass sich zu jeder narzisstischen Illusion von Demokos’ Ästhetisierung des Krieges eine desillusionierende Erfahrung Hectors, gewissermaßen ein ›Blick hinter die Kulissen‹ fügt. So tritt Hector am Ende des ersten Aktes der schönen Hélène entgegen, in deren Augen er – vergeblich – die Vision von seinem eigenen Tod auf dem Schlachtfeld, seiner verwitweten Frau und seinem verwaisten Sohn gespiegelt sehen möchte, eine grausame Konfrontation mit der Verdammung des Kriegsgeschehens und seiner Opfer zur posthumen Ästhetisierung und Verklärung: HECTOR. Et elles sont au fond de vos yeux ces scènes? On peut les y voir? HELENE. Je ne sais pas. Regardez. HECTOR. Plus rien! Plus rien que la cendre de tous ces incendies, l’émeraude et l’or en poudre! Qu’elle est pure, la lentille du monde! Ce ne sont pourtant pas les pleurs qui doivent la laver… (GT 79)

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Giraudoux lässt der Erzählung vom Initiationserlebnis Hectors und seiner Begegnung mit Hélène im zweiten Akt eine weitere parallel strukturierbare Szene folgen, in welcher der Protagonist das Ritual zum Gedenken an die im AsienFeldzug gefallenen Mitstreiter zu einer zynischen Demaskierung der religiösen Veranstaltung ohne transzedentale Perspektive nutzt. Hector hält am sakralen Platz der Pforten des Krieges, die nach Beendigung des erfolgreichen Asien-Feldzuges geschlossen werden sollen, eine Rede, die er (in den Augen und Ohren von Demokos und seinen kriegsbegeisterten Mitstreitern) provokativ an die Toten von der Warte der Überlebenden aus richtet: »Nous voyons le soleil. Nous faisons tout qui se fait dans le soleil. Nous mangeons. Nous buvons… Et dans le clair de lune !… Nous couchons avec nos femmes... Avec les vôtres aussi…« (GT 111) Vorübergehend scheint es, als ob der Redner mit dem Mondenschein eine typisch poetische Szenerie heraufbeschwören will, innerhalb derer Romantik oder Morbidität sich an ihrem angestammtem Platze entfalten könnten. Doch umgehend erfolgt innerhalb dieses Bildes die Entweihung, von der Demokos sich bei seiner spontanen Unterbrechung der Rede nicht im Klaren zeigt, ob sie die Lebenden oder die Toten stärker beleidigt. Elisabeth Scheele hat bei ihrer präzisen Eingliederung dieser Totenrede Hectors in den Kontext rhetorischer Strategien und Topoi von der Antike bis in die Neuzeit darauf hingewiesen, dass ihre Argumentation vor allem auf eine Sprachkritik abzielt, die sich in höchstem Maße gegen die dichterische Freiheit der Heroisierung von Kriegstreibern durch leere Worte wendet: »Le refus d’Hector exprime la haine du pathétique vide de la glorification des héros.«55 Scheele bemüht in diesem Zusammenhang sogar Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus mit den dort eingangs satirisch zitierten Wendungen »der großen Zeit«, die durch die Zeitungsausrufer und Volksstimmen im Wiener Dialekt konterkariert werden. Anders als bei Kraus oder Romain Rolland, den Scheele als weitere Vergleichsgröße bezüglich seiner Antipathie gegen balsamierende Nachrufe auf Kriegsopfer von offizieller Seite und in der Presse anführt, gilt für Giraudoux die Beobachtung, dass Hectors Rede nicht gänzlich von jenem Pathos freigehalten ist, das den Grundton in der attackierten Rhetorik angibt. Der pazifistische Zweck heiligt gewissermaßen die Mittel, die von den Predigern des Todes und der Vernichtung missbraucht worden sind. Während die Dichter der Vorkriegsepoche die Abkehr von der Natur und der Hinwendung zum leblosen Material gepflegt hatten, legt Giraudoux seinem friedfertigen General eine Schlusswendung seiner Rede in den Mund, die die Vitalität zum obersten Prinzip erhebt, um das die Toten die Lebenden zu beneiden – und das zu genießen die Lebenden sich bei den Toten zu entschuldigen haben. »La chaleur et le ciel« (GT 111) – Wärme und das Licht des Himmels, das sind nach Hector die Namen der beiden Güter, deren die Deserteure des Todes im Feld, wie sich Hector ausdrückt, die Kriegsopfer beraubt haben, und von denen er hofft, dass ihr Klang nie im Totenreich kränkenden Widerhall finden wird. Abgelaufen scheint demgegenüber die Gültigkeit dessen, was Ralph Rainer Wuthenow für das fin de siècle im Lichte Nietzsches, D’Annunzios und des jungen Hofmannsthals resümiert hat: »In der vom Leben abgesonderten Anbetung des Schönen wie in der Zergliederung der Dinge liegt ein Triumph des Todes.«56 Im »Discours aux morts«

