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German Pages 310 Year 2019
Peter L. Oesterreich Rhetorisches Denken
Rhetorik-Forschungen
Herausgegeben von Joachim Dyck und Gert Ueding
Band 22
Peter L. Oesterreich
Rhetorisches Denken Zur Philosophie der Rhetorik und zur Rhetorik der Philosophie
Begründet von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding
ISBN 978-3-11-052679-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052766-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052680-6 ISSN 0939-6462 Library of Congress Control Number: 2018949451 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorrede Das rhetorische Denken der Fundamentalrhetorik steht unter dem Vorzeichen des Chiasmus von Philosophie und Rhetorik. Aus dem Zusammentreffen der Philosophischen Anthropologie mit der interdisziplinären Rhetorikforschung sind heute zwei neue komplementäre Tochterdisziplinen entstanden. Die eine ist die fundamentalrhetorische Anthropologie, welche den Menschen generell als homo rhetoricus definiert. Die andere klärt als rhetorische Metakritik die Philosophie selbst über ihre eigene, immanente Rhetorizität auf. Der vorliegende Band versammelt exemplarische Beiträge der Fundamentalrhetorik, welche die neueren Entwicklungslinien ihres rhetorischen Denkens sichtbar werden lassen. Gemäß der disziplinären Doppelnatur des rhetorischen Denkens werden die Texte in zwei Abteilungen präsentiert. Die erste enthält unter dem Titel Zur Philosophie der Rhetorik die Arbeiten zur fundamentalrhetorischen Anthropologie. Ausgehend von grundlegenden Thesen zur Homo-rhetoricus-Anthropologie verdeutlichen sie ihre systematische Fortentwicklung durch neue Thematiken wie z. B. Pithanologie, Credibilität, Pathelogie, Polypersonalität, Anthropotechnik, Autoinvenienz oder die Rekonstruktion des Subjektbegriffes durch interne Rhetorik. Die zweite Abteilung Zur Rhetorik der Philosophie umfasst die Beiträge, welche der rhetorischen Metakritik der Philosophie und ihrer Geschichte zuzurechnen sind. Hier finden sich u. a. Abhandlungen zur Topographie der klassischen Metaphysik und ihren sophistischen und pararhetorischen Gegenspielern sowie metakritische Detailstudien zu Pseudo-Longin, Herder, Kant, Hegel, Fichte und Heidegger. Judith Oesterreich danke ich für viele Anregungen bei der Redaktion der Manuskripte sowie Andrea Töcker für die Erstellung der Druckvorlage. Frankfurt am Main im März 2019
https://doi.org/10.1515/9783110527667-202
Peter L. Oesterreich
Inhalt Teil I: Zur Philosophie der Rhetorik Thesen zum homo rhetoricus und zur Neugestaltung der Philosophie im 21. Jahrhundert | 3 Homo rhetoricus interior | 13 Selbsterfindung, Subjektivität und interne Rhetorik | 29 Polypersonalität | 49 Pithanologie | 63 Empfindenkönnen | 83 Rhetorik als Anthropotechnik | 99 ‚Allein durchs Wort‘ | 113 Die Erfindung des religiösen Selbstes | 133 Credibilität | 151
Teil II: Zur Rhetorik der Philosophie Die Topographie der Metaphysik | 165 Indecorum | 179 Erfindung des Absoluten | 197 ‚Was des Lobes wert ist, mit Lob ehren‘ | 215 Das Hervorbrechen des Erhabenen | 231 Herders rebellischer Abschied von Kant | 239
VIII | Inhalt
Vom Vernunftgerichtshof zum Weltgericht | 253 ‚Von neuem Erfinder der Wissenschaftslehre‘ | 267 Kryptoplatonismus | 281 Drucknachweise | 301
| Teil I: Zur Philosophie der Rhetorik
Thesen zum homo rhetoricus und zur Neugestaltung der Philosophie im 21. Jahrhundert Thesen zum homo rhetoricus
Die folgenden dreizehn Thesen zeichnen zunächst die Umrisse eines neuen fundamentalrhetorischen Menschenbildes: das philosophische Porträt des Homo rhetoricus. Ausgehend von dieser fundamentalrhetorischen Anthropologie plädieren sie ferner für eine neue, positive Wendung der Rhetorik-Renaissance im 21. Jahrhundert. Sie weisen darauf hin, dass sich das bloß negative Geschäft rhetorischer Kritik im Sinne einer postmodernen Dekonstruktion klassischer Metaphysik am Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend erschöpft hat. Nach der erfolgreichen negativen Abarbeitung falscher apodiktischer Vernunftideale kommt es im 21. Jahrhundert verstärkt darauf an, die positive Aufgabe einer rhetorischen Rekonstruktion der Philosophie, insbesondere der Metaphysik und ihrer Geschichte, konsequent in Angriff zu nehmen. I. Der Mensch ist ein rhetorisches Wesen. Die persuasive Rede in der gesamten Vielfalt ihrer performativen Modi bildet das Prinzip des menschlichen Lebens. Zur unverkürzten Vielfalt ihrer Redeweisen, die sich dem kognitiven Bereich des docere im weitesten Sinne zuordnen lassen, gehören das Prophezeien, Erzählen, Verkünden, Fragen, Begründen, Widerlegen, aber auch das Lügen. Zum voluntativen Bereich des movere gehören z. B. das Bitten, Auffordern, Anraten, Antreiben, Vorschreiben, Befehlen oder auch das Verführen. Endlich enthält der – vom delectare angedeutete – affektive Bereich z. B. das Erfreuen, Erheitern, Belustigen, Loben, Huldigen, Verherrlichen oder Beschönigen. Der rhetorische Logos in der dreidimensionalen Wirksamkeit des docere, movere und delectare bestimmt somit das lebensweltliche Sein des Menschen in seiner kognitiven, voluntativen und affektiven Totalität. II. Das menschliche Redenkönnen existiert als universales und fundamentales Phänomen bereits vor aller Redekunst.1 Als natürliches menschliches Vermögen kann
|| 1 Der anthropologische Universalismus der philosophischen Fundamentalrhetorik findet in der Kulturanthropologie von Ivo Strecker und Stephen Tyler, deren International Rhetoric Culture Project ebenfalls von einer wechselseitigen Fundierung von Rhetorik und Kultur ausgeht, seine interdisziplinäre Bestätigung (vgl. Ivo Strecker/Stephen Tyler, Culture and Rhetoric, Oxford/New York 2009). Generell geht die universalanthropologische Homo-rhetoricus-Theorie zunächst von der unbewussten Rhetorik der alltäglichen Lebenswelt und anderer Redekulturen https://doi.org/10.1515/9783110527667-001
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das Redenkönnen, ebenso wie das Hören- oder Verstehenkönnen, „auch ohne bewusste Anwendung von Kunstregeln zu voller Ausbildung kommen“2. So weist schon Aristoteles im ersten Kapitel seiner Rhetorik darauf hin, dass die meisten Menschen bis zu einem gewissen Grade von selbst verstehen, eine Rede argumentativ zu prüfen bzw. zu stützen oder sich zu verteidigen bzw. anzuklagen.3 Die Rhetorik als Kunstform bildet demnach lediglich eine Methodisierung der inartifiziellen persuasiven Rede, der sich die Menschen alltäglich immer schon bedienen. Das anthropologische Grundphänomen des Rhetorischen lässt sich daher von den historisch kontingenten Kunstformen der Rhetorik (ars rhetorica) unterscheiden: Als „oratio ante artem“4 liegt das Rhetorische als universales und fundamentales Phänomen den jeweiligen Begriffsbildungen der Rhetorik zu Grunde. III. Der homo rhetoricus ist Gegenstand der fundamentalrhetorischen Anthropologie. Die fundamentalrhetorische Anthropologie,5 die den Menschen als homo rhetoricus begreift, geht primär von dem universalen und fundamentalen Phänomen des Rhetorischen aus. Die Universalität des Rhetorischen besagt dabei anthropologisch nicht, dass jeder Mensch ein versierter Orator sei, sondern eine Redende und ein Redender, welche es mehr oder minder geschickt verstehen, sich ein eigenes Selbst-, Welt- und Transzendenzverständnis im Element persuasiver Rede anzueignen und mehr oder weniger elaboriert und reflektiert für andere darzustellen.6 Die Fundamentalität meint ferner, dass das Rhetorische nicht eine akzi|| aus und fokussiert sich nicht von vorne herein auf die von der europäischen Schulrhetorik vorgezeichnete, spezielle Figur des Orators. Dies bedeutet aber keineswegs eine grundsätzliche „Ablehnung der rhetorischen Subjektivität“ (Franz-Hubert Robling, „Hypostasierte Anthropologie. Fünf kritische Thesen zum Homo rhetoricus Oesterreichs“, in: Rhetorische Anthropologie. Studien zum homo rhetoricus, München 2000, 371–382, hier: 375), wie einige Aufsätze dieses Bandes zeigen. 2 Hans-Georg Gadamer, „Rhetorik und Hermeneutik“, in: Kleine Schriften IV, Tübingen 1977, 148–163, hier: 152. 3 Vgl. Aristotle, Rhetorik, 1354a. 4 Vgl. Quintilian, Inst. or., II,17,7. 5 Das ursprüngliche Konzept einer fundamentalrhetorischen Anthropologie findet sich in meiner Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Öffentlichkeit, Hamburg 1990. Davon ausgehend sind in der Folgezeit eine ganze Reihe bemerkenswerter, sowohl ergänzender als auch konkurrierender Arbeiten entstanden. Siehe dazu meinen Artikel: „Anthropologische Rhetorik“, in: Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics, hg. v. Ulla Fix/Andrea Gardt/Joachim Knape, Berlin/New York 2008, 869–880. 6 Dagegen vertritt auch Richard A. Lanham lediglich eine auf die Figur des professionellen Orators fokussierte partikulare Perspektive rhetorischer Anthropologie. So setzt er dem artifiziell durchtrainierten homo rhetoricus einen vermeintlich arhetorischen, ‚seriösen‘ Menschentypus entgegen, welchen es aus der universalanthropologischen Perspektive der Fundamentalrhetorik
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dentielle, sondern die substanzielle Wesensbestimmung des Menschen sei, so dass gesagt werden kann: Die Rede, das ist der Mensch selbst. Der Mensch ist somit in erster Linie ein homo rhetoricus, und weil er dies ist, kann er in zweiter Linie z. B. ein sociologicus, oeconomicus oder politicus sein. IV. Die Kategorien der klassischen Rhetorik besitzen eine wichtige heuristische Bedeutung für die homo-rhetoricus-Anthropologie. Das bewährte kategoriale System der klassischen Rhetorik (Aristoteles, Cicero, Quintilian) ist in seiner Begriffsbildung weitgehend der gelungenen öffentlichen Redepraxis abgelesen und weist auf den inartifiziellen Boden des lebensweltlich Rhetorischen zurück, dem es entstammt. Die klassischen rhetorischen Kategorien besitzen deshalb eine bisher weitgehend unausgeschöpfte heuristische Funktion für den begrifflichen Aufbau einer fundamentalrhetorischen Anthropologie. Neben ihrer traditionellen Rolle für die Produktion von Texten und der modernen literaturwissenschaftlichen für die „Analyse von Texten“7 gewinnt somit das rhetorische Paradigma mit der heuristischen Funktion für die philosophische Anthropologie eine weitere, neue Anwendungsmöglichkeit hinzu. V. Die Quinque artes bilden den heuristischen Schlüssel für den fundamentalrhetorischen Geistbegriff. Ein wichtiges Beispiel für die heuristische Funktion rhetorischer Kategorien bilden die „fünf großen Künste“: inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio. Diese verweisen auf die fünf fundamentalen Potenzen des Erfinden-, Ordnen-, Gestalten-, Erinnern- und Aufführenkönnens, die als kreative Grundkräfte die kulturelle Lebenswelt des Menschen formen. Sie bilden den schöpferischen „Geist“ des Menschen, der in mehr oder weniger reflektierter Weise die symbolischen Welten der menschlichen Sprache, der Kunst, der Religion, Mythologie und Geschichte erzeugt. Die fundamentalrhetorische Reformulierung des Geistbegriffes ermöglicht die analoge Anwendung rhetorischer Kategorien auch auf nonverbale Gebiete menschlicher Kultur und löst sich zugleich endgültig von der transzendentalen Logik der Bewusstseinsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, die im 20. Jahrhundert auch noch E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen8 bestimmt.
|| gar nicht geben kann (vgl. Richard A. Lanham, The Motives of Eloquence. Literary Rhetoric in the Renaissance, New Haven/London 1976). 7 Heinrich F. Plett, Systematische Rhetorik. Konzepte und Analysen, München 2001, 13. 8 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, Darmstadt 1953, 1–47.
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VI. Die (post)moderne Existenz des homo rhetoricus bestimmt sich durch die Grundfigur der Ironie. Schon in der tropologischen Geschichtsdeutung Vicos bildet die Ironie die Signatur der Moderne, die im Gegensatz zur naiven Dichtung der antiken Mythologie gerade in „Zeiten der Reflexion“9 zur Herrschaft gelangt. Im Gegensatz zu den mythogenen, identitätsstiftenden Tropen wie Metapher, Synekdoche und Metonymie steht die Ironie für Differenz und Alterität. Mit der Romantik zu Anfang des 19. Jahrhunderts erreicht dieser Prozess der modernen Infinitesierung der Ironie, der sich schließlich auch gegen den Vernunftmythos der Aufklärung richtet, seinen ersten Höhepunkt. Die Ironie erweitert sich, ausgehend vom rhetorischen Tropus (ironia verbi) bei F. Schlegel, zur existenziellen (ironia vitae) und in der Philosophie Schellings zur ontologischen (ironia entis) Grundfigur.10 Dieser Prozess der infiniten Ironisierung hat sich gegen alle remythisierenden und dogmatisierenden Gegenreaktionen durchgesetzt und im ironischen Pluralismus der sogenannten ‚Postmoderne‘ am Ende des 20. Jahrhunderts einen weiteren Höhepunkt gefunden. Die fundamentalrhetorische These von der Ironie als (post)moderner Grundfigur bezieht sich nicht allein auf die Gebiete von Kunst und Literatur, sondern gerade auch auf die alltägliche Existenz in der gewöhnlichen Lebenswelt. Ironie lässt sich nämlich bis ins Grundgeschehen des gesellschaftlichen Existierens zurückführen. Jedes erfolgreiche rhetorische Handeln in der lebensweltlichen Öffentlichkeit gründet in der gesellschaftlich reflektierenden Urteilskraft, die uns die Ansichten der Anderen erschließt, indem sie uns imaginativ und intellektuell auf deren Standpunkt versetzt. Diese permanente Wendung in gegenteilige Sichtweisen und oppositionelle Positionen, auf der schon der naive Handlungsstil des homo rhetoricus beruht, bildet jene rudimentäre existenzielle Ironie, die, eigens reflektiert, zum (post)modernen Wissen um die prinzipielle Alterität des Anderen und Fremden führt. VII. Ironische Alterität bildet eine Signatur des beginnenden 21. Jahrhunderts. Im (post)modernen Wissen um die potenziell unendliche Alterität des Anderen ist die zuvor zumeist nur latente, rudimentäre Ironie heute offen zutage getreten. Für die aufgeklärte rhetorische Existenz schließt die Suche nach einem authentischen Personalstil das Moment der Selbstironisierung nicht aus, sondern ein. Die
|| 9 Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Nationen, hg. v. Ferdinand Fellmann, Frankfurt a. M. 1981, 72. 10 Vgl. meinen Artikel „Ironie“, in: Romantik-Handbuch, hg. v. Helmut Schanze, Stuttgart 1994, 351–365 bzw. „Irony“, in: Encyclopedia of Rhetoric, hg. v. Thomas O. Sloane u. a., New York 2001, 404–406.
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sie begleitende Selbstdistanzierung, Toleranz und Urbanität versteht sich dabei keineswegs nur als ein leerer Höflichkeitsgestus, sondern als eine Antwort auf die pluralistische Seinsverfassung der menschlichen Lebenswelt, die durch eine potenziell unendliche Vielfalt der konkurrierenden Sicht- und Redeweisen, bestimmt ist. Auch nach dem absehbaren Ende der Postmoderne zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird dieser Grundzug ironischer Alterität zur reflektierten Existenz des Homo rhetoricus gehören. Dies gilt um so mehr, da der Prozess der sogenannten ‚Globalisierung‘, der schon im 20. Jahrhundert mit hoher Geschwindigkeit vorangeschritten ist, sich vermutlich im 21. Jahrhundert noch weiter beschleunigen wird. Die gesteigerte technisch-mediale Entgrenzung, die die raumzeitliche Isolation der Regionalkulturen aufhebt, wird wahrscheinlich auch in Zukunft die Alterität des menschlichen Anders-Sehen-, Anders-Deuten-, Anders-Glauben-Könnens verstärkt vor Augen führen. VIII. Die Kehrseite grenzenloser Ironisierung ist die Gefahr eines infiniten ironischen Regresses. Die infinite Ironie stellt nicht nur die Grund-, sondern auch die Problemfigur der Gegenwart dar. In ihrer Ambivalenz spiegelt sich sowohl das Glück als auch die Gefährdung modernen Existierens. Einerseits wirkt das ironische Wissen um die scheinbar unendlichen Möglichkeiten rhetorischer Selbsterfindung gegenüber den früheren eindimensionalen Formeln personaler und interpersonaler Identität beglückend und befreiend. Auf der anderen Seite könnte die emanzipatorische Vision eines „steten Wechsel(s) von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“11, die schon von der infiniten romantischen Ironie F. Schlegels vertreten wurde, auch zu einer letztlich ruinösen Selbstüberforderung führen. Die Pluralisierung des (post)modernen Ichs im Prozess permanenter, kontingenter „Selbsterschaffung“12 birgt nämlich die Gefahr eines infiniten ironischen Regresses in sich, der schließlich zu einer Verirrung und Fragmentarisierung menschlicher Subjektivität im Labyrinth ihrer scheinbar unendlichen Möglichkeiten führen könnte. Die infinite Ironisierung aller Verhältnisse, die zuletzt durch die Postmoderne vorangetrieben wurde, birgt auch die Gefahr in sich, schließlich jede ernsthaft gemeinte Geltung zu vernichten und in einen orientierungslosen Nihilismus abzustürzen, der wiederum die geheime Sehnsucht nach neomythischer oder sogar totalitärer Geborgenheit hervorruft. An dieser ironisierenden Selbst-Dekonstruktion der westlichen Kultur hat der rhetorical turn des 20. Jahrhunderts einen
|| 11 Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, hg. v. Ernst Behler, München 1967, 172. 12 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1991, 69.
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erheblichen Anteil, insofern er in der rein negativen Form rhetorischer Kritik versuchte, überlieferte Geltungsansprüche der Metaphysik z. B. als „Weisse Mythologie“13 zu entlarven. Angesichts dieser einseitigen Negativität der Dekonstruktion stellt sich zu Anfang des 21. Jahrhunderts die Aufgabe, die Rhetorikrenaissance in Richtung auf eine positive Neugestaltung und Rekonstruktion der Philosophie weiter zu entwickeln. IX. Die rhetorische Metakritik begreift auch die Philosophie als Werk des homo rhetoricus. Die Philosophie als reales Phänomen der menschlichen Kultur vollzieht sich grundsätzlich in rhetorischen Formen wie Reden, Gesprächen, Dialogen, Seminaren, Vorlesungen und ihren schriftlichen Fixierungen, die dann zu klassischen Texten der Philosophiegeschichte werden können. Diese von der orthodoxen Metaphysik weitgehend übersehene oder dissimulierte rhetorische Vollzugsform der Philosophie aufzudecken und ihre persuasiven Strategien freizulegen, ist die eigentliche und legitime Aufgabe rhetorischer Metakritik. Sie bildet ein neues Organ redereflexiver Selbsterkenntnis der Philosophie und klärt insgesamt darüber auf, dass auch die Philosophie selbst wesentlich als ein Werk des homo rhetoricus begriffen werden muss. Die kritische Aufdeckung des rhetorischen Momentes der philosophischen Klassikertexte, ihrer geheimen persuasiven Strategien und des unvermeidlichen performativen Widerspruchs, in den sich ihre Rhetorik der Antirhetorik verstrickt, zielt letzten Endes nicht nur auf eine „pathetisierende vemunftkritische Entlarvung“14 der Philosophie. Sie erschöpft sich nicht im rein negativen Geschäft, die traditionelle Metaphysik von den metaphilosophischen Standpunkten Marx’ oder Althussers, Freuds oder Lacans, Nietzsches oder Derridas ausgehend zu dekonstruieren.15 Ihrem eigentlichen und positiven Sinn nach bildet die rhetorische Metakritik vielmehr ein neues kritisches Organ der Philosophie selbst, in dem sich ihr ursprüngliches Interesse an Selbsterkenntnis und Selbstaufklärung neu verkörpert. Ihr geht es somit nicht um die reine Destruktion, sondern die produktive Bereicherung der Philosophie, um ein selbstkritisches, redereflexives Organ, das die Aufhebung ihrer eigenen Redevergessenheit und die Restitution ihres genuin rhetorischen Charakters ermöglicht.
|| 13 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, 229. 14 Tobia Bezolla, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel, Tübingen 1993, 153. 15 Vgl. Samuel Ijsseling, Rhetorik und Philosophie. Eine historisch-systematische Einführung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, 134–163.
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X. Eine konsequente rhetorische Metakritik der Philosophie bezieht sich nicht nur auf die klassische Metaphysik, sondern auch auf ihre (post)moderne, neosophistische Gegenspielerin. Während die überlieferte dogmatische Metaphysik die Evidenz des Absoluten vertritt, entwirft ihre neosophistische Gegenspielerin eine skeptische Anthropologie, die den Menschen im Gegenteil „verlassen von der Evidenz“16 sieht.17 Der metaphysischen Verheißung einer unmittelbaren Evidenz des Absoluten steht somit die neosophistische Behauptung einer unmittelbaren Evidenz der Nichtevidenz gegenüber. Eine konsequente rhetorische Metakritik kann sich nicht nur – wie in der Vergangenheit zumeist – auf die metaphysische Rede von der Evidenz des Absoluten, sondern muss sich auch auf die (post)moderne und neosophistische Rede von der Evidenz seiner Nichtevidenz beziehen. Ein Beispiel für die neue Sophistik auf dem Gebiet der Anthropologie bildet Blumenbergs neosophistische Kompensationstheorie der Rhetorik. Sie hebt die heutige Aktualität des rhetorischen Paradigmas vor dem Hintergrund der bis ins 19. Jahrhundert dominanten Metaphysiktradition hervor. Demnach steht der Niedergang der Metaphysik im 20. Jahrhundert mit dem Aufstieg der Rhetorik im Verhältnis direkter Proportionalität. Es sei die Entlarvung der „Evidenzverheißung“18 der überlieferten Metaphysik durch die skeptischen Theorien der Moderne, welche auch die Annäherung von Rhetorik und philosophischer Anthropologie in den letzten Jahrzehnten vorantreibe. Blumenberg wiederholt hier vor dem skeptischen Theoriehintergrund des 20. Jahrhunderts allerdings nur jene sophistische Kompensationstheorie der Rhetorik, die wir schon in Platons Protagoras finden können. Die Vorstellung, dass die Rhetorik lediglich ein Instrument sei, die menschliche Verlegenheit in Situationen des Zeitdruckes, Evidenzmangels und Handlungszwanges kompensatorisch zu bewältigen, übernimmt das platonische Beschreibungsmuster der sophistischen Rhetorik aus dem Theaitetos.19 Trotz ihrer gegen die überlieferte Metaphysik gerichteten subversiven Inversionstendenz bleibt so die moderne Neosophistik am Ende die Gefangene eines einst von Platon erfundenen Topos: Unter umgekehrten Vorzeichen wiederholt
|| 16 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1986, 107. 17 An Blumenberg anschließend zeichnen Josef Kopperschmidt und Norbert W. Bolz ein einseitig skeptisches und neosophistisch gefärbtes Porträt des homo rhetoricus. Vgl. Josef Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, hier: 67–98 und 205–243. 18 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir Leben (s. Anm. 16), 133. 19 Zur anthropologischen Dimension der platonischen Darstellung sophistischer Rhetorik im Theaitetos s. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1987, 47–130.
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sie den platonischen Differenz-Topos von der Unvereinbarkeit rhetorikaffiner Sophistik einerseits und rhetorikrepugnanter Philosophie andererseits. XI. Nicht nur die vermeintliche Evidenz der dogmatischen Metaphysik, sondern auch die (post)moderne Evidenz der Nicht-Evidenz erweist sich als kontingent. Weder in den Wissenschaften noch in der Philosophie gibt es eine arhetorische, unmittelbare Evidenz. Auch die (post)moderne Skepsis des 20. Jahrhunderts ist ein Werk des homo rhetoricus. Die von ihr in Anspruch genommene unmittelbare Evidenz der Nichtevidenz des Absoluten erweist sich als ebenso kontingent wie die von ihr bekämpfte vermeintliche unmittelbare Evidenz der klassischen Metaphysik. Der antimetaphysische Neosophist teilt mit dem orthodoxen Metaphysiker in formaler Hinsicht eine durchaus ähnliche dogmatische Gesinnung, die sich jeweils unkritisch auf faktische Evidenzen beruft. Denn die öffentliche Berufung des Neosophisten auf die faktische Evidenz der Nicht-Evidenz ist ebenso rhetorisch kontingent wie die von ihm kritisierte Berufung des Metaphysikers auf das Faktum ‚reiner‘ Evidenz. Nicht nur die vermeintliche Evidenz der Metaphysik, sondern auch die neosophistische Evidenz der Nicht-Evidenz verfällt deshalb – konsequent gedacht – der rhetorischen Metakritik. Eine radikale und wirklich konsequente rhetorische Aufklärung, die ihrem methodischen Prinzip gemäß alle öffentliche Berufung auf faktische Evidenz als genetische, als rhetorisch erzeugte, analytisch aufdeckt, führt so am Ende auch zur Skepsis gegenüber der neosophistischen Skepsis. XII. Die konsequent zu Ende gedachte rhetorische Aufklärung führt über die bloße Dekonstruktion der Philosophie hinaus zu ihrer fundamentalrhetorischen Rekonstruktion. Die Entdeckung der allgemeinen rhetorischen Kontingenz der Philosophie, sowohl der klassischen Metaphysik wie ihrer (post)modernen Gegenspielerin, muss nicht in skeptischer Resignation enden. Im Gegenteil: Die Entdeckung des rhetorischen Geistes in der Philosophie enthält die Chance der Befreiung von ihrem (selbst)missverständlichen Ideal reiner, apodiktischer Wahrheit. Darüber hinausgehend eröffnet sie die unausgeschöpfte Möglichkeit, die Philosophie in Zukunft generell more rhetorico neu zu begreifen und zu entwerfen. Die konsequent durchgeführte redereflexive Selbstaufklärung stellt daher das rhetorische Denken zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor die – bisher kaum in Angriff genommene – positive Aufgabe einer generellen rhetorischen Rekonstruktion der Philosophie, insbesondere der Metaphysik und ihrer Geschichte.20
|| 20 Zur rhetorischen Rekonstruktion eines kleinen Teilstückes der Metaphysikgeschichte s.: Peter L. Oesterreich, Das gelehrte Absolute. Metaphysik und Rhetorik bei Kant, Fichte und Schel-
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Nach dem offensichtlichen Scheitern der Metaphysik als Unternehmen apodiktischer Wissenschaft spricht in Zukunft nichts dagegen, es mit ihr als rhetorischem Projekt spekulativer Rede erneut zu versuchen. Dabei kann sich gerade die Rhetorik der Metaphysik – ähnlich wie die der Theologie21 – bei ihrer Darstellung des Absoluten im Gegensatz zu den empirischen Wissenschaften nicht auf inartifizielle, empirische Argumente, d. h. auf außerhalb der Rede gelegene sinnliche Gegebenheiten oder beobachtbare Tatsachen, berufen. Gerade die Realisation der metaphysischen Wahrheit ist deshalb – wie bereits Fichte bemerkte – geradezu ein reines Werk rhetorischer Genesis: „Wo gesprochen, wird von Etwas gesprochen, das in allen andren Fällen vor diesem Sprechen davon bekannt ist, und da ist: – hier, von etwas, das nur durch das Sprechen davon, und in diesem Sprechen, ist und wird.“22 Demnach wird das Absolute für uns Menschen allein im Medium der spekulativen Rede gegenwärtig. Zwar nicht das Absolute selbst, aber doch sein Dasein in der menschlichen Welt erweist sich als rhetorisch ermöglicht. Das Absolute bildet demnach gar keine primäre Gegebenheit der empirischen (mundus sensibilis), auch nicht der rein geistigen (mundus intelligibilis), sondern der rhetorischen Welt (mundus rhetoricus). Die Wirklichkeit des Absoluten in der Geschichte ist ferner kein Werk logisch zwingender Notwendigkeit, sondern freier, rhetorischer Überzeugung. Schließlich muss das Absolute im Element glaubwürdiger spekulativer Rede immer wieder neu erfunden werden, um in der geschichtlichen Welt der Menschen gegenwärtig zu bleiben. XIII. Eine rhetorisch aufgeklärte Metaphysik stellt im 21. Jahrhundert eine neue positive Möglichkeit des homo rhetoricus dar. Nachdem das 20. Jahrhundert vor allem ökonomisch und medientechnisch das weltweite Zusammenwachsen der Menschheit gestärkt hat, stellt sich für das 21. Jahrhundert die Aufgabe, auch ihren geistigen und spirituellen Vereinigungsprozess zu fördern. Dies gilt um so mehr, als die gewachsene Konpräsenz verschiedener Kulturen, deren gegensätzliche Weltbilder in unterschiedlichen metaphysischen und religiösen Traditionen wurzeln, auch ein verstärktes Konfliktpotential bedeutet, das im negativen
|| ling, Darmstadt 1997 und „Die Erfindung des Absoluten. Die Entdeckung des rhetorischen Geistes in der Metaphysik“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 18 (1999), 114–127. 21 Theologisch gesehen ist z. B. für Luther das geistliche Reich im Unterschied zum weltlichen Reich ein rein durch die Rhetorik des Heiligen Geistes konstituiertes Reich des Hörens. Vgl. Andrea Grün-Oesterreich/Peter L. Oesterreich, „Dialektica docet, rhetorica movet. Luthers Reformation der Rhetorik“, in: Rhetorica moved. Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich F. Plett, hg. v. Peter L. Oesterreich/Thomas O. Sloane, Leiden 1999, 25–41. 22 J. G. Fichte, Gesamtausgabe, hg. v. Reinhard Lauth/Hans Gliwitzky, Stuttgart 1962 ff., 2. Abt., Bd. IX, 179.
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Fall in einem militärisch geführten „Kampf der Kulturen“23 enden könnte. In dieser Situation kommt dem rhetorischen Paradigma, das sich gegen alle Dogmatismen richtet und das Prinzip der Alterität einschließt, generell eine gesteigerte Bedeutung für ein friedliches Gespräch der Kulturen zu. Speziell in der Philosophie stellt dies den homo rhetoricus am Anfang des 21. Jahrhunderts vor die positive Aufgabe, jenseits des apodiktischen Dogmatismus und der (post)modernen Skepsis einen rhetorisch aufgeklärten, neuen Metaphysikstil zu entwickeln.
|| 23 Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1997.
Homo rhetoricus interior Zur fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianischen Ego Die Fundamentalrhetorik antwortet auf die philosophische Grundfrage „Was ist der Mensch?“1 folgendermaßen: Der Mensch ist in erster Linie ein homo rhetoricus. Das Rhetorische ist die fundamentale und universale Bestimmung des Menschen selbst und seiner gesamten Kultur.2 Aufgrund der in jüngster Zeit erschienenen Arbeiten, die die Homo-rhetoricus-Anthropologie in neosophistischer3, ästhetischer4 und oratorzentrierter5 Perspektuierung aufgreifen, kann vielleicht sogar von einer „anthropologischen Wendung“ in der deutschsprachigen Rhetorikforschung zu Anfang des 21. Jahrhunderts gesprochen werden. Im Zentrum der bisherigen Arbeiten zur (fundamental)rhetorischen Anthropologie stand allerdings der homo rhetoricus exterior, d. h. der mit anderen in der kulturellen Außenwelt rhetorisch kommunizierende Mensch. Im Folgenden werde ich versuchen, auch die Innenseite des Menschen fundamentalrhetorisch zu erschließen. Der Titel homo rhetoricus interior impliziert die These, dass auch die Innenwelt den Menschen, d. h. sein Selbstbewusstsein oder das denkende Ich, rhetorisch verfasst ist. Im Zentrum der folgenden Ausführung steht damit nicht so sehr die rhetorische Genese des gesellschaftlichen Selbst auf dem forum externum lebensweltlicher Öffentlichkeit, sondern die Entstehung des eigenen
|| 1 Immanuel Kant, Logik, in: Ders., Gesammelte Schriften, Akademie-Textausgabe, Berlin/Leipzig 1923, IX 25. 2 Vgl. Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990. Zur universalanthropologischen Erweiterung der Fundamentalrhetorik vgl. Ders., Homo rhetoricus universalis. Die Entdeckung des rhetorischen Geistes in den Wissenschaften, in: Klaus Giel/Renate Breuninger (Hg.), Die Rede von Gott und der Welt. Religionsphilosophie und Fundamentalrhetorik, Ulm 1996, 86–104; Ders., Homo rhetoricus (corruptus). Sieben Gesichtspunkte fundamentalrhetorischer Anthropologie, in: Josef Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie. Studien zum homo rhetoricus, München 2000, 353– 370. 3 Vgl. die von Hans Blumenberg ausgehenden Arbeiten von Josef Kopperschmidt und Norbert Bolz in: Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie (s. Anm. 2), 7–37.89–98. 4 Manuela Göhner, Rhetorische Ästhetik des Gesamtkunstwerks: Joseph Beuys. Ein Beitrag zur Methode der Kunstkritik aus der Sicht der rhetorischen Anthropologie, Oberhausen 2000. 5 Vgl. Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000; Franz-Hubert Robling, Hypostasierte Anthropologie. Fünf kritische Thesen zum Homo rhetoricus Oesterreichs, in: Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie (s. Anm. 2), 371–382. https://doi.org/10.1515/9783110527667-002
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Selbst, die sich auf dem forum internum des Selbstgespräches vollzieht. Nicht nur das äußere, gesellschaftliche Selbst, sondern auch das innere, eigene Selbst des Menschen wird sich als eine rhetorische Erfindung erweisen. Durch eine fundamentalrhetorische Rekonstruktion der cartesianischen Meditationen soll gezeigt werden, dass gerade auch das cartesianische Ego Produkt selbstreferenzieller Rhetorik ist. Mit diesem Vorstoß in die Domäne des vermeintlich rhetorikrepugnanten Rationalismus soll an dieser Stelle auch das Subjekt der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie rhetorisch rekonstruiert werden und somit der Universalitätsanspruch der Homo-rhetoricus-Anthropologie bestärkt werden.
1 Homo exterior: Das topische Weltverstehen des gesellschaftlichen Selbst Das öffentlich-gesellschaftliche Selbst, als das wir uns in unserer Lebenswelt vorfinden, geht der Zeit und der Entstehungslogik nach der Ausbildung unseres eigenen, inneren Selbst voraus. Die erste Selbstbekundung des Menschen ist nicht das lautlose Selbstgespräch des inneren Monologes. Von Geburt an erweist sich der Mensch zunächst als ein homo exterior, der erst allmählich lernt, sich selbst zu thematisieren, sich in reflexiver Rede als Ich anzusprechen, um sich dann als gesellschaftlich-öffentliches Selbst in den topischen Horizonten seiner Mitwelt zu entwerfen. Dass die neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie keinen überzeugenden Weg finden konnte, z. B. durch nachträglichen Analogieschluss, die Wirklichkeit der Außenwelt und der Interpersonalität überzeugend abzuleiten, lag nicht zuletzt an der Künstlichkeit ihres Ausgangspunktes: der scheinbaren Unmittelbarkeit des inneren Selbstbewusstseins. Statt weiter einem aporetischen ordo artificialis zu folgen und zu versuchen, ausgehend von einer egologischen Innenwelt des homo interior, die Außenwelt des homo exterior erklären zu wollen, beschreitet die Fundamentalrhetorik den umgekehrten Weg. Anfangend von der Primordialität der menschlichen Lebenswelt, lässt sie – im Sinne des ordo naturalis – umgekehrt, ausgehend vom öffentlich-gesellschaftlichen Selbst, die rhetorische Innenwelt des eigenen Selbst entstehen. Die kommunikative Außenwelt des gesellschaftlichen Selbst ist durch lebensweltliche Situiertheit und Topizität gekennzeichnet. Lebensweltliche Situiertheit heißt, dass es nicht in einem imaginierten oder fiktiven Raum lebt, sondern sich an einem geschichtlichen Ort vorfindet, in dem es sich vor, mit, für und gegen realexistierende Andere zu erfinden hat. Dabei ist für die Außenweltsituation typisch, dass insbesondere die peristatischen topoi der oppositionellen und
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dezisionären Partei durch reale fremde Personen besetzt sind. Es ist vor allem das von den Anderen herrührende rhetorische Widerstandserlebnis, in dem sich für das Ich die Realität der Außenweltsituation bekundet. Ferner ist die Erfindung des gesellschaftlichen Selbst durch den topischen Horizont seiner geschichtlichen Lebenswelt bedingt. Schon die klassische Rhetorik hatte im Rahmen der Lehre von der Findung geeigneter Argumente (ars inveniendi) auf die Bedeutung der im Horizont des gemeinsamen Welt-Sinn-Verständnisses (sensus communis) verankerten Fundorte (die endoxalen topoi oder loci communes) hingewiesen. Vor allem Lothar Bornscheuer hat – gestützt auf Interpretationen von Cicero und Aristoteles – vier Strukturmomente eines allgemeinen topos-Begriffes herausgearbeitet.6 Der allgemeine Begriff des topos umfasst demnach die vier Bestimmungen der Habitualität, Potentialität, Intentionalität und Symbolizität. „Den Umriß eines topos bzw. einer Topik bestimmen vier verschiedenartige Hauptmomente: die kollektiv-habituelle Vorprägung (Habitualität), die polyvalente Interpretierbarkeit (Potentialität), die problemabhängige, situativ wirksame Argumentationskraft (Intentionalität) sowie die sich gruppenspezifisch konkretisierende Merkform (Symbolizität).“7 Das hier umrissene topische Weltverstehen unterscheidet sich deutlich von dem der Metaphysik und der Wissenschaft. Topoi sind nämlich keine ewigen, metaphysischen Ideen. Wie alles Menschliche sind sie der Zeit unterworfen und in ihrer Geltung an die jeweilige geschichtliche Lebenswelt gebunden und somit veränderlich. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Gesetzen neigen sie ferner dazu, sich im alltäglichen Gebrauch wieder zu verbrauchen und mit der Zeit ihre Kraft und Geltung zu verlieren. Auch die Geltungsdauer der bestformulierten topoi unterliegt ständig den Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Bewährung. „Die Geltungsdauer von Topoi beruht auf permanenter Selbstlegitimation. Topoi besitzen nur so lange Überzeugungskraft, wie sie sich bei Lösungen der gesellschaftlich lebensbedeutsamen Probleme bewähren. Sie können mit anderen Worten auch durch Problemsituationen verändert oder gar überholt werden.“8 Über ‚Leben‘ oder ‚Tod‘, Erfolg oder Misserfolg topischer Strukturen entscheidet allein ihre situative Erprobung inmitten der geschichtlichen Lebenswelt. Als allgemeine Wissensformen der Lebenswelt sind die topoi ferner keine bloß logischen Formeln oder Schemata, sondern besitzen eine besondere ästhetische Qualität. Gemeint ist ihre unverwechselbare symbolische Prägnanz und Aussa-
|| 6 Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1976. 7 Bornscheuer, Topik (Anm. 6), 105. 8 Bornscheuer, Topik (Anm. 6), 101.
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gekraft. Zur Abgrenzbarkeit, Erkennungsfähigkeit, Merkfähigkeit und Wiederholbarkeit gehört nämlich eine plastische und prägnante sprachliche Ausdrucksform. Es ist nicht zuletzt diese Symbolizität, die den erfolgreichen topoi ihre gesellschaftliche Geltung und ihre oftmals „ans Magische grenzende Faszinationskraft“9 verleiht. Topisches Verstehen lebt als freie Bedeutungszuweisung ferner von der vieldeutigen Interpretierbarkeit (Potentialität). Ein topos als Konzentrationspunkt des Welthorizontes ist prinzipiell „nur ‚im Umriß‘ beschreibbar“10. Relative Unbestimmtheit ist geradezu eine Tugend der topoi. Sie ermöglicht nämlich erst jenes Maß semantischer Vieldeutigkeit, das den interpretativen Spielraum des topischen Denkens eröffnet. Semantische Potentialität bildet die notwendige Voraussetzung topischer Argumentation. Topisches Weltverstehen beruht eben nicht auf restiktiver Präzision und logischer Deduktion, sondern auf freier Kombination und einfallsreicher Verbindung von vieldeutig interpretierbaren Gesichtspunkten. Sein kombinatorisches Verfahren steht der Einbildungskraft oftmals näher als dem Verstand. Insgesamt konstituiert sich die Erfindung des gesellschaftlichen Selbst deshalb nicht als Ergebnis logischer Konstruktion, sondern topischer Kombination. Das Existieren in der lebensweltlichen Öffentlichkeit ist dabei nicht – wie Heidegger meinte11 – notwendig uneigentlich. Auch für den homo rhetoricus exterior gibt es aus der Sicht der Fundamentalrhetorik durchaus die Möglichkeit authentischer Existenz in der Form eines unverwechselbaren rhetorischen Handlungsstils. Das Geheimnis seiner Individualität liegt allerdings nicht in den einzelnen topischen Elementen und Mustern, sondern in ihrer jeweils stilbildenden kombinatorischen Synthese.
2 Homo interior: Die Entstehung der Innenwelt des Menschen Es sind vor allem zwei Grundoperationen, die den Prozess der Verinnerlichung und Introversion des menschlichen Selbst und die Transformation des äußeren gesellschaftlichen Selbstes in ein inneres Forum des eigenen Selbstes bewirken: erstens die peristatische Umbesetzung und zweitens die Enttopisierung. Die pe-
|| 9 Bornscheuer, Topik (Anm. 6), 103. 10 Bornscheuer, Topik (Anm. 6), 105. 11 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 12. Auflage, Tübingen 1972, 126–130.167–170.
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ristasischen topoi sind die Gesichtspunkte, die die allgemeinen, sachlichen und personalen Umstände (Peristasen) jeder Redesituation umfassen. Der Entstehungsprozess menschlicher Innerlichkeit lässt sich nun fundamentalrhetorisch als eine radikale Umbesetzung der peristatischen topoi erklären. Die wohl folgenschwerste Substitution auf der Seite der sachlichen Peristasen betrifft die der Lokalität. Die Introversion ersetzt den sinnlich und intersubjektiv wahrnehmbaren Ort gesellschaftlicher und öffentlicher Rede durch den subjektiven imaginativen Ort des Selbstgespräches. Der sinnlich wahrnehmbare Ort (locus sensibilis), in dem das öffentliche und gesellschaftliche Selbst rhetorisch agiert, verwandelt sich in den imaginierten Innenraum des inneren Selbst. Als innerer imaginativer Ort (locus imaginativus) bildet er ein gegen die öffentliche Außenwelt abgeschirmtes eigenständiges und mit ihr konkurrierendes rhetorisches Szenarium, das sogenannte innere ‚Selbstbewusstsein‘ des Menschen. Dieser imaginative Redeort bildet als inneres Forum gleichsam die Bühne des Selbstgespräches und der inneren, rhetorischen Selbsterfindung, die allerdings durch eine grundlegende Zweideutigkeit gekennzeichnet bleibt. Auf der einen Seite bildet er eine von den Restriktionen und Regeln der topisch beschränkten Außenrealität befreite Stätte subjektiver rhetorischer Imagination. Auf der anderen Seite lässt gerade diese imaginative Entgrenzung auch Zweifel an seinem Wirklichkeitscharakter aufkommen. Die Phantasie steht seit Plato im Verdacht, nicht nur die Quelle der Ebenbildnerei, sondern auch der Trugbildnerei zu sein. Die Diskussion des 18. Jahrhunderts unterscheidet dementsprechend zwischen kranker und gesunder Phantasie, zwischen fancy und imagination.12 Diese generelle Zweideutigkeit der Phantasie überträgt sich auch auf das innere Forum des homo rhetoricus. Als Ort rhetorischer Imagination steht auch es im Verdacht, nicht nur die Geburtsstätte genialer Selbsterfindung, sondern auch eines durch falsche Phantasie getäuschten und verirrten Denkens zu sein. Auch auf der personalen Seite der peristatischen topoi kommt es im Zuge der genetischen Introversion zu gravierenden Veränderungen. Allgemein lassen sich fünf personale peristatische topoi unterscheiden: erstens die oratorische, zweitens die oppositionelle, drittens die klientelische, viertens die alliierte und fünftens die dezisionäre Redepartei. So stellt z. B. bei der Diskussion nach einem wissenschaftlichen Vortrag die oder der Vortragende die oratorische Partei dar. Die oppositionelle Partei wird von denjenigen Diskutanten verkörpert, die den Vortrag mit kritischen Anfragen oder Einwänden zu widerlegen suchen, die alliierte Partei dagegen von denjenigen, die den Vortragenden bei der Verteidigung sei-
|| 12 Zur rhetorischen Begriffsgeschichte vgl. Renate Lachmann, Phantasia, imaginatio und rhetorische Tradition, in: Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie (s. Anm. 2), 245–270.
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ner Thesen unterstützen. Die klientelische Partei bilden alle vom Erkenntnisfortschritt profitierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und schließlich bildet sich die dezisionäre Partei in einer symmetrischen Situation des freien Forschungsvortrags durch alle Beteiligten oder in einer asymmetrischen Situation z. B. des Bewerbungsvortrags durch die Berufungskommission. Nun sind auf dem äußeren Forum entweder alle oder mehrere Positionen der personalen peristatischen topoi durch real existierende, fremde Personen besetzt, z. B. in der Diskussion nach dem wissenschaftlichen Vortrag durch die anderen Diskussionsteilnehmer. Auf dem inneren Forum des eigenen Selbst kommt es dagegen zu einer radikalen Tilgung des Fremdexistenziellen zugunsten der Selbstbesetzung aller personalen Peristasen durch das oratorische Ego. Im Prozess der Verinnerlichung oder egologischen Umbesetzung ereignet sich eine vollständige Substitution des Fremdexistenziellen durch das eigene Ego. Auch die Anderen werden im inneren Selbstgespräch nur fingiert und simuliert. Durch diese konsequente Substitution der Fremd – durch die Selbstbeziehung entsteht erst die rhetorische Innenwelt. Es ist die Welt eines rhetorischen Ego, das, wie z. B. in der klassischen cartesianischen Meditation, nun monologisch allein mit sich, gegen sich, vor sich und für sich redet, um sich in eigener Selbstgewissheit neu zu erfinden. Diese mit der peristatischen Umsetzung verbundene genetische Introversion lässt nun zwar erst das innere Forum entstehen und damit das eigene, innerliche Selbst des Menschen. Aber sie führt damit noch nicht notwendig zur Entstehung eines eigentlichen Selbst. Denn die rhetorische Innenwelt, die jeder Mensch von Natur aus mehr oder weniger reflektiert und elaboriert im Laufe seiner natürlichen geistigen Entwicklung ausbildet, erweist sich in vielen Fällen gerade nicht als ein originelles Produkt eigener Erfindung. Nicht alle menschliche Innerlichkeit des Menschen ist sogleich authentisch. Im Gegenteil, das Ich neigt auch noch auf dem inneren Forum dazu, sich schematisch in den topischen Vorgaben und Rollenschemata seines äußerlich vorgegebenen Weltbildes zu bewegen. So lassen sich auch im rhetorischen Innenraum des Menschen oft nur schematische Reproduktionen eines stereotypen Massenstils vorfinden. Die genetische Introversion durch peristatische Umbesetzung gibt somit nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung zur Erzeugung eines authentischen Selbst ab. Zur Ausbildung von Authentizität bedarf es ferner der oben bereits angesprochenen zweiten Operation: einer Enttopisierung des Weltinnenraumes. Während die Ausbildung rhetorischer Innerlichkeit zum natürlichen Entwicklungsgang jedes menschlichen Individuums gehört, erweist sich dagegen eine weitreichende Enttopisierung und damit kritische Geltungsver-
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nichtung des topischen Außenweltrahmens als geschichtlich kontingentes Werk individueller und aufgeklärter Freiheit.
3 Rhetorische Selbsterfindung in den cartesianischen Meditationen Das neuzeitliche Paradigma für die Selbsterfindung des eigenen Ichs auf dem Boden radikaler Enttopisierung sind die Meditationen Descartes. Bevor ich auf dieses Meisterstück philosophischer Literatur, das die Autopoiesis neuzeitlicher Subjektivität außerordentlich plastisch vor Augen führt, näher eingehe, sei eine kurze Vorüberlegung zum rhetorischen Sinn des Denkens (cogitare) vorausgeschickt. Die nachfolgende rhetorische Rekonstruktion der egologischen Selbsterfindung in den cartesianischen Meditationen soll den rationalistischen Reduktionismus der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie korrigieren, die in der Regel die rhetorische Verfasstheit des denkenden Ich übersieht. Positiv gesprochen geht es um die Restitution des rhetorischen Charakters menschlicher Subjektivität und die Wiederentdeckung des rhetorischen Sinnes ihres Denkens. Dazu sei eine kurze etymologische Vorüberlegung zur rhetorischen Grundbedeutung des Denkens als cogitare vorausgeschickt.13 Cogito leitet sich aus coagito ab und heißt soviel wie secum agere. Denken als cogitare bedeutet somit ein Handeln auf sich selbst: ein mit sich selbst Verhandeln. Agere wiederum besitzt eine zweifache rhetorische Bedeutung. Im theatralisch-deklamatorischen Sinne bedeutet agere erstens, etwas darstellen oder vortragen, z. B. ein Stück aufführen (agere tragoedia), oder eine Rolle spielen (agere amicum). Die zweite rhetorikaffine Bedeutung von agere ist forensisch: vor Richtern (apud iudices) einen Prozess führen (agere causam). In seiner Ursprungsbedeutung besitzt Denken (cogitare) somit einen zweifachen rhetorischen Sinn und bedeutet keineswegs nur inneres bildhaftes Vorstellen, sondern inneres reflexives Redehandeln. Die coagitative Wirklichkeit der menschlichen Innenwelt lässt sich zwar nicht als öffentliches Auftreten interpretieren, aber doch als ein interner Auftritt, der als rhetorische Autopoiesis sowohl eine forensisch-kritische wie auch eine theatralisch-epideiktische Seite besitzt.
|| 13 Zur Etymologie von cogitare siehe Hermann Menge (Hg.), Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch, Teil 1, lat.-dt. unter Berücksichtigung der Etymologie, 18. Auflage, Berlin/München/ Wien/Zürich 1973, 33–34.134–135.
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Im Folgenden wird sich zeigen, dass sich diese beiden Modi selbstreferenzieller Rhetorik auch innerhalb der cartesianischen Meditationen wiederfinden lassen, die paradigmatisch die Selbstschöpfung neuzeitlicher Subjektivität vor Augen führen. Diese etymologische Vorüberlegung ergibt selbstverständlich noch keinen Nachweis des spezifisch-rhetorischen Sinnes von cogitare bei Descartes. Die folgenden, notgedrungen knappen Hinweise zum Text der Meditationes versuchen, gegen die rationalistische Hauptströmung der neuzeitlichen Philosophie den kryptorhetorischen Sinn des cogitare an ihrer Quelle aufzudecken. Dabei beabsichtigt die folgende rhetorische Rekonstruktion der Meditationen nicht so sehr, die cartesianische Subjektivität zu destruieren, sondern ihren positiven rhetorischen Sinn aufzudecken und zu restituieren. Die implizite Rhetorizität der Meditationen als philosophische Literatur besteht darin, dass der Text selber demonstriert und vorführt, was mit cogitare gemeint ist: eine persuasive Selbstschöpfung, in der es einem mit sich selbst sprechenden und argumentierenden Ich gelingt, sich schließlich von seinem anfänglich radikal in Zweifel gezogenen eigenen Sein zu überzeugen. Die bekannte Sentenz ‚cogito ergo sum‘ bringt die schließlich gefundene, neue Seins- und Selbstgewissheit neuzeitlicher Subjektivität zum Ausdruck. Dabei stellen die cartesianischen Meditationen das Paradebeispiel einer vollständigen egologischen Umbesetzung der personalen peristatischen topoi dar: Sie führen ein inneres Selbstgespräch vor Augen, in dem ein coagitatives Ego mit sich, gegen sich, vor sich und für sich um seiner Seins- und Selbstgewissheit willen redet. Descartes’ in den Meditationen dargestellter ‚methodischer Zweifel‘, der nicht nur die Realität der äußeren Dinge und des eigenen Körpers, der eigenen Sinne und schließlich gar des eigenen, denkenden Ichs infrage stellt, artikuliert lediglich auf hochartifiziellem Niveau die latente Verunsicherung, die jedes reflektierte Subjekt im Keim in sich trägt. Der Zweifel rührt daher, dass die Genese seines subjektiven Innenweltraumes durch die bereits angesprochene grundlegende Transformation der äußeren, objektiven Wahrnehmungswelt in einen inneren, bloß imaginativen Vorstellungsraum bedingt ist. Die konsequente Tilgung der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt durch die imaginative Umbesetzung der lokalen Peristase und Elimination aller Fremdexistenz durch die egologische Selbstbesetzung der personalen Peristasen führt den naheliegenden Verdacht mit sich, dass das gesamte forum internum, einschließlich des hier in souveräner Einsamkeit agierenden eigenen Ichs, lediglich ein wirklichkeitsleeres Phantasma, ein bloßes Simulakrum oder ein fortgesetzter Traum sei. Der Prozess der Selbsterfindung in den cartesianischen Meditationen hat nun zwei entgegengesetzte Seiten: den der Selbstvernichtung und den der Selbst-
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schöpfung. Dabei geht die Selbstvernichtung des äußeren öffentlichen Selbst der Selbstschöpfung des eigenen, inneren Ichs voraus. Zunächst thematisiert daher die erste Meditation die hochbewusste und methodische Selbstvernichtung des gesellschaftlichen Selbst und der Entkräftung jenes topischen Horizonts der opinio communis, von dem es sich bisher bestimmen ließ. Das innere Selbstgespräch, das der Text der ersten Meditation dem Leser zu Gehör bringt, steht dabei zunächst unter dem Vorzeichen einer kritisch-forensischen Rhetorik. Zu Beginn vollzieht das cartesianische Ego eine radikale Abwendung vom äußeren Forum derjenigen öffentlichen Bildungswelt, die es bisher beherrschte. Es erklärt, dass es „einmal im Leben alles von Grund aus umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse, wenn (es) jemals für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen wollte“14. Im Zug einer radikalen Enttopisierung beabsichtigt das cartesianische Ego nicht weniger als eine allgemeine Revolution seiner bisherigen Überzeugungswelt. Daher erklärt das meditierende Ego, dass es, nachdem es seinen Geist von Sorgen befreit und sich ungestörte Muße geschaffen hat, nun ernsthaft zu einem allgemeinen Umsturz aller seiner Meinungen voranschreiten werde. Die daran anschließende dissuasive Geltungsentkräftung der bisherigen Überzeugungswelt richtet sich vor allem auf den Spitzentopos der mittelalterlichen Bildungswelt: nämlich den der alten Grundüberzeugung, „daß es einen Gott gebe, der alles vermag, und von dem ich so, wie ich bin, geschaffen wurde“15. Nachdem auch dieser Spitzentopos erfolgreich in Zweifel gezogen werden konnte und sich das meditative Ich eingestehen muss, „all dies von Gott gesagte sei eine bloße Fiktion“16, verliert das gesamte alte, auf dem äußeren Forum errichtete Überzeugungsuniversum seine frühere Geltung. Es bricht sich ein universeller Zweifel Bahn, der schließlich zum Zugeständnis führt: „[…] daß an allem, was ich früher für wahr hielt, zu zweifeln möglich ist.“17 Diese enttopisierende Dissuasion, die die bisher geglaubte und vertraute Überzeugungswelt in Zweifel zieht, bedeutet nicht nur eine kognitive, sondern auch affektische Revolution. Die affektische Dimension der meditativen Selbstzerstörung trifft die Grundstimmung des von der Theologie beherrschten mittelalterlichen Überzeugungsuniversums, nämlich den affirmativ gestimmten Glau-
|| 14 René Descartes, Meditationes de prima philosophia/Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1959, 31. 15 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 37. 16 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 37. 17 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 39.
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ben (fides). Die Entstehung der neuzeitlichen Subjektivität geschieht hier auch auf dem Wege einer Selbstaffektion, die eine tiefgreifende Umstimmung vom Glauben zum Zweifel (dubitatio) bewirkt. Allerdings ist das Geschäft der persuasiven Selbstzerstörung mit der dubitativen Vernichtung der alten äußeren Überzeugungswelt durch die kritisch-forensische Rhetorik des meditativen Ego, das ihre Geltung radikal in Zweifel stellt, noch nicht vollendet. Wie das meditative Ich bemerkt, neigen nämlich die gewohnten Meinungen, selbst wenn sie einmal radikal infrage gestellt wurden, dazu, unablässig wiederzukehren und seine Leichtgläubigkeit, die sie durch lange Gewohnheit und vertrauten Umgang gefesselt halten, geradezu gegen seinen Willen weiterhin zu okkupieren. Eine dauerhafte rhetorische Elimination der alten Überzeugungen erscheint somit allein durch das negative Mittel geltungsentkräftender Dissuasion nicht möglich. Nur mit Hilfe positiver Persuasion vermag das cartesianische Ego schließlich seine alte Überzeugung dauerhaft zu neutralisieren. Dies verlangt allerdings zunächst einen Wechsel von der bisherigen kritisch-forensischen Rhetorik zu einer theatralisch-epideiktischen Rhetorik, durch die sich das Ich in der Weise einer simulatorischen Kontrainduktion bewusst selbst täuscht: „Es wird daher, denke ich, wohl angebracht sein, wenn ich meiner Willkür die gerade entgegengesetzte Richtung gebe, mich selbst täusche und für eine Weile die Fiktion mache, jene Meinungen seien durchweg falsch und seien bloße Einbildungen, bis ich schließlich das Gewicht meiner Vorurteile auf beiden Seiten so ins Gleichgewicht gebracht habe, daß keine verkehrte Gewohnheit mein Urteil fernerhin von der wahren Erkenntnis der Dinge abwendet.“18 Zur negativen Seite der Selbstschöpfung neuzeitlicher Subjektivität im persuasiven Element der Selbstüberzeugung gehört somit nicht nur der dissuasive methodische Zweifel, sondern auch die persuasive methodische Selbsttäuschung. Diese führt schließlich am Ende der ersten Meditation zur rhetorischen Simulation eines inversen metaphysischen Szenarios: „So will ich denn annehmen, daß nicht der allgütige Gott, die Quelle der Wahrheit, sondern irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß daran gewandt, mich zu täuschen; ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschende Spiel von Träumen, durch die er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt; mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, überhaupt keine Sinne, sondern glaubte nur fälschlich das alles zu besitzen.“19
|| 18 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 39. 19 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 39.
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Diese simulatorische Kontraindikation des meditierenden Ego greift hier auf die alte Antilogientechnik der Sophistik zurück, dergemäß jede Sache nach zwei entgegengesetzten Seiten diskutiert werden kann. Sie stellt dem theologischen Szenario eines allmächtigen und gütigen Gottes die sie neutralisierende Gegenrede vom bösen Dämon entgegen. Denn erst die positive persuasive Simulation eines bösartigen, täuschenden und überdies allmächtigen Geistes vermag die Geltungskraft der alten christlich-metaphysischen Grundüberzeugungen dauerhaft zu erschüttern und das Geschäft der persuasiven Selbstbefreiung von den topischen Horizonten des äußeren Überzeugungsuniversums erfolgreich zu beenden. Nach der persuasiven Selbstvernichtung des öffentlich gesellschaftlichen Selbst und seiner scheinbaren Gewissheiten in der ersten Meditation führt die zweite Meditation dem Leser die positive Seite persuasiver Selbstschöpfung vor Augen. Das meditierende Ich erreicht im Medium selbstreferenzieller Rhetorik schließlich den archimedischen Punkt seiner Selbstinvention: „Hier liegt es (Hic invenio): Das Denken (cogitatio) ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden. Ich bin, ich existiere (ego sum, ego existo), das ist gewiß.“20 Die Selbstbefreiung des Ego vom topischen Rahmen seines bisherigen Überzeugungsuniversums stürzt es allerdings zuvor in eine tiefgreifende Krisis. Im imaginativen Raum seines Selbstgespräches, in der jede Rede durch eine entsprechende Gegenrede neutralisiert werden kann, scheint nur eins gewiss zu sein: „Vielleicht nur dies eine, daß nichts gewiß ist.“21 Das subjektive Innere droht zu einem Geburtsort einer unendlichen Folge rhetorisch erzeugter Chimären zu werden. In einem scheinbar infiniten Prozess von Persuasion und Dissuasion, Simulation und Antisimulation scheint sich jeder feste Punkt der Gewissheit zu verlieren. Damit artikuliert die zweite cartesianische Meditation in literarisch zugespitzter und höchst dramatischer Form wiederum jenen Fiktionalitätsverdacht, der in der Genese von Subjektivität durch die imaginative Umbesetzung der lokalen Peristase bereits angelegt ist. Nach dem methodischen Ausschluss alles Fremdexistenziellen scheint sich das monologisierende Ego, durch das es selbst konstituierende Medium selbstreferenzieller Rhetorik bedingt, im Labyrinth seiner eigenen Phantasmen zu verlieren. Die Pointe der zweiten cartesianischen Meditation liegt nun darin, dass sich sein Ego nur durch eine neue redereflexive Einstellung aus dieser Krisis zu befreien vermag. Nachdem es auf der Ebene der propositionalen Gehalte seiner inneren Rede den allgemeinen und damit auch gegen sich selbst gerichteten Fik-
|| 20 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 47. 21 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 43.
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tionalitätsverdacht nicht entkräften kann, gelangt es schließlich durch eine neue Reflexion auf die performative Wirklichkeit seines eigenen Denkens doch noch zum Punkt seines unbezweifelbaren Selbstseins. Gerade an dieser entscheidenden Stelle der zweiten Meditation, an der das cartesianische Ich zum ersten Mal zu sich selbst findet, bezeugt der Text ein explizit rhetorisches Verständnis des Denkens (cogitare). Cogitare heißt an dieser für die Selbstschöpfung der neuzeitlichen Subjektivität entscheidenden Stelle offensichtlich persuadere, d. h. überzeugen. Zunächst rekapituliert das cartesianische Ego noch einmal die unterschiedlichen persuasiven Akte seiner bisherigen Rhetorik der Selbstvernichtung, die zu einer Dissuasion des Wirklichkeitscharakters aller von ihm thematisierten Redegegenstände führte: „Indessen, ich habe mir eingeredet (persuasi), daß es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine denkenden Wesen, keine Körper, also doch auch wohl mich selbst nicht?“22 Diese selbstadressierte Frage provoziert die entscheidende Antwort des cartesianischen Ego: „Keineswegs; sicherlich war ich, wenn ich mir etwas eingeredet habe (Imo certe ego eram, si quid mihi persuasi).“23 Denken (cogitare) bedeutet hier eindeutig Überzeugen (persuadere).24 Damit bestätigt der Descartes-Text an dieser entscheidenden Stelle explizit den in der etymologischen Vorüberlegung exponierten spezifisch rhetorischen Sinn des Denkens, welches hier fortgesetztes und in der Gegenwart andauerndes inneres Sich-selbst-Überzeugen bedeutet. Zugespitzt lässt sich also formulieren: ‚Persuasi ergo sum‘. In der Vollzugsevidenz seiner inneren, persuasiven Redetätigkeit findet das cartesianische Ego die Gewissheit seines Seins. Erst durch die Reflexion auf die performative Wirklichkeit seiner selbstreferenziellen Rhetorik erschließt sich ihm schließlich die unbezweifelbare Wirklichkeit seines eigenen, denkenden Selbst.
|| 22 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 43. 23 Descartes, Meditationes (Anm. 14), 43. 24 ‚Persuadere‘ bedeutet hier eben nicht nur, wie Josef Kopperschmidt einwendet, einen modus cogitandi unter anderen (siehe: Joseph Kopperschmidt, „Ein neuer Beleg für ‚Descartes’ Error‘? Metakritische Anmerkungen zu Peter L. Oesterreichs ‚Homo rhetoricus interior‘“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 23 [2004], 153–163, hier: 160). Vielmehr meint ‚Persuadere‘ die generelle Art und Weise des Denkens selbst, welche allen speziellen Modi des cogitare innewohnt.
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4 Die rationalistische Kontingenzverdrängung Die Performanz selbstreferenzieller Rhetorik wird somit zum archimedischen Punkt der Neukonstruktion neuzeitlicher Subjektivität bei Descartes. Seine Selbstgewissheit begründet es nicht propositional, sondern in der Vollzugsevidenz fortgesetzter Selbstüberzeugung, gegen die jede Gegenrede notwendig in einen performativen Widerspruch gerät. Das Ich, das die coagitative Vollzugsevidenz seiner meditativen Rede vor sich selbst bestreiten würde, würde dem performativen Widerspruch verfallen, sich diesen Einwand selber in der Form innerer Rede vortragen zu müssen. Allerdings ist diese Entdeckung des rhetorischen Sinnes von cogitare, die hier am entscheidenden Punkt der Selbsterfindung neuzeitlicher Subjektivität in der zweiten Meditation zutage tritt, von Descartes selber und der von ihm ausgehenden Tradition des Rationalismus sogleich wieder zugedeckt und verdrängt worden. Die entdeckte rhetorische Wahrheit menschlicher Subjektivität wird allzu rasch durch den szientistischen Schein der logisch-mathematischen Wahrheit überformt und verhüllt. Unter der Hand tendiert Descartes sogleich dazu, die ursprüngliche Entdeckung der performativen, rhetorischen Vollzugsevidenz des cogitativen Ego im Sinne der propositionalen Wahrheit mathematischer Sachverhalte umzudeuten. Was Descartes an der mathematischen Wahrheit fasziniert, ist gerade das Moment, was ihn untergründig an der rhetorischen Vollzugsevidenz des Ego irritiert. Mathematische, insbesondere algebraische Sachverhalte besitzen nämlich eine von ihren subjektiven Vollzugsformen unabhängige objektive Geltung: „Denn ich mag wachen oder schlafen, so sind doch stets 2 + 3 = 5, das Quadrat hat nie mehr als vier Seiten und es scheint unmöglich, daß so augenscheinliche Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten können.“25 A contrario wird deutlich, was Descartes gleich nach ihrer Entdeckung wieder verdrängen will: nämlich die Kontingenz der Vollzugsevidenz selbstreferenzieller Rhetorik. Was die cartesianische Subreption, die unter der Hand die rhetorische Vollzugsevidenz des coagitativen Ichs mit der Wahrheit mathematischer Sachverhalte vertauscht, verbergen will, ist somit, dass es für das eigene Selbst des Menschen keine apodiktische Gewissheit geben kann. Es ist diese Kontingenz rhetorischer Selbsterfindung, die Descartes gleich, nachdem er sie entdeckt hat, wieder vor sich verhüllt, weil sie seinem rationalistischen Verlangen nach absoluter Selbstgesichertheit menschlicher Subjektivität widerspricht. Dagegen ist mit und gegen Descartes an seiner entscheidenden Entdeckung seiner zweiten
|| 25 Oesterreichs ‚Homo rhetoricus (Anm. 24), 37.
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Meditation festzuhalten, in der sich das Subjekt als Wesen rhetorischer Autopoiesis zu Gesicht bekommt.
5 Die Universalität der fundamentalrhetorischen Anthropologie Es ist schließlich die unhintergehbare Kontingenz und Flüchtigkeit des persuasiven Sinnes, die das innere Selbst wiederum aus sich heraus und zur Bewährung in die öffentliche Selbstdarstellung zurücktreibt. So verbleiben z. B. auch die Meditationen des Descartes als veröffentlichte philosophische Literatur nicht im imaginativen Innenraum der einsamen Selbstdarstellung. Exemplarisch zeigen sie die Rückkehr des inneren Menschen in jene lebensweltliche Öffentlichkeit, von der her sich abstoßend der Prozess seiner Selbsterfindung begann. Das cartesianische Ego bildet geradezu ein Paradebeispiel öffentlich vorgeführter Selbstüberzeugung in der Form philosophischer Literatur. In Wirklichkeit ist es überhaupt nicht einsam, sondern führt seinen Monolog vor einem Leserpublikum. Als veröffentlichte Innerlichkeit repräsentiert es geradezu die typische Figur neuzeitlicher Subjektivität. Diese öffentliche Selbstinszenierung der eigenen, inneren Selbsterfindung ist zweifellos nicht ohne objektive Ironie. Aber anscheinend braucht das fragile Innere des im Medium selbstreferenzieller Rhetorik erfundene eigene Selbst – trotz allen entgegengesetzten Beteuerungen seiner inneren Stärke – am Ende doch seine Bewährung in der lebensweltlichen Öffentlichkeit. Insgesamt hat die fundamentalrhetorische Rekonstruktion der cartesianischen Selbsterfindung die verborgene Rhetorizität der denkenden Subjektivität ein Stück weit sichtbar gemacht. Demnach fließt der sogenannte ‚Strom des Bewusstseins‘ in Wirklichkeit als permanenter Prozess persuasiver Selbstüberzeugung dahin. Auch das innere Selbst des Menschen, traditionell der eigentliche ‚Sitz‘ seiner personalen Identität, erweist sich als rhetorisch verfasst und fällt damit in den Zuständigkeitsbereich der Fundamentalrhetorik. Offensichtlich gibt es auch im Inneren kein arhetorisches Dasein des Menschen. Indem nicht nur das von der Rhetoriktradition fokussierte gesellschaftliche Selbst, sondern auch das vom rhetorikrepugnanten Rationalismus präferierte denkende Ego rhetorisch beschreibbar wird, nähert sich die Homo-rhetoricus-Anthropologie einer universalen Theorie des Menschen und seiner Kultur. Fundamentalrhetorische Universalität kann hier wörtlich verstanden werden: Das eine persuasive Redeprinzip begründet in jeweils unterschiedlicher
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anthropologischer Wendung sowohl die Innenwelt des homo interior als auch die Außenwelt des homo exterior. Dieser in sich differenzierte Universalitätsanspruch der Fundamentalrhetorik redet somit keiner undifferenzierten ‚Panrhetorik‘ das Wort. Die Grundthese von der generellen rhetorischen Verfasstheit des Menschen und seiner Kultur führt durchaus zu begrifflichen Differenzierungen, die die anthropologische Systematik erweitern. So grenzt sich das innere Selbst durch die spezifische Differenz rhetorischer Konstitutionsbedingungen – wie z. B. der peristatischen Umbesetzung und radikalen Enttopisierung – vom gesellschaftlichen Selbst ab. Allerdings ist mit der fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianischen Ego nur ein erster Blick auf die Innenwelt der homo rhetoricus geworfen. Die Erfindung des eigenen Selbst durch selbstreferenzielle Rhetorik hat zweifellos viele Varianten. Sie reicht von der hochartifiziellen, literarischen Selbstinszenierung bis zum unspektakulären, alltäglichen Selbstgespräch. Damit bleibt der fundamentalrhetorischen Erforschung des homo rhetoricus interior ein weites Feld zukünftiger Untersuchungen.
Selbsterfindung, Subjektivität und interne Rhetorik Selbsterfindung, Subjektivität und interne Rhetorik
Die letzten Jahrzehnte standen zwar unter dem starken Einfluss der zahlreichen postmodernen und poststrukturalistischen Dekonstruktionsversuche der klassischen Subjektphilosophie, die der Rede vom ‚Verlust‘, dem ‚Verschwinden‘ oder gar vom ‚Tod des Subjektes‘ Plausibilität verliehen.1 Allerdings scheint es heute nicht völlig ausgeschlossen zu sein, dass auch in diesem Falle die Sentenz ‚Totgesagte leben länger‘ am Ende Recht behalten könnte. Denn es mehren sich in letzter Zeit die Anzeichen dafür, dass – freilich unter einem veränderten Theoriedesign – in Kürze mit der Rückkehr und dem Wiederauftritt der Figur des Subjektes auf der literarischen Bühne der Geistes- und Kulturwissenschaften zu rechnen ist.2 In diesem Sinne wollen meine folgenden Überlegungen versuchen, der bisherigen Depotenzierung des Subjektbegriffes entgegenzutreten. Vor dem Hintergrund der auf ‚Selbstbestimmung‘, ‚Autonomie‘ und ‚Mündigkeit‘ ausgerichteten klassischen europäischen Subjektphilosophie beabsichtigen sie, einer fundamentalrhetorischen Rehabilitierung ‚starker‘ Subjektivität einigen Vorschub zu leisten. Mein folgender, kurzgefasster Versuch, das Subjekt nicht logisch, dialektisch oder dialogisch, sondern more rhetorico zu rekonstruieren, exponiert zunächst das in meinen Augen für die gesamte neuzeitliche Subjektphilosophie maßgebliche Selbsterfindungs-Projekt Pico della Mirandolas. Sodann werde ich die kryptorhetorischen Implikate einiger klassischer Subjekttheorien bei Descartes, Fichte und Adam Müller ansprechen, die für die fundamentalrhetorische Rekonstruktion der ‚Innerlichkeit‘ individueller Subjektivität und ihrer internen Rhetorik von Bedeutung sind. Schließlich möchte ich im Kontext der neuen rhetorischen Anthropologie der Gegenwart mit einer später noch näher erklärten
|| 1 Vgl. Peter V. Zima, Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, 3. Aufl., Tübingen/Basel 2010, 193–293. 2 Ein prominentes Beispiel einer rekonstruktiven Wendung der Dekonstruktion selbst findet sich im bemerkenswert subjektaffirmativen Spätwerk Michel Foucaults (Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2004). Vgl. auch Sylvia Pritsch, Rhetorik des Subjekts. Zur textuellen Konstruktion des Subjekts in feministischen und anderen postmodernen Diskursen, Bielefeld 2008, oder Peter V. Zimas Entwurf eines dialogischen Subjekt-Modells (Peter V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen 2000, 365– 430), das die ‚starken‘ klassischen mit den ‚schwachen‘ postmodernen Modellen zu synthetisieren versucht. https://doi.org/10.1515/9783110527667-003
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‚terziären‘ Form emanzipierter interner Rhetorik selbst einen Vorschlag zur Reformulierung ‚starker‘ rhetorischer Subjektivität machen.3
1 Das programmatische Autoinvenienz-Projekt Pico della Mirandolas Den Ausgangspunkt meines kleinen begriffsgeschichtlichen Rekonstruktionsversuches bildet zunächst ein kurzer Hinweis auf den zentralen anthropologischen Topos der Autoinvenienz, d. h. der freien Selbsterfindung des Menschen, wie er sich in Pico della Mirandolas programmatischer Oratio Über die Würde des Menschen (De dignitate hominis) auffinden lässt. Demnach liegt dem neuzeitlichen Projekt der Subjektivität „die kulturanthropologische Figur des homo inveniens“4 zugrunde. In ihr artikuliert sich eine neue Form „ingeniös-inventive[r] Subjektivität“5, welche sich aus den Restriktionen traditioneller Ordnungsschemata zu emanzipieren beginnt und sich die Lizenz zur freien Erfindung ihrer selbst zuspricht. Ein eindrucksvolles rhetorisches Gründungsdokument dieses emanzipatorischen Projektes autoinventiver Subjektivität bildet die Rede über die Würde des Menschen des Renaissance-Philosophen G. Pico della Mirandola. Die Oratio Picos verkündet hier durch die fiktive Stimme des Schöpfergottes den autoinvenienten Charakter menschlicher Subjektivität und ihre neue Bestimmung zur freien Selbsterfindung. „Weder haben wir dich himmlisch geschaffen noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer [arbitrarius honorariusque plastes et fictor] dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.“6 Picos Oratio stellt hier exemplarisch ein Dokument rhetorischer Selbsterfindung neuzeitlicher Subjektivität dar, die sich in der Form der freien, philosophischen Rede auf innovative Weise selbst entwirft. Dieser zu Beginn der Neuzeit von Pico paradigmatisch formulierte anthropologische Topos der Autoinvenienz bildet
|| 3 Zur rhetorischen Anthropologie der Gegenwart siehe meinen Artikel: Anthropologische Rhetorik, in: Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics, hg. v. Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, Berlin/New York 2008, 869–880. 4 Stefan Metzger/Wolfgang Rapp (Hg.), Homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik, Tübingen 2003, 8. 5 Lothar Bornscheuer, Rhetorische Paradoxien im anthropologie-geschichtlichen Paradigmenwechsel, in: Rhetorik 8 (1989), 13–42, hier: 34. 6 Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate/Über die Würde des Menschen, lateinisch-deutsch, hg. v. August Buck, Hamburg 1990, 7.
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nicht nur ein grundlegendes Motiv für die neuzeitliche und moderne Subjektivitätsphilosophie, sondern auch für die innovative Dynamik der zunächst von Europa ausgehenden und inzwischen globalisierten Wissenschafts- und Alltagskultur bis in die jüngste Gegenwart. Allerdings bleibt Picos eigener universalphilosophischer Entwurf noch dem topischen Horizont der traditionellen Metaphysik, Theologie und Weisheitslehre verhaftet. Auch der frühneuzeitliche Idealtypus des Hofmannes, wie er z. B. in Castigliones Libro del Cortigiano beschrieben wird, impliziert ein am sprezzaturaIdeal orientiertes Modell artifizieller, gesellschaftlicher Selbsterfindung, dessen Grenzen durch die ethischen Vorbildtopoi der höfischen Gesellschaft vorgezeichnet sind. Dagegen entwirft Descartes in seinen Meditationen die philosophische Figur eines Subjektes, das mittels der Radikalität seines methodischen Zweifels alle kognitiven und normativen Vorgaben der äußeren Welttopik zu eliminieren sucht, um sich selbst in der meditativen Form eines einsamen Selbstgespräches neu erfinden zu können.
2 Die Rhetorizität des Denkens bei Descartes Von daher ergibt sich eine neue rhetorikaffine Lesart der Cartesianischen Meditationen, die sie nicht mehr rein erkenntnistheoretisch auf ein ‚Urbild‘ für eine transzendentallogische Neuformierung der Philosophie als „Wissenschaft aus absoluter Begründung“7 reduziert. Vielmehr stellen die Meditationen die anthropologische Möglichkeit der Selbsterfindung neuzeitlicher Subjektivität mitsamt ihrer internen rhetorischen Pragmatik auf paradigmatische Weise dem Leserpublikum vor Augen.8 Dabei findet sich bereits in den Cartesianischen Meditationen ein für die heutige Diskussion um die interne Rhetorik aufschlussreiches Paradigma der persuasiven Selbsterfindung neuzeitlicher Subjektivität, welche den topischen Außenweltrahmen durch die Operation des methodischen Zweifels vollständig zu eliminieren versucht. Auf eine neuartige und methodisch radikalisierte Weise bedient sich das cartesianische Ego hier der schon in der antiken Philosophie angelegten Möglichkeit zu einer freimütigen und ‚parrhesiasti-
|| 7 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, hg. v. Elisabeth Ströker; 3. Aufl., Hamburg 1995, 3. 8 Fokussiert auf die Autoinvienz-Problematik beziehe ich mich hier noch einmal auf die wichtigsten Thesen meiner Vorstudie: Homo rhetoricus interior. Zur fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianischen Ego, in: Rhetorik 21 (2002), 37–48.
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schen‘9 Redeweise, um sich jenseits der restriktiven Generalregel endoxaler Anknüpfung an die herrschenden Meinungen im einsamen Selbstgespräch neu zu erfinden. So demonstrieren die Meditationen exemplarisch die autoinveniente rhetorische Genese der Selbst- und Seinsgewissheit des neuzeitlichen Ich, die sich in der Formel cogito, ergo sum ausdrückt, in der Form des literarisch stilisierten meditativen Monologes. Aus der heutigen Perspektive rhetorischer Metakritik lassen sich die Cartesianischen Meditationen als Musterbeispiel einer zwar explizit rhetorikrepugnanten, aber implizit rhetorikaffinen Theorie lesen, in der sich more rhetorico die Selbsterfindung der philosophischen Figur autonomer Subjektivität vollzieht.10 Die rhetorisch-kritische Lektüre der cartesianischen Meditationen stößt dabei zunächst auf den genuin rhetorischen Sinn des Denkens bei Descartes. ‚Denken‘ (cogitare) meint demnach soviel wie ‚inneres Redehandeln‘. Etymologisch leitet sich cogitare von co-agitare, d. h. secum agere ab und bedeutet ein ‚Handeln auf sich selbst‘ oder ein ‚mit sich selbst verhandeln‘. Dabei kann Handeln (agere) als öffentliches Redehandeln als zweifachen Sinn annehmen: einerseits den kritisch-forensischen Sinn einer Gerichtsverhandlung (causam agere) und andererseits den theatralisch-deklamatorischen Sinn einer Theateraufführung (agere tragoediam). Diesen doppelten etymologischen Sinn von cogitare als forensisches und theatralisches ‚Redehandeln‘ greifen die Cartesianischen Meditationen auf. So vollzieht sich die rhetorische Selbsterfindung der philosophischen Figur des autonomen Subjektes hier in den beiden Modi dissuasiver Selbstvernichtung einerseits und persuasiver Selbstschöpfung andererseits. Die Selbstvernichtung jenes äußeren gesellschaftlichen Selbst, das sich in den topischen Horizonten und Vorurteilen der opinio communis bewegt, stellt sich in der ersten Meditation zunächst in der Form kritisch-forensischer Rhetorik dar. Durch das Verfahren des sogenannten ‚methodischen Zweifels‘ befreit sich das cartesianische Ego zunächst
|| 9 Von daher lassen sich die Cartesianischen Meditationen durchaus als ein neuzeitliches Unternehmen der „Wiedergewinnung der parrhesia“ (Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt a. M. 2009, 437) verstehen. 10 Wie Jan Rothkamp in seiner aufschlussreichen historischen Studie zu Bacon, Descartes, Hobbes und Spinoza zeigt, bildet die zeitgenössische Rhetorik für diese Denker eine Art ‚Vorschule‘ ihres Philosophierens. Dabei entwickelt Descartes in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Rhetoriktraditon eine eigene philosophische Lehrrhetorik, die gemäß seinem Motto larvatus prodeo im besonderen Maße versucht, ihre äußere Persuasionsabsicht zu dissimulieren. Die in den Meditationen dargebotene literarische Form monologischer Autopersuasion entspricht nun vorzüglich diesem „Wunsch nach unbemerkter Belehrung“ (Jan Rothkamp, Institutio oratoria. Bacon. Descartes. Hobbes. Spinoza, Leiden/Boston 2009, 519).
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von allen geltenden Meinungen und Vorurteilen, denen es bisher anhing. Diese dissuasive Geltungsvernichtung zielt auch auf den Spitzentopos der mittelalterlich-scholastischen Bildungswelt, d. h. der Überzeugung von der Existenz des christlichen Schöpfergottes, und führt zu der kontraindikativen Annahme, „all dies von Gott gesagte, sei eine bloße Fiktion“11. Dabei besitzt dieses dissuasive Verfahren des methodischen Zweifels nicht zuletzt eine affektive Dimension. Denn die Genese des neuzeitlichen Subjektes geschieht hier auf dem Wege einer Selbstaffektion des meditierenden Ich, durch die es sich selbst von der mittelalterlichen Grundstimmung des Glaubens (fides) zur neuzeitlichen des Zweifels (dubitatio) umstimmt. Dieses negative Verfahren einer kritisch-forensischen Rhetorik, die sich im methodischen Zweifel artikuliert, bedarf allerdings noch der Ergänzung durch das positive Verfahren einer theatralisch-simulatorischen Rhetorik, um die hartnäckig wiederkehrenden, gewohnten Vorurteile endgültig zu neutralisieren. Der mittelalterlichen Welttopik des gütigen Schöpfergottes, der die Quelle der Wahrheit bildet, stellt Descartes deshalb simulativ die in utramque partem diskutierende Anti-Topik eines bösartigen, täuschenden, allmächtigen Geistes entgegen. Aus dieser Fiktion eines Deus malignus, „der zugleich allmächtig und verschlagen ist“12, gewinnt zudem der methodische Zweifel erst seine prinzipielle und universelle Bedeutung, aus der dann die radikale Destruktion der bisher gewohnten Selbst- und Seinsgewissheit des meditierenden Egos resultiert. In der zweiten Meditation, die dem Leser dann die autopersuasive Selbstschöpfung des autonomen Subjektes vor Augen führt, rekapituliert das cartesianische Ego zunächst noch einmal seine bisherige im radikalen Selbstzweifel gipfelnde, dissuasive Rhetorik: „Indessen, ich habe mir eingeredet [persuasi], daß es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine denkenden Wesen, keine Körper, also doch auch wohl mich selbst nicht?“13 Diese selbstadressierte Frage provoziert dann die entscheidende Antwort: „Keineswegs; sicherlich war ich, wenn ich mir etwas eingeredet habe [Immo certe ego eram, si quid mihi persuasi].“14 Cogitare bedeutet – um meine nicht völlig unumstrittene Deutung an dieser Stelle noch einmal zu unterstreichen15 – hier eindeu|| 11 René Descartes, Meditationes de prima philosophia – Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1959, 31. 12 Descartes, Meditationen (s. Anm. 11), 39. 13 Descartes, Meditationen (s. Anm. 11), 39. 14 Descartes, Meditationen (s. Anm. 11), 39. 15 Vgl. die Kritik von Josef Kopperschmidt, Ein neuer Beleg für „Descartes’ Error“? Metakritische Anmerkungen zu Peter L. Oesterreichs „Homo rhetoricus interior“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 23 (2004), 153–163.
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tig persuadere. Persuasi artikuliert hier, verstanden als präsentisches Perfekt, eine gelungene Überzeugungshandlung, die in der Gegenwart fortdauert. In dieser Perspektive besitzt das ‚Überzeugen‘ (persuadere) einen dem Denken (cogitare) adäquaten Sinn, der sich auf die gesamte komplexe, autopersuasive Redehandlung der cartesianischen Meditationen bezieht. Das persuadere entspricht hier dem generellen Sinn von cogitare und lässt sich gerade nicht, wie Josef Kopperschmidt einwirft, nur auf „eine Weise des Denkens“16, d. h. einen speziellen modus cogitandi neben anderen reduzieren. So gelesen bestätigt der DescartesText an dieser entscheidenden Stelle den grundlegenden rhetorischen Sinn des Denkens als eines fortgesetzten und in der Gegenwart andauernden Prozesses innerer Selbst-Überzeugung, der alle rhetorischen Teilakte der sich in den Meditationen literarisch darstellenden komplexen inneren Redehandlung bestimmt. Im Sinne der hier an entscheidender Stelle zutage tretenden generellen Identität von cogitare und persuadere ließe sich auch formulieren: Persuasi, ergo sum. Die hier vertretene These von der im Text der Meditationen nachweisbaren Rhetorizität des cogitare bei Descartes widerspricht zweifellos der geläufigen Auffassung des ‚Denkens‘ als einer substanziell redelosen Intentionalität, welcher der sprachliche Ausdruck und die literarische Form nur akzidentiell und zum Zwecke der äußeren Mitteilung hinzugefügt sei. Dagegen führt die hier verfolgte textuelle Spur der rhetorischen Pragmatik subjektiver Selbsterfindung zu der Entdeckung, dass das meditierende Ich (ego cogito) seine eigene Seinsgewissheit (ego sum) keineswegs im Sinne einer absoluten Einsicht von „Ewigkeitsbedeutung“17 zu gewinnen vermag, sondern nur im Sinne einer rhetorischen Evidenz, die an die kontingente Prozessualität der von Descartes exemplarisch vorgeführten autopersuasiven Redehandlung gebunden bleibt. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Aufdeckung der internen Rhetorizitätsproblematik das Kontingenzproblem autoinventiver Subjektivität nach sich zieht. Wäre Descartes dieser im Text seiner Meditationen selbst angelegten rhetorikaffinen Spur gefolgt, die in letzter Konsequenz nur zu einem Projekt kontingenter, an die rhetorische Prozessualität innerer Selbstüberzeugung gebundener Evidenz führt, so wäre er wohl mit dem Scheitern seines Vorhabens der Selbsterfindung neuzeitlicher Subjektivität in der Form einer apodiktischen wissenschaftlichen Letztbegründung
|| 16 Persuadere meint in diesem Kontext gerade nicht nur einen speziellen modus cogitandi unter anderen, wie Kopperschmidt gegen meine Descartes-Deutung einwirft (Kopperschmidt, Ein neuer Beleg [s. Anm. 15], 160), sondern den generellen persuasiven Modus des cogitare selbst, der alle sprechakttheoretisch analysierbaren Teilakte der gesamten Redehandlung der Meditationen durchzieht und bestimmt. 17 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen (s. Anm. 7), 5.
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konfrontiert gewesen. Denn die rhetorisch-kritische Lesart seiner eigenen Meditationen legt nahe, dass die Evidenz (enargeia) der Seins- und Selbstgewissheit des meditierenden Ego von der kontingenten, performativen Vollzugswirklichkeit (energeia) seines autopersuasiven inneren Redehandelns (cogitare) bedingt ist. Dies hätte freilich Descartes’ erklärten programmatischen Anspruch, die Identität neuzeitlicher Subjektivität auf das unerschütterliche Fundament (fundamentum inconcussum) apodiktischen Wissens stellen zu können, durchkreuzt. Möglicherweise mag dies ein Motiv gewesen sein, warum der sich nachweislich im Text artikulierende rhetorische Sinn von cogitare von Descartes selbst im Fortgang der Meditationen nicht weiter verfolgt wurde. Die aus heutiger Sicht entscheidende Aufdeckung des rhetorischen Charakters der Selbsterfindung neuzeitlicher Subjektivität wird im weiteren Textverlauf rasch wieder durch das szientistische Ideal der logisch-mathematischen Wahrheit überformt.18 Somit bleibt das sich punktuell in den Meditationen bekundende explizite Verständnis der Rhetorizität subjektiver Selbsterfindung im Gesamtwerk Descartes’ eine Episode. Infolge dieser ‚verhängnisvollen‘ Dissimulation der mit der inneren Rhetorizität verbundenen Kontingenz autoinvenienter Subjektivität, die sich „in einer Art creatio continua“19 jeweils selbst zu erzeugen hat, setzt sich zunächst philosophiegeschichtlich der rationalistische und explizit rhetorikrepugnante Standardtypus autonomer Subjektivität durch. Ein prominentes Beispiel ist der reinrationale ‚Purismus‘ in Kants Kritik der reinen Vernunft, der, wie bereits die sprachmetakritischen Anmerkungen Herders und Hamanns hervorheben, die sprachlichen Konstitutionsmomente von Subjektivität weitgehend vernachlässigt. Tatsächlich reflektiert Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft aus der Sicht heutiger rhetorischer Metakritik weder den Stil seiner juristisch geformten „abgekältete[n] Kanzleisprache“20 noch die metaphorische Präfiguration seiner gesamten kritischen Transzendentalphilosophie durch die philosophische Allegorie des Vernunftgerichthofes.21
|| 18 Trotz seiner ansonsten strikt rhetorikrepugnanten Interpretation der Cartesianischen Meditationen hat bereits Husserl zu Recht kritisch angemerkt: „Descartes selbst hatte im voraus ein Wissenschaftsideal, das der Geometrie, bzw. der mathematischen Naturwissenschaft. Es bestimmt als verhängnisvolles Vorurteil die Jahrhunderte und bestimmt auch, kritisch unerwogen, die Mediationen selbst“ (Husserl, Cartesianische Meditationen [s. Anm. 7], 9). 19 Andreas Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld 2011, 281. 20 Samuel Ijsseling, Philosophie und Rhetorik. Eine historisch-systematische Einführung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, 132. 21 Vgl. den Artikel: Richten, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. v. Ralf Konersmann, Darmstadt 2007, 311–319.
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Allerdings trifft auch dieses Bild des sprach- und rhetorikrepugnanten Transzendentalphilosophen keineswegs auf den ganzen Kant zu. So macht sich in Kants Kritik der Urteilskraft der Einfluss des bei Alexander Gottlieb Baumgarten zur Ästhetik transformierten rhetorischen Denkens wieder bemerkbar.22 Trotz der ausdrücklichen Verurteilung der Rhetorik (ars oratoria) als bloßer „Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen“23, lassen sich zentrale Kategorien der ästhetischen Theorie Kants wie z. B. ‚Urteilskraft‘, ‚Zweckmäßigkeit‘, ‚Geschmack‘ und ‚Genie‘ als Filiationen klassischer rhetorischer Kategorien, d. h. von iudicium, decorum, sensus communis und ingenium verstehen.24 Darüber hinausgehend bezeugt die innere Pluralitäts- und Fiktionalitätsproblematik moralischer Subjektivität, die sich in Kants forensisch modellierter Gewissenskonzeption finden lässt, durchaus auch die Aktualität seiner praktischen Philosophie für das Thema der internen Rhetorik autoinvenienter Subjektivität.25
3 Fichtes glaubensphilosophische Bewältigung des subjekttheoretischen Nihilismusproblems Der sich in der philosophischen Romantik verstärkende Einfluss des rhetorikaffinen Denkens in der philosophischen Selbstbeschreibung neuzeitlicher Subjektivität potenziert sich bereits in der Wissenschaftslehre J. G. Fichtes. Erst in jüngster Zeit hat die Forschung den Einfluss des Ciceronianers Johann August Ernesti auf Fichte herausgestellt, welcher schon vor Fichtes Kant-Lektüre seine früheste Jugendbildung in Schulpforta bestimmte und somit den implizit rhetorikaffinen
|| 22 Vgl. Helmut Schanze, Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800, in: Rhetorik 12 (1993), 60–72; Eberhard Ostermann, Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur ästhetischen Transformation der Rhetorik, München 1999, 71–88.139–176, sowie Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004. 23 Zitiert nach: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Band V, Berlin 1908, 327. 24 Vgl. Peter L. Oesterreich, Das Verhältnis von ästhetischer Theorie und Rhetorik in Kants Kritik der Urteilskraft, in: Kant-Studien 83 (1992), 324–335; Tobia Bezolla, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik, Tübingen 1993, 6–63; David R. Greeves, Kritik der Rhetorik am Ende des 18. Jahrhunderts. Das Verhältnis zwischen Rhetorik und Philosophie bei Kant, Stuttgart 2000. 25 Vgl. meine kleine Studie: Vom Vernunftgerichtshof zum Weltgericht. Gerichtliche Metaphorik bei Kant und Hegel, in: Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nicht propositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant, hg. v. Brady Bowman, Paderborn 2007, 45–59.
Fichtes glaubensphilosophische Bewältigung des Nihilismusproblems | 37
Charakter des gesamten Fichteschen Denkens erklärt.26 Zudem sollte auch der Anteil, den Fichtes frühe Tätigkeit als protestantischer Prediger am rhetorikaffinen Stil seines späteren philosophischen Gesamtwerkes hat, nicht unterschätzt werden.27 Während die kritische Aufklärungsphilosophie Kants sich noch an der traditionellen Urteilslogik orientiert, weist Fichtes Subjektphilosophie eine über den Ciceronianismus Ernestis vermittelte „große Nähe zur Konzeption der rhetorischen Logik auf, die im 16. und 17. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte“28. Der Einfluss dieser inventio-orientierten rhetorischen Logik führt zusammen mit der „Phantasieapologetik des 18. Jahrhunderts“29 zu einer subjekttheoretischen Aufwertung der Imaginatio gegenüber der vom klassischen Rationalismus privilegierten Ratio. In seiner Wissenschaftslehre reaktiviert Fichte die traditionelle rhetoriktheoretische Verbindung der Imagination mit dem ingenium und der inventio und verleiht ihr – ganz im Sinne des Selbsterfindungskonzeptes neuzeitlicher Subjektivität – eine neue, transzendentalphilosophisch gesteigerte Bedeutung. Die ingeniöse Subjektivität des absoluten Ich beruht demnach auf dem Vermögen transzendentaler Imagination, d. h. der ‚Urphantasie‘ absolut produktiver Einbildungskraft, deren unaufhörliches ‚Hin-und-her-Schweben‘ den gesamten Stoff des menschlichen Selbstbewusstseins erzeugt. Dagegen bleibt dem Verstand lediglich die Aufgabe einer rationalen Sekundärbearbeitung und Fixierung des von der absolut produktiven Einbildungskraft primär erzeugten Vorstellungsmaterials. In diesem Gegensatz der absolut produzierenden Einbildungskraft zum bloß fixierenden Verstand spiegelt sich die klassische rhetorische Opposition des Erfindungsvermögens (ingenium) und des Beurteilungsvermögens (iudicium) wider. Allerdings führt diese Rehabilitierung der Imagination in der frühen Wissenschaftslehre auch zur Rückkehr des bereits von Descartes bekämpften Fiktionalitätsproblems neuzeitlicher Subjektivität, das sich dann in der Bestimmung des Menschen bei Fichte bis zu einem subjekttheoretischen Nihilismusproblem steigert. Das zweite Buch der Bestimmung des Menschen, das den Titel Wissen trägt,
|| 26 Vgl. Bezolla, Rhetorik (s. Anm. 24), 64–102; Peter L. Oesterreich/Hartmut Traub, Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006, 65–97; Stefano Bacin, Fichte in Schulpforta (1774–1780). Kontext und Dokumente, Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, 55. 27 Vgl. Predigten von Johann Gottlieb Fichte, hg. und mit einer Einleitung Fichte der Prediger versehen von Dr. Maximilian Runze, Leipzig 1818. 28 Bacin, Fichte (s. Anm. 26), 55. 29 Renate Lachmann, Phantasia, imaginatio und rhetorische Tradition, in: Josef Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, 246– 270.
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stellt die reflektierende Suchbewegung des philosophierenden Ego wiederum in der Form interner Rhetorik dar, allerdings nicht wie bei Descartes als meditativen Monolog, sondern in der Weise eines internalisierten platonischen Dialogs. Dieser spielt sich in der Form eines sokratisch-mäeutisch inszenierten Frage- und Antwortspiels zwischen dem ‚Geist‘ der kritischen Transzendentalphilosophie und dem suchenden Ich ab. Auf diesem internen Forum des Selbstbewusstseins gewinnt das philosophierende Ego durch die Psychagogie des fiktiven ‚Geistes‘ zunächst ein neues Seins- und Selbstbewusstsein ganz im Sinne der frühen Wissenschaftslehre. Am Ende steht allerdings das philosophierende Ich vor der bedrängenden Frage, ob nicht „der Gedanke von Identität, und Persönlichkeit meines Ich“30 nicht „notwendig eine bloße Erdichtung“31, also lediglich eine Fiktion sei. Das cartesianische Experiment der Selbsterfindung neuzeitlicher Subjektivität gerät somit bei Fichte durch das wieder aufbrechende und sich bis zum Nihilismusverdacht potenzierende Fiktionalitätsproblem autoinvenienter Subjektivität in eine erneute und auf dem Boden reinrationaler Reflexion nicht mehr zu meisternde Krise. Die bei Descartes bereits angelegte und philosophiegeschichtlich durchaus erfolgreiche persuasive Strategie der Dissimulation der Rhetorizität des Denkens (cogitare) und der Simulation einer reinrationalen Letztbegründung, der Fichte auch noch in seiner eigenen frühen Wissenschaftslehre zunächst folgte, wird nun von ihm selbst kritisch durchschaut und radikal infrage gestellt. Durch das eigene Eingeständnis des bloßen ‚Bildcharakters‘ ihres in kognitivistischer und rhetorikrepugnanter Manier konzipierten Denkens wird die Transzendentalphilosophie bei Fichte wieder auf ihre skeptische Ausgangssituation zurückgeworfen. So kehrt der am Anfang der Cartesianischen Meditationen geäußerte universelle Realitätszweifel nun in potenzierter Form zurück: „Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist. […] Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird.“32 Schließlich inszeniert Fichte eine dramatische Steigerung des Fiktionalismus- zum Nihilismusproblem: Es sei nämlich nicht ein äußerer Deus malignus, sondern der eigene Verstand selbst „jener spielende und leere
|| 30 Johann Gottlieb Fichte, Werke, hg. v. Wilhelm G. Jacobs/Peter L. Oesterreich, Frankfurt 1997, II 200. 31 Fichte, Werke (s. Anm. 30), II 200. 32 Fichte, Werke (s. Anm. 30), I 300.
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Bildner von Nichts, und zu Nichts“33, der das Ich im Bannkreis seiner eigenen illusionären Vorstellungswelt immerwährend festhalte. Um diese auf kognitivem und reinrationalem Wege nicht zu behebende Krise autoinvenienter Subjektivität zu lösen, greift Fichte im dritten Buch seiner Bestimmung des Menschen mit den Themen ‚Affekt‘ und ‚Glaube‘ wieder Motive aus seinem frühesten Gedankengut, d. h. der rhetorikaffinen Anthropologie seiner Schulpfortaer Valediktionsrede von 1780, auf.34 Jenes neue Organ, das dem philosophierenden Subjekt erneut die Gewissheit der Realität einer Außenwelt und seiner selbst vermitteln soll, ist demnach nicht das Wissen, sondern der Glaube. „Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall gibt, und das, was ohne ihn bloße Täuschung sein könnte zur Gewissheit, und Überzeugung erhebt.“35 Das Fiktionalismus- und Nihilismusproblem der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie, welches sich im Rahmen einer rein kognitivistisch argumentierenden Transzendentalphilosophie als aporetisch erweist, führt Fichte hier zu einer Reformulierung seiner bisherigen Subjektphilosophie, in der die rhetorikaffinen Kategorien des ‚Gefühls‘ und des ‚Glaubens‘ eine zentrale Bedeutung erhalten. „Ich weiß, daß jede vorgebliche Wahrheit, die durch das bloße Denken herausgebracht, aber nicht auf den Glauben gegründet sein soll, sicherlich falsch und erschlichen ist.“36 Mit diesem Konzept des affektgestützten Glaubens beruft sich Fichte hier nicht auf jenen speziellen und exklusiven religiösen Glaubensbegriff, der in die Formation des philosophie- und theologiegeschichtlich überaus wirkungsvollen Oppositionstopos fides contra ratio eingegangen ist. Vielmehr bezieht er sich – vermittelt auch durch F. H. Jacobis Schrift David Hume oder über den Glauben – auf die common-sense-Philosophie der Schottischen Schule und damit wiederum indirekt auf den opinio- bzw. sensus-communis-Topos der ciceronianischen Rhetoriktradition. Diese implizit rhetorikaffine Subjektphilosophie führt Fichte schließlich auch zu einem neuen metaphilosophischen Selbstverständnis des sich in Texten, akademischen Vorlesungen und öffentlichen Reden produzierenden philosophischen Subjekts. In Fichtes Ideal des Philosophen vereinen sich Reflexions- und
|| 33 Fichte, Werke (s. Anm. 30), I 312. 34 Eine ausführlichere Darstellung von Fichtes glaubensphilosophischer Wendung findet sich in meiner jüngst erschienenen Studie: Spielarten der Selbsterfindung. Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling, Berlin/New York 2011. 35 Fichte, Werke (s. Anm. 30), I 308 f. 36 Fichte, Werke (s. Anm. 30), II 309.
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Redefähigkeit zu einer Gesamtkompetenz öffentlicher Vernunft, die es ihm ermöglichen soll, als Gelehrter in das geschichtliche Leben seiner Zeit einzugreifen.37 Insbesondere in seinen wirkungsgeschichtlich folgenreichen Reden an die deutsche Nation gelingt es Fichte tatsächlich, sein ciceronianisches Jugendideal des Rednerphilosophen zu realisieren. Das frühe transzendentalphilosophische Selbsterfindungsprojekt erweitert sich hier um eine externe intersubjektive und öffentlich-politische Dimension. So leistet Fichte tatsächlich mit seinen Reden an die deutsche Nation durch seine innovativen und redewirksamen Formen öffentlicher Vernunft nicht nur einen wichtigen Beitrag zur intersubjektiven Identitätsstiftung der Deutschen als Sprach- und Kulturnation. Es glückt ihm zugleich, das externe Publizitätsproblem seiner ansonsten vielfach esoterisch anmutenden Transzendentalphilosophie zu lösen und durch den durchschlagenden Erfolg seiner Popularphilosophie auch eine exoterische Akzeptanz seines Philosophierens zu gewinnen.
4 Rezeptionsrhetorik und auditive Subjektivität bei Adam Müller Eine weiterführende explizit rhetorikaffine Deutung der Fichteschen Subjektphilosophie, welche das innere Pluralitätsproblem autoinvenienter Subjektivität behandelt, findet sich im romantischen Philosophieren Adam Müllers. Dieser stellt zunächst die von der klassischen Transzendentalphilosophie übersprungene grundlegende Doppelnatur rhetorisch verfasster Subjektivität heraus. In seiner frühen Studie über die Lehre vom Gegensatze transformiert Müller Fichtes abstraktes transzendentallogisches Oppositionsschema von Ich und Nicht-Ich in die konkrete intersubjektive Redner-Hörer-Relation. Demnach ist der „Hörer zugleich Objekt des Redners, der Redner zugleich Subjekt des Hörers“38. Dabei stehen Redner und Hörer in einer durchgängigen rhetorischen Wechselwirkung. An die Stelle der von der Rhetoriktradition favorisierten einseitigen Rednerzentriertheit tritt hier das symmetrische und bipolare „Wechselverhältnis“39 von oratorischer und auditiver Subjektivität. Die von Friedrich Schlegel erfundene subjekttheoretische Interaktionsfigur der infiniten Ironie findet in Müllers Kon-
|| 37 Vgl. Hartmut Traub, J. G. Fichtes Populärphilosophie 1804–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, 253–287. 38 Adam Müller, Lehre vom Gegensatze, Berlin 1804, 40. 39 Müller, Lehre (s. Anm. 38), 45.
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zeption symmetrischer und wechselseitiger Selbsterfindung rhetorischer (Inter-)Subjektivität eine weitere Anwendung.40 Jede gelingende Rede gründet demnach in einer infiniten Transpositions- und Inversionsbewegung, durch die sich der Hörer innerlich permanent an die Stelle des Redners und umgekehrt der Orator sich in die Position des Auditors versetzt. Die klassische externe Opposition von Orator und Auditor reflektiert sich demnach in einer internen Selbstverdoppelung rhetorischer Subjektivität. Zu den Gelingensbedingungen rhetorischer Kommunikation gehört somit notwendig der wechselseitige innere Positionswechsel von oratorischer und auditiver Subjektivität. Im Zuge dieser rhetorischen Selbstdifferenzierung gewinnt der äußerlich passiv erscheinende Hörer jeweils auch den aktiven Subjektcharakter eines selbstständig interagierenden „Antiredner[s]“41. Denn das „ganze Hören war für ihn beständiger Blick von sich auf den Redner und unmittelbarer Rückblick vom Redner, auf dessen Standpunkt der Hörer aber erst treten muß, auf sich, und so in unendlichem Wechsel fort“42. In seinen späteren berühmten Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland hat Müller diesen innovativen Ansatz rhetorischer Hörersubjektivität zu einer ‚Kunst des Hörens‘43 dann weiterentwickelt. Der anthropologische Verdienst Müllers gegenüber der klassischen rednerzentrierten Rhetoriktradition besteht nicht nur darin, das monopolare Modell der Produktionsrhetorik durch eine hörerzentrierte Rezeptionsrhetorik erweitert und ergänzt zu haben, um so zu einer bipolaren Anthropologie rhetorischer Subjektivität zu gelangen, die der oratorisch-auditorischen Duplizität des Menschen gerecht wird. Für die moderne Anthropologie interner Rhetorik erweist sich diese Theorieerweiterung allein schon deshalb als wegweisend, weil sie verdeutlicht, dass die rhetorische Subjektivität schon auf dem Feld unspektakulärer, externer Alltagsrhetorik keineswegs zureichend durch die Form einer monolithischen Identität, sondern vielmehr durch eine interne Differenzierung beschrieben werden muss, die sowohl das innere Hörertum des oratorischen Subjektes als auch das innere Rednertum des auditorischen Subjektes berücksichtigt. Von daher erweist sich auch die anthropologische Möglichkeit einer elaborierten internen || 40 Zur Infinitisierung des rhetorischen Tropus ‚Ironie‘ in F. Schlegels frühromantischer Theorie autoinvenienter Subjektivität vgl. Peter L. Oesterreich, ‚Wenn die Ironie wild wird …‘ Die Symbiose von Transzendentalphilosophie und Tropus bei Friedrich Schlegel, in: Rhetorik 12 (1993), 31–39. 41 Müller, Lehre (s. Anm. 38), 38. 42 Müller, Lehre (s. Anm. 38), 43. 43 Vgl. Adam Müller, Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland, Leipzig 1816, 49–72.
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Rhetorik, in der die innere Differenzierung und Pluralität rhetorischer Subjektivität explizit hervortritt, in jener generellen oratorisch-auditorischen Duplizität des Menschen angelegt, die auf implizite Weise auch schon die externe rhetorische Kommunikation bestimmt.
5 ‚Starke‘ Subjektivität und emanzipierte interne Rhetorik Nach dem sogenannten ‚Tod des Subjektes‘ in den postmodernen und poststrukturalistischen Anthropologien des vergangenen Jahrhunderts zeichnet sich heute in der gegenwärtigen Rhetorischen Anthropologie eine vielleicht überraschende Renaissance eines ‚starken‘ Subjektbegriffes ab.44 So hat die Tübinger Schule mit der allgemeinen Rhetoriktheorie Joachim Knapes und der rhetorischen Kulturanthropologie Franz-Hubert Roblings gleich zwei oratorzentrierte Theorievarianten rhetorischer Subjektivität vorgelegt.45 Ausgehend von der klassischen Rhetoriktheorie und der schulrhetorischen Tradition betonen sie die zentrale Bedeutung des Orators, seines Willens und seiner Interventionen für die gesellschaftliche Kommunikation und die menschliche Kultur insgesamt. Knapes strategisches Konzept rhetorischer Subjektivität erneuert die ciceronianische Idee der Oratordominanz im Kontext der modernen Kommunikationswissenschaften. Auf dem Gebiet rhetorischer Kommunikation verteidigt er die Autorschaft und „Handlungsmacht“46 des Subjekts gegenüber ihrem vermeintlichen Verlust in den zeitgenössischen Kommunikationstheorien, im Postmodernismus, im Poststrukturalismus sowie der Systemtheorie Luhmanns. Auch die oratorzentrische Kulturanthropologie Roblings teilt Knapes voluntaristischen Begriff rhetorischer Subjektivität und stellt den persuasiven Rednerwillen in das Zentrum seiner Überlegungen. Allerdings profiliert Robling sein eigenes rednerbezogenes Konzept rhetorischer Subjektivität sowohl kulturanthropologisch als auch ethisch in stärkerer historischer Anknüpfung an die schulrhetorische Tradition. Im Anschluss an Ciceros Ideal des orator perfectus || 44 Zur gegenwärtigen Diskussion um die Rhetorische Anthropologie vgl. auch Josef Kopperschmidt, Art. Anthropologie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003) 1067–1074, und Franz-Hubert Robling, Was ist rhetorische Anthropologie? Versuch einer disziplinären Definition, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 23 (2004), 1–10. 45 Vgl. Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, und Franz-Hubert Robling, Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals, Hamburg 2007. 46 Knape, Was ist Rhetorik (s. Anm. 45), 76.
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stellt er die im Redner artifiziell gesteigerte Redefähigkeit des Menschen als ein entscheidendes „kulturelles Kriterium der Menschlichkeit“47 heraus. Von daher gewinnt das Rednerideal und die schulrhetorische Lehre von der menschlichen Redefähigkeit sowohl als Naturanlage (natura bzw. ingenium) als auch in ihrer Ausbildung zur Kunst (ars) eine allgemeine kulturanthropologische Bedeutung. Knapes und Roblings Verdienste bestehen zweifellos darin, in die gegenwärtige Diskussion um die rhetorische Anthropologie zwei Varianten einer Theorie ‚starker‘ rhetorischer Subjektivität eingebracht zu haben, die den Orator im Sinne der klassischen römischen Rhetorik als willensstarken und handlungsmächtigen rhetorischen Akteur charakterisiert. Damit widersprechen beide Autoren auf wohltuend provokative Weise der vorherrschenden Tendenz zur Depotenzierung und Abschwächung des klassischen Subjektbegriffes in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften. Verwunderlich wirkt allerdings, dass diese mutige Wiedereinführung des ‚starken‘ Subjektbegriffes bei Knape und Robling kaum Bezug nimmt auf die Tradition der neuzeitlichen Philosophie, dem er entspringt, nämlich der von Descartes ausgehenden klassischen Subjektphilosophie, die bei Kant, Fichte und der philosophischen Romantik ihren Höhepunkt erreicht. Dieses philosophiegeschichtliche Defizit mag dazu beigetragen haben, dass beide eher am externen Rhetorikmodell der klassischen Schulrhetorik orientierte Autoren das systematische Potential, das die neuzeitliche Subjektphilosophie für das innovative Thema der internen Rhetorik anbietet, nicht ausschöpfen. Nun haben in jüngster Zeit einige Autorinnen, allen voran Jean Nienkamp, versucht, diese Theorielücke zu schließen.48 Mit ihrer expliziten Thematisierung der internen Rhetorik betreten sie gegenüber der klassischen Rhetoriktradition gleichsam theoretisches Neuland und haben so das Reich der Rhetorik nicht unbeträchtlich um die Innenseite menschlicher Subjektivität erweitert. Von daher sieht sich die heutige rhetorische Anthropologie mit einer durchaus konfliktträchtigen Doppelnatur des Menschen konfrontiert, welche sowohl die Außenseite seines durch externe Rhetorik konstituierten als auch die Innenseite seiner durch interne Rhetorik bestimmten Subjektivität umfasst.
|| 47 Robling, Was ist rhetorische Anthropologie? (s. Anm. 44), 8. 48 Vgl. Erich Meuthen, Selbstüberredung. Rhetorik und Roman im 18. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1994; Jean Nienkamp, Internal Rhetorics. Toward a History and Theory of Self-Persuasion, Carbondale/Edwardsville 2001; Peter L. Oesterreich, Homo rhetoricus interior. Zur fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianischen Ego, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 21 (2002), 37–48, sowie Christian Schorno, Autokommunikation. Selbstanrede als Abweichungsbzw. Parallelphänomen der Kommunikation, Tübingen 2004, und Art. Selbstüberredung, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 8 (2007) 718–725.
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Ich möchte mich in meinen abschließenden Überlegungen auf einige Aspekte der fundamentalrhetorischen Rekonstruktion der von Descartes ausgehenden neuzeitlichen Subjektphilosophie beschränken, die sich als Bewusstseinsphilosophie thematisch auf die subjektive Innenwelt des Menschen fokussiert hat. Während die neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie ausgehend vom Faktum des Selbstbewusstseins versucht, die intersubjektive Lebenswelt zu erschließen, kehrt sich allerdings aus fundamentalrhetorischer Perspektive die „Beziehungslogik von Innen- und Außenwelt“49 radikal um. Von der lebensweltlichen Außenseite des homo rhetoricus herkommend, macht sie umgekehrt die Genese der Innenseite rhetorischer Subjektivität durchsichtig. Dabei erweist sich die generelle anthropologische Möglichkeit zur Ausbildung interner Rhetorik in jener von Adam Müller thematisierten generellen, oratorisch-auditiven Duplizität rhetorischer Subjektivität angelegt, die als eine fundamentale Gelingensbedingung schon der externen Rhetorik zu Grunde gelegt werden muss. Ausgehend von dieser Inversion der ‚Beziehungslogik‘ von rhetorischer Innen- und Außenwelt lässt sich Genese des homo rhetoricus interior näher durch zwei Grundoperationen beschreiben: erstens der internalisierenden Operation der ‚peristatischen Umbesetzung‘ und zweitens der kritisch-distanzierenden Operation der ‚Enttopisierung‘. Durch die Grundoperation der peristatischen Umbesetzung transformiert sich das externe Forum des gesellschaftlichen Selbst zunächst in das interne Forum selbstreferenzieller Rhetorik. Damit bewirkt sie eine für die Situation des Selbstgespräches typische Veränderung der Peristasen oder Umstände (circumstantiae). So wird z. B. der sinnlich wahrnehmbare Ort (locus sensibilis) des externen Forums durch den imaginierten Ort (locus imaginativus) des internen Forums ersetzt, auf dem sich die autopersuasiven Prozesse interner Rhetorik gleichsam wie auf einer inneren Bühne abspielen. Zudem werden die unterschiedlichen personalen Rollen, die auf dem externen Forum durch real existierende Interaktionspartner verkörpert werden, auf dem Forum interner Rhetorik – im Sinne einer imaginativen Prosopopoiie (fictio personae) – durch die fiktiven Hypostasen des autopersuasiven Ich selbst besetzt. Erst diese fiktive Aufspaltung in unterschiedliche kommunikative Rollen ermöglicht es dem autopersuasiven Subjekt, sich mit sich selbst zu unterreden und im Sinne interner Rhetorik – mit, für, gegen und vor sich sprechend – seine eigenen Überzeugungen zu gewinnen. Allerdings stellt die internalisierende Grundoperation der peristatischen Umbesetzung allein noch keine hinreichende Bedingung für die interne Genese || 49 Kopperschmidt, Ein neuer Beleg (s. Anm. 15), 155.
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eines authentischen rhetorischen Subjektes dar. Denn die durch sie ermöglichte interne Rhetorik spiegelt zunächst lediglich die kommunikativen Außenverhältnisse wider und reproduziert zumeist unkritisch die jeweils geltende soziale Welttopik. Das durch naive Internalisierung externer Rhetorik entstandene innere rhetorische Selbst („rhetorical self“50), das Jean Nienkamp in das Zentrum ihrer Theorie ‚primärer interner Rhetorik‘ stellt, bildet lediglich ein Produkt der normativen Stimmen und ideologischen Topoi seiner äußeren sozialen Umwelt. Bei diesem naiven und unreflektierten Typus rhetorischer Subjektivität spielt sich die Genese des eigenen Selbstes gleichsam ‚hinter dem Rücken‘ des rhetorischen Subjektes ab. Aber selbst in der von Nienkamp beschriebenen kultivierten Steigerungsstufe einer ‚sekundären internen Rhetorik‘ führt das sozialpsychologische Internalisierungsmodell, das auf der pervasiven Polyphonie von verinnerlichten sozialen Stimmen („interiorized social voices“51) beruht, nur zu einer Theorie fremdbestimmter, ‚schwacher‘ rhetorischer Subjektivität. Nienkamps psychosoziales Internalisierungskonzept, demgemäß sich das eigene rhetorische Selbst in der kultivierten Form sekundärer interner Rhetorik gewöhnlich aus verinnerlichten kulturellen Geltungsansprüchen zusammensetzt – „the rhetorical self is composed of internalized cultural imperatives“52 –, besitzt zweifellos eine hohe deskriptive Relevanz gerade für die heute mediatisierte, konsumierende Massengesellschaft. Zumeist erweist sich die interne Rhetorik – wie einst schon Platons Doxa-Kritik beklagte – oftmals als eine wenig originelle Widerspiegelung oder Reproduktion der schon in der externen Rhetorik herrschenden Rollenstereotypen, Meinungen und ideologischen Topoi. Demnach führt die Genese eines ‚rhetorischen Selbstes‘ im Modus psychosozialer Internalisierung keineswegs per se zu Selbstbestimmtheit und Authentizität, sondern tendiert im Gegenteil zu einer inneren Prolongierung äußerer Heteronomie und Fremdbestimmtheit. Dagegen zeichnet sich in den oben angesprochenen Texten der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie eine emanzipatorische Form interner Rhetorik ab, welche das vom sozialpsychologischen Internalisierungs-Modell begleitete Heteronomieproblem vermeidet. Beispielhaft für diese emanzipatorische interne Rhetorik profiliert sich in den Cartesianischen Meditationen das meditative Ego als ein ‚starker‘ rhetorischer Akteur, der auf den unterschiedlichen peristatischen Rollen interner Rhetorik jeweils eine eigene Stimme und ‚Mündigkeit‘ gewinnt. Das Autoinvenienzprojekt neuzeitlicher Subjektivität konkretisiert sich hier in der
|| 50 Vgl. Nienkamp, Internal Rhetorics (s. Anm. 48), 118–136. 51 Vgl. Nienkamp, Internal Rhetorics (s. Anm. 48), 125. 52 Vgl. Nienkamp, Internal Rhetorics (s. Anm. 48), 135.
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emanzipatorischen Form einer an die Außenwelttopik nicht mehr gebundenen parrhesiastischen, philosophischen Rede, welche die freie, selbstbestimmte und deshalb authentische Selbsterfindung rhetorischer Subjektivität ermöglichen soll. Wie Descartes zeigte, erfordert diese Kunstform interner Rhetorik besondere Bemühungen vonseiten des rhetorischen Subjektes, um sich von der permanenten Okkupation durch die Geltungsansprüche internalisierter äußerer Stimmen zu befreien. Dazu gehört vor allem die kritisch-distanzierende Operation der Enttopisierung, wie sie der methodische Zweifel Descartes’ in philosophisch stilisierter Form vor Augen führt. Sie schafft durch die kritische Außerkraftsetzung der zuvor naiv internalisierten topischen Vorgaben und dogmatischen Geltungsansprüche erst den Freiraum für die autopersuasive Erfindung eines authentischen Selbstes im Medium selbstreferenzieller Rhetorik. Zu diesem artifiziellen Repertoire emanzipatorischer interner Rhetorik bei Descartes gehört z. B. die antitopische Simulation des deus malignus, durch die sich der Geltungsanspruch internalisierter dogmatischer Stimmen neutralisieren lässt, um so einer authentischen Selbsterfindung rhetorischer Subjektivität den Weg zu bereiten. Wie meine bisherigen Ausführungen verdeutlichen wollten, haben einerseits die beiden Vertreter der oratorzentrierten, ‚starken‘ rhetorischen Subjektivität bisher kein Modell interner Rhetorik vorgestellt. Auf der anderen Seite vertritt Nienkamps innovative Theorie interner Rhetorik lediglich eine Konzeption ‚schwacher‘ rhetorischer Subjektivität. Dagegen zeichnet sich aus der Perspektive der klassischen Subjektphilosophie eine Synthese von interner Rhetorik und ‚starker‘ rhetorischer Subjektivität ab, die diese Theorielücke in der gegenwärtigen rhetorischen Anthropologie füllen könnte. Um die systematische Position dieser durch die klassische Subjektphilosophie vorgezeichneten emanzipatorischen Form interner Rhetorik zu charakterisieren, schlage ich hier folgendes Dreistufenmodell der kulturellen Evolution interner Rhetorik vor: 1. Die terziäre Grundstufe naiver interner Rhetorik besteht in einer nur unreflektierten, assoziativen Kombination der internalisierten Vielfalt fremder Stimmen, in denen sich die unterschiedlichen ideologischen Geltungsansprüche der Außenwelt artikulieren. Auf dieser inartifiziellen Grundstufe interner Rhetorik reduziert sich das rhetorische Subjekt zu einem weitgehend fremdbestimmten und passiven Medium, das den wechselnden Einflüssen der es beherrschenden internalisierten sozialen Stimmen unterworfen bleibt. Auf dieser Stufe existiert die rhetorische Subjektivität nur in der äußerst schwachen Form eines ‚unterworfenen‘ subiectum, dessen inneres Selbst sich lediglich als assoziatives Kompositum äußerer Fremd-Bestimmung darstellt.
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2. Auch auf der sekundären kultivierten Steigerungsstufe reflektierter interner Rhetorik herrscht immer noch die Internalisierung äußerer sozialer Stimmen vor. Aber innerhalb der Stimmenvielfalt des ‚inneren Marktplatzes‘ verbleibt die rhetorische Subjektivität nicht in der Rolle eines nur passiven Mediums, sondern nimmt nun die stärkere Position einer selbstreflektierten, aktiven Moderatorin ein, die auf mehr oder weniger artifizielle Weise eine Kompromissbildung der ihr jeweils vorgegebenen internalisierten sozialen Stimmen anstrebt. Innerhalb dieser sekundären Form interner Rhetorik beschränkt sich demnach der autoinveniente Faktor rhetorischer Subjektivität auf die aktive und bewusste Moderation einer historisch kontingenten Vorgabe von jeweils internalisierten sozialen Stimmen. Das rhetorische Subjekt gewinnt hier durchaus ein eigenes Selbst, das als Produkt eines von ihm eigenständig moderierten Prozesses interner Rhetorik angesehen werden kann. Aber als bloße Moderation vorgegebener internalisierter Stimmen kann dieses ‚eigene‘ Selbst noch nicht im vollgültigen Sinne als ‚eigentlich‘ bezeichnet werden. 3. Schließlich treffen wir auf der primären Stufe die bereits angesprochene Form der emanzipierten internen Rhetorik. Die rhetorische Subjektivität agiert hier auf dem forum internum als souveräne Akteurin, die als Autorin nicht nur bereits vorfindliche Stimmen moderiert, sondern auch neue, atopische und bisher unerhörte Stimmen generiert und als Regisseurin ihre Inszenierung auf dem forum internum dirigiert. Erst mit dieser Kunst emanzipierter interner Rhetorik gewinnt das rhetorische Subjekt den Charakter eines eigentlichen Selbst, dessen Authentizität auf der durchgängigen Autoinventivität und Freiheit seiner inneren SelbstBestimmung beruht. Mit dieser primären, elaborierten Kunst emanzipierter interner Rhetorik ist zugleich die systematische Position einer in der bisherigen Diskussion vernachlässigten anthropologischen Möglichkeit einer ‚Starken‘ rhetorischen Subjektivität angezeigt, die more rhetorico wieder an das Selbsterfindungsprojekt der neuzeitlichen Subjektphilosophie und deren programmatischen Topoi wie ‚Selbstbestimmung‘, ‚Autonomie‘ und ‚Mündigkeit‘ anknüpften könnte. Damit ist allerdings nur in systematischer Hinsicht die generelle anthropologische Möglichkeit zur Ausbildung eines authentischen Selbstes im Modus emanzipatorischer interner Rhetorik exponiert, die als grundsätzliche Befähigung – so jedenfalls meine philanthropische Supposition – in der Naturanlage des Menschen als homo rhetoricus gründet. Damit bliebe ihre historisch kontingente Realisierung als permanente Aufgabe einer freien Selbstkultivierung rhetorischer Subjektivität überlassen.
Polypersonalität Das grand arcanum starker autoinvenienter Subjektivität Worin könnten aus fundamentalrhetorischer Sicht heute die Zukunftsperspektiven der Rhetorik als Kulturidee, Wissenschaft und Technik liegen? Der Vorschlag, den ich im Folgenden skizzieren möchte, liegt auf der Linie einer neuen Verbindung des für die europäische Kultur bis heute maßgeblichen Ideals eines freien und selbstbestimmten Subjektes mit der aktuellen wissenschaftlichen Forschungsperspektive interner Rhetorik, welche in anthropotechnischer Hinsicht die Möglichkeit einer rhetorischen Kunst der Selbsterfindung eröffnet.1 Mein Projekt der Exploration dieser möglichen Symbiose von Rhetorik und Subjektphilosophie widerspricht zweifellos der immer noch weitverbreiteten Depotenzierung des Subjektbegriffes in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften, welche sich als Spätfolge der inzwischen verblassenden Postmoderne und ihrer vielzitierten Rede vom ‚Verlust‘ oder gar ‚Tod des Subjektes‘ verstehen lässt.2 Wider diese etwas vorschnelle Todeserklärung wirft es dagegen die Frage nach einer rhetorikaffinen Wiederbestärkung des in die Krise geratenen europäischen Subjektbegriffes auf, welche von Neuem an die Selbsterfindungsprojekte der neuzeitlichen Subjektphilosophie und ihren programmatischen Topoi wie ‚Freiheit‘, ‚Selbstbestimmung‘ und ‚Mündigkeit‘ anknüpfen könnte. Bei dieser Suche nach einem fundamentalrhetorisch bestärkten Subjektbegriff kommt in meinen Augen gerade dem innerhalb der rhetorischen Anthropologie in den letzten Jahren zunehmend in den Blick geratenen innovativen Forschungsgebiet der internen Rhetorik eine Schlüsselstellung zu. Diese InterneRhetorik-Forschung gibt uns heute nämlich die Möglichkeit an die Hand, die von der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie vernachlässigte Rhetorizität der subjektiven Innenseite des Menschen neu zu erschließen. Dabei verbindet sie der gemeinsame Versuch, die auch schon für die klassische Bewusstseinsphilosophie fundamentale Reflexivität des Ich rhetorikaffin, d. h. als eine Form innerer, auto-
|| 1 Auf die Spur dieser möglichen Antwort bin ich während der Abfassung meiner beiden Artikel ‚Person‘ und ‚rhetorische Subjektivität‘ für das „Historische Wörterbuch der Rhetorik“ gestoßen. Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 10, Berlin/Boston 2012, 862– 872.1290–1301. Vgl. auch „Autoinvenienz. Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Selbsterfindung, hg. von Renate Breuninger/Peter L. Oesterreich, Würzburg 2012. 2 Zur postmodernen Rede vom ‚Tod des Subjektes‘ vgl. Silvia Pritsch, „Rhetorik als Selbsttechnologie. Postmoderne Figuren zwischen ‚Sagen‘ und ‚Tun‘, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 93–107, hier: 98–100. https://doi.org/10.1515/9783110527667-004
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persuasiver Rede, neu zu begreifen. Die bisher vorliegenden Ansätze der Internen-Rhetorik-Forschung differieren allerdings hinsichtlich der ‚Stärke‘ oder ‚Schwäche‘ der sich in selbstreferenzieller Rede konstituierenden rhetorischen Ich-Position. So kommt nach Jean Nienkamp im Rekurs auf Freud, Mead und die Postmoderne ihrer Theoriefigur des rhetorischen Selbst lediglich eine psychosozial geschwächte Position zu, die sich lediglich aus der Pluralität von internalisierten kulturellen Stimmen zusammensetzt.3 Dagegen fokussiert sich mein Interesse – wohl in typisch kontinentaleuropäischer Manier – auf die fundamentalrhetorische Rekonstruktion der von Descartes ausgehenden Tradition der Subjektphilosophie, die für eine starke theoretische Positionierung des Ich plädiert.4 Gerade das nicht zu leugnende Massenphänomen fremdbestimmter, schwacher Ich-Positionen provoziert die alternative Frage nach jener im Titel genannten ‚starken rhetorischen Subjektivität‘, welcher es gelingen könnte, durch ihre Kunst emanzipatorischer interner Rhetorik eine eigene Stimme zu gewinnen, um sich als Autorin ihres eigenen Selbst neu zu erfinden. Auf der folgenden kleinen Spurensuche nach historischen Theoriefiguren eines derart stark positionierten rhetorischen Subjekts versuche ich nun, einige aufschlussreiche und auf den ersten Blick zugegebenermaßen weit auseinanderliegende Theorietopoi bei Cicero, Shaftesbury und F. Schlegel miteinander in Verbindung zu bringen und zwar durch den noch näher zu erläuternden Gesichtspunkt der Polypersonalität. Dazu wende ich mich zunächst dem anthropologischen Polypersonalismus Ciceros zu, sodann der methodologischen Polypersonalität Shaftesburys, um dann abschließend, hinweisend auf Friedrich Schlegels biographischen Polypersonalismus, mit einem kurzen Fazit zu enden.
1 Ciceros anthropologischer Polypersonalismus Eine frühe begriffsgeschichtliche Spur des gesuchten autoinvenienten Ich, welches sich in der Kunst der Selbsterfindung auf dem Forum interner Rhetorik übt, lässt sich bereits in Ciceros De officiis entdecken. Ihr Fundort ist die bekannte
|| 3 Jean Nienkamp, Internal Rhetorics. Toward a History and Theory of Self-Persuasion, Carbonale/Edwardsville 2001; Ders., „The rhetorical Self“, in: Rhetorik 30 (2011), 69–79. 4 Peter L. Oesterreich, „Homo rhetoricus interior. Zur fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianischen Ego“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 21 (2002), 37–48; Ders., „Selbsterfindung, Subjektivität und interne Rhetorik“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 80–95.
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rhetorikaffine und pluralistische Vier-Personen-Lehre, die Cicero im ersten Buch von De officiis entwirft. Den leitenden Gesichtspunkt für jenen vierstelligen Polypersonalismus bildet bei Cicero das vom Theater und der Rednerbühne auf das gesamte menschliche Leben übertragene, maßgebliche ethische Ordnungsprinzip des Decorum, welches nicht nur den Schauspieler oder den Orator, sondern den ganzen Menschen verpflichtet, sich seiner jeweiligen „Rolle (persona)“5 angemessen zu verhalten. Gemäß seiner theatralischen Ursprungsbedeutung und ihrer spezifisch rhetorischen Fortentwicklung versteht Cicero unter ‚Persona‘ in Analogie zur Maske des Schauspielers zunächst die jeweilige ‚Rolle‘, welche der Redner zu verkörpern hat, um auf den öffentlichen Foren der res publica erfolgreich agieren zu können.6 Von daher erschließt sich sein Personbegriff vornehmlich aus der Perspektive der glaubwürdigen Selbstinszenierung des Orators inmitten der öffentlich-politischen Lebenswelt. Dieses ursprünglich auf die res publica bezogene römische Persona-Modell basiert auf einem durch das Decorum geregeltem topischen Rollen-Repertoire, welches sich aus den Standardsituationen der politischen und gerichtlichen Rede, der Ämterlaufbahn und den Amtspflichten innerhalb der staatlichen Behörden ergibt. Dementsprechend widmet sich die römische Redekunst (ars rhetorica) sowohl in ihrer Lehre (doctrina) als auch im Übungsbetrieb (exercitatio) der artifiziellen Professionalisierung rednerischer Persondarstellung. So erschließt z. B. die schulrhetorische Topik der argumenta a persona die konkrete, empirische Person im gesamten Umfang ihrer körperlichen, psychischen, mentalen, sozialen und biographischen Persönlichkeitsaspekte. Zu dieser Topik gehören der Name (nomen), die Naturanlage (natura), die Lebensweise (victum), das Schicksal (fortuna), die persönlich erworbenen Eigenschaften (habitus), das Temperament (affectatio), die Interessen und Neigungen (studia), die Absichten (consilia), sowie die Taten (facta), die Zufälle (casus) und die bereits gehaltenen Reden (orationes).7 So schenkt der schulrhetorische Übungsbetrieb innerhalb seiner Suasorien und Kontroversien der Prosopopoiie (fictio personae) seine besondere Aufmerksamkeit. Die Kunst der rhetorischen Persondarstellung wird hier durch die artifizielle Simulation von sozialen Charakteren wie z. B. des Reichen, des Geizigen
|| 5 Vgl. Marcus Tullius Cicero, De officiis/Von den Pflichten, lat.-dt., hg. u. übers. v. Harald Merklin, Frankfurt a. M./Leipzig 1991, I, 97 f. 6 Vgl. Manfred Fuhrmann, „Persona, ein römischer Rollenbegriff“, in: Identität, hg. v. Odo Marquard/Karlheinz Stierle, München 1979, 83–106. 7 Vgl. Marcus Tullius Cicero, De inventione/Über die Auffindung des Stoffes, hg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf/Zürich 1998, I, 34.
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oder des Abergläubigen oder aber poetischer und historischer Personen wie Priamus und Sulla trainiert. Innerhalb dieser spielerisch inszenierten Schulübungen studiert der Redner eine Vielzahl unterschiedlicher personaler Rollen ein und nähert sich als rhetorischer Akteur darin dem Schauspieler an. Dabei entspringt das redereflexive Wissen des ausgebildeten Redners um die Artifizialität und vielfältige Formbarkeit seiner personalen Rollen nicht erst der äußeren Actio, sondern bereits schon der zur inneren Redevorbereitung gehörenden methodischen Inventio. Dies belegt nicht zuletzt die Vorschrift, sich schon während der Inventio imaginativ in die unterschiedlichen personalen Rollen der diversen Redebeteiligten zu versetzen. So soll der professionelle Redner, wie Cicero in De oratore anmerkt, schon in der inventiven Planungsphase seiner Rede die personalen Peristasen der jeweiligen Redesituation imaginativ antizipieren und sich selbst in die unterschiedlichen Rollen und Standpunkte der redebeteiligten Personen versetzen. Dabei hat er z. B. vor Gericht nicht nur die unterschiedlichen Glaubwürdigkeitsaspekte zu beachten, die sich aus den unterschiedlichen personalen Rollen des Klägers, des Prozessgegners und des Richters ergeben, sondern vor allem auch die persuasive Wirkung seiner eigenen Person.8 Die schulrhetorische Ausbildung fördert somit ein neues, distanziertes und rhetorisch aufgeklärtes Selbstverständnis, welches der weit verbreiteten naiven, monopersonalen Position einer strikten Identität von Person und Persona widerspricht. Stattdessen generiert die in rhetorischer Übung erfahrene personale Selbst-Differenz zwischen der eigenen Person einerseits und andererseits den unterschiedlichen personalen Rollen, die sie zu spielen vermag, die neue Mentalität eines redereflexiv aufgeklärten Polypersonalismus, welcher um die vielfältige artifizielle Formbarkeit der eigenen Persona weiß. Dieser Polypersonalismus bildet allerdings gerade angesichts der in der Öffentlichkeit weiterhin herrschenden strikten monopersonalen „ldentitätspflicht“9 – um einen Gedanken Shaftesburys vorwegzunehmen – eine Art ‚Berufsgeheimnis‘ jener Klasse schulrhetorisch trainierter römischer Homines rhetorici, welche wie Cicero aus führenden Politikern, Amtsträgern und Juristen besteht. Vor diesem Hintergrund lässt sich Ciceros in De officiis anthropologisch erweiterter Polypersonalismus auch als eine theoretische Konsequenz des arkanen Wissens um die artifizielle und plurale Formbarkeit der eigenen Persönlichkeit verstehen, das von jeher zu den Berufsgeheimnissen professioneller Rhetoriker gehören dürfte. Insgesamt gesehen lässt sich Ciceros bekannte Vier-Personen-
|| 8 Vgl. Marcus Tullius Cicero. De Oratore/Über den Redner, lat.-dt., hg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007, II, 102. 9 Fuhrmann, Persona (s. Anm. 6), 10.
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Lehre aus De officiis als eine Synthese des rhetorikaffinen römischen PersonaKonzeptes mit der stoischen Naturidee verstehen. Dabei vertritt Cicero einen ethisch akzentuierten Polypersonalismus, welcher die menschliche Gesamtpersönlichkeit zur jeweils angemessenen personalen Verkörperung von gleich vier anthropologischen Rollen verpflichtet. Die ersten beiden Personae sind dem Menschen durch die Natur (natura), die dritte von Zufall (casus) sowie Zeitumständen (tempus) gegeben. Die Ausgestaltung der vierten anthropologischen Persona obliegt allein unserem eigenen Urteil (iudicium nostrum). Befragt auf das philosophische Autoinvenienz-Konzept, das sich in Ciceros Vier-Personen-Lehre verbirgt, gibt der Text eine differenzierte Antwort, welche drei unterschiedliche Stärkegrade der subjektiven Freiheit der Selbsterfindung kennt. Den schwächsten Grad besitzt die dritte, von Cicero äußerst knapp abgehandelte Persona. Diese ist als soziale Rolle der herrschenden Maßgabe des äußeren gesellschaftlichen Decorum unterworfen, d. h. dem geschichtlichen Zufall und den Zeitumständen. Bei der Erfindung dieser äußeren, sozialen Persona spielen vorgegebene Faktoren wie Herrschaft (regna), Befehlsgewalt (imperia), Adel (nobilitas), Ehre (honores), Reichtum (divitiae) und ihre jeweiligen Gegenteile eine entscheidende Rolle.10 Einen stärkeren Grad autoinvenienter Entwurfsfreiheit findet sich dagegen bei den beiden anthropologischen Rollen, die den Menschen von Natur aus vorgegeben sind und in denen sich bei Cicero der Einfluss der konnaturalen Ethik der Stoa bemerkbar macht. Vor dem Hintergrund des stoischen Autarkieideals verstärkt sich Ciceros polypersonales Autoinvenienz-Projekt hier durch die Perspektive einer subjektiven Verinnerlichungstendenz. Dementsprechend verschiebt sich die ethische Leitperspektive vom eher heteronomen Maßstab des externen sozialen Decorum auf den autonomen eines internen Decorum, welches die Modellierung der eigenen Persona nach Maßgabe ihrer inneren Natur vorschreibt. Da ferner diese innere Natur sich einerseits in einen allgemeinmenschlichen Anteil und andererseits einen individuellen Part aufteilt, besetzt Cicero diese in Hinsicht auf die Freiheit der Selbsterfindung mittelstark einzuschätzende Stufe gleich durch zwei unterschiedliche anthropologische Rollenmodelle. Die von Cicero an erster Stelle genannte Persona gründet in der Partizipation aller Menschen an der allgemeinen Vernunftnatur. So sei es die „große Natur selbst (ipsa natura magna)“11 gewesen, die den Menschen diese personale Rolle als zur Rationalität befähigtes Lebewesen gegeben habe. Aufgrund dieser natürlichen Vernunftanlage vermögen die Menschen selbstständig jene Moralvorstel-
|| 10 Vgl. Cicero, De officiis (s. Anm. 5), I, 115. 11 Cicero, De officiis (s. Anm. 5), I, 115.
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lung des Geziemenden und sittlich Guten (honestum decorumque) in sich aufzufinden, durch die sie die übrigen Lebewesen bei weitem überragen. Dabei vertritt Cicero wie schon in De oratore einen kommunikativen und rhetorikaffinen Vernunftbegriff, der die enge Beziehung von Vernunft (ratio) und Rede (oratio) betont. Demnach bewegt diese allgemeine Vernunftanlage die Menschen „zu einer Gemeinschaft der Rede und des Lebens (ad orationis et ad vitae societatem)“12. An zweiter Stelle folgt jene Persona, welche die individuellen Naturanlagen des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt und dem konnaturalen Selbsterfindungskonzept Ciceros eine charakteristische Note verleiht. Die Modellierung dieser individuellen Rolle berücksichtigt jene besonderen körperlichen und geistigen Naturanlagen, welche jeden einzelnen auszeichnen und charakterisieren. Bei ihrer Ausgestaltung kommt insgesamt den jeweils im Charakter des individuellen Geistes (animus) liegenden Begabungsunterschieden eine größere Bedeutung zu als den körperlichen Dispositionen. Durch sie unterscheidet sich z. B. der geistvolle, beredte und zur ironischen Simulation neigende Charakter des Philosophen Sokrates von der dissimulatorischen Kunst des Schweigens, Verheimlichens, Auflauerns und Vereitelns gegnerischer Pläne, die sich bei Heerführern wie Hannibal oder Quintus Maximus fänden. Eine charakteristische Persönlichkeit, die sich durch Authentizität, Kontinuität ihrer Lebensführung und der ihr korrelierenden Glaubwürdigkeit auszeichnet, sollte gerade auf die Profilierung dieser individuellen Rolle, die nach der Regel unserer je eigenen Naturanlage (regula nostrae naturae) modelliert sein sollte, besonderen Wert legen. „Denn jedem steht am Besten diejenige Rolle, die seiner eigenen Anlage am meisten entspricht.“13 Schließlich enthält die vierte von Cicero vorgesehene anthropologische Person deshalb ein Maximum an autoinvenienter Entwurfsfreiheit, weil ihre Modellierung ganz in den Händen des eigenen freien Willens (voluntas) liegt.14 Befreit von den Bedingungen sowohl des äußeren kulturellen als auch des inneren natürlichen Decorum bildet die Selbstübereinstimmung des individuellen autoinvenienten Ich mit seinem eigenen freien Willen nunmehr den Maßstab ihrer Modellierung. Die deliberative Realisierung dieser innerhalb der vierstelligen Topik Ciceros stärksten Position autoinvenienter Subjektivität vollzieht sich in der Freiheit und Einsamkeit (in solitudinem) eines inneren Mit-sich-zu-Rategehens (consilium).15
|| 12 Cicero, De officiis (s. Anm. 5), I, 12. 13 Cicero, De officiis (s. Anm. 5), I, 113. 14 Vgl. Cicero, De officiis (s. Anm. 5), I, 115 f. 15 Vgl. Cicero, De officiis (s. Anm. 5), I, 117 f.
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Insgesamt gesehen führt Ciceros Vier-Personen-Lehre gleichsam eine vierstellige Matrix personaler Selbsterfindungskunst vor Augen, die ein stark profiliertes autoinvenientes Ich vor die Aufgabe stellt, in eigener Autorschaft die vier anthropologischen Rollen seiner Gesamtpersönlichkeit angemessen zu verwirklichen. Die deliberative interne Rhetorik des starken autoinvenienten Ich steht hier vor der simultanen und deshalb höchst anspruchsvollen Aufgabe, Regie zu führen über alle vier personalen Rollen seiner Gesamtpersönlichkeit. Dass dieses äußerst anspruchsvolle ethische Ideal elaborierter Selbsterfindung, welches neben einer außerordentlich hohen Begabung (excellenti ingenii magnitudo) eine glänzende Bildung (praeclara eruditio) und entsprechende Freizeit voraussetzt, de facto eine seltene Ausnahme darstellt, wird von Cicero selbst eingeräumt.16 Die autoinveniente Subjektivität sei bei den meisten Menschen nur mehr oder weniger schwach ausgebildet, da sie die Ausbildung ihrer Persönlichkeit unreflektiert entweder ihren Eltern und Lehrern, dem Urteil der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung oder dem glücklichen Zufall überlasse.17 Allerdings lässt dieses eindrucksvolle ambitionierte Selbsterfindungsprogramm Ciceros, in welchem sich bereits ein erster antiker Schattenriss der Figur eines starken autoinvenienten Ich abzeichnet, am Ende auch eine wichtige rhetoriktheoretische Frage offen. Bezüglich des Problems der konkreten rhetorischen Kunstform der Selbsterfindung gibt Cicero einen zwar frühen, aber auch nur äußerst knappen Hinweis auf jenes bereits erwähnte einsame, innere Mitsich-zu-Rate-gehen. Die begriffsgeschichtliche Suche nach einem aufschlussreicheren Theorietopos, der konkrete Auskunft über diese bei Cicero noch offen gebliebene Frage nach der spezifischen Rhetorik der Selbsterfindung geben könnte, erfordert einen – zugegebenermaßen kühnen – historischen Sprung bis hinein in Shaftesburys neuzeitliche Theorie der internen Rhetorik.
2 Methodische Polypersonalität bei Shaftesbury Der von Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury im Jahre 1711 zuerst veröffentliche Essay Soliloquy, or advice to an author ist eine wichtige neuzeitliche Quelle für die heutige Interne-Rhetorik-Forschung, auf welche jüngst Jean Nienkamp hingewiesen hat.18 Tatsächlich bildet Shaftesburys Essay im Rahmen der
|| 16 Vgl. Cicero, De officiis (s. Anm. 5), I, 119. 17 Vgl. Cicero, De officiis (s. Anm. 5), I, 115. 18 Vgl. Nienkamp, „The rhetorical self“ (s. Anm. 3), 77.
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neuzeitlichen Subjektphilosophie den vielleicht aufschlussreichsten Text für die noch offen gebliebene Frage nach der konkreten redetechnischen Form, in welcher sich die innere Selbsterfindungskunst starker rhetorischer Subjekte vollzieht.19 Shaftesbury enthüllt hier – wie er selbst sagt – ein „großes Geheimnis (grand arcanum)“20, welches „die machtvolle Figur der inneren Redekunst (the powerful figure of inward rhetorick)“21 betrifft. Die erstaunliche Macht dieser Figur innerer Redekunst liege darin, dass sie dem Einzelnen eine Methode an die Hand gibt, welche einerseits in therapeutischer Hinsicht ein souveränes Heilmittel (sovereign remedy) und andererseits in prophylaktischer Hinsicht eine stärkende, gymnastische Übung (gymnastick) für seine im Alltag geschwächte Subjektivität darstellt. Ihre Figuralität besteht ferner in ihrer deviativen Artifizialität, die von der gewöhnlichen Normalform alltäglicher Rede auf eine zunächst verblüffende Weise abweicht. Die von Shaftesbury vorgeschlagene autoinveniente Methode der inneren Rhetorik, welche auf die Selbstbestärkung geschwächter Subjektivität abzielt, baut nämlich auf einer Grundoperation auf, welche dem gewöhnlichen monopersonalen Selbstverständnis paradox erscheint, das von der naiven Annahme einer unmittelbaren Identität von Person und Persona ausgeht. Diese Operation verlangt nämlich vom autoinvenienten Ich die scheinbar unmögliche Aktion einer Selbstmultiplizierung, die darin besteht, „sich selbst in zwei Personen zu vervielfältigen (multiply himself into two persons)“22. Dieses zunächst befremdlich wirkende Paradox der Selbstmultiplizierung, durch welches Shaftesbury die nachfolgenden Erläuterungen zu seinem methodischen Polypersonalismus effektvoll einleitet, entschärft er zunächst durch zwei plausible Beispiele. Das erste Beispiel bezieht sich auf die Alltagspraxis unüberdachter interner Rhetorik. Es verweist dabei auf die Tatsache, dass wir schon im alltäglichen Selbstgespräch durchaus über uns selbst lachen können. Das zweite Exempel verweist darüber hinausgehend auf die kunstvolle dichterische Stilisierung des Soliloquiums im Bühnenmonolog des Schauspielers. Demnach ist uns das zunächst paradoxal anmutende „Geschäft der Selbstzertrennung (the business of self-dissection)“23 sowohl aus der inartifiziellen Form des unüberdachten alltäglichen Selbstgespräches als auch durch die poetisch gesteigerte artifizielle
|| 19 Anthony Ashley Cooper, „Soliloquy: or, advice to an author“, in: Charakteristicks, (London?) 1758, Vol. I, 101–245. 20 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 127. 21 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 128. 22 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 107. 23 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 107 f.
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Form des Bühnenmonologs durchaus bekannt und vertraut. Für die Dichter selbst, so argumentiert Shaftesbury, gäbe es sogar nichts wichtigeres als „diese Festung des SELBSTGESPRÄCHES (this fort of SOLILOQUY)“24. Diese militärische Fort-Metapher symbolisiert die durch innere Rhetorik stark befestigte und wehrhafte Identität des autoinvenienten Ich. Dass dabei die Stärke personaler Identität gerade auf der methodischen Grundoperation einer intrapersonale Alterität erzeugenden Selbstmultiplizierung aufbaut, darf hier nicht verwundern. Vielmehr bildet dies eine methodische Konsequenz des neuen genuin rhetorischen Theoriedesigns Shaftesburys, welche die interne Rhetorik des autoinvenienten Ich ins Zentrum rückt, um die Innenwelt des neuzeitlichen Subjektes und seine darin befestigte Identität zu erklären. Um die von Shaftesbury ins Spiel gebrachte methodische Selbstdividierung zu verstehen, reicht deshalb ein Hinweis auf die bekannte Subjekt-Objekt-Relation der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie nicht aus. Das für alle Subjektivitätsphilosophie grundlegende Phänomen der Reflexivität des Ich wird hier von Shaftesbury nicht – wie z. B. in der klassischen Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes – primär kognitiv als bloße innere ‚Vorstellung‘ des menschlichen Selbstbewusstseins gefasst. Anstelle dieser kognitivistischen Beschreibung subjektiver Reflexivität durch die zweistellige Subjekt-Objekt-Relation tritt bei Shaftesbury jene rhetorikaffine Trias, mit der schon Aristoteles die kommunikative Grundsituation der externen Rhetorik charakterisiert hat.25 Angewandt auf die interne Rhetorik des Soliloquiums lässt sich diese triadische Orator-Pragma-Auditor-Relation in etwa wie folgt ausdrücken: Ich (1) spreche mit mir (2) über mich selbst (3). Innerhalb des Selbstgespräches treten somit die drei Positionen des oratorischen Ich (1), des auditiven Ich (2) und des thematisierten Selbst (3) hervor. Diese prinzipielle Duplizität des autoinvenienten Ich, seine Dividiertheit in ein oratorisches Ich einerseits und in ein auditives Ich andererseits, gehört zu den anthropologischen Fundamentalien einer an Shaftesbury orientierten Rekonstruktion des Subjektivitätsbegriffs.26 Diese intrapersonale Orator-Auditor-Differenz, welche die rhetorische Subjektivität gerade im Modus interner Rhetorik charakterisiert, liegt der von Shaftesbury projektierten Selbsterfindung starker Subjektivität zu Grunde.
|| 24 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 108. 25 Aristoteles, Rhetorik, 1. Hb. hg. v. Christoph Rapp, Berlin 2002, 1358a f. 26 Zur traditionell vernachlässigten auditiven Seite rhetorischer Subjektivität vgl. Daniel M. Gross, „Passive Voices, Active Listening. Gendered Lagacies in the History of Rhetoric“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 17–29.
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Allerdings bleibt die methodisch reflektierte Operation der Selbstdividierung, welche zweifellos ein wichtiges Werkzeug rhetorischer Selbsterfindungskunst darstellt, nach Shaftesbury eher die Ausnahme und als grand arcanum elaborierter Selbsterfindungskunst den Dichtern, Poeten und Philosophen vorbehalten. Im Sinne ihrer eigenen Selbstkultivierung eröffnet sie ihnen den eigenen inneren Weg zu einer autopoietischen „Selbst-Praxis (self-practise)“27. Diese von vielen Dichtern, Rhetoren und Philosophen seit jeher geübte rhetorische Selbsterfindungskunst verlangt vom autoinvenienten Ich die konsequente Personalisierung ihrer eigenen, durch methodische Selbstdividierung gewonnenen Persönlichkeitsanteile. Sie leitet uns an – wie Shaftesbury formuliert – „uns selbst zu personalisieren (instruct us to personate our-selves)“28. Mit dieser inneren Personalisierungskunst findet sich die im antiken Theater, in den Rhetorenschulen und der Platonischen Dialog-Literatur manifestierende Technik der Prosopopoiie auf dem Felde der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie ihre Fortsetzung. Allerdings erfährt in dieser Verlagerung der Prosopopoiie in die interne Rhetorik autoinvenienter Subjektivität das antike Persona-Konzept, das auf der etymologischen Grundbedeutung ‚der durch die Theatermaske hindurchtönenden Stimme des Schauspielers‘ aufbaut, bei Shaftesbury eine verbalistische Zuspitzung. Die Verlagerung der prosopopoietischen Kunst von der externen Rhetorik des Theaters, der Rednerbühne oder der Philosophenschule in die interne Rhetorik des autoinvenienten Subjektes, führt bei Shaftesbury zu einer Abschwächung des ‚maskenhaft‘-visuellen zugunsten der Betonung des ‚stimmlich‘-verbalen Bedeutungsaspektes. Durch ihre methodische Personalisierung treten die ansonsten indifferent-stummen Persönlichkeitsanteile nun als deutlich artikulierte Stimmen hervor und spielen jeweils ihren eigenen Part in jenem Drama subjektinterner Rhetorik, welches mehr einem inneren Hörspiel als einem Schauspiel gleicht. Der Wert dieser polypersonalen inneren Selbstinszenierungskunst, durch die das autoinveniente Ich die Position der Autorin oder des Regisseurs eines inneren Mehr-Personen-Spieles einnimmt, liegt nicht zuletzt im Zuwachs reflexiver Selbsterkenntnis. Die interne Rhetorik bilde – so Shaftesbury – gleichsam einen „verbalen Spiegel (vocal looking-glass)“29, in welchem sich das autoinveniente Ich in polypersonal differenzierter Weise zu erkennen vermag. Damit deutet sich bei Shaftesbury ein rhetorikaffines Alternativkonzept neuzeitlicher Subjektphi-
|| 27 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 114. 28 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 117. 29 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 117.
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losophie an, in der die interne Rhetorik zum zentralen Organ sowohl subjektiver Selbstbestärkung als auch reflexiver Selbsterkenntnis avanciert. In philosophischer Hinsicht interessiert Shaftesbury besonders die interne Rhetorik in der Form eines sokratischen Dialogs, in welcher sich das autoinveniente Ich in die Person des philosophischen Lehrers einerseits und die des Schülers andererseits auseinanderdividiert.30 Auch der spätromantische Schelling wird in seiner Konzeption einer ‚inneren Unterredungskunst‘ an diese polypersonalistische Perspektive anknüpfen und in Anspielung auf Shaftesburys grand arcanum behaupten: „Diese Scheidung, diese Verdoppelung unserer selbst, dieser geheime Verkehr, in welchem zwey Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes […], dieses stille Gespräch, diese innere Unterredungskunst“31 sei „das eigentliche Geheimnis des Philosophen“32. Auch diese von Schelling anvisierte philosophische Variante interner Rhetorik gestaltet sich in der Form eines in das Subjektinnere transponierten sokratischen Dialogs. Das Frage-Antwort-Spiel der schulrhetorischen Gedankenfigur subjectio erfährt hier als Muster für die Figuration der Innenwelt des philosophischen Subjektes ihre anthropologische Potenzierung. Von daher gesehen kann Shaftesbury vorschlagen, das antike Projekt der Selbsterkenntnis, welches sich in der berühmten Delphischen Inschrift ausspricht, im polypersonalistischen Sinne neu zu interpretieren. Das delphische ‚Erkenne dich selbst‘ sei ganz im Sinne der polypersonalistischen Kunst interner Rhetorik eigentlich so zu verstehen: „Zerteile dein Selbst, oder sei ZWEI. (Divide your-self, or Be TWO).“33 In ethischer Hinsicht rückt Shaftesbury eine moralische Spielart interner Rhetorik in den Vordergrund, die auf der systematischen Topik der für die neuzeitliche Subjektphilosophie insgesamt typischen Vermögenspsychologie aufbaut. Ausgangspunkt des moralischen Szenarios, welches Shaftesbury entwirft, ist der mit unserer individuellen Willensfreiheit verbundene dramatische Konflikt mehrerer sich einander bekämpfender innerer Vermögen. Demnach hat das in der menschlichen Natur angelegte leidenschaftliche Begehren (appetite), gerade durch den Einfluss willkürlicher Phantasie (fancy), gewöhnlich einen weit stärkeren Einfluss auf die Meinung (opinion) und Ausrichtung unseres freien Willens (free will) als die im Menschen zunächst schwach ausgeprägte Vernunft (reason). Dabei würde – so die Fußball-Allegorie Shafteburys – im moralischen
|| 30 Vgl. Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 108. 31 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. Manfred Schröter, München 1966, 5. 32 Schelling, Weltalter (s. Anm. 31), 5. 33 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 116.
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Spiel der beiden feindlichen Brüder – des stärkeren APPETITE gegen den schwächeren REASON – der Wille wie ein „Fußball zwischen diesen beiden Jungen (football between these youngsters)“34 hin und her gestoßen werden. Wieder ist es die Macht der Redekunst, welche auch in diesem inneren moralischen Grundkonflikt neuzeitlicher Subjektivität die schwächere Seite zur stärkeren zu machen versteht. Die interne Rhetorik stellt sich somit gleichsam als das innere Kraftwerk starker autoinvenienter Subjektivität heraus. Durch sie sei es nämlich möglich, wie Shaftebury hofft, die Fancy zu bändigen, die Vernunft zum dauerhaften Sieg über das Begehren zu führen, die Stabilität unserer Meinungen und die Einheit unseres Willens zu garantieren und schließlich sicherzustellen, dass wir unser Ziel „ein und dieselbe Person heute wie gestern und morgen wie heute (one and the same person to day as yesterday, and tomorrow as to day)“35 zu bleiben, realisieren können. Mit diesem in diachroner Hinsicht streng identitätszentrierten Ideal ist allerdings auch die Grenze des Polypersonalitätskonzeptes Shaftesburys erreicht, das sich lediglich auf die Methode der internen Rhetorik, aber nicht auf die ansonsten monopersonale Gestaltgebung der eigenen Gesamtpersönlichkeit bezieht. Auf der Suche nach einem Theorietopos, welcher auch die Gesamtpersönlichkeit starker autoinvenienter Subjekte polypersonalistisch konzipiert, sei hier zum Abschluss noch ein weiterer, aber wesentlich kürzerer begriffsgeschichtlicher Sprung erlaubt. Er führt bis an die Schwelle der Moderne um 1800 und berührt abschließend Friedrich Schlegels frühromantische Athenäums-Fragmente.
3 Friedrich Schlegels biographische Polypersonalität und ein Fazit In dieser frühromantischen Philosophie Friedrich Schlegels, die eine symbiotische Verbindung der Fichteschen Transzendentalphilosophie mit der bereits von der klassischen Rhetoriktradition herausgestellten Figur der Ironie bildet, kommt es zu einer für die Moderne wegweisenden Infinitisierung des subjekttheoretischen Polypersonalismus, der sich nicht am Paradigma der Moralität, sondern dem der künstlerischen Produktion orientiert.36 Das in den Athenäum-Fragmen-
|| 34 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 126. 35 Shaftesbury, „Soliloquy“ (s. Anm. 19), 126 f. 36 Vgl. P. L. Oesterreich, Spielarten der Selbsterfindung. Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling, Berlin/New York 1911, hier: 47–69.
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ten projektierte frühromantische Persönlichkeitsideal zeichnet sich dabei durch ein extrem alteritätszentriertes und pluralistisches Design aus, welches sowohl dem zumeist auf eindimensionale Rollenerwartungen fixierten Massenpublikum als auch der identitätslogischen Stimmenmehrheit der Philosophiegeschichte entschieden widerspricht. Denn für Schlegel spielt das durch Liberalität und Urbanität gekennzeichnete frühromantische Geselligkeitsideal als „innre Geselligkeit“37 auch für die interne polypersonale Gestaltgebung der Gesamtpersönlichkeit eine zentrale Rolle. Der von Schlegel projektierte universelle Geist der Gesamtpersönlichkeit soll demnach gleichsam „eine Mehrheit von Geistern, und ein ganzes System von Personen in sich“38 enthalten. Das Autoinvenienz-Programm neuzeitlicher Subjektivitätsphilosophie steigert sich hier unter dem Vorzeichen der Figur der infiniten Ironie zu einem Ideal einer unabschließbaren Neuerfindung der eigenen Persönlichkeit, deren Biographie aus einer „ununterbrochenen Kette innerer Revolutionen“39 bestehen soll. Dieser durch die infinite Ironie tropologisch präfigurierte Prozess permanenter Selbsterfindung soll sich im Rhythmus eines „steten Wechsels von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“40 vollziehen, um so die eigene Individualität polypersonalistisch zu einer universellen Persönlichkeit zu erweitern. So gewinnt beim frühromantischen F. Schlegel der Polypersonalismus auch jene diachrone, d. h. die gesamte Biographie betreffende Bedeutung, die auf den unabschließbaren Prozess der permanenten Neuerfindung des modernen Ich verweist. Die gemeinsame Idee der Polypersonalität lässt somit schließlich auch F. Schlegel in die systematische Nähe von historisch weit entfernten Autoren wie Cicero und Shaftesbury rücken. So frappierend diese polypersonalistische Dreierkoalition auch erscheinen mag, im resümierenden Rückblick auf die anthropologische Polypersonalität Ciceros, die methodische Shaftesburys und die biographische F. Schlegels lässt sich dennoch folgendes kurzes Fazit ziehen. Es besagt, dass Polypersonalität in ihren unterschiedlichen Bedeutungsaspekten gerade keine Schwäche, sondern ganz im Gegenteil die geheime Stärke autoinvenienter Subjektivität ausmacht. Polypersonalität könnte so am Ende wirklich als das grand arcanum starker rhetorischer Subjektivität bezeichnet werden.
|| 37 Friedrich Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, hg. v. Hans Eichner, München/Paderborn/Wien 1967, 225. 38 Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe (s. Anm. 37), II, 185. 39 Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe (s. Anm. 37), II, 255. 40 Schlegel, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe (s. Anm. 37), II, 172.
Pithanologie Fundamentalrhetorische Überlegungen zur Aktualität der rhetorischen Glaubenslehre des Aristoteles Wie die Rhetorik-Renaissance des 20. Jahrhunderts vor Augen führt, lässt sich das Reich des Persuasiven und damit des Rhetorischen nicht mehr auf die von der Schulrhetorik vorgesehenen Standardsituationen artifiziellen Redens eingrenzen, sondern umfasst die gesamte kulturelle Lebenswelt und ihre Symbolbildungen. So kommt dem Phänomen des Rhetorischen aus der kontinentaleuropäischen Sicht der rhetorikaffinen Phänomenologie Heideggers und Gadamers eine dem Hermeneutischen korrespondierende lebensweltliche ‚Ubiquität‘ zu.1 Diese Allgegenwart des Rhetorischen reicht dabei so weit wie die sprachlich verfasste Lebenswelt des Menschen überhaupt. Auch in der angelsächsischen Tradition, insbesondere der New Rhetoric K. Burkes erstreckt sich der universalpragmatische Persuasionsbegriff auf alle Formen – verbaler oder nonverbaler, bewusster oder unbewusster – symbolischer Interaktion. Diese Entdeckung der lebensweltlichen Ubiquität und anthropologischen Universalität des Persuasiven erklärt schließlich auch die gegenwärtige Aktualität der Rhetorik in den Kulturwissenschaften bzw. den Cultural Studies. Diese kulturanthropologische Infinitisierung des Persuasionsbegriffes stellt eine wichtige Differenz zwischen der modernen Philosophie der Rhetorik und der antiken Rhetoriktradition (Aristoteles, Cicero, Quintilian) sowie der an sie anschließenden Schulrhetorik dar. Auch die in jüngster Zeit im deutschsprachigen Raum entwickelte und neuerdings als „a new rhetoric approach“2 rezipierte rhetorische Anthropologie der Gegenwart, welche den Menschen generell als Homo rhetoricus bzw. animal rhetoricum definiert, lässt sich als theoretische Konsequenz dieser lnfinitisierungs- und Universalisierungstendenz verstehen.3 Zum ty-
|| 1 Zur rhetorikaffinen Phänomenologie Heideggers und Gadamers vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1987, 203–266; Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik, Hamburg 1990, 9–29; Ders., „Phänomenologie“, in: HWRH, Bd. 6, Tübingen 2003, 921–927; Heidegger and Rhetoric, hg. v. Daniel M. Gross/Ansgar Kemmann, New York 2005; Heidegger über Rhetorik, hg. v. Josef Kopperschmidt, München 2009. 2 Stefanie Henning, „A German version of Kenneth Burke“, in: K. B. Journal, 5 (2009), 1. 3 Einen Überblick geben: Franz-Hubert Rohling, „Was ist rhetorische Anthropologie? Versuch einer disziplinären Definition“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 23 (2004), 1–10; Peter L. Oesterreich, „Anthropologische Rhetorik“, in: Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. https://doi.org/10.1515/9783110527667-005
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pischen Methodenstil dieser neuen rhetorischen Anthropologie gehört, wie z. B. das Historische Wörterbuch der Rhetorik oder die entsprechenden Abhandlungen in Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch4 zeigen, dass sie ihre moderne Theorie in der intensiven Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte erarbeitet. Auch für die Fundamentalrhetorik stellen die Terminologie und Begriffsbildungen der klassischen Rhetorik eine historische Topik dar, deren heuristisches Potential oftmals den Ausgangspunkt für ihre eigenen, weiterführenden Überlegungen darstellt. Dazu möchten die folgenden fundamentalrhetorischen Überlegungen zur ‚Pithanologie‘ ein weiteres Beispiel geben.
1 Die rhetorische Anthropologie des Aristoteles Im ersten Buch seiner Politik charakterisiert Aristoteles den Menschen durch zwei Grundbestimmungen. Auf der einen Seite ist der Mensch von Natur aus ein politisches Lebewesen (ζῷον πολιτικόν).5 Auf der anderen Seite wird der Mensch als ein durch Rede bestimmtes Lebewesen (ζῷον λόγον ἔχον)6 charakterisiert. Als einziges Lebewesen zeichnet sich der Mensch demnach durch den Besitz der Redefähigkeit aus. Das Politische und das Rhetorische gehören somit gleichermaßen zur Natur des Redelebewesen ‚Mensch‘. Um diesen anthropologischen Zusammenhang des Politischen mit dem Rhetorischen bei Aristoteles zu begreifen, ist es ratsam, seine Politik im Kontext mit seiner Rhetorik zu lesen. Zunächst besteht der Staat gemäß der aristotelischen Politik weder aus einer ethnisch homogenen Gemeinschaft noch aus einem bloß ökonomischen Interessenverbund. Die Polis bildet vielmehr eine Gemeinschaft von Bürgern, die ein redevermitteltes gemeinsames Verständnis des Nützlichen und Gerechten miteinander verbindet. Dabei ist es nicht in erster Linie das einsame Selbstgespräch oder die private Unterredung, sondern die öffentliche Rede, welche diese gemeinschaftsstiftenden Überzeugungen der Bürger ermöglicht. Die Polis als Überzeugungsgemeinschaft beruht somit auf einem Offenbarma-
|| Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung/An International Handbook of Historical and Systematic Research, hg. v. Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape, 1. Hbd., Berlin/New York 2008, 869–880. 4 Vgl. Rhetorik und Anthropologie, hg. v. Peter D. Krause (= Rhetorik, Bd. 23), Tübingen 2004. 5 Vgl. Aristoteles, Politica, hg. v. Rudolf Kassel, London 51973, 1447a. 6 Aristoteles, Politica (s. Anm. 5), 1447a.
Die rhetorische Anthropologie des Aristoteles | 65
chen (τὸ δηλοῦν) durch öffentliche Rede, die das jeweils Zuträgliche und Schädliche sowie das Gerechte und Ungerechte glaubhaft darzustellen vermag.7 Genau in diesem öffentlichen Offenbarmachen des Nützlichen, Gerechten, lobenswert Guten und ihrer jeweiligen Gegenteile, welche die Polis als Gemeinschaft der Bürger ermöglicht, besteht – wie Aristoteles in seiner Rhetorik erklärt – nun das eigentümliche Vermögen des rhetorischen Logos. Die Polis als Überzeugungsgemeinschaft der Bürger erweist sich somit prinzipiell durch den rhetorischen Logos konstituiert. Im redevermittelten Konsens der Bürgerschaft treffen sich somit das Rhetorische und das Politische. Es ist die Energie des im Wesen des Menschen angelegten fundamentalen Redenkönnens, dessen öffentlich offenbarmachende und konsensstiftende Macht die Identität der Polis als Überzeugungsgemeinschaft erst ermöglicht. Vor dem Hintergrund dieser hier nur kurz skizzierten politisch-rhetorischen Anthropologie des Aristoteles erscheint die bereits angesprochene Entgegensetzung von ‚Old Rhetoric‘ und ‚New Rhetoric‘ als problematisch. Insbesondere erweist sich die von K. Burke vertretene strikte Opposition von antiker Persuasionslehre einerseits und moderner Identifikationstheorie als fragwürdig.8 Denn die durchaus bedenkenswerte persuasive Identifikationstheorie der New Rhetoric steht zur politisch-rhetorischen Anthropologie des Aristoteles in meinen Augen eher in einem explikativen als einem strikt oppositionellen Verhältnis. Lässt nicht schon die aristotelische Theorie der rhetorischen Genese politischer Überzeugungsgemeinschaften in nuce einen identitätstheoretischen Aspekt persuasiver Rede erkennen? Geht nicht schon gemäß Aristoteles von den drei öffentlichen Redegattungen der Gerichts-, Beratungs- und Lobrede eine identifikatorische Energie aus, welche – um den missverständlichen metaphysischen Terminus der ‚Konsubstantialität‘9 zu vermeiden – die ‚partizipative Identität‘10 der Polis ermöglicht? Da die intersubjektive Identität der Polis-Bürgerschaft demnach auch
|| 7 Aristoteles, Politica (s. Anm. 5), 1447a. 8 Vgl. „[…] the key term for the old rhetoric was ‚persuasion‘ […]. The key term of the ‚new‘ rhetoric would be ‚identification‘.“ Kenneth Burke, „Rhetoric – Old and New“, in: New Rhetorics, hg. v. Martin Steinmann, New York 1967, 59–76, hier: 63. 9 Durchaus im Sinne der ‚Allen Rhetorik‘ des Aristoteles expliziert K. Burke seinen modernen Begriff der ‚Konsubstantialität‘ folgendermaßen: „[…] men have common sensations, concepts, images, ideas, attitudes that make them consubstantial“ (Kenneth Burke, A Rhetoric of Motives, Berkeley/Los Angeles 1969, 21). 10 Vgl. Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, Bamberg 2003, 84 ff.
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schon nach Aristoteles durch die identitätsstiftenden Aktionen öffentlicher persuasiver Rede eigens gestiftet und gepflegt wird, taugt der Burkesche Terminus ‚identification‘ wenig zur ratio distinctionis zwischen ‚Alter Rhetorik‘ und ‚Neuer Rhetorik‘. Abgesehen von dieser impliziten Identifikationstheorie des Aristoteles, die eher für die These einer explikativen Kontinuität zwischen ‚Alter Rhetorik‘ und ‚Neuer Rhetorik‘ spricht, wirft der Text der aristotelischen Rhetorik eine zweite und vielleicht noch grundlegendere Frage auf: Kann das in philosophischer Hinsicht vielleicht wichtigste Buch der klassischen Rhetoriktheorie überhaupt als ‚Persuasionstheorie‘ angesehen werden? Denn der für die spätere römische Schulrhetorik zweifellos wichtige lateinische Terminus ‚persuasio‘ kommt im griechischen Originaltext selbstverständlich noch gar nicht vor. Stattdessen spielt bei der aristotelischen Definition der Rhetorik der Terminus ‚pithanon‘, d. h. das ‚Glaubenerweckende‘, eine zentrale Rolle. In der Absicht, das heuristische Potential des Pithanon für die fundamentalrhetorische Anthropologie auszuloten, werde ich deshalb im Folgenden versuchen, die Rhetorik des Aristoteles einmal konsequent als ‚Pithanologie‘11 zu lesen.
2 Rhetorik als Pithanologie Im zweiten Kapitel des ersten Buches definiert Aristoteles die Rhetorik bekanntlich als ‚das Vermögen, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubhafte (πιθανόν) zu sehen‘12. Fast jeder Terminus dieser Aristotelischen Definition der Rhetorik hat bis in die jüngste Gegenwart hinein zum Teil kontroverse Interpretationen erfahren.13 Der Begriff des Glaubhaften, das ‚Pithanon‘ selbst, wurde
|| 11 Mit dem Ausdruck ‚Pithanologie‘ versuche ich einen Terminus wiedereinzuführen, der im 19. Jahrhundert als das gr. Äquivalent für dt. ‚Überzeugungslehre‘ verstanden worden ist (Jakob Heinrich Kaltschmidt, Kurzgefasstes vollständiges stamm- und sinnverwandschaftliches Gesammt-Wörterbuch der Deutschen Sprache, Leipzig 1834, 693). 12 Aristoteles, Ars rhetorica, hg. v. W. David Ross, Oxford 51975, 1355b. 13 Vgl. den Stellenkommentar von Christoph Rapp (Aristoteles. Rhetorik, 2. Hbd., Berlin 2002, l34 ff.). Zu der ursprünglich von Martin Heidegger ausgehenden aktuellen dynamis-Debatte (Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie [= GA 18], Frankfurt a. M. 2002), die von der Frage bewegt wird, ob Aristoteles die ‚Rhetorik‘ eher als eine dynamis, d. h. im fundamentalrhetorischen Sinn als allgemeinmenschliches Redevermögen oder als techne, d. h. im kunstrhetorischen Sinne als methodische Kunstlehre oder artifiziell ausgebildete Kompetenz versteht, siehe die Beiträge von Josef Kopperschmidt, Roman Dilcher, Heinrich Niehues-Pröbsting, Franz-Hu-
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allerdings bisher weitgehend unberücksichtigt gelassen. Dabei bezeichnet das ‚Pithanon‘, lat. ‚quod fidem facit, credibile‘, dt. das ‚Glaubhafte oder Vertrauenserweckende‘, die spezifische Differenz der Rhetorik zu allen anderen Künsten, einschließlich der hinsichtlich ihres Gegenstandsbereiches ebenfalls universalen Dialektik (Topik). Das Pithanon bildet somit das eigentliche Definiens der Aristotelischen Rhetorikdefinition. Damit lässt sich zunächst in einem ersten Vorgriff festhalten, dass Aristoteles die Rhetorik in einem noch näher zu bestimmenden Sinne als ‚Pithanologie‘ versteht. Mit diesem definitorischen Verweis auf die Erkenntnis des Pithanon weist Aristoteles zunächst das rhetorikrepugnante Argument aus Platons Gorgias zurück, dass die Rhetorik keinen eigenen Wissensbereich besäße und deshalb lediglich ein blinder ‚Kunstgriff der Überredung‘ sei. Die Macht und das Vermögen (δύναμις) des Rhetorischen reduziert sich gerade nicht auf das bloße Gespür für die zufällige Erzeugung von Publikumswirksamkeit, sondern gründet in einem bestimmten Wissen um die diversen Aspekte des Glaubenerweckenden bei jedem beliebigen Redegegenstand. Indem Aristoteles derart den eigenen Wissenscharakter des Rhetorischen hervorhebt, eröffnet er der Rhetorik den epistemologischen Status einer Kunst (τέχνη), die sich aus einem allseitigen Wissen um das Pithanon speist. Hinblickend auf das Pithanon bildet die Erzeugung von interpersonal verbindlicher Credibilität die eigentliche Absicht der Rhetorik. Von daher wird verständlich, dass die rhetorische Argumentation neben der reinen Sachdarstellung auch die interpersonale Redner-Hörer-Relation berücksichtigt. Dabei bilden die Zuhörer innerhalb der kommunikativen Redner-Sache-Hörer-Triade – wie Aristoteles eigens betont – das eigentliche Telos jeder rhetorischen Argumentation: „Aus dreierlei nämlich ist die Rede zusammengesetzt: aus einem Redner, dem Gegenstand, über den er redet, und jemandem, zu dem er redet; und das Ziel (des Redens) bezieht sich auf den letzteren, ich meine den Hörer.“14 Das vom Orator intendierte Argumentationsziel besteht somit – anders als in der rein szientifischen Argumentation – nicht in einem bloßen propositional fixierbaren Wissen, sondern in einem rhetorischen Glauben (πίστις) des Auditors. Gegenüber einer bloß pathozentrischen Rhetorikkonzeption, wie sie z. B. der Sophist Gorgias vertritt, hält Aristoteles zwar daran fest, dass die ebenso von der
|| bert Robling, Panagiotis Thanassas und Temilo van Zantwijk in: Heidegger über Rhetorik, hg. v. Josef Kopperschmidt, München 2009. 14 Vgl. Aristoteles. Rhetorik, übersetzt und erläutert v. Christoph Rapp. 1. Hbd., Berlin 2002, 1357b f.
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Topik verwaltete propositionale Sachdarstellung auch eine notwendige Bedingung von rhetorisch erzeugter Credibilität sei. Auch aus der pithanologischen Perspektive erweist sich die Sachargumention als unverzichtbare conditio sine qua non. So stellt Aristoteles eigens heraus, dass wir dann am meisten glauben, wenn wir annehmen, dass etwas sachlich bewiesen sei.15 Daher sei der verkürzte Syllogismus, d. h. das Enthymem, ein geradezu ‚königliches‘ Mittel zur Erzeugung von Glaubhaftigkeit. Auf der anderen Seite hebt die aristotelische Rhetorik trotz dieser ihr eigenen Rationalisierungstendenz hervor, dass die bloße Sachargumentation für Genese rhetorischer Credibilität keineswegs hinreichend sei, sondern dass auch das Ethos des Redners und das Pathos der Hörer zu berücksichtigen seien. Demgemäß lassen sich drei Quellen zur Erzeugung rhetorischer Credibilität unterscheiden. So gibt es nach Aristoteles drei grundlegende Beglaubigungsquellen der Rede: erstens der Charakter des Redners (ἦθος), zweitens die Stimmung (πάθος) der Hörer und schließlich drittens die Rede (λόγος) selbst.16 Die von Aristoteles hier vorgebrachte klassische Trias der Beglaubigungsgründe verbindet die sachaufweisende Rede (Logos) mit den beiden interpersonalen Aspekten des Erscheinungsbildes des Redners (Ethos) und der Stimmung der Zuhörer (Pathos). Diese vielzitierte Ethos-Logos-Pathos-Trias bildet das Herzstück einer spezifisch rhetorischen Argumentationstheorie, die gegenüber der Logik oder Dialektik (Topik) ein erweitertes Arsenal von ethologischen und pathelogischen Beglaubigungsgründen vorsieht, deren Berechtigung sich allerdings erst aus der bereits angedeuteten pithanologischen Perspektive erklärt. Ginge es in der Rhetorik – auch wie in der rein szientifischen Argumentation – allein um die Wahrheit (verum) im Sinne propositionaler Urteilswahrheit, käme eine ernsthafte Berücksichtigung von Ethos oder gar Pathos als Argumentationsgrund selbstverständlich nicht infrage. Im Gegenteil, die Exklusion von Ethos und Pathos ermöglicht geradezu die Ausdifferenzierung spezifisch wissenschaftlicher Rede aus den allgemeinen Möglichkeiten menschlichen Redenkönnens. Aus der Sicht einer allein dem verum verpflichteten spezifisch szientifischen Argumentationstheorie erscheint die rhetorische Inklusion von vermeintlich ‚irrationalen‘ Faktoren wie Ethos und Pathos als geradezu absurd. Dagegen weist die pithanologische Rhetorikdefinition des Aristoteles darauf hin, dass die Rhetorik im Unterschied zur wissenschaftlichen Argumentation einen anderen Zweck verfolgt, ein anderes
|| 15 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1355a. 16 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1356a.