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Elisabeth Scheele, Le »Discours aux morts« de Jean Giraudoux, Bern u. a. 1997, S. 40. Wuthenow, S. 256.

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von Giraudoux triumphiert nicht der Tod und überwindet gar die intellektuell-elitäre Stimmung einer »Lebenshemmung«57. Stattdessen lässt die strahlende Wärme des Lebens Beschämung in der Stimme einer Theaterfigur mitschwingen, die einem Überlebenden der ›verlorenen Generation‹ als Sprachrohr dient, in der Erkenntnis, dass es diese Güter sind, auf deren Pflege und Sublimierung als Kategorien des Schönen es sich rückzubesinnen gilt. Größer könnte die Diskrepanz zur künstlerischen Programmatik gar nicht ausfallen, die noch nach dem Ersten Weltkrieg einstweilen der Ästhetisierung von Leiden und Tod verschrieben blieb, wie etwa im Chant funèbre pour les morts de Verdun von Henry de Montherlant aus dem Jahr 1925, das in Giraudoux’ privater Bibliothek zu finden ist58. Hectors ›Affront‹ gegenüber den militaristischen Formen der Pietät gerät zu einer Selbstbezichtigung der Nachwelt vor dem Massengrab der Gefallenen. Es ist die Verweigerung der Exculpatio in der antiken rhetorischen Schule, das ehrliche Eingeständnis des Versagens eines Redners, der seine Lehre aus dem Erlebten gezogen hat – ganz anders als der verleumderische Hofpoet, der an die Stelle mangelnder Erfahrung im Gefecht den beschriebenen chauvinistischen Hass setzt, gesteigert bis in die Selbstvernichtung. Über die Diplomatie triumphiert am Ende von La Guerre de Troie n’aura pas lieu der Blutdurst eines diplomatiefeindlichen Künstlers, in jenem letzten Moment, als sein eigenes Blut fließt. Die fast gleichaltrigen Schriftsteller Barrès und D’Annunzio haben sich in ihrer Entwicklung vom Narzissmus und IchKult zu einer nationalistischen Agitation schließlich als Tatmenschen über die Diplomatie und ihre Redekünste gestellt, wohingegen der zwanzig Jahre jüngere Giraudoux den Diplomaten in seiner Vermittlerrolle und berufsbedingten Redefertigkeit zum Inbegriff der eigentlich für das Künstlertum erforderlichen Qualität der Mäßigung erhebt. Das wird im Dialog der beiden Unterhändler zwischen Troja und Griechenland, Hector und Ulysse (Odysseus) deutlich. Sie stehen sich, wie die Gegner in Hectors Bericht vom Schlachtfeld in der Exposition des Stückes, nunmehr kurz vor der finalen Katastrophe in den Friedensverhandlungen wie Spiegelbilder gegenüber. Ebenfalls wie in Hectors anfänglicher Schilderung des Trugbildes, dem er sich entzogen habe, ist die Vergleichsebene für Ulysse eine musikalische, um die Verhältnismäßigkeit zwischen diplomatischen Verhandlungen vor der unausweichlich anmutenden Kriegserklärung zu erläutern: »C’est un duo avant l’orchestre. C’est le duo des récitants avant la guerre.« (GT 156) Hier taucht unerwartet in der Replik von Ulysse, aber folgerichtig nach den vorangegangenen martialischen Wortmeldungen des Demokos, eine Kriegsmetaphorik im Vehikel der Musik auf, die wiederum auf den Futurismus beziehbar ist. So hatte Marinetti für den Beginn des Ersten Weltkriegs ein (selten geschmackloses) Objekt der Bewunderung ausgemacht, das er mit seinen Gesinnungsgenossen zu teilen gedachte: »[...] le formidabili sinfonie degli shrapnels«.59 »Damit tritt« Marinetti nicht allein, wie Christoph Schamm verdeutlicht hat, »in Opposition zu d’Annunzio, der in La pioggia nel pineto die Instrumenten-Metapher für Pflanzen anwendet.«60 Dass die florale Symbolik des fin de siècle (ein überaus beliebtes Jugendstil-Accessoire) dergestalt