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argumentatives Geschäft betreibt und gar nicht mit ihr auf demselben Feld konkurriert. Die Rhetorik ist nämlich gar nicht wie die Logik und Dialektik in erster Linie dem verum oder in abgeschwächter Form der verisimilitudo verpflichtet, sondern dem pithanon oder dem credibile. Zwar spielt auch die Dimension der sachlichen Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit in der topischen Sachargumentation in der Rhetorik die Rolle einer notwendigen pithanologischen Bedingung. Hinsichtlich ihres eigentlichen pithanologischen Telos, d. h. der Erzeugung interpersonal verbindlicher Glaubhaftigkeit und Zustimmungsfähigkeit, erweist sich das Organon der Logik und Topik aber als unzureichend und muss daher um die Klasse der ethologischen und pathelogischen Beglaubigungsgründe ergänzt und erweitert werden. Demgemäß gliedert sich die Pithanologie, die das systematische Herzstück der aristotelischen Rhetorik bildet, in die Triade der sachaufweisenden Pragmatologie, der rednerbezogenen Ethologie und der hörerbezogenen Pathelogie.
2.1 Pragmatologie Der pragmatologische Teil der Pithanologie behandelt dasjenige Moment der Glaubhaftigkeit, das dem Logos als ‚artikulierter Rede‘17 allein für sich und damit analytisch herausgelöst aus seiner ursprünglichen interpersonalen Redner-Hörer-Einbettung entspringt. Dabei beruht die glaubenserweckende Energie, die allen Modi artikulierter Rede per se innewohnt, in ihrer deiktischen Grundkraft der ‚Zeigung‘ (διὰ τοῦ δεικνύναι),18 die die zur Rede stehende Sache in ihrer Sachlichkeit allererst ‚zu Gesicht bringt‘19. Ihre pithanologische Optimalform erreicht diese allgemeine deiktische Energie der Rede nach Aristoteles allerdings erst im speziellen Modus der syllogistischen Redeweise. Diese stellt nämlich als ‚Aufzeigung‘ (ἀπόδειξις)20 die Bestform sachargumentativer ‚Zeigung‘ dar und bildet somit den eigentlichen ‚Beweis‘ im Sinne der Aristotelischen Argumentationstheorie und der an sie anschließenden schulrhetorischen Argumentatio-Lehre. So betont Aristoteles ausdrücklich, dass der Beweis in der enthymematischen Form des verkürzten Syllogismus geradezu das ‚königlichste der Beglaubigungsmittel‘21 sei. Es ist vor allem diese von Aristoteles präsupponierte pithanologische || 17 Temilo van Zantwijk, „Logos bei Heidegger und Aristoteles“, in: Heidegger über Rhetorik, hg. v. Josef Kopperschmidt, München 2009, 273–299. 18 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1356a. 19 Vgl. Martin Heidegger, Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie, GA 18, 131. 20 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1355a. 21 Aristoteles, Rhetorik (Anm. 14), 1355a.
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Primordialität der syllogistischen Redeweise in der verkürzten Form des Enthymems, welche die Aristotelische Rhetorik in die Nähe der ebenfalls syllogistisch fokussierten Logik und Dialektik (Topik) rücken lässt.22 Ferner erweist sich auch das endoxale Anknüpfungsprinzip, welches die Rhetorik als ‚korrespondierendes Gegenstück‘ zur Dialektik mit dieser teilt, als pithanologisch begründet. Ausgehend von der bereits allgemein anerkannten Meinung versucht auch die rhetorische Argumentation jeweils die von ihr vertretene ‚Sache‘ zu beglaubigen. Sie knüpft damit an das topische Glaubensreservoir ihrer jeweiligen geschichtlichen Lebenswelt an, um, ausgehend vom bereits allgemein Geglaubten und Geltenden, dem von ihr vertretenen jeweiligen ‚Pragma‘ Geltung und Zustimmung zu verschaffen. Dabei bezieht sich nach Aristoteles die rhetorische Sachargumentation auf insgesamt drei Arten allgemeiner sacherschließender und beweisdienlicher Gesichtspunkte (Topoi). Dazu gehören erstens die speziellen, zweitens die generellen und drittens jene Gesichtspunkte von höchstem argumentativen Allgemeinheitsgrad, die ich die ‚universellen‘ Topoi der Rhetorik nennen möchte. Zunächst unterscheidet Aristoteles zwischen den generellen und den speziellen Topoi. Die speziellen Topoi beziehen sich jeweils auf ein beschränktes Fachund Gegenstandsgebiet, wie z. B. das der Physik. Sie enthalten die allgemeinen Voraussetzungen, aus denen sich rhetorische oder dialektische Schlüsse innerhalb eines bestimmten Fachgebietes ziehen lassen. Dagegen ist das Anwendungsgebiet der generellen Topoi nicht auf bestimmte Fachgebiete limitiert, sondern kann sich auf alle möglichen Gegenstände beziehen. Als allgemeine Argumentationsgesichtspunkte lassen sie sich, wie Aristoteles betont, sowohl auf das Recht, die Natur, die Politik und als auch auf vieles andere beziehen.23 In der aristotelischen Lehre von den generellen Topoi wird die spätere schulrhetorische Lehre von den loci communes und den sedes argumentorum vorgebildet. Zu den generellen Topoi, die Aristoteles im zweiten Buch seiner Rhetorik nennt, gehören z. B. der Topos aus dem Gegensätzlichen, der Topos aus den gleichen Fällen, der Topos aus der Definition oder der Topos aus der Analogie der Verhältnisse.24 Auch die generellen Topoi der aristotelischen Rhetorik besitzen nicht nur einen argumentationstheoretischen, sondern auch einen ontologischen und || 22 Diese pithanologische Privilegierung des deduktiv argumentierenden Enthymems, assistiert von der rhetorischen Induktion durch das Beispiel, lässt andere von Aristoteles durchaus thematisierte glaubenserweckende stilistische Momente des Logos, wie z. B. die ästhetische Attraktivität der Lexis oder die durchaus erkenntnishaltige Figuralität der Similaritätsmetapher, in den Hintergrund treten. 23 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1358a. 24 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1397a ff.
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anthropologischen Sinn. Es ist nämlich aus philosophischer Sicht erst einmal nicht selbstverständlich, dass die sublunare, politische Werdewelt des Menschen per se nicht als ein unaussprechliches, irrationales Chaos, sondern als ein in Rede fassbarer Kosmos des Definiblen, des in Teil und Ganzes Strukturierbaren und als ein durch Analogie Verbundenes erscheinen kann. Die generellen Topoi bilden demnach die allgemeinen heuristischen Gesichtspunkte, welche fallweise in allen möglichen Fachgebieten die methodische Auffindung von überzeugenden Sachargumenten ermöglichen. Sie erlauben so auf methodische und kunstvolle Weise die sonst dem Zufall überlassene schwierige und gefahrvolle Navigation persuasiver Rede inmitten der veränderbaren politischen Lebenswelt und ihres öffentlichen Meinungsstreites. Neben den speziellen und generellen Topoi hebt Aristoteles in seiner rhetorischen Topologie noch eine dritte, universelle Topoi-Klasse von höchstem argumentativen Allgemeinheitsgrad hervor. Diese dritte Klasse enthält zwei universelle Topoi, welche ubiquitär in allen Beratungs- und Gerichtsreden Anwendung finden. Gemeint ist erstens der Topos der Potentialität. „Alle müssen nämlich in den Reden das gebrauchen, was mit dem Möglichen und Unmöglichen zu tun hat, und zwar müssen die einen zu zeigen versuchen, dass etwas sein wird, die anderen, dass etwas gewesen ist.“25 Der andere universelle rhetorische Topos ist der der Größe und Kleinheit bzw. des Mehr und Minder, der die rhetorische Amplifikation und damit die perspektivische ‚Vergrößerung‘ oder ‚Verkleinerung‘ der Dinge ermöglicht. „Auch das, was die Größe angeht, ist allen Reden gemeinsam; alle nämlich gebrauchen das Verringern und Steigern sowohl, wenn sie beraten (oder abraten), wenn sie loben oder tadeln, als auch, wenn sie anklagen oder verteidigen.“26 Diese beiden universellen Topoi charakterisieren überdies den spezifisch lebensweltlichen Charakter rhetorischer Argumentation. Die Potentialität bringt dabei die Seinsverfassung der menschlichen Lebenswelt als einer Werdewelt, d. h. einer sich verändernden Welt des Anderssein, -sehen und -redenkönnens, zum Ausdruck. Der Amplifikationstopos der Größe und Kleinheit lässt die Lebenswelt auch als veränderbare Wertewelt erscheinen, die jederzeit in der Möglichkeit eines Anders-Einschätzen- und Anders-Umwerten-Könnens steht. Insgesamt umreißt die Topologie des Aristoteles mit ihrer Dreifachheit der speziellen, generellen und universellen Topoi die Seinsverfassung der geschichtlichen Lebenswelt. Damit umreißt sie den dreistufigen heuristischen Horizont für die
|| 25 Aristoteles, Rhetorik (Anm. 14), 1391b. 26 Aristoteles, Rhetorik (Anm. 14), 1393a f.
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methodische Invention überzeugender Sachargumentation inmitten einer sich verändernden Werde- und Wertewelt des Menschen. Der interpersonale Teil der Pithanologie gliedert sich ferner in die Pathelogie einerseits und die Ethologie andererseits. Mit der Pathelogie, d. h. der Lehre von den Stimmungen und Affekten, in die die Zuhörer versetzt werden können, erobert Aristoteles die Domäne der sophistischen Rhetoriktheorie. Wohl auch im Blick auf die Sophistik bemerkt Aristoteles, dass sich zeitgenössische Rhetoriktheoretiker ausschließlich mit diesem Pathos-Aspekt rhetorischer Beglaubigung beschäftigen würden.27 Es spricht für die empirische Wahrnehmungskraft des Aristoteles, dass er, obwohl er selbst die Rhetorik in der Nähe der Dialektik verortet und zunächst die sachlogische Beweiskraft der syllogistischen Rede favorisiert, das Thema der Stimmungen nicht ignoriert oder nur peripher streift, sondern in seiner Rhetorik ausführlich behandelt. Die Beobachtung, von der Aristoteles ausgeht, ist, dass wir unser Urteil nicht in gleicher Weise abgeben, wenn wir traurig bzw. freudig sind oder wenn wir lieben bzw. hassen.28 Offensichtlich entscheidet über die Überzeugungskraft des rhetorischen Logos nicht nur seine sachlogische Beweiskraft, sondern auch seine Fähigkeit, die Hörer in eine bestimmte emotionale Verfassung zu versetzen. „Denn die Dinge scheinen für diejenigen, die lieben, und für diejenigen, die hassen, nicht dieselben zu sein, auch nicht für die, die zürnen, und die, die sich sanftmütig verhalten […]: Dem Liebenden nämlich erscheint die Person, über die er das Urteil fällt, entweder gar kein oder nur ein geringfügiges Unrecht begangen zu haben, dem Hassenden jedoch erscheint das Gegenteil der Fall“29 zu sein. Aristoteles macht hier darauf aufmerksam, dass in der menschlichen Lebenswelt das Sein der Dinge und der Anderen niemals unmittelbar, sondern immer mehr oder weniger durch das eigene Gestimmtsein der Menschen hindurch wahrgenommen werden kann. Dabei ist die ‚Färbung‘ der Stimmung oft ausschlaggebend für diejenige Ansicht, in der das betreffende Seiende für das urteilende Publikum erscheint. Aufgabe der persuasiven Rede ist deshalb nicht nur die Darstellung des Sachverhaltes, sondern auch die Gestaltung und Formung der psychischen Verfassung der Hörer. In seiner Pathelogie geht Aristoteles deshalb speziell auf persuasionsrelevante Stimmungen wie den Zorn, die Sanftmut, die Liebe, den Hass, die Furcht, den Mut, die Scham, die Freundlichkeit, das Mitleid, den gerechten Un-
|| 27 Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1356a. 28 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1356a. 29 Aristoteles, Rhetorik (Anm. 14), 1377b f.
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willen, den Neid und den Ehrgeiz ein.30 Allgemein definiert Aristoteles Stimmungen als „die Dinge, durch welche sich (die Menschen), indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgen, wie zum Beispiel Zorn, Mitleid, Furcht und was es sonst noch Derartiges gibt sowie die Gegenteile von diesen“31. Die Stimmungen erklären demnach, warum die Menschen bei gleicher Sachdarstellung doch zu ungleichen Urteilen kommen. Einen Hinweis auf die anthropologische Ursache dieser Wechselhaftigkeit im Urteil gibt die Beobachtung, dass die unterschiedlichen Stimmungen jeweils mit Lust- oder Unlustempfinden begleitet sind. Auch als Redender oder Hörender ist der Mensch trotz aller LogosBestimmtheit dennoch auch ein Lebewesen, das wie alles Lebendige in seinem Erleben dem Wechsel von Lust und Unlust ausgesetzt ist. Der gelungene oder gehemmte Akt seines Lebensvollzuges wird ihm präreflexiv durch seine jeweilige Stimmung vergegenwärtigt. Je nach Gelingen oder Misslingen seiner Entelechie und Selbstverwirklichung ist ihm sein Leben in der Form stimmungshafter Vollzugslust (ἡδονή) oder Verhinderungsschmerz (λύπη) präsent. So bekundet sich im Pathos die spezifische Lebewesenhaftigkeit des Menschen als eines Redelebewesens. Allerdings ist das Pathos, wie es die Rhetorik Aristoteles’ definiert, kein individuell isolierbares inneres Gefühl, sondern das redeerzeugte Gestimmtsein des Menschen als ‚politisches Lebewesen‘, das im interpersonalen Zusammenhang seines Gemeinwesens existiert. Die Pathelogie des Aristoteles erklärt deshalb die Entstehung von Stimmungen nicht individualpsychologisch aus dem subjektiven Inneren, sondern vielmehr gesellschaftlich durch typische stimmungserzeugende äußere Konstellationen von Personen, Handlungen und Umständen. Diese allgemeine Konstitutionsanalyse der aristotelischen Pathelogie analysiert dabei jede stimmungserzeugende Konstellation in Hinsicht auf drei Momente: erstens die spezifische Disposition des von einer Stimmung Betroffenen selbst, zweitens der stimmungsauslösende interpersonale Gegenpart und drittens die Umstände, angesichts derer er in eine bestimmte Stimmung gerät. So ist z. B. beim Zorn zu unterscheiden, in welcher Verfassung sich der Zornige befindet, gegenüber wem er üblicherweise zürnt und über welche Dinge er sich erzürnt.32 || 30 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1377a ff. Zur puralistischen Pathelogie des Aristoteles vgl. meine Überlegungen in „Empfindenkönnen. Fundamentalrhetorische Pathelogie im Ausgang von Heidegger und Aristoteles“, in: „Und es trieb die Rede mich an …“ Festschrift zum 65. Geburtstag von Gert Ueding, hg. v. Joachim Knape/Olaf Kramer/Peter Weit, Tübingen 2008, 287– 312. 31 Aristoteles, Rhetorik (Anm. 14), 1378a. 32 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1378a.
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Die Rhetorik des Aristoteles überlässt das Gestimmtsein der Hörer damit nicht dem Zufall, sondern macht es zum Gegenstand methodischer rednerischer Kunstfertigkeit. Dabei kommt ihr entgegen, dass die Stimmungen als psychische Phänomene nicht an das äußere empirische Vorliegen der für sie typischen genetischen Konstellation gebunden sind, sondern sich ebenso gut und manchmal sogar besser im Element redegelenkter Imagination erzeugen lassen. Der Zorn ist z.B., wie Aristoteles bemerkt, von einem gewissen Lustgefühl begleitet, das aus der Hoffnung, sich rächen zu können, entsteht. Dabei ist es schon angenehm, sich lediglich vorzustellen, man werde sich rächen: Die dabei entstehende Phantasie (φαντασία) flöße eine ähnliche Lust ein wie bei den Träumen.33 Vermittels dieser ihm eigenen Potenz imaginativer Bilderzeugung vermag der rhetorische Logos nicht nur allein bereits im Ansatz vorhandene Stimmungen zu vertiefen, sondern die Hörer auch in jede beliebige Stimmung zu versetzen oder umzuversetzen. So kann der Redende seine Hörer absichtlich in Zorn versetzen, indem er ihnen detailliert und eindringlich die Kränkung vor Augen führt, die ihm von bestimmten Menschen in der Vergangenheit zugefügt worden sind. Aus dem Schmerz über die Kränkungen wird in ihnen ein Trachten nach Rache entstehen, bei der sie dann, diese in Gedanken vorwegnehmend, lustvoll verweilen werden. Anthropologisch gesehen greift somit die rhetorische Pathelogie die stimmungserzeugende Kraft redegelenkter Imagination des Menschen auf, wie sie sich bereits in der kunstlosen Rede der Lebenswelt findet. Darüber hinausgehend ermöglicht wiederum ihr analytischer Zugriff die Potenzierung einer Alltagspraxis zu einer methodisierten Technik rhetorischer Stimmungserzeugung. Durch die theoretische Erfassung der für die öffentliche Persuasion bedeutsamen Stimmungen und der Regeln ihrer redetechnischen Erzeugung gelingt Aristoteles damit auch die Rationalisierung dieses scheinbar unbeherrschbar irrationalen Feldes der menschlichen Emotionen.
2.2 Ethologie Unter Ethos oder dem Charakter des Redenden versteht Aristoteles nicht die innere moralische Qualität, sondern das öffentlich sichtbare sittliche Erscheinungsbild der Rednerpersönlichkeit, insofern dieses nicht der Rede vorausgeht, sondern in und durch sie selbst erzeugt wird. Rhetorikrelevant erweist sich in Hinsicht auf das Ethos nicht sein faktischer und inartifiziell feststehender, sondern sein genetischer und technisch erzeugbarer Anteil. Für die Aufnahme des
|| 33 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1378b.
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Ethos in den Kreis der drei großen Überzeugungsgründe gibt Aristoteles folgende, aus empirischer Beobachtung resultierende pithanologische Erklärung: „Denn wir glauben den Tugendhaften in höherem Maße und schneller – und zwar im Allgemeinen bei jeder Sache, vollends aber bei solchen Fällen, in denen es nichts Genaues, sondern geteilte Meinung gibt.“34 In den Angelegenheiten der politischen Lebenswelt, in denen es keine absolute Gewissheit geben kann, wirkt sich somit der öffentliche Charakter des Redners mitentscheidend auf seine Glaubhaftigkeit aus. Nach Aristoteles stellt das Ethos ferner kein irrationales Faktum oder unergründliches Charisma dar, sondern erklärt sich aus der Hörerperspektive aus drei Beurteilungsgesichtspunkten. Im Allgemeinen gilt ein Redner glaubwürdig, wenn die Hörer meinen, dass er Einsicht (φρόνησις), Tugend (ἀρετή) und Wohlwollen (εὔνοια) besitzt.35 Generiert sich das Pathos aus der unmittelbaren stimmungshaften Selbstverortung des Hörers in der situativen Lebenswelt, so entsteht das Rednerethos aus der Fremdwahrnehmung und -einschätzung des Redenden vonseiten der Hörer. Diese blicken ihn während der Rede erstens ständig daraufhin an, ob er überhaupt etwas von der Sache versteht, über die er redet und über die er Rat erteilen will. Wenn die Rede ihn als einsichtsvoll erscheinen lässt, schließt sich zweitens die Frage an, ob der Redner auch tugendhaft und aufrichtig ist und auch das sagt, was er wirklich meint. Schließlich fragt sich das Publikum drittens, ob der Redende so wohlwollend ist, dass er nichts Wesentliches zurückhält und seinen Zuhörern wirklich das Beste sagt und rät. Somit besitzt der Charakter des Redners insgesamt Glaubwürdigkeit, wenn er seine Sache versteht, aufrichtig ist und sich vollständig im Sinne der Hörerinteressen mitteilt. Die relative Kürze dieser Redner-Ethologie im Text der aristotelischen Rhetorik erlaubt allerdings keinen unmittelbaren Schluss auf ihr minderes pithanologisches Gewicht. Im Gegenteil, das Ethos ist, wie Aristoteles betont, keineswegs ein gegenüber dem Pragma und dem Pathos zweitrangiger Überzeugungsgrund. Ausdrücklich werden diejenigen Rhetoriktheoretiker getadelt, die glauben, dass der Charakter des Redners nichts zu seiner Glaubwürdigkeit beitrage. Vielmehr geht Aristoteles’ pithanologische Hochschätzung der Rednerpersönlichkeit im zweiten Kapitel des ersten Buches seiner Rhetorik sogar so weit, dass er seiner eigenen, im ersten Kapitel getroffenen Feststellung, dass das Enthymem das Bedeutendste unter den Überzeugungsmitteln sei, zu widersprechen scheint. So finden wir im zweiten Kapitel die überraschende Bemerkung, dass nicht der
|| 34 Aristoteles, Rhetorik (Anm. 14), 1356a. 35 Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1378a.
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enthymematische Logos, sondern das Ethos das sozusagen ‚königlichste‘ Beglaubigungsmittel darstelle.36 Aufs Ganze gesehen bezeugt sich auch in der Pithanologie des Aristoteles die Tendenz zur Rationalisierung des Rhetorischen, welche versucht, auch die scheinbar unvordenkliche und erstaunliche Macht der Peitho theoretisch durchschaubar und technisch verfügbar zu machen. Dabei stellt gerade die Pithanologie des Aristoteles zweifellos eine neue produktive Stufe der Selbstreflexion des rhetorischen Geistes dar. Sie macht die Genesis rednerischer Überzeugung durch die Trias der Überzeugungsgründe, d. h. Logos, Pathos und Ethos, im vollen Umfang theoretisch zugänglich. Durch diese dreidimensionale Pithanologie grenzt sich die Rhetorik von allen wissenschaftlichen Formen des Diskurses ab und sichert sich ein eigenes Gebiet, in deren Mittelpunkt der rhetorische Glaube steht, der die Lebenswelt des Menschen konstituiert. Mit seiner Pathelogie gibt er zugleich der Domäne der sophistischen Rhetorik, der Lehre von den Stimmungen, eine neue wissenschaftliche und rational vertretbare Begründung. Aufs Ganze gesehen impliziert die pithanologische Anthropologie des Aristoteles ein „Verständnis des Menschen als Einheit von Sittlichkeit, Affektivität und Rationalität“37, das sich in der Trias der Überzeugungsgründe theoretisch widerspiegelt. Glaubhaftigkeit stellt damit die zentrale anthropologische Kategorie der menschlichen Lebenswelt dar. Der Mensch als politisches Redelebewesen erweist sich somit nicht primär als ein Wesen des Wissens, sondern als ein Wesen des rhetorischen Glaubens.
3 Rhetorik – Menschsein – Glaube Die spezifische Differenz von Alter Rhetorik und Neuer Rhetorik lässt sich, wie bereits oben gesagt, nicht durch die Distinktion zwischen dem Persuasions- und dem Identifikationsbegriff angemessen beschreiben, sondern – neben dem hö-
|| 36 Aristoteles, Ars rhetorica (Anm. 12), 1356a. Dieser Widerspruch muss nicht unbedingt als Indiz für die innere pithanologische Gespaltenheit des Aristoteles – in den logozentrischen Rationalisten einerseits und den ethozentrischen Empiristen und Phänomenologen andererseits – interpretiert werden. Vermutlich meinte aber Aristoteles, dass die syllogistische Rede zwar in der speziellen Hinsicht auf den Teilbereich der pithanologischen Pragmatologie, die den Logos per se betrachtet, den höchsten Rang einnimmt, aber in der generellen Hinsicht auf die Pithanologie insgesamt, die den Logos in den Kontext von Ethos und Pathos stellt, dagegen dem Ethos der Vorrang gebührt. 37 Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, Freiburg/München 1990, 55.
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heren Explikations- und Reflexionsniveau der modernen Rhetoriktheorie – vor allem durch ihre anthropologische Infinitisierungstendenz. Die fundamentalrhetorische Entdeckung der Ubiquität und Universalität des Rhetorischen in der menschlichen Lebenswelt erweitert heute die Perspektive der Rhetorikforschung weit über die von Aristoteles vorgesehenen drei klassischen Genera und Standardsituationen bewusster, artifizieller Rhetorik hinaus und bezieht alle Bereiche der unspektakulären und unbewussten Alltagsrhetorik in ihre Überlegungen mit ein. Zudem haben die modernen Studien zur Rhetoric of Science38 auch das von Aristoteles für die Logik und Dialektik (Topik) reservierte Feld der Wissenschaften für sich entdeckt. Aus dieser Infinitisierungstendenz wird verständlich, dass sich die moderne fundamentalrhetorische Anthropologie heute auf alle Felder menschlicher Kultur bezieht und den Menschen generell als homo rhetoricus oder animal rhetoricum beschreibt. Im Zuge dieser modernen fundamentalrhetorischen Infinitisierungstendenz zeichnet sich konsequenterweise eine neue universalanthropologische Bedeutung der einst von Aristoteles entdeckten, aber auf die öffentlich-politische Sphäre beschränkten Pithanologie ab, die heute auf alle Bereiche der menschlichen Kultur einschließlich der Wissenschaften angewandt werden kann. Ausgehend von der Pithanologie des Aristoteles lässt sich somit die eingangs vertretene These vom explikativen Verhältnis von ‚Alter Rhetorik‘ und ‚Neuer Rhetorik‘, d. h. von antiker Persuasions- und moderner Identifikationstheorie durch folgenden Zusammenhang der drei zentralen Termini ‚Persuasio‘, ‚Identifikation‘ und ‚Pithanon‘ weiter erläutern. Diese drei Kategorien stehen nicht in einem sich ausschließenden, sondern sich ergänzenden Verhältnis und betonen jeweils andere Aspekte einer in Zukunft noch zu präzisierenden fundamentalrhetorischen Überzeugungslehre. Der ältere, wirkungsrhetorische Ausdruck ‚Persuasio‘ hat dabei vor allem einen vom Orator ausgehenden teleologischen Prozess der Überzeugung im Blick. Von daher ist es nicht zufällig, dass sich die oratorzentrierte römische Rhetorik und die sich an sie anschließende Tradition der Kunstrhetorik (ars rhetorica) vornehmlich als Persuasionstheorie (ars persuadendi) verstehen. Der neuere Identifikationsbegriff der New Rhetoric beinhaltet dagegen einen Perspektivwechsel von der oratorzentrierten Wirkungsrhetorik zu einer modernen auditorzentrierten Rezeptionsrhetorik, die sich auf die identifikatorischen Akte oft unbewusster und reziproker persuasiver Prozesse z. B. in der modernen Massendemokratie des 20. Jahrhunderts fokussiert.
|| 38 Vgl. stellvertretend: Alan G. Gross, The Rhetoric of Science, Cambridge/London 1990; Richard Nate, „Rhetorik und Naturphilosophie. Aspekte einer Beziehung“, in: Rhetorik (18) 1999, 77– 93.
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Schließlich scheint mir die neue pithanologische Perspektive, welche den Menschen als ein Wesen rhetorisch erzeugten Glaubens beschreibt, mit den oratorzentrierten Persuasionsaspekten und den auditorzentrierten Identifikationsaspekten durchaus kompatibel: Persuasion gründet in Credibilität und zielt jeweils auf einen rhetorisch erzeugten Glauben, der wiederum in Akten (inter-)subjektiver Identifikation besteht. Die pithanologische Kategorie der Credibilität wird somit zu einem Grundbegriff fundamentalrhetorischer Anthropologie, durch den sich die neue Begriffslinie von Rhetorik – Menschsein – Glaube ziehen lässt. Die hier vertretene pithanologische Grundthese, dass der Mensch als Homo rhetoricus in allen Bereichen seiner symbolisch konstituierten Kultur ein Wesen des rhetorisch erzeugten Glaubens sei, widerspricht zweifellos der gewohnten Begriffslinie Logik – Menschsein – Wissen, welche der klassische Topos vom Menschen als Vernunftwesen (animal rationale) vorzeichnet. ‚Glaube‘ im Sinn der fundamentalrhetorischen Anthropologie meint so viel wie ein Für-wahr- oder Für-wert-halten, das auf rhetorisch induzierten Akten (inter-)subjektiver Identifikation beruht. Dieser Akt der Identifikation lässt sich wiederum als Akt der (inter-)subjektiven Annahme und Zustimmung (assentio) erläutern, in denen sowohl die propositionalen als auch die nichtpropositionalen Einstellungen von Personen oder Personengemeinschaften gründen, die wir ‚Überzeugungen‘ nennen können. Propositionale Einstellungen und Überzeugungen lassen sich in der Form ‚ich (wir) glaube(n), dass p‘, z. B. ‚ich glaube, dass Gott existiert‘, darstellen; nichtpropositionale Überzeugungen dagegen in der Form ‚ich (wir) glaube(n) an x‘. Die Variable x kann sich dabei sowohl auf Personen, z. B. ‚ich glaube an Jesus Christus‘, als auch auf Sachen, z. B. ‚ich (wir) glaube(n) an die Freiheit‘, beziehen. Die rhetorische Induktion von Identifikation lässt sich wiederum durch den erweiterten, dreidimensionalen pithanologischen Argumentationsbegriff beschreiben, der, ausgehend vom Prinzip der Credibilität, alle drei Dimensionen der pragmatologischen, pathelogischen und ethologischen Beglaubigung umfasst. Demgemäß werden die vielfältigen Formen des rhetorisch erzeugten Glaubens und der durch ihn getragenen propositionalen und nichtpropositionalen Überzeugungen – ganz unabhängig von ihren potenziell unbegrenzten Inhalten – für die rhetorische Kritik analytisch zugänglich. Sie lassen sich durch jene Typen der Beglaubigung beschreiben, die sich jeweils durch ihre unterschiedliche Kombination von pragmatologischen, pathelogischen und ethologischen Argumentationsanteilen charakterisieren lassen. Von daher ergibt sich aus pithanologischer Perspektive das rhetorisch-analytische Programm einer Phänomenologie und Typologie der menschlichen Glaubensformen.
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Durch diesen pithanologisch erweiterten anthropologischen Argumentationsbegriff werden auch die nichtpropositionalen Einstellungen, welche die ethischen, politischen und religiösen Grundüberzeugungen von geschichtlich konkurrierenden (inter-)personalen Überzeugungsuniversen darstellen, analytisch zugänglich. Gerade diese stützen sich auf ein nicht mehr rein rational begründbares Für-wert-halten, sondern vielmehr auf eine zwar nichtpropositionale, aber ethologisch und pathelogisch erklärbare Form des Glaubens. Gerade diese nichtpropositionalen, affektiv auf geladenen Glaubenshaltungen – einschließlich des europäischen Glaubens an die ‚Vernunft‘ –, bilden als religiöse und ethische Grundüberzeugungen geradezu die pithanologischen Axiome menschlicher Überzeugungsuniversen. Obwohl oft als ‚irrational‘ verurteilt, sind sie de facto menschheitsgeschichtlich und kulturanthropologisch von höchster Relevanz. Der pithanologische Argumentationsbegriff, der den pragmatologischen auch die patheologischen und ethologischen Beglaubigungsformen zur Seite stellt, zieht zweifellos eine Reihe gewohnter Distinktionen infrage, wie Überredung versus Überzeugung, persuasio versus convictio, Probabilität versus Plausibilität, Wahrheit (veritas) versus Wahrscheinlichkeit (verisimilitudo), rational versus irrational. Um Missverständnissen vorzubeugen sei gesagt: Die hier vorgeschlagene Pithanologie befasst sich im Rahmen der fundamentalrhetorischen Anthropologie nur mit den deskriptiven Problemen der rhetorischen Genesis menschlicher Glaubenseinstellungen und Überzeugungen, aber gerade nicht mit den normativen Problemen ihrer Geltung und Rechtfertigung. In diesem deskriptivanalytischen Sinn ist auch ihr erweiterter Argumentationsbegriff zu verstehen, der neben der logischen Sachargumentation auch die pathelogischen und ethologischen Formen rhetorischer Beglaubigung einbezieht, ohne allerdings damit über ihre Legitimität entscheiden zu wollen.
4 Ratio und Fides als unterschiedliche Sprachen des rhetorischen Glaubens Welche Konsequenzen diese neue pithanologische Perspektive für die Neuorganisation des Begriffsverhältnisses von Ratio und Fides und damit für das Selbstverständnis von Wissenschaft und Religion haben könnte, möchte ich abschließend kurz andeuten. Durch die fundamentalrhetorische Universalisierung des Glaubensbegriffes, die den Menschen als Homo rhetoricus generell als ein Wesen des rhetorischen Glaubens beschreibt, lässt sich aus anthropologischer Hinsicht auch das wissenschaftliche Wissen als eine Spezies des generellen rhetorischen
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Glaubens bestimmen. Diese Spielart des szientifischen Glaubens, welche die Rhetorik der Wissenschaften generiert, beruht auf einer methodischen Disziplinierung und Spezialisierung menschlichen Redenkönnens auf jenen Modus, den wir ‚rational‘ zu nennen pflegen und dessen Reglement durch das jeweils herrschende Paradigma der ‚Logik der Wissenschaften‘ vorgegeben wird. Aus pithanologischer Perspektive besteht dieses szientifische Redereglement in einer Restriktion von rhetorischen Beglaubigungsmitteln, die sich als wissenschaftlicher plain style auf den nichtfiguralen Teil argumentativer Sachdarstellung (Pragmatologie) beschränkt und den Rekurs auf Figuralität oder auf ethologische oder pathelogische Mittel zur Erzeugung von Credibilität streng auszuschließen versucht. In dieser streng geregelten Restriktion des eigenen Redehandelns, welche die persuasiven Einflüsse von Autorität und Stimmungen zu eliminieren versucht, besteht geradezu das ‚rationale‘ Ethos des Homo rhetoricus scientificus. Dagegen besitzt der Homo rhetoricus religiosus die freie Lizenz zum Gebrauch des schon von Aristoteles dargestellten vollen dreidimensionalen Spektrums rhetorisch-anthropologischer Argumentation, die neben der logisch-dialektischen Beglaubigung auch ethologische oder pathelogische Beglaubigungsformen zur Erzeugung des spezifisch religiösen Glaubens (fides) ausdrücklich einschließt.39 So gehört z. B. der ethologische Ego-autem-dico-Gestus40 oder die pathelogische Evokation von Hoffnung (spes) zum pithanologischen Repertoire religiöser Rede.41 So ergibt sich aus pithanologischer Sicht auch die Perspektive einer neuen Begriffsbestimmung des bis heute umstrittenen Verhältnisses von Ratio und Fides. Sowohl das ‚Wissen‘ der Wissenschaften als auch ‚der Glaube‘ der Religionen stellen sich als Spielarten rhetorisch erzeugten menschlichen Für-wahr-haltens und Glaubens heraus. Anthropologisch gesehen lassen sich beide aus dem auf Credibilität angelegten Redeprinzip (Logos) ableiten, das alle Bereiche seiner symbolisch konstituierten menschlichen Kultur beherrscht. Die spezifische Differenz von Ratio und Fides lässt sich ferner analytisch durch die ihnen jeweils eigenen Formen ihrer argumentativen Beglaubigung und das unterschiedliche Repertoire ihrer rhetorischen Beglaubigungsmittel beschreiben. Gegenüber der || 39 Zu den Lizenzen, die die religiöse Rede sowie die theologische Theoriesprache auszeichnet, gehört im Unterschied zum plain style der modernen Wissenschaften auch ihr innovativer Metapherngebrauch: vgl. Markus Buntfuß, Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache, Berlin/New York 1997. 40 Vgl. Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, 30. 41 Zur Evokation von Hoffnung (spes) als Aufgabe religiöser Rhetorik vgl. Peter L. Oesterreich, „‚Allein durchs Wort‘. Rhetorik und Rationalität bei Martin Luther“, in: Religion und Rationalität, hg. v. Renate Breuninger/Peter Welsen, Würzburg 2000, 31–50.
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streng restriktiven Pithanologie der Wissenschaften besitzt die der alltäglichen Lebenswelt näher stehende Pithanologie der Religionen die weitreichende Lizenz zur ethologischen und pathelogischen Argumentation, zur Narration und zur figurativen Rede. Sie schöpft somit, im Gegensatz zur restriktiven pragmatologischen Argumentation der Wissenschaft (science), das volle dreidimensionale Potential rhetorisch-anthropologischer Argumentation aus. Vielleicht lässt sich das traditionelle Konfliktverhältnis von Religion und Wissenschaft am Ende durch die pithanologische Einsicht entschärfen, dass Ratio und Fides lediglich verschiedene Sprachen des rhetorischen Glaubens sprechen.
Empfindenkönnen Fundamentalrhetorische Pathelogie im Ausgang von Heidegger und Aristoteles Zu den unschätzbaren Verdiensten, die das von Gert Ueding konzipierte und herausgegebene Historische Wörterbuch der Philosophie auszeichnet, gehört die große Aufmerksamkeit, die es dem innovativen Projekt der rhetorischen Anthropologie widmet.1 Allerdings fällt auf, dass innerhalb der sich bisher abzeichnenden, unterschiedlichen Positionen der neuen Homo-rhetoricus-Anthropologie noch ein Kapitel zur affektischen Verfasstheit des Menschen fehlt.2 Dabei haben doch gerade die Affekte seit der sophistischen Erfindung „einer sämtliche Lebensbereiche der polis umgreifenden rhetorischen Philosophie“3 im 5. Jahrhundert v. Chr. eine tragende Rolle gespielt. So betont z. B. Gorgias ausdrücklich ihren pathepoietischen Charakter, wenn er die performative Wirkungsmacht der Rede beschreibt: „vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren.“4 In der Moderne hat insbesondere Klaus Dockhorn darauf hingewiesen, dass gerade die Pathelogie zusammen mit der Ethologie, die „eigentliche Domäne“5 des rhetorischen Denkens darstellt. Die besondere theoretische Wertschätzung und Aufmerksamkeit der Rhetorik für das sogenannte ‚Irrationale‘, die Affektivität des Menschen, bilde geradezu ihr Proprium, das sie gegenüber der in der Regel traditionell affektfeindlichen Philosophie abgrenze und auszeichne. Wie Recht Dockhorn zumindest für die stoisch geprägte, rhetorikrepugnante, aber wirkungsgeschichtlich dominante Philosophietradition hat, zeigt schon ein kurzer Blick auf die Anthropologie Kants: „Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüths, weil beides die Herrschaft
|| 1 Vgl. Josef Kopperschmidt, Anthropologie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 2006, VI 1067–1074. 2 Vgl. Franz-Hubert Robling, Rhetorische Anthropologie, in: Gert Ueding (Hg.), Rhetorik. Begriff – Geschichte – Internationalität, Tübingen 2005, 307–310. 3 Gert Ueding, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Rhetorik. Begriff – Geschichte – Internationalität, Tübingen 2005, I. 4 Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, hg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989, 9. 5 Klaus Dockhorn, Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literaturund Geistesgeschichte, in: Ders., Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968, 49. https://doi.org/10.1515/9783110527667-006
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der Vernunft ausschließt.“6 Die antike stoische Pathologisierung der menschlichen Affektivität, die Kant hier krankheitsmetaphorisch aufgreift, verschärft sich noch durch das typisch neuzeitliche Verlangen nach radikaler Autonomie. Die Affektivität wird von Kant geradezu als heteronome Gegenmacht rationaler Selbstbestimmung gefürchtet, welche die Herrschaft der Vernunft im Menschen selbst permanent bedroht. Dabei tritt der verschließende, die menschliche Erkenntnisfähigkeit in Mitleidenschaft ziehende Charakter starker Gefühle in den Vordergrund, der die metaphysische und religiöse Kritik an den Affekten seit der Antike motiviert: „der Affect macht (mehr oder weniger) blind.“7 Den vielleicht radikalsten, modernen Versuch, diesen affektfeindlichen ‚Traditionsblock‘ zu sprengen und so einen neuen Zugang zur pathozentrischen Anthropologie der Rhetorik zu bahnen, finden wir dagegen in Martin Heideggers Phänomenologie der Stimmungen. Es war Heidegger, der aufgrund seiner Aristoteles-Lektüre eine philosophiegeschichtlich geradezu revolutionäre, existenzialontologische Wendung der Aristotelischen Pathelehre in Sein und Zeit vollzog, die den Weg zu der in der Gegenwart diskutierten Homo-rhetoricus-Anthropologie frei machte.
1 Heideggers pathelogische Theorierevolution Die aus fundamentalrhetorischer Perspektive bahnbrechende Rehabilitierung des Pathos-Themas in Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit (1927) geht auf die Interpretation der Aristotelischen Rhetorik zurück, deren Grundzüge Heidegger schon in seiner Vorlesung Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie vorgetragen hatte. In § 29. Das Dasein als Befindlichkeit begründet Heidegger noch einmal sein besonderes existenzialphilosophisches Interesse an der Rhetorik des Aristoteles. Demnach stellt die Pathelogie des zweiten Buches der Aristotelischen Rhetorik sowohl „die erste überlieferte, systematisch ausgeführte Interpretation der Affekte“8 als auch „die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“9 dar. Zudem urteilt Heidegger, „daß die grundsätzliche ontologische Interpretation des Affektiven überhaupt seit Aristoteles kaum einen nennenswerten Schritt vorwärts hat tun können“10.
|| 6 Immanuel Kant, AA, VII 251. 7 Immanuel Kant, AA, VII 251. 8 Martin Heidegger, GA 2, 184. 9 Martin Heidegger, GA 2, 184. 10 Martin Heidegger, GA 2, 185.
Heideggers pathelogische Theorierevolution | 85
Diese Betonung der singulären Sonderstellung der Rhetorik des Aristoteles für die existenziale Hermeneutik des menschlichen Daseins und Miteinanderseins, erklärt sich unter anderem aus Heideggers phänomenologischem Programm einer Destruktion der überlieferten Begrifflichkeit. In seinen Augen verstellt die nacharistotelische Tradition der Philosophie, Psychologie und Schulrhetorik auch im Falle der Affektivität des Menschen den von der Phänomenologie geforderten authentischen Zugang ‚zu den Sachen selbst‘. Was Heidegger an der traditionellen philosophischen und psychologischen Behandlung des Themas ‚Affekte‘ und ‚Gefühle‘ kritisiert, ist vor allem deren systematische Marginalisierung. So sinken z. B. in der philosophischen Psychologie die Gefühle neben den maßgeblichen Akten des Denkens und Wollens zu bloßen Begleitphänomenen des vorstellenden Subjektes herab. Dagegen verfolgt Heideggers entschiedenes ‚Zurück zu Aristoteles‘ einerseits das Programm einer Destruktion der nacharistotelischen Philosophie-, Rhetorik- und Psychologiegeschichte. Auf der anderen Seite vertritt Heidegger das rekonstruktive, ‚archäologische‘ Programm, die durch die Überlieferungsgeschichte verschüttete rhetorische Pathelogie des Aristoteles wieder freizulegen und in die eigene Daseinshermeneutik einzufügen. Heideggers Adaption der Aristotelischen Pathelogie will bewusst einen Neuanfang wagen und wendet sich schon durch den terminologischen Neologismus ‚Befindlichkeit‘ gegen die Übernahme traditioneller Termini wie ‚Pathos‘ oder ‚Affekt‘. Er will damit schon im Ansatz die Konnotation des Unalltäglichen und Extraordinären vermeiden, welche die Ausdrücke ‚Pathos‘ und ‚Affekt‘ gewöhnlich umgibt. Hinter dem Existenzial der ‚Befindlichkeit‘ verberge sich im Gegenteil „das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein“11. Als präreflexive Weisen der Ganzerfassung unseres In-der-Welt-seins gehen die Stimmungen als Modi der Befindlichkeit, dem präzisen theoretisch urteilenden Begreifen des innerweltlich vorhandenen Seienden vorher und erscheinen daher für den urteilenden Verstand als merkwürdig vage und unerfasslich. Dennoch dürfen die Stimmungen aus daseinshermeneutischer Sicht gerade nicht zu bloßen psychischen Begleitphänomenen degradiert werden. Von daher vollzieht sich in Sein und Zeit gegenüber der gesamten affektrepugnanten Philosophietradition eine überraschende Umkehrung der Fundierungsverhältnisse. Die Stimmungen als Modi der menschlichen Befindlichkeit lassen sich demnach gerade nicht als Folge unseres Denkens und Handelns ableiten, sondern sind umgekehrt „die Voraussetzung dafür, das ‚Medium‘, darin erst jenes geschieht“12. Im Resultat sind die Stimmungen aus daseinshermeneutischer Sicht gerade nicht
|| 11 Martin Heidegger, GA 2, 178. 12 Martin Heidegger, GA 29/30, 100.
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das Flüchtigste, Unbeständigste und Subjektivste, sondern „das, was dem Dasein von Grund auf Bestand und Möglichkeit gibt“13. Dieser phänomenologische Aufweis der Fundamentalität und existenzialhermeneutischen Apriorität der Stimmungen, welche die überlieferte Dominanz des Denkens und Wollens über das Affektive geradezu umkehrt, bildet den ersten Aspekt der pathelogischen Theorierevolution innerhalb Heideggers Phänomenologie der Stimmungen. Die traditionelle Orientierung von Philosophie und Psychologie an den punktuell auftretenden, extremen Affektlagen, die den Menschen plötzlich überfallen, betreffen und aus der Fassung bringen können, hatten den Blick auf die von Heidegger hier herausgestellte Fundamentalität der Stimmungen weitgehend verstellt. Die entschiedene Abkehr von dieser traditionellen Verkürzung der Affektenlehre bahnt nun auch einer zweiten revolutionären Wendung der Affektenlehre den Weg: dem phänomenologischen Aufweis der lebensweltlichen Universalität und Ubiquität der Stimmungen. Schon in der Wahl der Termini ‚Befindlichkeit‘ und ‚Stimmung‘ drückt sich die universalisierende Grundtendenz Heideggers aus, das Affektive als ubiquitäres anthropologisches Grundphänomen inmitten der alltäglichen Lebenswelt anzusetzen und damit von der Limitierung und Marginalisierung, welche die traditionelle Orientierung an den extraordinären, sporadisch auftretenden, starken und besinnungsfeindlichen Affekten mit sich brachte, zu befreien. Diese Universalisierung des Affektiven macht darauf aufmerksam, dass es für das menschliche Dasein prinzipiell kein affektives Vakuum gibt. Wir sind immer schon irgendwie gestimmt. Dabei hat Heidegger nicht die außergewöhnlichen Gefühle wie heftige Freude und tiefe Trauer im Blick, sondern gerade die unauffälligen, leicht zu übersehenden, moderaten Stimmungslagen, die unseren Alltag meist unauffällig durchziehen und bestimmen: die ‚leise Bangigkeit‘ oder die ‚hingleitende Zufriedenheit‘. Dazu gehört auch „jene Ungestimmtheit, in der wir weder mißgestimmt sind noch ‚gut‘ gestimmt sind. Aber in diesem ‚weder-noch‘ sind wir gleichwohl nie nicht gestimmt“14. Das in der stoischen Philosophietradition auch noch von Kant angezielte Ideal der Apathie erweist sich aus existenzialphilosophischer Sicht damit als Illusion. Nach Heidegger bilden die Stimmungen gerade nicht zeitlich und situativ begrenzte, besondere innerseelische Zustände, sondern ubiquitäre Modi menschlicher Befindlichkeit, die das In-der-Welt-sein durchgängig immer schon bestimmen. Als Modi der Befindlichkeit des Menschen
|| 13 Martin Heidegger, GA 29/30, 100. 14 Martin Heidegger, GA 29/30, 100.
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haben sie universalanthropologischen Status: „das Dasein als Dasein ist immer schon von Grund aus gestimmt.“15 Der neben der Fundamentalisierung und Universalisierung dritte Aspekt der pathelogischen Theorierevolution Heideggers betrifft die Neubestimmung des Verhältnisses der Stimmungen zur Wahrheit, die wiederum der Gedankenfigur einer inversiven Destruktion überlieferter Begriffshierarchien folgt. Den theoretischen Hintergrund für diesen dritten Aspekt der Veritabilisierung des Affektiven bildet Heideggers neuer phänomenologischer Wahrheitsbegriff, der im Rückgang auf die altgriechische Aletheia, die Primordialität der präreflexiven Ersterschließung des Seienden im Ganzen betont und somit den traditionellen propositionalen Wahrheitsbegriff der Urteilslogik relativiert. Mit diesem neuen phänomenologischen, präpropositionalen Wahrheitsbegriff gewinnen nun auch die Stimmungen eine primordiale erkenntnistheoretische Stellung, weil sie ursprünglicher als Denken und Wollen in der Weise einer präreflexiven Ersterfassung das Ganze von Welt, Mitdasein und Existenz erschließen. „Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf […] allererst möglich.“16 Aufgrund dieses Ersterschließungscharakters besitzt die Befindlichkeit aus phänomenologischer Sicht eine eigene Art von präreflexiver Evidenz, die dem menschlichen Dasein eine primäre Orientierung seines In-derWelt-seins ermöglicht und in der auch die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis begründet liegt. Von daher besteht für Heidegger „nicht das mindeste Recht, die ‚Evidenz‘ der Befindlichkeit herabzudrücken durch Messung an der apodiktischen Gewißheit eines theoretischen Erkennens von purem Vorhandenen“17. Zusammengefasst führt Heideggers dreifache pathelogische Theorierevolution somit zur Fundamentalisierung, Universalisierung und Veritabilisierung des Affektiven. Die Daseinshermeneutik Heideggers vollzieht damit eine universalanthropologische Rehabilitierung der Affektivität des Menschen, die ihre Marginalisierung in Philosophie, Psychologie und Schulrhetorik aufhebt. Sie kritisiert die traditionelle Reduzierung der menschlichen Affektivität auf einige spektakuläre Modi, ihre Instrumentalisierung im redetechnischen Interesse und ihre epistemologische Degradierung gegenüber den propositionalen Formen des Wissens. Darüberhinausgehend lässt Heideggers Phänomenologie der Stimmungen das ganze Spektrum der meist unspektakulären, aber das alltägliche Dasein im Ganzen durchstimmenden Affektivität des Menschen hervortreten. Die Stimmungen
|| 15 Martin Heidegger, GA 29/30, 102. 16 Martin Heidegger, GA 2, 182. 17 Martin Heidegger, GA 2, 181.
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stellen sich dabei als unhintergehbare Modi menschlicher Befindlichkeit heraus, die auch jeder redepraktischen Indienstnahme der Affekte zu Grunde liegt und deren eigentümliche vorbegriffliche Wahrheit in einer ganzheitlichen Ersterschließung der Lebenswelt besteht, die auch der wissenschaftlichen Welterschließung ihre primäre Orientierung vorgibt. Ferner verdeutlicht Heidegger, wie gerade auch die besondere Kunstform des öffentlichen ‚Redenhaltens‘, auf die sich die klassische Rhetoriktheorie konzentriert, in der allgemeinen Befindlichkeit des Daseins fundiert ist. Gerade die Möglichkeiten und Grenzen des öffentlichen Redenhaltens werden von der jeweils herrschenden Stimmungslage vorgegeben: „In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner. Er bedarf des Verständnisses der Möglichkeiten der Stimmung, um sie in der rechten Weise zu wecken und zu lenken.“18 Von daher erklärt sich auch das eigentümliche Interesse der traditionellen Rhetoriktheorie an den Affekten. Die rhetorische Psychagogie gründet wesentlich in der genauen Kenntnis der Modi der Befindlichkeit und ihrer pathepoietischen Umgestaltung. Heideggers Phänomenologie der Stimmungen gibt somit auch eine neue philosophische Begründung für die wichtige Rolle, welche die Affektenlehre seit jeher für die Rhetorik als einer Kunstlehre überzeugender Rede spielte. Insgesamt gesehen bietet Heideggers Phänomenologie der Stimmungen eine für die moderne Philosophie der Rhetorik wichtige generelle Grundlegung einer anthropologischen Pathelogie. Allerdings beschränkt sich die existenzialontologische Affektenlehre in Sein und Zeit auf die für die Problematik des Buches besonders relevanten Furcht- und Angstanalysen. Diese konkreten Stimmungsanalysen decken somit nur einen kleinen Teil der in der Pathelogie der Aristotelischen Rhetorik behandelten Affekte ab. Heidegger hat dieses Defizit einer ausführlichen Phänomenologie der Stimmungen selbst gesehen und mit der eigenen, existenzialontologischen Fragestellung von Sein und Zeit begründet, die speziell auf die Aufdeckung der Angst als Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins abzielt. „Innerhalb der Problematik dieser Untersuchung können die verschiedenen Modi der Befindlichkeit und ihre Fundierungszusammenhänge nicht interpretiert werden.“19 So überzeugend Heideggers generelle anthropologische Rehabilitierung menschlicher Affektivität für eine fundamentalrhetorische Pathelogie des Menschen erscheint, so ergänzungsbedürftig wirkt somit dagegen seine spezielle Phänomenologie der Stimmungen, die sich in Sein und Zeit auf die Grundbefindlichkeit der Angst und in Grundbegriffe der Metaphysik auf die epochale Grundstim-
|| 18 Martin Heidegger, GA 2, 184 f. 19 Martin Heidegger, GA 2, 184.
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mung der Langeweile reduziert. Sie verstellt damit geradezu den Blick auf die Vielfalt der in der Öffentlichkeit auftretenden pathelogischen Phänomene und tritt damit in Opposition zum rhetorisch-politischen Denken des Aristoteles, der gerade die öffentliche Lebenswelt der Polis als Ort des eigentlichen Existierens angesehen hat.
2 Die pluralistische Pathelogie des Aristoteles Aristoteles definiert den Menschen bekanntlich als ein politisches Redelebewesen, ein ζῷον λόγον ἔχον καὶ πολιτικόν, das inmitten der antagonistischen Öffentlichkeit der Polis sein Leben zu führen hat. Der Mensch findet sich in einer von der Doxa beherrschten politischen Öffentlichkeit vor, die ihn in einen permanenten rhetorischen Wettstreit mit Konkurrenten verwickelt. Dabei wird er konfrontiert mit Stimmungen, Dingen und Personen, die sein leibhaftes Erleben bis in die eigenen psychosomatischen Zustände hinein bestimmen. In seiner Rhetorik stößt Aristoteles aus der typisch propositionalistischen Perspektive des Rationalisten, der primär an der Urteilslogik interessiert ist, auf das Thema der Affekte. Angesicht richterlicher Entscheidungen entdeckt er in der Lebenswelt rein rational nicht zu erklärende Anomalien menschlichen Urteilens, die ihn auf die Spur der Affekte führen. Die Ursache dieser oft verblüffenden Abweichungen im richterlichen Urteil liegt, so erkennt Aristoteles, offensichtlich in der unterschiedlichen affektischen Verfassung der Richter: „Dem Liebenden nämlich erscheint die Person, über die er das Urteil füllt, entweder gar kein oder nur ein geringfügiges Unrecht begangen zu haben, dem Hassenden jedoch erscheint das Gegenteil der Fall zu sein.“20
Diese phänomenologische Beobachtung führt Aristoteles in seiner Rhetorik zu einer über die Logik der beiden Analytiken und die Dialektik seiner Topik hinausgehenden, erweiterten Theorie rhetorischer Rationalität, die neben der Ethologie, die den Einfluss der Rednerpersönlichkeit auf das Urteil des Publikums reflektiert, auch eine ausführliche Pathelogie enthält. Diese entscheidende Rolle des Pathos für die Rhetorik hatten zwar vorher schon die Sophisten betont und ihre erstaunliche pathepoietische Macht als ‚Werkmeisterin der Überredung‘ gefeiert. Aber dem Rationalisten Aristoteles geht es in seiner rhetorischen Pathelogie darüber hinaus vor allem um eine systema-
|| 20 Aristoteles, Rhetorik, übers. u. erläut. v. Christoph Rapp, 1. Hbd., Berlin 2002, 72.
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tische, analytische Durchdringung der von den Sophisten betonten, scheinbar irrationalen, peithischen Wirkungsmacht affektiver Rede. Dies führt ihn im allgemeinen Teil seiner Pathelogie zunächst zu jenem dreistelligen Analyseschema des Affektphänomens, das dann auch für Heideggers Phänomenologie der Stimmungen maßgeblich sein wird. So lässt sich z. B. beim Phänomen des Zornes erstens die Verfassung des Zornigen selbst, zweitens die Personen, denen gegenüber er Zorn trägt und drittens die Dinge, aufgrund deren er Zorn empfindet, unterscheiden. Die Pathelogie des Aristoteles, die das Affektische von vorne herein im Ganzen der politischen Lebenswelt, in der sich der Betroffene zusammen mit anderen Personen und Angelegenheiten vorfindet, verortet, bildet auch in anderer Hinsicht das Vorbild für Heideggers Phänomenologie der Stimmungen. Heideggers existenzialphilosophische Abkehr von der eingeschränkten Perspektive der traditionellen Psychologie, die dazu neigt, das Phänomen des Affektischen im seelischen ‚Innenraum‘ des einzelnen Subjektes einzuschließen und seine bahnbrechende Erkenntnis über die Tragweite der Stimmungen, die eine präreflexive Ganzerschließung von Existenz, Mitdasein und Welt ermöglichen, schließt auch an die im Ganzen der politischen Lebenswelt angesetzte, holistische Pathelogie der Aristotelischen Rhetorik an. Bei aller Affinität von Aristoteles und Heidegger fallen aber auch grundsätzliche Differenzen ins Auge. Ein erster, gravierender Unterschied besteht in der pluralistischen Anlage der Aristotelischen Pathelogie. Im Gegensatz zu Heideggers monistisch angelegter Phänomenologie der Stimmungen, die sich auf die Entdeckung der Angst als der einen Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins fokussiert, fällt auf, dass Aristoteles auf ein solches fundamentalphilosophisches Programm pathelogischer Letztbegründung verzichtet. Stattdessen finden wir in der Aristotelischen Rhetorik ein nicht hierarchisiertes Tableau von zwölf Grundaffekten, die für das rhetorische Existieren in der lebensweltlichen Öffentlichkeit von Bedeutung sind. Zu dieser Pluralität von zwölf Grundaffekten, die im zweiten Buch der Rhetorik in einem nicht weiter begründeten topischen Katalog vorgestellt und analysiert werden, gehören: der Zorn (ὀργή), die Sanftmut (πραότης), die Liebe (φιλία), der Hass (ἔχθρα), die Furcht (φόβος), der Mut (θάρσος), die Scham (αἰσχύνη), Freundlichkeit (χάρις), Mitleid (ἔλεος), gerechter Unwille (νέμεσις), Neid (φθόνος) und Ehrgeiz (ζῆλος).21 Diese bilden insgesamt eine egalitäre patheologische Topographie, welche die grundlegenden Möglichkeiten menschlicher Affektivität in der rhetorischen Kommunikation beschreibt.
|| 21 Vgl. Aristoteles, Rhetorik (s. Anm. 20), 73–97.
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Zunächst fällt auf, dass sich die ersten sechs Affekte dieser pathelogischen Topik des Aristoteles nach dem Prinzip der Kontrarität in drei Gegensatzpaare untergliedern: erstens Zorn contra Sanftmut, zweitens Liebe contra Hass und drittens Furcht contra Mut. Die pathepoietische Rolle dieser konträren Dispositionen für die rhetorische Praxis liegt dabei auf der Hand. Ein bestimmtes Pathos lässt sich nämlich nur durch die Erregung seines Gegenteils wirksam bekämpfen: Zorn durch Besänftigung, Liebe durch Hass und Furcht durch Ermutigung. Dagegen lässt sich die zweite Sechsergruppe (Scham, Freundlichkeit, Mitleid, gerechter Unwille, Neid, Ehrgeiz) nicht ohne Weiteres in Gegensatzpaare untergliedern. Obwohl Aristoteles den Katalog seiner rhetorischen Pathelogie der zwölf Grundaffekte nicht weiter rechtfertigt, lassen sich die heuristischen Gesichtspunkte, die ihn vermutlich zur Auswahl und zur Zusammenstellung seiner zwölf Grundaffekte geführt haben, durchaus entziffern: die für jede rhetorische Situation typische Temporalität und Agonalität. Demnach lassen sich die zwölf Grundaffekte in eine temporale und eine agonale Sechsergruppe einteilen. Dabei bilden die drei bereits erwähnten Gegensatzpaare die sechs temporalen Grundaffekte, welche der „geschichtliche[n] Lebenswelt in der Dreidimensionalität ihrer temporalen Horizontalität“22 korrespondieren. Der Zorn und die Sanftmut, die jeweils durch ein bereits geschehenes, vermeintliches Unrecht erregt werden, beziehen sich primär auf Vergangenes. Dagegen erregen das Gegenwärtige und Geschehende, das was uns aktuell betrifft oder vor Augen liegt, unsere Liebe oder unseren Hass. Mit Furcht oder Mut sehen wir schließlich dem vermeintlich aus der Zukunft auf uns Zukommenden entgegen. Mit diesen sechs temporalen Grundaffekten legt Aristoteles einen gemessen an der Dreidimensionalität der menschlichen Lebenswelt vollständigen Katalog temporaler Grundaffekte vor, der aus dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeit eine erste Antwort auf die von Heidegger in Sein und Zeit offen gelassene Frage nach den ‚verschiedenen Modi der Befindlichkeit‘ geben könnte. Hinzu kommt bei Aristoteles eine zweite Sechsergruppe von Grundaffekten, die der Agonalität in der politischen Lebenswelt entsprechen. Zu diesen agonalen Grundaffekten gehören die Scham, die Freundlichkeit, das Mitleid, der gerechte Unwille, der Neid und der Ehrgeiz. Dabei lassen sich die sechs agonalen Grundaffekte den von der Fundamentalrhetorik herausgestellten personalen Peristasen jeder Redesituation zuordnen. Zur Inventorik jeder agonalen Redesituation in der Öffentlichkeit gehören demnach fünf personale Topoi: erstens die oratorische Partei selbst, welche die Redeinitiative ergreift; zweitens die klientelische Partei,
|| 22 Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, 89.
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für die sich die oratorische Partei, z. B. vor Gericht, einsetzt; drittens die alliierte Partei, die sie rhetorisch unterstützt; viertens die oppositionelle Partei, welche die Gegenrede führt und schließlich fünftens die dezisionäre Partei, der die Rede zur Entscheidung vorgetragen wird.23 Diesen personalen Topoi können nun die sechs agonalen Grundaffekte des Aristoteles zugeordnet werden. Gegenüber der dezisionären Partei, vor deren Augen und Urteil sich unsere öffentlichen Redehandlungen abspielen, empfinden wir Scham. So definiert Aristoteles die Scham als eine Art der Beunruhigung über die Nachteile, die einem ein schlechtes Ansehen einbringen können. Der klientelischen Partei, für die wir eintreten, bringen wir den Affekt des Mitleids entgegen. Der alliierten Partei, mit der zusammen wir für ein gemeinsames Ziel eintreten, sind wir freundlich gesinnt. Dagegen kommen gegenüber der oppositionellen Partei, mit der wir konkurrieren, die Affekte des gerechten Unwillens, des Neides, oder des Ehrgeizes ins Spiel. Dabei hebt die Aristotelische Unterscheidung von Ehrgeiz und Neid die produktive oder destruktive Rolle hervor, welche die Affekte im Agon der Redesituation jeweils spielen können. Nach Aristoteles bestehen sowohl der Neid als auch der Ehrgeiz in einer unangenehmen Empfindung gegenüber unseren politisch-gesellschaftlichen Konkurrenten, Gegnern und Feinden. Aber im Unterschied zum Neid besteht der Ehrgeiz nicht nur in einer unangenehmen Empfindung, die sich darüber entzündet, dass ein anderer Güter besitzt, sondern darüber, dass man sie nicht auch besitzt. Deshalb sei der Neid, der nur destruktiv auf die Vernichtung der Güter der Konkurrenten zielt, ethisch verwerflich, der Ehrgeiz dagegen, der auf den Erwerb ähnlicher, hoher Güter strebt, tugendhaft.24 Ein zweiter, aus fundamentalrhetorischer Sicht gravierender Unterschied der Aristotelischen Pathelogie zu Heideggers Phänomenologie der Stimmungen betrifft die Berücksichtigung der leibhaft-organischen Verfasstheit des Menschen. Aus der Bestimmung des Menschen als politisches Redelebewesen erklärt sich nicht nur die Fokussierung der Aristotelischen Pathelogie auf die politische Lebenswelt, sondern auch ihre besondere Aufmerksamkeit für die – durch leibgebundene Lebewesenhaftigkeit des Menschen bedingten – psychosomatischen Effekte der Affekte. Aristoteles hebt dabei hervor, dass alle Affektation auch immer eine Veränderung des Lebensgefühls bedeutet. Dieses Lebensgefühl, in dem sich der Mensch als leibhaft-organisches Lebewesen vorfindet, bewegt sich permanent im bipolaren Spektrum zwischen lustvoller Lebensfreude (ἡδονή) einerseits
|| 23 Zu den personalen Peristasen rhetorischer Situativität vgl. Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik (s. Anm. 24) 109 ff.; Ders., Philosophie der Rhetorik, Bamberg 2003, 39 ff. 24 Vgl. Aristoteles, Rhetorik (s. Anm. 20), 96.
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und schmerzhafter Lebenstrauer (λυπή). Es oszilliert zwischen den Extremen der hochgestimmten, euphorischen Lebensfreude einerseits und des tiefgestimmten, depressiven des Lebensschmerzes andererseits. Der erlebte Umschlag von depressiven in euphorische Stimmungslagen und umgekehrt, der Metabole von Freude in Trauer, Lust in Schmerz erzeugt das Grundgefühl der Lebendigkeit, das der Mensch mit anderen organischen Lebewesen teilt. Im Falle des Zornes treten die beiden extremen Richtungen des Lebensgefühls, d. h. Schmerz und Lust, sogar zusammen auf. Der Zorn ist einerseits ein mit Schmerz verbundenes Streben nach Vergeltung über eine vermeintliche Herabsetzung. Andererseits malt sich der Zornige in seiner Phantasie die Vergeltung antizipierend aus. „Die dann entstehende Vorstellung nämlich bringt Lust hervor, wie die der Träume.“25 Damit hebt die pathozentrische Anthropologie der Aristotelischen Rhetorik das leibgebundene Vitalgefühl des Menschen hervor, welches sich permanent zwischen elementarer Lebensfreude und Lebenstrauer bewegt und allen anderen Modi der Befindlichkeit zu Grunde liegt. Mit Aristoteles gesehen ist es somit die Bewegtheit des elementaren Vitalgefühls, in dem sich das Lebewesen Mensch, sei es entweder in der Unmittelbarkeit sinnlicher Wahrnehmung (αἴσθησις) oder durch Rede vermittelte Imagination (φαντασία), vorfindet. Wie sehr gerade die im Laufe des Lebens sich verändernde leiborganische Verfassung des Lebewesens ‚Mensch‘ seine affektische Disposition bestimmt, hat Aristoteles auch in seiner Ethologie der Jugend, des Alters und Erwachsenendaseins, die sich direkt im Anschluss an die Pathelogie im zweiten Buch der Rhetorik findet, eigens hervorgehoben. Jugend und Alter unterscheiden sich demnach auch aufgrund ihrer unterschiedlichen psychosomatischen Verfasstheit durch ihre gegensätzliche Disposition für bestimmte Stimmungslagen. Die Jungen sind nach Aristoteles mehr zum Ehrgeiz, zur Scham, zur Hoffnung und zur Liebe, die Älteren dagegen mehr zu Furcht, Hoffnungslosigkeit disponiert. Das liegt nach Aristoteles auch an der gegensätzlichen leiblich-organischen Verfassung der älteren und jungen Menschen: „sie sind nämlich erkaltet, die aber erhitzt, so daß das Alter der Feigheit den Weg bereitet; auch nämlich ist die Furcht eine gewisse Erkaltung.“26 Heidegger hat im § 20 seiner Vorlesung über die Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie den grundlegenden Charakter der Hedone für die Befindlichkeit des Menschen durchaus noch gesehen. Ausdrücklich betont er, dass das Lebensgefühl der Hedone kein sporadisch auftretendes Phänomen sei. Vielmehr sei
|| 25 Aristoteles, Rhetorik (s. Anm. 20), 74. 26 Aristoteles, Rhetorik (s. Anm. 20), 100.
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es „in sich selbst mit dem Sein als lebenden schon da“27. Sie ist das Sichbefinden, in der ich in meinem ‚Lebendsein‘ „Aufschluß habe über mein In-der-Welt-sein“28. In Sein und Zeit spielen dagegen der Lebensbegriff im Allgemeinen und die mit ihm verbundenen leibhaft-organischen Vitalgefühle keine nennenswerte Rolle mehr. In der existenzialhermeneutischen Terminologie der ‚Erschließung‘ wird das Phänomen der Leibvermitteltheit und leibzentrierten „Positioniertheit“29 menschlicher Welt- und Selbsterfahrung, wie sie z. B. die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners beschreibt, übersprungen. Der zugespitzt formulierte ‚hermeneutische Spiritualismus‘ von Sein und Zeit verfolgt gerade auch in seiner Phänomenologie der Stimmungen somit eine Tendenz zur Entleiblichung und Entbindung des menschlichen Daseins aus dem organischen Zusammenhang der Natur.
3 Die Pathelogie als neues Kapitel der Fundamentalrhetorik Ausgehend von Heidegger und Aristoteles zeichnet sich nun der erste Umriss einer fundamentalrhetorischen Pathelogie ab. Zunächst konnte Heideggers Phänomenologie der Stimmungen als ein modernes Kapitel philosophischer Pathelogie gelesen werden, das die wichtige Rolle, die die Affektivität des Menschen in der Rhetoriktheorie von Anfang an gespielt hat, ausdrücklich bestätigt und begründet. Demnach hebt die Selbsterfindung des Homorhetoricus mit der Befindlichkeit an. Diese von Heidegger aufgezeigte stimmungshafte Befindlichkeit des menschlichen In-der-Welt-seins stellt ein bisher nicht genügend beachtetes passives Vermögen (potentia passiva) menschlicher Inventivität dar. Das unhintergehbare pathische Sichvorfinden in der Befindlichkeit geht dem aktiven und freien Entwerfenkönnen (potentia activa) des Homo rhetoricus jeweils voraus. Damit ergibt sich aus fundamentalrhetorischer Sicht eine wichtige Erweiterung der bisherigen Homo-rhetoricus-Anthropologie. Dem aktiven Erfinden-, Ordnen-, Gestalten-, Erinnern-, Ausführenkönnen geht das passive Empfindenkönnen des Menschen voraus.
|| 27 Martin Heidegger, GA 18, 245. 28 Martin Heidegger, GA 18, 244. 29 Helmut Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975, 288 ff.
Die Pathelogie als neues Kapitel der Fundamentalrhetorik | 95
Wenn die Affektivität des Menschen hier generell als ‚Empfindenkönnen‘ bezeichnet wird, dann schließt sich dieser fundamentalrhetorische Terminus gerade nicht an den speziellen Epochenbegriff der ‚Empfindsamkeit‘30 an. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die ‚Empfindsamkeit‘ als Epoche der europäischen Voraufklärung des 18. Jahrhunderts dazu neigt, die Affektivität des Menschen moralisch bzw. metaphysisch zu überformen und auf besondere, philoanthropische Gefühlslagen wie z. B. ‚benevolence‘ oder ‚sympathy‘ zu verkürzen. Wie lässt sich aber die Affektivität des Menschen, sein Empfindenkönnen, als pathozentrischer Teil der Homo-rhetoricus-Anthropologie konkret reformulieren, ohne Heideggers monistische Verengung auf die eine Grundbefindlichkeit der Angst oder die nicht verallgemeinerungsfähigen Prätentionen des Epochenbegriffes ‚Empfindsamkeit‘ zu übernehmen? Diese Frage führt wiederum zur pluralistischen Pathelogie der Aristotelischen Rhetorik zurück. Der Aristotelische Katalog der zwölf Grundaffekte hat den großen Vorteil, dass er die phänomenale Vielfalt menschlichen Empfindenkönnens aus einer genuin rhetorischen Perspektive und ohne Rücksicht auf moralische, philanthropische oder fundamentalphilosophische Selektions- und Hierarchisierungsinteressen vor Augen treten lässt. Zu den gleichrangigen Grundaffekten des Aristoteles, die das breite Spektrum des menschlichen Empfindenkönnens beschreiben, gehören zum Beispiel die Liebe, die Freundlichkeit oder das Mitleid, aber ebenso der Hass, der Zorn, der Neid oder Ehrgeiz. Damit vermeidet die Aristotelische Pathelogie von vorne herein auch den für die Neuzeit typischen moralisierenden Diskurs, der sich selektiv auf die patheologische Opposition von amor sui versus caritas, oder in säkularisierter Form auf den Gegensatz von Selbstliebe (selfishness) gegen Menschenliebe (benevolence) verengt. Ein weiterer Vorteil der Aristotelischen Pathelogie besteht darin, dass sie mit der bisherigen fundamentalrhetorischen Theorie kompatibel ist. Wie bereits oben gezeigt, entsprechen die ersten sechs Grundaffekte, d. h. die drei Gegensatzpaare von Zorn versus Sanftmut, Liebe versus Hass und Furcht versus Mut, der Tatsache, dass die pathische Ersterschließung des Menschen im dreidimensionalen Horizont der Temporalität geschieht. Der situative Spielraum glaubwürdiger und überzeugungswirksamer Rede wird demnach immer auch von der geschichtlich bedingten Affektlage bestimmt, in der sich die rhetorisch Agierenden jeweils befinden. Die Grenzen und Möglichkeiten des öffentlich Sagbaren und Unsagbaren sind dabei, wie das z. B. der Schock des 11. Septembers gezeigt hat, durch die pathische Betroffenheit der Beteiligten vorgezeichnet. Alle Versuche,
|| 30 Vgl. Dorothea Kimmich, Empfindsamkeit, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Tübingen 1994, II 1108–1121.
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dieser primären Betroffenheit zu entgehen, wie sie z. B. das stoische ApathieIdeal repräsentiert, setzen als Reaktion bereits das unhintergehbare Faktum pathischer Vorfindlichkeit in der geschichtlichen Lebenswelt voraus. Auch die zweite Sechsergruppe von Grundaffekten lässt sich – wie oben gezeigt – zwanglos mit der fundamentalrhetorischen Lehre von den fünf Persontopoi rhetorischer Situativität verbinden. Aus patheologischer Perspektive beschreiben die sechs Grundaffekte der Scham, der Freundlichkeit, des Mitleids, des gerechten Unwillens, des Neids und des Ehrgeizes die generelle interpersonale Agonalität lebensweltlicher Situationen, in welcher der Homo rhetoricus vor, für, mit und gegen andere zu agieren hat. Auch unter diesem interpersonalen Aspekt eröffnen oder verschließen die in der jeweiligen Situation gegebenen Affektlagen von vorne herein die Möglichkeiten rhetorischen Interagierens. Schließlich gibt auch die Aristotelische Lehre vom leibgebundenen Lebensgefühl, das sich permanent zwischen elementarer Lebenslust und Lebensschmerz hin und her bewegt, einen wichtigen Aspekt für die fundamentalrhetorische Pathelogie ab. Dieses zwischen Euphorie und Depression oszillierende Lebensgefühl bildet den pathischen Grundrhythmus, über dem die Modi des menschlichen Empfindenkönnens, die aus den zwölf Aristotelischen Grundaffekten gebildet werden, gleichsam wie eine Melodie spielen. Dabei gründet die jeweilige pathische Bestimmtheit des Menschen zunächst in der Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung, der Aisthesis. Als empfindender Wahrnehmungsleib finden wir uns inmitten einer expressiven Wahrnehmungswelt vor, in der wir immer schon von einer Fülle organisch vermittelter Eindrücke und sinnlicher Vorstellungbilder affiziert sind. Diese sinnliche Empfindungswelt, die in Korrelationen von Expressionen und Impressionen besteht, erscheint uns, weil sie uns spontan auf dem Wege der Fremd- und Selbstwahrnehmung entgegentritt, als äußere oder innere ‚Natur‘. Die primäre Vorfindlichkeit in einer solchen natürlichen, leibvermittelten und leibzentrierten Empfindungswelt, deren Gestalt freilich je nach der organischen Ausstattung der Sinnlichkeit stark variieren kann, teilen wir mit anderen Lebewesen. Zwar bildet auch für den Menschen das Elementarische sinnlicher Empfindungen die unhintergehbare Basis seiner pathischen Existenz. Aber sein Proprium, das ihn von anderen Lebewesen unterscheidet, besteht nicht in seiner natürlichen Sinnlichkeit, sondern in seiner redevermittelten Empfindsamkeit, d. h. in seiner rhetorischen Sensibilität. Diese rhetorische Sensibilität bildet ein qualitativ neues und typisch menschliches, redevermitteltes Empfindenkönnen, das über die schon von Herder hervorgehobene ‚Natursprache‘ der Tiere, die durch die Modulation ihrer stimmlichen Verlautbarung pathisch kommunizieren, weit hinausgeht. Die rhetorische Sensibilität des Menschen beruht in einer
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Empfindungsfähigkeit, die nicht mehr nur an die sinnliche Wahrnehmung anknüpft, sondern sich auf ein von Rede getragenes und gelenktes, freies Imaginieren bezieht. Auch in pathelogischer Hinsicht erweist sich der Mensch hier als ein Redelebewesen, ein animal rhetoricum. In dieser generellen rhetorischen Empfindsamkeit des Menschen gründet nicht nur die Möglichkeit der artifiziell gesteigerten Pathepoiesis der Kunstrhetorik. Auf ihr beruht auch die Möglichkeit zur Erzeugung einer eigenständigen poetischen Empfindungswelt, in die uns z. B. die griechische Tragödie oder Goethes Werther zu versetzen vermögen. Nicht zuletzt leben wir auch in der Alltagskultur – weit mehr als wir gewöhnlich meinen – nicht in der ersten Welt elementarer, sinnlicher Wahrnehmungen (mundus sensibilis), sondern in der zweiten Welt redeerzeugter Empfindungen (mundus rhetoricus), die das Lebensgefühl ganzer Gemeinschaften und Epochen bestimmen können. Insgesamt gesehen zeichnet sich somit, ausgehend von Heidegger und Aristoteles, das Empfindenkönnen als neue Grundkategorie der fundamentalrhetorischen Anthropologie ab. Sie verdeutlicht die unhintergehbare pathische Vorfindlichkeit des Menschen und steht für seine rhetorische Sensibilität, die als passive Potenz seiner aktiven Selbsterfindung der Fünffachheit des Erfinden-, Ordnen-, Gestalten-, Erinnern- und Ausführenkönnens vorhergeht. Die hier in einem ersten Umriss sichtbar gewordene fundamentalrhetorische Pathelogie versteht sich schließlich gerade nicht als ein erneuter Versuch einer – wie K. Dockhorn es noch formulierte – rhetorischen ‚Antiphilosophie‘, sondern im Gegenteil als ein weiteres Kapitel der einst von Cicero geforderten Restitution der ursprünglichen Einheit von Philosophie und Rhetorik. Durch die Erweiterung der Homo-rhetoricusAnthropologie um die Grundkategorie des Empfindenkönnes könnte somit heute ein weiterer Schritt zu einer transdisziplinären Integration von Philosophie und Rhetorik vollzogen werden.
Rhetorik als Anthropotechnik Antike Prolegomena zu einer modernen Rhetorik der Medizin Die Sonderstellung des Menschen in dem uns bekannten Universum besteht darin, dass er als ein sich selbst erfindendes Lebewesen, ein animal autoinveniens,1 beschrieben werden kann. In der Sprache der modernen philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners besteht sein Wesen in einer geradezu paradoxal anmutenden ‚natürlichen Künstlichkeit‘. Er ist „von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich“2. Dies besagt, dass der Mensch dasjenige Lebewesen ist, das aufgrund seiner besonderen Natur nicht nur lebt, sondern sein Leben bewusst zu führen hat. Mit anderen Worten, er muss sich in Freiheit erst zu dem machen, was er jeweils ist. Er findet sich nicht in einer bestimmten Natur vor, sondern muss seine Gestalt und Bestimmung erst erfinden. Die aus dem ersten anthropologischen Grundgesetz der ‚natürlichen Künstlichkeit‘ entspringende existenzielle Grundaufgabe der Selbsterfindung erklärt die Fülle der Kulturtechniken, mit denen der Mensch versucht, sein Leben bewusst zu formen, zu führen und zu meistern. Sowohl die antiken Artes als auch die moderne Technik lassen sich aus diesem fundamentalen Selbsterfindungsproblem begreifen, das den Menschen vor die anthropoietische Grundaufgabe stellt, seine eigene, durch extreme Plastizität ausgezeichnete psycho-somatische Doppelnatur jeweils neu zu erfinden und kulturell auszuformen. In der vom Fortschritt der modernen Naturwissenschaften geprägten wissenschaftlich-technischen Zivilisation der Gegenwart stehen zweifellos diejenigen Anthropotechniken, die sich bei der Verfolgung des Projektes einer Perfektionierung des Menschen auf die Formung seiner körperlichen Natur spezialisiert haben, im Mittelpunkt des Interesses, also z. B. die Ingenieurwissenschaften, die Informatik, die Gentechnik, die Humanmedizin und die Gehirnforschung.3 Aber auch eine – neben der Medizin – älteste Anthropotechnik, die sich von Anfang an der Formung und Modellierung der psychischen Natur des Menschen widmete, die Rhetorik, gewinnt in der jüngsten Zeit wieder größere Aufmerksamkeit. Mit dem Erfolg der modernen mathematisierten Naturwissenschaften war diese aus der Antike stammende Anthropotechnik ‚Rhetorik‘ in der Neuzeit zunächst zunehmend || 1 Vgl. homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik, hg. v. Stefan Metzger/Wolfgang Rapp, Tübingen 2003. 2 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 31975, 310. 3 Vgl. Bernward Gesang, Die Perfektionierung des Menschen, Berlin/New York 2007. https://doi.org/10.1515/9783110527667-007
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aus dem Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gewichen und seit ihrem Niedergang im 19. Jahrhundert in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar fast völlig vergessen. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der „Rhetorik, diesem ältesten Bestand der Anthropotechnik“4, wieder eine immer stärker werdende wissenschaftliche Aufmerksamkeit entgegengebracht.
1 Die Rhetorik der Medizin als neue Disziplin Die gegenwärtige ‚Renaissance der Rhetorik‘, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunächst die Gesellschafts-, Literatur- und Geisteswissenschaften erfasste, erreichte in den 1990er Jahren als ‚Rhetorik der Wissenschaften‘ (Rhetoric of Science)5 auch die Naturwissenschaften. Als neue Subdisziplin der ‚Rhetorik der Wissenschaften‘ beginnt sich schließlich heute – vor allem im angloamerikanischen Bereich – auch eine neue ‚Rhetorik der Medizin‘ (Rhetoric of Medicin) zu etablieren.6 Diese neue Rhetorik der Medizin bezieht sich bereits heute auf vielfältige Aspekte der medizinischen Theorie und Praxis. In ihrem Mittelpunkt stehen dabei weniger die allzu offensichtlichen rhetorischen Werbestrategien der Pharmaindustrie und ihrer politisch einflussreichen Lobby. Im Zentrum ihres Interesses stehen kairologische und wissenschaftsgeschichtliche Analysen, welche den Wechsel medizinischer Paradigmen, ausgehend von der antiken Humoralmedizin bis zur Institutionalisierung der modernen Biomedizin, im frühen 20. Jahrhundert beschreiben.7 Darüber hinausgehend reflektiert ihre metaphorologische Kritik die oft moralisch aufgeladenen Mythen, welche die epochemachenden Krankheitsbilder wie Tuberkulose, Krebs und Aids in der gesellschaftlichen Kommunikation jeweils umranken.8 Ferner deckt die heutige Rhetorik der Medizin die ‚schlafenden Metaphern‘ des Medizindiskurses auf, der z. B. die Medizin als
|| 4 Gonsalv K. Mainberger, „Von der Überlebenskunst zur Anthropotechnik. Zwischen Himmel und Hölle“, in: Tabula rasa. Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken 16 (2001), 4. 5 Vgl. Alan G. Gross, The Rhetoric of Science, Cambridge/London 1990; Peter L. Oesterreich, „Homo rhetoricus universalis: Die Entdeckung des rhetorischen Geistes in den Wissenschaften“, in: Klaus Giel/Renate Breuninger, Die Rede von Gott und der Welt. Religionsphilosophie und Fundamentalrhetorik, Ulm 1996, 86–104; Richard Nate, „Rhetorik und Naturphilosophie. Aspekte einer Beziehung“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 18 (1999), 77–93. 6 Vgl. Judy Z. Segal, Health and the Rhetoric of Medicine, Carbondale 2005. 7 Vgl. Segal, Health (s. Anm. 6), 21–36. 8 Susan Sontag, Illness as Metaphor & AIDS and Its Metaphors, London 1991.
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Krieg, den menschlichen Körper als Maschine oder neuerdings als Computer definiert sowie die Person mit ihren Genen identifiziert.9 Des Weiteren beschäftigt sie sich mit der rhetorischen Konstruktion von bestimmten Krankheitsbildern und Patiententypen durch die medizinische Terminologie wie z. B. der ‚Migräne‘, dem ‚Borderline-Syndrom‘ und den ihr korrelierenden ‚Migräne-‘ oder ‚Borderlinepersönlichkeiten‘. Hinzu kommt auch das Phänomen der rein durch Autopersuasion erzeugten ‚Hypochondrie‘.10 Weitere Themen der Rhetorik der Medizin bilden die Epideiktik der medizinethischen Diskurse und die narrativen Konstruktionen in der Pathographie und Anamnese. Das vielleicht für die medizinische Praxis wichtigste Feld bilden schließlich die Rhetorik des Arzt-Patienten-Gespräches, der persuasive Einfluss des ärztlichen Ethos’ und nicht zuletzt die äußerst kostspieligen Probleme der Nichtbefolgung von therapeutischen Maßnahmen.11 Diese sich gegenwärtig formierende Rhetorik der Medizin, die uns heute die immanente Rhetorizität aller Bereiche der Medizin – ihrer öffentlich-politischen Selbstdarstellung und der industriellen Werbung, ihrer wissenschaftlichen Forschung und Lehre und medizinischen Praxis – neu zu erschließen beginnt, scheint die generelle fundamentalrhetorische These von der Ubiquität und Allgegenwart der Rhetorik in allen Bereichen der menschlichen Kultur zu bestätigen. Dabei zielt die rhetorische Neuerschließung auch im Bereich der Medizin über eine bloße Kritik und Entlarvung bisher verborgener persuasiver Strategien, z. B. der paternalistischen Implikationen des medizinischen Diskurses und seiner asymmetrischen Arzt-Patienten-Beziehungen hinaus und versucht zu einem neuen, rhetorikaffinen Selbstverständnis der Medizin und der Mediziner zu führen. Die fundamentalrhetorische Einsicht in der maßgeblichen Rolle, die die Rhetorik gerade in der Medizin spielt, könnte in Zukunft dazu führen, dass der Mediziner auch als homo rhetoricus verstehen lernt. Dies bestreitet auf keine Weise die Zuständigkeit der durch die modernen Naturwissenschaften fundierte fachwissenschaftliche Biomedizin. Aber die Rhetorik der Medizin macht darauf aufmerksam, dass gerade die Mediziner, ob sie es nun bewusst wahrnehmen oder nicht, de facto in bestimmten Aspekten ihres Handelns auch immer auf die Kraft der überzeugenden Rede angewiesen sind. Der Erfolg der Heilkunst beruht neben den unbestreitbar arhetorischen Behandlungsmomenten und Operationen, wie z. B. den in Vollnarkose vorgenommenen chirurgischen Eingriffen oder Verabreichung von biochemisch wirksamen Medikamenten, je nach Art der Erkrankung mehr oder weniger auf der Performanz ihrer medizinischen Redekompetenz.
|| 9 Vgl. Segal, Health (s. Anm. 6), 115–132. 10 Vgl. Segal, Health (s. Anm. 6), 37–58.74–90. 11 Vgl. Segal, Health (s. Anm. 6), 59–90.133–158.
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Wissenschaftsgeschichtlich gesehen lässt sich diese durch den Titel Rhetorik der Medizin angezeigte, moderne Annäherung von Medizin und Rhetorik auch als eine Renaissance der schon für die antike Kultur bedeutsamen Verbindung von Heilkunst und Redekunst deuten. Dies soll der folgende kurze Streifzug durch einige Schlüsseltexte aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. belegen, die als Prolegomena zur heutigen Rhetorik der Medizin verstanden werden können.