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Ebd. Scheele, S. 63. Filippo Tommaso Marinetti (Hg.), I Poeti futuristi, Mailand 1912, S. 8 (Vorrede). Christoph Schamm, Das Gedicht im Spiegel seiner selbst, München 2006, S. 222 fn.

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auf die neuen Kriegstechniken übertragen wird, entbehrt innerhalb des futuristischen Programms nicht an Folgerichtigkeit, da dieses Programm ja in einer völligen Zertrümmerung der letzten Restbestände einer mimetischen und idealisierenden Naturbetrachtung sowie ihrer Substituierung im Technischen besteht. Die Umfunktionierung des Dichters in einen Barden der Kriegsmaschinerie ergänzend, steht die Musik somit hier nicht mehr (wie einst in Gides Traité beim Einstimmen des Menschen in die Symphonie der Natur und dem Aufbruch in die Kultur der Symbole) als Metapher für eine reichhaltige Stimmenvielfalt in der Natur, in deren Kanon sich der sprachgewandte Literat und Diplomat einfinden und ausleben kann. Das intime Zwiegespräch zweier Gleichgesinnter vor dem Zusammenprall ihrer Nationen ist nur das Resultat einer kulturellen Entwicklung, die ihren Ausgangspunkt in der Konkurrenz ähnlicher, ja mitunter übereinstimmender Interessen genommen hat. Die Odysseus-Figur aus der Zwischenkriegs-Perspektive trägt eine Kulturkritik vor, die das Unterste zuoberst kehrt, indem das Gefälle von natürlicher Rohheit und zivilisatorischer Verfeinerung einem Szenario weichen muss, in dem sich Privilegierte selbst zu bekriegen beginnen: »Ce ne sont pas les ennemis naturels qui se battent. […] Ceux qui se battent, ce sont ceux que la sort a lustrés et préparés pour une même guerre: ce sont les adversaires.« (GT 155f.) Mit dieser klar paradox gehaltenen Begründung eines Nationenkonflikts durch Ulysse tritt die kulturkritische Argumentation überdeutlich hervor, die den beispielhaften Rang des trojanischen Krieges als Selbstzerfleischung zweier in ihrem Humanismus gleichwertiger und -gesinnter Widersacher unterstreicht. Die Poesie bestätigt sich wie von Hector behauptet als Schwester des Krieges, die Gegensätze stiftet, obwohl Einigkeit herrschen könnte. Mag auch Lou Andreas-Salomé die Poesie zur perfektgewordenen Erinnerung und einem Anknüpfen an das kindliche Bewusstsein erhoben haben, so ist dem kriegerischen wie dem künstlerischen Bewusstsein aus der Perspektive von Giraudoux’ Ulysse gemeinsam, dass beide dem Infantilismus selbstgefälliger Verblendung Vorschub leisten, die ein ganzes Volk auf dem Zenit seiner kulturellen Blüte in den Untergang treibt: »Son armée est forte, sa caisse abondante, ses poètes en plein fonctionnement.« Wenngleich das gesellschaftliche Gesamtbild, über das sich seine beiden obersten Unterhändler einig sind, keinen Grund zur Besorgnis gibt, so wird Trojas Schicksal im doppelten Wortsinne durch eine fatale »Objektwahl« besiegelt, nämlich die Hélènes durch Paris und der restlichen Trojaner, die ihren symbolischen Wert auf den libidinös wie ästhetisch idealisierter Schönheit reduzieren, in Verkennung ihrer Bedeutung als Spielball des Schicksals: »C’est là la difficulté de la vie, de distinguer, entre les êtres et les objets, celui qui est l’otage du destin. […] Paris [...] a choisi le cerveau le plus étroit, le cœur le plus rigide, le sexe le plus étroit… Vous êtes perdus.« (GT 157f.) Die Beschränktheit der Fixierung auf die Reize Hélènes, ohne die Konsequenzen zu bedenken, wird in eins gesetzt mit der Gedankenlosigkeit des Narzissten wie des Ästheten, die beide über ihre Genusssucht die Mechanismen des politischen Lebens vernachlässigt haben. Obwohl Hector seine Einsicht in diese Abläufe gewonnen hat und sich ihnen mit aller Wort- und Körpergewalt entgegenwirft, behält am Ende der Hang zur Selbstverleumdung und -zerstörung die Oberhand. Um die Paradoxien der Sprache des Dichters um eine letzte Dimension zu steigern, wird Demokos’ letzte Weigerung, seinen wirklichen Mörder zu denunzieren, zu einer schärferen Beleidi237