2 Credibilität als Grund des Zusammenhangs von Rhetorik und Medizin Dem folgenden, kurzen interpretativen Streifzug durch einige Texte von Gorgias, Platon und Aristoteles, in denen sich die antike Nähe von Heilkunst und Redekunst, Rhetorik und Medizin bekundet, liegt die folgende heuristische Leitfrage zugrunde: Worin liegt in der Sicht dieser antiken Autoren die besondere Affinität von Heilkunst und Redekunst begründet? Gibt es vielleicht ein gleichsam bisher weitgehend verborgenes missing link, das die Rhetorik und Medizin aus antiker Sicht verbindet und dessen Erkenntnis auch für die gegenwärtige Wiederannäherung beider Disziplinen aufschlussreich wäre? Gorgias von Leontinoi, einer der prominentesten Gestalten der sophistischen Aufklärung, gehört zu den frühen, ingeniösen Theoretikern und Praktikern der antiken Redekunst im 5. Jahrhundert v. Chr. Ebenso wie seine sophistischen Mitstreiter war er fasziniert von den neu entdeckten Möglichkeiten der persuasiven Wirkkraft öffentlicher Rede. Die erstaunliche und scheinbar unwiderstehliche Macht des Redenkönnens verkörperte sich für die Sophisten in der Göttin der Überredung, der Peitho, die mythologisch in der Nähe der Aphrodite angesiedelt wurde. Überreden oder überzeugen, gr. πείθειν, ist etymologisch mit dem lat. fides (‚Glauben, Vertrauen‘) verwandt und bedeutet in seiner aktiven Form so viel wie ‚jemanden willig machen‘ oder medial gebraucht als πείθεσθαι so viel wie ‚gehorchen, vertrauen oder glauben‘.12 Von der Macht persuasiver Rede überzeugt, preist Gorgias in dem gleichnamigen Platonischen Dialog auch die sophistische Redekunst (ῥητορικὴ τέχνη) als ‚Werkmeisterin der Überredung‘ (πειθοῦς δημιούργος). Die Rhetorik bildet in seinen Augen ein gleichsam prometheisches Projekt, welches die numinose Überzeugungsmacht der göttlichen Peitho für den Menschen technisch beherrschbar und verfügbar macht.
|| 12 Vgl. „Peitho“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, 741–745.
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Was die Redekunst in Gorgias’ Augen zur führenden Anthropotechnik macht, welche die anderen Künste regiert, ist vor allem ihre Macht auf dem Gebiet der menschlichen Seelenführung, der Psychagogie. So preist Gorgias in seinem berühmten Lob der Helena die unbeschränkte psychagogische Gestaltungsmacht persuasiver Rede: „Rede nämlich die Seele-bekehrende, zwingt stets die, die sie bekehrt, den Worten zu glauben und den Taten zuzustimmen.“13 Gegenüber der äußerst formbaren Plastizität der menschlichen Seele könne die persuasive Rede eine geradezu omnipotente und unwiderstehliche psychagogische Gestaltungsmacht entwickeln. In seinem berühmten Lob der Helena findet sich auch die folgende Redepassage, in der Gorgias die Rhetorik durch die folgende Analogie von Rede und Medikament in die Nähe der Medizin rückt. „Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft der Rede (δύναμις τοῦ λόγου) zur Ordnung (τάξις) der Seele (ψυχή) wie das Arrangement (τάξις) von Drogen (φάρμακα) zur körperlichen Konstitution (φύσις): Denn wie andere Drogen andere Säfte aus dem Körper austreiben, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen unter den Reden die einen Leid, die andern Genuss, und dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer üblen Bekehrung.“14 Die Affinität von Redekunst und Heilkunst, die Nähe von Peitho und Hygieia, wird von Gorgias hier durch eine Verhältnisanalogie (analogia proportionalitatis) verdeutlicht. Ausgangspunkt ist anthropologische Leitvorstellung von der seelisch-körperlichen Doppelnatur des Menschen. Demnach besitzt die dosiert eingesetzte persuasive Rede eine analoge Wirkkraft auf die Seele des Menschen wie ein ärztlich verordnetes Medikament auf seine körperliche Konstitution. Allerdings können Worte ebenso wie medizinische Drogen sowohl zum Wohle der Menschen gebraucht als auch zu ihrem Verderben missbraucht werden. So können Pharmarka einerseits wie Medikamente wirken, wenn sie die harmonische Ordnung des Körpers und damit die Gesundheit wiederherstellen oder aber wie tödliche Gifte, die ihn zerstören. Analog dazu kann die persuasive Rede die affektive Ordnung der Seele wiederherstellen oder aber zerrütten. Die Anwendung von gefühlswirksamen Wort-Gaben vermag so gezielt z. B. Sympathie und Mitleid hervorrufen, Trauer und Schmerz stillen, Furcht in Hoffnung verwandeln, Depression in freudvollen Genuss transformieren, aber auch Aggressivität und Zorn erregen und Zukunftsangst erzeugen, d. h. somit entweder eine heilsame seeli-
|| 13 Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, hg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989, 11. 14 Gorgias, Reden (s. Anm. 13), 11 f.
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sche Katharsis bewirken oder die Menschen in einen krankhaften und wahnhaften Rausch versetzen. Insgesamt gesehen lässt sich somit schon bei Gorgias die Auffassung finden, dass die beiden Disziplinen Redekunst und Heilkunst diejenigen zwei kardinalen anthropoietischen Meisterkünste darstellen, welche die Möglichkeit zu einer technologischen Formung der plastischen, seelisch-körperlichen Doppelnatur des Menschen eröffnen. Dass diese sophistische Analogie von Rhetorik und Medizin durchaus auch im Zusammenhang eines umfassenden prometheischen Projektes der Perfektionierung des Menschen zu verstehen ist, spiegelt sich sogar noch in Platons ansonsten sophistikkritischer Dialogliteratur. Im Theaitetos lässt Platon seinen dialogischen Protagonisten Sokrates die sophistische These des Protagoras vortragen, dass Weisheit (σοφία) darin bestehe, eine Umwandlung des Menschen in eine andere und bessere Verfassung (ἕξις) zu vollbringen. Zur Illustration dieser These bedient sich Sokrates wieder der bereits von Gorgias gebrauchten Analogie von Redekunst und Medizin: „Der Arzt nun bewirkt seine Umwandlung durch Arzeneien, der Sophist aber durch Reden.“15 Vor dem Hintergrund dieser sophistischen Weisheitslehre erhält hier die Affinität von Medizin und Rhetorik eine weitergehende anthropoietische Bedeutung, die das sophistische Programm einer redetechnologischen Perfektionierung des Menschen in den Vordergrund rückt. Im Kontext der sophistischen Sophia-Lehre bedeutet ‚Weisheit‘ gerade nicht ein zweckfreies theoretisches Wissen, sondern ein das gesamte menschliche Leben verbesserndes technisch-praktisches Können. ‚Weisheit‘ besitzt demnach derjenige, der sich auf die Kunst versteht, sein gesamtes Leben bewusst zu formen, zu meistern und so glücken zu lassen. Die sophistische Sophia, so könnte man sagen, wird hier demnach als anthropoietische Gesamtkunst definiert. Innerhalb dieses sophistischen SophiaKonzeptes bilden aufgrund der seelisch-körperlichen Doppelnatur des Menschen die beiden Schwesterdisziplinen Rhetorik und Medizin das Zentrum einer den ganzen Menschen formenden und perfektionierenden Lebenskunst. Redekunst für die Seelenführung und Medizin für die Köperformung bilden die beiden zwei zentralen Anthropotechniken, die innerhalb der anthropoietischen Gesamtkunst ‚Weisheit‘ ein komplementäres Verhältnis eingehen. Platons eigene Kritik an der sophistischen Redekunst greift auf der einen Seite die hybride Selbstüberschätzung der Rhetorik als geradezu omnipotente anthropoietische Meisterkunst sowie die Risiken ihres politischen Machtmissbrauches an. Dieser kritischen Destruktion der sophistischen Rhetorik stellt er auf der anderen Seite im Phaidros den alternativen und konstruktiven Entwurf || 15 Platon, Theaitetos, 167a.
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einer philosophischen Rhetorik entgegen. Sie definiert sich als eine universale Kunst der „Seelenleitung durch Reden“16, die sich sowohl auf das öffentliche wie private Leben der Menschen bezieht. In diesem Zusammenhang greift auch Platon wieder auf den Topos der anthropologisch begründeten Affinität von Redekunst und Medizin zurück. So betont Sokrates, der Sohn einer Hebamme, dass es dieselbe Bewandtnis habe mit der Redekunst wie mit der Heilkunst.17 Beide bezögen sich auf die menschliche Natur, die Medizin auf den Leib und die Rhetorik auf die Seele. Die Heilkunst verschüfe durch die Anwendung von Arznei und Nahrung dem Leib Gesundheit und Stärke, die Redekunst dagegen durch ihre Belehrungen der Seele Überzeugungen und Tugenden. Die bereits etablierte Hippokratische Heilkunst fungiert dabei auch für Platon als Vorbild für die neu einzurichtende und sich an der menschlichen Natur ausrichtende wissenschaftlich fundierte, philosophische Redekunst. Diese auch bei Platon bezeugte Affinität von Rhetorik und Medizin steigert sich – in einer Passage des Dialogs Gorgias – über die bloße Analogie hinausgehend sogar zur Perspektive einer immanenten Rhetorizität der Medizin selbst, wie sie heute die moderne Rhetorik der Medizin vertritt. Die beiden Beispiele für die Anwesenheit der Rhetorik inmitten der Medizin beziehen sich auf das Ethos und die Akzeptanz des Mediziners einerseits gegenüber der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und andererseits gegenüber seinen Patienten. Zunächst gibt Platons Gorgias den Hinweis, dass es neben dem medizinischen Fachwissen auch der rhetorischen Kompetenz einer glaubwürdigen, öffentlichen Selbstdarstellung des eigenen Ethos bedarf, um den Beruf des Mediziners erfolgreich ausüben zu können. Besonders wichtig sei dieser Rhetorikaspekt in Konkurrenz- und Bewerbungssituationen. Dies lässt Platon seine Dialogfigur Gorgias an folgendem extrem zugespitzten Beispiel einer Bewerbung um eine städtische Amtsarztstelle illustrieren. Dabei verteilen sich die fachmedizinische und die rhetorische Kompetenz einseitig auf zwei verschiedene konkurrierende Bewerber, einerseits auf den rhetorisch inkompetenten Facharzt und andererseits auf den fachärztlich unkundigen Rhetoriker: „Ja, ich behaupte, es möge in eine Stadt, wohin du willst, ein Redekünstler kommen und ein Arzt, und wenn sie vor die Gemeinde oder sonst einer Versammlung redend durchfechten müssten, welcher von beiden zum Arzt gewählt werden sollte: So würde nirgends der Arzt gewählt werden.“18 In seinem zweiten Beispiel bezieht sich der Platonische Gorgias auf die immanente Rhetorizität des therapeutischen Prozesses selbst: „Einen auffallenden
|| 16 Platon, Phaidros, 261a f. 17 Vgl. Platon, Phaidros, 270b ff. 18 Platon, Gorgias, 456b f.
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Beweis will ich dir hiervon geben. Nämlich gar oft bin ich mit meinem Bruder oder anderen Ärzten zu einem Kranken hingegangen, der entweder keine Arznei nehmen oder den Arzt nicht wollte schneiden oder brennen lassen und da dieser ihn nicht überreden konnte, habe ich ihn doch überredet durch keine andere Kunst als die Redekunst.“19 Schon Platon spricht hier das in der heutigen Rhetorik der Medizin diskutierte Problem der Nichtbefolgung ärztlicher Vorschriften an und weist darauf hin, dass der Erfolg medizinischer Therapien ganz entscheidend von der rhetorischen Kompetenz des Arztes abhängt. Wie bereits gesagt, ist das griechische ‚πείθειν‘, das im Deutschen so viel wie ‚überzeugen‘ oder ‚überreden‘ besagt, etymologisch mit lat. fides (Glauben, Vertrauen) verwandt und bedeutet medial gebraucht als πείθεσθαι so viel wie ‚gehorchen, vertrauen oder glauben‘. Schon bei Platon deutet sich nun an, dass gerade auch die therapeutische Situation mit ihrer konstitutiven Arzt-PatientenBeziehung ein typisches Beispiel rhetorischer Kommunikation darstellt. Deshalb wird vom behandelnden Arzt in der therapeutischen Situation nicht nur medizinischer Sachverstand erwartet werden können, sondern auch eine entsprechende rhetorische Kompetenz. Denn ohne das persuasiv gewonnene Vertrauen des Patienten und den Glauben an die heilsame Wirkung seiner Therapieanweisungen kann der Arzt oder die Ärztin, wie Platons Gorgias beispielhaft zeigt, allein schon aufgrund des Nichtbefolgungsproblems nicht erfolgreich sein. Mit der Benennung des Glaubhaftigkeitsproblems der Medizin sowohl in ihrer externen gesellschaftlichen Selbstdarstellung als auch in der internen therapeutischen Situation spricht Platons Gorgias bereits das gesuchte sachliche Mittelglied an, welches die Medizin mit der Rhetorik verbindet. Das missing link des inneren Zusammenhangs von Medizin und Rhetorik ist das grundlegende Moment des durch persuasive Rede vermittelten Glaubens und Vertrauens: kurz das Credibilitätsprinzip. Ohne dieses rhetorische Credibilitätsprinzip würde auch die Medizinerin oder der Mediziner keine persönliche Glaubwürdigkeit, die Medizin als Kunst und Wissenschaft keine gesellschaftliche Glaubhaftigkeit und die Patienten kein Vertrauen zu den therapeutischen Anordnungen besitzen. Kurz gesagt: Die Rhetorizität der Medizin liegt in dem für sie lebensnotwendigen Credibilitätsprinzip begründet.
|| 19 Platon, Gorgias, 456b.
Ethologische und Pathelogische Aspekte einer Rhetorica medicina | 107
3 Ethologische und Pathelogische Aspekte einer Rhetorica medicina Das Wissen, dass die Erzeugung von Credibilität das Proprium der Redekunst bildet, wird bereits in der Antike von dem vielleicht wichtigsten Werk der gesamten Geschichte der Rhetoriktheorie repräsentiert: der Rhetorik des Aristoteles. Dass Aristoteles seine Rhetoriktheorie vom Prinzip der Credibilität her entwirft, bezeugt allein schon seine Definition der Redekunst zu Beginn des 2. Kapitels des ersten Buches seiner Rhetorikabhandlung. Dort definiert er die Redekunst als die „Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Glaubenserweckende (πιθανόν) zu erkennen“20. Diese Definition des Aristoteles erhebt das Pithanon, d. h. lat. quod fidem facit, credibile oder dt. das ‚Glaubens- oder Vertrauenserweckende‘ zum entscheidenden Definiens der Rhetorik. Von daher lässt sich die Rhetorik des Aristoteles auch als ‚Pithanologie‘ charakterisieren, d. h. als eine allgemeine Lehre der Erzeugung von Credibilität durch Rede in der menschlichen Lebenswelt. Zudem macht die pithanologische Definition des Aristoteles die noch für die Sophisten erstaunliche, geradezu übermenschlich erscheinende und numinose Macht der Peitho, deren scheinbar ungebändigtes und ‚irrationales‘ Verführungspotential von Platon gefürchtet und kritisiert wird, endlich einer rationalen Erklärung zugänglich. Demnach lässt sich nach Aristoteles der rhetorisch erzeugte Glaube durch drei pithanologische Ursachen erklären. Den Leitfaden dieser fundamentalrhetorischen Ursachenanalyse bei Aristoteles bildet hierbei die grundlegende Trias jeder persuasiven Kommunikation, in der jeweils erstens ein Redender oder eine Redende, zweitens die Hörenden, drittens die Sache, zu der überzeugt werden soll, gehören. Demnach gründet die rhetorische Credibilität nicht allein im Logos, d. h. in der von der Logik oder Dialektik (Topik) privilegierten sachaufweisenden Kraft der Rede. Vielmehr zeichnet es die Rhetorik aus, dass sie über die sachlogische Argumentation hinausgehend auch die beiden interpersonalen Faktoren persuasiver Kommunikation einbezieht, d. h. einerseits die Persönlichkeit oder das Ethos des Redenden und andererseits die durch die Rede erweckte Emotion, das Pathos der Zuhörer. Die Credibilitätslehre der Rhetorik bezieht sich somit insgesamt auf die Trias von Logos, Ethos und Pathos. Dementsprechend gliedert sich die Pithanologie der Rhetorik in die Dreiheit von sachlogischer Topik, rednerzentrierter Ethologie und hörerbezogener Pathelogie.
|| 20 Aristoteles, Rhetorik, 1355b.
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Diese pithanologische Rhetoriktheorie des Aristoteles lässt sich nun auch auf das hier diskutierte Projekt einer modernen Rhetorik der Medizin anwenden. Demnach liegt die spezifische Rhetorizität der Medizin in ihren vielgestaltigen Credibilitätsproblemen begründet, die sich auf alle bereits erwähnten medizinischen Bereiche und Situationen erstrecken. Zur Erläuterung sei hier nur auf einige ethologische und pathelogische Aspekte hingewiesen, die sich im Zusammenhang mit dem Nichtbefolgungsproblem therapeutischer Maßnahmen ergeben. Dabei gliedert sich das Nichtbefolgungsproblem, formuliert als rhetorisches Credibilitätsproblem, wiederum in zwei Aspekte: einerseits in die mangelnde Glaubwürdigkeit des ärztlichen Ethos und andererseits in das Vertrauensdefizit vonseiten der Patienten. Für beide Seiten erweist sich wiederum die Pithanologie der Aristotelischen Rhetorik als analytisch aufschlussreich. Gleich zu Beginn des Zweiten Buches diskutiert Aristoteles, welche Momente in jedem Beratungsgespräch das Vertrauen und die innere Zustimmung der Menschen zu bewirken vermögen. Neben der reinen Sachargumentation, so Aristoteles, kommt es vor allem auch darauf an, wie vertrauenswürdig die Persönlichkeit des Beratenden selbst erscheint und in welcher emotionalen Verfassung sich diejenigen befinden, die den Rat empfangen und annehmen sollen. Dabei erscheint die Credibilität des Beratenden für Aristoteles nicht als ein charismatisches Mysterium, sondern besitzt drei rational durchaus nachzuvollziehende Gründe: Der oder die Beratende ist dann glaubwürdig, wenn er oder sie in den Augen der Beratenen folgende drei ethische Kompetenzen besitzt: erstens Klugheit (φρόνησις), zweitens Tugend (ἀρετή) und drittens Wohlwollen (εὔνοια).21 Diese drei Faktoren des Redner-Ethos in der deliberativen Redesituation bilden die drei hauptsächlichen ethischen Kompetenzen, welche der Ratgebende aus der Perspektive seiner Adressaten besitzen muss, damit diese sich vor den drei hauptsächlichen Täuschungsmöglichkeiten consiliarischer Rede gesichert sehen können. Denn der Beratende könnte sich erstens aus Dummheit oder sachlicher Inkompetenz selbst täuschen oder zweitens aus Unredlichkeit wider besseres Wissen nicht den richtigen Rat geben oder schließlich drittens aus Mangel an Wohlwollen zwar einen richtigen, aber nicht den für die Beratenen besten Rat geben. Erst wenn der Beratende sowohl klug oder sachkompetent als auch tugendhaft und redlich und schließlich auch wohlwollend erscheint, sehen sich seine Klienten gegen die drei Hauptmöglichkeiten konsiliarischer Täuschung gesichert, vertrauen ihm und sind geneigt, seinen Rat anzunehmen.
|| 21 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1375a.
Ethologische und Pathelogische Aspekte einer Rhetorica medicina | 109
Diese Aristotelische Trias der für die Credibilität des Redner-Ethos ausschlaggebenden Gründe kann sich auch für eine moderne Rhetorica medicina als aufschlussreich erweisen. Sie behält auch heute noch für die konsiliare Redesituation des Arzt-Patienten-Gespräches ihre grundsätzliche Berechtigung. Auch die Glaubwürdigkeit des beratenden Mediziners hängt von der Credibilität seines ärztlichen Ethos ab, das aus den drei schon von Aristoteles genannten vertrauenerweckenden Faktoren resultiert: erstens seiner medizinischen Fachkompetenz, zweitens aus seiner redlich und integer erscheinenden Persönlichkeit und drittens dem offensichtlich ungeteilten Wohlwollen gegenüber seinen Patienten. A contrario erklärt sich das vielbeklagte Phänomen der Nichtbefolgung ärztlicher Anweisungen demnach aus der mangelnden Credibilität des ärztlichen Ethos, entweder weil der Patient zumeist untergründige Zweifel an der Fachkompetenz, der persönlichen Integrität oder dem Wohlwollen des behandelnden Arztes hegt. Die Pflege des ärztlichen Ethos und das Ausräumen dieser drei möglichen vertrauenhemmenden Vorbehalte im Patientengespräch bildet demnach die grundlegende Bedingung für das Gelingen jeglicher Therapie und stellt somit eine wichtige Aufgabe medizinischer Rhetorik, also ein officium der rhetorica medicina dar. Neben diesem ethologischen Credibilitätsproblem gesellt sich aber auch das pathelogische, das sich auf die emotionale Verfassung der Patienten bezieht. Das mangelnde Vertrauen der Patienten kann nämlich, wie bereits gesagt, auch in emotionalen Widerständen gegenüber dem jeweils behandelnden Mediziner oder sogar zur Medizin überhaupt gründen. Auf dieses Pathos-Problem weist ebenfalls schon Aristoteles hin, wenn er allgemein feststellt: „die Dinge scheinen für diejenigen, die lieben, und für diejenigen, die hassen, nicht dieselben zu sein, auch nicht für die, die zürnen, und die, die sich sanftmütig verhalten […].“22 Dies lässt sich ebenfalls zweifellos auch für das spezielle Arzt-Patienten-Verhältnis sagen. Die unterschiedliche emotionale Verfassung der Patienten kann ausschlaggebend für die Befolgung oder Nichtbefolgung ärztlicher Anweisungen sein, da die emotionalen Einstellungen der Patienten oft auf entscheidende Weise den Grad der Credibilität der vorgeschlagenen therapeutischen Maßnahmen und damit ihrer inneren Zustimmung zu ihnen bestimmen. Sympathie und Einvernehmlichkeit führen auch hier in der Regel zur Befolgung, Antipathie und Aggressivität dagegen zur Nichtbefolgung. Auch die pathelogische Achtsamkeit für die jeweilige Stimmungslage und ihre psychagogische Moderation bilden somit ein zweites wichtiges officium einer modernen rhetorica medicina.
|| 22 Aristoteles, Rhetorik, 1378a.
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Einen über die Antike hinausgehenden aufschlussreichen Hinweis auf die von Patientenseite vielleicht wichtigste therapiebefördernde Stimmung findet sich überdies überraschenderweise in einem theologischen Text der frühen Neuzeit, gemeint ist Luthers Römerbriefkommentar. Der Reformator zieht hier einen medizinischen Vergleich, welcher das für ihn zentrale anthropologische Theologumenon, dass der Mensch zugleich Sünder und Gerechtfertigter sei – simul iustus et peccator –, illustrieren soll. Der Mensch – so Luther – gleicht einem Kranken, der dem Arzt, der ihm aufs Gewisseste die Gesundheit verspricht, Glauben schenkt und in der Hoffnung auf die versprochene Genesung seinen oft beschwerlichen und schmerzhaften Anweisungen solange gehorcht, bis sich das erfüllt, was der Arzt versprochen hat.23 Für den Theologen Luther liegt für dieses Gleichnis eine Proportionalitätsanlage zu Grunde, die den Christus-Medicus-Topos aufgreift und Jesus als ‚Heiland‘ versteht. Demnach verhält sich Christus zum sündigen Menschen wie ein Arzt zu seinen Patienten. Obwohl es auch im Sinne einer modernen Rhetorik der Medizin nicht uninteressant wäre, einmal die kryptoreligiösen Konnotationen, die bis heute das ärztliche Ethos umgeben – genannt sei nur das Stichwort: ‚Götter in Weiß‘ – und die damit verbundenen ‚Heilserwartungen‘ vonseiten der Patienten anzusprechen, sei hier nur auf die säkulare Seite des Lutherischen Gleichnisses verwiesen. Demnach gründet das Arzt-Patienten-Verhältnis im Sprechakt des Versprechens. In fundamentalrhetorischer Erweiterung der modernen Sprechakttheorie sollten im Rahmen einer modernen medizinischen Rhetorik auch die pathelogischen Gelingensbedingungen des ärztlichen Versprechens Berücksichtigung finden. Eine grundlegende pathelogische Gelingensbedingung des medizinischen Heilungsversprechens – so können wir Luthers Gleichnis entnehmen – ist die Hoffnung des Patienten auf Heilung. Ohne diese Hoffnung (spes) auf Heilung kann dem Patienten nicht abverlangt werden, dass er der oftmals mühseligen und vielfach auch schmerzhaften therapeutischen Anweisung (adhortatio) des Arztes folgt. Die Heilungshoffnung bildet somit den Kardinalaffekt der rhetorica medicina. So wird der moderne Patient aus dem Spektrum möglicher (schul-)medizinischer Diagnosen und alternativer Therapieangebote dasjenige auswählen, welches ihm die größte Heilungshoffnung verspricht. Das Problem der Nichtbefolgung besteht demzufolge nicht nur, wie die gegenwärtige Literatur zur Rhetorik der Medizin zumeist suggeriert, bloß in einem rein rational zu bewältigenden
|| 23 „Est enim simile sicut cum aegroto, Qui promittenti medico certissiman sanitatem credit et precepto eius obediens interim in spe promissae sanitatis abstinet ab iis, que prohibita sunt ei, ne promissam sanitatem impediat et morbum augeat, donec impleat medicus, quod promisit“ (M. Luther, WA 56, 271).
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intellektuellen Beratungsproblem, sondern gerade auch in der darüber hinausgehenden psychagogischen Aufgabe der Erweckung von Heilungshoffnung. Erst das Movens medizinischer Hoffnung vermag die Patienten zur Befolgung ärztlicher Anweisungen zu bewegen. Diese Heilungshoffnung vonseiten der Patienten erweist sich ferner eng verknüpft mit der Credibilität des ärztlichen Ethos. Ohne den Gauben an die Kompetenz, die moralische Integrität und das rückhaltlose Wohlwollen der behandelnden Ärztin oder des Arztes können die Patienten kaum Hoffnung auf die Einlösung des medizinischen Versprechens auf Heilung fassen. Interpretiert man diesen Glauben (fides) der Patienten an den Arzt mit Luther ebenfalls als Affekt, so bildet er die zweite pathelogische Gelingensbedingung medizinischer Kommunikation. Dabei stehen die beiden pathelogischen Gelingensbedingungen, die Affekte der Hoffnung und des Glaubens für das ärztliche Versprechen hinsichtlich der Befolgung ärztlicher Anweisungen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Ohne den Glauben und das Vertrauen in den Arzt würde der Patient keine wirkliche Genesungshoffnung haben können. Und umgekehrt, ohne die Hoffnung auf Genesung würde er keinen Anlass haben, sich vertrauensvoll an den Arzt zu wenden und seinen mühevollen Anweisungen Folge zu leisten. Dass darüber hinausgehend die beiden kardinalen Affekte des Glaubens und der Hoffnung auch den Genesungsprozess selbst beeinflussen können, lassen die vieldiskutierten empirischen Studien zum Placebo-Effekt nur vermuten. Aus der Sicht der klassischen Rhetoriktradition wird jedenfalls die sorgfältige Achtsamkeit und Pflege der ethologischen und pathelogischen Credibilitätsaspekte des medizinischen Heilungsversprechens innerhalb des Arzt-PatientenGesprächs zu den pflichtgemäßen Basiskompetenzen einer sich gegenwärtig erst formierenden Rhetorica medicina gehören. Rückblickend hat der kurze Streifzug durch die antiken Prolegomena und das Gleichnis Luthers einige aufschlussreiche Aspekte für den Entwurf einer modernen Rhetorik der Medizin erbracht. Im Rekurs auf die topische Analogisierung von Redekunst und Heilkunst in den antiken Texten wurde die komplementäre Zusammengehörigkeit dieser beiden Disziplinen deutlich. Vor dem Hintergrund der körperlich-seelischen Gesamtnatur des Menschen bilden Rhetorik und Medizin die beiden zentralen Schwesterdisziplinen einer den ganzen Menschen formenden und perfektionierenden Anthropotechnik. Sodann stellt sich das Credibilitätprinzip als der gesuchte sachliche Grund der inneren Verbindung von Rhetorik und Medizin heraus. Von daher wurde auch die immanente Rhetorizität der Medizin selbst verständlich, die auch das eigentliche heute neu zu diskutierende
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Thema der modernen Rhetorik der Medizin darstellt. Am Beispiel des medizinischen Nichtbefolgungsproblems wurden schließlich die ethologischen und pathelogischen Aspekte und Aufgaben einer zukünftigen Rhetorica medicina angesprochen. Über Möglichkeiten und Grenzen der Rhetorik in der Medizin wird in Zukunft detailliert und differenziert zu sprechen sein. So lässt sich absehen, dass der spezifische Anteil einer Rhetorica medicina bei der Diagnose größer als bei der Therapie ausfällt und bei der Behandlung einer offenen Wunde oder einer Fraktur naturgemäß geringer sein wird als bei psychosomatischen Erkrankungen sowie bei beratungsintensiven Eingriffen der Schönheitschirurgie oder gar bei in Zukunft denkbaren gentechnischen Perfektionierungsmaßnahmen. Hier eröffnet sich ein weites Feld der differenzierten Beurteilung des jeweils fallspezifischen Verhältnisses zwischen medizinischer Rede und Tat. Die moderne Rhetorik der Medizin, welche heute erst in ihren Anfängen steckt, wird angesichts des raschen medizinischen Fortschrittes, von dem sich auch in Zukunft neue biomedizinische Erkenntnisse und entsprechend erweiterte Therapie- bzw. Optimierungsmöglichkeiten, aber auch Risiken erwarten lassen, ständig weiter zu entwickeln sein. Von daher bildet die Erforschung des spezifischen Anteils des Redenkönnens am Heilenkönnen eine tendenziell unendliche Aufgabe. Die sich in der modernen Rhetorik der Medizin heute abzeichnende neue Verbindung von zwei Disziplinen, die beide zum ‚ältesten Bestand‘ menschlicher Anthropotechniken gehören, eröffnet aber heute schon die Aussicht auf ein neues und erweitertes Selbstverständnis und Aufgabenfeld der Medizinerinnen und Mediziner. Sie besteht in der grundsätzlichen Selbsterkenntnis, dass auch der Medicus auf seine spezifische Weise ein Homo rhetoricus ist. Das Redenkönnen erweist sich zunehmend als integraler Bestandteil des Heilenkönnens. Die sich bereits heute mehr und mehr durchsetzende Erkenntnis, dass die rhetorische Kompetenz zu den unabdingbaren Pflichten jedes Mediziners gehört, stellt auch die universitäre Medizinerausbildung in Zukunft vor neue Aufgaben. Die professionelle Ausbildung rhetorischer Kompetenz bildet bisher noch ein weitgehend vernachlässigtes Kapitel des universitären Medizinstudiums. Die Pflege der medizinischen Rhetorik sollte aber in Zukunft nicht länger weitgehend dem Zufall und der persönlichen Begabung allein überlassen bleiben, sondern auf verantwortliche und professionelle Weise in der akademischen Medizin gepflegt werden. So stellt sich heute auch die Aufgabe einer studientechnischen Institutionalisierung der Rhetorischen Medizin als Bestandteil zukünftiger Medizinerausbildung an unseren Universitäten: Die neue Rhetorica medicina sollte deshalb als unabdingbares Pflichtfach in jede zukünftige Medizinerausbildung integriert werden.
‚Allein durchs Wort‘ Rhetorik und Rationalität bei Martin Luther Die Rhetorik-Renaissance des 20. Jahrhunderts hat auch zur Neuentdeckung der Rhetorik als Rationalitätsform auf dem Gebiet der Religion und der Theologie geführt.1 In den letzten Jahrzehnten brachte sie dabei vor allem die lang vergessene Bedeutung rhetorischer Rationalität bei Martin Luther wieder zu Bewusstsein.2 So entstand ein neues, durchweg rhetorikaffines Lutherbild, das den Reformator in die direkte Rezeptionslinie der antiken Rhetorik Ciceros und Quintilians stellt und damit in die breite Strömung des zeitgenössischen Renaissance-Humanismus einreiht. So verdienstvoll dieses neue rhetorikaffine Lutherverständnis in seinem Kampf gegen die falschen arhetorischen oder rhetorikrepugnanten Lutherbilder in der Vergangenheit gewesen sein mag, so ergänzungsbedürftig erscheint es heute. Der – inzwischen etablierte – Topos vom humanistischen Rhetoriker, dessen „Glaubensbegriff identisch mit dem rhetorischen Fidesbegriff“3 sei, sollte allerdings nicht das mehrschichtige Rationalitätsproblem verdecken, das Luthers reformatorische Wende zur Rhetorik motiviert. Wie im Folgenden näher gezeigt werden soll, sind es vor allem drei Teilprobleme, die Luthers Reformation der Rhetorik zugrunde liegen: Erstens das Amoralitätsproblem, das in der ethischen Zweideutigkeit der Rhetorik als einer formal verselbstständigten Rationalitätsform besteht: Es verkörpert sich in Luthers radikaler Kritik an der korrupten ars rhetorica und seiner Forderung nach ihrer christlichen Erneuerung.
|| 1 Die wichtigsten Werke zur Rhetorik-Renaissance finden sich in: Rhetorik: 1970–1995. Eine Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur, in: Rhetorik, in: Heinrich F. Plett, Zur Aktualität der Rhetorik, München 1996, 227–240, speziell zur Theologie vgl. 235 f. 2 Vgl. Klaus Dockhorn, Luthers Glaubensbegriff und die Rhetorik. Zu Gerhard Ebelings Buch Einführung in die theologische Sprachlehre, in: Linguistica biblica, 3 (1973), 19–39; Ders., Rhetorica movet. Protestantischer Humanismus und karolingische Renaissance, in: Helmut Schanze (Hg.), Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1974, 17–42; Birgit Stolt, Studien zu Luthers Freiheitstraktat, Stockholm/Uppsala 1969; Dies., Docere, delectare und movere bei Luther. Analysiert anhand der ‚Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle‘, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 44 (1970), 433–473; Dies., Martin Luthers rhetorische Syntax, in: Gert Ueding (Hg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften: Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“, Berlin 1991, 207–220. 3 Dockhorn, Luthers Glaubensbegriff (s. Anm. 2), 20. https://doi.org/10.1515/9783110527667-008
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Zweitens das sogenannte Irrationalitätsproblem, das auf das kognitive Defizit einseitig affektbezogener Rhetorik im Gegensatz zur sachbezogenen Logik bzw. Dialektik verweist: Wie sich zeigen wird, versucht Luther diese Gefahr durch eine neue komplementäre Verbindung der Rhetorik mit der Dialektik zu meistern. Drittens das religiöse Transrationalitätsproblem, das sich aus der Differenz der beanspruchten unmittelbaren Wirksamkeit göttlicher Rede und der geschichtlichen Notwendigkeit ihrer rhetorischen Vermittlung ergibt. Dieses Transrationalitätsproblem führt schon bei Luther zu einer unaufgelösten Spannung von Wortreligion und rhetorischer Rationalität, die sich in der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts wiederfindet.
1 Luthers Kritik und Erneuerung der ars rhetorica Dass das simple Bild des generellen Rhetorikfreundes Luther täuscht, belegen seine geradezu rhetorikfeindlichen Bemerkungen, die in der Feststellung gipfeln, dass der Satan als tausendfacher ‚Kunstmeister und Feind Christi‘ (artifex et hostis Christi) ein Dialektiker und Rhetor sei: „Nam credite mihi, diabolus est dialecticus, rhetor, philosophus.“4 Der Teufel erscheint hier geradezu als ein Meister der Artistenfakultät, der die Rhetorik und Dialektik als Waffen im Kampf gegen Christus missbraucht. Dialektik und Rhetorik sind gleichsam die spitzen Pfeile und die glühende Kohle, mit denen der Böse seinen Kampf gegen Christus, die Kirche und die Menschheit führt.5 Zweifellos ist Luther der Auffassung, dass Rhetorik und Dialektik als verselbstständigte Künste Waffen in der Hand des Bösen sind. Das Misstrauen gegen die Rhetorik als zum Missbrauch geeignete Kunst teilt Luther mit Augustinus. Dieser hatte in seiner Doctrina christiana bereits festgestellt, dass man durch die Redekunst sowohl vom Wahren als auch vom Falschen überzeugt werden kann.6 Augustinus’ Kritik an der Zweideutigkeit der säkular verselbstständigten, formalen Redetechniken findet sich in verschärfter Form bei Luther wieder, der sie generell als Erfindungen einer durch den Sündenfall bereits korrumpierten
|| 4 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff. Hier und im Folgenden zitiert nach Band, Seite, Zeile = WA; die Tischreden = TR; die Briefe = BR; hier WA 39 I,546,21 f. 5 „[…] rhetorica et dialectica. Sunt sagittae et sunt carbones“ (WA 40 III,29,12 f.). 6 „Nam cum per artem rhetoricam et vera suadeantur et falsa“ (Augustinus, De doctr. christ., IV,3).
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Menschheit ansieht: Das sündige Fleisch habe sich, losgelassen aus der Hand Gottes, eine seltsame Dialektik und Rhetorik erfunden.7 Luther ist der Überzeugung, dass die Auffassung von der Neutralität formaler Technik eine Illusion sei. Rhetorik und Dialektik sind, auf sich allein gestellt, nicht nur zum Missbrauch geeignet, sie tendieren per se zu ihm, weil sie genuine Erfindungen einer durch die Erbsünde korrumpierten Rationalität sind. Die Ratio als Erfinderin und Regiererin aller Künste – inventrix et gubernatrix omnium Artium8 – ist zwar an sich das schönste und vortrefflichste aller Dinge, nach dem Sündenfall stehe sie aber unter der Gewalt des Teufels.9 Es ist letztlich diese fundamentaltheologische Kritik an der durch den Sündenfall verdorbenen menschlichen Rationalität, die auch sein tiefgreifendes Misstrauen gegenüber den rhetorischen und dialektischen Redetechniken bedingt. Diese fundamentaltheologische Rationalitätskritik, die sich vor dem Hintergrund der Erbsündenlehre und des von Augustinus in De civitate Dei geschilderten heilsgeschichtlichen Kampfes der civitas dei gegen die civitas terrena entfaltet, verurteilt aber nicht generell jede Rhetorik, sondern ihre spätmittelalterliche Verfallsform. Sie greift aus eigener theologischer Motivation die humanistische Kritik am scholastischen Lehrsystem der septem artes liberales auf und bekämpft speziell die triviale Rhetorik des Mittelalters als formal verselbstständigte, spezialisierte, säkularisierte und fragmentarisierte Kunst.10 Diese hat in Luthers Augen ihren Bezug zur Weisheit Christi verloren und sich zu einem willfährigen Instrument in der Hand der Häretiker und des Bösen verwandelt. Luthers Verhältnis zur Rhetorik und Dialektik ist gekennzeichnet durch die doppelgesichtige Gedankenfigur von Kritik und Erneuerung, die das auf den ersten Blick verwirrende Durcheinander von Lob und Tadel erklärt.11 An die schneidende Kritik ihrer Verfallsform schließt sich das Programm ihrer christlichen Re-
|| 7 „Caro enim, subtrahente Deo manum, mirabilem dialecticam et rhetoricam sibi fingit“ (WA 42,555,5 f.). 8 WA 39 I,175,11. 9 „[…] ratio post peccatum, relicta sub potestate diaboli“ (WA 39 I,176,15). 10 „Medieval rhetoric, with its fragmentation into specialized genres, did not provide for the humanists the kind of synthesizing approach for which they yearned“ (James Jerome Murphy, Rhetoric in the Middle Ages. A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley/Los Angeles/London 1974, 359 f.). 11 Prototypisch findet sich diese Gedankenfigur schon bei Platon: Die Verurteilung der sophistischen Rhetorik im Gorgias wird ergänzt durch den Gegenentwurf einer philosophischen Rhetorik im Phaidros. Der sophistischen Technik, die die immanente Meisterung der menschlichen Lebenswelt verspricht, stellt Platon seine dialektische Rhetorikkonzeption entgegen, die den Bezug zur Transzendenz metaphysischer Wahrheit wiederherstellen soll.
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formation an. Luther ist sich nämlich durchaus darüber im Klaren, dass auch das Christentum rhetorisch und dialektisch organisiert sein muss, um die welt- und heilsgeschichtliche Auseinandersetzung mit seinen artistisch geschulten Gegnern bestehen zu können. Der Verurteilung der spätscholastischen Dialektik und Rhetorik als korrupter Kunstformen folgt deshalb der rhetorikaffine Ruf nach ihrer Wiederherstellung im Geist christlicher Weisheit: „ubi sapientia illa Christi domini, cui non possint resistere omnes adversarii? ubi dialectica docendi magistra? ubi rhetorica persuadendi facultas?“12 Der säkularen Verfallsform der Rhetorik stellt Luther das Idealbild seiner christlichen Rhetorik entgegen. Diese übernimmt wieder – wie schon Augustinus von Cicero13 – die drei klassischen officia des Redners, das Belehren (docere), das Erfreuen (delectare) und das Bewegen (movere). Luther schließt hier zwar grundsätzlich an den umfassenden Rhetorikbegriff der Antike an, aber Inbegriff der christlichen Rhetorik ist niemand anderes als Christus selbst. Dieser lehrt, erfreut und bewegt nicht durch Schulregeln, sondern durch sein in der Heiligen Schrift beschriebenes Leben selbst: „solus autem Christus si docet, delectat, movet eum qui attendit ipsum, quid loquatur per sanctissimam vitam suam.“14 Das in der Bibel geschilderte Reden und Leben Jesu wird für Luther zum Quell und Vorbild rhetorischer Erneuerung. Im wieder aufgegangenen Lichte des Evangeliums erschließt sich für Luther auch der – in der Jugendbildung des scholastischen Lehrbetriebes verlorengegangene – rechte Gebrauch aller drei Rededisziplinen Grammatik, Dialektik und Rhetorik neu.15 Der neue hermeneutische Gebrauch der Dialektik und Rhetorik für die Auslegung der Heiligen Schrift hat auch bei Luther prinzipielle Gründe.16 Die rhetorisch-dialektische Methode rechtfertigt sich vor allem dadurch, dass die Texte der Bibel von sich selbst her als ein Produkt göttlicher Rhetorik und Dialektik zu verstehen sind. Der Heilige Geist sei – so Luther – nämlich selbst der beste Rhetor und Dialektiker: „Ceterum spiritus sanctus optimus Rhetor et dialecticus est.“17
|| 12 WA.BR 7,33,196 f. (Nr. 2093). 13 „Oratoris est docere, delectare, flectere, ex Cicerone, de Oratore“ (Augustinus, De doctr. christ., IV,26). 14 WA 4,646,34 f. 15 „Similiter ante datam Euangelii lucem artis usus recte ostensus aut cognitus fuit? clarum id est in puerilibus disciplinis. Nec grammaticae neque dialecticae nec rhetoricae usus patebat, tantum aberat, ut recte doceri possent“ (WA 31 II,613,29–32). 16 Zur Bedeutung der rhetorischen Methode im weiteren Kontext der Reformation vgl. Susi Hausammann, Die Rhetorik im Dienst der reformatorischen Schriftauslegung, in: Kerygma und Dogma, 20 (1974), 305–314. 17 WA 31 II,83,12.
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Auch bei ihm lasse das ‚Rhetorisieren‘ die Ermahnung einleuchtender erscheinen: „Rhetoricatur igitur Spiritus sanctus iam, ut exhortatio fiat illustrior.“18 Er realisiert so vorbildlich das rhetorische Wissen um den Zusammenhang zwischen Veranschaulichung (illustratio) und Willenswirksamkeit (movere). Die Rede des heiligen Geistes amplifiziert sowohl das Böse als auch das Gute.19 Erst dieses Rhetorisieren macht aus den Buchstaben der Bibel eine lingua viva von höchster Plastizität und Wirkkraft. Es verleiht dem sprachlichen Ausdruck jene besondere Emphase, die am Ende das Wort des heiligen Geistes nur mit dem Größten an Energie und Lebendigkeit, dem Feuer, vergleichbar macht.20 Das in der Bibel beschriebene Reden und Leben Jesu und seiner Apostel oder der Propheten, aber auch die Genesis-Erzählung oder die Psalmen, bilden für Luther die reichen Fundorte einer mit christlicher Weisheit material erfüllten, ursprünglichen Rhetorik und Dialektik. Von hier erfahren auch die überlieferten, formalen Redekünste – Grammatik, Dialektik. Rhetorik – eine Neubestimmung.21 Diesen neuen hermeneutischen Gebrauch im Bibelstudium hat Luther im Sinn, wenn er behauptet: „Sic sub Papa ne unus quidem erat, qui grammaticam, dialecticam, Rhetoricam hette kund.“22 Die Interpretation der Bibel verlangt nämlich nicht nur nach der Grammatik, die eine korrekte und buchstabengetreue Übersetzung des Textes ermöglicht. Um den eigentlich intendierten, tieferen Sinn richtig beurteilen zu können, bedarf es vor allem einer eingehenden rhetorischen und dialektischen Analyse, die Figuren und Umstände (figurae et circumstantiae)23 einer bestimmten Textstelle berücksichtigt. Der Vorteil dieser rhetorischdialektischen Bibelinterpretation ist für Luther die Übereinstimmung von Methode und Gegenstand. Die Bibel als vom heiligen Geist erfüllte Rede ist selber eminent rhetorisch und dialektisch. Rhetorik und Dialektik sind somit keine künstlichen und willkürlich an den Text der Bibel herangetragenen Methoden, sondern korrespondieren der Natur ihres Gegenstandes: Sie machen lediglich die implizite Rhetorik und Dialektik der Bibel explizit. An einigen biblischen Gestalten wird für Luther deren implizite Rhetorik besonders deutlich. In seinen Augen findet sich folglich die Ambivalenz integrer
|| 18 WA 40 III,59,37. 19 Vgl. WA 43,124,33 f. 20 WA 4,595,21–24. 21 Eine analoge Herauswendung aus den formalen Vorschriften (praecepta) der spätantiken Schulrhetorik hin zum Lesen und Hören der Heiligen Schrift und der Nachahmung (imitatio) der in ihr gelegenen und unmittelbar mit christlicher Weisheit (sapientia) verbundenen Beredsamkeit (eloquentia) findet sich schon bei Augustinus (vgl. De doctr. christ., IV,10). 22 WA 36,352,7 f. 23 WA 31 II,1,10 f.
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und korrupter Rhetorik in der Bibel wieder. Eine Impersonation positiver, mit der Dialektik harmonisch verbundener Rhetorik, ist für Luther König David. Dieser erweist sich in den Psalmen sowohl als Dialektiker als auch als Rhetor. Als Dialektiker sagte er, dass man Gott danken solle für die Erhaltung und Verteidigung des Reiches. Als Rhetoriker amplifiziere er nun dessen Gefährdung. Wenn er sage ‚Die Menschen setzen sich wider uns‘, so enthalte der Ausdruck ‚die Menschen‘ – so interpretiert Luther – eine bestimmte Emphase, als wolle er sagen: Wir Juden sind gleichsam die Schwächsten der Erde und das geringste Häuflein unter den Menschen. Gegen uns sind alle Menschen, das heißt: die Könige, Fürsten, Reichen, Weisen und alles, was in dieser Welt nur mächtig und groß ist.24 Eine Gegenfigur verdorbener Rhetorik im Alten Testament stellt dagegen Esau dar, wenn er seinen Vater Isaak mit – so Luther – künstlichen Worten um seinen Segen bittet. Die in der dritten Person abgefasste Formel ‚Steh auf, mein Vater, iß vom Wildbret deines Sohnes, daß deine Seele mich segne‘25 sei Ausdruck einer von Hypokrisis erfüllten Rhetorik. Der Heuchler Esau gebrauche im Kontrast mit dem redlich und schlicht dialektisch argumentierenden Jacob eine absonderliche Rhetorik: Er gleiche darin solchen Heiligen, denen die Worte nur zum Schmuck, zur Eleganz und zum eigenen Glanz dienen.26 Seine Rhetorik sei erfüllt von Hochmut, wie bei den Heuchlern, die sich Kirche nennen und sich durch ihre glänzende, äußere Larve den Anschein geben, als seien sie wahrhaft fromm.27 So zeigt die Bibel für Luther exemplarisch die Rhetorik in der Zweideutigkeit von heilsamer Emphase und verdorbener Hypokrisis. Sowohl die Frömmigkeit als auch ihre Simulation sind auf die Rhetorik angewiesen. Aber der wahren Frömmigkeit entspricht die mit der Dialektik harmonisch verbundene und durch sie gerechtfertigte Rhetorik.28 Dagegen bedient sich die Heuchelei einer korrup-
|| 24 „Sed hic David se ostendit Rhetorem quoque esse. Dialectice dixit esse Deo agendas gratias pro conservatione et defensione huius regni. Nunc Rhetorice amplificat periculum, cum dicit: Homines insurgunt contra nos. Est enim Emphasis in vocabulo ‚Homines‘, quasi dicat: Nos Iudaei sumus quasi ultima fex orbis et minima hominum portio. Insurgunt autem contra nos homines, hoc est Reges, Principes, Divites, Sapientes et quicquid in hoc seculo potens et magnum est“ (WA 40 III,139,29 ff.). 25 „Surgat pater meus, et comedat de venatione filii sui, ut benedicat mihi anima tua“ (WA 43,529,33 f.). 26 „Sed hypocrita ille utitur singulari Rhetorica: quemadmodum solet id genus sanctorum uti verbis ad ornatum, elegantiam et splendorem accommodatis“ (WA 43,529,37 ff.). 27 „Tam superbe Rhetoricatur […]. Sic enim solent hypocritae, vocant se Ecclesiam, ut maiorem larvam ac splendidiorem ornatum habent, quam vere pii“ (WA 43,530,1–4). 28 Vgl. WA 40 II,28,26 f.
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ten und von der Dialektik abgelösten Rhetorik, die durch den affektiv erregten falschen Schein ihren eigenen Hochmut zu verbergen sucht.
2 Die neue Verbindung der Rhetorik mit der Dialektik Luthers Rhetorikverständnis lässt sich nicht eindimensional aus der Rezeption der antiken Rhetorik und seiner angeblichen Quintilianlektüre verstehen.29 Schon das Diktum „Dialectica docet, rhetorica movet“30 weist darauf hin, dass Luthers Ausgangspunkt nicht in erster Linie die klassische Rhetorik Quintilians bildet, sondern die triviale Rhetorik und Dialektik der mittelalterlichen septem artes liberales, die seine schulische Erziehung begründen.31 Luther knüpft somit nicht mehr unmittelbar an die integrale Rhetorik der Antike an, sondern an die bereits spezialisierte Rhetorik des Mittelalters, die ihr argumentatives Rationalitätspotential bereits an die Dialektik abgetreten hat. Dieser reduzierten Rhetorik, die das docere der Dialektik überlassen muss, weist er ferner das movere als einzige Aufgabe zu. Damit findet sich schon bei Luther jene – auf die affektive Willensbewegung spezialisierte – neuzeitliche Rhetorikkonzeption, deren Rationalitätsdefizit vielfach den Vorwurf des ‚Irrationalismus‘ auf sich gezogen hat. Luther selbst ist sich allerdings dieses Rationalitätsdefizits seiner rein auf das movere spezialisierten Rhetorik durchaus bewusst. Zwar steht das movere zweifellos im Zentrum der erneuerten Rhetorik Luthers. In dieser Hinsicht steht sie mitten in der Renaissance der ‚Rhetorik der Affekte‘.32 „Affectibus movere bez. affectibus moveri“ lautet, wie wir wissen, die Maxime der Neuen Rhetorik.33 Gegen || 29 Vgl. Ulrich Nembach, Predigt des Evangeliums. Luther als Prediger, Pädagoge und Rhetor, Neukirchen-Vluyn 1972. 30 WA.TR 2,359,18 (Nr. 2199 A). 31 Luthers erste und grundlegende Bekanntschaft mit der trivialen Rhetorik und Logik bzw. Dialektik gehört zu seinen frühesten Bildungserlebnissen. „Luthers Schulbildung nahm in der Mansfelder Stadtschule ihren Anfang. Von etwa 1490 bis 1497 hat er in der heimischen Lateinbzw. Trivialschule die drei Grundfächer (das Trivium) erlernt: Grammatik, Rhetorik und Logik“ (Albrecht Beutel, Martin Luther, München 1991, 23). Auch in seinem späteren Grundstudium an der spätmittelalterlichen Artistenfakultät der Universität Erfurt herrschten noch die septem artes liberales (vgl. Beutel, Martin Luther, 25). 32 Vgl. Heinrich F. Plett, Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance, Tübingen 1975. 33 Heinz Otto Burger, Renaissance – Humanismus – Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext, Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1969, 383.
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die Dominanz der Dialektik im scholastischen Schulbetrieb findet sich auch bei Luther die für den Renaissance-Humanismus typische Erneuerung des rhetorischen Paradigmas wieder. Aber seine Reformation der Rhetorik vollzieht sich im Rahmen einer großangelegten Synthese der ihm aus dem spätmittelalterlichen Schulbetrieb bestens bekannten trivialen Rhetorik und Dialektik: Zur vollständigen programmatischen Formel der Rhetorik in Luthers Tischreden gehört daher nicht nur das rhetorica movet, sondern auch das dialectica docet: „Dialectica docet, rhetorica movet. Illa ad intellectum pertinet, haec ad voluntatem. Quas utrasque Paulus complexus est Rom. 12, quando dixit: Qui docet in doctrina, qui exhortatur in exhortando.“34 Diese duale Formel zeigt eine Verbindung von Rhetorik und Dialektik an, durch die beide Disziplinen ein neues, komplementäres Verhältnis eingehen. Dabei vollzieht Luther die Reduzierung der rhetorischen Effekttrias, die wir auch bei Melanchthon35 finden: „Die Rhetorik erregt die Affekte (movere), die Dialektik unterrichtet (docere). – Vom delectare ist nicht die Rede.“36 Bei aller Wertschätzung der Rhetorik wird die Dialektik von Luther – vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Differenzierung der trivialen artes in die Grammatik, die Dialektik und die Rhetorik – als eigene Disziplin bewahrt. Dies unterscheidet Luthers Reformation der Rhetorik von dem Versuch Melanchthons, das Moment der Dialektik als Lehrrede (γένος διδασκαλικόν) in die Rhetorik direkt zu integrieren.37 Bei Luther bleibt es dagegen bei einer dezidierten Aufgabenteilung beider Disziplinen: der Dialektik obliegt das an den Intellekt adressierte Lehren (docere), die Rhetorik zielt darüber hinaus auf die Bewegung des Willens (movere). Das Proprium der auf das movere gerichteten Rhetorik bildet dabei das Veranschaulichen (illustrare): „[…] illustratio, quod tamen proprie est rhetorum, ut res illustretur scripturae locis similibus, exemplis et id genus aliis, id quod maxime cupis credere et amplecti auditores tuos.“38 Die dialektische Rationalität bedarf der Rhetorik, um ihr eigenes Persuasionsdefizit zu beseitigen. Das Beweisen (probare) ist die Aufgabe der Dialektik,
|| 34 WA.TR 2,359,18–21 (Nr. 2199 A). 35 Ähnlich äußert sich Melanchthon in den Elementa rhetorices (1531) zur Unterscheidung von Dialektik und Rhetorik: „Iuxta hoc discrimen proprius dialecticae finis est docere, rhetoricae autem permovere atque impellere animos, et ad adfectum aliquem traducere“ (Philipp Melanchthons ‚Rhetorik‘, hg. v. Joachim Knape, Tübingen 1993, 122). Vgl. Uwe Schell, Die homiletische Theorie Philipp Melanchthons, Berlin/Hamburg 1968. 36 Plett, Rhetorik der Affekte (s. Anm. 32), 18. 37 Zu Melanchthons Einführung des γένος διδασκαλικόν, das die Funktion des docere innerhalb der Rhetorik übernimmt, s. Philipp Melanchthons ‚Rhetorik‘ (s. Anm. 35), 123. 38 TR 2,360,7 ff.
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das illustrative Ausschmücken (ornare) und Überzeugen (persuadere) dagegen die der Rhetorik.39 Die figurale Rede der Rhetorik mit ihrem Tropen- und Figurenreichtum, ihren Beispielen und Gleichnissen und ihrem topischen Materialreichtum besitzt jene Fähigkeit zu wirksamer Vergegenwärtigung, die der abstrakten dialektischen Belehrung fehlt. Luther macht diesen Unterschied dialektischer und rhetorischer Rede an einem einfachen Beispiel deutlich: „Dialectica spricht: Gib mir zu essen. Rhetorica spricht: Ich bin heitt den gantzen tag schwerlich gangen, bin muhet, kranck, hungerig etc., hab nichts gessen; lieber, gib mir doch ein gutt stuckh fleisch, ein gutten pratten, ein gutt humpen bir, gib mir trinckhen.“40 Das entscheidende Defizit der Dialektik besteht darin, dass abstrakte Belehrung nur den Intellekt, aber nicht den Willen der Menschen zu erreichen vermag. Die wirksame Ermahnung (adhortatio) bedarf aber der rhetorischen Veranschaulichung (illustratio), um auf affektive Weise die gewünschte Willensbewegung hervorzurufen. Dieses hier von Luther aktualisierte Wissen um die Ohnmacht abstrakter Begriffssprache und die Macht bildhaft veranschaulichender und deshalb wirksamer Rede ist in der Tat genuin rhetorisches Gedankengut. Quintilian hat diesen inneren Zusammenhang zwischen Anschaulichkeit (enargeia) und affektiver Wirksamkeit (energeia) bekanntlich eigens hervorgehoben.41 Erst die rhetorische Evidenz des plastischen Vor-Augen-Führens der Dinge verleiht der Rede ihre eigentliche gefühls- und willenswirksame persuasive Kraft. Luthers Reformation der Rhetorik, die eine auf das movere spezialisierte Rhetorik mit der Dialektik verbindet, bildet nicht zuletzt eine Renaissance der schon in der Antike bekannten Möglichkeiten persuasiver Rede, die nicht nur den Intellekt zu informieren, sondern den Willen zu formen und so das gesamte Leben der Menschen zu erneuern sucht. Für diese neue Spitzenstellung der Rhetorik bei Luther bildet das Diktum die Formel rhetorica movet einerseits eine treffliche programmatische Formel. Dennoch bleibt das dialectica docet ihr unverzichtbares, ergänzendes Pendant. Luther verfolgt somit das Konzept einer dialektisch ergänzten Rhetorik. Die sachliche Belehrung bleibt für Luther die unverzichtbare Grundlage der beabsichtigten persuasiven Zuspitzung der Rede.42 Der Rhetor soll deshalb immer auch ein Dialektiker sein, der kritisch zwischen notwendigen und || 39 „Aliud enim est probare, aliud ornare. Rhetorica argumenta non semper probant, sed vehementer ornant, et persuadent ea, quae dialectica probavit“ (WA 43,14,1 ff.). 40 TR 2,126,24–28. 41 „Insequitur enargeia, quae a Cicerone inlustratio et evidentia nominatur, quae non tam dicere videatur quam ostendere, et adfectus non aliter, quam si rebus ipsius intersimus, sequentur“ (Quint., Inst. or., VI 2,32). Dazu: Dockhorn, Luthers Glaubensbegriff (s. Anm. 2), 30–33. 42 Vgl. auch Wolfgang Maaser, Rhetorik und Dialektik. Überlegungen zur systematischen Relevanz der Rhetoriktradition bei Luther, in: Luther, 69 (1998), 25–39.
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wahrscheinlichen Argumenten zu unterscheiden weiß: „Non igitur sufficit rhetorem esse. Rhetor oportet ut sit dialecticus, ut iudicet inter dignitates seu axiomata […] et εἰκαῖα.“43 Der Einsatz persuasiver Rede, die die Affekte der Menschen erregt, um ihren Willen zu bewegen, lässt sich nur im Verein mit dem dialektischen Sachbezug rechtfertigen. Ihr verantwortlicher Gebrauch verlangt die Beseitigung der artifiziellen Trennung von Rhetorik und Dialektik. Die Reformation der trivialen ars rhetorica bei Luther hebt so ihre Trennung von der Dialektik auf und führt zur integralen Konzeption einer dialektisch ergänzten Rhetorik und einer rhetorisch ergänzten Dialektik. Die Rhetorik bedarf einerseits der Dialektik, um ihr spezifisches Rationalitätsproblem und die Dialektik andererseits ebenso sehr der Rhetorik, um ihr spezifisches Persuasionsproblem zu beheben. Die Reformatoren sollen in Luthers Augen zugleich vollkommene Dialektiker und Rhetoriker sein, wenn sie keine ABC-Schüler bleiben wollen.44 Allein schon deshalb, weil die Rhetorik im Verein mit der Dialektik die Affekte der Menschen zu formen vermag, bildet sie für Luther beileibe kein rein stilistisches Problem. In Hinsicht auf die religiösen Leitaffekte Glaube (fides) und Hoffnung (spes) wird die neue Rhetorik-Dialektik sogar zur führenden Rationalitätsform seiner Theologie. Für die Systematik der religiösen Leitaffekte Glauben und Hoffnung in ihrem Verhältnis zur Dialektik und Rhetorik gilt bei Luther charakteristischerweise wieder eine duale Formel: Fides est Dialectica – Spes Rhetorica.45 Damit ist zunächst der Gegensatz von Glaube und Hoffnung, Dialektik und Rhetorik betont: Den primären Bezug zum Glauben besitzt somit die Dialektik und nicht die Rhetorik. Fides ist bei Luther somit kein ‚blinder Glaube‘, sondern wird durch dialektische Belehrung (docere) vermittelt. Dagegen bezieht sich die Rhetorik per se auf die Hoffnung. Dies spricht erst einmal gegen die Behauptung einer unmittelbaren Identität des lutherischen fides-Begriffes mit dem der Rhetoriktradition. Dennoch besitzt die Rhetorik in ihrer Verbindung mit der Dialektik ein mittelbares Verhältnis zum Glauben. Für Luther ist die Rhetorik sogar auch für den Glauben konstitutiv. Dies wird aus der inneren Zusammengehörigkeit von Dialektik und Rhetorik ersichtlich: Demnach sind Dialektik und Rhetorik zwar unterschiedliche Künste, aber dennoch untereinander verbunden und der Sache
|| 43 WA 43,27,30–32. 44 „Si non possumus fieri Dialectici et Rethorici perfecti, simus interea Alphabetarii aut Donatistae, donec veniamus ad Dialecticam et Rethoricam“ (WA 43,445,5–7). 45 „Fides igitur est Dialectica, quae concipit ideam omnium credendorum, Spes Rhetorica, quae amplificat, urget, persuadet et exhortatur ad constantiam“ (WA 40 II,28,12 f.).
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nach untrennbar, weil der Redner ohne die Dialektik nichts Sicheres lehren und umgekehrt der Dialektiker ohne die Rhetorik die Gefühle seiner Hörer nicht zu erreichen vermag.46 Ohne die Vermittlung der Rhetorik vermag der Dialektiker und ohne die Dialektik der Rhetoriker nicht zu wirken. Der ideale Redner und Lehrer ist demnach der, der sich auf beide versteht und so zugleich lehren und überzeugen könnte. Demnach meint ‚fides‘ bei Luther einen durch dialektische Belehrung vermittelten Glauben, der aber dennoch kein bloßes Wissen darstellt. Er enthält nämlich mehr als die intellektuelle Information durch das reine docere: die wirkliche Überzeugung (persuadere), die das Gefühl ergreift und den Willen stärkt und ermutigt. Es ist genuin rhetorisches Denken, wenn Luther hier sowohl den Glauben als auch die Hoffnung in die Reihe der Affekte einordnet: „fides et spes distincti affectus sunt“47, die sich gegenseitig bedingen und benötigen. Somit spiegelt sich die Interdependenz von Dialektik und Rhetorik nicht auf einer eher marginalen, sondern der zentralen Ebene der religiösen Hauptaffekte wider: „fides enim aliud est quam spes et spes aliud quam fides, et tamen propter magnam cognationem, quam habent inter se, divelli non possunt.“48 Für diese Unabtrennbarkeit von Glaube und Hoffnung gibt Luther ein einleuchtendes Beispiel in seinem Kommentar zum Römerbrief. Zur Illustration der schwierigen Lehrformel „Simul peccator et Iustus“49 zieht er hier folgenden Vergleich: Der durch den Glauben gerechtfertigte Mensch sei einem Kranken ähnlich, der dem Arzt, der ihm aufs Gewisseste die Heilung versprochen hat, glaubt und in der Hoffnung auf Heilung seinen Anweisungen gehorcht. Er sei zugleich krank und gesund – „egrotus simul et sanus“50 –, krank in Wirklichkeit, gesund im Glauben an den Arzt und in der Hoffnung auf die sicher versprochene Genesung. Glaube und Hoffnung zeigen sich in diesem Beispiel als miteinander verschränkt: Ohne den Glauben an den Arzt und seine Anweisungen gäbe es für den Kranken keine wirkliche Hoffnung auf Heilung. Umgekehrt würde der Kranke dem Arzt nicht glauben und seine beschwerlichen Vorschriften befolgen ohne die Hoffnung und die versprochene Aussicht auf Genesung.
|| 46 „Sicut autem Dialectica et Rhetorica distinctae artes sunt et tamen adeo inter se cognatae sunt, ut altera ab altera separari non possit, Quia Rhetor sine Dialectica nihil firmi docere potest, Et econtra Dialecticus sine Rhetorica non afficit auditores, Qui vero utramque coniungit, is docet et persuadet“ (WA 40 II,28,15 ff.). 47 WA 40 II,28,19. 48 WA 40 II,28,19–21. 49 WA 56,272,17. 50 WA 56,272,7 f.
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Die unterscheidbaren und dennoch in der Sache zugleich unabtrennbaren Affekte Glauben und Hoffnung bilden für Luther die affektive Grundlage des menschlichen Lebens. Dass dies für Luther a fortiori für das Gebiet der Religion gilt, macht diese beiden Affekte zu zentralen Themen seiner Theologie. Dabei korrespondieren der theologischen Unterscheidung von Glaube und Hoffnung grundlegende Distinktionen in Theologie, Philosophie, Politik und Rede: „Est igitur ea distinctio fidei et spei in Theologia, quae est intellectus et voluntatis in Philosophia, Prudentiae et Fortitudinis in Politia, Dialectices et Rhetorices in sermone.“51 Hier wird noch einmal die zentrale Stellung der Distinktion fides-spes für die lutherische Theologie und ihr Entsprechungsverhältnis zur Dialektik-Rhetorik besonders deutlich. Sie steht in einer Reihe von Grundunterscheidungen derjenigen vier Disziplinen, die die vier Hauptgebiete des menschlichen Lebens betreffen: die Theologie, die Philosophie, die Politik und die Rede. Dabei verhalten sich die vier Gebiete offensichtlich analog zueinander, und ihre Grundunterscheidungen stehen jeweils in einem komplementären Verhältnis. In der konkreten Totalität des menschlichen Lebens erweisen sich die künstlichen Trennungen der Fächer als wenig sinnvoll. Nichts steht für sich allein und kann sich isoliert erhalten. Die artifiziellen, scholastischen Trennungen der Disziplinen haben auf dem Boden der geschichtlichen Lebenswelt keinen Bestand. Die blinde Hoffnung ist – losgelöst vom begründeten Glauben – auf Dauer ebenso haltlos wie die von der Dialektik abgetrennte inhaltsleere Rhetorik. Dagegen bewahren ein hoffender Glaube, eine glaubende Hoffnung ebenso wie eine rhetorisch bereicherte Dialektik und eine dialektisch ergänzte, gelehrte Rhetorik auf heilsame Weise den Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens.
3 Religion und rhetorische Rationalität Luthers Reformation der Rhetorik gründet positiv im biblisch bezeugten Grundgedanken einer divina rhetorica: Der rhetor optimus ist eben der heilige Geist selbst. Das Idealbild des omnipotenten Wort Gottes hat Luther in seiner Merseburger Predigt vom 6. August 1545 seinen Hörern eindringlich vor Augen geführt. Das Thema „Aus dem munde der jungen kinder und Seuglingen hastu ein macht zugericht“52 – stammt aus den Psalmen Davids. Es gibt dem Prediger Luther die
|| 51 WA 40 II,28,22 ff. 52 WA 51,11,28 f.
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Gelegenheit, das Predigen selbst ausdrücklich zum Thema zu machen und das Verhältnis von Rede, Macht und Reich Christi grundsätzlich zu klären. Den Ausgangspunkt bildet Luthers eigene Zwei-Reiche-Lehre. Diese unterscheidet nach dem Vorbild der Augustinischen Distinktion civitas Dei – civitas terrena das „Reich Christi von dem Weltlichen Reich, welches durch weltliche Könige und Oberkeit regirt wird“53. Die ratio distinctionis, welche das Reich Christi von der säkularen Welt trennt, entnimmt Luther bezeichnenderweise dem rhetorischen Phänomenbereich des Redens und Hörens. Das Reich Christi ist nämlich ein von der sichtbaren, empirischen Welt getrenntes unsichtbares, geistliches Reich, das sich nicht im Sehen, sondern nur im Hören finden lässt: „Und ist Christi Reich ein hör Reich, nicht ein sehe Reich. Denn die augen leiten und füren uns nicht dahin, da wir Christum finden und kennen lernen, sondern die ohren müssen das thun.“54 Als dieses Reich des Hörens steht es der gesamten sichtbaren, säkularen Welt des Sehens entgegen, in der – wie Luther plastisch formuliert – nicht die Ohren, sondern die Augen und die werktätigen Fäuste herrschen: „Also gehet es im weltlichen Regiment nicht zu, denn das selbige stehet nicht allein im gehöre, sondern im werck und nachdrucke, das man die fromen schütze, bey Recht und friede erhalte und die Gottlosen, rohen und bösen straffe, das man auch mit den feusten arbeit, gut und narung erwerbe, dann da wird man mit den ohren nicht regieren oder reich werden, Denn das du reich werdest, da gehörn nicht ohrn zu, sondern das thun augen und feuste, das du es mit dem werck für dich nemest und angreiffest.“55
Dadurch, dass das Reich Christi ein reines Reich des Hörens ist, grenzt es sich klar von der es umgebenden säkularen Welt ab. Es bildet bei Luther aber dennoch kein eschatologisches oder metaphysisches ‚Jenseits‘, sondern besitzt seine Wirklichkeit schon jetzt, mitten auf dieser Erde und inmitten der geschichtlichen Gegenwart. In diesem reinen Reich des Hörens herrscht nun keinerlei äußere Gewalt, vielmehr allein die Macht der überzeugenden Rede: „Inn den stücken stehet das weltlich Regiment, weit abgesondert von Christo, dem Geistlichen Reich, welches Reich, obs wol hie auff erden gehet und gefürt wird, so wird es doch nicht durch pflüge und unsere hende ausgericht, sondern gehet im wort und wird durchs wort gefürt.“56
|| 53 WA 51,11,19 f. 54 WA 51,11,29 ff. 55 WA 51,11,34–12,3. 56 WA 51,12,3–7.
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Zwar spielt Luthers Konzeption des Reiches Christi als eines allein durchs Wort geführten Reich des Hörens hier unverkennbar auf den alten Topos des Christen als ‚Hörer des Wortes‘ an, zugleich entfernt er sich aber grundlegend vom intellektuellen Visualismus der griechisch-platonischen Metaphysik. Der Gedanke eines bloß im Reden und Hören entstehenden, rein rhetorisch begründeten Reiches, das sich inmitten der Realgeschichte befindet und dort weltgeschichtlich behauptet, baut in seinem kompromisslosen Verbalismus ganz auf die schöpferische Macht jenes göttlichen Redeprinzips, das sich im Alten und Neuen Testament findet. Hier spricht der Prediger und Pfarrer – so Luther – mit der ganzen schöpferischen Kraft und Vollmacht des göttlichen Wortes, dem eine besondere sakramentale Wirkkraft innewohnt. „Ey, hörestu, es ist ein grosse unterscheid zwischen deinem mund und des Predigers mund, zwischen deinem wort und eines predigers wort. […] Das ist nu ein ander wort denn mein oder dein wort, […] nemlich das wort Gottes, welches ewig ist und inn ewigkeit bleibet […], das wort hat ein ander krafft, sünden zuvergeben, die sonst kein Wort hat.“57
Der Prediger und Pfarrer führt in den Augen Luthers kein menschliches, sondern das göttliche Wort im Munde. Durch seinen Mund artikuliert sich die absolute Rhetorik des rhetor optimus, des heiligen Geistes, die ein der menschlichen Kunst überlegenes göttliches Können bildet. Dabei entfaltet die aller menschlichen Artifizialität und Reflexion überlegene Gottesrede ihre ursprüngliche Macht dann am besten, wenn sie mit geradezu kindlicher Naivität ausgesprochen und gehört wird. „Also soltu mich nicht hören als einen menschen, der menschen wort predige, So du mich also hörest, wer es viel besser, du hörest mich gar nicht, Also auch deinen Pfarrher soltu nicht als ein menschen hören, der menschen wort rede und predige, sondern solt ihn hören als den, der das wort redet aus dem munde der unmündigen und seuglingen, die also sagen: Ich gleub inn heiligen Geist, Ein heilige Christliche Kirche, die das Wort hat, vergebung der Sünden, die heilige Sacrament und den rechten brauch der Sacrament.“58
Die Hauptgegenstände der christlichen Predigt wie ‚Sündenvergebung‘ und ‚ewiges Leben‘ – so konzidiert Luther – stellen durchaus keine beobachtbaren, empirischen Tatsachen dar. Da es für sie keinerlei äußeren, inartifiziellen Argumente gibt, können sie nur in der und durch die Rede selbst dargestellt und beglaubigt werden.
|| 57 WA 51,15,16–29. 58 WA 51,15,36–16,3.
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„[…] Vergebung der Sünden und ein ewiges leben. Das sein ding, die wir nicht sehen odder fülen, So werden sie nicht mit henden ausgericht, es gehört kein pflug dazu oder ander eusserliche werck, Sondern das Wort, so ich das höre und gleube, so empfahe ich und wird mir alles, was mir das wort anbeut und zusaget.“59
‚Sündenvergebung‘ und ‚ewiges Leben‘ sind gerade keine in der Lebenswelt vorhandenen Gegenstände, sondern reine Wort-Tatsachen. Das Wort des Predigers – und hier überbietet Luther die evidentia-Theorie die klassische Rhetorik – bewirkt nicht nur ein fiktives Vor-Augen-Führen, sondern die reale Genesis ihrer Gegenstände. Für den Glaubenden werden „allein durchs wort“60 Sündenvergebung und ewiges Leben zur Realität: „[…] denn das wort treuget nicht, was es zusaget, das ist ja, das geschicht also.“61 In dieser Hinsicht stellt Luthers reformatorische Rhetorik nicht nur eine Wiedergeburt, sondern eine theologische Überbietung der klassischen Rhetorik dar. „Sondern das wort Gottes richt ein solche macht, Reich und Kirchen an […], die da hat das reine Wort und den rechten brauch der Sacrament, und ist mechtiger und gewaltiger denn der Teuffel, Tod und Helle.“62 Diese Wort-Theologie, die getragen ist von der Idee der schöpferischen Allmacht göttlicher Rede, bildet die ideale Perspektive des lutherischen Rhetorikverständnisses. Das Urbild des rhetorischen movere ist die Schöpfung der Welt durch das Wort Gottes, in der Sagen und Sein unmittelbar identisch sind. Luthers Überzeugung, dass das eigentlich kreative Handeln Redehandeln sei, ist dabei in erster Linie biblischen Ursprungs. In Anspielung auf Genesis 1,3 formuliert er: „Wo dann kein wort noch Gott selber ist, da ist finsternis und des Teuffels Reich.“63 Die Kehrseite des hier vorgeführten Ideals der Omnipotenz göttlicher Rede, das durch den Mund des Predigers hindurch eine geradezu magische Wirksamkeit zu entfalten vermag, bildet die starke Relativierung der menschlichen Redekunst. Aus der idealen Perspektive der absoluten Rhetorik des heiligen Geistes muss jede weitere kunstfertige Vermittlungsanstrengung durch die ars rhetorica überflüssig und, falls sie auftritt, als verdächtig erscheinen. So paradox es klingen mag: Es ist gerade keine generelle Ablehnung, sondern im Gegenteil die Erhöhung des Rhetorischen in seiner Wort-Theologie, die die Reserviertheit Luthers
|| 59 WA 51,12,37–13,1. 60 WA 51,17,4. 61 WA 51,13,2 f. 62 WA 51,16,31–34. 63 WA 51,14,9 f.
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gegenüber der menschlichen ars rhetorica bedingt und den Hintergrund mancher seiner rhetorikrepugnanten Äußerung darstellt. Allerdings findet sich bei Luther auch eine reale Perspektive des Rhetorischen, die wieder zur Notwendigkeit menschlicher Redekunst zurückführt. Luther ist sich nämlich durchaus bewusst, dass in der menschlichen Lebenswelt das vom Prediger verwaltete göttliche Wort nicht von selbst und gleichsam ‚automatisch‘ wirkt, sondern nur unter der Bedingung, dass der Adressat „das wort höre, nem es an und gleube es“64. Auch das Wort Gottes wirkt in der geschichtlichen Lebenswelt somit nicht magisch-unmittelbar. Es kann seine schöpferisch-erneuernde Kraft nur unter der Bedingung des Glaubens vonseiten der Hörer entfalten. Diese Kontingenz der Wirksamkeit des Wortes Gottes in der Geschichte bildet das zentrale Vermittlungsproblem jedes Predigers, das nach rhetorisch-dialektischer Rationalität verlangt. Der verantwortliche Umgang mit dem Wort Gottes erfordert, dass auch der Prediger ein Rhetoriker und Dialektiker sei. „Sic debet praedicator dialecticus esse, qui doceat, et rhetor, qui exhortetur.“65 Die Menschen zu wirklichen Hörern zu machen, sie zu belehren und dazu zu bewegen, dass sie das Wort Gottes verstehen, annehmen können und schließlich glauben, bildet die durchaus menschliche und redetechnische Seite jeder Predigt. Dabei ist Luthers so erfolgreiches Bemühen nach einem einfachen, aber verständlichen und volksnahen Predigtstil durchaus Ausdruck rhetorischer Könnerschaft. Einfältig zu predigen, so bekennt er in den Tischreden, sei eine große Kunst. Aber auch hierin sei Christus Vorbild: „Christus thuts selber; er redet allein vom ackerwerck, vom senffkorn, und brauchet eitel grobe, pewrische similitudines.66 Luthers so überaus erfolgreiche, bildkräftige Sprache erklärt sich hier als Produkt einer rednerischen imitatio Christi, die sich die soziale Angemessenheit (decorum) des Redestils – „Man sol sich aldohin accommodiren ad auditores“67 – zum Prinzip macht. Die an das einfache Volk und nicht speziell an die Gelehrten gerichtete Überzeugungsrede verlangt vom Redner dabei die Dissimulation seiner Gelehrsamkeit und den Gebrauch der ‚einfältigen Muttersprache‘.68 Diese höchst artifizielle „Demut“ des Redners Luthers, die zu einer bewussten ‚Erniedrigung‘ seines Redestils führt, folgt einer durchaus plausiblen rhetori-
|| 64 WA 51,13,32 f. 65 WA 25,205,38 f. 66 WA.TR 4,447,19–21 (Nr. 4719). 67 WA.TR 4,447,13 f. 68 „Item Hebraea, Graeca in contionibus publicis tacenda, nam in ecclesia debet lingua oeconomica, die einfeltige muttersprache, omnibus nota“ (WA.TR esse 5,644,24–26 [Nr. 6404]).
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schen Ökonomie: „Wen ich alhie predige, so laß ich mich auffs tieffste herunder; non aspicio ad doctores et magistros, quorum vix 40 adsunt, sed ad centum vel mille iuvenum puerorumque: Illis praedico, illis me applico.“69 Luther zielt bewusst darauf ab, nicht nur die wenigen Gelehrten zu erreichen, sondern die viel zahlreichere Menge des gesamten Volkes und hier besonders die jungen Menschen zu gewinnen.70 Dass die Reformation zu einer die Menschen ergreifenden, weltgeschichtlichen Bewegung werden konnte, verdankt sie real gesehen nicht zuletzt dem movere ihrer neuen Rhetorik. Luther hat so zweifellos selbst praktisch dazu beigetragen, die scholastische Isolation der Rhetorik von der Dialektik und von der lebensweltlichen Öffentlichkeit zu beseitigen und sie zu neuer Wirksamkeit zu befreien. Dennoch kann nicht übersehen werden, dass Luthers persönliches Verhältnis zur Rhetorik – im Gegensatz zu den nicht primär an der Bibel, sondern an der säkularen Kultur der Antike orientierten Humanisten – insgesamt durch eine tiefe Ambivalenz bestimmt bleibt. Diese wurzelt in dem produktiven Gegensatz zwischen seinem religiösen Idealbild des omnipotenten Wort Gottes und der realen Notwendigkeit seiner Vermittlung durch die menschliche ars rhetorica. Ob sich Luther selbst dieses Gegensatzes und der in ihm liegenden Kontingenz im vollen Maße bewusst war, sei dahingestellt. In ihm verbirgt sich jedenfalls das objektive Problem der rhetorischen Differenz zwischen dem unmittelbaren Anspruch des Wort Gottes einerseits und andererseits seiner – durch menschliche Redekunst vermittelten – Wirksamkeit in der geschichtlichen Lebenswelt. Diese unaufgelöste Spannung der – in seiner Wort-Theologie formulierten – Transrationalität der Gottesrede zur Artifizialität rhetorischer Rationalität bildet wohl das verborgene Movens, das Luthers Reformation der Rhetorik bewegt hat. Erst in der nachidealistischen Theologie des 20. Jahrhunderts sind die beiden Seiten dieser Differenz gesondert wieder zu Bewusstsein gekommen. Die beeindruckendste systematische Reformulierung des Unmittelbarkeitsanspruches der Wortreligion findet sich wohl in Karl Barths Verständnis vom „Wort Gottes als Rede Gottes“71. Das entscheidende Defizit seiner sogenannten ‚dialektischen Theologie‘ besteht allerdings darin, dass sie zwar am Anspruch der lutherischen Wort-Theologie anknüpft, aber – im Bann der Rhetorikvergessenheit zu Beginn || 69 WA.TR 3,419,29–420,3 (Nr. 3573). 70 Zum bewussten Einsatz des modernen Mediums Buchdruck und seinen Einfluss auf das Rhetorikverständnis Luthers s. Helmut Schanze, Gedruckte Renaissance. Mediengeschichtliche Überlegungen zur Transformation der Rhetorik von 1500–1700, in: Heinrich F. Plett (Hg.), Renaissance – Rhetorik/Renaissance Rhetoric, Berlin/New York 1993, 213–222. 71 Karl Barth, Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik, Zürich 1944, 136.
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des 20. Jahrhunderts – ihren Bezug zur rhetorischen Rationalität völlig übersieht. Barths einseitiges Vertrauen in die Wortmacht göttlicher Rede und ihrer „Gewalt der Wahrheit“72 vernachlässigt die Notwendigkeit ihrer rhetorischen Vermittlung in der geschichtlichen Lebenswelt. Dieser Mangel an explizitem rhetorischem Wissen hat indirekt zur Entkräftung der Religion in der säkularen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts beigetragen. Folgerichtig war es gerade das adressatenbezogene Vermittlungsproblem, von dem die ‚Renaissance der Rhetorik‘ in der Praktischen Theologie Manfred Josuttis’ und Gert Ottos73 in den letzten Jahrzehnten ihren Ausgang nahm. Darüber hinausgehend deutet sich in der jüngsten Zeit die Idee einer generell „more rhetorico“74 zu vollziehenden Erneuerung der Religion und ihrer wissenschaftlichen Reflexion an. Diese weitreichende Wiederentdeckung der Affinität der Religion zur rhetorischen Rationalität bedeutet heute – eine in Zukunft hoffentlich nicht mehr undurchschaute – Annäherung an Luther. So kann das Thema ‚Luther und die Rhetorik‘ am Ende mehr als ein bloß historisches Interesse für sich beanspruchen. Das Beispiel von Luthers Rhetorik-Dialektik bietet nämlich eine Lösungsperspektive für ein methodologisches Dilemma, das der (post-)modernen Krise der Metaphysik und Theologie zugrunde liegt.75 Gemeint ist die falsche Alternative zwischen den rein logischen oder den poetisch-narrativen Wissensformen. Dabei erweist sich das restriktiv logische Paradigma apodiktischer Vernunft, wie schon Kants Kritik der Gottesbeweise beispielhaft zeigt, unverträglich mit dem spezifischen Gehalt der Religion, dem Heiligen oder Absoluten.76 Die Lizenzen des narrativen oder mythopoetischen Paradigmas entbehren dagegen einer rationalen Form, die ihre Geltungsansprüche argumentativ einzulösen vermag. Auf der Suche nach einer religions-
|| 72 Barth, Lehre (s. Anm. 71), 161. 73 Vgl. u. a.: Manfred Josuttis, Homiletik und Rhetorik, in: Pastoraltheologie, 57 (1968), 511– 527; Ders., Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit, München 1985; Gert Otto, Predigt als Rede. Über die Wechselwirkungen von Homiletik und Rhetorik, Stuttgart 1976; Ders., Die Rede ist der Mensch. Drei Thesen zur Bedeutung der Rhetorik für die (Praktische) Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 89 (1992), 484–502; Ders., Die Kunst, verantwortlich zu reden. Rhetorik – Ästhetik – Ethik, Gütersloh 1994; zur Rhetorik Luthers vgl. hier 28 ff. 74 Pierre Bühler, Rhetorik und Hermeneutik – der Wahrheit auf der Spur, in: Hermeneutische Blätter, 2 (1997), 3–6, hier: 4. 75 Zur Affinität von Metaphysik und Rhetorik vgl. meine Ausführungen in: Die Rhetorik der Metaphysik im Zeitalter neuer Sophistik, in: Heinrich F. Plett (Hg.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996, 77–88; Das gelehrte Absolute. Rhetorik und Metaphysik bei Kant, Fichte und Schelling, Darmstadt 1997. 76 Das rhetorische Paradigma einer alternativen ‚konjektionalen Vernunft‘ entwickelt Gonsalv K. Mainberger ausgehend von Aristoteles in: Rhetorica I, Reden mit Vernunft. Aristoteles. Cicero. Augustinus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988.
Religion und rhetorische Rationalität | 131
verträglichen Rationalität eröffnet das Beispiel Luthers im Kontext der heutigen Rhetorik-Renaissance wieder den fast vergessenen dritten Weg rhetorischer Rationalität.77 Jenseits der (post-)modernen Aporien des rein Logischen und bloß Narrativen verweist er auf die Möglichkeit, die vernünftige Rede von Gott erneut more rhetorico zu versuchen.
|| 77 Ein zur Rhetorik-Dialektik Luthers analoges Komplementaritätsmodell von Logik und Rhetorik aus heutiger wissenschaftstheoretischer Sicht findet sich bei Gottfried Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn 1997. Zum integralen Geistbegriff der Rhetorik vgl. auch meinen Aufsatz: Homo rhetoricus universalis. Die Entdeckung des rhetorischen Geistes in den Wissenschaften, in: Klaus Giel/Renate Breuninger (Hg.), Die Rede von Gott und der Welt. Religionsphilosophie und Fundamentalrhetorik, Ulm 1996, 86–104.
Die Erfindung des religiösen Selbstes Fundamentalrhetorische Annäherung an die Theologie Am Anfang war die Rede (Joh 1,1)
Die ‚Renaissance der Rhetorik‘1 hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl von Disziplinen, ausgehend von den Literaturwissenschaften, über die Geschichts- und Kunstwissenschaften bis hin zu den Naturwissenschaften und der Philosophie, erreicht. Mein Beitrag versucht das neue rhetorische Denken, insbesondere die fundamentalrhetorische Anthropologie,2 auch auf die Frage nach der Konstitution bzw. der Erfindung des religiösen Selbstes anzuwenden. Damit kann sich das Paradigma rhetorischer Rationalität an einem für Philosophie und Fundamentaltheologie bzw. Systematische Theologie gleichermaßen interessanten Thema bewähren.3 Am konkreten Beispiel religiöser Selbst(er)findung soll so die Generalthese erläutert werden, dass more rhetorico eine (Wieder-)Annäherung von Philosophie und Theologie möglich sein könnte.
|| 1 Einen allgemeinen Überblick zur interdisziplinären Rhetorikrenaissance bzw. den rhetorical turn gibt: Heinrich F. Plett (Hg.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996. Zum Stand der Rhetorikrenaissance in der Philosophie s.: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 18 (Rhetorik und Philosophie), Tübingen 1999 und in der Theologie s.: Gert Otto, Rhetorik, in: TRE 29 (1998), 177–191. 2 Zur (fundamental-)rhetorischen Anthropologie s.: Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990; Ders., Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, hg. v. Josef Kopperschmidt, München 2000. 3 Zur (Neu-)Entdeckung der Affinität von Rhetorik und systematischer Theologie s. u. a.: David S. Cunnigham, Theology as Rhetoric, in: Theological Studies 52 (1991), 407–430; Peter L. Oesterreich, ‚Allein durchs Wort‘. Rhetorik und Rationalität bei Martin Luther, in: Religion und Rationalität, hg. v. Renate Breuninger/Peter Welsen, Würzburg 2000, 31–50; Jochen Teuffel, Von der Theologie. Die Kunst der guten Gottesrede in Entsprechung zur gelesenen Schrift, Frankfurt a. M. 2000, 33–40. https://doi.org/10.1515/9783110527667-009
134 | Die Erfindung des religiösen Selbstes
1 Die Aufgabe der fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des religiösen Selbstes „Folgendes ist nämlich die Formel, welche den Zustand des Selbsts beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz und gar ausgetilgt ist: indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.“4 So definiert Søren Kierkegaard vor dem Hintergrund der idealistischen Bewusstseinsphilosophie das moderne religiöse Selbst. Dabei ist dieser formelhafte Definitionstopos für die Konstitution der religiösen Existenz ebenso aufschlussreich wie – aus der Sicht des rhetorischen Denkens – kritikwürdig. Kierkegaards Formel macht darauf aufmerksam, dass das religiöse Selbst durch eine doppelte Beziehung bestimmt ist: erstens durch das reflexive Selbstverhältnis des religiösen Ich und zweitens durch seine Rückgründung in der Macht des Absoluten. Durch seine konstitutive Beziehung zur Transzendenz unterscheidet sich das religiöse Selbst einerseits vom säkularen Ego, das sich rein aus der Selbstbeziehung definiert, und durch seine reflexive Durchsichtigkeit und Perspikuität grenzt es sich andererseits gegen die vormodernen naiven und diffusen Formen von Religiosität ab. Gerade diese reflexive Selbstvergewisserung und Perspikuität ihres Rückbezuges zum Absoluten macht die Modernität der religiösen Existenz bei Kierkegaard aus. Dennoch bleibt aus der Sicht der rhetorischen Metakritik die Definition Søren Kierkegaards, die hinsichtlich der reflexiven Perspikuität zweifellos das Erbe der kritischen Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes aufbewahrt, in einem entscheidenden Punkte unbefriedigend. Kierkegaard formuliert nämlich die für das religiöse Selbst konstitutive Doppelrelation zu sich selbst und zum Absoluten noch im Sinne der idealistischen Selbstbewusstseinstheorie als arhetorische Wissensbeziehung. Diese einseitige Betonung der Idealität des religiösen Selbstbewusstseins überspringt dabei die reale Redevermitteltheit des religiösen Selbstes. Es gibt nichts in der Lebenswelt des Menschen, was nicht rhetorisch vermittelt wäre. Gegen die Redevergessenheit des bewusstseinstheoretischen Idealismus macht der Realismus der Fundamentalrhetorik darauf aufmerksam, dass auch das religiöse Selbst sich im Medium persuasiver Rede konstituiert. Dies gilt auch für den konkreten Prozess der religiösen Selbstwerdung, der sich innerlich z. B. in der Form des Gebets (oratio) und äußerlich in der Form des Bekenntnisses (confessio) vollzieht. Auch der homo religiosus erweist sich somit als ein homo rhetoricus. Zur Vorbereitung einer fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des || 4 Søren Kierkegaard, Werkausgabe, Bd. I, Düsseldorf 1971, 398.
Die Aufgabe der fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des religiösen Selbstes | 135
religiösen Selbstes, die das redereflexive Defizit der idealistischen Bewusstseinsphilosophie, das sich selbst noch im christlichen Existenzialismus Kierkegaards bemerkbar macht, zu vermeiden sucht, sei eine allgemeine Bemerkung zur Typologie sowie genetischen Topographie des menschlichen Selbstes vorausgeschickt. Nach der Drei-Welten-Theorie der fundamentalrhetorischen Anthropologie lässt sich das menschliche Selbst weder in der Welt des empirisch Gegebenen (mundus sensibilis) vorfinden, noch in einer rein geistigen Welt (mundus intelligibilis) angemessen verorten. Als Produkt redevermittelter Selbstfindung und Selbstdarstellung gehört es vielmehr dem symbolischen Reich der Rhetorik (mundus rhetoricus) an. Dabei kennt die integrale Homo-rhetoricus-Anthropologie, die die klassische Dichotomie von homo sensibilis und homo inteligibilis vermeidet, drei Typen des menschlichen Selbstes: 1. Das öffentliche und gesellschaftliche Selbst konstituiert sich in der rhetorischen Selbstdarstellung vor anderen Menschen. Der genetische Ort seiner Selbstwerdung ist das forum externum der lebensweltlichen Öffentlichkeit. Dabei geschieht die Erfindung des öffentlichen Selbstes innerhalb des topischen Horizontes der jeweiligen geschichtlichen Lebenswelt und ihrer sittlichen Leitbilder.5 2. Das eigene oder eigentliche Selbst konstituiert sich dagegen in der inneren Selbstdarstellung vor dem eigenen Ich. Seine reflexive rhetorische Konstitution findet auf dem forum internum des Selbstgespräches statt. Ein klassischer philosophischer Text dieser egologischen Selbsterfindung des modernen Ich in der Form des inneren Monologes sind die Meditationen des Descartes. 3. Das Proprium des religiösen Selbstes ist dagegen der rhetorische Bezug zur Transzendenz oder zum Absoluten. Seine redevermittelte Selbsterfindung vollzieht sich auf dem forum internum z. B. in der Form des Gebetes (oratio) oder äußerlich in der Form des öffentlichen Bekenntnisses (confessio).6 Dabei geht die innere Selbst(er)findung vor sich selbst und vor Gott der äußeren bekenntnishaften Selbstdarstellung naturgemäß voraus.
|| 5 Vgl. meine Begriffsskizze in „Verstehen heißt Verbindenkönnen. Die Erfindung des Selbst in der topischen Lebenswelt“, in: Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, hg. v. Iris Denneler, Frankfurt a. M. 1999, 15–25. 6 Einen allgemeinen geschichtlichen Überblick zur Rhetorik des Gebetes gibt: J. Villwock, Die Sprache – Ein „Gespräch der Seele mit Gott“. Zur Geschichte der abendländischen Gebets- und Offenbarungsrhetorik, Frankfurt a. M. 1996.
136 | Die Erfindung des religiösen Selbstes
2 Das prophetische Paradigma: Die Konfession des Jeremia Ein aufschlussreiches Beispiel für die rhetorischen Konstitutionsmomente religiöser Selbst-Invention bildet die folgende Jeremia-Perikope: „Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen, du bist zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich und jedermann verlacht mich“ (Jer 20,7). Das prophetische Selbstverständnis des Jeremia artikuliert sich hier in der Darstellung einer doppelten persuasiven Beziehung. Erstens wird die Berufung (vocatio) des Propheten als Erlebnis der persuasiven Übermacht Gottes geschildert: „Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen, du bist zu stark gewesen.“ Zweitens bringt gerade das Gelingen der göttlichen persuasiven Intervention das neu konstituierte prophetische Selbst in eine paradoxale Kontraposition zur menschlichen Mitwelt: „[…] aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich und jedermann verlacht mich.“ Für das Problem der Findung des religiösen Selbstes erweist sich hier die asymmetrische vertikale persuasive Kommunikation zwischen dem prophetischen Ich und der Transzendenz als vorrangig. Konstitutiv für die Erfindung des religiösen Selbstes ist seine fundierende Beziehung zur rhetorischen Transzendentalität Gottes; seine paradoxale Stellung zur rhetorischen Sozialität der Mitwelt folgt aus ihr. Das dritte konstitutive personale Moment der Jeremia-Perikope neben der rhetorischen Transzendentalität und Sozialität ist ferner die rhetorische Reflexivität des prophetischen Ich selbst. Rhetorisch-kritisch gesehen ist die JeremiaPerikope nämlich nicht unmittelbar jenes persuasive Offenbarungs- und Berufungserlebnis, an das sie erinnert und das sie narrativ vergegenwärtigt. Als verschriftlichte Rede vergegenwärtigt sie somit die prophetische Berufung und Selbstfindung in der Form mehr oder weniger artifizieller rhetorischer Reflexivität. Die Probleme der Verschriftlichung und redaktionellen Bearbeitung der Textstelle einmal außer Acht gelassen, reflektiert die Rede des Propheten das durch rhetorische Transzendentalität bewirkte Ursprungsereignis, um sich seiner erneut zu vergewissern und andere von ihm zu überzeugen. Als erinnernde Rede von der Macht der göttlichen ‚Überredung‘ stellt sie somit den redereflexiven Versuch einer narrativ-memorierenden Rekonstruktion der Urkonstruktion identitätsstiftender göttlicher Rede dar. Verallgemeinernd lässt der Blick auf das prophetische Paradigma bei Jeremia folgende Basiskonzeption der Konstitution des religiösen Selbstes gewinnen, das die drei Momente der rhetorischen Transzendentalität, Reflexivität und Sozialität
Das prophetische Paradigma: Die Konfession des Jeremia | 137
umfasst. Die eigentliche Erfindung des religiösen Selbstes gründet demnach in der Dualität der rhetorischen Transzendentalität des Absoluten einerseits und der rhetorischen Reflexivität des religiösen Ich andererseits. Diese ermöglicht dann die öffentliche Selbstdarstellung des religiösen Ich in seiner geschichtlichen Lebenswelt. Aufgrund der konstitutiven Dualität von rhetorischer Transzendentalität und Reflexivität besitzt das religiöse Selbst im Prozess seiner Erfindung demnach einen doppelten Charakter: a) Das religiöse Selbst als Auditor: Ausgehend vom Moment übermächtiger rhetorischer Transzendentalität stellt sich das religiöse Selbst als passionierte Existenz dar, die sich als Hörer des kerygmatischen Anspruchs göttlicher Rede betroffen und leidenschaftlich bewegt vorfindet. Der Ausgangspunkt ihrer Selbsterfindung ist die von der Transzendenz bewirkte Affektivität, die wortwörtlich ein ‚Gemachtwerden‘ von der Übermacht der göttlichen Rede darstellt. Diese von der Transzendenz bewirkte Affektivität – rhetoriktheoretisch gesprochen das religiöse Pathos – bildet die unhintergehbare Basis, von der die Erfindung des religiösen Selbstes anhebt. Es ist diese von der rhetorischen Transzendenz bewirkte Passioniertheit, die die spezifische Differenz der Invention religiöser Existenz zur Autopoiesis rein egologisch konstituierter Subjektivität ausmacht. b) Das religiöse Selbst als Orator: Ausgehend vom Moment rhetorischer Reflexivität erfindet sich das religiöse Selbst in selbstvergewissernder, narrativ-memorierender Darstellung seines Überzeugtseins vom Absoluten. Von dieser Seite her gesehen findet es sich nicht nur als von göttlicher Rede betroffener Hörer vor, sondern wird selbst zum Autor religiöser Rede. Überdies bedarf die religiöse Identität der fortgesetzten rhetorisch-reflexiven Überzeugung vom eigenen Überzeugtwordensein, um sich durch die Zeit hindurch zu erhalten. Das Gelingen des permanenten Prozesses redereflexiver Selbstvergegenwärtigung bildet dann das Ausgangspotential für die öffentliche Konfession, die der religiösen Überzeugung anderer dient. c) Der synthetische Charakter des religiösen Selbst: Die (Er-)Findung des religiösen Selbst geschieht im Zusammenwirken von rhetorischer Transzendentalität und Reflexivität. Sie verlangt die Vermittlung zwischen dem unmittelbaren Erlebnis der persuasiven Selbstdarstellung und Offenbarung des Absoluten einerseits und seiner reflexiven Aneignung im vermittelnden Medium menschlicher Rede andererseits. Anders ausgedrückt: Die rhetorische Erfindung des religiösen Selbstes ereignet sich in der gelungenen Konvenienz der Rhetorik des Absoluten (rhetorica divina) und der auf sie bezogenen, mehr oder weniger artifiziellen
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menschlichen Rede (rhetorica humana). Sie beruht somit auf der gelingenden Synthesis von göttlicher und menschlicher Rhetorik, rhetorischer Transzendentalität und Reflexivität. Dagegen kann die Abstraktion vom konstitutiven Moment rhetorischer Reflexivität, die einseitig die geradezu automatisch wirkende kerygmatische Macht der göttlichen Rede betont, nur bis zu Formen naiver und augenblickshafter Frömmigkeit führen. Umgekehrt degradiert die Verabsolutierung der rhetorischen Reflexivität, die einseitig die rhetorische Artifizialität religiöser Selbsterfindung betont, das religiöse Selbst zu einer bloßen rhetorischen oder literarischen Fiktion, die keinen anderen Wahrheitsanspruch erheben kann als z. B. eine Sciencefiction-Figur. Einen genaueren Einblick in den synthetischen Charakter der Konstitution des religiösen Selbstes und damit der spezifischen Kooperation von rhetorica divina und rhetorica humana finden wir bei Augustinus, dessen Bekenntnisse wohl das beste Beispiel für eine elaborierte und selbstreflexive Rhetorik religiöser Selbsterfindung bilden.
3 Die Erfindung des religiösen Selbstes in den Bekenntnissen des Augustinus Die Bekenntnisse des Augustinus bilden ein rhetorisch meisterhaftes Beispiel der Schilderung des religiösen Selbstwerdungsprozesses in der Form einer Autobiographie. Gemäß den drei konstitutiven Momenten religiöser Selbsterfindung richtet sie sich an ein dreifaches Publikum. Hinsichtlich der rhetorischen Reflexivität bilden sie eine erinnernde rhetorische Selbstvergegenwärtigung des Autors vor sich selbst (coram seipso). Ferner lassen sie sich hinsichtlich der rhetorischen Transzendentalität – wie gleich der erste Satz der Bekenntnisse: „Groß bist Du, Herr, und hoch zu preisen, und groß ist Deine Macht und Deine Weisheit unermeßlich“7 bezeugt – als bekenntnishafte Selbstdarstellung des religiösen Ich vor Gott (coram Deo) verstehen. Drittens legt das bekennende Ich nicht nur vor Gott, sondern auch den anderen Menschen (coram hominibus), gemeint sind alle Leser des Buches, Zeugnis ab. Ausdrücklich betont das auktoriale Ich „daß ich vor Deinem Angesicht auch den Menschen mit diesem Buch bekenne“8.
|| 7 Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse, lat.-dt., hg. u. übers. v. Joseph Bernhart, München 3 1966, 13. 8 Augustinus, Confessiones, 491.
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Dementsprechend entwickeln die Bekenntnisse neben der appellativen Anrufung Gottes noch zwei weitere persuasive Sinnrichtungen. Außer der Anrufung des Absoluten dienen sie sowohl der religiösen Selbstvergewisserung des Autors sowie der Überzeugung seiner Hörer: „Damit ich und jeder, der es liest, bedenke, daß man aus jeder Tiefe, noch so groß, zu Dir rufen soll.“9 Die rhetorische Dynamik der autobiographischen Selbstwerdung in den ersten zehn Büchern der Bekenntnisse gestaltet sich ferner als Parallelvorgang: Die fortschreitende rhetorische Selbstvergegenwärtigung der eigenen religiösen Bestimmung korreliert dem Prozess wachsender Gottesvergegenwärtigung. Daher verbindet die religiöse Autobiographie des Augustinus in sich das Sündenbekenntnis (confessio peccati) mit dem Gotteslob (confessio laudis).10 Als confessio peccati vollzieht sich religiöse Selbsterfindung als narrativ memorierende Vergegenwärtigung des eigenen religiösen Selbstprozesses in fortschreitender Abscheidung des uneigentlichen sündigen Ich von seinen biographischen Verirrungen, z. B. dem Manichäismus. Parallel dazu gestaltet sich die confessio laudis als progressive Vergegenwärtigung und Klärung der anfänglich nur diffus im ‚unruhigen Herzen‘ bemerkbaren Konpräsenz Gottes.11 Dass der zweite Teil der Bekenntnisse, der die lehrhaften Bücher XI–XIII umfasst, schließlich den andersartigen Charakter einer confessio scientiae gewinnt, erklärt sich zudem daher, dass das religiöse Selbst nach vollendeter autobiographischer Selbsterfindung in den ersten zehn Büchern sich ganz der lehrhaften Darstellung seines Glaubens widmen kann. Der Text der Bekenntnisse bildet deshalb ein besonders aufschlussreiches Beispiel für die rhetorische Konstitution des religiösen Selbstes, weil er den Anteil menschlicher Redekunst, die römische ars rhetorica, am Prozess religiöser Selbstwerdung eigens thematisiert. Er klärt uns über das fragliche Verhältnis von rhetorica humana und rhetorica divina im Prozess religiöser Selbsterfindung auf. Vorweg sei gesagt, dass aus den Ausführungen des Augustinus ein kooperatives
|| 9 Augustinus, Confessiones, 71. 10 Zur Verbindung von Confessio peccati und Confessio laudis in den ersten zehn Büchern der Confessiones siehe Georg Pfligersdorffer, Augustins Confessiones und die Arten der Confessio, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 14 (1970), 15–28. Zur Frage des literarischen Genus und zur Kompositionsstruktur der Confessiones s.: A. Augustinus, Was ist Zeit? (Confessiones XII/Bekenntnisse 11), hg. v. N. Fischer, Hamburg 2000, XXV–XLII. 11 Gottes Anwesenheit im Menschen ist nicht fester Besitz, sondern der Beweggrund all der von sich her chaotischen Bewegungen, von denen die Confessiones exemplarisch zeigen, wie Gott sie im Hinblick auf die jenseitige Bestimmung des Einzelnen ordnet. Dies sagt Augustins berühmtester Satz: „‚Und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir‘, et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te“ (Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 21994, 257).
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Modell sichtbar wird, das die Identität des religiösen Selbstes aus dem Zusammenwirken von menschlicher rhetorischer Induktion einerseits und gnadenhaft initiierter persuasiver Fluktuation andererseits hervorgehen lässt.
3.1 Verbalistische gegen integrale Rhetorik: Faustus contra Ambrosius In den rhetorik-reflexiven Passagen seiner Bekenntnisse setzt Augustinus der Konzeption eines rhetorischen Verbalismus, die durch den Manichäer Faustus repräsentiert wird, die integrale Rhetorik des Mailänder Bischofs Ambrosius entgegen. Der rhetorische Verbalismus, dem Augustinus in seiner Frühzeit als römischer Rhetor selbst verfallen war, legt sein Hauptgewicht auf die elokutionäre Wohlgeformtheit des sprachlichen Ausdrucks und zielt statt auf das Seelenheil, auf den Beifall der Menge. Wichtig ist nicht der sachliche Gehalt (res), sondern die äußere Wortgestalt (verbum), die durch ihre eingängliche und gefällige Form das Erfreuen (delectare) und damit die Zustimmung der Menschen hervorrufen soll. In dieser verbalistischen Sicht kann ein einziger Barbarismus ein Verstoß gegen die korrekte Aussprache (puritas), wenn z. B. der Redner statt ‚homo‘ ‚omo‘ sagt, die Wirkung einer ganzen Rede zerstören. Augustin hat die dem Rednerruhm verfallene Existenz des römischen Rhetors, die er aus eigener Anschauung kannte, eindrücklich folgendermaßen geschildert: „Da hascht ein ‚homo‘ nach Rednerruhm, er tut es vor einem ‚homo‘ Richter, umringt von einer Menge ‚homines‘, haßerfüllt fällt er über seinen Gegner her, nur ängstlich in Sorge, daß er ja sich nicht verspreche und sage ‚inter omines‘, und – macht sich keine Sorge darum, ob er nicht vor Wut verrückt einen ‚homo‘ wegfege aus der Gesellschaft der ‚homines‘.“12 In diesen Kontext des rhetorischen Verbalismus säkularer Rhetorik, deren scheinbar kultiviertes Vermeiden sprachlicher Barbarismen sich mit einer äußersten menschlichen Brutalität und Rücksichtslosigkeit verbindet, die jeden Anflug von Humanität vermissen lässt, stellt nun Augustinus auch die Rhetorik des Manichäers Faustus. Auch Faustus erweist sich für ihn als ein Verbalist, der nicht durch den sachlichen Wahrheitsgehalt seiner Rede zu überzeugen, sondern lediglich durch das Anziehende (suavitas) seiner Worte und seines persönlichen Vortrags andere Menschen zu überreden sucht. „Als er nun kam, fand ich an ihm einen angenehmen Mann, dem gut zuzuhören war, und der über die gewöhnlichen Gesprächsstoffe dieser Leute viel anziehender als die andern zu plaudern
|| 12 Augustinus, Confessiones, 59.
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wußte. Aber was halfen meinem Durst die edlen Becher von der Hand des artigsten Schenken? Solcher Dinge hatte ich schon lang die Ohren voll, und sie schienen mir nicht darum besser, weil sie nun besser vorgetragen wurden, noch deshalb schon richtig, weil sie aus beredtem Munde kamen, auch nicht die Seele deshalb schon weise, weil das Mienenspiel angemessen, die Ausdrucksweise gefällig war.“13 Dem negativen Gegenbild der verbalistischen Rhetorik des Faustus kontrastiert bei Augustinus das positive Vorbild der integralen Rhetorik des Ambrosius. Dabei sticht die Bestform christlicher Rhetorik, die Ambrosius repräsentiert, gerade nicht durch ein Defizit elokutionärer Sprachgestaltung von der verbalistischen Verfallsform römischer Rhetorik ab. Im Gegenteil, Augustinus bekennt ausdrücklich, dass er zunächst nicht von der Sache, die der christliche Redner Ambrosius vertritt, sondern vom Ruf seiner außerordentlichen Redefähigkeit und dem Anziehenden seiner Sprache (suavitas sermonis) angezogen wurde: „Ich hörte ihn, wenn er zum Volke sprach, voll Interesse, freilich nicht in der gehörigen inneren Verfassung, vielmehr um mir ein Urteil zu bilden, ob seine Rednergabe ihrem Ruf entspräche oder stärker, vielleicht schwächer hervorkäme, als es die öffentliche Meinung war. So hing ich wohl gespannt an seiner Sprache, im übrigen stand ich unter den anderen als ein Hörer, den die Sache selbst nichts anging, ja dem sie verächtlich war. Ich freute mich nur an der einnehmenden Art seines Vortrags.“14 Die vorbildliche rhetorische Kompetenz des christlichen Redners Ambrosius umfasst also nicht bloß das innere Verstehen der göttlichen Wahrheit, sondern auch die Kunst ihrer äußeren rhetorischen Darstellung vor dem Volke. Ambrosius entspricht dem von Augustinus in De doctrina Christiana entworfenem Ideal des christlichen Lehrers, der sowohl über die Kompetenz der Auffindung der Sache (modus inveniendi) sowie die professionelle Fähigkeit ihrer öffentlichen Darstellung (modus proferendi) verfügt.15 Die integrative christliche Rhetorik des Ambrosius kann somit ebenso wie die klassische römische des Cicero und Quintilian unter das Motto ‚res et verba‘ gestellt werden. Das Wort lässt sich vom Sinn innerhalb der integralen Rhetorik des Ambrosius nicht trennen. Es ist diese Unzertrennlichkeit von res und verbum, die den zunächst nur am anziehenden Äußeren des Wortes interessierten Hörer Augustinus schließlich geradezu gegen seinen Willen zum Verständnis des inneren Sinnes der christlichen Botschaft bewegt. „Denn während ich ohne alles Verlangen war, mir anzueignen,
|| 13 Augustinus, Confessiones, 205. 14 Augustinus, Confessiones, 235. 15 Vgl. De doc. chr., IV,1.
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was er sprach, und nur hören wollte, wie er sprach – ja bei aller Verzweiflung an einem Weg vom Menschen zu Dir war mir dieses nichtige Interesse geblieben –, kam in meinen Geist zugleich mit der Sprache, die ich liebte, auch die Sache, die für mich doch das Geringste dabei war; beides voneinander zu trennen war mir nicht möglich. Ich hielt mein Herz nur aufgetan, um zu hören, wie beredt er sprach, indessen trat zugleich die Erkenntnis ein, wie wahr er sprach – allerdings nur Schritt um Schritt.“16 In der integralen Rhetorik des Ambrosius sind das Wie und das Was in der Rede unzertrennlich verbunden. Die anziehende ästhetische Darstellungsform bildet hier geradezu den Türöffner für das Eintreten der christlichen Weisheit in das Herz der Hörer. Somit erweist sich die ars rhetorica, von Ambrosius im christlichen Sinne gebraucht, als notwendiges Mittel der wirksamen Induktion und Hinführung zur christlichen Wahrheit.
3.2 Die Konvenienz von menschlicher Induktion und gnadenhaft initiierter Fluktuation Die religiöse Selbstwerdung des Augustinus setzt nun eine ganze Reihe menschlicher rhetorischer Induktionen voraus, die schließlich zu seiner Bekehrung führen. Neben der Predigt des Ambrosius gibt das Gespräch des Augustinus mit Simplicianus ein weiteres Beispiel für eine kunstvolle rhetorische Induktion. Simplicianus führt Augustinus die Geschichte der Bekehrung und des öffentlichen Bekenntnisses des berühmten römischen Rhetors Victorinus vor Augen. Es ist mitreißende rhetorische evidentia dieses narrativ vor Augen geführten Beispiels, die in Augustinus den neuen Willen zu einem Gott gefälligen Leben erweckt. Sie ruft in ihm die Krisis, den Beginn jenes dramatischen inneren Willenskonfliktes hervor, die am Ende zu seiner Bekehrung führen wird. „So kämpften zwei Willen miteinander, beide die meinigen, der eine alt, der andere neu, vom Fleische der eine, vom Geiste der andre, und ihre Zwietracht zerriß mir die Seele.“17 Besonders aufschlussreich für die Augustinische Einschätzung des Zusammenwirkens von rhetorica divina und rhetorica humana ist ferner die Schilderung seines Gespräches mit Pontician. Dessen Erzählung stellt einen weiteren Schritt rhetorischer Induktion dar. Er berichtet vom Beispiel zweier kaiserlicher Beamter, die beim Spaziergang auf eine Hütte stoßen, in der sie ein Buch vorfinden, das das Leben des Antonius beschreibt: „Der eine von ihnen begann zu lesen, zu
|| 16 Augustinus, Confessiones, 235–237. 17 Augustinus, Confessiones, 381.
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staunen und Feuer zu fangen, ja über dem Lesen packte ihn schon der Gedanke, selber solch ein Leben zu ergreifen, den Hofdienst zu verlassen – sie gehörten zu der Klasse von Beamten, die man kaiserliche Agenten nennt – und Dir zu dienen. […] und aufgewühlt vom Gebärdrang eines neuen Lebens schaute er wieder in die Blätter und las und ward im Innern andern Sinnes.“18 Diese Erzählung des Pontician, die die spätere Bekehrung des Augustinus durch ein Leseerlebnis präfiguriert, bewirkt bei ihm eine intellektuelle Kehrtwendung, die ihm sein eigenes sündiges Ich vor Augen stellt. Bemerkenswert ist nun, dass dieser Akt der rhetorisch induzierten Selbsterkenntnis von Augustinus nicht nur als Werk der narrativen Rhetorik des Pontician, sondern primär als die Wirkung einer in ihr mit anwesenden göttlichen Rhetorik interpretiert wird: „So erzählte Pontician. Du aber, Herr, Du wandest mich während seines Redens zu mir selbst herum, Du holtest hinter meinem eigenen Rücken mich hervor, wo ich mich eingerichtet hatte, dieweil ich mich nicht anschaun wollte, und stelltest mich meinem Angesicht gegenüber, damit ich sähe, wie häßlich ich sei, wie verkrüppelt und schmutzig, voll Sudel und Geschwür.“19 An dieser Stelle wird deutlich, dass die rhetorische Induktion des Pontician nicht hinreichend ist, die kritische Selbstzuwendung des Augustinus zu bewirken. Zum gelingenden Vollzug der Augustinischen Selbsterkenntnis bedarf es darüber hinausgehend der in der menschlichen Rede Ponticians mit anwesenden persuasiven Macht des Absoluten. Die Darstellung der Pontician-Episode, die den Vollzug und die Fluktuation von Selbsterkennen auf eine im menschlichen Reden konpräsente rhetorica divina zurückführt, entspricht der in De magistro von Augustinus geäußerten Überzeugung, „daß Gott allein Menschen belehrt“20. Dass Gott allein der wahre innere Lehrer des Menschen sei, gilt auch für jenes rhetorische docere, das in den Bekenntnissen einen wichtigen weiteren Schritt in Richtung auf die endgültige Bekehrung des Augustinus darstellt. Dabei bildet die menschliche rhetorische Induktion jedes Mal lediglich die Basis, aufgrund derer sich die gnadenhaft initiierte rhetorische Fluktuation ereignen kann. Die von der Pontician-Rede angestoßene kritische intellektuelle Selbsterkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit bedeutet allerdings noch keine wirkliche Bekehrung. Den Weg dorthin bahnt in den Bekenntnissen ein weiterer, neuer Typus menschlicher rhetorischer Induktion. Es ist die innerseelische Selbst-
|| 18 Augustinus, Confessiones, 391. 19 Augustinus, Confessiones, 393. 20 Barbara Kursawe, docere, delectare, movere. Die officia oratoris bei Augustinus in Rhetorik und Gnadenlehre, Paderborn 2000, 107.
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induktion, die sich nicht mehr in der Form der Predigt oder des äußeren Gesprächs, sondern in der Form eines innerseelischen Redewettstreites vollzieht. In der schulrhetorischen Form der Kontroverse streiten und argumentieren im Herzen des Augustinus die personifizierten Eitelkeiten (vanitates) gegen die Keuschheit (continentia).21 Von dieser Kontroverse in seinem Herzen (controversia in corde) berichtet Augustinus bezüglich des Auftretens der Eitelkeiten: „Noch hielten sie mich auf, Torheit über Torheit und Eitelkeit über Eitelkeit, sie meine alten Freundinnen, und zupften heimlich am Gewande meiner Sinnlichkeit und raunten: ‚Schickst du uns weg?‘ Und dann: ‚Von jenem Augenblick an werden wir nicht mehr bei dir sein in alle Ewigkeit.‘ Und dann: ‚Von jenem Augenblick darfst du das und jenes nicht mehr tun, nicht in alle Ewigkeit.‘“22 Dagegen führt ihn die Keuschheit die vielen Beispiele gelungener Bekehrung vor Augen und argumentiert: „Du solltest es nicht vermögen wie diese Männer, diese Frauen? Ja vermögen sie es denn aus sich und nicht vielmehr im Herrn, ihrem Gott? Der Herr, ihr Gott, hat mich ihnen gegeben. Was stehst du auf dir, und stehst doch nicht? Wirf dich auf Ihn! Hab keine Angst; er wird nicht weichen, daß du fällst: getrost wirf dich auf Ihn, er fängt dich auf und macht dich heil!“23 Diese innere rhetorische Selbstinduktion in der Form der schulrhetorischen Kontroverse führt zwar zu einer Vertiefung der inneren Krisis des Augustinus, aber nicht zur existenziellen Entscheidung für ein Gott zugewandtes Leben. Das Defizit des inneren Redestreites zwischen den Eitelkeiten und der Keuschheit besteht darin, dass sie als menschliche rhetorische Selbstinduktion keinen Transzendenzbezug besitzt, sondern sich rein im selbstbezüglichen Inneren der Subjektivität konstituiert: „So ging im Streit die Rede, aber nur von mir zu mir.“24 Die Verinnerlichung der rhetorischen Induktion und ihre Verlagerung vom forum externum des zwischenmenschlichen Gespräches zum forum internum der egologisch konstituierten inneren controversia erreicht nicht jene rhetorische Fluktuation, die den eigentlichen Vollzug der Bekehrung bedeutet. Der eigentliche Akt der Bekehrung kann nach Augustinus schließlich wiederum nur durch die rhetorische Transzendentalität, d. h. die Rede und das Wort Gottes, initiiert werden. Allerdings lässt der Bekehrungsbericht des Augustinus auch das induktive Moment vonseiten menschlicher Subjektivität sichtbar wer-
|| 21 Zur Bedeutung der Kontroversen und Suasorien (Controversiae et suasoriae) innerhalb des Übungsbetriebes der kaiserzeitlichen Schulrhetorik s.: Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, München/Zürich 1984, 65–73. 22 Augustinus, Confessiones, 411. 23 Augustinus, Confessiones, 413. 24 Augustinus, Confessiones, 413.
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den, das der rhetorischen Fluktuation und dem entscheidenden Vollzug der Bekehrung vorhergeht. Zunächst einmal beginnt der Bekehrungsprozess mit einem äußeren rhetorischen Anstoß, einer Kinderstimme: „Da auf einmal höre ich aus dem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens im Singsang wiederholen: ‚Nimm es, lies es, nimm es, lies es!‘“25 Der Übergang zur eigentlichen Bekehrung ist ferner durch eine subjektive Deutungsleistung vonseiten des Augustinus vermittelt. Er interpretiert die Aufforderung der menschlichen Kinderstimme als göttlichen Befehl: „[…] ich wußte keine andere Deutung, als daß mir Gott befehle, das Buch zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die zuerst ich träfe.“26 Die eigentliche rhetorische Selbstfindung des religiösen Ich wird somit bei Augustinus durch eine menschliche Vokation (Kinderstimme) und ihre Interpretation als Befehl Gottes vorbereitet. Erst danach setzt mit der entscheidenden Lektüre der Heiligen Schrift die Bekehrung des Augustinus durch die rhetorica divina in der Form augenblicklicher, gnadenhafter Fluktuation ein: „‚Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Zank und Neid, vielmehr ziehet an den Herrn Jesus Christus und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten.‘ Weiter wollte ich nicht lesen, und weiter war es auch nicht nötig. Denn kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewißheit als ein Licht ins kummervolle Herz, daß alle Nacht des Zweifelns hin und her verschwand.“27 Das eigentlich bekehrende movere, das über die intellektuelle Belehrung hinausgehend den Willenskonflikt im Herzen des Augustinus endgültig für Gott entscheidet, geht von der rhetorica divina der Bibel aus. Die Bekehrung des Augustinus gestaltet sich als Redesieg der rhetorischen Transzendenz.28 Insgesamt stellen die rhetorikreflexiven Passagen der Bekenntnisse des Aurelius Augustinus die Formenvielfalt menschlicher Induktionen dar, die die gnadenhaft initiierte Fluktuation der Bekehrung einleiten. Zu ihnen gehören auf dem forum externum die Predigt sowie das freundschaftliche Gespräch und auf dem forum internum die Kontroverse im eigenen Herzen. Hinzu kommt, dass die Bekenntnisse als Ganzes auch ein artifizielles Kunstwerk religiöser Rhetorik darstellen, das auch auf die Seite der rhetorica humana gehört. Allerdings bleibt fest-
|| 25 Augustinus, Confessiones, 415. 26 Augustinus, Confessiones, 415. 27 Augustinus, Confessiones, 417. 28 Mit Cicero ist Augustinus der Überzeugung, dass den eigentlichen Redesieg nicht das bloße Belehren (docere) oder Erfreuen (delectare), sondern das Rühren (flectere) sei, das über das Gefühl – hier die Liebe zu Gott – dem Willen eine andere Richtung zu geben vermag. Deshalb sei es auch die Aufgabe des eloquenten kirchlichen Lehrers, nicht allein zu lehren, um zu unterrichten, zu erfreuen, um zu fesseln, sondern auch anzurühren, um zu siegen (vgl. De doc. chr., IV,29).
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zuhalten, dass alle induktiven Aktivitäten menschlicher Rhetorik bei Augustinus über sich hinausweisen. Sie zielen auf eine von ihnen allein nicht bewirkbare und für sie deshalb kontingent bleibende gnadenhafte Fluktuation religiöser Überzeugung, die nur die überwältigende Macht der rhetorica divina zu bewirken vermag.
4 Die Erfindung des religiösen Selbst zwischen artifiziellem Entwurf und authentischer Entdeckung ‚Erfindung‘ kann einerseits ‚Entdeckung‘ und andererseits ‚Entwurf‘ bedeuten. Diese semantische Ambivalenz des Wortes ‚Erfindung‘ erweist sich beim Thema der religiösen Selbst(er)findung, wie die Ausführungen zu Augustinus gezeigt haben, durchaus als sachdienlich. Die Erfindung des religiösen Selbstes setzt nämlich einerseits eine Kette mehr oder weniger artifizieller rhetorischer Induktion voraus; aber auf der anderen Seite vollendet sie sich nur in einer persuasiven Fluktuation, die so verstanden werden muss, dass sie durch eine gnadenhafte rhetorische Intervention der Transzendenz initiiert wird. Religiöse Identität entspringt somit einer kooperativen Konvenienz von rhetorica humana und rhetorica divina. Sie entsteht im gelungenen Augenblick – oder rhetoriktheoretisch gesprochen dem Kairos – des Zusammenwirkens menschlicher rhetorischer Induktion und göttlicher Intervention. Welche Implikationen diese fundamentalrhetorische Sicht religiöser Identität enthält, wird deutlich, wenn wir nach den Bedingungen der Möglichkeit gelingender religiöser Selbst(er)findung fragen. Insofern diese eine synergetische Synthesis von rhetorica humana und rhetorica divina darstellt, setzt sie nämlich voraus, dass die dem Menschen zugewandte Seinsweise Gottes selber rhetorisch ist. Oder, in den Worten Luthers ausgedrückt, dass der Heilige Geist der beste Redner sei („spiritus sanctus optimus Rhetor“29). Religiöse Identität im fundamentalrhetorischen Sinne präsupponiert somit einen redenden Gott. A contrario argumentiert heißt das: Ein Gott, der kein Wortgott wäre, wäre für die Konstitution religiöser Selbsterfindung irrelevant. Das religiöse Selbst setzt somit die Existenz eines in die Geschichte eingreifenden Wortgottes voraus. Erst aufgrund dieser Voraussetzung wird die analoge
|| 29 WA 31 II,83,12.
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Beziehung von rhetorischer Transzendentalität auf der einen Seite und rhetorischer Reflexivität auf der anderen Seite, die die Konvenienz des religiösen Selbst(er)findungsereignisses ermöglicht, erklärbar. Dieses analoge Verhältnis von rhetorica divina und rhetorica humana setzt z. B. Thomas von Aquin in seinem Traktat über den charismatischen christlichen Lehrer voraus, wenn er sagt, dass der Heilige Geist auf erhabene Weise dasjenige bewirkt, was die menschliche Kunst nur auf niedere Weise bewirken kann.30 Erst die Annahme einer solchen Analogie erklärt, wie die Selbst(er)findung des homo rhetoricus religiosus als die menschliche rhetorische Nachkonstruktion einer göttlichen rhetorischen Urkonstruktion, d. i. der Selbstoffenbarung des Absoluten, überhaupt gelingen kann. Genauer betrachtet ist dabei nicht nur die Intervention der rhetorica divina, sondern auch ihre synergetische Konvenienz mit der rhetorica humana gnadenhaft ermöglicht. Allerdings bleibt gegen ein rein gnadenhaftes Verständnis religiöser Selbstfindung, aus fundamentalrhetorischer Sicht die Seite der aktiven menschlichen Induktion, wie sie sich gerade im Text der Bekenntnisse in vielfältiger Form bezeugt, festzuhalten. Religiöse Selbsterfindung muss daher insgesamt als Kooperation göttlicher und menschlicher Freiheit verstanden werden; sie resultiert aus der Konvenienz von freien Akten menschlicher rhetorischer Reflexivität und rhetorischer Transzendentalität. Es ist somit nicht nur die göttliche Freiheit der gnadenhaften Intervention allein, sondern auch die der menschlichen rhetorischen Induktion, die die religiöse Selbstfindung im Sinne einer religio libera ausmacht. Allerdings kann die Philosophie im Element ihrer Begriffsrede nur lediglich die Möglichkeit des religiösen Selbstes definieren, aber nicht seine Wirklichkeit beweisen. Ebenso bleibt das fundamentalrhetorische Argument für die Existenz eines personalen Wortgottes eine Annahme, das lediglich eine Möglichkeitsbedingung gelingender religiöser Selbst(er)findung formuliert. Sie behauptet lediglich, dass von der rhetorischen Konstitution des religiösen Selbstes nur unter der Bedingung der gnadenhaften Intervention einer rhetorica divina sinnvoll gesprochen werden kann. Die Fundamentalrhetorik behauptet also nicht, dass das religiöse Selbst de facto existiert. Sie behauptet nur, dass, wenn das religiöse Selbst, so wie es sich paradigmatisch in der Konfession des Jeremia oder in den Bekenntnissen des Augustinus darstellt, fundamentalrhetorisch begriffen werden soll, es dann aus der gnadenhaft gestifteten synergetischen Konvenienz von menschli-
|| 30 „[…] ita etiam Spiritus Sanctus excellentius operatur per gratiam sermonis id quod potest ars operari inferiori modo“ (S. th. I–II 111.4).
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cher rhetorischer Reflexivität und göttlicher rhetorischer Transzendentalität hervorgegangen erklärt werden muss. Die fundamentalrhetorische Rekonstruktion des religiösen Selbstes bleibt somit zunächst hypothetisch. Die in ihm liegende Präsupposition eines sich offenbarenden Wort Gottes ebenso. Die Darstellung der religiösen Selbst(er)findung, die wir bei Augustinus finden, könnte schließlich auch als täuschende literarische Fiktion oder als autobiographische Autosuggestion verstanden werden. Sie erbringt als philosophische Rede somit eine nur negativ-begriffliche Darstellung des religiösen Selbstes. Die Frage nach der positiven geschichtlichen Wirklichkeit der von ihr dargestellten religiösen Selbst(er)findung lässt sich auf dem Boden der Philosophie nicht abschließend beantworten. Eine Verifikation der Wirklichkeit religiöser Selbst(er)findung ist prinzipiell nicht auf dem Felde der Wissenschaft, sondern nur in der positiven Realität des geschichtlichen Lebens selbst möglich. Die objektive Realität des religiösen Selbstes erweist sich letztlich nur in seiner authentischen rhetorischen Realisation. Die Wirklichkeit des philosophisch nur begrifflich dargestellten Prozesses religiöser Selbstwerdung kann sich selbst nur in der Vollzugsevidenz (evidentia) gelingender religiöser Sebst(er)findung zeigen, in der die persuasive Energie der Rede (energeia) sich mit der Klarheit (enargeia) der Selbstvergewisserung verbindet.31 Schließlich ist, wie jeder rhetorisch konstituierte Glaube, auch der religiöse Glaube durch die Gefahr seiner Verflüchtigung bedroht. So kann z. B. selbst ein Priester im Laufe seines Lebens seinen Glauben verlieren. Es bedarf deshalb immer erneut der gelingenden Wiedervergegenwärtigung der Offenbarung des Absoluten in rhetorischer Reflexivität, damit sich das religiöse Selbst von seiner Überzeugung neu überzeugen und vergewissern kann. So ergibt sich am Ende, dass die Wirklichkeit des religiösen Selbstes in seinem Ineinander von rhetorisch vermittelter Selbst- und Gottesgegenwart nicht den Charakter einer apriorischen, d. h. situations- und publikumsinvarianten logisch-apodiktischen Selbstgewissheit besitzt. Das religiöse Selbst entspringt vielmehr dem permanenten Prozess der Selbstvergewisserung in der Form eines rhetorisch-konjekturalen Wissens, das sich nur durch ständige rhetorische Aktualisierung und Erneuerung gegen die zentrifugalen Kräfte der Zeit und ihrer wechselnden Umstände erhalten
|| 31 Zur rhetorischen Evidenz bzw. Enargeia s.: Bernhard F. Scholz, Ekphrasis and Enargeia in Quintilian’s Institutionis Oratoriae Libri XII, in: Rhetorica Movet. Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich F. Plett, hg. v. Peter L. Oesterreich/Thomas O. Sloane, Leiden 1999, 3–24.
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kann.32 So muss sich das religiöse Selbst am Ende immer wieder neu (er)finden, um sich im Strom der Zeit bewahren zu können.
5 Für ein neues Bündnis von Philosophie, Theologie und Rhetorik Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘ scheint das Motto für eine bis heute andauernde Krise der Theologie in der (Post-)Moderne zu sein.33 Hinter diesem Schlagwort vom ‚Tod Gottes‘ und der Rede vom europäischen Nihilismus verbirgt sich aus fundamentalrhetorischer Sicht allerdings weniger eine Krise der theologischen oder metaphysischen Wahrheit selbst, sondern ihrer Glaubwürdigkeit und Akzeptanz in einer radikal veränderten Welt. Gemeint ist nicht nur der sich beschleunigende Säkularisierungsprozess der westlichen Welt, sondern vor allem auch die Wiederkehr einer geradezu vorkonstantinischen Pluralität und Konkurrenz von Sinnangeboten, die das einstige Deutungs- und Orientierungsmonopol der christlichen Kirchen in Europa abgelöst hat. Wenn der ‚tolle Mensch‘ bei Nietzsche seinem provokativen Ausruf ‚Gott ist tot‘ den Vorwurf ‚Und wir haben ihn getötet!‘ hinzusetzt, so meint das fundamentalrhetorisch gedeutet: Der ‚Tod Gottes‘ bedeutet ebenso wie die Rede vom ‚Ende der Metaphysik‘ nicht den Tod des Absoluten oder der Vernunft selbst, sondern des menschlichen Glaubens an sie, ohne den beide kein Dasein in der geschichtlichen Lebenswelt der Menschen mehr besitzen. Der europäische Nihilismus bedeutet somit nicht eine Krise der philosophischen oder theologischen Wahrheit selbst, sondern ihrer Glaubhaftigkeit und Akzeptanz unter den Bedingungen der (post-)modernen Welt. Für die Theologie bedeutet dies: Es gelingt ihr immer weniger, die religiöse Wahrheit für die Menschen glaubwürdig darzustellen und überzeugend mitzuteilen. Dies liegt nicht – wie gesagt – allerdings allein an ihr,
|| 32 Der Gedanke der konjekturalen Endlichkeit allen menschlichen Wissens geht auf Cusanus zurück: „consequens est omnem humanam veri positivam assertionem esse coniecturam“ (Nicolaus de Cusa, De coniecturis/Mutmassungen, lat.-dt., hg. v. Josef Koch/Winfried Happ, Hamburg 21988, 2). Die spezielle rhetoriktheoretische Bedeutung der konjekturalen Form menschlicher Vernunft hat in jüngster Zeit – unter Rekurs auf die Rhetorik des Aristoteles – Gonsalv K. Mainberger (Reden mit Vernunft. Aristoteles, Cicero, Augustinus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987) herausgearbeitet. 33 Vgl. Otto Kaiser, Die Rede vom Gott am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Die Rede von Gott und der Welt. Religionsphilosophie und Fundamentalrhetorik, hg. v. Klaus Giel/Renate Breuninger, Ulm 1996, 9–32.
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sondern auch an der radikal veränderten pluralistischen Situation der (Post-)Moderne, in der die rhetorische Differenz zwischen religiöser Wahrheit und den Glaubwürdigkeitsstandards der sie umgebenden Lebenswelt immer größer geworden ist. Dennoch liegt es auch an der derzeitigen Verfassung der Theologie, dass es ihr kaum mehr gelingt, ihrer eigentlichen Aufgabe, überzeugende Rede von Gott zu sein, gerecht zu werden. Sicherlich kann – wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen – gelingende religiöse Selbstwerdung nicht durch die rein menschliche Rede von Gott erzwungen werden, da sie der gnadenhaften Intervention rhetorischer Transzendentalität bedarf. Dies ist allerdings andererseits keineswegs ein Anlass, untätig in religiösem Fatalismus zu verharren. Durch die Krise der Gegenwart ist vielmehr die Theologie herausgefordert, alles Mögliche zu tun, um durch vielfältige und vor allem neue Formen rhetorischer Induktion eine mögliche Kette rhetorischer Fluktuationen und religiöser Erfindungen vorzubereiten, um so das geschichtliche Leben des ‚Volk Gottes‘ in der Welt zu erhalten und zu erneuern. Dabei ist es nicht nur ein Mangel an gutem Willen, der einer solchen neuen rhetorischen Anstrengung zur Lösung der Glaubwürdigkeitskrise der Theologie am Anfang des 21. Jahrhunderts entgegensteht. Es könnte vielmehr sein, dass das größte Defizit der heutigen Theologie darin begründet liegt, dass sie sich an einem falschen wissenschaftlichen Paradigma orientiert. So wird eine rein an der Logik orientierte Philosophie den rhetorischen Prozessen der persuasiven Selbsterfindung und dem konjekturalen Charakter religiöser Selbstvergewisserung sicherlich nicht gerecht werden können. Die philologisch oder poetologisch orientierten Literaturwissenschaften werden ferner dazu neigen, die religiöse Rede mit der literarischen Fiktion gleichzusetzen und so in ihrem spezifisch religiösen Wahrheitsanspruch aufzuheben. Auch eine der reinen Hermeneutik verpflichtete Philosophie wird sich am Ende für die Theologie als ungeeignete Partnerin erweisen, weil sie – versunken im unendlichen Prozess der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte oder (post-)modern verstrickt in die Vieldeutigkeit eines unentscheidbar gewordenen Sinnes – nicht vermag, produktiv an der Erzeugung und Erneuerung des religiösen Glaubens mitzuwirken. Dagegen wäre die natürliche Partnerin einer zukunftsorientierten Theologie, die sich entschieden der Aufgabe stellt, wieder überzeugende Rede von Gott zu sein, eine an der Rhetorik, der traditionellen Wissenschaft von der überzeugenden Rede orientierte Philosophie. Das Bündnis von Theologie und rhetorisch geprägter Philosophie wäre dabei keineswegs eine völlige Innovation, sondern, wie schon der Blick auf Augustinus zeigt, zugleich auch die Restitution eines alten und überaus erfolgreichen Bündnisses.
Credibilität Einige Thesen zu Rhetorik, Religion und Wissenschaft
1 Einleitung Dass die Weltgeschichte nicht allein durch Logik, Wissenschaft und Technik, sondern von den Konflikten in den großen Glaubensfragen bewegt wird, bestätigen gegenwärtig die überraschende Wiederkehr der Religionen im 21. Jahrhundert und der damit verbundene politisch-militärische Zusammenstoß der westlichen Zivilisation mit dem politischen Islamismus. Auch aus diesem Anlass versuchen die folgenden fundamentalrhetorischen Überlegungen, das bisher zu wenig untersuchte Verhältnis zwischen dem Phänomen des menschlichen Glaubens und dem des Rhetorischen näher zu bestimmen. Dabei erscheint es aus fundamentalrhetorischer Perspektive nicht ratsam, das Phänomen des Glaubens von vorneherein auf den von der Theologie favorisierten speziellen Sinn des religiösen Glaubens zu begrenzen. Ausgangpunkt der folgenden Überlegungen bildet vielmehr der generelle anthropologische Sinn des Glaubens, welcher allgegenwärtig wie das Rhetorische alle Lebensbereiche des Menschen durchzieht. Der Variantenreichtum dieses allgemeinmenschlichen Glaubensphänomens erstreckt sich von Kleinformaten wie den Glauben an das kommende schöne Wetter, den Sieg im nächsten Fußballspiel oder den Wochenverlauf der Börse bis hin zu den weltanschaulichen Großformaten wie den ökonomischen Glauben an die heilsame Macht des Marktes, den politischen Glauben an die Würde des Menschen und die allgemeinen Menschenrechte oder den religiösen Glauben an das Wort des Propheten. Das Prinzip der Credibilität erscheint somit als ebenso lebensweltlich ubiquitär und anthropologisch universal wie das der Rhetorizität. Dies wirft die fundamentalrhetorische Frage nach einer genauen Verhältnisbestimmung von „Rhetorizität“1 und Credibilität auf und lenkt zunächst den forschenden Blick zurück in die antiken Anfänge der Rhetoriktheorie. Denn eine erste ausführliche Theorie des Zusammenhangs zwischen dem Phänomen persuasiver Rede und dem des generellen anthropologischen Glaubens findet sich bereits in der Rhetorik des Aristoteles.
|| 1 Klaus Ostheeren, Rhetorizität, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 8 (2007), 214–219. https://doi.org/10.1515/9783110527667-010
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2 Die Pithanologie der Aristotelischen Rhetorik Schon vor Aristoteles hat bereits die antike Sophistik auf den Zusammenhang von Rhetorizität und Credibilität aufmerksam gemacht sowie einen anthropologisch weitgefassten, rhetorischen Glaubensbegriff ins Spiel gebracht. Wie Klaus Dockhorn bemerkt hat, verstanden die frühen sophistischen Lehrer der Rhetorik von Anfang an „ihr Anliegen als Glaubhaftmachen“2. So zeigt sich z. B. bereits Gorgias in seinem berühmten Lob der Helena fasziniert von der glaubenerweckenden Macht persuasiver Rede: „Rede nämlich, die Seele-bekehrende, zwingt stets die, die sie bekehrt, den Worten zu glauben und den Taten zuzustimmen.“3 Von dieser sophistischen Entdeckung des menschlichen Redenkönnens als einer ebenso erstaunlichen wie scheinbar unberechenbaren, glaubenerweckenden Macht, deren geradezu übermenschliche, daimonische Wirkkraft sich in der Göttin Peitho personifizierte, ging ein entscheidender phänomenologischer Anstoß zur Ausbildung der Rhetorik als lehr- und lernbarer Kunstform aus. Mit der Sophistik beginnt somit die Geschichte der Rhetorik als der fortschreitende Versuch, die wilde und irrational erscheinende Macht glaubenerweckender Rede in der Form eines technischen Wissens zu bändigen und in die geregelten Bahnen einer lehr- und lernbaren kulturellen Kompetenz überzuführen. Dabei unterliegt von nun an das anthropologische Grundphänomen des Rhetorischen einer kulturgeschichtlichen Ars-natura-Dialektik und gewinnt dadurch den Doppelaspekt sowohl einer der natürlichen Redebegabung des Menschen entspringenden ingeniösen Wirkkraft (δύναμις), als auch einer lehr- und lernbaren redetechnischen Wissensform (τέχνη). Bekanntlich fand jene frühe Rhetorik, welche von ihren sophistischen Erfindern als eine geradezu omnipotente, „glaubenmachende“4 Werkmeisterin der Überredung angepriesen wurde, sogleich in der von Sokrates und Platon erfundenen Philosophie ihre bis heute überaus erfolgreiche Gegenspielerin. So kritisiert Platon im Gorgias die sophistische Rhetorik als einen unseriösen „Kunstgriff der Überredung“5 und spricht ihr den epistemologischen Status als fachspezifische Wissensform gänzlich ab. Diesem von Platon bemängelten epistemischen Defizit der sophistischen Rhetorik tritt dann die Aristotelische Rhetorik entgegen, indem sie eine wissenschaftlich diskutable Theorie der
|| 2 Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1968, 49. 3 Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, hg. und übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989, 11. 4 Vgl. Platon, Werke in acht Bänden, Bd. 2, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1990, 454d–e. 5 Platon, Werke in acht Bänden (s. Anm. 4), 459b.
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Redekunst vorlegt. Diese stellt das von den Sophisten nicht befriedigend gelöste rhetorische Credibilitätsproblem, d. h. die Frage nach der wissenschaftlich zureichenden Theorie der durch persuasive Rede erzeugten Glaubhaftigkeit, erneut ins Zentrum ihrer Überlegungen. So lautet die vieldiskutierte Definition zu Beginn des zweiten Kapitels des ersten Buches der Aristotelischen Rhetorik, die Rhetorik sei das Vermögen, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende (πιθανόν) zu erkennen.6 Diese Aristotelische Rhetorikdefinition wird bis heute zweifellos kontrovers diskutiert.7 Für die weitere fundamentalrhetorische Überlegung soll hier zunächst nur festgehalten werden, dass Aristoteles im Widerspruch gegen die Platonische Kritik ausdrücklich der Rhetorik den epistemischen Status einer Redetechnik zuspricht, welche in einem allgemeinen Wissen um die Möglichkeiten glaubenerweckender Rede gründet. Das Pithanon bildet somit den sachlichen Kristallisationspunkt, von dem her sich die Rhetorik als Wissenschaft und Technik definiert und zugleich von benachbarten Disziplinen, wie z. B. der Dialektik, abgrenzt. Kurz gesagt definiert Aristoteles die Rhetorik insgesamt als ‚Pithanologie‘8. Rhetorik, derart als Pithanologie definiert, widmet sich mit ihrem zentralen Thema redeerzeugter Glaubhaftigkeit einem begrifflich schwer zu erfassenden Phänomen, welches zwischen objektiven und subjektiven Bestimmungsmomenten rätselhaft zu oszillieren scheint. So hebt z. B. Friedrich Nietzsche die (inter-) subjektive Bedeutung des Aristotelischen Pithanon hervor, wenn er betont: „Nicht die Dinge treten ins Bewusstsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen.“9 Dagegen besteht Martin Heidegger in seiner Vorlesung zur Aristotelischen Rhetorik auf dem objektiven Sachaspekt, wenn das Glaubhafte als „das, was für
|| 6 Aristoteles, Ars rhetorica, hg. v. William D. Ross, Οxford 41974, 1355b. 7 Vgl. den Stellenkommentar von Christof Rapp (Aristoteles. Rhetorik, 2. Halbband, Berlin 2002, 134 ff.). Zu der ursprünglich von Martin Heidegger ausgehenden aktuellen Dynamis-Debatte (vgl.: Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie [= Gesamtausgabe Bd. 18], Frankfurt a. M. 2002), die von der Frage bewegt wird, ob Aristoteles die ‚Rhetorik‘ eher als eine Dynamis, d. h. im fundamentalrhetorischen Sinn als allgemeinmenschliches Redevermögen, oder als Techne, d. h. im kunstrhetorischen Sinn als methodische Kunstlehre oder artifiziell ausgebildete Kompetenz, versteht, siehe die Beiträge von Josef Kopperschmidt, Roman Dilcher, Heinrich NiehuesPröbsting, Franz Hubert Rohling, Panagiotis Thanassas und Temilo van Zantwijk in: Heidegger über Rhetorik, hg. v. Josef Kopperschmidt, München 2009. 8 Zum Terminus ‚Pithanologie‘ vgl. meinen Beitrag in: Sprachen des Glaubens. Philosophische und theologische Perspektiven, hg. v. Martin Fritz und Regina Fritz, Stuttgart 2013, 36–52. 9 Friedrich Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe, Abt. II, Bd. 4, hg. v. Fritz Bormann, Berlin/New York 1995, 426.
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eine Sache, die Thema der Rede ist, spricht“10, bestimmt. Dass sich das Pithanon weder einseitig auf eine objektive sachliche Eigenschaft noch auf eine (inter-)subjektive Befindlichkeit reduzieren lässt, macht sowohl die begriffliche Schwierigkeit als auch den besonderen Reiz dieser intermittierenden Kategorie aus, die schon das rhetorische Denken des Aristoteles vor besondere Herausforderungen stellt. Die Aristotelische Pithanologie geht die Lösung dieses Begriffsrätsels an, indem sie bei der kommunikativen ‚Urszene‘ der Rhetorik ansetzt, welche der Grundsituation des einsamen, logischen Denkens kontrastiert. Das Paradigma rhetorischer Credibilität erweist sich schon bei Aristoteles komplexer als das der logischen Wahrheit, welche sich von der zweistelligen Subjekt-Objekt-Relation des Denkenden und des Gedachten her bestimmt. Das Phänomen des glaubenerweckenden, rhetorischen Logos erhebt sich nämlich nach Aristoteles auf dem Grunde einer dreistelligen Konstellation, welche sich, ausgehend vom Redner, über den jeweils thematisierten Redegegenstand teleologisch auf den Glauben der Hörer bezieht.11 Diese dreistellige Orator-Thema-Auditor-Relation erklärt sowohl die objektiven als auch die (inter-)subjektiven Bestimmungsmomente rhetorisch erzeugter Credibilität. Davon ausgehend entwickelt Aristoteles im ersten Buch seiner Rhetorik das für die gesamte weitere Theoriegeschichte maßgebliche pithanologische „Grunddispositionsschema der Rhetorik“12. Demnach lassen sich drei grundlegende Quellen rhetorischer Beglaubigung ausmachen: erstens der Charakter (ἦθος) des Redners, zweitens der durch die Rede selbst zustande gebrachte Beweis der vertretenen Sache (πρᾶγμα) und schließlich drittens die Stimmung und Befindlichkeit (πάθος) der Zuhörer.13 Gemäß dieser grundlegenden Ethos-Pragma-PathosDisposition spielen somit neben den zur Rede stehenden Sachen gerade auch die Charaktere und die Emotionen eine entscheidende Bedeutung bei der rhetorischen Erzeugung von Credibilität. Die Pithanologie des Aristoteles lässt sich demgemäß in drei Teilbereiche gliedern, welche jeweils auf einen dieser drei kardinalen rhetorischen Beglaubigungsgründe bezieht. Dazu gehört erstens die Lehre von den Charakteren, welche ‚Ethologie‘ genannt werden kann; zweitens die
|| 10 Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 18, hg. v. Mark Michalski, Frankfurt a. M. 2002, 114. 11 Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1357b f. 12 Dockhorn, Macht und Wirkung (s. Anm. 2), 51. 13 Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1356a.
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‚Pragmatologie‘, als Theorie der topischen Sachargumentation und drittens die ‚Pathelogie‘, als Lehre von den Emotionen.14 Zunächst versucht Aristoteles mit seiner pithanologischen Pragmatologie jene glaubenserweckende Kraft redetechnisch zu begreifen, welche die sachaufweisende Rede selbst, abgesehen von ihrer Einbettung in den interpersonalen Redner-Hörer-Bezug, zu erbringen vermag. In Analogie zur Dialektik (Topik) besitzt für Aristoteles dabei ein sehr spezieller Modus sachaufweisender Rede, nämlich der Syllogismus, auch für die Rhetorik eine herausragende, beweisende und deshalb zugleich glaubenserweckende Kraft. So besitzt für ihn der verkürzte Syllogismus, d. h. das Enthymem, den Status des geradezu ‚königlichsten‘15 Mittels der Beglaubigung, welches die gesamte rhetorische Beweisführung beherrscht. Für diese privilegierte Stellung der enthymematischen Sachargumentation, welche den spezifischen Rationalitätsgehalt der Rhetorik bildet und sie in die disziplinäre Nähe zur Dialektik rücken lässt, gibt Aristoteles die interessante pithanologische Begründung, dass wir dann am meisten „glauben“16, wenn wir annehmen, dass etwas bewiesen sei. ‚Vernunft‘ im Sinne syllogistischer Rationalität, welche schon in der vorwissenschaftlichen Lebenswelt in der verkürzten Form des Enthymems auftritt, besitzt offensichtlich für die meisten Menschen eine außerordentliche, glaubenserweckende Kraft. Denn sie versteht es im Allgemeinen am besten glaubhaft zu machen, was für oder gegen eine Sache spricht. Die enthymematische Sachargumentation, welche das systematische Zentrum rhetorischer Pragmatologie darstellt, bildet deshalb eine tragende Säule seiner als Pithanologie konzipierten Rhetorik. An dieser Stelle sei schon einmal festgehalten, dass der rhetorische Glaubensbegriff der Aristotelischen Pithanologie durch ihre integrale Pragmatologie Rationalität nicht ausschließt, sondern dezidiert einschließt. Allerdings kann diese Konkordanz von Rhetorizität und Rationalität nur für den Teilbereich der dialektikaffinen Sachargumentation uneingeschränkt gelten. In den anderen beiden ethos- und pathoszentrierten Teilbereichen seiner Pithanologie hat sich Aristoteles dagegen ausgiebig mit den bis heute oftmals als ‚irrational‘ bezeichneten Aspekten rhetorischer Beglaubigung befasst. Die Ethologie der Aristotelischen Rhetorik versteht unter Charakter nicht eine innere, moralische Qualität, sondern die Quelle rhetorischer Beglaubigung durch
|| 14 Auch das erst im dritten Buch der Aristotelischen Rhetorik behandelte Beglaubigungsmittel der Lexis, d. h. der angemessenen Sprachform, folgt dieser Systematik der drei kardinalen Beglaubigungsgründe. Vgl. dazu Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1408a. 15 Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1355a. 16 Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1355a.
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die öffentliche Person des Redners. Für die Aufnahme des Ethos in den Kreis der kardinalen Beglaubigungsgründe spricht für Aristoteles die empirische Beobachtung der öffentlichen Redepraxis: „denn wir glauben bei jeder Sache dem Tugendhaften in höherem Maße und schneller.“17 Damit widerspricht schon Aristoteles in Antizipation des Ciceronianischen Vir-bonus-ldeals dezidiert der Meinung, dass die Charakterdarstellung des Redners zur Überzeugungskraft nichts beitrage und stellt im Gegenteil fest: „vielmehr verfügt der Charakter beinahe sozusagen über den wichtigsten Aspekt der Überzeugung.“18 Im Detail führt Aristoteles drei allgemeine Gesichtspunkte auf, welche für die ethische Beurteilung des Redners vom Standpunkt der Hörer ausschlaggebend sind. Demnach bildet die von der Charakterdarstellung des Redners ausgehende glaubenserweckende Kraft kein irrationales, charismatisches Mysterium, sondern lässt sich durch eine dreistellige ethologische Topik beschreiben. So gilt ein Redner seinem Publikum im Allgemeinen als glaubwürdig, wenn er sich erstens mit Sachverstand (φρόνησις), zweitens mit Tugend (ἀρετή) und drittens mit Wohlwollen (εὔνοια) ausgestattet zeigt.19 So erweist sich ein Redner, welcher offensichtlich von der Sache, über die er redet, nichts oder wenig versteht, von vorne herein als unglaubwürdig. Besitzt er dagegen offensichtlich Sachverstand, werden ihm seine Hörer dennoch misstrauen, wenn sie glauben, dass er persönlich nicht integer ist und sie nicht aufrichtig berät. Schließlich werden sie ihm nur vollständig vertrauen und glauben, wenn sie meinen, dass er ihnen gegenüber benevolent eingestellt ist und ihnen den für sie jeweils besten Rat erteilen wird. Schließlich begibt sich die Aristotelische Pithanologie mit ihrer Pathelogie, d. h. der Lehre von den Stimmungen und Emotionen, auf ein Gebiet, welche seit jeher als die Domäne vermeintlich ‚irrationaler‘ Leidenschaften gilt. Dass sich Aristoteles in seiner Rhetorik überhaupt ausführlich dieser Domäne vermeintlicher ‚Irrationalität‘ widmet, hat wiederum plausible pithanologische Gründe, welche wiederum auf der aufmerksamen empirischen Beobachtung der öffentlichen Redepraxis beruhen. Denn die Credibilität einer vertretenen Sache oder die Glaubwürdigkeit von Personen, z. B. vor Gericht, hängt, wie Aristoteles feststellt, auch von dem jeweiligen emotionalen Zustand des beurteilenden Publikums ab. So lässt sich oftmals die Erfahrung machen, dass wir „unsere Urteile nicht in gleicher Weise, wenn wir trauern und wenn wir uns freuen oder wenn wir lieben und
|| 17 Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1356a. 18 Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1356a. 19 Vgl. Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1378a.
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wenn wir hassen“20 fällen. Die rhetorische Pathelogie des Aristoteles versteht unter Emotionen keine inneren, individualpsychologisch beschreibbaren Gefühlszustände; sondern generell jene Stimmungen und Befindlichkeiten, welche für das politische Redelebewesen ‚Mensch‘ in öffentlichen Redesituationen entweder Credibilität erwecken oder verhindern können. Der Kanon der rhetorisch relevanten Emotionen, welcher sich im zweiten Buch der Rhetorik findet, umfasst den Zorn, die Sanftmut, die Liebe, den Hass, die Furcht, den Mut, die Scham, die Freundlichkeit, das Mitleid, den gerechten Unwillen, den Neid und den Ehrgeiz.
3 Prinzip Credibilität Ausgehend von der hier nur kurz skizzierten, pithanologischen Definition der Rhetorik bei Aristoteles lässt sich zunächst feststellen: Die Rhetorik ist in ihrer teleologischen Gesamtausrichtung zunächst gar nicht auf das Wahre (verum), sondern primär auf das Glaubhafte oder Glaubwürdige, d. h. „lat. quod fidem facit, credibile“21, angelegt. Durch ihr eigenes, teleologisches Prinzip der ‚Credibilität‘ besitzt die Rhetorik ein unverwechselbares und selbstständiges Profil gegenüber allen auf das Prinzip der bloßen ‚Wahrheit‘ ausgerichteten Disziplinen. Die Rhetorik zielt daher nicht bloß auf epistemische Begründung, sondern darüber hinausgehend auf persuasive Beglaubigung. Dazu bedient sie sich des gesamten ihr zur Verfügung stehenden reichhaltigen Organons von ethologischen, pragmatologischen und pathelogischen Beglaubigungsmitteln. Zugespitzt formuliert spielt die logische Sachargumentation im teleologisch vom Credibilitätsprinzip regierten Organismus rhetorischer Beglaubigung überhaupt deshalb nur eine Rolle, weil sie sich als Pragmatologie – neben der Ethologie und der Pathelogie – als ein weiteres, unverzichtbares Organ persuasiver Glaubenserzeugung erweist. Die so von der Aristotelischen Definition als Pithanologie umrissene ursprüngliche Gesamtgestalt der Rhetorik wird allerdings bis heute durch zwei einander entgegengesetzte, reduktionistische Gedankenfiguren verstellt: einerseits durch die Figur ihrer rationalistischen Deklassierung der Rhetorik und andererseits durch die Gegenfigur ihrer irrationalistischen Selbstbehauptung. Die bis heute vorherrschende Gedankenfigur ihrer disziplinären Deklassierung misst
|| 20 Aristoteles, Ars rhetorica (s. Anm. 6), 1356a. 21 Gonsalv K. Mainberger, Glaubwürdige, das, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3 (1996) 993–1000, hier: 993.
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die Rhetorik nicht an ihrem eigenen Prinzip der Credibilität, sondern beurteilt sie anhand des ihr unangemessenen Maßstabes streng wissenschaftlicher Wahrheit. Von daher erscheint die Rhetorik als eine der Logik bzw. Dialektik nachgeordnete Disziplin, deren Zuständigkeit sich bestenfalls auf das ‚Abbild‘ oder den defizienten Modus des Wahren (verum), d. h. die Wahrscheinlichkeit (verisimilitudo) beschränkt. Gegen diese traditionelle Deklassierung eröffnet die hier von Aristoteles ins Spiel gebrachte pithanologische Rhetorikdefinition nun die Aussicht einer Rehabilitierung, welche die Rhetorik nicht mehr länger aus der logischen Fremdperspektive des Verum missversteht, sondern sie wieder an ihrem eigenen Maßstab des Credibile misst. Aber auch die irrationalistische Gegenfigur, welche im 20. Jahrhundert von Klaus Dockhorn prägnant formuliert wurde, bringt die bei Aristoteles sichtbare pithanologische Gesamtgestalt der Rhetorik nur fragmentarisch in den Blick. Um die disziplinäre Eigenständigkeit der Rhetorik gegenüber ihrer rationalistischen Deklassierung zu retten, besteht Dockhorn zwar wieder auf der „zentralen Stellung von Pathos und Ethos in der Rhetorik“22, auf der anderen Seite jedoch verkürzt Dockhorn durch die disziplinäre Abspaltung des rationalen Pragma-Aspektes ihre pithanologische Trias auf die ‚irrationale‘ Ethos-Pathos-Dyade. Gemäß der Dockhornschen Irrationalismus-These erscheint die Rhetorik deshalb zwar als die Spezialistin für die Darstellung der in den rationalen Wissenschaften vernachlässigten, aber anthropologisch bedeutsamen, emotionalen und charakteristischen Aspekte menschlicher Existenz und so zugleich als eine wichtige geistesgeschichtliche Quelle der modernen Ästhetik. Trotz dieser sicherlich gutgemeinten Amputation der rationalen Sachargumentation von der Charakter- und Emotionsdarstellung bleibt Dockhorns irrationalistische Definitionsfigur der Rhetorik ein Torso. Ethos- und Pathosdarstellung mögen auf den Gebieten der Kunst und Ästhetik billigerweise eine privilegierte Stellung für sich beanspruchen, aber in den Geschäften und Angelegenheiten der geschichtlichen Lebenswelt bildet die sachlogische Argumentation eine conditio sine qua non rhetorischer Glaubenserzeugung. Zudem lässt sich – von Aristoteles her gesehen – das Ethos nicht in gleicher Weise wie das Pathos ohne weiteres dem Gebiet des ‚Irrationalen‘ zurechnen. Ohne die plausible Darstellung seines Sachverstandes, der Phronesis, wird nämlich ein Redner in der Regel in ernsthaften Angelegenheiten bei den allermeisten Menschen wenig Glauben finden können. Von daher gesehen schließt Rhetorik, als Pithanologie verstanden, sachlogische Rationalität auch auf dem Gebiet ihrer Ethologie keineswegs aus. Nur zusammen bilden die drei Glieder von Ethos-, Pragma- und Pathosdarstellung || 22 Dockhorn, Macht und Wirkung (s. Anm. 2), 57.
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gleichsam die goldene pithanologische Kette der Rhetorik. So stellen sowohl die Figur der rationalistischen Degradierung der Rhetorik als auch ihre Gegenfigur irrationalistischer Selbstbehauptung gleichsam nur die disiecta membra der bei Aristoteles im vollen Umfang sichtbaren, pithanologischen Gesamtgestalt der Rhetorik dar. Das hier exponierte Prinzip der Credibilität darf als eine Grundkategorie fundamentalrhetorischer Homo-rhetoricus-Anthropologie gelten.23 Die rationalistische Anthropologie beschrieb den Menschen traditionell als ein auf Wahrheit angelegtes Vernunftwesen (animal rationale). Dagegen charakterisiert die neue pithanologische Perspektive den Menschen sozusagen als ein animal rhetoricum, dessen Existenz in der geschichtlichen Lebenswelt durch das Prinzip der Credibilität bestimmt wird. Dass die Weltgeschichte nicht durch die apriorischen Vorgaben der Hegelschen Logik bewegt wird, sondern durch die kontingenten Handlungsfolgen der auf politische, ökonomische und religiöse Credibilität fußenden Akteure, dürfte heute weit mehr plausibel sein als noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dass ferner heute die oft zitierte Sentenz ‚Geld regiert die Welt‘ durch den pithanologischen Nachsatz ‚und ohne Credibilität besitzt selbst das Geld keinen Wert‘ ergänzt werden kann, dürfte in Zeiten des Kapitalismus ohne weiteres akzeptabel sein.24 Dass ferner das realgeschichtliche Phänomen ‚Wissenschaft‘ – sowohl bezüglich ihrer jeweiligen Paradigmen als auch in Hinsicht auf ihre äußere gesellschaftliche Akzeptanz – auf die rhetorische Erzeugung von Credibilität angewiesen ist, hat die Rhetoric of Science zu Genüge dargestellt. Für die Allgegenwärtigkeit des Prinzips rhetorischer Credibilität spricht auf iuridischem Gebiet beispielsweise die Glaubwürdigkeit der Zeugen, auf medizinischem der sogenannte Placebo-Effekt, auf ökonomischem Gebiet der Glaube an die liberale Marktwirtschaft, auf politischem der Glaube an Freiheit, Menschenrechte und Demokratie, auf militärischem der Glaube an den Sieg technisch hochgerüsteter Streitkräfte, oder eben der religiöse Glaube an Gott. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden im Folgenden nun speziell zum Thema des religiösen Glaubens abschließend einige pithanologische Thesen vorgestellt.
|| 23 Zur Homo-rhetoricus-Anthropologie s. Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik, Hamburg 1990, 91–142 sowie Philosophie der Rhetorik, Bamberg 2003. 24 Vgl. dazu Gottfried Gabriel, Rhetorik des Geldes, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002.
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4 Fünf pithanologische Thesen zum religiösen Glauben Die bisherige Überlegung exponierte die pithanologische Generalthese, dass die geschichtliche Lebenswelt des Menschen als ein Universum rhetorisch erzeugter Credibilität zu begreifen sei. Ausgehend von diesem generellen anthropologischen und rhetorischen Glaubensbegriff, liegt nun die Frage seiner Ausdifferenzierung in die speziellen Formen des iuridischen, politischen, ökonomischen, militärischen, wissenschaftlichen und eben religiösen Glaubens nahe. Im Bezug auf das Problem des religiösen Glaubens und seiner Abgrenzung zum szientifischen Glauben der Wissenschaften seien dazu die folgenden fünf Thesen vorgestellt: I. Sowohl der ‚Glaube‘ der Religionen als auch das ‚Wissen‘ der Wissenschaften stellen lediglich spezielle Spielarten der anthropologisch universalen, rhetorischen Credibilität dar. Pithanologisch gesehen lassen sich somit sowohl der Homo religiosus als auch der Homo scientificus lediglich als unterschiedliche Ausformungen des Homo rhetoricus betrachten. Dies lässt das oft diskutierte Konfliktverhältnis von Ratio und Fides noch einmal überdenken und auf eine egalitäre Weise neu ordnen. Von daher erscheint sowohl die hierarchische Disposition wie z. B. die teleologische Ausrichtung des Glaubens auf das Wissen (Credo, ut intelligam) oder umgekehrt die irrationalistische Überbietung des Wissens durch den bloßen Glauben (Credo, quia absurdum) als überholt. Stattdessen liegt es pithanologisch argumentiert nahe, zunächst einmal für eine prinzipielle Gleichrangigkeit von Religion und Wissenschaft als eigenständige Formen menschlicher Credibilitätssysteme zu plädieren. II. Die pithanologische Form wissenschaftlicher Veridiktion verlangt eine strenge Restriktion auf den Modus rein pragmatologischer Beglaubigung. In der äußeren gesellschaftlichen Inszenierung von Wissenschaft spielen zweifellos auch das Ethos berühmter Wissenschaftler, z. B. des ‚Genies‘ Albert Einsteins, oder Emotionen wie z. B. die Hoffnung auf ein globales Wachstum des Wohlstands durch den Fortschritt in Wissenschaft und Technik, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das eigentliche, innere Forum der wissenschaftlichen Kommunikationsgemeinschaft lässt dagegen nur einen streng pragmatologischen Modus der Beglaubigung zu. Das spezifische Pithanon der Wissenschaft liegt nämlich in einer rein logischen Beweisführung, welche ihre vorgetragenen Hypothesen und Paradigmen auf der Basis von empirischen ‚Tatsachen‘ verifiziert. Von daher besteht der rationalistische ‚plain style‘ wissenschaftlicher Veridiktion in einer streng methodischen Restriktion, welche einerseits den Modus tatsachenbasierter Pragma-
Fünf pithanologische Thesen zum religiösen Glauben | 161
tologie privilegiert und andererseits die ethologischen und patheologischen Modi rhetorischer Beglaubigung auszuschließen versucht.25 III. Dagegen zeichnet sich die Form des religiösen Glaubens durch die unbeschränkte Lizenz zum freien Gebrauch sowohl ethologischer als auch pragmatologischer und patheologischer Beglaubigungsformen aus. Der Evokation des spezifisch religiösen Glaubens steht somit das gesamte Organon rhetorischer Pithanologie zu Verfügung. Zum reichhaltigen, ethologischen Repertoire religiöser Beglaubigungsmittel gehören z. B. der Ego-autem-dico-Gestus26 ihrer Religionsstifter und die narrative Ethopoiie religiöser Mythologie, welche den Charakter der Götter und Göttinnen, der Prophetinnen und Propheten, Apostel und Heiligen mit rhetorischer Evidenz vor Augen führt. Für die pragmatologische Evokation des Glaubens steht ferner die religiöse Lehr- und Gleichnisrede zur Verfügung, welche jene dogmatischen Topoi zunächst narrativ exponiert, die sich später gegebenenfalls zu einer systematischen Theologie ausbauen lassen. Zu ihren besonders bewegenden, pathelogischen Beglaubigungsmitteln religiöser Rede gehören vor allem die gefühlswirksame Veranschaulichung (illustratio) durch ihre metaphernreiche Bildsprache oder die dramatisch inszenierten Pathos-Szenen religiöser Erzählung.27 IV. Die reinrationale Form der wissenschaftlichen Credibilität ist anthropologisch insuffizient. Die religiöse Beglaubigung erstreckt sich über alle drei Grundformen rhetorischer Credibilisierung: erstens auf das pragmatologische Beweisen (probare), zweitens das ethologische Gewinnen (conciliare) und schließlich drittens das pathelogische Bewegen (permovere). Dagegen ist für die reinrational restringierte Credibilität der Wissenschaft ausschließlich der strenge tatsachenbasierte Beweis ausschlaggebend. In dieser pithanologischen Eindimensionalität strenger Wissenschaft, welche durch ihr pramatologisches Beweisen lediglich den
|| 25 So besteht ein zentrales Argument des modernen wissenschaftlichen Atheismus darin, dass sich die von den Religionen vertretene „Gotteshypothese“ (Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007, 46), im Gegensatz zum Paradigma der Darwinistischen Evolutionsbiologie, nicht durch empirische Tatsachen beglaubigen lasse und deshalb dem Gebiet des Wahnhaften zuzurechnen sei. 26 Vgl. Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, 30. 27 Zur illustratio als zentrales, gefühlswirksames Beglaubigungsmittel religiöser Rhetorik vgl. Andrea Grün-Oesterreich/Peter L. Oesterreich, Dialectica docet, rhetorica movet. Luthers Reformation der Rhetorik, in: Rhetorica Movet, Studies in Historical and Modern Rhetoric in Honour of Heinrich F. Plett, hg. v. Peter L. Oesterreich /Thomas O. Sloane, Leiden/Boston/Köln 1999, 25– 41.
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Verstand der Menschen einzunehmen vermag, liegt zugleich ihre anthropologische Insuffizienz. Im Vergleich dazu kann der dreidimensionale religiöse Glaube sowohl pragmatologisch den Verstand, ethologisch den Willen und pathelogisch das Gefühl ansprechen. Die spezifische anthropologische Suffizienz des religiösen Glaubens besteht daher darin, dass er die Differenz von ‚Verstand‘ und ‚Herz‘ zu schließen und den gesamten Menschen in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu formen vermag. V. Menschheitsgeschichtlich ist Religion nicht vollständig durch Wissenschaft ersetzbar. Für diese These von der historischen Unsubstituierbarkeit der Religion durch Wissenschaft spricht jene pithanologische Überlegenheit der dreidimensionalen Form religiöser Credibilität gegenüber der eindimensionalen Form des szientifischen Glaubens. Im Gegensatz zur anthropologischen Insuffizienz wissenschaftlicher Rationalität ermöglicht der religiöse Glaube nicht nur wie der szientifische eine partikulare, sondern eine den gesamten Menschen ergreifende Identifikation. Diese umfasst neben den rationalen auch jene emotionalen und ethischen Faktoren, welche für geschichtsmächtige Gemeinschaftsbildungen und ihre Handlungsmotivationen unbedingt notwendig sind. Anders als es z. B. das positivistische Drei-Stadien-Gesetz vorschreibt, ist es daher nicht zu erwarten, dass die Religion menschheitsgeschichtlich zuerst von der Metaphysik und schließlich vollständig von der positiven Wissenschaft ersetzt werden kann. Diese hier entworfenen pithanologischen Thesen verdeutlichen einerseits das realgeschichtliche Risiko und die Fragilität einer rein auf Wissenschaft und Technik gestellten Zivilisation, deren Credibilität als anthropologisch insuffizient eingeschätzt werden muss. Auf der anderen Seite offenbaren sie auch die permanente Selbstgefährdung des religiösen Glaubens, welcher aufgrund seiner starken ethisch und emotional fundierten Identifikationstendenzen leicht dazu neigt, sich realgeschichtlich totalitär oder sogar terroristisch zu entfremden. Insgesamt lässt sich so am Ende die Prognose wagen, dass die Spielarten des religiösen Glaubens auch in dem zukünftigen Drama der Menschheitsgeschichte im Guten wie im Bösen weiterhin eine nicht unerhebliche Rolle spielen werden. Vielleicht ist die verblüffende Wiederkehr der Religionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu die Ouvertüre.
| Teil II: Zur Rhetorik der Philosophie
Die Topographie der Metaphysik Der rhetorical turn1 und die gegenwärtige Rhetorik-Renaissance2 fügen sich bisher scheinbar bruchlos in den antimetaphysischen Denkstil ein, der im Zuge der sprachphilosophischen Wendung des 20. Jahrhunderts vor allem in der Analytischen Philosophie und dem Dekonstruktivismus vorherrscht. Die rhetorische Metakritik und die mit ihr verbundene Aufdeckung der geheimen persuasiven Strategien endet in der Regel in einer „Vernunftkritische(n) Entlarvung philosophischer Klassikertexte“3 Insbesondere die von Nietzsche ausgehende rhetorische „Selbstthematisierung des metaphysischen Denkens“4 führt über das Innewerden ihres ‚eigenen trügerischen Charakters‘ anscheinend unvermeidlich zur Verabschiedung der Metaphysik und ihrem „Stimmverlust“5 im Zeitalter der Postmoderne. Dagegen werde ich der Vermutung nachgehen, dass die gegenwärtig sich in den Wissenschaften auf breiter interdisziplinärer Basis vollziehende Entdeckung des rhetorischen Geistes auch der Metaphysik ein neues, positives Selbstverständnis eröffnen könnte. Auf der Suche nach einem rhetorisch aufgeklärten Begriff der Metaphysik lässt sich nämlich ihr – in der Vergangenheit oft übersehenes – persuasives Wesensmoment bis in ihren Anfang hinein zurückverfolgen. Schon gleich bei Parmenides zeigt sich die Metaphysik als ein Projekt, das nicht nur, wie Heidegger noch meinte, allein der Aletheia, sondern gleichermaßen auch der Peitho verpflichtet ist.6 Sie ist von Anfang an ein Unternehmen spekulativer Rede, das sich inmitten der rhetorischen Differenz von metaphysischer Wahrheit und lebensweltlicher Glaubwürdigkeit bewegt. Es ist diese Differenz und das Spannungsverhältnis ihres aletheischen und ihres peithischen
|| 1 Vgl. Herbert W. Simons (Hg.), The Rhetorical Turn: Invention and Persuasion in the Conduct of Inquiry, Chicago 1990. 2 Heinrich F. Plett (Hg.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996; Josef Kopperschmidt, „Rhetorik – ein inter(multi-, trans-)disziplinäres Forschungsprojekt“, Rhetorica 15 (1997), 81– 106; speziell zur Philosophie: Gert Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, Stuttgart/Weimar 31994, 171–184. 3 Tobia Bezolla, Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik, Tübingen 1993, 153. 4 Lutz Ellrich, „Rhetorik und Metaphysik“. Nietzsche-Studien 23 (1994), 241–272, hier: 242. 5 Gonsalv K. Mainberger, Rhetorische Vernunft. Oder: Das Design in der Philosophie, hg. v. Helmut Holzhey/Jürg Scheuzger, Wien 1994, 117. 6 Zum Verhältnis von Peitho und Aletheia im Lehrgedicht des Parmenides: Peter L. Oesterreich, Die Rhetorik der Metaphysik im Zeitalter neuer Sophistik“, in: Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 81991, 77–88. https://doi.org/10.1515/9783110527667-011
166 | Die Topographie der Metaphysik
Momentes, das die Metaphysik und ihre Rede vom Absoluten in Bewegung hält und die Fülle der uns überlieferten Texte hervortreibt.7 Die folgenden Bemerkungen zur Topographie der Metaphysik wollen nun derjenigen geistigen Landschaft, in der sich die spekulative Rede bewegt, einen kurzen Besuch abstatten. Dabei soll ihr äußerer Umriss anhand des Höhlengleichnisses Platons, das als allegorisch verschlüsselte Landkarte gelesen werden kann, verdeutlicht werden. Danach werde ich wenigstens eine Ortschaft dieser Topographie, nämlich die demonstrative Topik des Absoluten, wie sie sich bei Jacobi, Hegel und Fichte findet, aufsuchen, um hier kurz an einem Ort, dem Topos der positiven Dekonstruktion, zu verweilen. Zurückkehrend zu einer allgemeinen Überlegung, werde ich dann mit einer Bemerkung zur redereflexiven Tiefendimension der Topographie der Metaphysik schließen.
1 Platons Höhlengleichnis als allegorische Topographie der Metaphysik Das berühmte Höhlengleichnis Platons aus dem siebten Buch der Politeia bildet eine Art geheime Landkarte, die in allegorischer Verschlüsselung die Topographie der Metaphysik in ihren äußeren Umrissen enthält. Die Details einer späteren, eingehenderen Interpretation überlassend, sei hier nur auf die von Platon angedeuteten beiden topographischen Eckpunkte hingewiesen. 1. Die gewöhnliche Lebenswelt als endoxaler Ausgangspunkt der Metaphysik. Den topographischen Ausgangspunkt bildet die fast schon sprichwörtlich gewordene Platonische Höhle, in der die meisten Menschen, ohne es freilich selbst zu wissen, ihr gesamtes Leben in geistiger Gefangenschaft verbringen. Platon evoziert ihr Bild mit folgenden Worten:
|| 7 Die hier vorläufig vorgenommene Bestimmung der Metaphysik als ‚Rede vom Absoluten‘ beabsichtigt keineswegs ihren Begriff auf die spezielle Metaphysik des Deutschen Idealismus zu verengen. Unter dem ‚Absoluten‘ ist hier nicht mehr als ein erstes, unbedingtes Prinzip gemeint, von dem her das Seiende im Ganzen und als solches verstanden werden soll. Mit dem ‚Absoluten‘ soll somit nicht ein bestimmter historischer Metaphysiktypus – sei es platonischer oder aristotelischer Provenienz – präferiert werden. Es wird damit lediglich jenes materiale Proprium festgehalten, das als spezieller Topos spekulativer Rede die Metaphysik – in ihrer schon von M. Heidegger herausgestellten ‚onto-theologischen‘ Grundverfassung (vgl. Identität und Differenz, Pfullingen 51976, 31–67) – auszeichnet und von anderen Disziplinen klar unterscheidet.
Platons Höhlengleichnis als allegorische Topographie der Metaphysik | 167
„Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung […]. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt (514a f.).“8
Im Innern der Platonischen Höhle sehen die Menschen nicht die Dinge selbst, sondern lediglich ihre „Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft“ (515a). Über diese vom Kunstlicht des Feuers erzeugten Schatten, die sie durch zufällig aufgegriffene und willkürliche Namen belegen, reden und urteilen sie miteinander im Widerhall der Höhlenwände. Eindringlich führt die Allegorie der Platonischen Höhle die entfremdete Situation der meisten Menschen in der Immanenz der gewöhnlichen Lebenswelt vor Augen. Wie Platon an anderer Stelle verdeutlicht, trifft seine Kritik vor allem das öffentliche Leben der Polis, wenn die Bürger „zu großen Haufen beisammen in den Volksversammlungen oder in den Gerichtshöfen oder Schauspielen oder Lagern oder in was sonst für gemeinsamen Zusammenkünften der Menge mit großem Geräusch einiges tadeln […] und anderes loben“ (492b). Hier lässt die Epideixis sophistisch geschulter, öffentlicher Rede nicht nur die Menschen, sondern – so der Eindruck Platons – selbst „die Steine“ und den „Ort, wo sie sich befinden, auch ertönen und das Geräusch des Lobes und Tadels doppelt wiedergeben“ (492c). Von der peithischen Macht der ῥητορικὴ τέχνη und dem gorgianischen Zauber ihrer Pathos-Beredsamkeit würden die Menschen geradezu besinnungslos „weggeschwemmt“ und unwiderstehlich „mit fortgerissen“ (492c). Insgesamt beschreibt die Platonische Höhle kritisch die endoxale Immanenz des gewöhnlichen Lebens und die Krise ihrer bereits sophistisch aufgeklärten Öffentlichkeit. Sie erscheint als ein seinsferner Innenraum bloßer Phantasmen, die im artistischen Kunstlicht jenes promethischen Feuers aufscheinen, das der sophistische Kompensationsmythos im Protagoras so treffend hervorhebt. Ihre korrumpierte Rede bewegt sich, indem ihr im Kratylos angesprochenes res-verbumProblem durchweg verdrängt wird, scheinbar selbstsicher, weil selbstvergessen, inmitten ihrer eigenen, schattenhaften Projektionen. Der Bann ihrer scheinerzeugenden Macht hält die Menge im Zustand ständiger Besinnungslosigkeit fest. Die Bildlichkeit der Platonischen Höhle schildert Normalität als elenden Unort versklavender Selbstvergessenheit und entfremdeter Seinsferne, nicht zuletzt deshalb, um die Sehnsucht nach „Lösung und Heilung“ (515c) zu wecken. Sie motiviert zum philosophischen Auszug aus der Gewöhnlichkeit und wird so zum || 8 Hier und im Folgenden wird zitiert nach: Platon, Werke in acht Bänden (gr.-dt.), Darmstadt 2 1990.