gung, als er sie zu Beginn des 2. Aktes bei höchster Kreativität im Verbund mit all seinen Gesinnungsgefährten je hätte ersinnen können: »Non, mon cher Hector, mon bien cher Hector. C’est Oiax! Tuez Oiax!« (GT 165) Besteht am Ende doch ein wenig Hoffnung auf die Überwindung der kollektiven idealhungrigen Selbstzerstörungswut, auch wenn der Krieg dank seiner Schwester, der Dichtkunst, am Ende unter Zuhilfenahme einer wenig ehrenvollen Verleumdung Einzug hält? Vielleicht birgt die Tatsache, dass es keine kreative Handlung ist, keine Tat eines genialen Menschen, die das Inferno freisetzt, bei aller niederschmetternden Konsequenz einen minimalen Hoffnungsschimmer auf einen lehrreichen Effekt, den dieses Spiel um artistische Macht und Verführung erzielen könnte. Maurice Rostands Wilde-Drama und Giraudoux’ bittere Mythenparodie markieren zwei Pole in der französischen Dramatik der Zwischenkriegszeit. Rostand versucht mit seinem Psychodrama, die Schaulust des Theaterpublikums mit voyeuristischen Einblicken ins Leben selbstverliebten Dandytums einer vergangenen Zeit zu befriedigen – und reproduziert individualpsychologische Stereotypen zur Erklärung der ›narzisstischen Programmatik‹ der Ästheten. Dagegen belebt Giraudoux (anders als von Gide gefordert) den antiken Mythos wieder, in dem sich die ästhetizistische Überhöhung der Alltagssprache wie die Demokos’ in La Guerre de Troie n’aura pas lieu dahingehend erschöpft, den Gegner auf sprachlich elaboriertem Niveau auf Übelste zu beschimpfen. »DEMOKOS. […] Puisque l’âge nous éloigne du combat, servons du moins à le rendre sans merci.« (GT 95) Die Dekadenz ist dahingehend pervertiert, dass die narzisstische Wunde des Alters den Künstler anstachelt zu verhindern, dass die Jungen »kriegsmüde« und damit in seinen Augen dekadent werden könnten. Wenn Alfred Polgar über die Figur des Sala in Der einsame Weg schrieb, »Der Ästhet flüchtet vor der Häßlichkeit und Pein des Todes in den Tod«61, so ist am Beispiel von Demokos eine Radikalisierung dieses Musters festzustellen, nach der sich ein Ästhet um der Attraktivität und Verherrlichung der Gewalt willen der Gewalt opfert, ohne zu merken, dass er selbst nur ein Spielball der von Ulysse verkörperten Diplomatie ist, die das ›Konzert‹ des Krieges dirigiert. Dem Appell Mallarmés, dass aus den Ruinen der großen Versmonumente der Literatur neue Meisterwerke gebaut und skulptural geformt werden sollten, spricht das satirische Antikenbild Giraudoux’ zynisch verbitterten Hohn: Bevor sich aus der Dekadenz eine neue ›klassische‹ Kultur erheben kann, schöpfen die Betreiber des Heroen- und Totenkultes zuvor noch aus dem Abfall des Sprachfundus ihre Beleidigungen, Wort- und Munitionshülsen des Chauvinismus. Die Faszination der Ästhetizisten am leblos Gegenständlichen findet sich pervertiert in der Verherrlichung des Heldentodes, die durch Hectors Rhetorik, die die Gefallenen als Lebende adressiert, nur vorübergehend gestört werden kann. Der oberste Befehlshaber seines Landes ist während des Krieges im Angesicht seines gemordeten ›spiegelbildlichen‹ Gegenübers zum Anwalt des Lebens bekehrt worden, wohingegen die an der Vereinnahmung, Bemessung und Fetischisierung von ›Sexsymbolen‹ wie Hélène und Kategorien des Mutes, der Ehre und des Heldentums arbeitende ›intellektuelle‹ Elite der trojanischen Kultur von Demokos angeführt in die kollektive Selbstvernichtung stürmt. Diejenigen jedoch, die den ›futuristisch‹ zukunftsträchti-

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Polgar, S. 65.

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gen Weg der eigenen Nation zu ihrer Selbstbehauptung in der Anstiftung des Individuums zur Selbstaufgabe sehen, ersticken schließlich jeden Dialog im Keim, den die narzisstische Ähnlichkeits-Erfahrung Hectors hätte möglich machen können. Wo die Idealvorstellung vom Selbst dem Gegenüber in einer Erfahrung von Ähnlichkeit grundsätzlich nicht zugestanden wird, kann auch nie ein Dialog entstehen, können die Kultur und ihre (Musen-)Söhne somit nur wie Narziss untergehen. Paradoxerweise hat Giraudoux die von Gide drei Jahrzehnte vorher geforderte Rückkehr zu den dramatischen Charakteren der Antike auf seine Art und Weise vollzogen, indem er die moderne (Fehl-)Selbsteinschätzung des Künstlers, sich selbst beim Missbrauch der poetischen Formen zu applaudieren, zum Gegenstand der antikisierenden Satire gemacht hat. Die Zertrümmerung der Formen korrespondiert mit der Verkehrung der avantgardistischen Abgeschiedenheit der Dichterfürsten von der Gesellschaft in einem permanenten Kriegszustand, unabhängig von den politischen Kriegserklärungen und Friedenbeschlüssen: Aus dem Ästheten zur Verfeinerung des gesellschaftlichen Lebens und Umgangs wird ein Rüstmeister der Verrohung, die stärker ist als alle Diplomatie. Während der Troubadour Joffroy Rudel als Bühnenfigur Edmond Rostands dem mittelalterlichen Kreuzzug durch sein Siechtum eher im Wege stand und seine umgehende posthume Verklärung der Princesse lointaine eine widersprüchliche Schlusswendung verliehen hat, hat Giraudoux die Destruktivität von Demokos in der Auflehnung gegen alle pazifistischen Bestrebungen eindeutig gezeichnet. Giraudoux’ Tragikomödie kommt einer Bankrotterklärung und einem Abschied gleich: Die Hoffnungen und Appelle, nach denen der Kult der Schönheit und des Selbst eine Verbindung zur Unschuld menschlicher Ursprungserfahrungen hätte stiften können, gehören der Vergangenheit an und werden auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr neu formuliert werden.

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9. Schlussworte

Ausgangspunkt der Überlegungen war, ob und in welchen Facetten der Diskurs über den dekadenten Ästhetizismus und seine Poetik in der Künstlerdramatik der Vorund Zwischenkriegszeit europaweit behandelt wird. Der antike Mythos vom Narziss war bereits zu einem Sinnbild für die sozialpsychologische Fähigkeit bzw. das Unvermögen des Künstlers zur Eingliederung in die Gesellschaft geworden, als 1921 Lou Andreas-Salomé schrieb: Sachlichkeit ist das gloriose menschliche Ziel, das dem Narzißmus endlich im Dienst von Forschung oder Fortschritt, Kunst oder Kultur, als verwandter Eros zuwinkt wie aus Träumen der Kindheit. Wo er in kindischen Träumen stecken blieb, wo sein großer Sprung zu 1 kurz ausfiel, da entgleist er auch an sich selbst ins Pathologische, Bodenlose.