168 | Die Topographie der Metaphysik
topographischen Ausgangspunkt der nachfolgenden metaphysischen Aufstiegsbewegung. 2. Der Höhepunkt reiner Einsicht in das Absolute. Dieser Aufstieg führt den Erkennenden aus der Schattenwelt der Platonischen Höhle heraus in die lichte, äußere Wirklichkeit. Hier werden demjenigen, der der Höhle entstiegen ist, nach der allmählichen Gewöhnung der Augen an die Helle der Außenwelt die Dinge selbst sichtbar. „Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der anderen Dinge im Wasser und dann erst sie selbst“ (516a). Schließlich gewinnt das ans Licht gewöhnte Auge sogar die erstaunliche Fähigkeit, die Sonne selbst zu sehen. „Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein“ (516b). Mit der Sonne selbst hat der Erkennende jenen hellsten und höchsten Gesichtspunkt der wirklichen Welt außerhalb der Höhle erblickt. Als Quelle des Lichtes ermöglicht sie überdies erst sowohl die Sichtbarkeit der Dinge als auch ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit. In Platons eigener Erklärung, die sich in der Politeia an das Höhlengleichnis unmittelbar anschließt, entspricht bekanntlich dieser sinnlichen Sonne die übersinnliche „Idee des Guten“ (517b). Sie sei das absolute Prinzip, das sowohl die Wahrheit (ἀλήθεια) als auch die Vernunft (νοῦς) hervorbringe und deshalb selbst über „das Sein an Würde und Kraft hinausragt“ (509b). Wie Platon dann im Sonnengleichnis hervorhebt, verleiht es dem „Erkennbaren Wahrheit (ἀλήθεια)“ und dem „Erkennenden das Vermögen (δύναμις)“ (508e), sie einzusehen. In dieses Erste und Absolute müsse schließlich Einsicht haben, „wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten“ (517c). Allerdings – so macht Platon unmissverständlich klar – sei der geistige Aufstieg aus dem gewöhnlichen Standpunkt der sinnlich-empirischen Weltansicht bis hin zur metaphysischen Einsicht in die Idee des Guten schwierig, langwierig und voraussetzungsvoll. Er verlangt den gesamten Einsatz der persönlichen Existenz und eine außerordentliche seelische Anteilnahme. Das „Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt […] den Aufschwung der Seele in die Gegend der Erkenntnis“ (517b) voraus. Erst jenseits der dialogischen und dialektischen Bemühungen und ihrer vielen „schöne(n) und herrliche(n) Reden und Gedanken“ (210d) liegt – wie auch die Diotima-Rede im Symposion betont – der gesuchte Ort reiner Erkenntnis, der Topos noetos. Erst hier zeigt sich plötzlich – alle Formen des diskursiven Sagens und Denkens überholend und unter sich zurücklassend – das gesuchte Prinzip selbst in der Form reiner und redeloser Intuition. Damit nähert sich die spekulative Rede aber auch schon dem Topos
Platons Höhlengleichnis als allegorische Topographie der Metaphysik | 169
der Unsagbarkeit des Absoluten, das sich als arheton gegen jede Form sprachlicher Objektivierung sperrt. 3. Der Aktionsraum spekulativer Rede in der extremen Differenz menschlicher Bewusstseinsstandpunkte. Die beiden extremen Standpunkte der gewöhnlichen Lebenswelt einerseits und der spekulativen Einsicht andererseits, die das Platonische Höhlengleichnis veranschaulicht, markieren als die äußersten Eckpunkte die Erstreckung derjenigen Topographie, die das metaphysische Denken bei seinem Auf- und Abstieg zu durchmessen hat. Dabei ist nicht nur der unwegsame und steile Aufstieg zur Einsicht – wie Platon betont – von „viel Schmerzen“ (515e) begleitet. Auch der Rückstieg von der Höhe der Einsicht in die ‚Höhle‘ der Alltäglichkeit führt, wie Platon nicht ohne Ironie bemerkt, zu beträchtlichen Irritationen: „Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege […], würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt?“ (516e) Der Übergang von einem extremen Bewusstseinsstandpunkt zum anderen stürzt das menschliche Bewusstsein sowohl beim Aufstieg als auch beim Abstieg innerhalb der Topographie der Metaphysik in unvermeidliche Krisen. So erklärt sich, „daß durch zweierlei und auf zweifache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt wird und wenn aus der Dunkelheit in das Licht“ (518a). Die Meisterung dieser Krisen durch die „Kunst der Umlenkung“ (518d) des Sehens und der gesamten Seele verlangt nach dem philosophischen Lehrer, der als Mentor sich selbst und seine Schüler sicher durch die Unwegsamkeiten der metaphysischen Landschaft zu führen vermag.9 Um diese ‚Umlenkung‘ (περιαγωγή) einzuleiten und zu begleiten, bedient dieser sich jener philosophischen Rhetorik, die Platon im Phaidros als eine Art „Seelenführung (ψυχαγωγία) durch Worte“ (261a) eigens entworfen hat.10
|| 9 Vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1987, 152–202. 10 Das weitverbreitete kognitivistische Missverständnis übersieht, dass die Metaphysik nicht nur akzidentiell, d. h. bestenfalls im pädagogischen Sinne, sondern per se und substanziell persuasiv verfasst ist. Ihre spekulative Rede will ihre Hörer nicht nur informieren, sondern sie im Ganzen transformieren. Die spekulative Rede vom Absoluten beabsichtigt nämlich letztlich gar keinen Informationszuwachs innerhalb der empirischen Weltanschauung des alltäglichen oder wissenschaftlichen Bewusstseins. Sie zielt vielmehr auf eine ‚Revolution der gesamten Denkart‘, die aus dem Gesichtspunkt des Absoluten auch die empirischen Gegebenheiten neu verstehen und bewerten lässt. Diese Transformation des Bewusstseins intendiert wiederum eine veränderte lebensweltliche Praxis, z. B. in einer neuen „Kultur der Vernunft“ (Immanuel Kant,
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Insgesamt verdeutlicht das Höhlengleichnis Platons paradigmatisch die extreme rhetorische Differenz, die die spekulative Rede zwischen dem Standpunkt der Alltäglichkeit und dem der Spekulation zu überwinden hat. Die Topographie der Metaphysik erstreckt sich nämlich nicht innerhalb eines geschlossenen Weltbildes des gewöhnlichen Bewusstseins, sondern im offenen und atopisch wirkenden Raum zwischen der Gewöhnlichkeit und der spekulativen Einsicht ins Absolute und Erste. Insofern bildet die Metaphysik eine eigene Art paradoxaler, revolutionärer Rhetorik aus, die den endoxalen Binnenraum der Normalität in Richtung auf das Absolute hin transzendiert. Dabei bleibt die Gewöhnlichkeit der unhintergehbare Ausgangs- und Rückkehrpunkt der Metaphysik. Zudem muss ihre spekulative Rede sich notwendig der geschichtlichen Sprache, der konventionellen Topik und den Glaubwürdigkeitsstandards ihrer jeweiligen Lebenswelt bedienen. Aber sie gebraucht sie doch auf deviante und im wörtlichen Sinne ‚allegorische‘ Weise, um durch die gezielte Verschiebung der gewohnten Bedeutung auf den Sinn ihrer außergewöhnlichen, spekulativen Wahrheit zu verweisen. Verallgemeinert gesprochen bildet die Topographie der Metaphysik das Aktionsfeld spekulativer Rede, die aus der ‚höhlenartigen‘ Immanenz der gewöhnlichen Lebenswelt aufbricht, bis zum Höhepunkt der spekulativen Einsicht aufsteigt, dort versucht, das Absolute darzustellen, um dann wieder absteigend ihre spekulative Wahrheit öffentlich zu lehren. Dementsprechend lassen sich die aszendierenden Redeweisen des Aufstiegs, die demonstrativen Darstellungsweisen des Absoluten und die reszendierenden Redeweisen des Abstiegs unterscheiden.11 Alle drei Modi spekulativer Rede haben dabei eine bestimmte, außergewöhnliche und für die Metaphysik typische rhetorische Differenz zu überwinden. Die aszendierende und reszendierende Rede haben vor allem mit der interpersonalen Differenz zu kämpfen, die aus dem bereits erwähnten indecorum kontingenter Bewusstseinsebenen, dem Standpunkt der Gewöhnlichkeit einerseits und dem der Spekulation andererseits besteht. Das Höhlengleichnis Platons stellt selbst ein gutes Beispiel für eine aszendierende Rede dar, die auf allegorische Weise – der exordialen Pflicht des docilem parare gemäß – den noch Unerfahrenen auf den bevorstehenden Denkweg der Metaphysik vorbereitet. Dagegen hat sich die demonstrative Rede vornehmlich mit dem sachlichen indecorum zwischen dem Absoluten als ‚Sache‘ des Denkens und seiner sprachlichen Darstellung auseinan-
|| Kr.d.r.V., B XXX). Zur Lebendigkeit des praktischen Sinnes der Metaphysik in der Antike vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991. 11 Dass sich auch die Epochengliederung des Gesamtwerkes Platons nach der Grundbewegung von Aufstieg, Höhepunkt und Abstieg deuten lässt, kann man neuerdings nachlesen in: Barbara Zehnpfennig, Platon zur Einführung, Hamburg 1997, 14 f.
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derzusetzen. Aus der interpersonalen Differenz ergibt sich das typische Mitteilungs- und aus der sachlichen das Darstellungsproblem spekulativer Rede, die jeweils beide die Lehrbarkeit und Akzeptanz der Metaphysik permanent gefährden. Auf ihrem Wege durch die Topographie der Metaphysik muss die spekulative Rede jeweils ihre gesamte rhetorische Energie aufwenden, um die Kontingenz ihrer Mitteilungs- und Darstellungsprobleme zu bewältigen. Der Weg zu ihrer Auflösung führt dabei jeweils über zentrale Gedankenfiguren,12 die das inventive Zentrum bilden, um die herum sich die Reden und Texte der Metaphysiker jeweils organisieren. Trotz ihrer ungesicherten und paradoxalen Lage jenseits der endoxalen Ansichten der Alltäglichkeit bildet aber die Topographie der Metaphysik insgesamt keineswegs einen leeren Raum, sondern wird von aszendierenden, demonstrativen und reszendierenden Figuren spekulativer Rede besiedelt, die sich wiederum zu bestimmten Konfigurationen ordnen und kleinere topische Verkettungen bilden. Ein Beispiel dafür bildet die demonstrative Topik des Absoluten, wie sie sich in der Metaphysik des Deutschen Idealismus bei Hegel, Jacobi und Fichte findet.
2 Die demonstrative Topik des Absoluten bei Hegel, Jacobi und Fichte Die demonstrative Topik der Metaphysik erhebt sich generell auf dem Boden ihres fundamentalen Darstellungsproblems, das die Sagbarkeit oder Unsagbarkeit ihres Prinzips betrifft. Schon der antike Platonische Idealismus kennt das Problem der Unaussprechlichkeit der Idee, welche sich nur in der Unmittelbarkeit eines reinen geistigen Sehens zeigt. Innerhalb der geistigen Landschaft des Deutschen Idealismus lassen sich in dieser Frage bei Hegel, Jacobi und Fichte nun drei unterschiedliche Grundpositionen finden. Sie schließen sich zu einer mehrstelligen Topik zusammen, die sich von der absoluten Begreiflichkeit bis hin zur absoluten Unbegreiflichkeit des Absoluten erstreckt.
|| 12 Unter Gedankenfiguren verstehe ich ganz allgemein dianoetische Schemata, die unserem Denken eine klare, lichtvolle und glaubwürdige Form verleihen (vgl. Quint. IX 1,17 ff.). Die im Folgenden angesprochenen Grundfiguren des metaphysischen Denkens können auch im rhetorischen Sinne als Deviationsfiguren bezeichnet werden, weil sie durch ihre besondere Wendung zum Absoluten eine vom gewöhnlichen Bewusstsein abweichende Denkbewegung darstellen.
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Diese differenzierte Topik ergibt sich insgesamt aus dem äußerst schwierigen Versuch, die metaphysischen Intuitionen der Antike auf dem Boden der modernen Subjektivität zu erneuern. Als moderne Metaphysik unterliegt der Deutsche Idealismus der erhöhten Anforderung, bei seiner Reformulierung der alten Metaphysik zugleich den Glaubwürdigkeitsstandards neuzeitlicher Wissenschaft und ihres methodischen Konstruktivismus gerecht werden zu sollen. Das von Vico bereits für die Geschichtswissenschaft übernommene verum-factum-Prinzip, nach dem wir nur dasjenige erkennen können, was wir selbst gemacht und konstruiert haben, gilt spätestens seit Kant auch in der Philosophie. Seine transzendentale ‚Revolution der Denkart‘, die nach dem erfolgreichen Vorbild der Mathematik und Physik endlich auch der Philosophie den ‚sicheren Gang der Wissenschaft‘ verleihen will, geht nun ebenfalls von der Überzeugung aus, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“13. 1. Hegels absolute Begreiflichkeit des Absoluten. Das wohl eindrucksvollste, wirkungsgeschichtlich mächtigste und in sich geschlossenste Beispiel der Rede vom Absoluten in der Form methodischer Begriffskonstruktion finden wir zweifellos bei Hegel. Das Hegelsche System vertritt in der demonstrativen Topik des Deutschen Idealismus die Grundfigur der absoluten Begreiflichkeit des Absoluten. Es ist nun – so jedenfalls Hegel – die Wissenschaft der Logik, welche „die eigentliche Metaphysik oder rein spekulative Philosophie“ (5)14 ausmacht. Triumphalistisch feiert Hegel bekanntlich in der Einleitung zu seiner großen Logik die restlose Enthüllung und Darstellung des inneren Wesens des Absoluten: „Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist (31).“
Dieser in romantischer Enthüllungsmetaphorik vorgetragenen Behauptung einer vollkommenen Demonstration des Absoluten liegt allerdings die Voraussetzung zugrunde, dass „eben die Sache für uns nichts anderes als unsere Begriffe von ihr sein kann“ (15). Das Darstellungsproblem der Metaphysik wird vom Identitätslogiker Hegel demnach durch eine Art stillschweigenden gedanklichen Gewaltstreiches von vornherein umgangen. Die absolute Begreifbarkeit des Absoluten beruht bei Hegel auf der gedanklichen Verdrängung jeder möglichen Differenz
|| 13 Kant, Kr.d.r.V., B XIII. 14 Hier und im Folgenden zitiert nach: G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Erster Teil, hg. v. G. Lasson, Hamburg 1971.
Die demonstrative Topik des Absoluten bei Hegel, Jacobi und Fichte | 173
von begrifflicher Rede einerseits und der Wirklichkeit des Absoluten andererseits. In dieser Selbstvergessenheit seines rhetorischen Differenzproblems liegt die unausgesprochene objektive Ironie des Hegelschen Systems. Anders als die Platonische Dialektik will die Hegelsche Logik nicht zur Intuition hinführen, sondern sie durch ihre begriffliche Konstruktion vollständig ersetzen. Diese Tendenz zur totalen logischen Enthüllung droht dabei, das Absolute zum Gefangenen der begrifflichen Diskursivität zu machen. Dass es derart eingebunden in „die Entwicklung des Denkens in seiner Notwendigkeit“ (19) der Wirklichkeit seiner Freiheit entbehren würde, hat dann nicht nur der späte Schelling bemängelt. Aber in der Fiktion eines der Rede und der menschlichen Lebenswelt endgültig entkommenen Philosophierens sah Hegel in „den stillen Räumen des zu sich selbst gekommenen und nur in sich seienden Denkens“ (12) – angesichts der Wissenschaftsstandards seiner Zeit – wohl keine andere Alternative zur angemessenen Reformulierung der Metaphysik: „Auf diesem sich selbst konstruierenden Wege allein, behaupte ich, ist die Philosophie fähig, objektive, demonstrierte Wissenschaft zu sein“ (7). 2. Jacobis absolute Unbegreiflichkeit. Die extreme Gegenposition, die die prinzipielle Undemonstrierbarkeit des Absoluten und damit zugleich die Unmöglichkeit jeder systematischen Philosophie behauptet, wird im geistigen Raum des Deutschen Idealismus hartnäckig und wiederholt von Friedrich Heinrich Jacobi vertreten. Seine gegen jede Form von Systemphilosophie gerichtete, religiös motivierte Skepsis vertritt die Grundfigur der absoluten Unbegreiflichkeit des Absoluten. Diese findet im berühmten Sendschreiben an Fichte vielleicht ihre kürzeste und argumentativ prägnanteste Darstellung. Der Allwissenheit des idealistischen Systemdenkens tritt hier die docta ignorantia Jacobis entgegen, die anstatt des absoluten Wissens „das Bewusstseyn des Nichtwissens für das Höchste im Menschen“ (5 f.)15 hält. Jacobis Argument von der Unbegreiflichkeit des Absoluten geht ebenfalls von der allgemeinen Prämisse des neuzeitlichen verum-factum-Prinzips aus. Demnach bedeutet alles Begreifen ein methodisches Konstruieren, das das Begriffene nicht als an sich gegeben voraussetzen kann, sondern methodisch hervorzubringen hat: „Wir begreifen eine Sache nur in sofern wir sie construiren, in
|| 15 Jacobis Sendschreiben wird hier und im Folgenden zitiert nach: F. H. Jacobi, Werke, hg. v. Friedrich Roth/Friedrich Köppen, Bd. 3, Darmstadt 1996.
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Gedanken vor uns entstehen, werden laßen können“ (20). Umgekehrt gilt dann aber auch, dass die von der erkennenden Subjektivität nicht konstruierten Dinge ihr prinzipiell unbegreiflich bleiben müssen: „In sofern wir sie nicht construiren, in Gedanken nicht selbst hervorbringen können, begreifen wir sie nicht“ (20 f.). Bei Jacobi erfährt das kritizistische Argument Kants von der Unerkennbarkeit des Dings an sich eine radikal skeptische Zuschärfung, die die potenziell destruktiven und nihilistischen Tendenzen des neuzeitlichen Szientismus erstmals in voller Deutlichkeit hervortreten lassen. Die geradezu tragische Ironie moderner Subjektivität, die sich der konstruktiven Methode verpflichtet sieht, besteht nämlich darin, dass sie erst das selbstständige und objektive Sein der Dinge aufheben und vernichten muss, um es dann in subjektiv depotenzierter Form als bloßes Artefakt und Schema wieder herstellen zu können. „Wenn daher ein Wesen ein von uns vollständig begriffener Gegenstand werden soll, so müssen wir es objektiv – als für sich bestehend – in Gedanken aufheben, vernichten, um es durchaus subjektiv, unser eigenes Geschöpf – ein bloßes Schema – werden zu lassen“ (21). Für Jacobi erscheint so der moderne Wissensprozess negativ als „progressive Vernichtung“ (23), d. h. als fortgesetzte Depotenzierung des objektiven Seins in die Leere und Nichtigkeit subjektiver Fiktion. Dass das objektive Sein derart die Immanenz des subjektiven Wissens flieht, gilt schließlich a fortiori vom Absoluten. „Ein Gott, der gewußt werden könnte, wäre gar kein Gott“ (7). Der wirkliche Gott verbleibt so als „das Unbegreifliche“ (35) jenseits aller begrifflichen Konstruktion. Die skeptische Grundfigur Jacobis, die absolute Unbegreiflichkeit des Absoluten, repräsentiert so tatsächlich das konsequente Nicht-Wissen einer – wie Jacobi selbstironisch anmerkt – „Unphilosophie“ (9). Aus der selbstkonstruierten Immanenz bloß subjektiver Schemata, Projektionen und Begriffsschimären, mit denen sich das moderne Wissenschaftssubjekt – alles objektive Sein vernichtend – umstellt, scheint es am Ende nur einen Ausweg zu geben: den berühmten salto mortale Jacobis, der einen irrationalen ‚Sprung in den Glauben‘ vollzieht und behauptet: „Gott könne nicht gewußt, sondern nur geglaubt werden“ (7). 3. Fichtes begriffene Unbegreiflichkeit. Eine vermittelnde Position zwischen Hegels absoluter Begreiflichkeit und Jacobis absoluter Unbegreiflichkeit nimmt die Spätphilosophie Fichtes ein. Sie wird bestimmt durch die Grundfigur der begriffenen Unbegreiflichkeit des Absoluten, die sich besonders eindrücklich in der
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zweiten Fassung seiner Wissenschaftslehre 1804 vorstellt.16 Hier entwickelt Fichte in mündlicher Vortragsform eine neue, transzendentale Metaphysik, die den Intuitionismus der klassischen Metaphysik mit dem Konstruktivismus des neuzeitlichen Wissenschaftssubjekts zu vereinigen versucht. Die Vorträge der WL 18042 nehmen dabei die Jacobische Skepsis gegenüber der Konstruierbarkeit des Absoluten auf einem außerordentlichen redereflexiven Niveau auf, das die – Fichte zumeist unterstellte – reine Bewusstseinsphilosophie in Richtung auf eine sprachmetakritisch aufgeklärte Philosophie bereits hinter sich zurücklässt. Schon Fichtes Feststellung – „alles Aussprechen oder Nachconstruiren = Begreifen, ist in sich mittelbar“ (33)17 – deutet darauf hin, dass alle Mittel diskursiver Darstellung das unmittelbare Sein und Leben des Absoluten nicht zu erreichen vermögen. Damit tritt die prinzipielle Schwäche spekulativer Rede – sowohl auf der elokutionären Ebene des sprachlichen Ausdrucks als auch auf der dispositionellen begrifflicher Konstruktion – zutage. Fichtes WL 18042 hält die kritische Einsicht fest, dass jede Rede als Repräsentation bestenfalls ein ‚Bild‘ des Absoluten sein kann und dieses selbst sich nur „jenseits der Möglichkeit meines Ausdrucks, und meiner beschreibenden Construction“ (22) finden lässt. Diese sprachmetakritische Einsicht in die grundsätzliche Unangemessenheit begrifflicher Rede lässt zwar auch beim späten Fichte das Absolute als ein Unbegreifliches erscheinen, das sich jeder direkten diskursiven Erfassung entzieht. Anders als bei Jacobi endet das Erkenntnisstreben der Wissenschaftslehre aber nicht in der aporetischen Feststellung der prinzipiellen Undemonstrierbarkeit des Absoluten. Der Weg des Wissens bricht bei Fichte nicht ab und führt über die methodisch herbeigeführte ‚Vernichtung des Begriffs‘ in der absoluten Abstraktion schließlich doch noch zur gesuchten Einsicht. Bei Fichte bleibt somit die methodische ‚Setzung‘ und ‚Vernichtung‘ des Begriffs die notwendige Voraussetzung der Evidenz des absoluten Wissens. Ausdrücklich hält Fichte bei seiner Erneuerung des metaphysischen Intuitionismus an der Notwendigkeit einer methodischen Vermittlung durch begriffliche Rede fest: „Soll das absolut Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, einleuchten, so muß der Begriff vernichtet, und damit er vernichtet werden könne,
|| 16 Zur Figur der begreiflichen Unbegreiflichkeit in der Angewandten Philosophie s. den Kommentar in: J. G. Fichte, Werke II, Schriften zur Angewandten Philosophie, hg. v. P. L. Oesterreich, Frankfurt a. M. 1997, 964 ff. 17 Hier und im Folgenden zitiert nach: J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni, hg. v. R. Lauth/J. Widmann, Hamburg 1986.
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gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Begriffes leuchtet das Unbegreifliche ein“ (36). Die Pointe der Fichteschen Figur der begriffenen Unbegreifbarkeit besteht darin, dass der moderne, methodische Weg zur Einsicht notwendig über die Konstruktion und Selbst-Dekonstruktion begriffssprachlicher Rede führt. Durch die Demonstration ihrer eigenen Unangemessenheit in der SelbstDekonstruktion verweist spekulative Rede indirekt auf jene Evidenz des Absoluten, die sie selbst – ihre eigenen Grenzen kritisch erkennend – nicht herzustellen vermag.18 Dabei lässt sich die subjektive Einsicht in die objektive Evidenz des Absoluten nicht von ihrer rhetorischen Genesis ablösen. Dass sich ihre Vollzugsevidenz nur im Prozess ständiger ‚Selbstsetzung‘ und ‚Selbstvernichtung‘ begrifflicher Rede zu erzeugen vermag, verhindert ihre scheinbar arhetorische Verselbstständigung zu einer ‚ewigen‘ und ‚stehenden‘ Wahrheit. Fichte erfindet in seiner WL 18042 die methodische Figur einer positiven Dekonstruktion, die die gegensätzlichen Momente der Konstruktion und Intuition zu vereinigen versucht und zugleich ein ungewöhnlich hohes redereflexives Niveau beweist. In dieser Figur fokussiert sich das rhetorische Denken des späten Fichte, das sich der Kontingenz begrifflicher Rede und ihrer prinzipiellen Differenz zum Absoluten ständig bewusst bleibt und trotzdem am Projekt systematischer Philosophie festhält. In einem positiven, metaphysikbegründenden Sinne scheint dabei die Friedrich Schlegelsche Figur der infiniten Ironie auf die späte Wissenschaftslehre zurückzuwirken, wenn Fichte seinen Hörern erklärt: „Ich construire daher ein durchaus nicht zu Construirendes, mit dem guten Bewußtsein, daß es nicht zu construiren ist“ (23).19 Durch die Ironie der Selbst-(De-)Konstruktion hält die spekulative Rede beim späten Fichte ihre eigene rhetorische Differenz zum Absoluten als Differenz bewusst und bewahrt sich in dieser selbstkritischen Einstellung eine Verweisung auf ein „Ursprüngliches“ (67) außer ihr. Es ist diese Deixis auf ein sie selbst transzendierendes Absolutes, die die gehaltvolle metaphysische Rede auszeichnet und aus der hermetischen Immanenz der Systemkonstruktion als der selbsterbauten ‚Höhle neuzeitlicher Subjektivität‘ hinausführt.
|| 18 Zur „Notwendigkeit indirekter Redeweisen“ beim späten Fichte vgl. Lore Hühn, Fichte und Schelling. Oder: Über die Grenze menschlichen Wissens, Stuttgart 1994, 116 f. 19 Zur Figur der infiniten Ironie bei Friedrich Schlegel und ihrem Hervorgang aus der frühen Wissenschaftslehre Fichtes vgl. Peter L. Oesterreich, „‚Wenn die Ironie wild wird …‘ Die Symbiose von Transzendentalphilosophie und Tropus bei Friedrich Schlegel“. Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 12 (1993), 31–39.
Das unerforschte Reich spekulativer Rede | 177
3 Das unerforschte Reich spekulativer Rede Die kurze Visitation der demonstrativen Topik des Deutschen Idealismus hat mit drei zentralen Gedankenfiguren selbstverständlich nur einen verschwindend kleinen Teil einer Topographie der Metaphysik umrisshaft sichtbar machen können. Auf dem Wege von der absoluten Begreiflichkeit Hegels über die absolute Unbegreiflichkeit Jacobis bis zur begriffenen Unbegreiflichkeit Fichtes wurde dabei allerdings auch schon das unterschiedliche redereflexive Niveau deutlich, auf dem diese Grundfiguren jeweils stehen. Ausgehend von der rhetorischen Selbstvergessenheit absoluter Logik bei Hegel, die die Kontingenz des Darstellungs- und Mitteilungsproblems spekulativer Rede leugnet, bis zur selbstkritischen methodischen Dekonstruktion des späten Fichte lässt sich eine erhebliche Steigerung des redereflexiven Problembewusstseins innerhalb der Philosophie des Deutschen Idealismus beobachten, das die Möglichkeiten und Grenzen spekulativer Rede kritisch bedenkt. Die Spätphilosophie Fichtes – wie übrigens auch das Weltalter-Projekt Schellings20 – erscheint deshalb aus fundamentalrhetorischer Perspektive nicht länger als bloße Depotenzierungen der idealistischen Systemphilosophie, sondern lässt sich im Gegenteil aus der Potenzierung des rhetorischen Geistes neu und positiv deuten. Damit kehrt sich die gewohnte, orthodoxe Lesart und Bewertung der Höhen und Tiefen des Deutschen Idealismus um. Das wirkungsgeschichtlich dominante System Hegels bildet aus der bisher verfolgten topographischen Perspektive eher einen Tiefpunkt des Idealismus, dessen Redevergessenheit die antimetaphysische Wendung der Sprachphilosophie im 20. Jahrhundert geradezu herausgefordert hat. Ein unterschätzter Höhepunkt ist dagegen in der bisher wenig erschlossenen Spätphilosophie Fichtes zu vermuten, die die rhetorische Differenz spekulativer Rede als Differenz bereits reflektiert und mit ihrer positiven Selbst-(De-)Konstruktion sich schon auf dem Wege zu einer rhetorisch aufgeklärten Metaphysik befindet. Mit dieser Schlussbemerkung zu den redereflexiven Niveauunterschieden, auf denen sich die Grundfiguren der Metaphysik befinden, hoffe ich auch die vertikale Tiefendimension der Topographie ein Stück sichtbar gemacht zu haben. Auch die metaphysische Landschaft, in der sich die spekulative Rede vom Absoluten bewegt, besitzt ihre eigenen Höhen und Tiefen. In ihnen bildet sich die
|| 20 Peter L. Oesterreich, Das gelehrte Absolute. Metaphysik und Rhetorik bei Kant, Fichte und Schelling, Darmstadt 1997.
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geschichtliche Dynamik der reflexiven Potenzierung oder Depotenzierung des rhetorischen Geistes ab. Die Topographie der Metaphysik beginnt erst heute damit, jenes in vielen Teilen noch unerforschte Reich spekulativer Rede zu beschreiben, für dessen figurale Vielfalt und reflexive Niveauunterschiede bisher eine genaue Landkarte fehlt.21
|| 21 Das topologische Grundproblem, ob die Topographie der Metaphysik wirklich als Beschreibung einer geistigen Realität gelten kann oder bloß eine Topothesie und fiktive „Veranschaulichung (evidentia) abstrakter Konzepte“ – Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 81991, 53 – darstellt, ist damit noch keineswegs gelöst. Ob das Absolute, das prinzipiell keine Gegebenheit der empirischen Welt sein kann, eine rhetorische Entdeckung oder eine bloße Erfindung ist, bleibt hier zwar vorläufig offen. Aber mit der Topographie der Metaphysik hat sich der Ort weiterer Untersuchungen jedenfalls als ein reines Reich der Rhetorik (mundus rhetoricus) erwiesen. (Zum Begriff des mundus rhetoricus im Kontext der fundamentalrhetorischen Drei-Welten-Theorie vgl. Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990.)
Indecorum Die unhöfliche Pararhetorik berühmter Philosophen
1 Einleitung Die beiden wohl prominentesten Philosophen der Philosophiegeschichte, Platon und Aristoteles, werden von Baldassare Castiglione in seinem Libro del cortegiano auch zu Vorbildern philosophischer Höflichkeit erhoben. Beide, sowohl Platon als auch Aristoteles, so lässt Castiglione seinen Signor Oktaviano sagen, hätten nämlich „Hofmannskunst betrieben […], der eine bei Alexander dem Großen, der andere bei den Königen von Sizilien“1. Dabei bestehe die philosophische Hofmannskunst Platons und Aristoteles’ darin, die Strenge der philosophischen, nur der nackten Wahrheit verpflichteten Rede geschickt mit dem höfischen Decorum verbinden zu können, um sie so genießbar zu machen. Allerdings lässt sich Castigliones Vorstellung von der Höflichkeit berühmter Philosophen nicht ohne Weiteres verallgemeinern. Im Gegenteil hält die Philosophiegeschichte zahlreiche prominente Gegenbeispiele von ausgesprochen unhöflichen Philosophen bereit, deren respektlose Rhetorik und provokatives Verhalten bewusst gegen das herrschende gesellschaftliche Decorum verstoßen. Berühmte und geradezu berüchtigte Beispiele von Philosophen, die unter dem Vorzeichen des Indecorum die riskante Möglichkeit philosophischer Freiheit und deviativer Selbsterfindung zu realisieren versuchen, finden sich schon ganz zu Anfang der europäischen Philosophiegeschichte, bei den so genannten ‚Vorsokratikern‘. So stoßen wir schon bei Heraklit, von dem es heißt: „Stolzen Sinnes, wie kaum ein anderer blickte er auf die ihn umgebende Welt“2, auf so ausgesprochen misanthrope und wenig schmeichelhafte Sentenzen wie: „Für der Lehre Sinn aber, wie er hier vorliegt, gewinnen die Menschen nie ein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen“3, oder: „Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen; so sind sie wie Taube.“4 Auch die folgenden
|| 1 Baldassare Castiglione, Der Hofmann, übers. v. Albert Wesselski, Berlin 32008, 121. 2 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. v. Otto Apelt, Hamburg 21967, 161. 3 Hermann Diels/Walter Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, o. O. 171974, 150. 4 Diels/Kranz, Vorsokratiker (Anm. 3), 159. https://doi.org/10.1515/9783110527667-012
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Äußerungen des wegen seiner oft aenigmatischen Rede schon von seinen Zeitgenossen mit dem zweifelhaften Epithethon ornans ‚der Dunkle‘ belegten Philosophen zeugen schon auf den ersten Blick nicht gerade von großer Philanthropie und menschlichem Respekt: „Kinderspiele nannte er die menschlichen Meinungen.“5 Gegenüber den Bürgern seiner Vaterstadt Ephesus steigert sich die Respektlosigkeit seiner philosophischen Rhetorik sogar zu sarkastischer Deutlichkeit. „Recht täten die Ephesier, sich Mann für Mann aufzuhängen allesamt und den Nicht-Mannbaren ihre Stadt zu hinterlassen.“6 Höflicher geht es auch nicht im Lehrgedicht des Parmenides zu, mit welchem die europäische Metaphysikgeschichte beginnt. Der von der Doxa der meisten Polis-Bürger entfernte, exklusive Weg des spekulativen Wahrheitssuchers führt den Philosophen weit „über alle Wohnstätten“7 der gewöhnlichen Sterblichen hinaus. Dabei werden die auf seiner Himmelsfahrt zur göttlichen Wahrheit unter sich zurückgelassenen, gewöhnlichen Menschen von Parmenides ebenfalls wenig schmeichelhaft als „nichts wissende Sterbliche“ und schwankende „Doppelköpfe“8 tituliert. In der folgenden Passage gewinnt jene Despektierlichkeit schließlich eine beleidigende Schärfe, die der respektlosen Misanthropie Heraklits in nichts nachsteht: „Denn Ratlosigkeit steuert in ihrer Brust den hin und her schwankenden Sinn. Sie aber treiben dahin stumm zugleich und blind, die Verblödeten, unentschiedene Haufen.“9 Vor die Frage gestellt: ‚Wie hältst du es eigentlich mit der Höflichkeit oder Unhöflichkeit?‘ zeigt uns die Philosophiegeschichte offensichtlich ein Janusgesicht. Demnach stellt sich der Homo philosophicus selbst als eine Art ‚Doppelkopf‘ dar, der zwei entgegengesetzte Gesichter zeigt, ein höfliches und ein unhöfliches. Anders gesprochen spaltet sie das Heer der in der Philosophiegeschichte auftretenden, berühmten Philosophen in zwei Parteien, einerseits in die Schar der höflichen Meisterdenker, angeführt von Castigliones Platon und Aristoteles; andererseits in die ebenfalls nicht kleine Liga beispielhaft unhöflicher Philosophen, im Gefolge von Heraklit und Parmenides. Ehe ich im Folgenden auf weitere Beispiele ausgesprochen unhöflicher berühmter Philosophen etwas näher eingehen werde, sei zunächst eine kleine theoretische Vorüberlegung zum Charakter ihrer provokativen Pararhetorik vorausgeschickt.
|| 5 Diels/Kranz, Vorsokratiker (Anm. 3), 167. 6 Diels/Kranz, Vorsokratiker (Anm. 3), 178. 7 Diels/Kranz, Vorsokratiker (Anm. 3), 228. 8 Diels/Kranz, Vorsokratiker (Anm. 3), 233. 9 Diels/Kranz, Vorsokratiker (Anm. 3), 233.
Die Pararhetorik der unhöflichen Philosophen | 181
2 Die Pararhetorik der unhöflichen Philosophen Um das Phänomen unhöflicher philosophischer Rhetorik definitorisch einzuordnen, möchte ich hier zuerst eine terminologische Prägung Gustav Rene Hockes, der zu Unrecht in der „aktuellen Forschung keine Rolle“10 mehr zu spielen scheint, reaktivieren und zugleich auf die hier betriebene philosophische Unhöflichkeitsforschung hin modifizieren. Es handelt sich um den Terminus ‚Para-Rhetorik‘, den Hocke als Bezeichnung für die hochartifizielle, aber von den Normen der klassischen Rhetorik abweichende Formensprache des Manierismus eingeführt hat.11 Dabei konzentrierte sich Hockes formgeschichtliche terminologische Prägung ‚Para-Rhetorik‘ in erster Linie auf das werkimmanente Indecorum manieristischer Sprachkunstwerke. Dagegen rückt bei der hier behandelten Unhöflichkeitsproblematik das äußere soziale und gesellschaftliche Indecorum respektloser, philosophischer Rhetorik in den Mittelpunkt. Dieser erweiterten Fokussierung des Terminus ‚Para-Rhetorik‘ trägt in den folgenden unhöflichkeitstheoretischen Überlegungen die modifizierte Schreibweise ‚Pararhetorik‘ Rechnung. Von daher kann gesagt werden, dass die hier thematisierte unhöfliche Rhetorik der Philosophie gerade nicht in das vom Decorum beherrschte Reich des klassischen Rhetorikmodells gehört, sondern vielmehr in das jenseitige Gebiet einer mit dem Indecorum spielenden Pararhetorik. Zudem artikuliert die respektlose Rede der Philosophie keineswegs einen naiven Barbarismus, sondern probiert sich in einem artifiziellen Spiel mit den strategischen Möglichkeiten der gegen das soziale Decorum verstoßenden Rede. Die Entdeckung dieses rhetorischen Kunstcharakters hat auch innerhalb der gegenwärtigen Höflichkeitsforschung zu einer „Neubewertung der Unhöflichkeit“12 geführt. Die Kunst unhöflicher Rhetorik beruht demnach nicht auf mangelnder Kompetenz und dem bloßen Unvermögen, die Regeln des Decorum angemessen zu realisieren, sondern auf einem strategisch inszenierten Regelbruch und wohlkalkulierten Durchkreuzen von Erwartungshaltungen. Unhöflichkeit wird daher nicht mehr nur als bloßes
|| 10 Anita Traninger, Para-Rhetorik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), 563. 11 Vgl. Gustav René Hocke, Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst, Hamburg 1959, 123–303. 12 Brita Rang/Johannes Süßmann, Einleitung, in: Gisela Engel/Brita Rang/Susanne Scholz/ Johannes Süßmann (Hg.), Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2009, 159–172, hier: 165.
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defizitäres Zerrbild, sondern vielmehr als ein eigenständiges, alternatives „Spiegelbild von Höflichkeit“13 beurteilt. So gesehen sprechen die vielfältigen Beispiele respektloser Pararhetorik, die sich in der philosophischen Literatur finden, gerade nicht für die oft unterstellte Inkompetenz des Homo philosophicus auf dem Felde der Höflichkeit und der guten Sitten. Sie lassen sich vielmehr als Zeugnisse für seine besondere Kompetenz in der Kunst unhöflicher Rede lesen. Diese gebietet geradezu den wegen ihrer Unhöflichkeit berühmten Philosophen, die gewöhnlichen und versöhnlichen Bahnen der Höflichkeit zu verlassen, um den rhetorischen Aktionsraum ihrer philosophischen Rede durch ein innovatives und provokatives Sprachspiel zu bereichern, das durch die Generalregel des sozialen Indecorum bestimmt wird. Dabei geht es der unhöflichen Pararhetorik der Philosophie nicht wie im Manierismus in erster Linie um die Demonstration eines formalistischen L’art pour l’art, in der sich vornehmlich der Einfallsreichtum und Scharfsinn seines Autors widerspiegelt. Vielmehr entspringt die unhöfliche Pararhetorik der Philosophie dem ihr eigenen und oftmals paradoxalen Wahrheitsanspruch, den sie – um es mit den Worten Castigliones auszudrücken – nicht durch ‚Hofmannskunst‘ versucht, ‚genießbar‘ zu machen, sondern in ‚nackter‘ und damit konfrontativer Form zu vertreten. Wie schon Michel Foucault in seinen späten Vorlesungen zur parrhesiastischen Redepraxis antiker Philosophen betont hat, tendiert die philosophische Veridiktion dazu, sich selbst von den Fesseln der Rücksichtnahme auf die herrschenden Meinungen, Mächte und Rollenerwartungen loszusprechen. Diese sich selbst vom gesellschaftlichen Decorum lossagende, freimütige Redeweise bilde ein eigenes, von der Schulrhetorik nicht vorgesehenes Sprachspiel „der philosophischen parrhesia, ein Spiel des philosophischen Wahrsprechens“14. Damit ist es die unbeschränkte und rücksichtlose Redefreiheit in Sachen Wahrheit, das heißt: die philosophische Parrhesia, aus der sich die bereits angesprochene Affinität der philosophischen Pararhetorik zur Unhöflichkeit erklären lässt. Anders gesprochen besitzt die parrhesiastische Pararhetorik philosophischer Veridiktion gerade deshalb eine besondere Nähe zum Indecorum, weil sie sich dem Verum mehr verpflichtet sieht als dem gesellschaftlichen Decorum.
|| 13 Matthias Köhler, Höflichkeit, Strategie und Kommunikation. Friedensverhandlungen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Gisela Engel/Brita Rang/Susanne Scholz/Johannes Süßmann (Hg.), Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2009, 379–401, hier: 390. 14 Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen, übers. v. Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2009, 362.
Die Pararhetorik der unhöflichen Philosophen | 183
Nun hat bereits Quintilian bemerkt, dass die Parrhesia eigentlich keine rhetorische Figur im schulmäßigen Sinne mehr darstellt.15 Wie das Oxymoron einer ‚nicht-rhetorischen Rhetorik‘ zeigt, gerät heute auch Foucault angesichts der pararhetorischen Redefreiheit, welche das schulrhetorische Reglement sprengt, in eine nicht geringe terminologische Verlegenheit: „Das, worum es im Grund in dieser parrhesia geht, ist eine Art Rhetorik, nämlich eine nicht-rhetorische Rhetorik, welche die der philosophischen Rede zu sein hat.“16 Die pararhetorische Parrhesia unterscheidet sich ferner durch ihre infinite Lizenz zu potenziell unhöflichem, weil purem und deshalb rücksichtlosem Wahrsprechen von der schulrhetorischen Figur der Licentia. Diese verstößt nämlich lediglich auf moderate oder gar nur simulative Weise gegen das herrschende Decorum, um ihren eigenen Redeerfolg beim Publikum nicht ernsthaft zu gefährden. Daher enthält die schulrhetorische Licentia, wie Heinrich Lausberg bemerkt, oftmals eine „latente Schmeichelei“17, wenn z. B. der Redner durch die Mitteilung einer unangenehmen Wahrheit hofft, „erst recht an Sympathie zu gewinnen, was er in für das Publikum schmeichelhafter Weise durchblicken lässt“18. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Redner die Licentia simulativ so realisiert, „dass die vorgebrachte (angebliche) Wahrheit der Anschauung des Publikums ganz entspricht und das Publikum so gerade durch die Form der licentia in seiner Selbstzufriedenheit bestärkt wird“19. Dagegen nimmt der philosophische Parrhesiast die infinite Lizenz zu einer puren Veridiktion in Anspruch, welche ohne Rücksicht auf das Decorum und den Redeerfolg wagt, eine dem Publikum missliebige, paradoxale Wahrheit auszusprechen und so oftmals den Eindruck provokativer Unhöflichkeit hervorruft. Dass diejenigen, welche den Mut aufbringen, sich auf dieses gewagte, provokante Spiel mit dem missliebigen Indecorum einzulasssen, auch persönlich in nicht geringe Schwierigkeiten geraten können, liegt auf der Hand. Das philosophiegeschichtlich wohl berühmteste Beispiel für das im Extremfall tödliche Risiko, das die parrhesiastische Unhöflichkeit mit sich führen kann, finden wir in Platons Apologie des Sokrates.
|| 15 Vgl. Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übers. v. Helmut Rahn, Zweiter Teil, Darmstadt 31995, IX 2, 27. 16 Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2004, 447. 17 Michael P. Schmude, Licentia, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001), 257. 18 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaften, Stuttgart 31990, 377. 19 Lausberg, Handbuch (Anm. 18), 377.
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3 Die tödliche Unhöflichkeit des Sokrates Platons Apologie stellt zweifellos ein Meisterstück philosophischer Literatur dar, das bis heute das strahlende Bild des Sokrates als des vorbildlichen Märtyrers der Philosophie geprägt hat, der sein Leben um der reinen Wahrheit willen aufs Spiel setzte und verlor. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass derjenige Sokrates, so wie er in der Apologie als todesverachtender Parrhesiast entgegentritt, in erster Linie keine historische Gestalt, sondern eine literarische Figur des philosophischen Erfolgsautors Platon darstellt. Der historische Platon hat sich im Gegensatz zum literarischen Sokrates nicht gerade als risikobereiter Parrhesiast, sondern eher als ein geschmeidiger philosophischer Höfling erwiesen. Dies lässt sich Platons eigenem autobiographischen 7. Brief über seine Mission am Hofe Dionysios II., des Tyrannen von Syrakus, entnehmen, welchen Castiglione später überaus höflich als ‚König‘ tituliert. Platon berichtet hier selbst, wie sein ehrgeiziger politischer Meisterplan schmählich scheitert, den Tyrannen von Syrakus zu einem Bündnis von Philosophie und politischer Macht zu überreden, welches in seinen Augen ein „Licht unter allen Menschen, Griechen und Fremden, verbreitet“20 hätte.21 Selbst nach der gescheiterten Überredung des Tyrannen wahrt Platon das höfische Decorum, obwohl er von Dionysios II. insgeheim bedroht, erpresst und an der Abreise gehindert wird. „Danach jedoch lebten Dionysios und ich so, daß ich nach draußen schaute wie ein Vogel, der von irgendwo wegfliegen möchte, er aber nach Mitteln suchte, wie er mich zum Schweigen brächte. […] Dennoch gaben wir uns ganz Sizilien gegenüber als gute Freunde.“22
Anstelle der gegenüber den Mächtigen respektlosen, philosophischen Parrhesia, die hier zu einem lebensgefährlichen, öffentlichen Bruch mit dem Tyrannen geführt hätte, zieht Platon eine höfliche Risikovermeidungsstrategie vor, welche den drohenden politischen Skandal vermeidet. In einer Mischung aus Hypokrisis und strategischer Ironie simuliert der angepasste Hofmann Platon in der Öffentlichkeit Freundschaft mit dem Tyrannen und dissimuliert damit zugleich die insgeheim bestehende tödliche Feindschaft zu ihm.
|| 20 Platon, Werke in acht Bänden, griechisch und deutsch, Bd. V, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 21990, 335c–f. 21 Zu Platons gescheiterter Überredung des Tyrannen Dionysios II. vgl. meine kleine Studie in: Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs, Darmstadt 1994, 75–87. 22 Platon, Werke (Anm. 20), Bd. VIII, 347e–348a.
Die tödliche Unhöflichkeit des Sokrates | 185
Vielleicht gerade weil Platon derart schmählich in der politischen Realität scheitert und das potenziell tödliche Risiko der philosophischen Parrhesia angesichts des Tyrannen meidet, lebt er seine rebellische und unangepasste Seite literarisch in der Idealgestalt des Sokrates aus. Die literarische Figur des rebellischen Pararhetorikers Sokrates ließe sich so als das kompensatorische Wunschbild seines angepassten Autors deuten. In der Figur des Sokrates gewönne demnach das wilde philosophische Alter Ego des gescheiterten Hofmanns Platon Gestalt. Wie dem auch sei, in seiner Apologie lässt uns Platon jedenfalls seinen Sokrates als unübertroffenes Idealbild des reinen Parrhesiasten und philosophischen Märtyrers vor Augen treten. So präsentiert uns Platons Apologie seinen Protagonisten Sokrates, welcher der Gottlosigkeit und der Jugendverführung angeklagt ist, in der Rolle des kompromisslosen philosophischen Parrhesiasten, der demonstrativ von sich selbst sagt, dass er ausschließlich „die Wahrheit redet“23. Dabei lässt sich die rhetorische Selbstinszenierung des platonischen Sokrates in der Apologie als eine provokative Pararhetorik charakterisieren, die alle gängigen Konventionen der Gerichtsrede konterkariert. Sokrates denkt nämlich in keinem Augenblick daran, sich dem üblichen rhetorischen Reglement einer Verteidigungsrede, die den Richter für den Angeklagten einnehmen will, zu unterwerfen. Dagegen erfindet er für seine Apologie eine mit dem herrschenden Decorum brechende und sein Publikum geradezu vor den Kopf stoßende, pararhetorische Redeweise reiner Veridiktion, die sich die Freiheit nimmt, ohne Rücksicht auf das drohende Todesurteil die nackte Wahrheit zu sagen. Sokrates beginnt sein riskantes rhetorisches Endspiel, indem er z. B. die üblichen rhetorischen Maßnahmen zur Vermeidung von Langeweile (taedium) und zur Gewinnung des Wohlwollens (benevolentia) der Richter ausschließt. So erklärt Sokrates kompromisslos seinen Richtern. „Ich werde euch freilich unangenehme und langweilige Geschichten erzählen, aber doch wahre.“24 Statt durch demonstrative Bescheidenheit, Bitten und Flehen die Milde seiner Richter zu wecken, reizt er ihren Zorn durch die weiterhin offensiv zur Schau getragene unbelehrbare Arroganz seines exklusiven Wahrheitsanspruchs. Anstelle sich reumütig zu zeigen und Besserung zu versprechen, zeigt er ein äußerst ungehöriges und hybrid erscheinendes Redeverhalten, das die Anklage der Gotteslästerung in den Augen vieler Richter bestätigen muss. So erklärt der provokative Pararhetoriker Sokrates sein unter der schwerwiegenden Anklage der staatsgefährdenden Jugendverführung stehendes Philosophieren unter fragwürdiger Berufung auf das
|| 23 Platon, Werke (Anm. 20), Bd. II, 17b. 24 Platon, Werke (Anm. 20), Bd. II, 32a.
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delphische Orakel selbstmächtig zu einer Art apollinischem Gottesdienst. Im gleichen Zuge bestreitet er dabei die Legitimation seines athenischen Richtergremiums: „Ich bin euch, Ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen.“25 Als schließlich der respektlose Pararhetoriker seine Richter vor Empörung zum Toben gebracht hat, setzt er weiterhin unbeirrt seine Provokationsstrategie fort: „Kein Getümmel, ihr Athener. […] Denn ich bin im Begriff, euch noch manches andere zu sagen, worüber ihr vielleicht schreien möchtet.“26 Die Klimax dieser provokativen Respektlosigkeit erreicht der bereits für schuldig befundene und dennoch weiterhin unbelehrbare Angeklagte dadurch, dass er sich erdreistet vorzuschlagen, statt mit einer Geldbuße bestraft, im Gegenteil mit den höchsten staatlichen Ehren belohnt und wie ein Olympiasieger im Prytaneion gespeist zu werden. „Soll ich mir also, was ich mit Recht verdiene, zuerkennen, so erkenne ich mir dieses zu, Speisung. im Prytaneion.“27 Angesichts dieser dreisten und äußerst unverschämten Provokation lässt Sokrates am Ende selbst seinen mit ihm anfänglich noch sympathisierenden Richtern kaum eine andere Möglichkeit, als ihn zum Tode zu verurteilen. So drängt sich am Ende der Eindruck auf, dass die platonische Figur des Sokrates in der Apologie nicht so sehr eine Opferrolle spielt, sondern im Gegenteil einen rhetorischen Täter darstellt, der durch seine virtuose Kunst der Unhöflichkeit sein eigenes Todesurteil erfolgreich provoziert. Die Apologie des Sokrates stellt die pararhetorisch pervertierte Form einer regulären Verteidigungsrede dar. Sie verkehrt den persuasiven Sinn einer üblichen Verteidigungsrede in ihr Gegenteil: Statt ein mildes Urteil bei seinen Richtern anzustreben, bewirkt er durch seine hohe Kunst der Provokation erfolgreich das Gegenteil. Absichtlich und gekonnt gelingt es Sokrates, seine Richter über alle Maßen zu provozieren und zum Zorn zu reizen und so gezielt das eigene Todesurteil herbeizuführen. Allein die hier nur einige wenige Punkte berührende pararhetorische Lektüre der Apologie lässt die Interpretationshypothese einer umgekehrten Opfer-TäterRollenverteilung entstehen. Wider den ersten Anschein käme demnach die Opferrolle nicht dem zum Tode verurteilen Philosophen, sondern seinen Richtern zu. Sie sind die persuasiven Opfer des ingeniösen Pararhetorikers Sokrates, der als souveränes rhetorisches Subjekt durch seine Strategie gezielter Provokation die Szene seines Prozesses jederzeit beherrscht und sein eigenes für die Athener
|| 25 Platon, Werke (Anm. 20), Bd. II, 29d. 26 Platon, Werke (Anm. 20), Bd. II, 30b. 27 Platon, Werke (Anm. 20), Bd. II, 36e–f.
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beschämendes Todesurteil selbst herbeiführt. So hätten die Athener wirklich recht damit gehabt, Sokrates als jemanden zu fürchten, der „gar gewaltig wäre im Reden“28. Jedenfalls wirft diese pararhetorische Lesart der Apologie einen Schatten auf das traditionell strahlende Bild des Sokrates als philosophischer Märtyrer. Die selbst heute noch gerne vorgetragene heroisierende Sichtweise, dass in der sokratischen Apologie „die philosophische parrhesia sich zu einem Konflikt auf Leben und Tod“29 zuspitzt, ist zumindest ergänzungsbedürftig. Denn mit den Erfordernissen der bloßen philosophischen Parrhesia kann die Provokation, welche von der pararhetorischen Persuasionsstrategie des Sokrates ausgeht, allein nicht mehr erklärt werden. Sokrates’ pararhetorisches Spiel mit dem Indecorum verfolgt hier mehr als die bloße Artikulation philosophischer Redefreiheit. So gesehen bildet die unhöfliche Pararhetorik der Apologie gleichsam eine tödliche Waffe, die der Redner Sokrates gegen sich selbst richtet, um sich auf indirekte und rhetorisch elegante Weise seines eigenen Lebens zu entledigen. Gegen Ende der Apologie lässt Platon seinen Sokrates selbst sagen, „daß sterben und aller Mühen entledigt werden schon das Beste für mich war“30. Wirkungsgeschichtlich betrachtet stimmt dies auf jeden Fall. Anscheinend gewährt auch hier nur der tragische Untergang höchsten Ruhm. Sokrates ist sicherlich nicht das einzige welthistorische Beispiel dafür, dass der Weg zu unsterblichem Nachruhm über den eigenen, gewaltsamen, physischen Untergang führt. Insgesamt gesehen stellt sich so Platons Apologie als ein von dem Doppelspiel der sokratischen Ironie imprägniertes, exzellentes Meisterstück unhöflicher Pararhetorik heraus. So gibt sich dieser unter dem Titel Apologie des Sokrates geläufige Platon-Text aus der Perspektive der hier verfolgten rhetorisch-kritischen Lesart als eine Art ironiehaltige ‚Pseudo-Apologie‘ zu erkennen. Unter dem Vorwand, eine Verteidigungsrede zu halten, betreibt Sokrates, gedeckt durch die Maske des nur der Wahrheit verpflichteten Philosophen, erfolgreich das Gegenteil und verführt durch die persuasive Meisterschaft seiner provokativen Pararhetorik seine Richter zu einem für sie schmählichen Todesurteil. Mit dieser negativen, das eigene Todesurteil mutig provozierenden strategischen Ironie des unhöflichen Sokrates arbeitet der Autor Platon zudem literarisch das heroische Gegenbild zu seiner eigenen, positiven strategischen Ironie der Höflichkeit heraus. Diese rettet ihm am Hofe des Tyrannen von Syrakus – freilich auf eine für ihn selbst wenig schmeichelhafte Weise – das Leben.
|| 28 Platon, Werke (Anm. 20), Bd. II, 17a–f. 29 Foucault, Regierung des Selbst (Anm. 14), 390. 30 Platon, Werke (Anm. 20), Bd. II, 41d.
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Aber es soll auch hier gelten: De mortuis nil nisi bene. Deshalb erscheint mir die vielleicht naheliegende, aber allzu despektierliche Interpretation nicht angebracht, die dem Sokrates der Apologie unterstellt, dass er ausschließlich von dem kalten Kalkül bewegt wird, durch seinen pararhetorisch provozierten Märtyrertod sich einen unsterblichen Nachruhm zu sichern. Tatsächlich lässt sich neben der bloßen parrhesiastischen Wahrheitsverpflichtung durchaus noch ein anderes genuin philosophisches Motiv finden, von dem her sich die Intensität der tödlichen Pararhetorik des Sokrates in der Apologie besser erschließt. Gemeint ist die philosophische ars moriendi, d. h. die Kunst, sich auf den eigenen Tod zu verstehen. Die Apologie ließe sich zudem von diesem für die antike Philosophie insgesamt zweifellos bedeutsamen Topos der Meisterung des eigenen Todes als Vorspiel des Phaidon deuten. Denn schon hier, in der Apologie, beweist der platonische Sokrates, dass er trefflich zu sterben versteht, indem er vermittels seiner provokativen Pararhetorik den rechten Augenblick und die rühmliche Art und Weise seines eigenen Todes selbst bestimmt. Jedenfalls zeigt uns Platon in der Apologie, wie es der stimmgewaltige Pararhetoriker Sokrates auf virtuose Weise versteht, den sich ihm bietenden Kairos zu einem rühmlichen und im wortwörtlichen Sinne ‚selbst-bestimmten‘ Tod konsequent zu ergreifen. Die Faszination, welche bis heute von der platonischen Sokratesgestalt ausgeht, mag auch darin fußen, dass ihr philosophischer Heroismus beispielhaft dem gängigen Topos des ewig jugendlichen Helden widerspricht. Anders als z. B. der jugendliche Heros Achill, der seinen Ruhm mit einem frühzeitigen Untergang bezahlen muss, erhält Sokrates in der Apologie die seltene Chance, einen ruhmreichen Tod in bereits weit fortgeschrittenem Alter sterben zu können. Sokrates steht damit auch beispielhaft für den neuen Typus des älteren Helden, den sein hohes Alter nicht daran hindert, ein pararhetorisch unangepasstes Leben zu führen und durch einen selbstgewählten, heroischen Tod unsterblichen Ruhm zu gewinnen. Dass allerdings eine radikal forcierte, unhöfliche Pararhetorik auch ohne den tragischen Preis des gewaltsamen Todes zu beträchtlicher philosophischer Berühmtheit führen kann, lässt sich im Folgenden an der Gestalt des Kynikers Diogenes ablesen.
4 Die erfolgreiche Unhöflichkeit des Diogenes In der antiken Gestalt des Kynikers Diogenes von Sinope scheint der unhöfliche Stil philosophischer Pararhetorik seinen bis heute unüberbotenen Gipfel erreicht zu haben. So wie Diogenes uns in zahlreichen antiken Anekdoten, vor allem aus Diogenes Laertius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen entgegentritt,
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kann von ihm tatsächlich gesagt werden: „Sein Lebenswandel war in allen Einzelheiten eine Provokation.“31 Auch lässt sich mit Heinrich Niehues-Pröbsting Diogenes als „eine literarische Konkurrenzfigur, die die Gestalt des Sokrates überbietet und ihre Idealisierung durch Platon parodiert“32, charakterisieren. Tatsächlich kann beim platonischen Sokrates von einem gemäßigten und latent subversiven Stil philosophischer Pararhetorik gesprochen werden, der sich noch in den Grenzen ironischer Indirektheit hält. Dagegen kennt die mit sarkastischer Direktheit vorgetragene, grob unhöfliche Selbstinszenierung des „rasenden Sokrates“33 Diogenes anscheinend keine Grenzen mehr. In Diogenes scheint sich die von der Höflichkeit Platons entfesselte philosophische Unhöflichkeit des Sokrates ungehemmt Bahn zu brechen. In den Anekdoten des Kynikers tritt uns jedenfalls ein komödiantisches Satyrspiel der Totalverspottung entgegen, das sich die geradezu unverschämte Freiheit herausnimmt, jegliches durch Nomos und bürgerliche Sitte vorgeschriebene Decorum zu konterkarieren. Diesem „Diskurs der Beleidigung, der Anprangerung“34 liegt bei Diogenes wiederum der Gedanke einer anti-nomischen und anarchisch sich gebärdenden Redefreiheit zugrunde, die keine Konfrontation mit den herrschenden Mächten und Meinungen scheut. Wie zentral diese infinit gewordene philosophische Parrhesia für das rebellische, kynische Ethos des Diogenes ist, belegt die folgende kleine Anekdote: „Gefragt, was unter Menschen das Schönste sei, antwortete er: ‚Das freie Wort.‘“35 Der Mut zur rücksichtslos alle Grenzen der Höflichkeit sprengenden Redefreiheit, in der sich eine dem Heros Herakles verwandte geradezu göttliche Selbststärke philosophischer Subjektivität artikuliert, wird hier von Diogenes sogar zur höchsten Tugend des Menschseins im Allgemeinen erhoben. Vor dem Hintergrund dieser höchst anspruchsvollen, anthropologischen Bestimmung des Menschen zur grenzenlosen Parrhesia wird die von Diogenes oft zur Schau getragene kynische Misanthropie verstehbar. Gemessen an diesem hohen Maßstab muss es so scheinen, dass die meisten Menschen, welche sich kleinmütig in den von moralischen und politischen Rücksichtnahmen restringierten Diskursordnungen verfangen, ein gänzlich verfehltes Leben führen. Dies erklärt auch die radikale Zivilisationskritik, mit der sich Diogenes auf den Marktplätzen || 31 Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, hg. v. Konrad Ziegler und Walther Sontheimer, Bd. II, München 1979, 47. 32 Heinrich Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform, Frankfurt a. M. 2004, 70. 33 Zur Bezeichnung Sokrates mainomenos vgl. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie (Anm. 32), 70. 34 Foucault, Regierung des Selbst (Anm. 14), 361. 35 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen (Anm. 2), Bd. VI, 69.
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vergeblich nach einem Menschen umschaut. Er zündete bei Tage ein Licht an und sagte: „Ich suche einen Menschen.“36 Wie die folgende sarkastische Variante dieser Anekdote zeigt, scheut Diogenes dabei selbst vor inartifiziellen Argumenten wie dem Schlagstock nicht zurück, um die Menschen pararhetorisch zu schockieren und auf diese drastische Weise zur Besinnung zu rufen. Einst rief er laut: „Heda Menschen.“ Und als sie herzu liefen, bearbeitete er sie mit seinem Stocke mit den Worten: „Menschen habe ich gerufen, nicht Unflat.“37 Um ferner seine absolute Unabhängigkeit von allen politischen Mächten zu beweisen, schreckt der kynische Pararhetoriker auch nicht vor dem verbalen Schlagabtausch mit den größten Potentaten seiner Zeit zurück. Dabei sind es vornehmlich die krassen kynischen Despektierlichkeiten des Diogenes gegen den in Athen verhassten Großkönig Alexander, welcher die Phantasie der Anekdotenerzähler besonders inspirierte. So berichtet die vermutlich bekannteste Anekdote über Diogenes: „Als er im Kraneion sich sonnte, trat Alexander an ihn heran und sagte: ‚Fordere, was du wünschest‘, worauf er antwortete: ‚Geh mir aus der Sonne.‘“38 Diese krasse Unhöflichkeit des Kynikers gegenüber dem Großkönig stellt in ihrer kompromisslosen Konfrontationsbereitschaft zweifellos auch eine „antiplatonische Replik“39 dar, die im schneidenden Gegensatz zu Platons höflichem Lavieren am Hofe Dionysios II. steht und damit die Souveränität der Philosophen gegenüber den Mächtigen dieser Welt trefflich demonstriert. Platons versöhnlicher Utopie einer Verbindung von Philosophie und Macht erteilt hier Diogenes jedenfalls eine schneidende Absage. Umso erstaunlicher mag es auf den ersten Blick erscheinen, dass sich Diogenes’ kynische Konfrontationsstrategie durchaus als Erfolgsstrategie erweist. Denn im Gegensatz zur Höflichkeit Platons, welche in der politischen Realität schmählich scheitert, zahlt sich die kompromisslose Unhöflichkeit des Diogenes offensichtlich sogar noch aus. Während Platons höflich angepasstes Lavieren ihn weiterhin zum Gefangenen am Hofe des Dionysios macht, vermag sich der unhöfliche Diogenes gerade durch seine rigide Respektlosigkeit aus der Kriegsgefangenschaft zu befreien. So wird berichtet, dass Diogenes nach der Schlacht von Chaironeia gefangen vor den König Philipp geführt worden sei. Da „habe er auf die Frage, wer er sei, geantwortet: ‚Ein Erkunder deiner Unersättlichkeit.‘ Das habe solche Bewunderung erweckt, daß er freigelassen ward.“40
|| 36 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen (Anm. 2), Bd. VI, 41. 37 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen (Anm. 2), Bd. VI, 32. 38 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen (Anm. 2), Bd. VI, 38. 39 Foucault, Regierung des Selbst (Anm. 14), 361. 40 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen (Anm. 2), Bd. VI, 43.
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Gerade der Wagemut, mit dem der Parrhesiast Diogenes hier die Unhöflichkeit auf die Spitze zutreibt, sichert ihm offensichtlich nicht nur den Respekt des Monarchen, sondern, wie die folgende Anekdote zeigt, auch die Bewunderung der Polis-Bürger. So schreckt der kynische Pädagoge keineswegs davor zurück, seine Lehre von der zu erstrebenden Bedürfnislosigkeit des Menschen auf dem Marktplatz auf obszöne und schockierende Weise vor aller Augen zu inszenieren. „Als er einst auf dem Markte Onanie betrieb, sagte er: ‚Könnte man doch den Bauch ebenso reiben, um den Hunger los zu werden.‘“41 Des Kynikers spektakuläre Meisterschaft in dem durch skandalöse Obszönität potenzierten provokativen Spiel mit dem Indecorum beweist auch die folgende Anekdote: „Bei einer Mahlzeit warf man ihm Knochen hin, doch er bepißte sie beim Weggehen wie ein Hund.“42 Erstaunlicherweise erregen auch diese obszönen, schockierenden und skandalösen kynischen Selbstinszenierungen des Diogenes nicht den Zorn vieler Athener, sondern steigern im Gegenteil noch seine Popularität, wie die folgende Anekdote verdeutlicht: „Er war auch bei den Athenern beliebt. Als ein junger Mensch sein Faß zertrümmert hatte, ließen sie diesem eine Tracht Prügel verabfolgen, ihn selbst aber beschenkten sie mit einem anderen Faß.“43 Anders als dem moderaten Pararhetoriker Sokrates begegnen viele Athener dem sich ausgesprochen unverschämt gebärdenden Diogenes nicht mit erbittertem Zorn, sondern im Gegenteil mit offener Sympathie. Diese kuriose Popularität des Diogenes mag auch etwas damit zu tun haben, dass seit den Tagen des Sokrates die Figur des unhöflichen Philosophen selbst eine weitgehend akzeptierte Rolle geworden war, die nicht mehr als eine ernsthafte Gefährdung der öffentlichen Sitte und Ordnung empfunden wurde. Zudem besaß gerade die Person des Diogenes mit seinen spektakulären Auftritten einen nicht unbeträchtlichen komödiantischen Unterhaltungswert, der den Beifall vieler Athener fand. Gegenüber dem moderaten Pararhetoriker Sokrates, den die Tragik des Todesurteils umgibt, erweist sich die komödiantische und geradezu karnevalesk wirkende drastische Unhöflichkeit des Diogenes zwar als die kurzfristig erfolgreichere Überlebensstrategie, aber auf das Ganze der Wirkungsgeschichte geschaut, gewährt doch auch hier die tragische Rolle des philosophischen Märtyrers bis heute den größeren Nachruhm.
|| 41 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen (Anm. 2), Bd. VI, 46. 42 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen (Anm. 2), Bd. VI, 46. 43 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen (Anm. 2), Bd. VI, 43.
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5 Schopenhauer polemisiert gegen die Universitätsphilosophie Gegenüber den großen antiken Pararhetorikern wie Sokrates und Diogenes, welche sich entweder auf tragische oder komödiantische Weise als Meister in der hohen Kunst der philosophischen Unhöflichkeit beweisen, erscheint es zunächst schwierig, moderne, vergleichbare Beispiele zu finden. Dass es sie dennoch gibt, zeigt nicht zuletzt Arthur Schopenhauers geradezu legendär unhöflich zu nennende Polemik in seiner Schrift Über die Universitätsphilosophie, die kompromisslos allen staatlich besoldeten Universitätsprofessoren den Kampf ansagt. Schopenhauers erbitterte Polemik kritisiert hier die gesamte moderne Universitätsphilosophie als eine mehr oder weniger verdeckt „ad normam conventionis“44 im Regierungsauftrag agierende, angepasste Pseudophilosophie, die das antike Ideal der „Philosophie als freie Wahrheitsforschung“45 ins Gegenteil verkehrt. Dabei verschärft Schopenhauer Platons polemischen Topos von der betrügerischen sophistischen Lohndienerei bis zur pauschalen Beleidigung seiner gesamten zeitgenössischen Professorenschaft. Die gegenwärtige Gelehrtengeneration bestehe aus „am Geiste kastrierte[n] Männer[n]“46, aus von fremden Fäden bewegten „Kathederpuppe[n]“47 und „Parasiten der Philosophie“48. Insbesondere die Hauptvertreter des so genannten deutschen Idealismus seien lediglich „Sophisten, Scharlatane und Obskuranten“49, deren „absolute Unsinnsphilosophie“50 ihren unbestreitbaren Erfolg lediglich dem „verschmitzten Kniff, dunkel, d. h. unverständlich zu schreiben“51, verdanke. Schopenhauers besonderer Hass trifft dabei seinen Intimfeind Hegel, den er geradezu verteufelt. So sei es insbesondere „der plumpe und ekelhafte Scharlatan Hegel, dieser perniziose Mensch, der einer ganzen Generation die Köpfe völlig desorganisiert und verdorben“52 habe. Dabei steigert sich seine polemische Unhöflichkeit zur persönlich beleidigenden Karikatur, wenn er seinen überaus
|| 44 Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. IV, hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Stuttgart/Frankfurt a. M. 1963, 193. 45 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 173. 46 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 205. 47 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 183. 48 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 192. 49 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 215. 50 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 205. 51 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 200. 52 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 208.
Nietzsche zeigt: ‚Wie man mit dem Hammer philosophiert‘ | 193
erfolgreichen Konkurrenten Hegel als minderwertige „Fabrikware der Natur“53 bezeichnet, ausgestattet mit „dem matten Herzschlag, den trüben, spähenden Augen, den stark entwickelten Fresswerkzeugen, der stockenden Rede und dem schwerfälligen, schleppenden Gange, als welcher Takt hält mit der Krötenagilität seiner Gedanken“54. Allerdings erreicht diese zweifellos unverschämte Polemik Schopenhauers nicht mehr die Höhe der stilbildenden philosophischen Unhöflichkeit antiker Pararhetoriker. Der eindimensionale, bittere Ernst seiner schneidenden Invektiven fällt nämlich gegenüber der pararhetorischen Stilhöhe merklich ab, welche sowohl die mehrdeutige tragische Ironie eines Sokrates als auch den komödiantischen Spielwitz eines Diogenes auszeichnet. Da hilft es freilich nicht viel, dass sich Schopenhauer selbst als reinen Parrhesiasten inszeniert, der die Wahrheit sensu proprio predige, wie der „redliche Johannes aus der Wüste“55. Zu deutlich lässt Schopenhauer an anderer Stelle durchblicken, dass der bittere Ernst seiner Pararhetorik nicht seiner behaupteten reinen Geistesfreiheit entspringt, sondern vielmehr seiner Erbitterung über die „gänzliche Nichtbeachtung meiner Werke“56.
6 Nietzsche zeigt: ‚Wie man mit dem Hammer philosophiert‘ Dagegen findet sich in der Spätphilosophie Friedrich Nietzsches ein treffliches Beispiel moderner pararhetorischer Unhöflichkeit, das wieder an die antiken Vorbilder anzuknüpfen versteht. Gemeint ist seine kurz vor seinem tragischen geistigen Untergang 1888 verfasste Kampfschrift Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Dabei möchte ich hier der üblichen, vornehmlich biographisch motivierten Versuchung widerstehen, diese von Nietzsche zur Schau getragene und geradezu jedes Maß sprengende unhöfliche Pararhetorik nur als Ausdruck seiner vermeintlichen „pathologischen Struktur“57 oder des beginnenden Wahnsinns seines Autors zu interpretieren: Dagegen legen
|| 53 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 241. 54 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 241. 55 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 183. 56 Schopenhauer, Werke (Anm. 44), Bd. IV, 230. 57 So Giorgio Colli in seinem Nachwort zur Götzendämmerung (Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. VI, München/New York 1980, 449).
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die bisherigen Überlegungen zur unhöflichen Pararhetorik berühmter Philosophen eine andere Lesart nahe. Sie lässt uns Nietzsches Götzendämmerung als ein durchaus wohlkalkuliertes und hochartifizielles rhetorisches Meisterstück moderner philosophischer Pararhetorik entdecken und würdigen. Dass Nietzsches polemische Kulturkritik die platonisch-christlichen Werte der in seinen Augen nihilistischen Kultur Europas attackiert, indem er wieder an die Tradition der großen antiken Pararhetoriker anschließt, zeigt bereits eine prominente Passage aus seiner Fröhlichen Wissenschaft. Es handelt sich dabei um die moderne Variante der schon oben erwähnten Diogenes-Anekdote, die den ‚rasenden Sokrates‘ am hellen Tage mit einem angezündeten Licht vergeblich nach einem Menschen suchen lässt. Bei Nietzsche wird daraus der „tolle Mensch […], der am Hellen Vormittage eine Laterne anzündet, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘“58 Kurz danach fallen jene provokanten, sprichwörtlich gewordenen drei Worte, die Nietzsche im kollektiven Gedächtnis der Menschheit unsterblich gemacht haben: „Gott ist todt.“59 Schon hier zeigt sich Nietzsche als ein literarischer Diogenes redivivus, der mit dem großen antiken Kyniker wetteifert und ihn auf modernem, christlichabendländischem Boden zu übertreffen versucht. Von daher erschließt sich die Götzendämmerung als das große Finale des mit neu aufflammender, kynischer Grobschlächtigkeit – eben gleichsam ‚mit dem Hammer philosophierenden‘ – unhöflichen Pararhetorikers Nietzsche. Dieser führt nun das provokative Spiel mit dem Indecorum dadurch auf einen neuen redereflexiven Gipfel, indem er gleich zu Anfang der Götzendämmerung demonstrativ erklärt: „Diese kleine Schrift ist eine große Kriegserklärung […].“60 In kynischer Manier die Maske des auf vornehme Zurückhaltung und Mäßigung bedachten Weisen von Anfang an fallenlassend, fügt Nietzsche sogleich hinzu: „Jedes Mittel ist dazu recht.“61 Angesichts dieser Deklaration einer totalen literarischen Kriegserklärung gegen alle überkommenden Wertvorstellungen und Ideale der europäischen Kultur, verwundert es freilich nicht, dass Nietzsche auch die von der Philosophiegeschichtsschreibung privilegierten so genannten ‚großen Philosophen‘ allesamt zu décadents erklärt. Diese radikale neokynische Respektlosigkeit Nietzsches gegenüber seinen philosophiegeschichtlichen Konkurrenten entzündet sich bezeichnenderweise, wie Nietzsche rückblickend autobiographisch selbst erläutert, an den philosophiegeschichtlichen Heroen Platon und Sokrates.
|| 58 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. III, 480. 59 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. III, 480. 60 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. VI, 58. 61 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. VI, 57.
Nietzsche zeigt: ‚Wie man mit dem Hammer philosophiert‘ | 195
„Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch.“62
Um gerade dem philosophischen Märtyrer Sokrates den ersten Platz unter den „Weisesten aller Zeiten“63 streitig zu machen, attackiert der neokynische Pararhetoriker Nietzsche ihn in besonders persönlich verletzender, sarkastischer Manier. Sokrates sei von monströser Hässlichkeit gewesen, gleiche der typischen degenerierten Physiognomie des Verbrecher-Typus, sein religiös interpretiertes Daimonion beruhe lediglich auf „Gehörs-Hallucinationen“64, und seine vielgerühmte Ironie sei in Wahrheit nur der rachsüchtige Ausdruck bloßen „PöbelRessentiment[s]“65. Aber im Gegensatz zu Schopenhauer versucht der hier in der Götzendämmerung wahrlich ‚mit dem Hammer philosophierende‘ Autor, nicht dem bitteren Ernst seiner eigenen Polemik zu erliegen, sondern immer auch die souveräne Heiterkeit des kynischen Weisen durchblicken zu lassen. So präsentiert sich Nietzsche gleich zu Beginn des Vorwortes als ein durchaus besonnener, professioneller Autor, der sich des problematischen Kunstcharakters seines geradezu hyperbolisch unhöflichen Werkes durchaus bewusst ist: „Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von Kunststück: und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit?“66 Die Pararhetorik der Götzendämmerung scheint so zwischen dem polemischen Ernst und dem heiteren Spielwitz ihrer wohlkalkulierten Unhöflichkeit in der Mitte zu schweben. Dazu passt, dass sich der Autor nach dem durchaus ernst erscheinenden Versuch der Zertrümmerung aller christlich-abendländischen Werte schließlich in der heiteren satirischen Maske des Dionysos-Jüngers aus seinem Text verabschiedet. „Ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos.“67 Mit dieser satirischen Signatur unterschreibt der neokynische Autor Nietzsche seinen modernen Beitrag zur hohen Kunst der philosophischen Provokation. Am Ende verfestigt sich auch im Falle Nietzsche wiederum der Eindruck, dass gerade die berühmtesten Philosophen einen beträchtlichen Teil ihres Ruhmes nicht zuletzt ihrer unhöflichen Pararhetorik verdanken.
|| 62 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. VI, 67 f. 63 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. VI, 67. 64 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. VI, 69. 65 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. VI, 70. 66 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. VI, 57. 67 Nietzsche, Studienausgabe (Anm. 57), Bd. VI, 160.
Erfindung des Absoluten Die Entdeckung des rhetorischen Geistes in der Metaphysik Die interdisziplinäre Rhetorik-Renaissance der letzten Jahrzehnte hat schließlich auch zu „einer rhetorischen Wende in der Philosophie“1 geführt. Dabei scheint die antimetaphysische Grundtendenz der sprachreflexiven Philosophie des 20. Jahrhunderts im gegenwärtigen ‚rhetorical turn‘ einen neuen und vielleicht letzten Höhepunkt zu erreichen. Die Entdeckung der verborgenen Rhetorik in der Metaphysik führt heute in der Regel zur analytischen „Entlarvung“ oder „Dekonstruktion“ der überlieferten Metaphysik und zum Wiederaufleben sophistischer Mentalität. Die für das Abendland lange Zeit typische Dominanz metaphysischer Intellektualität über sophistische Rationalität hat sich heute anscheinend in ihr Gegenteil verkehrt. Jenseits von Metaphysik und Religion gewinnt die schwache Anthropologie der Sophistik wieder an Plausibilität, dergemäß der Mensch prinzipiell „außerhalb der Idealität, verlassen von der Evidenz“ existiert und der „consensus als Basis für den Begriff von dem, was ‚wirklich‘ ist“2 angesehen werden muss. Allerdings bleibt der systematische Fortschritt einer rhetorischen Aufklärung, die lediglich den vulgärplatonischen Oppositionstopos ‚Metaphysik contra Sophistik‘ unter umgekehrten Vorzeichen reproduziert, fragwürdig. Meine folgenden Überlegungen wollen dagegen den Gedanken erörtern, dass das rhetorische Denken mit der negativen Tendenz einer neosophistischen Widerlegung der bisher dominanten und mehr oder weniger rhetorikrepugnanten Metaphysik sein eigentliches Ziel noch nicht erreicht hat. Dabei verfolge ich positive Perspektiven einer durch die rhetorische Metakritik hindurchgegangenen, aufgeklärten Metaphysik, die vom dogmatischen Schlaf der Rhetorikvergessenheit erwacht, ihren eigenen rhetorischen Geist nicht länger verdrängt oder bekämpft, sondern seinen produktiven Charakter begreift und anerkennt.
|| 1 Rüdiger Bubner, Die aristotelische Lehre vom Zufall. Bemerkungen in der Perspektive einer Annäherung der Philosophie an die Rhetorik, in: Gerhard v. Graevenitz/Odo Marquard (Hg.), Kontingenz (Poetik und Hermeneutik 17), München 1998, 3–21, hier: 14. Eine Auswahlbibliographie zur rhetorikaffinen Philosophie der letzten zwei Jahrzehnte findet sich in: Heinrich F. Plett (Hg.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996, 233–235. 2 Hans Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: Ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1986, 104–136, hier: 107 f. https://doi.org/10.1515/9783110527667-013
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1 Metaphysik als ein genuin rhetorisches Projekt Damit ergibt sich ein neues, rhetorisches Denken, das von der prinzipiellen Vereinbarkeit von Metaphysik und Rhetorik ausgeht – im Gegensatz sowohl zur rhetorikrepugnanten Metaphysiktradition als auch der ihr opponierenden neuen Sophistik des 20. Jahrhunderts. Es sieht im Rhetorischen nicht nur ein akzidentielles Mittel der äußeren Selbstdarstellung der Metaphysik, sondern ein bisher übersehenes Moment ihres eigenen Wesens. Auf der Suche nach einem rhetorisch aufgeklärten Begriff der Metaphysik lässt sich nämlich ihr – in der Vergangenheit oft übersehenes – persuasives Wesensmoment bis in ihren Anfang hinein zurückverfolgen. Den rhetorischen Geist der Metaphysik kann man bei genauer Lektüre nämlich schon in ihrem geschichtlichen Anfang erkennen, im sogenannten Lehrgedicht des Parmenides. Erst durch die „kundige Überredung“ öffnet sich hier das Tor zur Wahrheit.3 Schon von Beginn an zeigt sich die Metaphysik als ein Projekt, das nicht nur, wie Heidegger noch meinte, allein der Aletheia, sondern gleichermaßen auch der Peitho verpflichtet ist. Das Lehrgedicht des Parmenides lässt die Peitho als ein zweites, später verdrängtes Leitmotiv der Metaphysik sichtbar werden. Es verdeutlicht, dass sie von Anfang an ein Unternehmen unterschiedlicher Konfigurationen von Peitho und Aletheia darstellt. In ihr verbindet sich das aletheische Ereignis der Entbergung des Absoluten mit dem peithischen seiner überzeugenden und glaubwürdigen Darstellung im Element philosophischer Rede. Die Metaphysik ist somit von Anfang an ein Unternehmen spekulativer Rede, das sich inmitten der rhetorischen Differenz von metaphysischer Wahrheit und lebensweltlicher Glaubwürdigkeit bewegt. Es ist diese Differenz und das Spannungsverhältnis ihres aletheischen und ihres peithischen Momentes, das die Metaphysik und ihre Rede vom Absoluten in Bewegung hält und die Fülle der uns überlieferten Texte hervortreibt. Die Verdrängung des ursprünglich peithischen Momentes der Metaphysik und die Dissimulation ihres persuasiven Charakters, die oft von der Simulation apodiktischer Wissenschaft begleitet wird, ist die objektive Ironie der Metaphysikgeschichte, durch die sie sich in einen ständigen performativen Selbstwiderspruch verwickelt, dessen heutige metakritische Aufdeckung ihre Glaubwürdigkeit endgültig aufzuzehren scheint.
|| 3 Eine ausführlichere Interpretation des Lehrgedichtes des Parmenides findet sich in Peter L. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs, Darmstadt 1994, 48–60.
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Eine Art geheimer Landkarte, die in allegorischer Verschlüsselung die Topographie der Metaphysik im Umriss enthält, verzeichnet das berühmte Höhlengleichnis Platons aus dem siebten Buch der Politeia. Sie verdeutlicht das Aktionsfeld spekulativer Rede, die aus der höhlenartigen Immanenz der gewöhnlichen Lebenswelt aufbricht, bis zum Höhepunkt der spekulativen Einsicht aufsteigt, dort versucht, das Absolute darzustellen, um dann wieder absteigend ihre spekulative Wahrheit öffentlich zu lehren. Dementsprechend lassen sich die aszendierenden Redeweisen des Aufstiegs, die demonstrativen Darstellungsweisen des Absoluten und die reszendierenden Redeweisen des Abstiegs unterscheiden.4 Alle drei Arten spekulativer Rede haben dabei eine bestimmte, außergewöhnliche und für die Metaphysik typische rhetorische Differenz zu überwinden. Die aszendierende und die reszendierende Rede haben vor allem mit der interpersonalen Differenz zu kämpfen, die im indecorum des gewöhnlichen und des spekulativen Bewusstseins aufbricht. Dagegen hat die demonstrative Rede vornehmlich mit dem sachlichen indecorum zwischen dem Absoluten als Sache des Denkens und seiner sprachlichen Darstellung zu kämpfen. Aus der interpersonalen Differenz ergibt sich das typische Mitteilungs- und aus der sachlichen das Darstellungsproblem spekulativer Rede, die beide die Lehrbarkeit und Akzeptanz der Metaphysik ständig gefährden. Zu den bisher vernachlässigten Kapiteln der Philosophiegeschichte, die den Bann der Rhetorikvergessenheit durchbrechen und das Problem der Lehrbarkeit der Metaphysik auf dem Boden neuzeitlicher (Inter-)Subjektivität ausdrücklich thematisieren, gehört die Spätphilosophie Fichtes.5 Insbesondere das Vortragsmanuskript der Berliner Wissenschaftslehre von 1804 erweist sich als ein in hohem Maße redereflexiver Text, der das rhetorische Vermittlungsproblem spekulativer Rede in der Moderne explizit thematisiert.6 Sein systematischer Wert
|| 4 Dass sich auch die Epochengliederung des Gesamtwerkes Platons nach der Grundbewegung von Aufstieg, Höhepunkt und Abstieg deuten lässt, kann man neuerdings nachlesen bei Barbara Zehnpfennig, Platon zur Einführung, Hamburg 1997, 14 f.; vgl. auch meinen Beitrag zur Topographie der Metaphysik in: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium (Rhetorik-Forschungen 13), Berlin 2000, 433–444. 5 Zur Spätphilosophie Fichtes allgemein: Wolfgang Janke, Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin/New York 1993; zur popularphilosophischen Konzeption: Hartmut Traub, Johann Gottlieb Fichtes Populärphilosophie 1804–1806, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992; zur Rhetorik: Peter L. Oesterreich, Das gelehrte Absolute. Metaphysik und Rhetorik bei Kant, Fichte und Schelling, Darmstadt 1997. 6 Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804, hg. v. Reinhard Lauth und Joachim Widmann, Hamburg 21986 (die Seitenangaben werden im Folgenden den Zitaten direkt nachgestellt).
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besteht vor allem darin, dass er die spezifische Präsenz des rhetorischen Geistes in der Fünffachheit seiner inventiven, dispositionalen, elokutionären, memorialen und aktionalen Potenzen innerhalb der transzendentalen Metaphysik sichtbar werden lässt.
2 Der rhetorische Geist spekulativer Rede Anhand der schon von Aristoteles angeführten drei Konstituenten der Rede – Redner, Hörer und Redegegenstand7 – lässt sich die Fichtesche Konzeption philosophischer Rhetorik durch drei Momente charakterisieren. Erstens stellt Fichte gegen das sophistische Phantasma eines omnipotenten philosophischen Redners nüchtern fest: der „Vortragende könne nur die Bedingungen der Einsicht angeben“ (4). Die Rede des philosophischen Lehrers vermag demnach die beim Hörer angezielte Einsicht nicht direkt zu bewirken oder zu erzwingen. Der vortragende Philosoph kann seine Hörer lediglich auffordern, bestimmte geistige Operationen, die zur Erzeugung der Einsicht führen, in eigener Person frei nachzuvollziehen. Zweitens bedarf es der aktiven Mitwirkung des Hörers, der die gesamte Aufmerksamkeit und Energie seines Denkens einsetzen muss, um die geforderten subjektiven Bedingungen der Einsicht in sich zu erzeugen. Die „Bedingungen müsse nun Jeder selbst in sich vollziehen, sein geistiges Leben in aller Energie daransetzen“ (4). Sind diese aber im Hörer erst einmal hergestellt, so ergibt sich – so Fichte – allerdings die gesuchte Einsicht mit absoluter Spontaneität: Sodann „werde die Einsicht ohne alles sein weiteres Zuthun sich schon von selbst ergeben“ (4). Der eigentliche Redegegenstand der spekulativen Rhetorik ist schließlich drittens das Absolute, das nicht als faktisch vorhandenes und bekanntes Objekt schon vor der Rede in der empirischen Welt existiert, sondern in und durch die Rede selbst allererst entdeckt werden muss. „Es sei hier gar nicht die Rede von einem schon anderwärts her bekannten Objekte, sondern von etwas ganz Neuem, Unerhörtem, jedem, der nicht die W(issenschafts].=L[ehre]. schon gründlich studirt hat, durchaus Unbekanntem“ (4). Insofern das Absolute als etwas ganz Neues erst in der Rede sichtbar wird und so für die Hörer überhaupt ein Dasein gewinnt, ist es ein Resultat reiner rhetorischer Genesis. Die Lehre vom Absoluten gehört somit gar nicht zum Typus einer referenziellen Rhetorik, die über einen bereits vorhandenen empirischen Gegenstand spricht, sondern bildet die reine Form einer genetischen Rhetorik, die ihren Re-
|| 7 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, 1356a (I 2).