Kein Verharren »in kindischen Träumen«, sondern einen Aufbruch des narzisstischen Ästheten aus der symbolistischen Mehrdeutigkeit der Zeichen versuchte bereits André Gide in seinem Traité du Narcisse auszurufen. »Gide’s Narcissus has learned to look beyond his own reflection, to study the images of the natural world, and through contemplation, to reach the pure form hidden behind them.«2 Im extremen Widerspruch zu Gides Versuchen, (auch für die dramatische Form) eine neue Ästhetik des Metaphysischen zu etablieren, steht die Hypothese von biologisch determinierten und medizinisch diagnostizierbaren Verfallserscheinungen: Max Nordaus Argumentation, dass sich das kulturelle Niveau einer ganzen Epoche von ihren vorherrschenden genialen oder pathologischen Künstlerpersönlichkeiten her begründen lasse, hat sich vor allem in der untergehenden Donaumonarchie als folgenreich erwiesen: sei es in den Künstler-Pathographien des frühen 20. Jahrhunderts, sei es in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter. Die Autoaggression erhob Weininger, namentlich am Beispiel Richard Wagners, zur Möglichkeit künstlerischer und allgemein-menschlicher Selbstvervollkommnung, denn: »der Mensch haßt nur, durch wen er sich unangenehm an sich selbst erinnert fühlt. [...] Ihm war das Judentum die große Hilfe, um zur klaren Erkenntnis und Bejahung des anderen Poles in sich zu gelangen«.3 Doch aus dieser Illusion spricht nur das Scheitern der Assimilation und die Ausweglosigkeit des double bind, in dem sich speziell die jüdischen Intellektuellen Wiens um 1900 befanden. Weiningers »jüdischen Selbsthaß«, der die Form des Wagner-Kultes annimmt, könnte man auch »Haß gegen die Illusionen der Aufklärung« nennen, er ist so etwas wie einer Rück4 zugsbewegung ins Irrational-Archaische.

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Andreas-Salomé, S. 204. Genova, S. 14. Weininger, S. 407ff. Le Rider, Der Fall Otto Weininger, S. 213.

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Der prekäre Zusammenhang, den Weininger zwischen Wagnerbegeisterung, Antifeminismus und Antisemitismus herstellt, ist in dieser Kombination erst mit einer Verzögerung von knapp zwei Jahrzehnten von den Opernkomponisten Franz Schreker und Alexander Zemlinsky (sowie dessen Librettisten für den Zwerg und Weininger-Biographen Georg Klaren) in musikdramatischer Form verarbeitet worden. Es muss allerdings noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass sich in den Gezeichneten und im Zwerg als Protagonist jeweils eine Künstlerfigur findet, der in ihrem sozialpsychologischen Verhalten eindeutig Selbsthass zugeordnet werden kann. Dieser richtet sich jedoch gegen das eigene ›hässliche‹ Körper-Selbst, nicht aber gegen eine explizit jüdische Identität. Unzweifelhaft beschäftigen sich sowohl Die Gezeichneten als auch Der Zwerg mit der Problematik der Assimilation eines gesellschaftlich als ›andersartig‹ wahrgenommenen Künstlers. Konstant in den zur Diskussion gestellten Künstlerdramen aus vier Jahrzehnten vorweggenommen wird der double bind als gesellschaftliche Konstellation, in der die Künstlerfiguren und ihre ›Muse‹ zwischen Narzissmus und Selbsthass um die Integration ihrer einander widersprechenden Selbst-Bilder gefangen sind. Nicht nur vor Schrekers und Zemlinskys Musikdramen, auch schon bevor Otto Weininger seine Theorie verfasst, werden im französischen neoromantischen Vers- und Musikdrama Protagonist und Protagonistin vor die (gleichermaßen attraktiven) Alternativen von Idealisierung und Verführung, Sublimierung und Materialismus gestellt (ein Konflikt, auf den noch Shaw aufbaut). Die von Gide (und gleichermaßen von Mallarmé) beanstandete Skepsis gegenüber der Repräsentation des Metaphysischen findet sich ebenso in den Dramen des fin de siècle, die das Thema von Muse und Inspiration für den Künstler zum Inhalt haben, wie in den Mysterien wieder, die sich teilweise mit diesem Motivkomplex überschneiden – etwa Julien von Gustave Charpentier, oder die Boulevardtheaternahen Auftragsstücke von Edmond Rostand für Sarah Bernhardt. Beherrscht werden diese Dramen von einer Dramaturgie des inneren ästhetischen Widerspruchs zwischen dem Gezeigten und dem Resümee: Der Bohemien Julien, der im Rausch der Sinne alle spirituellen Erfahrungen gemacht hat, proklamiert am Ende den Materialismus und die Triebhaftigkeit des Menschen. Die Identifikation der Diva Sarah Bernhardt mit der jeweiligen Titelrolle von La Princesse Lointaine und La Samaritaine wird dermaßen auf die Basis der Lebensgeschichte der Bernhardt (und sich um ihre Person rankende Gerüchte) abgestellt, dass die Bekehrung der erotisch verführerischen wie verführbaren Muse zu einer quasireligiös verehrten Ikone in sich zweifelhaft bleibt. Rostands Stücke für Sarah Bernhardt sind zudem als ein Kommentar über die Vereinnahmung der Starschauspielerin durch das Publikum und die Presse lesbar, vor der die narzisstische Verkapselung der Muse nur eine Selbstschutzfunktion darstellt, während der sterbenskranke und am Ende dahinscheidende Troubadour das Gegenbeispiel einer zu schwachen, dem »nervösen Zeitalter« nicht gewachsenen Konstitution abgibt. In einen ähnlichen double bind zwischen dem Streben nach Prominenz und Reichtum und der feinnervigen und kränklichen Veranlagung hat Shaw seine Figur des Dubedat gezwungen. Der Betrug und die Provokationen, mit denen er die Ärzte bedenkt, die ihn eigentlich retten sollen, machen die Selbstverachtung deutlich, die der Maler vor seiner finanziellen Abhängigkeit von reichen 241