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degegenstand nicht voraussetzt, sondern ihn im Prozess der Rede erzeugt und sieht. Die genetische Rhetorik der Metaphysik, so macht Fichte hier von Anfang an klar, kann und will nur durch die rein immanente Erzeugung der Evidenz des Absoluten überzeugen. Ihre absolute, durch keine äußere Referentialität bedingte rhetorische Vollzugsform, entspricht somit ihrem absoluten, unbedingten Inhalt. Diese Entsprechung verleiht ihr ein hohes Maß an retorsiver Konsistenz. Als Rhetorik des Absoluten ist sie selbst eine absolute Rhetorik, die, als Kunst des Philosophierens losgelöst von allen äußeren Vorgaben und inartifiziellen Argumenten, ihren Gegenstand rein aus sich selbst hervorzubringen versucht. In ihrer Redetätigkeit objektiviert sich somit das Schöpferische der ‚Tathandlung‘ oder – mehr in der Terminologie der Wissenschaftslehre von 1804 formuliert – als absolute Rhetorik bildet sie die ‚emanente‘ Manifestation der ‚Urgenesis‘ oder ‚absoluten Sichgenesis‘ reiner Vemunft.8 Allerdings bleibt auch die genetische Lehrrhetorik der transzendentalen Metaphysik an jene intersubjektiven Gelingensbedingungen gebunden, die im Allgemeinen die kommunikative Interaktion des Vortragenden mit seinen Hörern bestimmen. Das Gelingen der gemeinsamen rhetorischen Realisation des Absoluten setzt nämlich notwendig die Kooperation des philosophischen Redners mit der gespannten Aufmerksamkeit seines Publikums voraus, ohne die die angezielte objektive Einsicht nicht eintreten kann. Insgesamt umfasst die rhetorische Realisation die zwei entgegengesetzten Momente intersubjektiver Konstruktion und spontaner, objektiver Intuition: Die Rhetorikkonzeption der transzendentalen Metaphysik Fichtes verbindet so den Intuitionismus klassischer Metaphysik mit der konstruktivistischen Methodik der Neuzeit. Dieser konstruktiv vermittelte Intuitionismus überlässt die Evidenz des Absoluten nicht länger der subjektiven Beliebigkeit, sondern macht sie zum Ergebnis methodisch kontrollierter rhetorischer Genesis, die an ganz bestimmte subjektive Vorleistungen gebunden ist. Konkret gesprochen erzeugt sie die Evidenz für den Hörer „nur unter der Bedingung, daß er selbst, die Person, Etwas erzeuge, nämlich die Bedingung jenes Sicherzeugens der Einsicht“ (5). Ohne das energische Mitdenken, das die subjektive Bedingung des Sicherzeugens der objektiven Einsicht darstellt, kann der Sinn spekulativer Rede, die prinzipiell auf kein empirisches, äußeres Objekt referiert, für den Rezipienten nicht entstehen:
|| 8 Zur sachlichen Affinität von „Tathandlung“ und „Sichgenesis“ bzw. „Machen“ der Vernunft siehe den Kommentar von Jacobs zu Johann Gottlieb Fichte, Werke (Bibliothek deutscher Klassiker), bislang 2 Bde., Frankfurt a. M. 1997, I: Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. v. Wilhelm G. Jacobs, 887.
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Wer dieses nicht thue, der habe gar nicht das Objekt, wovon wir hier sprechen werden, und da unsere Rede nur von diesem Objekte gilt, er habe gar kein Objekt; ihm sei daher unser ganzes Sprechen das Sprechen von dem reinen leeren Nichts, also selber ein leerer Schall, Worthauch, bloße Lufterschütterung, und nichts weiter. (5)
Fichte antizipiert hier den gegen jede Form von Metaphysik gerne ins Feld geführten prinzipiellen Sinnlosigkeitsverdacht. Der bei vielen unleugbar auftretende Eindruck der Irrealität des von der Metaphysik behaupteten Absoluten könnte allerdings – so gibt er zu bedenken – vom Rezipienten selbst verschuldet sein. Zu den subjektiven Gelingensbedingungen spekulativer Rede gehört nämlich neben dem Redenkönnen des philosophischen Lehrers auch das Hörenkönnen seines Publikums, ohne das sich die Rede vom Absoluten in eine „Oration von Nichts“ (50) verwandelt. Im zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 gibt Fichte deshalb eine kurze, theoretische Einführung in das Hören- und Verstehenkönnen seiner genetischen Rhetorik. Er entwirft hier eine anspruchsvolle philosophische Hermeneutik, die dem Rezipienten ein hohes Maß an Eigenaktivität und persönlichem Engagement abverlangt. Die Grundvoraussetzung des hier geforderten verstehenden Hörens erfordert vor allem eine radikale Umstellung der Aufmerksamkeit. Die Hörer sollen sie von der äußeren, empirischen Welt abziehen, um sich in Freiheit jenem bisher nicht bewussten, inneren Gesichtspunkt zuwenden zu können, auf den die spekulative Rede verweist: „Sie sind bestimmt, Ihr geistiges Auge von den Objekten, auf denen es bis jetzt hin- und hergleitete, nach dem Punkte hin zu richten, den wir zu betrachten haben, ja sogar diesem Punkte erst seine Existenz zu geben“ (5). Die leitende Grundidee seiner Hermeneutik charakterisiert Fichte so: „Und, daß ich endlich bestimmt ausspreche, worauf alles Bisherige zielt: ohne diese eigene freie Reproduktion des Vortrages der W[issenschsfts].=L[ehre]. in der lebendigen Gründlichkeit, von der ich zuletzt gesprochen, wird man von diesen Vorlesungen durchaus keinen Nutzen haben“ (15). Das der genetischen Rhetorik angemessene Hören- und Verstehenkönnen bestimmt sich hier im Wesentlichen als freie Reproduktion ihrer spekulativen Rede. Damit verfolgt Fichte einen ähnlichen hermeneutischen Grundgedanken wie Schleiermacher, für den auch „jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens“9 ist. Die Hermeneutik versteht sich hier demnach als eine Art inverser Rhetorik, die gemäß der Fünf-
|| 9 Friedrich Schleiermacher, Werke, 4 Bde., Leipzig 21927 und 1928 (Nachdruck: hg. v. Otto Braun und Johannes Bauer, Aalen 1967), IV 138 f. Zur Vorgeschichte dieses hermeneutischen Inversionsmodells vgl. Klaus Petrus, Genese und Analyse. Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin/New York 1997, 77–123.
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fachheit ihrer klassischen Teilkünste, ausgehend von der Erfindung (inventio) des Gedankens, über seine begriffliche Ordnung (dispositio), seine sprachliche Gestaltung (elocutio), seine Erinnerung (memoria) bis zur Durch- und Aufführung (actio) voranschreitet. Dagegen geht das Verstehenkönnen diese Fünffachheit umgekehrt durch und schreitet vom öffentlich geäußerten Wort zum Quellpunkt seines Sinnes in der inventio zurück. Gemäß dem verum-factum-Prinzip hat der Hörer eine Rede nur dann verstanden, wenn er sie erneut hervorgebracht hat und so in gewisser Weise selbst zum Redner geworden ist.
2.1 Interaktive Vergegenwärtigung der Vernunft Als Reproduktion genetischer Rhetorik muss die ihr korrespondierende Hermeneutik auch genetisch gedacht werden. Dies beginnt mit der actio-Theorie, die bei Fichte neben dem klassisch-rhetorischen auch einen neuen hermeneutischen Aspekt hinzugewinnt. Schon die klassische Rhetorik hatte hervorgehoben, dass erst in der leibhaften Präsentation durch die Persönlichkeit und das éthos des Redners sich die volle Wirklichkeit, öffentliche Wirksamkeit und durchschlagende Überzeugungskraft der Rede erzeugt.10 Analog dazu weist Fichte eigens auf die Bedeutung der persönlichen Gegenwart des Philosophen für die überzeugende Realisierung seines Denkens hin, wenn er von der „reelle[n] physisch=geistige[n] Wirkung eines, in meiner Gegenwart vollzogenen, scharfen Denkens“ (16) spricht. Die persönliche Gegenwart des Philosophen verleiht in den Augen Fichtes der Aufforderung zum Denken einen besonderen Nachdruck. Das korrespondierende, hermeneutische Gegenstück dazu bildet eine Theorie des aktiven Hörens, in der sich, wie so oft in der Wissenschaftslehre, das energeia-Motiv bekundet. Fichte wünscht nämlich vor allem einen „mit Energie hörend[en]“ (16) Rezipienten seiner philosophischen Vorträge. Der Rednerpräsenz soll die volle Konpräsenz vonseiten des geistig aktiven Hörers entsprechen. Als Grundbedingung des Hören- und Verstehenkönnens seiner philosophischen Vorträge hebt Fichte im fünften Vortrag eigens die Notwendigkeit der „Ganze[n], volle[n] Aufmerksamkeit […], die sich selbst mit allem ihrem geistigen Vermögen in das vorliegende Objekt wirft“ (43) heraus: „Hieran nun, daß man diese Aufmerksamkeit besitze, ist für das Verständniß dieser Vorträge Alles gelegen; aus ihrem Mangel ganz allein entstehen alle die Phänomene, welche das Verständniß erschweren“ (43). Die energische Interaktion schöpferischer Tätigkeit verbindet
|| 10 So ist selbst Aristoteles in seiner Rhetorik (1356a [I 2]) der Auffassung, dass das éthos des Redners das wirksamste Überzeugungsmittel sei.
204 | Erfindung des Absoluten
so das aktive Hören hermeneutischer Re-actio mit der auffordernden Redetätigkeit der rhetorischen actio, deren Handlungsbezeugung oder performative Deixis wiederum auf die Lebendigkeit des Absoluten als „esse in mero actu“ (151) zurückverweist. Fichte geht es gerade in der Wissenschaftslehre deshalb nicht nur um den propositionalen Gehalt, sondern auch und – wie es an manchen Stellen scheint – vor allem um die performative Vollzugsevidenz des Philosophierens. In der vollkräftigen und gelingenden actio bekundet sich für Fichte geradezu das „Leben der Vernunft, welches als Energie erscheint“ (108). Das Projekt der Metaphysik als spekulativer Rede verlangt somit nach leibhafter Konpräsenz und unmittelbarer Interaktion des Philosophen mit seinen Hörern. Für das Verfahren der konkreten rhetorischen Realisation gibt Fichte ein gutes Beispiel aus dem aszendierenden Teil der Wissenschaftslehre, in dem es um die grundlegende Einsicht in die Substantialität des reinen Wissens geht. Es beginnt mit der Ankündigung des Beweiszieles: „Zuvörderst, daß sich dies wirklich also verhalte, das Wissen, als ein für sich Bestehendes einleuchte, kann auf der Stelle dargethan werden“ (23). Danach fordert Fichte seine Hörer zum bewussten Nachvollzug einer bestimmten Reihe geistiger Handlungen auf. Die Hörer sollten eine Reihe beliebiger Objekte bewusst vorstellen und dabei jeweils das Objekt von der Vorstellung unterscheiden lernen: „Ich fordre Sie auf, nach der Reihe vorzustellen; so haben Sie, wenn Sie sich Ihrer entsinnen, mit diesen ihren Bestimmungen, das Objekt und seine Vorstellung“ (23). Schließlich regt der Philosoph in Form des fiktiven Dialogs seine Hörer zur Reflexion des soeben vollzogenen Denkens an: „Nun frage ich aber weiter: wissen Sie denn nicht in allen diesen Bestimmungen, und ist nicht ihr Wissen, als Wissen, bei aller Verschiedenheit der Objekte, dasselbe, sich selber gleiche Wissen?“ (23) Schließlich weist er auf das Resultat, die realisierte Einsicht in die Substantialität des Wissens hin: So gewiß Sie nun diese Frage mit Ja beantworten, welches Sie ganz gewiß thun werden, wenn Sie nur das Ihnen Angemuthete vollzogen haben; so gewiß leuchtet Ihnen ein und stellt sich Ihnen dar das Wissen bei aller Verschiedenheit der Objekte: daher in gänzlicher Abstraktion von der Objektivität, (= A) als doch noch übrig bleibend; also substant, und in aller Veränderung der Objekte stets sich gleich bleibend; also als qualitative in sich durchaus unveränderliche Einheit. (23 f.)
Dieses Beispiel veranschaulicht die rhetorische Realisation von Metaphysik in der rhetorischen Interaktion mit seinen Zuhörern, die an die antike Idee von Philosophie als geistige Übung anknüpft.11 Zudem zeigt diese Kunst des Philosophierens eine unverkennbare Affinität zum Kunstbegriff der Rhetorik, der sich eben-
|| 11 Vgl. Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991.
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falls nicht auf eine rein theoretische Belehrung beschränkt, sondern auf die konkrete Realisation der allgemeinen Regeln in der praktischen Übung (exercitatio) besonderen Wert legt.
2.2 Wider die „mechanische“ Memoria Fichtes eigene genetische memoria-Theorie grenzt sich gegen das „mechanische Gedächtniß“ (12) ab, das in der Form passiver Erinnerung das Gehörte Wort für Wort aufschreibt und reproduziert. Die Wissenschaftslehre erfordert dagegen, das Gehörte „durch Nachdenken und Sichbesinnen wieder zu produciren […] und zwar mit absoluter Freiheit des Ganges“ (12). Der Hörer soll nicht länger zum passiven Rezipienten degradiert werden, der das Gehörte als historischen Wissensbestand speichern und in der Form einer möglichst wortgetreuen Vorlesungsnachschrift festhalten soll, um es dann mechanisch, ohne eigenes Verstehen zu memorieren. Das Verstehen des Gesagten soll sich vielmehr aus seiner selbstständigen Reproduktion und nicht aus seiner passiven Rezeption ergeben. Somit hat der Hörer das Gesagte durch eigene Worte und Gedanken erneut hervorzubringen – „aus der Mitte heraus, aufsteigend und ableitend zugleich; und der dies vermöchte mit absoluter Unabhängigkeit von den gebrauchten Ausdrücken“ (13). Diese genetische memoria-Theorie enthält eine Dynamisierung des Erinnernkönnens, das jedes nicht selbsterzeugte, historische Vorwissen abzuschaffen strebt. Das ironische Eingeständnis Fichtes, dass er „das, was man gewöhnlich Gedächtniß nennt, gar nicht habe“ (12) bekundet die kritische Intention seiner genetischen Memorialtheorie, die das Gedächtnis als bloßes Speicherungsmedium vorhandener Wissensbestände abschaffen will. Gerade hier, in der spekulativen Memorialtheorie, wird der philosophische Kreationismus Fichtes besonders deutlich, der seine gesamte Rede vom Absoluten als eine historisch voraussetzungslose creatio ex nihilo versteht.
2.3 Fortgesetze terminologische Variation Fichtes hermeneutisches elocutio-Theorem realisiert auf seine Weise den metaphysischen Topos von der Unwesentlichkeit des äußeren Ausdruckes: „Also weg mit Zeichen und Wort! Es bleibt nichts übrig, als unser lebendiges Denken und Einsehen selber, das sich nicht an die Tafel zeichnen, noch auf irgend eine Art stellvertreten läßt, sondern das eben in natura geliefert werden muß“ (63). Um diesen Prozess der Ablösung von der elokutionären Außenschicht der Rede zu erleichtern und durch die Ausdrucksgestaltung selbst ihre Unwesentlichkeit zu
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demonstrieren, wählt Fichte das Mittel terminologischer Variation. Diese Technik soll die Ablösung der Aufmerksamkeit von einer bestimmten Terminologie und ihren Übergang vom Buchstaben zum Sinn, vom verbum zur res, erleichtern. Der rhetorischen Fähigkeit des Philosophen, die Sache des Denkens in immer neuen Ausdrücken und Wendungen darzustellen, entspricht das hermeneutische variable Wortverstehen vonseiten der Hörer. Diese sollen in hohem Maße die Fähigkeit entwickeln, „dasselbe, was früher anders gesagt wurde, […] wieder zu erkennen“ (93). Der positive Effekt dieser elokutionären Technik terminologischer Variation ist – neben den außergewöhnlich vielen sprachschöpferischen Leistungen, die die meisten Fichte-Texte auszeichnen – ihr Aufforderungscharakter an die Leser, sich selbst von jeder Form fixierter Terminologie zu emanzipieren. Dem Streben zur infiniten terminologischen Variation liegt ferner die sprachkritische Einsicht zugrunde, dass die „erste Grundwendung aller Sprache“ (150) in einer dogmatischen Tendenz zur Objektivierung und Vergegenständlichung besteht. In „der Sprache spricht sich das objektivierende und begrifflich sondernde Bewußtsein aus“12. Die Sprache selbst enthält somit eine scheinerzeugende projectio per hiatum irrationalem, die es zu durchschauen und zu vermeiden gilt. Die transzendentalkritische Reflexivität spekulativer Rede wendet sich somit durch das Mittel der fortgesetzten terminologischen Variation gegen die ihr entgegengesetzte vergegenständlichende Tendenz der natürlichen Sprache. Das elokutionäre Verfahren, das den sprachlichen Ausdruck setzt, um ihn dann wieder aufzuheben, nähert sich dabei jener Figur der infiniten Ironie, die bei Friedrich Schlegel eine zentrale Rolle spielt.13 Ihr Einfluss lässt auch bei Fichte den Geist niemals ruhen und verweist ihn permanent auf das terminologische Jenseits der zu denkenden Sache.
2.4 Die Dekonstruktion der Konstruktion Die eigentliche Konstruktion der Sache des Denkens, die Darstellung des Absoluten, obliegt der dispositio spekulativer Rede, die auch bei Fichte zweifellos die zentrale Ebene philosophischer Rhetorik darstellt. Durch die methodische An|| 12 Johann Gottlieb Fichte, Wissenschaftslehre 1804. Wahrheits- und Vernunftlehre I.–XV. Vortrag, hg. v. Wolfgang Janke, Frankfurt 1966, 130 f. 13 Zur Infinitisierung der Ironie bei Friedrich Schlegel vgl. das Romantik-Handbuch, hg. v. Helmut Schanze, Stuttgart 1994, 351–365; speziell im Verhältnis zu Fichte: Lore Hühn, Das Schweben der Einbildungskraft. Zur frühromantischen Überbietung Fichtes, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70,4 (1996), 569–599.
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ordnung von Gedankenfiguren und durch „eine Reihe von Abstraktionen und Reflexionen“ (78) versucht hier der philosophische Lehrer, seine Hörer zur Einsicht zu führen. Seiner Vorkonstruktion soll ihre freie Nachkonstruktion folgen: „zuvörderst sind wir aufgefordert, einen gewissen Begriff innerlich zu construiren. Dies hat keine Schwierigkeit; Jeder, der nur auf die Beschreibung Acht hat, kann es; und wir construiren es ihm vor“ (44). Allerdings bildet für Fichte selbst jede perfekt gelingende hermeneutische Nachkonstruktion nur eine Nachkonstruktion zweiten Grades. Denn jede rhetorische Vorkonstruktion muss sich schließlich selbst wieder als bloße „Nachconstruktion einer ursprünglichen Vorkonstruktion“ (245), nämlich der Urkonstruktion des Absoluten, begreifen, die sie selbst lediglich abbildhaft repräsentiert. Die Feststellung, „alles Aussprechen oder Nachconstruieren […] ist in sich mittelbar“ (33), deckt das spezifische Darstellungsproblem der transzendentalen Metaphysik auch auf der dispositionellen Ebene auf. Sie verdeutlicht die rhetorische Differenz der spekulativen Rede zu ihrem eigentlichen Gegenstand, nämlich dem ungegenständlichen Absoluten, dessen unmittelbares Sein und Leben sich jeder direkten rhetorischen Darstellung entzieht. Da alles rhetorische und hermeneutische Nachkonstruieren das Absolute selbst in seiner ungegenständlichen Unmittelbarkeit nicht direkt zu erfassen vermag, bleibt am Ende der Metaphysik nur noch der Weg der indirekten Deixis. Diese besteht in der methodischen SelbstDekonstruktion der Konstruktion des Absoluten. Denn „nur an der Vernichtung des Begriffes leuchtet das Unbegreifliche ein“ (36). Die Ironie von Setzung und Vernichtung, die sich bereits auf der elokutionären Ebene der Terminologie zeigte, tritt nun auch auf der dispositionellen Ebene der Konstruktion zutage: „Ich construire daher ein durchaus nicht zu Construirendes, mit dem guten Bewußtsein, daß es nicht zu construiren ist“ (23). Das Verfahren von methodischer Konstruktion und Selbst-Dekonstruktion formt hier die methodische Grundfigur der transzendentalen Metaphysik: Durch indirekte Zeigung demonstriert sie das „jenseits der Möglichkeit meines Ausdrucks, und meiner beschreibenden Construction“ (22) zu findende Absolute. Mit der gegen sich selbst gerichteten Feststellung der terminologischen und konstruktiven Transzendenz des Absoluten, die nur eine indirekte Demonstration des Absoluten zulässt und die Hörer zugleich zur absoluten Abstraktion von ihr auffordert, erreicht auch die kritische Reflexivität spekulativer Rede ihren äußersten Höhepunkt. Ihre konsequente reflexive Transparenz sprengt hier ihre eigene konstruktive Immanenz und verweist aus sich selbst heraus auf die prinzipielle Transzendenz des von ihr eigentlich Gemeinten: „[U]nd das Resultat läßt sich fassen in die Formel: Soll das absolut Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, einleuchten, so muß der Begriff vernichtet, und damit er vernichtet wer-
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den könne, gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Begriffes leuchtet das Unbegreifliche ein“ (36). Diese Einsicht in die Notwendigkeit der Setzung und Vernichtung des Begriffes bewahrt die spekulative Rede der Metaphysik vor den Fiktionen und Sophismen eines grenzenlosen rhetorischen Konstruktivismus. Erst mit der redereflexiven Erkenntnis in das konstruktive Jenseits des Absoluten wird hier die metaphysische Position eines objektiven Idealismus erreicht, der die Konstitutions- und Geltungssphäre der (Inter-)Subjektivität überschreitet, um das unmittelbare Sein und Leben des Absoluten jenseits ihrer Konstruktionen zu finden.
2.5 Die Erfindung des Absoluten Das eigentliche Ziel der spekulativen Rede Fichtes ist nicht die äußere rhetorische Konstruktion des Absoluten, sondern seine selbstständige Re-inventio oder Nacherfindung im Denken und Erkennen seiner Hörer. „Kurz, zwischen meinen Akt des Vortrages und Ihren Besitzstand des Vorgetragenen muß noch ein Mittelglied eintreten, Ihre eigene Nacherfindung“ (15 f.). Das, was die spekulative Rede zu verstehen geben will, kann und lässt sich nicht äußerlich konstruieren oder andemonstrieren, sondern muss im Vollzug des jeweils eigenen Denkens entdeckt und gefunden werden. Vor diesem Hintergrund erhält auch das in der Wissenschaftslehre ausdrücklich und eindringlich vorgeführte konstruktive Scheitern in der direkten Darstellung des Absoluten einen weitergehenden, methodischen Sinn. Es soll die Aufmerksamkeit des Hörers von der Ebene der Konstruktion auf die der Intuition überleiten, auf der allein die authentische Nacherfindung des Absoluten möglich ist. Die lebendige Gründlichkeit des Verstehens erfordert geradezu das ‚ZuGrunde-Gehen‘ des reflexiv-konstruierenden Ichs, damit die „Vernunft rein zum Vorschein kommen könne“ (189 f.). Erst mit der Freisetzung und Erweckung der ursprünglich inventiven Schicht menschlicher Subjektivität, in der sich das Absolute in der Unmittelbarkeit reflexionslosen Evidenzerlebens bekundet und die Fichte als die „Genialität“ (89) seiner Hörer interpretiert, erreicht die Rede vom Absoluten wieder ihren schöpferischen Quellpunkt. In durchaus mäeutischer Absicht zielt so die Wissenschaftslehre auf den dialektischen Prozess der „Sichvernichtung“ (260) und des „Sichentdecken[s]“, in der sich „eine Umschaffung unser selbst“ (13) durch eine „wahrhaft neue Einsicht“ (13) vollzieht. Die präreflexive Unmittelbarkeit des „Ergriffen= und Hingerissenwerden[s] von der Evidenz“ (77) bildet schließlich auch für die moderne Metaphysik Fichtes den eigentlichen Ursprungsort spekulativer Rede, aus dem die inventio des philosophischen Lehrers entspringt und an den die Re-inventio jetzt auch den Hörer
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wieder zurückführt. Erst auf dem Boden der vollzogenen und nachvollzogenen Evidenz des Absoluten, die als ‚absolutes Licht‘ erlebt wird, kann es zur erstrebten Kommunikation des Wissenschaftslehrers mit seinen Hörern kommen. Das Zusammentreffen von Erfindung und Nacherfindung bildet den Koinzidenzpunkt, in dem nun das ‚Wir‘ der Wissenschaftslehre entsteht. Erst an diesem Punkt können sich der philosophische Lehrer und seine Schüler zu Recht mit dem Licht des Absoluten vereinigt wissen, so dass gesagt werden kann: „Wir sind selber das absolute Licht, und das absolute Licht Wir“ (214 f.).14 Allerdings transzendiert die unmittelbare Evidenz, auf die sich die spekulative Rede hier beruft, die mittelbare Form ihrer zeichenhaften Vergegenwärtigung: Denn „es ist klar, daß ein Repräsentant, ohne die Repräsentation des darin Repräsentierten, ein Bild, ohne Abbildung des Abgebildeten, Nichts ist: kurz, daß ein Bild, als solches, schon seiner Natur nach, keine Selbständigkeit in sich hat, sondern auf ein Ursprüngliches außer ihm hinweist“ (67). Aus dieser selbstkritischen Einsicht resultiert schließlich eine radikale Zurücknahme und Selbstrelativierung spekulativer Rede: „Also weg mit Zeichen und Wort!“ Um das eigentlich Unaussprechliche dennoch vor seinen Zuhörern anzusprechen, bedient sich Fichte eines weiteren Mittels indirekter Verweisung, das ihm aus der klassischen Metaphysik bestens bekannt ist. Gemeint ist die Metapher des ‚absoluten Lichtes‘, die ebenso zur Topik der von Platons Sonnengleichnis ausgehenden Lichtmetaphysik gehört wie – im Kontext der Umschreibung intuitiver Einsicht als „Blitzschlag“ (44) – zur Rhetorik des Erhabenen.15 Was die Rhetorik der transzendentalen Metaphysik trotz dieser eher konventionellen Metaphorik allerdings auszeichnet, ist der sie überall begleitende Geist redereflexiver Kritik, der die rhetorische Differenz zwischen der metaphorischen Repräsentation und dem eigentlich Gemeinten, dem Absoluten, permanent festhält und den verführerischen Identitätsschein allegorischer Rede zurückweist. Die Metapher bleibt so als das erhalten, was sie als solche eben nur ist: lediglich ein sprachliches Bild, das allerdings auf ein Ursprüngliches außer ihm hinweist. Insgesamt erweist sich im Durchgang durch die skizzierte Fünffachheit die moderne, transzendentale Metaphysik als wohldurchdachtes Projekt spekulativer Rede, die sich zwischen rhetorischer Konstruktion, absichtsvoller Selbst-Dekonstruktion und reiner Intuition bewegt. Der unaussprechliche Durchbruch des
|| 14 Die Intensivierung des rhetorischen Momentes erklärt auch den beobachteten Unterschied der objektivistischen Wissenschaftslehre (1801) mit ihrem „irgendwie anonym anmutenden Denken“ (Urs Richli, Das Wir der späten Wissenschaftslehre, Fichte-Studien 12 [1997], 351–363, hier: 358). 15 Vgl. Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen, hg. u. übers. v. Reinhard Brand, Darmstadt 1966, 31.
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Ursprünglichen in der Form präreflexiven Evidenzerlebens bildet dabei ihren selbst undarstellbaren Anfangs- und Endpunkt, auf den sie jeweils nur in Formen der Indirektheit – vor allem durch die methodische Selbstvernichtung ihrer eigenen Konstruktion – verweisen kann. Nun ist die Berufung auf Unaussprechliches zwar selbst ein Topos der Rhetorik, aber Fichtes moderne Metaphysik realisiert ihn durch die ironische Figur der Selbst-Dekonstruktion auf einem neuen redereflexiven Niveau, das den metaphorischen Identitätsschein zurückweist, der die klassische Metaphysik vielerorts durchzieht. Durch ihre Dekonstruktion demonstriert die spekulative Rede schließlich indirekt nicht nur die rhetorische, sondern auch die prinzipielle Undurchdringlichkeit des Absoluten selbst. Als „ein in sich geschlossenes Singulum unmittelbaren lebendigen Seins“ (160) bleibt es jene erhabene Finsternis, von der sich die erhellende Kraft spekulativer Rede – trotz der Gewissheit, sie niemals ganz durchdringen zu können – unaufhörlich herausgefordert sieht.16 Die Wissenschaftslehre von 1804 bildet insgesamt ein bisher weitgehend übersehenes Beispiel redereflexiver, moderner Metaphysik, in der der Bann der Kontingenz- und Rhetorikvergessenheit zu weichen beginnt, der die Geschichte der Metaphysik wie ihrer dogmatischen Rezeption bis heute belastet. Aus heutiger Sicht lässt sie sich bereits als ein Stück rhetorisch aufgeklärter Metaphysik entdecken. Diese Tendenz des Übergangs von der reinen Bewusstseinsphilosophie zu einer Philosophie der öffentlichen Vernunft, die von Kant ausgehend nicht nur die Öffentliche Lehre Fichtes, sondern z. B. auch die Weltalter-Philosophie Schellings bestimmt, wurde allerdings vom dominant antirhetorischen Bild des Idealismus als vermeintlich reiner Systemphilosophie bisher verdrängt.
|| 16 Es ist diese Strenge und Konsequenz der methodischen (De-)Konstruktion, die den szientifischen Stil der Wissenschaftslehre von dem populären Stil der Angewandten Philosophie unterscheidet, die sich mehr oder weniger direkt an den „natürlichen Wahrheitssinn“ des Publikums richtet (Fichte, Anweisungen zum seligen Leben, in: Ders., Werke, II: Schriften zur Angewandten Philosophie, hg. v. Peter L. Oesterreich, 361). Das inventive Sinnfundament, auf den sich beide Stile philosophischer Rhetorik gemeinsam zurückbeziehen, ist dabei dasselbe: die Vernunft gedacht als natürliches ingenium, das als intuitiver Quellpunkt der Wahrheit alle gehaltreiche Rede vom Absoluten inhaltlich begründet. Während aber der populäre Stil die inventive Potenz spekulativer Rede betont, liegt im szientifischen Stil der Schwerpunkt entschieden mehr auf der dispositionellen Potenz methodischer (De-)Konstruktion. In diesen beiden, einander ergänzenden Stilen moderner Metaphysik, spiegeln sich die traditionellen Gegensätze von inventio und iudicium, Topik und Kritik, Wahrheit und methodischer Gewissheitssicherung.
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3 Die Zukunft einer rhetorisch aufgeklärten Metaphysik Allgemein gesprochen hat das durch Platons Sieg über die Sophistik begründete, rhetorikrepugnante Bild der Philosophie die Wahrnehmung von rhetorikaffinen Tendenzen der Metaphysikgeschichte lange Zeit verhindert. Für diese in der Vergangenheit überaus erfolgreiche Dissimulation ihrer eigenen Rhetorizität muss die dogmatische Metaphysiktradition allerdings heute – nach der metakritischen Aufdeckung ihrer geheimen rhetorischen Strategien – den hohen Preis des Verlustes ihrer Glaubwürdigkeit bezahlen. Vor allem ihre Vortäuschung denkerischer Allmacht, die die logische und lebensweltliche Kontingenz geschichtlich situierter Vernunft glaubt überspielen zu können, wirkt sich heute gegen sie aus. Die simulierte absolute Lehrbarkeit des Absoluten, die beispielhaft das System Hegels verkörpert, droht seit längerem in den absoluten Verlust seiner Glaubwürdigkeit umzuschlagen. Die Dissimulation von Differenz und Kontingenz, die im triumphalistischen Selbstbild des hegelschen Systems und seiner Simulation begrifflicher Omnipotenz einen letzten Höhepunkt erreichte, erzeugte bekanntlich in der Folgezeit eine Übererwartung an die Philosophie, deren spätere Enttäuschung die heute dominierende skeptische Sicht spekulativer Philosophie mit verursacht hat. „[Denn] diese Übererwartung an die Geisteskultur kann die Philosophie [wie ihr Weg durchs 19. Jahrhundert zeigt, auf dem gerade darum die Kunst der Enttäuschung entstand: die Ideologiekritik] nur enttäuschen: Das erzwang […] gerade in Deutschland die Neigung, die absolute Hoffnung auf die Philosophie schließlich durch die absolute Verzweiflung an der Philosophie zu ersetzen.“17
Dies erklärt nicht zuletzt die gegenwärtig vorherrschende neosophistische Skepsis, die schon dem bloßen Thema des ‚Absoluten‘ per se zutiefst misstraut. Die heute vorherrschende skeptische Ablehnung, die der Idealismus als eine vom Mainstream der Gegenwartsphilosophie abweichende ‚Philosophie des Absoluten‘ erfährt, zwingt schließlich selbst seine verbliebenen Befürworter heute zum Eingeständnis: „Im Grunde ist dieses ganze Unternehmen ein ziemlicher Mißerfolg geworden.“18
|| 17 Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1991, 15. 18 Rolf-Peter Horstmann, Deutscher Idealismus – ein Aufstand der Epigonen?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44,4 (1996), 491–502, hier: 498.
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Die Epoche des deutschen Idealismus, die etwa um 1850 endet, bildet vorläufig den letzten Höhepunkt der europäischen Metaphysik. Spätestens mit Nietzsche beginnt sich eine antimetaphysische Grundtendenz durchzusetzen, die in die postmetaphysische Philosophie des 20. Jahrhunderts mit deszendenten Reflexionen auf Phänomene wie ‚Sprache‘ und ‚Lebenswelt‘ mündet. Die großen philosophischen Strömungen wie Phänomenologie, Analytische Philosophie, Neomarxismus oder (Post-)Strukturalismus haben diesen metaphysikrepugnanten Grundzug des sogenannten „nachmetaphysischen Denkens“19 gemeinsam. Dass wir heute in einem post-metaphysischen Zeitalter leben, trifft auf die Zustimmung eines breiten öffentlichen und wissenschaftlichen common sense. Dennoch könnte das 21. Jahrhundert wieder ein Zeitalter der Metaphysik werden. Die konsequent zu Ende geführte rhetorische Aufklärung gibt der Metaphysik heute auch die neue Chance, die weitverbreitete Rhetorik- und Kontingenzverdrängung ihrer Geschichte zurückzunehmen, sich von ihrer fragwürdigen szientistischen Simulation zu trennen und ihren ursprünglich peithischen Charakter endlich zu akzeptieren, um sich selbst – ausgehend vom Grundproblem der Lehrbarkeit des Absoluten aus – neu zu verstehen. Nach einer langen Geschichte szientistischer und poetischer Selbstmissverständnisse beginnt die Metaphysik heute, jene rhetorische Differenz, die schon in ihrem Anfang bei Parmenides durch die Konfiguration von Peitho und Aletheia symbolisiert wird, als den ihr angemessenen Aufenthaltsort zu begreifen. Damit zeichnet sich die Zukunft einer rhetorisch aufgeklärten Metaphysik ab, die sich stets erneut der Aufgabe stellt, der spekulativen Vernunftwahrheit in einer sich ständig wandelnden Welt öffentliche Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Dass es nach dem endgültigen Scheitern jeder Form dogmatischer Metaphysik eine derartige Alternative zur neosophistischen Skepsis gibt, bildet wohl die wichtigste Botschaft, die von der gegenwärtigen Entdeckung der Rhetorik in der Philosophie ausgeht. Wer der Metaphysik allerdings – in fortgesetzter szientistischer Selbstverkennung – wieder den ‚sicheren Gang der Wissenschaft‘ aufdrängen oder sie noch einmal in der Form des wissenschaftlichen Systems vollenden will, missversteht gründlich ihren rhetorischen Geist und initiierte auch im Lichte der Metaphysikkritik des 20. Jahrhunderts ein unsinniges Unterfangen. Nach dem offensichtlichen Scheitern der Metaphysik als Unternehmen apodiktischer Wissenschaft spricht aber nichts dagegen, es mit ihr als konjekturalem Projekt spekulativer
|| 19 Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1988, 14 ff.
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Rede erneut zu versuchen. Auf der anderen Seite gewinnt aber auch der Sinnlosigkeitsverdacht, der gerne gegen jede Form spekulativer Rede ins Feld geführt wird, eine vielleicht unerwartet neue Bedeutung. Schon Fichte bemerkt in einer Replik gegen den Vorwurf der Entleerung seiner Rede vom Absoluten: „Die Klage über die Leerheit dieser Spekulationen; ist gegründeter als die Klagenden meinen; nur auch aus einem anderen Grunde, als sie meinen.“20 Der angesprochene Grund für den häufig erhobenen Verdacht der Leere oder Sinnlosigkeit ist eine Besonderheit der spekulativen Rede. Sie kann sich nämlich bei ihrer Darstellung des Absoluten prinzipiell nicht auf inartifizielle, d. h. außerhalb der Rede gelegene Zeugnisse, berufen. „Wo gesprochen, wird von Etwas gesprochen, das in allen andren Fällen vor diesem Sprechen davon bekannt ist, und da ist: – hier, von etwas, das nur durch das Sprechen davon, und in diesem Sprechen, ist und wird.“21 Demnach existiert das Absolute allein im Medium der spekulativen Rede. Nur in der Form lehrhafter Rede, eben als das ‚gelehrte Absolute‘, kann es uns gegenwärtig werden. Damit ist zwar nicht das Absolute selbst, aber doch sein Dasein in der menschlichen Welt – als rhetorische creatio ex nihilo – gedacht. Das Absolute bildet demnach gar keine primäre Gegebenheit der empirischen (mundus sensibilis), auch nicht der rein geistigen (mundus intelligibilis), sondern der rhetorischen Welt (mundus rhetoricus). Die Anwesenheit des Absoluten in der geschichtlichen Welt bleibt somit an das kontingente Element des freien Redehandelns gebunden. Es muss immer wieder neu erfunden werden, um in der geschichtlichen Welt der Menschen gegenwärtig zu bleiben. Diese stets erneute, glaubwürdige Erfindung des Absoluten in der sich ständig verändernden menschlichen Lebenswelt ist die eigentliche Aufgabe der Metaphysik. Der gesamte Aufwand an literarischen Formen und Gedankenfiguren, den der metaphysische Lehrer betreibt, zielt nämlich letztlich nur auf die gelingende Re-inventio des Absoluten in der selbsteigenen Einsicht des Hörers, ohne die freilich tatsächlich der Anschein entsteht, als sei „von Nichts geredet“22. Die überzeugende Erfindung des Absoluten meint also mehr als die blinde Konstruktion oder bloße Fiktion. Die Rhetorik der Metaphysik hofft, zu wirklicher Einsicht
|| 20 Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe [der Bayerischen Akademie der Wissenschaften], hg. v. Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, bislang 29 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–1998, 2. Abt.: Nachgelassene Schriften, IX 179. 21 Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe (Anm. 20), 2. Abt.: Nachgelassene Schriften, IX 179. 22 Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe (Anm. 20), 2. Abt.: Nachgelassene Schriften, IX 179.
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führen zu können. Dabei baut sie auf ein Vernunftpotential, das sie mit Kant als „Naturanlage (metaphysica naturalis)“23 in jedem Menschen voraussetzt, ohne allerdings seine Verwirklichung in freier Einsicht logisch erzwingen zu können. Die geschichtliche Kontingenz der Metaphysik bildet dabei die unabdingbare Kehrseite der Freiheit ihres Wissens. Dass die Wirklichkeit der Vernunft in der Geschichte eben kein Werk der Notwendigkeit, sondern freier Überzeugung bildet, fordert schließlich stets von Neuem die Rhetorik der Metaphysik heraus.
|| 23 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [2. Aufl. 1787], in: Ders., Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), bislang 33 Bde. u. Tlbde., Berlin/New York 1900–1983, III 41.
‚Was des Lobes wert ist, mit Lob ehren‘ Epideixis und Demokratie in der antiken Sophistik Es ist die sophistische Kultur des 5. Jahrhunderts v. Chr., der die Weltgeschichte zwei überaus erfolgreiche ‚Erfindungen‘ verdankt: die Demokratie und die Rhetorik.1 Die griechische Sophistik, die lange im Schatten der klassischen griechischen Philosophie Platons und Aristoteles’ stand, hat erst in der letzten Zeit eine Neubewertung erfahren, die sie nicht mehr aus der metaphysischen FeindbildPerspektive verurteilt, sondern versucht, ihren eigenen Intentionen und Erkenntnissen gerecht zu werden.2 Zu den weitgehend vergessenen, aber dennoch lehrreichen Einsichten der antiken Sophistik gehört auch die klare Erkenntnis der konstitutiven Bedeutung politischer Epideixis für die Demokratie. An sie wollen die folgenden Hinweise zur Rhetoriktheorie des Gorgias von Leontinoi und die Grabrede des Perikles bei Thukydides erinnern, um anschließend auf ein gravierendes Defizit unserer Moderne aufmerksam zu machen.
1 Gorgias von Leontinoi: Die epideiktische Evidenz der politischen Welt Die Polis – so lehrt Aristoteles in seiner Politik – sei eine Gemeinschaft (κοινωνία), die aus einer durch die Rede (λόγος) vermittelten gemeinsamen Wahrnehmung (αἴσθησις) des Guten, Gerechten und Nützlichen bestehe.3 Damit formuliert die politische Philosophie des Aristoteles einen spezifischen Zusammenhang von Anthropologie, Rhetorik und Politik, der das anfängliche Selbstverständnis der || 1 „Indem die Griechen das Politische entwickelten, bildeten sie das Nadelöhr, durch das die Weltgeschichte hindurch mußte, wenn sie zum modernen Europa gelangen sollte“ (Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 21989, 13). Zur Erfindung des rhetorisch-dialektischen Diskurstyps s. Lothar Bornscheuer, „Zur Ursprungsgeschichte des europäischen Argumentierens im historischen Kontext von Mythos (Tragödie), Rhetorik und Philosophie“, in: Poetica 22 (1990), 217–241. 2 Zur Neubewertung der Sophistik vgl. u. a. Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986; Peter L. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs, Darmstadt 1994, 61–74; Peter Ptassek, „Rhetorik als Instrument der politischen Selbstbehauptung: z. B. die Sophisten“, in: Politik und Rhetorik. Funktionsmodelle politischer Rede, hg. v. Josef Kopperschmidt, Opladen 1995, 19–45. 3 Aristoteles, Politica, hg. v. David W. Ross, Oxford 51973, 1253a. https://doi.org/10.1515/9783110527667-014
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athenischen Demokratie noch einmal widerspiegelt: Weil der Mensch ein redendes Lebewesen ist, kann er ein politisches sein. Die staatliche Gemeinschaft konstituiert sich demnach nicht primär durch militärische Gewalt oder ökonomische Macht, sondern begründet sich rhetorisch im Element der vereinigenden Kraft der freien und öffentlichen Rede. Der grundlegende Wertkonsens, der die geistige Mitte der demokratischen Gemeinschaft darstellt, wird durch Rede gestiftet und bedarf ständig ihrer Energie, um nicht zu verblassen und zu zerfallen. Nur sie – so die Politik des Aristoteles – vermag den Menschen zwanglos und dennoch verbindlich zeigen, was z. B. das Gerechte oder Nützliche ist.4 Gerade der grundlegende Wertkonsens der demokratischen Polis basiert dabei auf einer Potenz des sprachlichen Sehenlassens, die als fundamentale Epideixis der Rede ihrer redesituativen Spezialisierung und artifiziellen Fassung als genos epideiktikon vorhergeht. Die Epideixis offenbart in erster Linie nicht bloße Tatsachen. Im Gegenteil, sie setzt in der Regel die Existenz und empirische Beschaffenheit der von ihr thematisierten Dinge als allgemein bekannt und gesichert voraus. Dies hebt auch die Bestimmung der klassischen Rhetorik hervor: die Lobrede (genus demonstrativum) im Unterschied zur Beratungs- (genus deliberativum) oder Gerichtsrede (genus iudicale) handelt nicht über Ungesichertes (dubia), sondern über bereits gesicherte Dinge (certa). Quintilian hat dies ausdrücklich betont.5 Die eigentliche Leistung jeder epideiktischen Rede, schon vor ihrer Ausformung zur artifiziellen Epideiktik, besteht somit nicht darin, Tatsachen zu erheben und zu sichern, sondern deren ästhetisch-ethische Qualität aufzuweisen und dem Publikum vor Augen zu stellen. Ihre Deutungsleistung lässt die Dinge insgesamt als eine für die menschliche Praxis bedeutsame Welt entdecken. Die sittliche Indifferenz empirischer Tatsachen bedarf der epideiktischen Scheidung des Guten vom Schlechten, des Ehrenhaften vom Unehrenhaften, des Schönen vom Hässlichen, um in die gemeinsame Wahrnehmung einer ethisch qualifizierten Welt überführt werden zu können, die dann wiederum eine ausreichende Orientierung für die praktischen Entscheidungen der Menschen bietet. Auf diesem epideiktischen Zeigen, Sehenlassen und „sprachlichem Zurschaustellen“6, das das Seiende in das Werte und Unwerte differenziert, beruht bei den Griechen die ästhetisch-ethische
|| 4 Aristoteles, Politica (Anm. 3), 1253a. 5 Quintilian, Institutionis oratoriae libri XII, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, 2 Bde., übers. u. hg. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1972 und 1975, III, 4, 8. 6 Stefan Matuschek, „Epideiktische Beredsamkeit“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. II, Tübingen 1994, 1258.
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Evidenz des Seienden als einer schön gefügten Weltordnung (κόσμος), in deren Mitte die politische Gemeinschaft der Polis angesiedelt ist. Diese fundamentale Bedeutung der epideiktischen Rede für die Polis-Gemeinschaft, die in der politischen Philosophie des Aristoteles noch sichtbar bleibt, findet sich schon in seiner Rhetorik nicht mehr wieder. Innerhalb der hier vorgebildeten Drei-Genera-Lehre der klassischen Rhetorik zeigt gerade das genos epideiktikon keine besondere Nähe zum Politischen mehr. Im Gegenteil, die Epideiktik wird aus dem Bereich politischer Praxis, in dem der Mensch als Bürger auftritt und zu entscheiden hat, herausgenommen. Der Übergang von der Gerichts- und Beratungsrede zur Lobrede macht nach Aristoteles das kritische zum konsumierenden Publikum. Als Hörer epideiktischer Beredsamkeit verwandelt sich der entscheidungsbefugte Polis-Bürger in den unpolitischen Konsumenten, „der die Rede genießt“7. Der epideiktische Logos sinkt so zu einem praktisch folgenlosen, bloß unterhaltsamen Spiel vor einem vergnügungssüchtigen Publikum herab, das vor allem an der ästhetischen Form der Rede und der Kunstfertigkeit des Redners seinen Gefallen zu finden scheint. Schon zu Beginn der klassischen Rhetorik bei Aristoteles zeichnet sich somit eine Tendenz zur Ästhetisierung der epideiktischen Rede ab, die sie vom Bereich des Praktischen und Politischen wegführt. Die fundamentale Bedeutung der Epideixis für die Praxis der Polis-Gemeinschaft droht somit auf dem Wege zur artifiziell gefassten epideiktischen Beredsamkeit verloren zu gehen. Die Ästhetisierung des Epideiktischen bei Aristoteles bildet nicht zuletzt eine Spätfolge der Anästhetisierung des Politischen durch Platon. Die theoretische Idealisierung des Politischen, die den Ort seiner Wahrheit in das reine Denken (νόησις) verlegt, hatte schon bei Platon das an die Wahrnehmung (αἴσθησις) gebundene Sehenlassen des politisch Guten im Element der öffentlichen Rede abgelöst. Die Suche nach aussagekräftigen Quellen für die fundamentalpolitische Bedeutung epideiktischer Rede, die in der klassischen Philosophie und Rhetoriktheorie der Griechen bereits zu verdunkeln beginnt, führt historisch vor Platon zurück in die sophistische Kultur des perikleischen Zeitalters. Diese Blütezeit der athenischen Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr. wird von der rhetorikaffinen „Realisten-Kultur“8 der Sophistik beherrscht, deren Niedergang dann erst den Aufstieg des platonischen Idealismus ermöglichen wird. Die sophistische Kultur besteht wesentlich in dem Versuch, die permanente Krisis der menschlichen Lebenswelt immanent, d. h. unter Verzicht auf jegliche transzendente, theologische oder metaphysische Orientierung zu meistern. Zu
|| 7 Aristoteles, Rhetorik, übers. u. hg. v. Franz G. Sieveke, München 1980, 1358b. 8 Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. II, München 1996, 1029.
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ihrem Wahrzeichen wird die Göttin Peitho, die „Personifikation der Allmächtigen und vielseitigen Gewalt der Rede“9. Getragen von einem neuen, optimistischen „Könnens-Bewußtsein“10 glauben die Sophisten, die schwankende Meinung (δόξα) der Menschen vor allem durch die neu entdeckte ῥητορικὴ τέχνη steuern und so die in der Demokratie sich potenzierende doxale Krise der politischen Welt bewältigen zu können. Eine, wenn nicht die herausragende sophistische Lehrergestalt der sophistischen Kultur des 5. Jahrhunderts ist zweifellos Gorgias von Leontinoi. Berühmte Männer wie Kritias, Alkibiades, der Tragödiendichter Agathon und nicht zuletzt Thukydides sollen seine Schüler gewesen sein. Von ihm wird berichtet, dass seine „gewaltige Fähigkeit zu reden die aller zu seiner Zeit weit übertraf“ (111).11 „So große Ehre zollte man Gorgias in Griechenland, daß von allen in Delphi einzig seine Statue nicht vergoldet, sondern aus Gold errichtet war“ (121). Auf dieses überragende Ansehen spielt auch die Anekdote an, dass Gorgias es sich ohne Weiteres leisten konnte, den gleichnamigen Dialog Platons mit der Bemerkung zu übergehen: „Wie schön kann Platon Spottverse dichten“ (131). Mit Gorgias setzt ein zweiter Anfang der Rhetorikgeschichte ein, der nicht, wie bei Korax und Teisias, von der Redesituation vor Gericht ausgeht. Der Ursprungsort der gorgianischen Rhetorik ist von vornherein die politische Rede, der er allerdings eine vorher nie gehörte poetische Stilhöhe gegeben hat. Er „übertrug den poetischen Ausdruck auf politische Reden“ (151). Aus dieser Verbindung des Politischen mit dem Poetischen geht Gorgias’ neuartige und zugleich außerordentlich erfolgreiche epideiktische Rhetorik hervor. Wie Cicero rückblickend berichtet, war es Gorgias, der – im Gegensatz zu Korax und Teisias oder auch Protagoras – als erster der Überzeugung war, die hauptsächlichste Fähigkeit des Redners bestehe darin, „daß er etwas durch sein Lob erhöhen bzw. durch seinen Tadel wiederum herabsetzen könne“12. In der gorgianischen Rhetorik kommt die epideiktische Potenz der Rede für die Begründung und Bewahrung menschlicher Gemeinschaft erstmals zu vollem Bewusstsein und bildet sich zur ῥητορικὴ τέχνη aus. Die uns überlieferten TextFragmente zeigen Gorgias tatsächlich als Meister epideiktischer Beredsamkeit in ausgesprochen politischer Absicht: Seine Olympische Rede wandelt die Festver|| 9 Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (hg. v. Wilhelm Kroll), 24 Bde., Stuttgart 1893–1978, Bd. XIX, 1, 1937, 194. 10 Meier, Entstehung (Anm. 1), 435. 11 Hier und im Folgenden wird zitiert nach: Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, gr.-dt., hg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989. Die Seitenangaben stehen direkt im Text. 12 Marcus Tullius Cicero, Brutus (lat.-dt., hg. v. B. Kytzler), München/Zürich 1947.
Gorgias von Leontinoi: Die epideiktische Evidenz der politischen Welt | 219
anstaltung zum panhellenischen Politikum: „Weil er nämlich Griechenland in innerem Streit befangen sah, machte er sich zum Mahner der Eintracht für sie“ (105). In seinem Epitaphios, der Ansprache auf die Kriegstoten, „er machte die Athener scharf gegen die Meder und Perser“ (105), ist die Sentenz überliefert: „Siege, die man über Barbaren gewinnt, erfordern Festgesänge, die über Griechen aber Klagelieder“ (71). In seinem berühmten Lob der Helena verkündigt Gorgias schließlich auch das Grundgesetz seines gesamten rhetorischen Handelns. Es lautet: „An Mann und Frau und Rede und Tat und Stadt und Ding muß man, was des Lobes wert ist, mit Lob ehren, dem Unwerten dagegen Tadel entgegenbringen. In gleichem Maß nämlich ist es Verfehlung und Unverstand, zu bemäkeln, was gelobt, und zu loben, was getadelt gehört“ (3). Die Verpflichtung des Gorgias zu universalem Lob und Tadel rückt seine Rhetorik tatsächlich in die Nähe zum Poetischen. Das Grundgesetz epideiktischer Rhetorik zu Beginn seiner Helena-Lobrede erneuert nämlich das Selbstverständnis des Dichters Pindar: „Ich will unter dem Wohlgefallen meiner Mitmenschen meine Glieder in die Erde versenken, nachdem ich gelobt, was zu loben ist, und die übel Tuenden mit Tadel bedacht habe“ (XXIII). Diese von Gorgias aus dem Poetischen übernommene, auf den neuen Bereich des Rhetorischen übertragene epideiktische Pflicht erklärt sich wiederum aus der ‚schwachen Anthropologie‘, die die sophistische Skepsis mit dem Daseinsverständnis der tragischen Dichtung teilt. Sie geht von der antimetaphysischen Annahme aus, das dem Menschen prinzipiell eine gottgleiche, absolute Vernunfteinsicht verwehrt ist. Als ‚Sterblicher‘, mit nur unzureichenden und schwachen Erkenntniskräften ausgestattet, unterliegt er der kurzen Lebenszeit, dem Tod und dem unvorhersehbaren Schicksal. Jenseits jeder wahren Einsicht besitzt der Mensch – wie auch Gorgias betont – allein die täuschende „Ansicht zum Beirat ihrer Seele“ und ist so den „trügerischen und unsicheren Geschicken“ (11) ausgeliefert. Diese tragische Grundsituation des Menschen – so gut es nur geht – lebensweltimmanent, d. h. ohne transzendente theologische oder metaphysische Bezüge meistern zu können, ist die eigentliche, positive Absicht des sophistischen Wissens. Gerade von der Rhetorik erhofft sie sich zwar keine absolute Evidenz, aber doch konsensuelle Perspektiven und gemeinsame Handlungsorientierung in einer durch geschicklich-geschichtliche Kontingenz gefährdeten Lebenswelt. Im Medium des gemeinschaftlichen Sehenlassens öffentlicher Rede sollen die in unterschiedliche Ansichten zerstrittenen Menschen wieder zu einer einheitlichen Wahrnehmung ihrer selbst und der sie umgebenden politischen Welt kommen. Nur die epideiktische Rede vermag es, der Polis-Gemeinschaft die sittliche Bedeutung des Seienden zu zeigen und in glaubwürdiger Form erscheinen zu lassen. Erst ihre lobende und tadelnde Differenzierung unterscheidet das
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indifferente Sein der bloßen Tatsachen in Wertes und Unwertes, lässt die ästhetisch-ethische Qualität der Dinge öffentlich aufscheinen und bringt so eine nach ihrer sittlichen Bedeutung gegliederte Handlungs- und Lebenswelt des Menschen hervor. Da die ästhetisch-ethische Qualität des Seienden per se verborgen ist, bedarf es ihrer aufzeigenden Kraft, um die Bürger aus der Vieldeutigkeit, Verworrenheit und Unentscheidbarkeit des Meinungsstreites durch eine einheitliche und gemeinsame Sicht untereinander wieder zu befreunden und so zu einer handlungsfähigen Polis-Gemeinschaft zusammenzuführen. Mit Gorgias, der die fundamentale Potenz öffentlicher Epideixis erstmals im vollen Umfang redetechnisch zu erschließen beginnt und zur artifiziellen Epideiktik ausformt, gewinnt der Redner eine vorher nicht gekannte, erstaunliche Macht, das Seiende in seiner sittlichen Qualität für die Polis-Gemeinschaft zu enthüllen und aufscheinen zu lassen. Das mit der Erfindung der ῥητορικὴ τέχνη verbundene optimistische Könnensbewusstsein impliziert aber nicht in jedem Fall die den Sophisten gerne generell unterstellte hybride Vorstellung einer völlig unbegrenzten Redemacht und ihres rhetorischen Omnipotenzanspruches. Gorgias selbst deutet nämlich das epideiktische Aufscheinenlassen der Dinge nicht als die Erzeugung eines bloßen Scheinbildes, sondern als das Erscheinen- und Sichtbarwerdenlassen ihres ansonsten verborgenen Seins. Zwar bedarf das von sich selbst her unscheinbare Sein einerseits der Rede, um für die Menschen überhaupt sichtbar zu werden – „das Sein ist unsichtbar, erlangt es kein Scheinen“ (97). Aber umgekehrt gilt auch: „das Scheinen aber (ist) kraftlos, erlangt es kein Sein“ (97), d. h. die Rede verliert ihre persuasive Kraft, wenn sie sich nicht am situativ vorgegebenen Sein der Tatsachen orientiert. Erst durch ihre referentielle Selbsttranszendenz gewinnt die Rede die persuasive, die Menschen bewegende Macht. Als bloße logoplastische Fiktion dagegen droht ihr schnell die persuasive Entkräftung. Ihr mangelt nämlich die Fähigkeit, eine der jeweiligen situativen Machtlage angemessene und erfolgreiche Deutung der politischen Welt für die Polis-Gemeinschaft zu geben und sie verliert – konfrontiert mit der Realität ihrer Handlungsfolgen – mehr oder weniger schnell ihre Glaubwürdigkeit. Ohne Bezug auf die jeweiligen unbestreitbaren Realitäten, die als inartifizielle Argumente den situativen Gestaltungsraum rhetorischer Kunstfertigkeit begrenzen, entfernt sie sich aus dem Umkreis glaubwürdiger und konsensfähiger Deutungsmöglichkeiten und wird so am Ende selbst wirkungslos, unscheinbar und nichtig.
Das Enkomion der athenischen Demokratie in der Grabrede des Perikles | 221
2 Das Enkomion der athenischen Demokratie in der Grabrede des Perikles Die Gefahr der rhetorischen Verselbstständigung epideiktischer Rede, die die transrhetorischen Tatsachen der politischen Lebenswelt ignoriert, hat Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges eindrücklich vor Augen gestellt. Die Verabsolutierung ihres symbolischen Innenraumes, die sich aus dem situativen Kontext realer Tatsachen ablöst, und das politische Handeln durch symbolische Politik glaubt ersetzen zu können, gehört nach Thukydides zu den Hauptursachen der späteren Niederlage der athenischen Demokratie. In der Rede des Kleon werden die Athener deshalb als bloße „Zuschauer der Worte“ und „Hörer der Taten“ (III, 38)13 getadelt. Das konsumierende Publikum der Athener hat – so der Vorwurf – das kritische Bewusstsein für die Differenz von Rede und Realität verloren und lässt sich von der symbolischen Politik sophistischer Epideiktik gefangen nehmen und versklaven. „[…] was geschehen soll, beurteilt ihr nach einer guten Rede als möglich, was schon vollbracht ist, nicht nach dem sichtbaren Tatbestand, sondern verlaßt euch auf eure Ohren, wenn ihr eine schöne Scheltrede dagegen hört, […] kurz, der Hörlust preisgegeben tut ihr, als säßet ihr im Theater, um Redekünstler zu genießen, und hättet nicht das Heil des Staates zu bedenken.“ (III, 38)
Bereits Thukydides schildert hier die selbstzerstörerische Ästhetisierung politischer Rhetorik, deren Epideiktik durch Ausblendung der Realität ihren praktischpolitischen Sinn verliert. Er beschreibt die Korruption der politischen Redekultur in der niedergehenden athenischen Demokratie, die zu einer bloßen ästhetischtheatralischen Veranstaltung verkommen ist, deren Bann schließlich die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des gesamten Staates lähmt. Die symbolische Simulation von Omnipotenz, die die tatsächliche militärische und ökonomische Macht-Lage dissimuliert, muss Athen schließlich mit der totalen Niederlage bezahlen. In Platons Kampf gegen die sophistischen ‚Trugbildner mit Worten‘ wirkt sicherlich auch diese traumatische Erfahrung der Selbstzerstörung Athens durch seine korrumpierte politische Rhetorik fort. Nach Thukydides beginnt dieser Prozess nach dem Tode des Perikles, der es aufgrund seiner persönlichen Autorität und Unbestechlichkeit noch wagen konnte, der Menge, wenn es sein musste, zu
|| 13 Im Folgenden zitiert nach Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, übers. v. G. P. Landmann, Zürich/München 1976. Die Seitenangaben stehen direkt im Text.
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widersprechen, während seine schwächeren Nachfolger ihr schmeicheln mussten.14 Die Grabrede des Perikles hat Thukydides dann auch als positives Gegenbild zur korrumpierten politischen Rhetorik seiner Nachfolger ausgestaltet. In ihr entwirft er die Möglichkeit einer unverdorbenen Redekunst, die die von Gorgias aufgezeigte Möglichkeit der Verbindung von Epideiktik und Politik beispielhaft vor Augen führt. Über Thukydides hat Nietzsche später geurteilt: „In ihm kommt die Sophisten-Kultur, will sagen die Realisten-Kultur, zu ihrem vollendeten Ausdruck.“15 Tatsächlich stellt seine Geschichte des Peloponnesischen Krieges mit ihrem durchgängig rhetorisch geprägten historiographischen Stil selbst eine innovative Höchstleistung der sophistischen Kultur des 5. Jahrhunderts dar, die nicht als Dokumentation tatsächlich gehaltener Reden missverstanden werden sollte.16 Dies gilt insbesondere für Thukydides Grabrede des Perikles, die als ein Meisterwerk historiographisch potenzierter Epideiktik und nicht als Schilderung der historischen Realität zu verstehen ist. Sie zeigt nicht so sehr, was und wie Perikles tatsächlich geredet hat, sondern wie er sophistischen Maßstäben gemäß hätte bestenfalls reden können. Nicht ohne Grund äußert Nietzsche die Vermutung, dass die gesamte Perikles-Rede des Thukydides ein „großes optimistisches Trugbild“17 darstelle. Dennoch könnte am Ende auch in diesem Falle wiederum die provozierende Sentenz des Gorgias Recht behalten, dass „der Getäuschte […] mehr versteht als der, der nicht getäuscht wird“ (93). Denn die Grabrede des Perikles in ihrer Idealtypik bietet den Zusammenhang von Epideiktik und Demokratie in ausgezeichneter Sichtbarkeit und Schaubarkeit, so dass ihre belehrende Wirksamkeit die Realität bei weitem übertrifft. Als Darstellung der lobenden Selbstvergegenwärtigung Athens durch Perikles stellt sie uns beispielhaft die Bedeutung der Rhetorik für die Entstehung und Bekräftigung politischer Identität in der Demokratie vor Augen. In der demokratischen Polis, die Thukydides sichtbar werden lässt, verbindet sich die Erfindung des weltgeschichtlich neuen demokratischen Politikstils mit einer machtvollen Bedeutungssteigerung des Rhetorischen. Das öffentliche Redenkönnen wurde als eine erstaunliche Macht erlebt, die es fertigbrachte, || 14 „So oft er wenigstens bemerkte, daß sie zur Unzeit sich in leichtfertiger Zuversicht überhoben, traf er sie mit seiner Rede so, daß sie ängstlich wurden, und aus unbegründeter Furcht hob er sie wiederum auf und machte ihnen Mut […]. Aber die Späteren, untereinander gleichen Ranges und nur bemüht, jeder der erste zu werden, gingen sogar so weit, die Führung der Geschäfte den Launen des Volkes auszuliefern“ (II, 65). 15 Nietzsche, Werke (Anm. 8), Bd. II, 1029. 16 Vgl. Jürgen Gommel, Rhetorisches Argumentieren bei Thukydides, Hildesheim 1966, 1 f. 17 Nietzsche, Werke (Anm. 8), Bd. I, 684.
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Menschen, die sich nach dem Verlust der traditionellen Bindungen nicht mehr durch die bloßen Abstammungsverhältnisse verbunden fühlen könnten, dennoch gewaltlos und in Freiheit zu vereinigen. Mit der Einführung der Demokratie in Athen, die das politische Volk (δῆμος) zum Subjekt politischen Handelns macht, wird die genealogische Abstammungsgemeinschaft durch die rhetorisch konstituierte Überzeugungsgemeinschaft abgelöst. Dass in der athenischen Demokratie „wirklich viele Entscheidungen in der Volksversammlung, aufgrund von Rede und Widerrede und aufgrund des Urteils einer breiten Menge von Bürgern fielen“18, erklärt die neue Verehrung der Peitho, die, als Göttin der Überredung, die Bürger ohne Gewalt (βία) und äußeren Zwang (ἀνάγκη) zu gemeinsamen Handeln bewegen konnte. Mit der Erfindung des demokratischen Politikstils verbindet sich das gewagte Experiment einer primär auf den rhetorischen Logos gegründeten Überzeugungsgemeinschaft, die zur typisch europäischen Grundform politischer Gemeinschaft werden sollte. Dabei fällt das in der Grabrede des Perikles beispielhaft vorgeführte Selbstverständnis der früheuropäischen Demokratie schon in eine außergewöhnliche Krisensituation, da Athen bereits in jenen Peloponnesischen Krieg verwickelt ist, der am Ende zu seiner totalen Niederlage führen sollte und von dem Thukydides sagt: „Er war bei weitem die gewaltigste Erschütterung für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen unter den Menschen überhaupt“ (I, 1). Für Athen ging es in diesem – fast die gesamte mediterrane Welt berührenden – militärisch, politisch und ideologisch geführten Konflikt mit Sparta und Persien auch um die Selbstbehauptung der weltgeschichtlich neuen demokratischen Ordnung in einer weitgehend feindlich gesinnten Staatenwelt. Die Grabrede des Perikles verdeutlicht dabei, wie es der Demokratie im Medium ihrer Epideiktik gelingen kann, trotz schwerer Verluste den bedrohten politischen Glauben an den Sinn ihrer freiheitlichen Ordnung zu stärken. Die Periklesrede fällt in die Frühphase des Peloponnesischen Krieges. Ihr konkreter Anlass ist, wie Thukydides berichtet, dass die Athener im ersten Kriegswinter „nach der Sitte der Väter das öffentliche Begräbnis der ersten in diesem Krieg Gefallenen“ (II, 34) begingen: „Dann setzen sie sie in dem öffentlichen Grab bei, das in der schönsten Vorstadt liegt […]. Wenn sie es dann mit Erde zugeschüttet haben, spricht ein von der Stadt gewählter, durch Geist und Ansehen hervorragender Mann auf die Toten eine Lobrede, wie sie ihnen gebührt – dann gehn sie. Das ist die Bestattung, und während des ganzen Krieges, sooft es dazu kam, folgten sie diesem Brauch.“ (II, 34)
|| 18 Meier, Entstehung (Anm. 1), 265.
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Die Totenfeier zur Ehre der Gefallenen bildet in Athen ein öffentliches und politisches Ereignis von allgemeinem Interesse, an dem keineswegs nur die Angehörigen, sondern „jeder, der will, Bürger und Fremde“ (II, 34) teilnehmen kann. Ihren Höhepunkt bildet die Lobrede, in der sich die athenische Polis inmitten der Krise des Krieges vergegenwärtigt und die ihr gemeinsames Selbstbewusstsein erneuert. Dabei steht der Redner vor der schwierigen Aufgabe, die Bürgerschaft jedes Mal erneut davon zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, sein Leben für die staatliche Gemeinschaft zu opfern. Die in Trauer und Mutlosigkeit versunkenen Athener sollen durch die Rede dazu bekehrt und ermutigt werden, das Gemeinsame (κοινόν) des Staates in der extremen Gefahrensituation des Krieges auch in Zukunft über ihr individuelles Privatinteresse (ἴδιον) und Leben zu stellen. Die Psychagogie der Rede zielt darauf ab, die privaten Perspektiven der individuellen Selbsterhaltung und des persönlichen Vorteils zum politischen Wir-Bewusstsein der Polis-Gemeinschaft zu erweitern und den Einbruch des individuellen Todes in das gemeinsame Leben der Polis zu bewältigen, der Mut und Gemeinsinn der Bürger zu zerstören droht. Eine besondere Leistung der epitaphischen Beredsamkeit des Perikles besteht in der von Thukydides geschilderten Grabrede darin, dass er ihr sehr schnell eine Wendung gibt, die sie zu einem Musterbeispiel epideiktischer Politik werden lässt. Statt vor allem die Taten der Gefallenen und ihrer Vorfahren zu rühmen, wird seine Rede eine Eulogie auf die athenische Demokratie. Perikles wirft nämlich die allgemeine Frage auf, ob es denn grundsätzlich gerechtfertigt sei, im Kriegsfall sein Leben für den Staat zu opfern. Dabei zielt seine Argumentation auf die Überzeugung, dass dies nur für eine demokratische Polis wie Athen gerechtfertigt ist, für andersverfasste Staaten aber nicht. Das Enkomion Athens nimmt somit argumentativ die zentrale Stellung des Rechtfertigungsgrundes für den Opfertod der athenischen Krieger ein. „Darum habe ich ja auch so ausführlich von der Stadt geredet, und um euch zu zeigen, daß wir nicht für das gleiche kämpfen wie andere, die all das nicht so haben, und um zugleich den Lobspruch auf die, denen meine Rede gilt, durch Beweise zu erhärten“ (II, 42). Trotz ihrer allgemeinen Fragestellung (quaestio infinita) bildet die Periklesrede aber dennoch kein Lehrstück politischer Philosophie, sondern ein Musterbeispiel epideiktischer Politik. Die Glaubwürdigkeit seiner gesamten Argumentation bezieht sie nämlich nicht aus dem Begriff, sondern dem konkreten VorAugen-Führen der lebenswerten Vorteile der demokratischen Polis, die den Tod der Gefallenen erst sinnvoll erscheinen lassen. Im symbolischen Raum seiner Lobrede entsteht vor dem inneren Auge seiner Zuhörer das imaginative Bild Athens als eines überlegenen und zuhöchst verteidigungswerten demokratischen Staates.
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Sein Enkomion beginnt mit der stolzen Bekundung des für die Athener typischen optimistischen Könnens-Bewusstsein. Zu den Innovationen des athenischen Erfindungsgeistes zählt nicht nur die Redekunst, sondern die demokratische Verfassung des Staates. Dabei artikuliert Perikles sogleich das gleichsam missionarische Bewusstsein der athenischen Demokratie, wenn er neben ihrer Originalität auch ihre Vorbildlichkeit für andere hervorhebt. „Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner der fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer“ (II, 37). Danach entwickelt das perikleische Enkomion Athens eine wirkungsgeschichtlich folgenreiche Lobtopik der Demokratie, deren maßgeblicher Charakter sich bis in die jüngste Gegenwart erhalten hat. Dazu gehört erstens das Lob der Gleichheit (ἰσονομία) im demokratischen Rechtsstaat: „Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft. Nach dem Gesetz haben in den Streitigkeiten der Bürger alle ihr gleiches Teil, der Geltung nach aber hat im öffentlichen Wesen den Vorzug. wer sich irgendwie Ansehen erworben hat, nicht nach irgendeiner Zugehörigkeit. sondern nach seinem Verdienst.“ (II, 37)
Der zweite Topos ist das Lob der Freiheit (ἐλευθερία), die in der Demokratie Athens nicht nur als formales Prinzip herrscht, sondern sich in der konkreten Sittlichkeit des Zusammenlebens der Bürger verwirklicht hat: „frei leben wir miteinander im Staat […], ohne dem lieben Nachbar zu grollen, wenn er einmal seiner Laune lebt“ (II, 37). Die gelebte Freiheit schließt dabei auch die Toleranz gegenüber Fremden ein, so dass es in Athen „keine Fremdenvertreibungen“ (II, 39) gibt. Im Unterschied zur asketischen spartanischen Ordnung lobt die Periklesrede die Vorteile des freiheitlichen Lebensstils Athens, die in seinen religiös-kulturellen Festveranstaltungen, seiner urbanen Architektur bis hin zum weltstädtischen Warenkonsum zur Erscheinung kommen. „Dann haben wir […] auch von der Arbeit die meisten Erholungen geschaffen: Wettspiele und Opfer, die jahraus, jahrein bei uns Brauch sind, und die schönsten häuslichen Einrichtungen, deren tägliche Lust das Bittere verscheucht. Und es kommt wegen der Größe der Stadt aus aller Welt alles zu uns herein.“ (II, 38)
Zur epideiktischen Topik der Demokratie gehört drittens das Lob ihrer politischen Redekultur. Perikles lobt ausdrücklich, dass in Athen „in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil“ (II, 40) ist. Zum demokratischen Ethos gehört nämlich das sich in öffentlicher Rede artikulierende allgemeine Interesse der kritischen Bürger an den politischen Entscheidungen. Zur Einzigartigkeit der athenischen Demokratie – so hebt Perikles hervor – gehört, dass sie die aktive Beteiligung aller Bürger
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am politischen Leben als selbstverständliche Pflicht ansieht und den sonst üblichen Rückzug ins Private als geradezu moralisch verwerflich empfindet. „Denn einzig bei uns heißt einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selbst oder denken sie doch richtig durch“ (II, 40). Dazu gehört auch die Hochschätzung der Rede als unverzichtbares Medium der politischen Selbstbestimmung der Bürger. „Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet“ (II, 40). Die öffentliche Beratungsrede wird somit geradezu zum Sitz der politischen Vernunft in der demokratischen Polis. Durch diese Lobtopik der Demokratie entwirft Perikles insgesamt ein strahlendes Bild Athens, dessen epideiktische Evidenz gleich einen zweifachen Redezweck erfüllt. Einerseits lässt sie einen glaubwürdigen und einleuchtenden Rechtfertigungsgrund für die zu beklagenden Kriegsopfer erscheinen. „Für eine solche Stadt also sind diese Männer hier, nicht bereit, auf ihren Besitz zu verzichten, in edlem Kampfe gefallen“ (II, 41). Ferner lässt sie jenen glanzvollen Vorbildcharakter der athenischen Demokratie aufscheinen, durch den sich schließlich ihr Führungsanspruch gegenüber der gesamten hellenischen Menschheit begründen lässt: „Zusammenfassend sage ich, daß insgesamt unsre Stadt die Schule von Hellas sei“ (II, 41).
3 Das Lob als Pflicht in der demokratischen Redekultur Trotz aller demonstrierten epideiktischen Evidenz zeichnet es den Redner Perikles bei Thukydides aus, dass seine Rede ihrer eigenen verführerischen Bildmacht nicht erliegt. Sie behält nämlich am Ende eine kritische Distanz zu der von ihr selbst hervorgerufenen, überaus anziehenden Ansicht Athens bei und bringt in der Form rhetorischer Selbstreflexion sogar das Problem ihrer möglichen Differenz zur politischen Wirklichkeit zur Sprache. Offen spricht Perikles den Einwand an, dass seine Lobrede nichts weiter als bloße trügerische Wortmalerei sei und nur ein bloßes Phantasma der demokratischen Polis produziert habe. Den Verdacht ihrer Fiktionalität kann, so gesteht Perikles ein, die Rede allerdings nicht immanent, allein gestützt auf ihre eigenen artifiziellen Mittel, entkräften. Dazu bedarf es vielmehr eines inartifiziellen Beweises, der auf redetranszendenten unbestreitbaren Tatsachen der politischen Realität beruht. Im Sinne des sophistischen Realismus verweist Perikles deshalb zur äußeren Beglaubigung seiner
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Reden auf die allen sichtbaren und unbezweifelbaren Zeichen der faktischen Macht (δύναμις) Athens. „Daß dies nicht Prunk mit Worten für den Augenblick ist, sondern die Wahrheit der Dinge, das zeigt gerade die Macht unsres Staates“ (II, 41). Die sinnliche Evidenz der allgemein wahrnehmbaren Macht-Zeichen athenischer Seeherrschaft überzeugt am Ende mehr als die fragwürdig gewordene mythopoetische Rede des Dichters. „Und mit sichtbaren Zeichen üben wir wahrlich keine unbezeugte Macht, den Heutigen und den Künftigen zur Bewunderung, und brauchen keinen Homeros mehr als Sänger unsres Lobes, noch wer sonst mit schönen Worten für den Augenblick entzückt – in der Wirklichkeit hält dann aber der Schein der Wahrheit nicht stand.“ (II, 41)
Zur Modernität der sophistisch aufgeklärten Periklesrede gehört gerade ihr selbstkritisches Bewusstsein, das die – später auch von Platon vorgetragenen und so wirkungsvoll wiederholten – Zweifel an der Wahrheitsfähigkeit der Dichtung und der ästhetisch verselbstständigten Rhetorik vorwegnimmt. Freilich führt das den sophistisch gesonnenen Perikles bei Thukydides nicht dazu, sich seiner Rede auf metaphysischem Wege zu versichern. Sein sophistischer Realismus lässt ihn im Gegenteil auf sinnlich wahrnehmbare Tatsachen, wie die Siegeszeichen und Kolonien Athens, verweisen, um die möglichen Zweifel am Realitätsgehalt seiner Lobrede zu zerstreuen: „zu jedem Meer und Land erzwangen wir uns durch unsern Wagemut den Zugang, und überall leben mit unsern Gründungen Denkmäler unsres Wirkens im Bösen wie im Guten auf alle Zeit“ (II, 41). Die sich in der Periklesrede artikulierende sophistisch aufgeklärte Epideiktik bleibt somit der Immanenz der politischen Lebenswelt und ihren konkreten Machtlagen verhaftet. Sie demonstriert damit augenfällig, was die Sentenz des Gorgias, ‚das Scheinen aber (ist) kraftlos, erlangt es kein Sein‘ eigentlich meint: Erst der Verweis auf die jenseits der Rede allgemein sichtbare politische Realität lässt hier die Lobrede, die die vorbildliche Größe Athens preist, glaubhaft erscheinen und verleiht ihr damit ihre durchschlagende Überzeugungskraft. Insgesamt könnte sich der Blick zurück in die vorplatonische Geburtsepoche der Demokratie für eine Diagnose der neosophistischen Situation der Gegenwart, die ebenfalls die religiösen und metaphysischen Gewissheiten der Vergangenheit zu verlieren scheint, als besonders lehrreich erweisen.19 Schon die antike Sophistik sah sich vor die analoge Aufgabe gestellt, die politische Identität der Demokratie einer risikoreichen endoxalen Welt jenseits metaphysischer Letztbegrün-
|| 19 Zu den Grenzen der sophistischen Mentalität in Antike und Gegenwart vgl. Peter L. Oesterreich, „Die Rhetorik der Metaphysik im Zeitalter neuer Sophistik“, in: Heinrich F. Plett (Hg.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996, 77–88.
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dungen rhetorisch zu begründen. Hinter dem ästhetisierten und entpolitisierten Verständnis der Epideiktik, das bereits in der klassischen Rhetorik vorherrscht, lässt uns die Rückbesinnung auf Gorgias und Thukydides den ursprünglich konstitutiven Zusammenhang von Epideixis und Demokratie wiederentdecken. Damit wird einsichtig, dass die rhetorisch begründete politische Identität der Demokratie langfristig auch vom Gelingen ihrer glaubwürdigen Epideiktik abhängt. Durch sie erneuert sich nämlich jener sittliche Grundkonsens der Bürger, der den topischen Vorrat gemeinsamer Hintergrundüberzeugungen darstellt, in der die deliberative Streitkultur der Demokratie ständig vorausgesetzt, beansprucht und tendenziell auch aufgezehrt wird. Zu den bis heute vorbildlichen Momenten antiker Redekultur, die in der idealtypischen Darstellung der Periklesrede bei Thukydides sichtbar wird, gehört sicher auch das beeindruckende Maß kritischer Selbstreflexivität ihrer politischer Epideiktik. Indem sie das Problem der Differenz von Rede und Realität ausdrücklich selbst thematisiert und entkräftet, grenzt sie sich klug und glaubwürdig von der demagogischen Simulation rhetorischer Omnipotenz ab. Sie setzt damit einen unhintergehbaren Standort rhetorischer Rationalität, der hilft, jenen Verdacht demagogischen Betruges oder simulatorischer Selbsttäuschung zu vermeiden, der traditionell gerade die politische Lobrede belastet. Außerdem schärft sie das kritische Bewusstsein für die Selbstgefährdung der politischen Epideiktik durch die symbolische Gefangenschaft in ihren eigenen Trugbildern, die heute, im Zeitalter symbolischer Politik und medial potenzierter „Dialektik von Verhüllen und Enthüllen“20 sicher nicht geringer geworden ist. Vor allem zeigt die antike Sophistik aber auch, dass eine tragfähige politische „Deutungskultur“21, deren deutliche Wertdifferenzierungen der politischen Praxis in der Demokratie erst ihre Orientierung gibt, keineswegs – wie in der Vergangenheit – als gleichsam naturgegeben vorausgesetzt werden kann, sondern einer eigenen rhetorischen Anstrengung bedarf. Der Vorrat an Gemeinsinn (sensus communis), der in der demokratischen Streitkultur stetig zu schwinden droht, braucht immer wieder die Energie der epideiktischen Beredsamkeit, um sich zu regenerieren. Gerade die Demokratie kann als politische Ordnung nicht allein von der Negativität der Kritik leben, sondern bedarf notwendig auch der Positivi-
|| 20 Josef Kopperschmidt, „Politische Rhetorik statt rhetorischer Politik?“, in: Heinrich F. Plett (Hg.), Die Aktualität der Rhetorik, München 1996, 21–35, hier: 28. 21 Zum Begriff der politischen Deutungskultur vgl. Karl Rohe, „Politische Kultur und der kulturelle Aspekt von politischer Wirklichkeit. Konzeptionelle und typologische Überlegungen zu Gegenstand und Fragestellung Politischer Kulturforschung“, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 18, Opladen 1987, 39–48, hier: 41.
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tät des Lobes, um ihre gefährdete politische Identität in epideiktische Evidenz wiedergewinnen und bewahren zu können. Das Misslingen oder Fehlen glaubwürdiger politischer Epideixis sollte als ein gravierendes Zeichen für die Grundlagenkrise demokratischer Ordnung wahrgenommen werden. Schließlich vermittelt die antike Redekultur am Ende die Einsicht, dass das politische Lob zu den ersten Pflichten demokratischer Redekultur gehört, dessen Vernachlässigung ebenso wie sein demagogischer Missbrauch zu tadeln ist Die Notwendigkeit politischer Epideixis, die die antike Sophistik zu erkennen gibt, stellt sicherlich eine der größten Herausforderungen an die durch methodischen Zweifel geprägte neueuropäische Moderne dar. Sie erinnert das ‚Zeitalter der Kritik‘ nämlich an die zumeist vernachlässigte Pflicht des Lobens. Bei aller Kritik sollte deshalb auch in der modernen Demokratie das antike Gesetz epideiktischen Redehandelns nicht vergessen werden: ‚Man muß was des Lobes wert ist, mit Lob ehren.‘
Das Hervorbrechen des Erhabenen Pseudo-Longins pathozentrische Anthropologie Ausgehend von der persuasionstheoretischen Trias – Ethos, Pathos und Logos – lassen sich drei Grundrichtungen rhetorischer Anthropologie denken, deren frühe Ausprägungen sich bereits in der Antike finden. Die neben der logozentrischen Rhetorik des Aristoteles und dem ethozentrischen Rednerideal Ciceros verbleibende systematische Möglichkeit einer pathozentrischen Anthropologie finden wir paradigmatisch repräsentiert in Pseudo-Longins Schrift Vom Erhabenen. Nach heutigen Erkenntnissen kann die Schrift Vom Erhabenen nicht mehr Cassius Longinos, einem bekannten Rhetor aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., zugeordnet werden. Sie stammt vielmehr von einem unbekannten Autor, der nach vorsichtiger Vermutung ins erste nachchristliche Jahrhundert gehört.1 Die pseudolonginische Schrift wird in die sogenannte „Zeit des Verfalls“ der römischen Beredsamkeit eingeordnet,2 in der die republikanische Beredsamkeit Ciceros und das von ihm vertretene Rednerideal an Glanz verloren haben. Charakteristisch für die Abwendung von der republikanischen Rhetorik in der römischen Kaiserzeit ist die folgende kritische Verurteilung, die Tacitus in seinem Dialog über die Redner formuliert. „Nicht über eine friedvolle und ruhige Sache sprechen wir, die sich über Rechtschaffenheit und Bescheidenheit freut; vielmehr ist jene große und berühmte Beredsamkeit ein Kind der Zügellosigkeit, welche die Dummen Freiheit nennen, die Begleiterin von Aufständen, das Aufputschmittel für ein zügelloses Volk, ohne Gehorsam, ohne Strenge, frech, verwegen, anmaßend, wie sie in wohlgeordneten Staaten nicht entsteht.“3
Das in diesem Verdammungsurteil anklingende Ende der republikanischen Beredsamkeit nimmt die pseudo-longinische Schrift zum Anlass für eine Neubestimmung des Rhetorischen. So verlagert sie den Fokus des rhetorischen Geschehens von der Öffentlichkeit des politischen Forums in die private Lektüre großer Schriftsteller. Parallel zu dieser Verlagerung verschiebt sich der Schwerpunkt der Persuasion vom Ethos des Orators zum Pathos des Rezipienten.
|| 1 Vgl. Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen, hg. v. Reinhard Brandt, Darmstadt 1983, 11 f. 2 Gert Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte. Technik. Methode, Stuttgart/Weimar 31994, 38. 3 Cornelius Tacitus, Dialog über den Redner/Dialogus de oratoribus, hg. v. Dietrich Klose, Stuttgart 1981, 87. https://doi.org/10.1515/9783110527667-015
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1 Die außerordentliche Macht des Erhabenen Der Autor der pseudo-longinischen Schrift stellt fest, „[…] daß das Erhabene jeweils ein bestimmter Höhepunkt und Gipfel der Rede ist und daß die größten der Dichter und Schriftsteller nur hierdurch und durch nichts anderes den Sieg und ihrem Ruhm Unsterblichkeit gewonnen haben.“4
Die gesamte Rhetoriktheorie wird hier auf die Kategorie des Erhabenen zusammengezogen. Die Rhetorik des Erhabenen gestaltet sich geradezu monokategorial und bezieht sich nur auf bestimmte Spitzenformulierungen, deren außergewöhnliche persuasive Energie die Kraft der gewöhnlichen Rede überragt. Im Gegensatz zur klassischen Rhetorik Ciceros wird der Redesieg und der Ruhm des Redners nicht durch das Ganze seiner Rede, sondern nur und ausschließlich durch einige oder sogar nur eine hervorragend gelungene erhabene Gipfelformulierung erwirkt, die den Leser erstaunt, erschüttert, mitreißt, erhebt und schließlich in Bewunderung versetzt. Dabei verlässt die Rhetorik des Erhabenen entschieden den Boden der klassischen überzeugungsorientierten Rhetorik Ciceros oder Quintilians. „Das Übergewaltige nämlich führt den Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase; überall wirkt, was uns erstaunt und erschüttert, jederzeit stärker als das Überredende und Gefällige, denn ob wir uns überzeugen lassen, hängt meist von uns selbst ab, jenes aber übt eine unwiderstehliche Macht und Gewalt auf jeden Zuhörer aus und beherrscht ihn vollkommen.“5
Mit der Kategorie des Erhabenen kehrt die einst vom Sophisten Gorgias gefeierte unwiderstehliche, rational ungezügelte und regellose Gewalt des Persuasiven literarisch verwandelt wieder. Das Erhabene dringt in die geordnete Welt der Zivilisation mit archaischer Gewalt und überwältigender Herrschermacht ein. Die Überwältigung durch das Erhabene, die den Hörer nicht nur zur Überzeugung, sondern zur Ekstase treibt, besitzt dabei einen ambivalenten Charakter. Anders als die Überzeugung, die in der eigenen freien Zustimmung des Hörers besteht, reißt die erstaunliche und erschütternde Macht den Rezipienten mit sich fort und von sich weg. Das mitreißende Pathos des Erhabenen negiert somit die distanzierte Selbstständigkeit des Rezipienten und versetzt ihn in das Außersich-sein der Ekstase. In dieser Hinsicht erweist sich das Erhabene einerseits als
|| 4 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 1,3. 5 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 1,4.
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eine gewalttätige, zerstörerische Macht, die die rationale Selbstkontrolle des Individuums vernichtet. Auf der anderen Seite befreit sein unwiderstehliches Pathos die Subjektivität des Adressaten gerade durch die Verrückung in einen ekstatischen Ausnahmezustand von seinem gewöhnlichen Selbst und seinen beschränkten individuellen Ansichten. Das Erleben des Erhabenen enthebt den Menschen seiner Alltäglichkeit und ermöglicht eine von überindividuellem Enthusiasmus getragene Selbsttranszendenz. Dabei macht das Pathos des Erhabenen nach Pseudo-Longin nicht blind, sondern auf neue Art sehend. Denn die Hochstimmung der Begeisterung und Bewunderung eröffnet eine ekstatische Einsicht in die Objektivität des wahrhaft Großen, das sich allen bloß subjektiven Ansichten und Wertungen überlegen erweist. Indem das Erhabene – im Gegensatz zum bloß Überzeugenden oder Gefälligen – eine unwiderstehliche PathosWirksamkeit entfaltet, der sich niemand zu entziehen vermag, bezeugt es für Pseudo-Longin seine für alle Menschen verbindliche Objektivität. Jenseits aller individueller Verschiedenheit des Urteils oder des ästhetischen Empfindens stellt sich das Erhabene als eine alle Menschen gemeinsam betreffende und gerade im Pathos vereinigende und dadurch gemeinschaftsstiftende Macht dar.
2 Der Vorrang der großen Natur vor der Kunstregel Das Erhabene entsteht nicht als Resultat eines sich kontinuierlich aufbauenden Redeganzen, sondern bricht punktuell an einzelnen Passagen oder Stellen hervor. Seine Plötzlichkeit durchbricht das gewöhnliche Zeitkontinuum. Punktuell und augenblickshaft tritt es im Kairos hervor und entfaltet dort seine außergewöhnliche persuasive Dynamik. „Das Erhabene aber, bricht es im rechten Moment hervor, zersprengt alle Dinge wie ein Blitz und zeigt sogleich die gedrängte Gewalt des Redners.“6 Das Erhabene gleicht der Blitzmacht des Zeus. Dabei verweist die Blitzmetaphorik wiederum auf seinen ambivalenten, erhellend-zerstörenden Charakter. Einerseits verdunkelt das Erhabene das alltägliche Bewusstsein und seine gewöhnliche Weltwahrnehmung. Auf der anderen Seite erhellt es ekstatisch die Dinge und den Weltzusammenhang in einem völlig neuen Licht. Diese Welt- und Daseinserhellung geschieht nicht in einer durch längere Rede methodisch erzeugten diskursiven Erkenntnis, sondern in der Form schlaghafter intuitiver Einsicht. Hier potenziert sich im Kairos die persuasive Macht des Red|| 6 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 1,4.