Geldgebern empfindet. Seine skandalträchtige doppelte Eheschließung (ohne Auflösung des ersten Verhältnisses) dient der Pflege seines amoralischen Rufes. Immerhin ist von der Entfremdung und dem Kampf der Geschlechter in Dubedats durchaus romantischen Frauenbeziehungen nichts zu spüren. Nach den Schemata von Kohut ließe sich zwar die Beziehung zwischen einem »spiegelhungrigen« Mann und einer »idealhungrigen« Frau konstatieren, doch wird in der komplementären Entsprechung das Konfliktpotential der Geschlechterbeziehung entschärft. Dieses Beziehungsmodell befindet sich allerdings unter den Versuchsanordnungen in der ästhetizistischen Künstlerdramatik in einer Minderheit. Bei Schnitzler und vor allem bei Wedekind hat sich der »Narzissmus des kleinen Unterschieds« zu einer unüberbrückbaren Kluft ausgeweitet. Die Männer fallen meistenteils unter das »fusionshungrige« Persönlichkeits-Schema, das die Frauen zu dominieren ausgerichtet ist und sie dem für einzig richtig befundenen Ideal in der Lebensform wie der ästhetischen Erscheinung anzugleichen versucht – je nach ›Bedarf‹ als unschuldige Geliebte, als züchtige Ehefrau oder als geheim gehaltene Mätresse. Doch das Weibliche entzieht sich diesem gewaltsamen Zugriff immer wieder, um die Männer auf die Unmöglichkeit zu stoßen, die in sie gesetzten Erwartungen ästhetischer Vollendung zu erfüllen. Sobald Schnitzlers und Wedekinds Frauenfiguren, ob sie Irene Herms, Johanna Wegrat, Helene Marowa, Lulu oder Franziska heißen, auf eine bestimmte Rolle reduziert werden, wechseln oder durchbrechen sie diese – und damit häufig zugleich die dramatische Form und Vorgaben des Genres: Irene Herms’ Vorstellung vom Ruhestand einer in der Großstadt gefeierten Schauspielerin (wie sie es war) ist der Rückzug aufs Land, und Johanna Wegrat eilt wider Erwarten dem Anhänger des Schönheitskults Sala in den Tod voraus. Statt der Untergangsstimmung einer ganzen Epoche, die von den Männern in offenkundiger Überschätzung ihrer individuellen Lebenstragödie verbreitet wird, erfolgt (schlimm genug) die gebührende Eingrenzung der tragischen Entwicklungen auf die familiäre Privatsphäre, das im neuromantischen Fernweh nur vorübergehend auf Distanz gerückt werden kann. Analog steht der Kammersänger Gerardo, der sich als Zahnrad einer gewaltigen KulturMaschinerie von den zwischenmenschlichen Reibungen isoliert und autark wähnt, plötzlich vor einer persönlichen Katastrophe, die abrupt die Farce und ihren selbst ernannten Spielleiter verstummen lässt. Das Gefühl der Grandiosität durch den überlegenen Einblick in den kulturellen Niedergang schwindet angesichts der überforderten Inferiorität beim alltäglichen Miteinander-Leben. Laut Richard Sennett können, wie geschildert, die Autorität bzw. die ihr zugrunde liegenden hierarchischen Strukturen einer Gesellschaft en abyme gesetzt und so hinterfragt werden. Durch das en abyme in den analysierten Dramen gelingt es nicht in den seltensten Fällen, dass das Spiel im Spiel oder das jähe In-Kraft-Treten anderer Formgesetze im zuvor entwickelten Dramen-Zusammenhang den Rezipienten die grausame Realitätsnähe der Figuren-Konfigurationen vor Augen führt: Im Kammersänger weicht die Farce von einem Moment auf den anderen der Tragödie; in La Princesse Lointaine dient der Topos des Locus amoenus nicht der Abschottung der idealisierten platonischen Liebe, sondern dem Verrat der fernen Geliebten an ihrem todkranken Troubadour mit dessen bestem Freund – ein Betrug, der durch einen Rückzug aus dem irdischen Leben gesühnt werden kann. Das Spiel im Spiel in Barries Dear Brutus stößt den Künstler Dearth nur noch stärker als alle übrigen involvierten Figuren auf sein im Alkohol ertränktes Ungenügen vor der für ihn 242

womöglich unlösbaren Aufgabe: die Rolle des schöpferischen Menschen und Vaters ebenso zu erfüllen wie die eines starken Partners in der (Geschlechter-)Beziehung mit der Ehefrau. Das en abyme auf die Spitze treibt allerdings erneut Wedekind, wenn er in Franziska mit einer einzigen Szene die Modeströmung des Mysteriums und die an ihr beteiligten Interpreten ›entzaubert‹, ihre idealisierte Größe als inferiores Abhängigkeitsverhältnis von einer modernen Feudalgesellschaft enttarnt. Im Drama wie in der Oper schlagen sich also die poetologischen Diskurse des fin de siècle bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein deutlich nieder, und zwar gerade nicht vorherrschend als Inszenierungen der künstlerischen Existenz in ihrer Isoliertheit und Perspektivlosigkeit, sondern durchaus in Versuchsanordnungen in sozialer und sozialgeschichtlicher Interaktion. Einerseits finden sich also tatsächlich einige Künstlerfiguren (Joffroy Rudel bei Rostand, Charpentiers Julien, Sala, der Maler Schwarz oder zuletzt Giraudoux’ Demokos), auf welche die innere Abschottung vom gesellschaftlichen Zusammenleben zutrifft. Dem ästhetischen Ideal wird das reale Leben untergeordnet und häufig in (selbst-)zerstörerischer Manier geopfert. Andererseits – und das ist beinahe stärker hervorzuheben – gewinnen die Künstlerfiguren (z.B. Dubedat, Oscar Wilde in Maurice Rostands Verklärung oder Alviano Salvago) in diesem Spannungsfeld von sozialer Integration und Selbstaufgabe ein gewisses Maß ihrer ›dichterfürstlichen‹ Autorität aus dem zu Ende gegangenen 19. Jahrhundert zurück, jedoch mit fast durchgehend verheerenden Konsequenzen. Damit ist dieser Figurendiskurs allerdings keineswegs als späte Erscheinung einer jahrhundertealten Dramenkonvention ad acta zu legen. Das Theater der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit hat, in der Auseinandersetzung mit dem Ästhetizismus, das moderne Missverhältnis zwischen Individualismus und gesellschaftlicher Integration, nämlich »daß der Komplexitätssteigerung des Ganzen eine abnehmende Integrationskraft der Teile entspricht«,5 auf verschiedene, gleichwohl stets adäquate Art und Weise antizipiert. Es bleibt denen, die heute am Theater interessiert oder beschäftigt sind, überlassen, sich an diese Formen als Möglichkeiten zu erinnern.

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Stefan Breuer, Sozialpsychologische Implikationen der Narzißmustheorie, S. 27.

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