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ners. Die erstaunliche Wirkung des Erhabenen kann gerade nicht durch eine kunstfertige und geschickte Disposition des Redeganzen sukzessiv und akkumulativ erzeugt werden, sondern muss mit plötzlicher Explosion persuasiver Energie hervorbrechen. Es geht aus einer durch bloße Kunstregeln unerklärlichen Intensivierung der schöpferischen Kräfte vonseiten des Redners oder Schriftstellers hervor. Die Hauptursache der Rhetorik des Erhabenen bildet deshalb nach PseudoLongin nicht die artifizielle Formung der Rede, sondern die große Naturanlage des Redners oder Schriftstellers. Im Gegensatz zur klassischen antiken Rhetorik dominiert bei Pseudo-Longin die Natur (natura) gegenüber der Kunst (ars). Das Erhabene wird gerade nicht primär durch die allgemein lehr- und lernbare Kunstfertigkeit eines Autors, sondern durch die angeborene Kraft seines Ingeniums hervorgebracht. In der pseudo-longinischen Schrift bekundet sich so bereits eine antike ‚Genierhetorik‘. Sie relativiert die Kunstregeln der klassischen Rhetorik bis hin zur Frage „ob es so etwas gibt wie eine Kunstlehre des Erhabenen oder (gar) des Pathos“7. Wenn nämlich die Natur allein die Quelle großer Empfindungen und Leidenschaften wäre, dem die erhabene Rede entspringt, würde sich die Regelrhetorik als unzureichend erweisen. „Denn die große Naturanlage entspringt, so heißt es, der Natur und läßt sich durch Lernen nicht erwerben; dafür gibt es nur eine Vorschrift: mit ihr geboren zu sein.“8 Von den fünf Quellen der erhabenen Rede, die Pseudo-Longin nennt, entspringen die ersten beiden und wichtigsten der Naturanlage: Gemeint sind erstens die Kraft zur großen gedanklichen Konzeption und zweitens das starke und begeisterte Pathos. Es folgen die drei anderen Quellen, die auch durch Kunst erlernt werden können: die Gedanken- und Sprachfiguren, die edle Ausdrucksweise und schließlich die würdevoll-hohe Satzfügung. Zwar erkennt auch Pseudo-Longin damit die Berechtigung der rhetorischen Kunstlehre an, allerdings mit einem starken Akzent auf der Erkenntnis, dass sie nicht wirklich wie die Natur produktiv ist, sondern nur kritisch und regulativ. Auch die Rhetorik des Erhabenen bedarf der Methode, um das rechte Maß zu treffen sowie einer sicheren Schulung in Anwendung der Stilmittel. Gerade die große leidenschaftliche Natur benötigt die Kunst, um sich zu mäßigen. Ausdrücklich weist die pseudo-longinische Schrift darauf hin,
|| 7 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 2,1. 8 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 2,1.
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„[…] daß große Naturen mehr gefährdet sind, wenn man sie ohne Wissen schwankend und schwerelos sich selber und ihrem blind verwegenen Drang überläßt, denn häufig bedürfen sie zwar des Sporns, aber genauso auch des Zügels.“9
Es ist die kunstverständige Urteilskraft, die die große leidenschaftliche Natur zu mäßigen und zu zügeln versteht und so etwa ihren Absturz aus dem Erhabenen ins Lächerliche oder Komische verhindert. Das Verhältnis von Natur und Kunst sei nämlich analog zu dem von Glück und verständiger Einsicht im Leben: „Was nämlich Demosthenes vom allgemeinen Leben der Menschen äußert – das größte Gut sei, Glück zu haben, das zweite, nicht geringere, sei verständige Einsicht, und wem die fehle, den verlasse auch das Glück gänzlich –: das ließe sich auch von der Literatur sagen, wobei die Natur die Stelle des Glücks, die Kunst die der Einsicht einnimmt.“10
Die erhabene Rede gründet nach Pseudo-Longin vor allem in der hohen Gesinnung und enthusiastischen Stimmung ihres Autors. Dies setzt in ihm eine Seelengröße voraus, die jene großen Gedanken und Gefühle produziert, die sich im erhabenen Ausdruck artikulieren. Allerdings steht diese Seelengröße wie alles Große im Kontrast zum Alltäglichen und Gewöhnlichen. Sie weist sich gerade durch die Verachtung desjenigen aus, was die Normalität für groß erachtet, z. B. Reichtum, Ehre, Ruhm und politische Macht. Der Verzicht auf alltägliche Scheingröße zeichnet somit den erhabenen Redner aus. „Der wirkliche Redner darf nicht niedrig und gemein gesinnt sein. Denn wer sein ganzes Leben hindurch Kleinliches denkt und betreibt wie ein Sklave, kann tatsächlich nichts hervorbringen, was bewundernswert und würdig ist, die ganze Weltzeit zu bestehen.“11
Nur aus dieser Seelengröße – so Pseudo-Longin – vermag der wahrhaft erhabene Stil zu entstehen, der auch literarisch auf willkürliche Zutaten und jede Form von Scheingröße und hohlem Blendwerk verzichtet. Wie kann aber der Hörer bzw. der Leser das wahrhaft Erhabene erkennen und vom Pseudo-Erhabenen unterscheiden? Zunächst aus seiner Pathos-Wirksamkeit: So bezeugt sich das Erhabene durch die gehobene, begeisterte Stimmungslage, in der es den Hörer bzw. den Leser versetzt. „Denn von Natur wird unsere Seele vom wirklich Erhabenen emporgetragen, sie empfängt einen freudigen Auftrieb und wird erfüllt von Lust und Stolz, als habe sie, was sie hörte, selber er-
|| 9 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 2,2. 10 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 3,2. 11 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 9,3.
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zeugt.“12 Die Seelengröße und die hohe Gesinnung bzw. Stimmung des Autors überträgt sich vermittels der erhabenen Literatur auf den Leser. Es ist diese den Leser erhebende Stimmungssteigerung, die Begeisterung und der Enthusiasmus, der die erhabene Literatur kennzeichnet. Dieses Kriterium des Versetztwerdens in die Hochstimmung und Begeisterung dient allerdings auch zur Kontraindikation: Weckt eine Rede nach mehrmaligem Hören bei einem literarisch kenntnisreichen Hörer nicht jene enthusiasmierte Hochstimmung oder sinkt der Eindruck, den sie zuerst bewirkte, immer mehr ab, so kann es sich hier um nichts wirklich Erhabenes handeln: „Wenn jemand, der klug und literarisch gebildet ist, etwas wiederholt anhört und nicht in eine hohe Stimmung versetzt wird und auch beim Überdenken nichts als das gerade Gesagte in seinem Verstand haftet, wenn es im Gegenteil, betrachtest du es nur aufmerksam und lange, absinkt und immer mehr verliert, dann kann es, nicht länger als der Klang im Ohr bewahrt, kaum etwas wirklich Erhabenes sein.“13
Dagegen ist das wahrhaft Erhabene als das objektiv Große nicht vom subjektiven Urteil des Rezipienten abhängig. Trotz häufiger prüfender Betrachtung kann man sich seiner Wirkung unmöglich entziehen und sein Eindruck bleibt unauslöschlich erhalten. Daher ist nur das wahrhaft und vollkommen erhaben, „[…] was jederzeit einem jeden gefällt. Wenn nämlich Menschen von verschiedener Tätigkeit und Lebensweise, verschiedenem Interesse, Alter und Denken zugleich alle ein und dasselbe über dasselbe meinen, so läßt das zustimmende Urteil so ungleich gestimmter Zeugen das Vertrauen in den Wert des Bewunderten stark und unumstößlich werden.“14
3 Pathos und rhetorische Evidenz Von den insgesamt fünf Quellen der Rhetorik des Erhabenen sind es – wie gesagt – die ersten beiden auf der Naturanlage beruhenden Quellen – die Kraft zur großen Gedankenkonzeption und das starke, begeisterte Pathos –, auf der die Rhetorik des Erhabenen beruht. Dabei kann sich das Erhabene als Widerhall der großen Seele, die unsere Bewunderung herausfordert, wie Pseudo-Longin ausdrücklich betont, auch in einer Rhetorik des Schweigens manifestieren: So sei das Schweigen des Aias in der Totenbeschwörung in seiner Größe erhabener als
|| 12 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 7,2 f. 13 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 7,3. 14 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 7,3 f.
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alles, was Rede bewirke. Ansonsten manifestiert sich das Erhabene auf zweifache Weise: erstens in Textstellen von straff-gespanntem erhabenen Ausdruck und zweitens in Passagen von fortschwemmendem Redestrom. Demosthenes ist hier für Pseudo-Longin ein hervorragendes Beispiel für die Erzeugung des Erhabenen im Augenblick der Emphase durch den straff-gespannten Ausdruck, dessen drängende Leidenschaft den Hörer stark erschüttert. Ein Beispiel für das ‚Fortschwemmen‘ finde sich dagegen bei Platon, dessen Rede, die gleichsam in einem geräuschlosen Strome dahinfließe, sich an einigen Stellen zur erhabenen Größe steigere. Pseudo-Longin bezieht sich hier auf folgende Stelle aus der Politeia: „Die Menschen […], die nicht Vernunft und Tugend kennen und sich dauernd Gelagen und ähnlichen Genüssen hingeben, werden, wie es scheint, abwärts getrieben und irren so durch ihr Leben. Niemals haben sie hinaufgeschaut zum Wahren, nie wurden sie emporgehoben; eine beständige und reine Freude haben sie nicht genossen, sondern sie blicken ewig wie das Vieh zu Boden, vornüber auf die Erde und ihre Tische gebeugt mästen sie sich beim Fraß und huren herum, und um ihre Gier zu befriedigen, treten und stoßen sie sich mit eisernen Hörnern und Hufen und töten sich in ihrer Unersättlichkeit.“15
Das rhetorische Hauptmittel zur pathoswirksamen Darstellung des Erhabenen ist nach Pseudo-Longin die Bilderzeugung oder imaginative Vergegenwärtigung (phantasia). Durch diese psychagogische Technik der rhetorischen Veranschaulichung wandelt sich die Rede des Autors in die innere Schau des Hörers oder Lesers. Die rhetorische Evidenz lässt das Erhabene für den Hörer oder Leser geradezu leibhaftig, in pathoswirksamer sinnlicher Unmittelbarkeit erscheinen. Die Evidenz der rhetorischen Bilderzeugung bewirkt, dass der Hörer – „fortgerissen von Begeisterung und Leidenschaft – das zu erblicken scheint, was man schildert“16. Allerdings gestaltet sich diese rhetorische Evidenz bildhafter Vergegenwärtigung beim Dichter anders als beim Redner. Während die Dichtung auf die Erschütterung zielt, ist die primäre Aufgabe des Redners die eindringlich klare Darstellung. Das von Pseudo-Longin thematisierte Erhabene kann weder in der empirischen noch in der rein geistigen Welt vorgefunden werden, sondern gehört der symbolischen Welt der rhetorischen Evidenz an. Dabei erlangt die rhetorische Vergegenwärtigung ihre maximale Kraft, wenn ihre bildhafte Sprache von sachlicher Argumentation begleitet wird.
|| 15 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 13,1. 16 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 15,1.
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„Sie kann den Worten auf vielfache Art Kraft und Pathos verleihen; ist sie jedoch in eine sachliche Argumentation verwoben, überredet sie den Zuhörer nicht nur, sondern macht ihn sich willenlos hörig.“17
Die geradezu bannende Macht, welche die Darstellung des Erhabenen über den Zuhörer gewinnt, erzeugt sich somit aus der Verbindung von imaginativer und rationaler Präsentation. In diesem Parallelismus liegt das eigentliche Geheimnis der Rhetorik des Erhabenen. Der sachliche Beweis allein würde nur überzeugen können. Zusammen mit der bildhaften gefühlswirksamen Imagination, die die bloßen Tatsachen überstrahlt, steigert sich die Überzeugung des Hörers zur Überwältigung: „Der Redner hat etwas sachlich bewiesen und zugleich vergegenwärtigt und so mit diesem Gedanken die Grenze des bloßen Überzeugens verlassen. Wohl von Natur hören wir in allen diesen Fällen jeweils das Stärkere; Vom logischen Beweis werden wir fortgezogen zu dem, was uns in der Vergegenwärtigung überwältigt, wodurch der bloße Tatbestand verhüllt und überstrahlt wird.“18
Insgesamt finden wir bei Pseudo-Longin ein hervorragendes Beispiel pathozentrischer Rhetorikkonzeption, die der überzeugungsorientierten klassischen Rhetorik eine überwältigungsorientierte Rhetorik des Erhabenen entgegensetzt. In ihrer pathozentrischen Anthropologie bringt sie gegen das ursprünglich menschliche Interesse an individueller Freiheit und Selbstbestimmung das scheinbar ebenso ursprüngliche Bedürfnis nach Ekstase und Selbsttranszendenz im enthusiastischen Erleben absoluter Größe zur Geltung. Die pseudo-longinische Schrift weist somit auf eine fundamentale anthropologische Bipolarität hin, die sich durch Oppositionstopoi wie ‚Normalität contra Außergewöhnlichkeit‘, ‚Regel contra Ausnahme‘ oder ‚kritische Distanziertheit contra begeisterte Ekstase‘ charakterisieren lässt. Diese Ambivalenz bewirkt, dass sich das menschliche Leben zwischen rational kontrollierter, individueller Selbstverortung in regelhafter Normalität und der Sehnsucht nach punktueller, ekstatischer Selbstüberschreitung auf das außerordentlich Große und Erhabene hin und her bewegt.
|| 17 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 15,9. 18 Pseudo-Longinos, Vom Erhabenen (Anm. 1), 15,10 f.
Herders rebellischer Abschied von Kant Autoinvenienz und interne Rhetorik in seiner Metakritik Herders in seinem „Kampf gegen den Kantianismus“1 verfasste Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft von 1799 scheint zu den inkommensurablen Produktionen der Philosophiegeschichte zu gehören. Schon früh hat ihre Rezeptionsgeschichte eine Gespaltenheit Herders in den seriösen Philosophen und Kantkritiker einerseits und in den problematischen Polemiker andererseits bemerkt. Auf der einen Seite wurde Herder schon als ein zweiter „Nizolius oder humanistischer Reformator der Philosophie“2 gefeiert. Hinzu kommt die von der neueren Herderforschung in den letzten Jahrzehnten positiv herausgestellte philosophiegeschichtliche Bedeutung seines bereits Ende des 18. Jahrhunderts vollzogenen metacritical turn3. Auf der anderen Seite beeinträchtigt das „oft schrecklich Polemische“4 seiner gegen Kant gerichteten Metakritik, welche auf respektlose Weise gegen das Decorum seriöser wissenschaftlicher Auseinandersetzung verstößt, bis heute die Rezeptionsgeschichte der Herder’schen Metakritik und macht selbst seine Freunde oft ratlos. Die Spuren dieser schon früh geäußerten Ratlosigkeit angesichts der Gespaltenheit des metakritischen Herder in den seriösen Sprachmetakritiker einerseits und in den peinlichen Polemiker andererseits lassen sich bis heute verfolgen. So beschreibt Hans Dietrich Irmscher in seinem Kommentar zur Metakritik die fragwürdige Art und Weise der Herder’schen Auseinandersetzung mit Kant als ein doppeldeutiges Verfahren, das zwischen durchaus bemerkenswerter eigener „Darlegung philosophischer Sachverhalte“ (FHA 8, 1135)5 und einer fragwürdigen, polemischen Paraphrase schwanke, bei welcher „dem Kritiker, ob aus Gründen der Eile, aus fehlender Einsicht oder mit Absicht, nicht selten eklatante Mißverständnisse unterlaufen“ (FHA 8, 1135).
|| 1 Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Herder, Hamburg 82002. 2 J. G. v. Herders sämmtliche Werke. Zur Philosophie und Geschichte. Vierzehnter Theil, Carlsruhe: Buereau d. dt. Classiker 1820, VII. 3 John H. Zammito/Karl Menges/Ernest A. Menze, Johann Gottfried Herder Revisited. The Revolution in Scholarship in the Last Quarter Century, in: Journal of the History of Ideas 71 (2010), 661–684, hier 670. 4 J. G. v. Herders sämmtliche Werke (Anm. 2), VII. 5 Hier und im Folgenden wird zitiert nach: Johann Gottfried Herder. Werke in zehn Bänden, hg. v. Günter Arnold u. a., Frankfurt a. M. 1985–2000 (FHA). Die Seitenangaben stehen direkt im Text. https://doi.org/10.1515/9783110527667-016
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Diese hermeneutische Ratlosigkeit angesichts der Tatsache, dass sich im Text der Metakritik die seriöse Stimme des Metakritikers mit der respektlosen Stimme des unhöflichen Pararhetorikers auf scheinbar unverträgliche Weise vermischen, legt den Interpreten eine selektive Interpretationsstrategie nahe, welche die peinlichen, polemischen Passagen weitgehend ignoriert und sich auf die unanstößigen, systematischen Aussagen des Textes konzentriert. Dieser hermeneutische Kunstgriff einer purifizierenden Abspaltung des polemischen Pararhetorikers vom seriös argumentierenden Sprachmetakritiker produziert zwar ein einseitiges Herderporträt, hat aber zweifellos einen unbestreitbaren rezeptionsgeschichtlichen Vorteil: Er bietet den wohlmeinenden Interpreten die Chance, einen von abschreckender Polemik bereinigten Herder präsentieren zu können, der sich auf dem Kampfplatz der Philosophiegeschichtsschreibung endlich mit Kant als attraktiv und konkurrenzfähig erweist. Dagegen werde ich im Folgenden versuchen, einmal den umgekehrten Weg zu beschreiten, in der Hoffnung, wenigstens ein Stück des ‚ganzen Herder‘ als durchaus anstößigen, zwiespältigen und polypersonalen Autor zu Gesicht zu bekommen. Selbst unter dem Risiko erneuter Irritationen wage ich es daher, der vernachlässigten Stimme des provozierenden und gegen Kant außerordentlich respektlosen Pararhetorikers erneut Gehör zu verschaffen.
1 Metakritischer Protestantismus: AntiScholastik, Anti-Artistik, Anti-Ludistik und AntiPhantastik Dass die Kant gegenüber äußerst respektlose und polemische Pararhetorik seiner Metakritik nicht nur ein zu vernachlässigendes, akzidentelles Beiwerk bildet, gibt Herder sogleich in ihrer Vorrede zu verstehen. Hier findet sich folgende Definition seines gesamten metakritischen Vorhabens: „Protestantismus ist also die Metakritik; sie protestiert gegen jedes der Vernunft und Sprache eben so unkritisch als unphilosophisch aufgedrängte Satzungenpapsttum; sie protestiert gegen die dialektischen Nebelkünste der Hägsa.“ (FHA 8, 313)
Zunächst besagt diese Definition, dass der Redemodus des Protestes (‚sie protestiert gegen‘) die philosophische Rede der Metakritik durchgängig bestimmt. Herders Metakritik versteht sich somit als eine die Grenzen des schulphilosophischen Diskurses transzendierende und sich „an eine Nation unparteiischer Leser“ (FHA 8, 310) wendende popularphilosophische Rhetorik des Protestes, deren radikal-
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kritische Aufklärung sich prinzipiell gegen jede Form des Dogmatismus richtet. Diejenige Geisteshaltung oder, rhetoriktheoretisch gesprochen, das Ethos des Autors, welches diese Protestrhetorik der Metakritik hervortreibt, wird ferner als ‚Protestantismus‘ bezeichnet. Dieser Herder’sche ‚Protestantismus‘ in dem hier metakritisch erweiterten Sinne zielt auf ein von christlich-religiösen Gehalten der Bibel und der finiten historischen Situation des Reformationszeitalters sich ablösendes philosophisches Ethos. Dies schließt freilich nicht aus, dass Herder in seinem antidogmatischen Kampf gegen Kant – wie seine polemische Metapher des ‚Satzungenpapsttums‘ andeutet – sich literarisch als eine Art zweiter Luther inszeniert. Dem topischen Anknüpfungsprinzip entsprechend, bietet die literarische Maske des antipapistischen und antischolastischen Reformators ein bei seinem zeitgenössischen, deutschen Publikum erfolgversprechendes Rollenmodell für seine philosophische Metakritik an Kant. Diese lutherisch modellierte literarische Kunstfigur des polemischen Protestanten stattet Herder – wie auch sein eigens eingefügtes Kapitel Leibnitz über Philosophie in der deutschen Sprache bezeugt – zudem mit einigen Zügen des rhetorikaffinen Sprachhumanisten Marius Nizolius aus, um der anti-scholastischen Stimme Luthers zusätzlich jene sprachkritische Akzentuierung zu verleihen, welche geradezu das Proprium seiner Metakritik ausmacht. Die Anti-Scholastik des protestierenden Metakritikers entspringt wohl dem Eindruck Herders, dass mit Kant und seiner „kritische[n] Schule“ (FHA 8, 310) eine wieder mit absoluten Geltungsansprüchen auftretende Neoscholastik entstanden sei. Schon früher hatte Herder daher den schulphilosophischen Kant spöttisch als „Hrn Magistro VII. artium“6 bezeichnet. Insgesamt gesehen lässt sich das von Herder an den Rollenmodellen Luther und Nizolius geformte polemische Ethos des metakritischen Protestanten durch vier ethologische Topoi charakterisieren. Dazu gehört neben der bereits erwähnten Anti-Scholastik zweitens die Anti-Artistik, drittens die Anti-Ludistik und schließlich viertens die Anti-Phantastik. So beschuldigt der anti-artistisch polemisierende Herder seinen einstigen Lehrer Kant und seine Schule der „falschen Vernunftkunst“ (FHA 8, 510), welche angeblich der „Nation ihre Sprache verkünstelt“ (FHA 8, 313). Ferner verteidigt der anti-ludistische Protestant die „Sprache ernster Männer“ (FHA 8, 372) gegen die vermeintliche „falsche Sprachmeisterin“ (FHA 8, 511) der Transzendentalphilosophie, welche durch ihr „dialektisches Spielwerk“ (FHA 8, 511) lediglich Produkte eines „Wortspielenden Schattenverstandes“ (FHA 8, 427) erzeuge.
|| 6 Kantzenbach, Herder (Anm. 1), 100.
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Schließlich erklärt der polemische Pararhetoriker in seinem anti-phantastischen Furor Kants kritische Philosophie in toto zu einer „Transzendental-Dichtung“ (FHA 8, 356) und gar zu einer „Imaginationsbude“ (FHA 8, 1125), deren „Letternphantasmen“ (FHA 8, 466) und „Wortlarven […] alle Philosophie abschneidet und nur Figmente möglich macht, Figmente ex nullis ad nulla“ (FHA 8, 343). Auch wenn Herder hier unter der Maske eines Luther-Nizolius durchaus an bewährte Topoi protestantischer und humanistischer Polemik anknüpft, stellt sich dem heutigen rhetorischen Metakritiker dennoch die Frage, was ihn eigentlich dazu getrieben haben mag, gegenüber Kant eine solche, maßlos wirkende und geradezu tollkühn ins Indecorum abgleitende pararhetorische Aggressivität an den Tag zu legen. Herders eigene, ebenso kurze wie überraschende Antwort lautet: „sie protestiert gegen die dialektischen Nebelkünste der Hägsa“ (FHA 8, 313). Mit diesem zunächst kryptischen Namen ‚Hägsa‘ gibt uns Herder gleichsam den Schlüssel in die Hand, der den Eingang zu der generativen Tiefendynamik seiner Metakritik erschließt. So führt er tiefer hinein in die Vorrede der Metakritik, wo der Autor in der allegorisch verschlüsselten Form eines nordischen Kunstmythos den kundigen Leserinnen und Lesern das autoinventive Geheimnis seiner Metakritik an Kant verrät.
2 Hägsa oder der dogmatische Zauber Kants In der Vorrede zu seiner Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft tritt der Autor seinem Leserpublikum nicht mehr als sprachhumanistisch gebildeter Lutheraner, sondern in der gewandelten Gestalt des nordischen Neomythologen entgegen. Der Protagonist seines allegorischen Vorspiels zu seiner Metakritik ist ein von seiner „Reise ins Tal der akademischen Weisheit […] vorm Eingang desselben ermatteter Jüngling“ (FHA 8, 305). Im Traum erscheint dem schlafenden Jüngling, so erzählt der Autor unter Berufung auf eine „alte nordische Chronik“ (FHA 8, 305) seine Saga weiter, der „allenthalben umherziehende, spähende Gedanke, Hugo“ (FHA 8, 305). Der angeblich mit Odins Weisheit begabte Genius Hugo gibt sodann dem Jüngling im Traum einen dreifachen Ratschlag, den dieser sich wie Runen in sein Gedächtnis einprägen soll: „Zuerst. Lerne kennen, ehe du entscheidest. […] Zweitens. Verstehe was du hörest. […] Drittens. Dir selbst lerne, keinem andern“ (FHA 8, 305 f.). Dann, gleich nach dem Verschwinden Hugos lässt Herder noch eine zweite, antagonistische Traumgestalt auftreten, die „Unholdin […] Hägsa, die bekannte Zauberin“ (FHA 8, 306), die den Geist des schlafenden Jünglings dreifach zu ver-
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hexen sucht. Dreimal bezeichnete sie ihn mit schnellen Worten: „dies für die Sinnenwelt! dies für den Verstand! dies für die Vernunft!“ (FHA 8, 307) Spätestens nach den zweideutigen Sprüchen, welche die Zauberin dem schlafenden Jüngling anbietet, wird dem Leser klar, dass Hägsa nichts anderes darstellt als eine Allegorie der bereits oben genannten ‚falschen Sprachmeisterin‘ Kants, welche den dogmatischen Zauber der Kritik der reinen Vernunft erwirkt. Zu den Werkzeugen ihrer philosophischen Zauberkunst, welche Hägsa dem weisheitsuchenden Jüngling anbietet, gehören zunächst das „kleine Rohr“ (FHA 8, 307), aus dem sich die Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, die Kategorien und Postulate alles Denkens herausblasen lassen. Sodann ist da ein „Kasten voll schöner Bilder“ (FHA 8, 307), in welchem alle Gegenstände der Welt und „das wahre Bild der Vernunft als ein mit sich selbst kämpfendes Nordlicht“ (FHA 8, 307) erscheinen. Ferner enthält er „ein Messer zum Zerspalten, voll magischer Kraft“ (FHA 8, 308), welches als „philosophische[s] Messer a priori“ (FHA 8, 308) dem kritischen Idealisten dazu dient, aus bloßen Begriffen zu urteilen. Schließlich, nicht zu vergessen, ist da noch „die Disziplinargeißel für die reine Vernunft“ (FHA 8, 308), die der kritische Idealist nur gegen andere, aber nicht gegen sich selbst schwingt. Schon früher hatte sich Herder mehrfach gegen die „Konjunktur der Magie im Zeitalter der Aufklärung“7 geäußert. Nun lässt er im nordischen Kunstmythos der Vorrede zu seiner Metakritik den in seinen Augen falschen dogmatischen Zauber, der von Kants Kritik der reinen Vernunft ausgeht, in der neomythologischen Figur der Hägsa den Lesern plastisch vor Augen treten. Dass Herder hier das metaphilosophische Programm seiner Metakritik, welche auf die radikale Entzauberung und Entmythologisierung des Kantianismus zielt, ausgerechnet in die literarische Gestalt eines nordischen Mythos hüllt, spricht zunächst für den Witz und die Versabilität des Autors. Denn seine „Metakritik der Vernunftkritik“ (FHA 8, 309) versteht sich im Gegenteil als selbstkritisch potenzierte Aufklärung. Sie versucht gerade die Magie und den dogmatischen Zauber zu entlarven und zu bannen, welche für Herder gleichsam als ‚Verhexung‘ von Sprache und Verstand von Kants Kritik der Vernunft auszugehen scheint. Dabei schreibt Herder in seiner Metakritik von 1799 nicht nur gegen Kants Kritik der reinen Vernunft an, sondern auch gegen die wirkungsgeschichtliche Macht, welche der Kantianismus durch Fichte gewonnen hatte, der seit seinem kometenhaften Auftreten mit seiner Wissenschaftslehre von 1794/95 die philosophische Szene Jenas beherrschte. Offensichtlich noch erhitzt vom Atheismusstreit erklärt Herder: „Aller Fichtianismus muß weg“ (vgl. FHA 8, 1185). Jene
|| 7 Marion Heinz, Herders Metakritik, in: Dies. (Hg.), Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus, Amsterdam/Atlanta 1997 (Fichte Studien 8), 89–106, hier: 89.
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transzendentalphilosophische ‚Revolution der Denkart‘, welche von Kants Kritik der reinen Vernunft ausging und in Gestalt der frühen Wissenschaftslehre Fichtes in den 1790er Jahren mit geradezu magischer wirkungsgeschichtlicher Gewalt die philosophische Szene Jenas beherrschte, lässt Herder die Hexen in Shakespeares Macbeth zitieren: „The charm’s wound up“ (FHA 8, 311). Die hier vielleicht naheliegende Deutung, welche unterstellt, dass der inmitten des Atheismusstreits in Rage geratene Generalsuperintendent unter dem allegorischen Deckmantel eines von ihm selbst fingierten nordischen Pseudomythos dem gesamten von Kant ausgehenden kritischen Idealismus einen literarischen Hexenprozess bereiten will, übersieht die bis in die antike Sophistik zurückreichende Problematik der Hägsa-Figur, welche sich in folgender Invektive Herders gegen Kant andeutet: „Fiction ist nicht Philosophie; was sollen mir alle Protagoraskünste?“ (FHA 8, 1129) Mit der Kunstfigur der Hägsa, welche die zauberische Sprachmacht des Meisterdenkers repräsentiert, rekurriert Herder zwar auch auf die Hekate-Kunst der drei Hexen aus Shakespeares Macbeth, welche die moralische Ordnung des Universums in ihr Gegenteil zu verwandeln vermag: „Fair is foul and foul is fair“ (FHA 9, 311). Darüber hinausgehend gibt Herder seinem Vorwurf hexerischer Sprachmagie eine antisophistische Wendung, indem er Kant in die Nähe Protagoras’ rückt. Mit dem Hinweis auf die angeblichen ‚Protagoraskünste‘ Kants spielt er auf die vermeintliche Magie der sophistischen Redekunst an, die sich rühmt, je nach Belieben den jeweils schwächeren Logos in den stärkeren und umgekehrt verwandeln zu können. Insgesamt gesehen verkörpert die Figur der Hägsa als ‚falsche Sprachmeisterin‘ Kants die Verkehrung der Aufklärung in ihr neodogmatisches Gegenteil. Später werden Horkheimer und Adorno diese von Herder bereits hier angesprochene dogmatische Depotenzierung der Aufklärung als eine negative Dialektik der Philosophiegeschichte beschreiben, der gemäß jede Aufklärung dazu tendiert, wieder in Mythos umzuschlagen. Wie weit der durch Kant begründete kritische Idealismus um 1800 bereits in einen neuen Wissenschaftsmythos umgeschlagen war, zeigt Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie. Dieser wähnt, dass die auch schon vom sogenannten Systemprogramm des deutschen Idealismus gesuchte ‚Neue Mythologie der Vernunft‘ bereits „in dem großen Phänomen des Zeitalters, im Idealismus“8, Wirklichkeit geworden sei. Der von Kant und Fichte erschaffene Idealismus sei „gleichsam wie aus Nichts entstanden“9 und werde sich, „nachdem in der Geisterwelt ein fester Punkt construiert“ sei, „nach allen
|| 8 Athenaeum. Eine Zeitschrift, hg. v. August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd. 3. Reprograph. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1800, Darmstadt 1983, 97. 9 Athenaeum (Anm. 8), 97.
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Seiten mit steigender Entwicklung“10 unaufhaltsam ausbreiten. Der Idealismus sei so selbst, „in seiner Entstehungsart ein Beyspiel für die neue Mythologie“11. In einer geradezu prophetischen Vision stilisiert Schlegel schließlich die von Kant ausgehende und von Fichte vorangetriebene ‚Revolution der Denkart‘ als eine wissenschaftsgeschichtlich unwiderstehliche Macht: „Alle Wissenschaften und alle Künste wird die große Revolution ergreifen.“12 Der von Kant ausgehende und von Fichte in Jena mit überragendem Lehrerfolg weiterentwickelte kritische Idealismus gewinnt hier in den Augen der Frühromantiker einen geradezu mythischen Kultstatus. Es ist gerade die ungeheure wirkungsgeschichtliche Dominanz dieses von den Frühromantikern gefeierten idealistischen Wissenschaftsmythos, gegen den Herder in seiner Metakritik protestiert. Anstatt sich auch „vom Zauberstabe“13 dieses in Jena durch Fichte triumphierenden Wissenschaftsmythos berühren zu lassen, rebelliert er gegen die neudogmatische Gewalt seiner absoluten Geltungsansprüche, indem er dessen philosophiegeschichtlichen Quellpunkt, Kants Kritik der reinen Vernunft, einer radikalen Metakritik unterzieht. So gesehen lässt sich Herders Metakritik an Kant als Versuch verstehen, den Bann des wirkungsgeschichtlichen Zaubers des kritischen Idealismus durch die Entzauberung seiner Quelle, nämlich Kants Kritik der reinen Vernunft zu brechen. Das im dogmatischen Wissenschaftsmythos ‚Idealismus‘ depotenzierte kritische Potential der Aufklärung soll hier in der neuen selbstkritischen Form der Sprachmetakritik restituiert werden. Herders Metakritik verweist damit auf die negative Dialektik der Philosophiegeschichte, der gemäß selbst radikale Aufklärer und Selbstdenker schließlich auf dem externen rhetorischen Forum ihrer Wirkungsgeschichte zu Opfern ihres eigenen Lehrerfolges werden. So entgeht auch Kant nicht dem Schicksal, ausgerechnet durch die persuasive Übermacht seiner eigenen „‚doctrinalen‘ Rezeption“14 unwillkürlich in einen neuen Dogmatiker verwandelt zu werden. „Wider ihren Willen sind alle Selbstdenker Despoten; sie drängen, was sie dachten, mit Macht auf“ (FHA 8, 305). Seine Metakritik lässt sich somit zunächst ganz im Sinne der neueren Herderforschung nicht als Gegenaufklärung, sondern ganz im Gegenteil als sprachmetakritische Restitution der Aufklärung verstehen, welche durch ihren eigenen wirkungsgeschichtlichen Erfolg das scheinbar unausweich|| 10 Athenaeum (Anm. 8), 97. 11 Athenaeum (Anm. 8), 99. 12 Athenaeum (Anm. 8), 99. 13 Athenaeum (Anm. 8), 97. 14 Markus Buntfuß, Protestantismus ist also die Metakritik. Zu Herders nach-theistischer Religionstheologie, in: Marion Heinz (Hg.), Herders ‚Metakritik‘. Analysen und Interpretationen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, 195–208, hier: 196.
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liche Schicksal ihrer dogmatischen Depotenzierung erleiden musste. So gesehen ließe sich den beiden berühmten Thesen Horkheimers und Adornos – „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“15 – mit Blick auf Herder eine dritte These zur Seite stellen: und ‚die zur neuen Mythologie depotenzierte Aufklärung provoziert ihre metakritische Restitution‘. Den Kairos zu seiner sprachmetakritischen Restitution der Aufklärung sah Herder 1799 angesichts der durch den Atheismusstreit ins Wanken geratenen Vorherrschaft des kritischen Idealismus gekommen. So urteilt er in der Vorrede zu seiner Metakritik: „Der Zauber ist vorüber“ (FHA 8, 312). In dieser Situation lässt sich Herders Metakritik zusammen mit Jean Pauls Clavis Fichtiana und Jacobis Sendschreiben einer dreifachen literarischen Rebellion zuordnen. Herder, Jean Paul und Jacobi bilden gleichsam ein rebellisches Triumvirat neuer Realisten, die gemeinsam, aber jeder auf seine Art und Weise – Jean Paul humoristisch, Jacobi systematisch und Herder metakritisch – gegen die Dominanz des kritischen Idealismus Kants und Fichtes ankämpfen. Allerdings verstehen es Jacobi und Jean Paul mit ihrer anti-idealistischen Kritik durchaus, die Grenzen des wissenschaftlichen und literarischen Decorum zu respektieren. Die realistische Rebellion, welche auf dem externen Forum der literarischen Öffentlichkeit gemeinsam mit Jean Paul und Jacobi inszeniert wurde, liefert demnach noch nicht den hinreichenden Grund für Herders eigene, auffällig polemische Pararhetorik an Kant. Einen Hinweis auf die tiefer liegenden Motive dieser rätselhaften pararhetorischen Deviation Herders lässt sich nun seinem Entwurf Kalliphron. Ursprüngliche Vorrede zu Metakritik der Kritik der Urteilskraft entnehmen, welcher die Erzählung des bereits erwähnten nordischen Kunstmythos fortsetzt.
3 Shaftesburys interne Rhetorik als generatives Geheimnis der Herder’schen Metakritik So gibt Herder in der Ursprünglichen Vorrede Auskunft über den Namen und das weitere Schicksal des Jünglings, der im Schlaf von Hugo und Hägsa beredet worden war. Nun erst lässt er seine Leser wissen, dass der philosophische Jüngling „Heimdal“ (FHA 8, 1124) heißt, dass er die zur sprachkritischen Selbstbesinnung führenden drei Ratschläge Hugos beherzigt und so „die alleingültige und einzigmögliche Kritik der reinen Vernunft“ (FHA 8, 1124) hören und lesen konnte, ohne dass die darin enthaltenen „Phantome der Zauberin“ (FHA 8, 1124) Macht über || 15 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 2003, 6.
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ihn erlangen konnten. Spätestens an dieser Stelle drängt sich dem Leser die Vermutung auf, dass sich hinter der literarischen Figur des Heimdal niemand anderes als der Autor der Metakritik der Kritik der reinen Vernunft selbst verbirgt. Der weitere Verlauf der Ursprünglichen Vorrede bestärkt die Hypothese, dass Heimdal das nordische Alter Ego seines eigenen Autors Herder darstellt, der sich in seiner Metakritik mit Hilfe der Ratschläge seines eigenen sprachmetakritischen Genius Hugo gegen den von Hägsa repräsentierten dogmatischen Zauber des Meisterdenkers Kant erfolgreich zur Wehr setzt: „Die Sprache des Meisters hatte über ihn keine blinde Gewalt, indem er sie fort und fort in seine eigne, d. i. die ihm eigentümliche Sprache übersetzte“ (FHA 8, 1124). Hier gibt Herder das tiefer liegende Motiv zu erkennen, das ihn zu jener außergewöhnlichen pararhetorischen Schärfe und Heftigkeit seiner Kant-Polemik bewegt. Seine Metakritik fällt deshalb aus dem Rahmen der normalen wissenschaftlichen Auseinandersetzung, weil es Herder hier um mehr geht als um den Streit um die bloße wissenschaftliche Wahrheit, nämlich um die existenzielle Möglichkeit seiner eigenen, freien, philosophischen Selbsterfindung gegen den persuasiven Zauber, welcher von der dominanten Stimme des philosophischen Meisterdenkers Kant ausgeht. Von daher gesehen lässt sich die Herder’sche Metakritik nicht nur als wissenschaftliche Streitschrift lesen, sondern auch unter dem Gesichtspunkt des anthropologischen Autoinvenienzproblems seines Autors verstehen. Als ein zur Schriftform geronnenes und auf dem externen Forum philosophischer Literatur veröffentlichtes Produkt philosophischer Rede entspringt der Text der Metakritik demnach einem internen Autoinvenienzprozess seines Verfassers, welcher gemäß einer ersten Interpolation als ein dramatisches Dreipersonenstück angesehen werden könnte, in dessen Verlauf es Heimdal-Herder mittels der sprachphilosophischen Aufklärung seines Genius Hugo-Nizolius mehr und mehr gelingt, dem Sprachzauber von Hägsa-Kant zu entgehen, um schließlich am Ende eine eigene philosophische Stimme zu gewinnen. Aus dieser Perspektive zeigt sich die vorliegende Metakritik als Produkt einer Parallelaktion interner Rhetorik, in welcher sich die Invention des Werkes mit der Autoinvention seines Autors verbindet. Dem Heimdal-Mythos der Ursprünglichen Vorrede lässt sich ferner entnehmen, dass die zur Literatur verfestigte philosophische Rede der Metakritik einem polypersonalen Selbstgespräch des Autors entspringt, welcher nach erfolgreich überstandener Kant-Lektüre der Urfassung seiner Metakritik nun den Titel Abschied der Kritik der reinen Vernunft verleiht. Dass der Inventionsprozess der Metakritik im inneren Denken seines Autors von Herder nicht nach dem rhetorikrepugnanten, mentalistischen Paradigma der Bewusstseinsphilosophie konzipiert wird, sondern rhetorikaffin als innere Rede, ließ bereits seine folgende kurze
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Definition vermuten: „Was heißt Denken? Innerlich sprechen“ (FHA 8, 389). Dies bestätigt sich nun durch den folgenden Hinweis Heimdal-Herders auf seinen Lieblingsschriftsteller Shaftesbury, dem er nach eigener Aussage jene Kunst interner Rhetorik verdankt, aus welcher die Metakritik als sein persönlicher Abschied von Kant hervorgeht. „Am Ende des Buchs hielt er nach Shaftesburi’s, eines seiner Lieblingsschriftsteller, Rath folgendes Selbstgespräch mit sich; er nannte es, wie nach geschloßenem Reichstage verwirrter Sachen und Handel, Abschied“ (FHA 8, 1125). Der von Shaftesbury im Jahre 1711 veröffentliche Essay Soliloquy, or advice to an author stellt, wie jüngst Jean Nienkamp betont hat, eine außerordentlich wichtige neuzeitliche Quelle für die heutige Interne-Rhetorik-Forschung dar.16 Shaftesbury enthüllt hier – wie er selbst sagt – ein „großes Geheimnis (grand arcanum)“17 aller Poeten, Redner und Philosophen, nämlich „die machtvolle Figur der inneren Redekunst (the powerful figure of inward rhetorick)“18. Die hier von Shaftesbury entworfene interne Rhetorik verlangt – gemessen an der gewöhnlichen Annahme der simplen Identität von Person und Persona – seinem Autor etwas scheinbar Unmögliches ab. Sie bedient sich einer artifiziell herbeigeführten Selbstmultiplizierung, die darin besteht, „sich selbst in zwei Personen zu vervielfältigen (multiply himself into two persons)“19. Diese durch methodische Selbstdividierung herbeigeführte polypersonale Selbstinszenierungskunst interner Rhetorik bildet in den Augen Shaftesburys das große generative Geheimnis aller erfolgreicher Dichter, Redner und Philosophen, welches sowohl die Erfindung ihrer Werke als auch ihre eigene Selbsterfindung ermöglicht. Herders Hinweis auf Shaftesburys Konzept der internen Rhetorik in seiner Ursprünglichen Vorrede erhärtet die Interpretationshypothese, dass Shaftesburys grand arcanum auch das ‚große Geheimnis‘ der Metakritik Herders darstellt. Der nordische Heimdal-Mythos birgt demnach in allegorischer Verschlüsselung das auktoriale Produktionsgeheimnis Herders: die Selbsttechnologie der internen Rhetorik, welche die generative Tiefendynamik seiner Metakritik bestimmt. So lassen sich Heimdal, Hugo und Hägsa als personifizierte Persönlichkeitsanteile einer absichtlich und kunstvoll herbeigeführten Selbstzerteilung ihres Autors Herder verstehen. Alle drei Figuren stellen somit jeweils ein partielles Alter Ego
|| 16 Jean Nienkamp, The rhetorical self, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 69– 79, hier: 77. 17 Anthony Ashley Cooper, Soliloquy, or advice to an author, in: Charakteristicks, London (1758), Vol. I, 101–245, hier: 127. 18 Cooper, Soliloquy (Anm. 17), 128. 19 Cooper, Soliloquy (Anm. 17), 107.
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ihres eigenen Autors dar. Dem kundigen Leser dürfte in diesem Zusammenhang ein versteckter Wink Herders nicht entgangen sein, welcher sich im Blick auf seine prosopopoietische Rhetorik der Benennung entdecken lässt. Oder ist es ein Zufall, dass die drei Personen des auktorialen Selbstgespräches – ‚Heimdal‘, ‚Hugo‘ und ‚Hägsa‘ – mit ihrem Autor ‚Herder‘ im Namen denselben Initialbuchstaben teilen?
4 Innere Emanzipation durch rhetorischen Exorzismus Gerade im Blick auf die interne Rhetorik der Metakritik bestätigt sich so jene hinter aller Polemik verborgene Nähe Herders zu Kant, auf welche jüngst schon Ralf Simon hingewiesen hat.20 Allerdings kann Hägsa-Kant aufgrund des polypersonalen Gefüges des sich selbst in gleich drei personale Hypostasen dividierenden Autors nur als ein partielles Alter Ego Herders bezeichnet werden. Innerhalb der generativen Tiefendynamik seiner internen Rhetorik trifft die verführerische Stimme der Philosophie Kants nämlich auf die ernüchternde Gegenstimme des sprachkritischen Genius Hugo, der ebenso ein anderes, partielles Alter Ego seines Autors bildet. Somit lässt sich Herders mit seiner Metakritik öffentlich geführter Kampf gegen Kant auf einen inneren Kampf mit sich selbst, mit der verinnerlichten Stimme des philosophischen Meisters und dessen Schule des kritischen Idealismus zurückführen, deren persuasivem Zauber er sich selbst zunächst nur schwer zu entziehen vermag. Diese innere Rebellion gegen die Übermacht der internalisierten Stimme Kants führt Herder mit dem hochartifiziellen Organon der von Shaftesbury konzipierten Selbsttechnologie interner Rhetorik. Gut ein Jahrzehnt nach Herder wird auch der späte Schelling in seiner Einleitung zu seinen Weltaltern dieses Organon interner Rhetorik erneut thematisieren und in Anspielung auf Shaftesburys grand arcanum ebenfalls behaupten: „das eigentliche Geheimnis des Philosophen“ sei die „innere Unterredungskunst“21, gegenüber welcher die äußere Dialektik „nur das Nachbild, und wo sie zur blo-
|| 20 Ralf Simon, Von den Kategorien zum Schematismus oder vom Bild zur Sprache? Versuch, einen Konflikt zwischen Kant und Herder zu verstehen, in: Ulrich Geier/Ralf Simon (Hg.), Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema, München 2010, 93–118. 21 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. Manfred Schröter, München 1966, 5.
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ßen Form geworden, der leere Schein und Schatten“22 sei. Im Unterschied zu Schelling verfolgt Herders Konzept interner Rhetorik aber gerade nicht die versöhnliche Idee dialektischer Vermittlung, sondern im Gegenteil die unversöhnliche, „separative“ Strategie endgültiger Verabschiedung. Es geht Herder in seinem inneren Kampf gegen Hägsa-Kant nicht um eine synthetische Integration, sondern um eine entschiedene Abweisung und Bannung des Kant’schen Zaubers. Diese negative Tendenz seiner internen Rhetorik, welche im Sinne radikaler Separation und Sezession einen endgültigen Abschied Herder-Heimdals von Hägsa-Kant zu inszenieren beabsichtigt, tritt auf der Textoberfläche der Metakritik besonders prägnant in den bereits angesprochenen Passagen polemischer Pararhetorik zutage. Der scheinbar übermächtigen internalisierten Stimme Kants begegnet Herder hier mit der exzessiven rhetorischen Gegengewalt metakritischer Protestation. Die Selbstbefreiung vom dogmatischen Zauber Kants scheint hier gleichsam nur durch eine Art von rhetorischem Exorzismus, ein gewaltsames Herausbeschwören der internalisierten Stimme des Meisters, möglich zu sein. Nach Herders Iduna-Dialog könnte die in der Metakritik sich artikulierende pararhetorische, exorzistische Gewaltsamkeit sogar zu jener legitimen „Zauberei“ (FHA 8, 167) gerechnet werden, welche zur „Weisheit des Mannes“ (FHA 8, 167) in asymmetrischen Machtlagen und Notwehrsituationen gehört. Dieser rebellische Abschied von Kant spiegelt sich auch in der literarischen Heterogenität der Textoberfläche, welche die Metakritik als „unoriginelles eklektizistisches Machwerk“23 erscheinen ließ. Das ungewöhnliche Spektrum ihrer Textsorten reicht von sperrigen, langen Zitaten und Paraphrasen der Kritik der reinen Vernunft über Varianten ihrer kritischen Bearbeitung, wie z. B. alternativen Kategorientafeln, bis hin zu sehr freien, eigenen, philosophischen Essays, wie z. B. die Erörterung des Worts Raum, Vom Ursprunge und der Entwicklung menschlicher Verstandesbegriffe oder Von Denkbildern menschlicher Verstandesbegriffe. Die Suche nach den Gründen für diese außergewöhnlich heterogen wirkende Textoberfläche führt wieder auf die Ebene der Tiefendynamik ihrer internen Rhetorik zurück. Als Ausgangspunkt meiner folgenden Schlussbetrachtung bieten sich Überlegungen der heutigen Internen-Rhetorik-Forschung an, welche drei Stufen der innerlichen Emanzipation rhetorischer Subjektivität unterscheidet.24 Die defizi-
|| 22 Schelling, Weltalter (Anm. 21), 5. 23 Heinz, Herders Metakritik (Anm. 7), 91. 24 Vgl. Peter L. Oesterreich, Selbsterfindung, Subjektivität und interne Rhetorik, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2011), 80–95.
Der ‚neue Herder‘: Palingenese und literarische Selbstverjüngung | 251
täre Schwundstufe interner Rhetorik wird erstens durch die Figur schwacher rhetorischer Subjektivität markiert, welche als mehr oder weniger passives Medium den internalisierten Stimmen ihrer sozialen Außenwelt unterworfen bleibt. Zweitens beginnt die rhetorische Subjektivität auf der mittleren Steigerungsstufe den Charakter einer aktiven Moderatorin anzunehmen, welche die gleichsam wie auf einem inneren Markplatz konkurrierenden sozialen Stimmen kritisch zu modifizieren und zu vermitteln sucht. Drittens emanzipiert sich das Subjekt auf der Vollstufe starker rhetorischer Subjektivität weitgehend vom inneren Einfluss äußerer sozialer Stimmen, um so schließlich eine eigene, authentische Stimme zu gewinnen und gleichsam zum Autor seiner selbst zu werden. Vor dem Hintergrund dieses idealtypischen Drei-Stufen-Modells lässt sich die heterogene Textoberfläche der Herder’schen Metakritik als differenzierter Ausdruck unterschiedlicher Stufen des ihr zugrunde liegenden Prozesses emanzipatorischer interner Rhetorik deuten. In diesem Prozess gelingt es Herder, sich sukzessiv von der internalisierten Stimme Kants zu verabschieden, um schließlich eine eigene Stimme als starker philosophischer Autor zu gewinnen. Die außergewöhnlich langen Zitate und Paraphrasen der Kritik der reinen Vernunft spiegeln die Schwundstufe des noch unmündigen Schülers, dessen Inneres von der internalisierten Stimme Hägsa-Kants beherrscht wird. In den Passagen der kritischen Kommentierung, Korrektur und manchmal parodistisch wirkenden Alternativentwürfen kommt schon die Steigerungsstufe der rhetorischen Emanzipation Heimdal-Herders zum Ausdruck, welche sich hier sukzessiv von dem Sprachzauber der Hägsa-Kant absetzt, um schließlich in den freien Essays der Metakritik eine vollständig eigene philosophische Stimme zu gewinnen. Der evolutionäre, emanzipatorische Prozess seiner allmählichen, aber endgültigen Verabschiedung Kants wird somit von Herder auf der ungeglätteten Textoberfläche nicht dissimuliert und versteckt, sondern gleichsam als Panier seiner gelungenen Persönlichkeitsentwicklung zum metakritischen Autor demonstriert.
5 Der ‚neue Herder‘: Palingenese und literarische Selbstverjüngung So lässt sich schließlich der rebellische Abschied seiner Metakritik nicht nur als ein pararhetorischer Kampf gegen Kant, sondern vielmehr als Selbstexperiment des späten Herder deuten, sich im Medium interner Rhetorik noch einmal neu zu erfinden und so das eigene Schicksal fortzuschreiben. Gemäß seiner Abhandlung über Das eigene Schicksal folgt er dabei seiner Maxime: „Vermeide Jeder, so viel
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er kann, der Sklave einer fremden Bestimmung zu werden, und baue sein eigenes Schicksal“ (FHA 8, 247). Einem fremden Genius und „Befehlhabergeist“ (FHA 8, 248) sich aufzuopfern und sogar lebenslang zu dienen, das, so betont Herder hier, „verbietet uns unser Genius“ (FHA 8, 247). Mit seinem rebellischen Abschied von Kant versucht Herder gegen Ende seiner literarischen Laufbahn die vielleicht letzte Chance zu ergreifen, endlich einmal kompromisslos seinem eigenen sprachkritischen Genius zu folgen und sich als bereits etablierter Autor noch einmal neu zu erfinden. Auf beachtenswerte Weise trotzt der späte Herder hier dem Klischee von der physischen Jugend des Rebellen und nutzt die Möglichkeit der zur Literatur verfestigten Rhetorik, sich trotz fortgeschrittenem physischen Alter auf rebellische Weise geistig zu verjüngen. Im Sinne seiner in Tithon und Aurora vollzogenen binnenbiographischen Wendung des Palingenese-Gedankens wagt der späte Herder mit seiner Metakritik diesen Versuch einer rebellischen philosophischen Verjüngung, um dem geistigen Tod des eigenen Überlebtseins zu entgehen, der auch ihn dazu zu verdammen droht, „wie die Gestalt seines Grabmonuments mit lebendigem Leibe“ (FHA 8, 221) umherzugehen. Die Metakritik stellt so gesehen auch das Geburtsprotokoll eines geradezu faustisch verjüngten Herders dar, der sich von seinem überlebten, alten Ego als einem an die ihn umgebende offizielle Kultur angepassten Autor lossagt, um sich endlich, mit seinem eigenen inneren Genius versöhnt, regenerieren zu können. Dies spricht am Ende auch für eine Revision des weitverbreiteten Vorurteils von der nachlassenden Schaffenskraft des späten Herder. Ganz im Gegenteil versucht der gealterte Autor gegen Ende seiner Laufbahn sich hier noch einmal neu zu erfinden und gleichsam als verjüngter puer senex der literarischen Hexenküche seiner Metakritik zu entsteigen. Von daher könnte auch über seiner Metakritik das aufrüttelnde Motto stehen: „Gnug vom Schlaf und Ersterben; lasset uns jetzt vom Wachen und der Verjüngung reden“ (FHA 8, 227).
Vom Vernunftgerichtshof zum Weltgericht Gerichtliche Metaphorik bei Kant und Hegel Die Metaphorologie Hans Blumenbergs, die generell die heuristische und begriffsfundierende Leistung von ‚absoluten Metaphern‘ für die Texte der überlieferten Geistesgeschichte herausgestellt hat, erweist sich auch im Hinblick auf das spezielle Inventionsproblem philosophischer Texte als aufschlussreich. Absolute Metaphern bilden nach Blumenberg eine logisch nicht ableitbare und begrifflich nie ganz ausdeutbare „Substruktur des Denkens“1. Aus Sicht der rhetorischen Metakritik hat Blumenberg damit auf eine bisher übersehene heuristische Dimension philosophischer Metaphern hingewiesen.2 Der primordiale Ort der Metapher im Produktionsprozess philosophischer Texte ist demnach nicht – wie auch von der klassischen Rhetorik und Poetik angenommen – die sprachliche Ausdrucksgestaltung (elocutio), sondern die gedankliche Erfindung (inventio). Die der Invention angehörigen heuristischen Metaphern lassen sich somit durch ihren genetischen Ort in der philosophischen Textproduktion von den ornamentalen Metaphern der Elokution unterscheiden. Während die ornamentalen Metaphern der Disposition der Begriffe nachfolgen, gehen die heuristischen der logischen Konstruktion wegweisend voran. Die Entdeckung des inventiven Gebrauchs heuristischer Metaphern führt zu einer bemerkenswerten Inversion der üblichen Rangfolge von Begriff und Metapher. Die bisher zumeist auf den elokutionären Gebrauch konzentrierte Auffassung hatte der Metapher lediglich die postpropositionale Aufgabe zugemessen, die vorgängig bereits vorhandene Begrifflichkeit nachträglich zu illustrieren und zu veranschaulichen. Dagegen weist der neue Blick auf ihren inventiven Gebrauch auf ihren präpropositionalen, erkenntnis- und begriffsbegründenden Charakter hin. Die zur Invention gehörenden Metaphern bilden demnach die heuristische Basis zur analogen Ausbildung der spezifischen Begrifflichkeit philosophischer Rede. Auf die Invention philosophischer Rede geblickt, gründet somit die Deutlichkeit der Begriffe in der Klarheit ihrer vorgängigen heuristischen Metaphern. Der inventive metaphorische Witz zeichnet dem begrifflich kon-
|| 1 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), 11. 2 Zur rhetorischen Metakritik und Rekonstruktion der Philosophie siehe Tamilo van Zantwijk, Hermeneutische Philosophie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1040–1046; Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, Bamberg 2006, 116 ff. https://doi.org/10.1515/9783110527667-017
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struierenden Scharfsinn gleichsam seinen Weg vor.3 Die heuristischen Metaphern bilden somit das inventive Fundament zur terminologischen und systematischen Disposition philosophischer Rede. Zu den prominenten heuristischen Metaphern der Philosophiegeschichte gehört zweifellos die Gerichtsmetapher. Die Philosophiegeschichte gebraucht die gerichtliche Metaphorik sowohl als vereinzelten Tropus als auch – im Sinne der fortgesetzten „Amplificatio-Metapher“4 – als ausgedehnte Gerichtshof-Allegorie. In philosophischen Kontexten reicht ihre Formenvielfalt von der mit anderen Metaphern konkurrierenden Parallelmetapher bis hin zur heuristischen Schlüsselmetapher, die, wie z. B. bei Kant, den ganzen Philosophiestil eines Autors bestimmt. Um die Gerichtshofallegorie bei Kant näher zu charakterisieren und von Hegels Metaphorik des Weltgerichts abgrenzen zu können, sei zunächst die folgende Unterscheidung von forensischer und iuridischer Metaphorik vorangeschickt.
1 Iuridische und forensische Metaphorik In der philosophischen Literatur lassen sich zwei konkurrierende Ausprägungen der Gerichtsmetapher unterscheiden: der richterliche bzw. iuridische Typus einerseits und der gerichtliche bzw. forensische andererseits. Die philosophiegeschichtlich ältere, iuridische Variante der Gerichtsmetapher lässt sich in der Regel einem dogmatisch-metaphysischen Philosophiestil zuordnen. Dabei bezieht sie sich zunächst noch auf die mythologische bzw. religiöse Figur eines allmächtigen göttlichen Weltenrichters oder den Topos eines allwaltenden göttlichen Weltgesetzes. Dagegen gehört die forensische Metaphorik zum Kanon eines kritischen Philosophiestils, dessen Schwerpunkt nicht auf der inventiven Sinnstiftung durch intuitive Einsicht der Vernunft, sondern der kritischen Sinnrechtfertigung durch diskursive Verfahrensrationalität liegt. Sie appelliert mehr an das kritische Urteilsvermögen (iudicium) als an das Erfindungsvermögen (inventio). Ihr affektischer Ausgangspunkt ist der Zweifel (dubium) und nicht der Glaube (fides). Von daher motiviert die forensische Metaphorik im Unterschied zur demonstrativen Rede (genus demonstrativum) des dogmatischen Philosophiestils zur Problematisierung und kritischen Prüfung aller möglichen Geltungsansprü|| 3 Zum Verhältnis von Metapher, Witz und Scharfsinn vgl. Gottfried Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn 1997, 99–115. 4 Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, Hamburg 92001, 111.
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che. Insgesamt gesehen kann daher die forensische Metapher bzw. GerichtshofAllegorie – im Unterschied zu ihrer dogmatisch-iuridischen Gegenspielerin – primär der philosophischen Rhetorik kritischer Rationalität und Aufklärung zugeordnet werden. Dabei steht die forensische Metaphorik in Konkurrenz zu jenen heliotropen Metaphern dogmatischer idealistischer Metaphysik, die auf natürlichen Phänomenen wie z. B. Sonne, Auge und Licht aufbauen und nicht auf der geschichtlichen Erfahrung kultureller Institutionen wie die forensische Metaphorik.5 Eine dominierende Stellung als heuristische Metapher gewinnt die Gerichtsvorstellung vor allem in der tribunalistischen Konzeption der neuzeitlichen Philosophie.
2 Das tribunalistische Modell der Naturphilosophie bei Bacon Bei Francis Bacon präfiguriert die forensische Metaphorik zunächst das neue naturwissenschaftliche Weltbild und die neue kritische Einstellung des Menschen zur Natur, die sich in der Erfindung der experimentellen Methode niederschlägt. Im frühneuzeitlichen Typus des Forschens und Spekulierens verkehrt sich der Topos von der theatralischen Offenbarkeit der Wahrheit in den ihrer Verborgenheit, so dass der Mensch nun die Natur mit inquisitorischer Gewalt zwingen muss, ihre Geheimnisse preiszugeben: „die Welt wird zum Tribunal, der Mensch zum Richter und Veranstalter des scharfen Verhörs, in das die Natur genommen wird.“6 Das Modell der gerichtlichen Inquisition wird nun von Bacon auf die naturwissenschaftliche Forschung übertragen: „Denn wie jemandes Einfallsreichtum nicht gut untersucht oder erwiesen ist, wenn er nicht ins Kreuzverhör genommen wird (gereizt wird); noch Proteus sich verschiedene Gestalten angenommen hätte, wenn er nicht in Fesseln gehalten wäre, so zeigt sich auch die durch Kunst verhörte (gereizte) und gestörte (misshandelte) Natur klarer, als wenn sie sich frei überlassen bliebe.“7
|| 5 Vgl. Christoph Asmuth, „Tun, Hören, Sagen. Performanz und Diskursivität bei J. G. Fichte“, in: Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie nach Kant, hg. v. B. Bowman, Paderborn 2007, 271–282. 6 Blumenberg, Paradigmen (Anm. 1), 27. 7 Bacon wird zitiert nach Wolfgang Krohn, Die Natur als Labyrinth, die Erkenntnis als Inquisition, das Handeln als Macht: Bacons Philosophie der Naturerkenntnis betrachtet in ihren Meta-
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Der historische Ausgangspunkt dieser forensischen Allegorie bei Bacon bildet die in England entwickelte ausgefeilte Methodik des Verhörs von Zeugen und Angeklagten, die Regeln der Beweiserhebung (rules of evidence).8 Bacons forensische Metaphorik ermöglicht die Übertragung dieser im gerichtlichen Bereich entwickelten inquisitorischen Methode auf die Naturforschung und damit die Erfindung der neuen induktiven Experimentalphysik. Die forensische Metaphorik legitimiert damit auch die dominante Stellung der kritischen Subjektivität des Menschen, der gleichsam die gesamte Natur einem Kreuzverhör unterwirft. Der klassische metaphysische Topos von der unmittelbaren Macht der Wahrheit wird durch den der methodischen Gewissheit ersetzt und die metaphysische Idee der rein anschauenden Vernunft durch die kritische Verfahrensrationalität der neuzeitlichen Wissenschaft abgelöst. Der Gebrauch der Gerichtsmetapher leitet somit jenen Prozess einer universalen Tribunalisierung der Welt ein, der für den kritischen und methodenorientierten Philosophiestil der Neuzeit charakteristisch ist. Die forensische Metaphorik des kritischen Tribunals, die sich in der philosophischen Rhetorik des neuzeitlichen Rationalismus und Empirismus weiter einbürgert,9 erreicht schließlich ihren Gipfelpunkt im Kritizismus Immanuel Kants.
3 Kants Allegorie des Vernunftgerichtshofs Bei Kant wird die Gerichtsmetapher zu einer universalen Allegorie des Vernunftgerichtshofes ausgebaut, die nicht nur zur unumschränkten, heuristischen Schlüsselmetapher seiner theoretischen und praktischen Philosophie aufsteigt, sondern darüber hinaus als Epochenmetapher zur Charakterisierung des gesamten Zeitalters der Aufklärung dient. Sie wird so zur Präfiguration des universalen Machtanspruchs einer forensisch gedeuteten Vernunft, der sich alle kulturellen Geltungsansprüche, seien sie philosophisch, religiös oder politisch, zu unterwerfen haben.
|| phern, in: Lothar Schäfer/Elisabeth Ströker (Hg.), Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik, Bd. 2, Freiburg 1994, 80 f. 8 Vgl. Krohn, Natur (Anm. 7), 79 f. 9 Vgl. Georg Sterzenbach, Die Welt als Tribunal. Der Gerichtshof als Metapher in Philosophie und schöner Literatur, in: Kritische Justiz 31 (1998), 486–502, hier: 492–495.
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3.1 Der Vernunftgerichtshof als Epochenmetapher Diesen universellen Machtanspruch, den die Epochenmetapher des Vernunftgerichtshofs bei Kant repräsentiert, bringt die folgende Passage aus der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1781 eindrucksvoll zum Ausdruck: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“10
Die forensische Metaphorik dient hier zweifellos auch im metaphilosophischen Sinne der „Selbsterhaltung“11, oder besser der Selbsterfindung kritischer Vernunft und ihres universellen Herrschaftsanspruches mit den Mitteln philosophischer Rhetorik. Die Gerichtshofmetapher ermöglicht es Kant hier, das von ihm entworfene tribunalistische Vernunftmodell allegorisch zu exponieren. Dabei induziert die forensische Metaphorik die Präferenz für eine gerichtsanaloge Verfahrensrationalität, die, als ‚kritisches Geschäft‘ der Philosophie, generell eine öffentliche und freie Überprüfung aller in der geschichtlichen Lebenswelt de facto aufgeworfenen Geltungs- und Machtansprüche vorschreibt und sie der Frage nach ihrer Gültigkeit und Rechtfertigung (quaestio iuris) unterwirft. Das Modell der deduktiven, metaphysischen Letztbegründung wird damit durch das der prozessualen Verfahrensrationalität kritischer Vernunft abgelöst. Der Allegorie des Vernunftgerichtshofes korrespondiert der ausgesprochen iuristische Stil und Sprachgestus der philosophischen Literatur Kants. Der oft als schwierig empfundene Sprachgestus seiner „abgekältete[n] Kanzleisprache“12 bezweckt daher nicht nur eine Distanzierung von der zeitgenössischen Popularphilosophie, sondern unterstützt durch ihre performative Übereinstimmung mit der forensischen Schlüsselmetaphorik deren Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit. Dies gilt auch für die affektische Färbung der Kant’ischen Philosophie. Bei Kant dominieren nicht wie in vielen Werken der klassischen Metaphysik die affirmativen Grundstimmungen der Lobrede (genus demonstrativum) wie z. B. das Erstau|| 10 Immanuel Kant, Gesammelte Werke, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1907 ff., 9. Im Folgenden zitiert in Klammern im Text als AA (= AkademieAusgabe) unter Angabe von Band- und Seitenzahl. 11 Manfred Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 16. 12 Samuel Ijsseling, Rhetorik und Philosophie. Eine historisch-systematische Einführung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, 132.
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nen, die Bewunderung und die Liebe zum Absoluten, sondern das Spektrum der distanzierenden Affekte gerichtlicher Rede (genus iudicale), das ausgehend von Zweifel und generellem Verdacht bis zu verwerfender Missbilligung oder anerkennender Achtung reicht.
3.2 Positiver und negativer Gebrauch forensischer Metaphorik Für Kants theoretische Ausprägung der Gerichtshofmetapher in der Kritik der reinen Vernunft ist ferner der reflexive Gestus subjektiver Selbstanwendung typisch. Anders als z. B. bei Bacon richtet sich die kritische Absicht der forensischen Metaphorik nicht in erster Linie auf die Natur oder die Welt der Objekte, sondern auf die menschliche Subjektivität selbst. Diese reflexive, anthropologische Wendung der Gerichtsmetapher führe bei Kant auch zu einer Neubestimmung der Dimension subjektiver Innerlichkeit. Die Selbsterfindung autonomer Subjektivität geschieht hier allegorisch durch die Errichtung eines idealen, im Inneren des Menschen situierten Vernunftgerichtshofs. Seine Installation entspricht nach Kant dabei einer „[…] Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntniss, aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne; und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst.“ (AA VI, 9)
Diese metaphorisch induzierte Einrichtung der idealen Instanz eines internen Vernunftgerichtes leitet bei Kant auch auf dem Gebiet der Philosophie einen fundamentalen Ethoswechsel von der heteronomen zur autonomen Subjektivität ein, die „der gereiften Urtheilskraft des Zeitalters“ (AA VI, 9) entspricht. Seine Installation bedeutet zugleich eine geradezu radikale, emanzipatorische Relativierung aller Formen realer, äußerer Gerichtsbarkeit und die kritische Geltungsrelativierung aller politischen und religiösen Außenweltinstanzen. Sie müssen sich nun subjektintern vor dem idealen Vernunftgericht verantworten, das „doch den obersten Gerichtshof über allen Streitigkeiten vorstellt“ (AA III, 485). Analog zur rhetorischen Statuslehre der Gerichtsrede, die die Frage nach dem Tatbestand (status coniecturae) und die nach der Rechtsqualität (status qualitatis) impliziert, verbindet der subjektinterne Gerichtshof der reinen Vernunft die beiden Aufgaben der Selbsterkenntnis und der Selbstrechtfertigung. Dass Kant die fiktive Richtergestalt der reinen Vernunft hier mit einem apriorischen, ‚ewigen und
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unwandelbaren Gesetze‘ ausstattet, bildet allerdings ein allegorisches Residuum, das noch an die iuridische Metaphorik der dogmatischen Metaphysik erinnere. Ansonsten bildet die durchweg forensisch gehaltene Allegorie des Vernunftgerichtshofs eine Schlüsselmetapher, die auf eine neue Vernunftpraxis autonomer Persönlichkeit abzielt und aus dem Kanon der rhetorischen Selbsterfindung moderner Subjektivität nicht wegzudenken ist. Auf dem speziellen Gebiet der theoretischen Philosophie lässt sich ferner bei Kant sowohl ein positiver als auch ein negativer Gebrauch forensischer Metaphorik feststellen. Kants positiver Gebrauch der Gerichtshofmetapher artikuliert sich zunächst in seiner Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787. Kant schließt hier direkt an die präfigurative Rolle an, die schon Bacon der forensischen Metaphorik bei der Formierung der Methodik der experimentellen Naturwissenschaften zuweist. Der generellen Tendenz zur Universalisierung forensischer Metaphorik folgend, überträgt Kant die ursprünglich bei Bacon auf dem Gebiet der Naturphilosophie und Physik angesiedelte Gerichtsmetapher nun auch auf sein neues transzendentalkritisches Denken. Die erfolgreiche ‚Revolution der Denkungsart‘, die sich in der neuzeitlichen Physik bewährt hat, soll jetzt auch auf das Gebiet der theoretischen Philosophie angewandt werden, um auch ihr ‚den sicheren Gang der Wissenschaft‘ zu verleihen. Die wichtige heuristische Rolle, die die forensische Metaphorik bei Kants Ablösung der dogmatischen Metaphysik und der Erfindung der kritischen Transzendentalphilosophie spielt, wird an dieser Stelle handgreiflich. Den neuzeitlichen Naturforschern sei durch die inquisitorische Methode der Experimentalphysik ein Licht aufgegangen: „Sie begriffen, dass die Vernunft […] die Natur nöthigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse“ (AA III, 10). In Kants topischem Transfer des forensischen Meraphernkonzeptes von der neuzeitlichen Physik auf seine neue kritische Transzendentalphilosophie wird die inquisitorische Assoziation einer peinlichen Befragung, die sich schon bei Bacon findet und eine Verkehrung des Machtverhältnisses von Mensch und Natur impliziert, ausdrücklich übernommen.13 Die philosophische Vernunft tritt nicht mehr in der bescheidenen allegorischen Rolle einer Schülerin auf, sondern nimmt die dominante Position einer Richterin ein, die die Natur wie eine vorgeladene Zeugin ins Kreuzverhör nimmt.
|| 13 Vgl. Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 21992, hier: 290–292.
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„Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“ (AA III, 10)
Dieser positiven allegorischen Selbstcharakterisierung seines neuen, transzendentalkritischen Gebrauchs der Vernunft in der Vorrede14 kontrastiert in Kants Kritik der reinen Vernunft ihre negative Verwendung in der Transzendentalen Dialektik, die den dogmatisch-metaphysischen Vernunftgebrauch infrage stellt und angreift. Die Gerichtshofmetapher wird hier nicht im positiven Sinne der allegorischen Ethos-Konfundierung kritischer Vernunft, sondern im negativen Sinne einer Ethos-Relativierung der dogmatischen Vernunft gebraucht. Kants kritische Destruktion des dogmatischen Vernunftgebrauches in der Transzendentalen Dialektik spielt sich dabei vor dem Hintergrund eines „komplexen Ineinander von Kampf-, Gerichts- und Schauspiel-Metaphorik“15 ab. Die forensische Metaphorik wird hier durch ihre Verbindung mit anderen Metaphernfeldern zur negativen Allegorie des dogmatischen Vernunftgerichtshofes verfremdet. In diesem negativen Gebrauch besitzt die forensische Metaphorik allerdings keinen positiven philosophiekonzeptionellen, heuristischen Charakter mehr, sondern dient lediglich als polemisch eingesetzte ornamentale Allegorie, die die dogmatische Metaphysik negativ konnotiert. Durch die Beimischung von Spiel- und Theatermetaphern, wie „Bühne des Streits“ (AA III, 550) und „dialektische[s] Spiel der kosmologischen Ideen“ (AA III, 322) verliert die Allegorie des Vernunftgerichtshofs ihre Seriosität und wird zu einem nicht mehr ernst zu nehmenden bloßen Schauspiel degradiert. Die Kampfmetaphern, die den dogmatischen Vernunftgerichtshof als „einen dialektischen Kampfplatz“ (AA III, 291) erscheinen lassen, auf dem ‚rüstige Ritter‘ um den ‚Siegeskranz‘ streiten, wecken pejorative Assoziationen an fragwürdige sophistische Spiegelfechtereien und die Antiquiertheit mittelalterlicher Ritterturniere. Schließlich wird die dogmatische Vernunft in der Rolle einer überlasteten, inkompetenten und befangenen Richterin vorgeführt: „Unglücklicherweise […] sieht sich die Vernunft mitten unter ihren größten Erwartungen in einem Ge-
|| 14 Zum positiven heuristischen Gebrauch forensischer Metaphorik in der Transzendentalen Deduktion vgl. den Beitrag von Ulrich Seeberg, Kants Vernunftkritik als Gerichtsprozess, in: Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie nach Kant, hg. v. B. Bowman, Paderborn 2007, 61–75. 15 Sommer, Selbsterhaltung (Anm. 11), 17.
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dränge von Gründen und Gegengründen so befangen“ (AA III, 323). Diese negative allegorische Charakterisierung motiviert den Leser, die Frage nach der gerichtlichen Zuständigkeit (status translationis) des dogmatischen Vernunftgerichtshofs negativ zu bescheiden. Damit führt Kant in der Transzendentalen Dialektik vor, wie sich die forensische Metaphorik in der philosophischen Rhetorik nicht persuasiv und konstruktiv zur Installation des neuen, kritischen Vernunftkonzeptes, sondern auch dissuasiv und destruktiv zur relativierenden Destruktion des alten, dogmatischen Vernunfttypus gebrauchen lässt.
3.3 Das Gewissen als innerer Gerichtshof Auf dem speziellen Gebiet der praktischen Philosophie ist der Gebrauch forensischer Metaphorik bei Kant im Rahmen seiner Tugendlehre anzutreffen. Der betreffende Paragraph 13 charakterisiert den Menschen schon im Untertitel als „den angeborenen Richter über sich selbst“ (AA III, 437). Die Gerichtshofmetapher bildet hier den heuristisch-inventiven Leitfaden für Kants begriffliche Konzeption des Gewissens. Das menschliche Gewissen wird von Kant demgemäß als ein ins Innere des Menschen transponierter Gerichtshof definiert, auf dessen internem Forum die antagonistischen Redeweisen der Selbstanklage und Selbstverteidigung vorherrschen. Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen („vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen“) ist das Gewissen (AA VI, 438). Dieser Definition des Gewissens folgt eine amplifizierende, detaillierte Schilderung, in der Kant die Gerichtsmetapher zur ausführlichen Allegorie eines jeden Menschen betreffenden, inneren, moralischen Vernunftgerichtshofs erweitert: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten […]. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben oder in Schlaf bringen, aber mehr vermeiden dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es in seiner äußersten Verworfenheit allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann er doch nicht vermeiden.“ (AA VI, 438)
Diese narrative Amplifikation, die stark mit den Affekten Furcht und Achtung arbeitet, führt die vermeintlich unausweichliche Erlebniswirklichkeit des Gewissens dem Leser eindringlich vor Augen. Die so gewonnene rhetorische Evidenz verfolgt das persuasive Ziel, der Darstellung des Gewissens als innerem Vernunftgerichtshof eine universalanthropologische Geltung zu sichern. Seine im Inneren
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des menschlichen Selbstbewusstseins ‚wachende Gewalt‘ sei nicht durch subjektive Willkür hervorgebracht, sondern dem Wesen eines jeden Menschen einverleibt. Danach unterlässt es Kant allerdings nicht, auch die zunächst paradoxal erscheinende Problematik zu thematisieren, die sich mit seiner Konzeption des Gewissens als eines Gerichtshofs, der „im Inneren des Menschen aufgeschlagen“ (AA VI, 439) ist, verbindet. Zunächst betone Kant ausdrücklich, dass seine Allegorie des inneren Vernunftgerichtshofs das forensische Modell der Rechtfertigung, d. h. „die Führung einer Rechtssache (causa) vor Gericht“ (AA VI, 438) ganz übernimmt. Der innere Gerichtshof des Gewissens wird damit als ein ideales, internes Forum gedacht, das sich ganz in Analogie zu einem äußeren, realen Gericht in die unterschiedlichen personalen Rollen des Angeklagten, der Anklage, der Verteidigung und der richterlichen Instanz differenziert. Allerdings müssen, im Unterschied zur personalen Rollenverteilung auf dem forum externum eines realen Gerichtes, die unterschiedlichen personalen Rollen im fiktiven forum internum des Gewissens von ein und derselben Person übernommen werden. Durch diese Aufhebung der realen personalen Rollendifferenz, die die allegorische Internalisierung des forensischen Modells ins Innere des menschlichen Selbstbewusstseins notwendig mit sich führt, scheint aber die für jede Gerichtsvorstellung konstitutive Differenz der Person des Angeklagten und des Richters vernichtet zu sein. Die Gerichtshof-Allegorie des Gewissens droht damit – wie Kant selbst bemerkt – als ‚ungereimte Vorstellungsart‘ an ihrer eigenen inneren Selbstwidersprüchlichkeit scheitern zu müssen: „Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren.“ (AA VI, 438)
Mit ihrer internalisierenden Verwendung droht sich somit die Gerichtshof-Allegorie zu einer sich selbst aufhebenden paradoxalen Metaphorik zu verfremden. Dieser scheinbar unvermeidliche Selbstwiderspruch lässt sich, so argumentiert Kant, nur beseitigen, indem die für die Gerichtshofvorstellung konstitutive Minimaldifferenz zwischen der Person des Angeklagten und des Richters wenigstens fiktiv wiederhergestellt wird. Im inneren Vernunftgerichtshof des Gewissens muss sich demnach der Mensch einen Anderen „als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken“ (AA VI, 438). So produziert die allegorische Internalisierung der Gerichtshofvorstellung notwendig aus sich selbst heraus die fiktive Alterität eines von sich selbst unterschiedenen idealen inneren Richters. Diese hypostasierte Differenz von beschuldigtem realen Selbst und idealem richterlichen Selbst lässt sich rhetorisch als fictio personae beschreiben. Durch sie wird die für
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die Gerichtshofvorstellung konstitutive Alterität von Angeklagtem und Richter fiktiv wiederhergestellt und damit das Problem der metaphorischen Paradoxie der Gerichtshof-Allegorie aufgelöst. Bei dieser imaginativ selbstproduzierten Figur eines idealen, inneren Gewissensrichters handelt es sich – wie Kant ausdrücklich betont – allerdings nicht um eine subjektiv willkürliche, sondern um eine intersubjektiv notwendige Fiktion, die „die Vernunft sich selbst schafft“ (AA VI, 439). Dabei zielt die Vernunft bei der personalen Rollenbesetzung der idealen richterlichen Instanz letztlich auf ein allwissendes und allmächtiges moralisches Wesen, das ‚Gott‘ genannt werden kann. Deshalb impliziert das menschliche Gewissen in letzter Konsequenz die Vorstellung, sich für alle seine Taten vor Gott als einem inneren, moralischen Gewissensrichter verantworten zu müssen. Die Idee Gottes als ideale richterliche Instanz, sei – wenngleich oft nur auf dunkle Art – in jedem moralischen Selbstbewusstsein enthalten. Somit führt die durch forensische Metaphorik geleitete Gewissenskonzeption Kant schließlich zu einer Rekonstruktion der religiösen Idee von Gott als allwissendem und allmächtigem Richter aller menschlichen Taten. Allerdings bedeutet dies keine Regression Kants in den alten, dogmatischen Gebrauch der Gerichtsmetapher. Das kritische Bewusstsein, die Vorstellung von Gott als oberstem Gewissensrichter, kann allerdings nach Kant keineswegs einen Anspruch auf objektive Realität erheben. Sie ist lediglich als eine intersubjektiv notwendige Fiktion anzusehen, die von der im Innern jedes Menschen wirksamen reinen praktischen Vernunft produziert wird. Kants Feststellung, dass Gott im menschlichen Gewissen „nur nach der Analogie“ (AA VI, 440) als oberster Gewissensrichter fungiert, bewahrt im kritischen Bewusstsein des Philosophen das Wissen um den bloß allegorischen Status der durch forensische Metaphorik ermöglichten Fiktion von Gott als innerem Gewissensrichter. Kant lehnt deshalb auch den dogmatischen Gebrauch forensischer Metaphorik im Rahmen der Theodizeeproblematik ab. Diese wird von ihm zunächst wiederum als forensisches Szenarium gedeutet: „Unter einer Theodicee versteht man die Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt. – Man nennt dieses, die Sache Gottes verfechten.“ (AA VIII, 255)
Insofern diese fiktive Gerichtshofszenerie auf dem Boden der dogmatischen Metaphysik z. B. unkritisch die Existenz Gottes präsupponiert, sei sie als illegitimer Ausdruck einer ihre „Schranken verkennenden Vernunft“ (AA VIII, 255) anzusehen.
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Allerdings bedarf auch die kritische Einsicht in den von der praktischen Vernunft selbst produzierten, fiktiven Charakter des menschlichen Gewissens nach Kant einer weiteren anthropologischen Erläuterung, weil er sonst leicht den Verdacht einer notwendigen Schizophrenie der moralischen Persönlichkeit erwecken könnte. Denn im Gewissen als innerem Gerichtshof muss sich ein und derselbe Mensch geradezu als ‚zwiefache Persönlichkeit‘, d. h. einerseits als Beklagter und andererseits als Richter denken. „Dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, andererseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in den Händen zu haben“ (AA VI, 439), könnte sonst den widersinnigen Eindruck einer durch die Vernunft notwendig hervorgerufenen Persönlichkeitsspaltung erregen. Um diesen Verdacht zu entkräften, gibt Kant eine zusätzliche anthropologische Erklärung der Herkunft dieses ‚doppelten Selbst‘ aus den natürlichen Vermögen des Menschen. Der Mensch ist demnach von Natur aus durch einen Antagonismus bestimmt: Einerseits ist er ein Vernunftwesen (homo noumenon) und auf der anderen Seite ein Sinnenwesen (homo sensibilis). Es sind somit diese unterschiedlichen Fakultäten von Sinnlichkeit und Vernunft, die sich im internen Forum des Gewissens als unterschiedliche forensische Rollen des Angeklagten einerseits und des Richters andererseits artikulieren, ohne die numerische Identität des moralischen Subjektes aufzuheben. Im Unterschied zur künstlichen Simulation von Gerichtsfällen, wie sie sich z. B. in Kontroversen der antiken Schulrhetorik finden, stellt der Gerichtshof des Gewissens nach Kant eine in der doppelseitigen Natur des Menschen begründete, notwendige Fiktion der Vernunft dar. In dieser Hinsicht kann von einer figuralen Vernunft bei Kant gesprochen werden, die am Leitfaden forensischer Metaphorik die simulative Inszenierung einer Gerichtsbarkeit des Gewissens erschafft, um die autonome interne Praxis moralischer Subjektivität zu ermöglichen. Ganz immanent auf dem Boden der philosophischen Literatur Kants und ihrer performativen Wirklichkeit argumentiert, lässt sich unter Berufung auf den Vernunftursprung des Gewissens sogar eine Inversion der Übertragungsrichtung forensischer Metaphorik denken. Demnach wäre umgekehrt der „innere Gerichtshof als Ursprung des äußeren“16 anzusehen. In dieser Inversion der üblichen Lesart könnte dann das forum externum des realen Gerichtes umgekehrt als
|| 16 Fumiyasu Ishikawa, Das Gerichtshofmodell des Gewissens, in: Norbert Hinske (Hg.), Kant und die Aufklärung, Hamburg 1992, 43–55, hier: 48. Vgl. Ders., Kants Denken von einem Dritten. Das Gerichtshofmodell und das unendliche Urteil in der Antinomienlehre, Frankfurt a. M. 1990, 24 f.
Die Weltgeschichte als ‚Weltgericht‘ bei Hegel | 265
Allegorie des idealen forum internum des Gewissens, das in der figuralen Vernunftnatur jedes Menschen entspringt, verstanden werden.
4 Die Weltgeschichte als ‚Weltgericht‘ bei Hegel Insgesamt gesehen gelangt die am heuristischen Leitfaden forensischer Metaphorik entworfene tribunalistische Konzeption der neuzeitlichen Philosophie in Kants Kritizismus zu ihrem bis heute unübertroffenen Höhepunkt. Bereits in G. W. F. Hegels metaphorischer Darstellung der Weltgeschichte als ‚Weltgericht‘ endet dagegen der bei Kant vorherrschende kritische Gebrauch der Gerichtsmetapher. Ganz allgemein lässt sich im Hegel’schen System eine für die Epochenwende von der Aufklärung zur Romantik typische Rückkehr der älteren, dogmatisch gebrauchten iuridischen Metaphorik beobachten. Mit seiner metaphysischen Figur des absoluten Geistes, der als der „alleinige absolute Richter“17 die Weltgeschichte beherrscht, schließt Hegel wieder weitgehend an die iuridische Metaphorik der religiös geprägten Metaphysik und ihrer Vorstellung von einem göttlichen Weltgericht an. Davon abgesehen spielt aber auch bei Hegel die Gerichtsmetaphorik durch seine Charakterisierung der gesamten Weltgeschichte als ‚Prozess‘ eine wesentliche Rolle. Sie wird aber im Ganzen überformt durch die metaphysische Allegorie des einen absoluten Geistes, „der sich im Prozesse der Weltgeschichte seine Wirklichkeit gibt“ (TWA 7, 405). Diese idealisierende Impersonation oder Ethopoiie eines absoluten Geistes, der „sich in der Weltgeschichte Wirklichkeit gibt und den absoluten Richter über sie ausmacht“ (TWA 7, 405), führt bei Hegel zu einer weitgehenden Aushöhlung des noch bei Kant vorherrschenden kritisch-forensischen Charakters der Gerichtsmetapher. Indem Hegel in seinen Texten der Figur des absoluten Geistes eine derart dominierende Rolle zukommen lässt, knüpft er wieder unkritisch an den religions- und mythosnahen Topos von der Omnipotenz göttlicher Richterschaft an. Da Hegel den absoluten Geist zum fiktiven Protagonisten der gesamten Weltgeschichte erhebt, kann er zudem diese als einen allumfassenden Prozess perspektivieren, dem das individuelle Schicksal der einzelnen Völker, Staaten und Staatenbünde bedingungslos unterworfen ist. Dem einzelnen Volksgeist ist demnach „seine Selbständigkeit ein Untergeordnetes; er geht in die allgemeine Welt-
|| 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, 406. Im Folgenden zitiert in Klammern im Text als TWA (= TheorieWerkausgabe) unter Angabe von Band- und Seitenzahl.
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geschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völkergeister, das Weltgericht, darstellt“ (TWA 10, 548). In dieser Metapher der Weltgeschichte als ‚Weltgericht‘ hat sich der forensische Gehalt einer rhetorisch geprägten gerichtlichen Kontroverse zwischen realen Personen, wie er sich z. B. bei Platon und Kant finden lässt, weitgehend verflüchtigt. Der metaphorologische Grund für die Rückkehr der iuridischen Metaphorik bei Hegel findet sich in einem veränderten Ausgangspunkt der Metaphernbildung. Die genetische Basis der Hegel’schen Gerichtsmetaphorik, die die Weltgeschichte als ‚Weltgericht‘ charakterisiert, bildet nämlich nicht mehr primär das reale Phänomen eines Gerichtsprozesses, sondern eine literarische Fiktion, d. h. jene literarischen Darstellungen des göttlichen Weltgerichtes, die sich in den von den Romantikern neu entdeckten und geschätzten religiösen Dichtungen des Mittelalters finden. Dabei sieht Hegel in Dantes Göttlicher Komödie den unübertroffenen literarischen Höhepunkt dieser Gattung. Es sind demnach „die religiösen mittelalterlichen Gedichte, welche sich die Geschichte Christi, der Maria, Apostel, Heiligen und Märtyrer, das Weltgericht usw. zum Inhalt nehmen. Das in sich gediegenste und reichhaltigste Werk aber, das eigentliche Kunstepos des christlichen katholischen Mittelalters, der größte Stoff und das größte Gedicht ist in diesem Gebiete Dantes Göttliche Komödie.“ (TWA 15, 406)
Dantes Weltgedicht sei die Darstellung der ‚Totalität des objektivsten Lebens‘, und seine Verewigung durch die Mnemosyne des Dichters erscheine „als das eigene Urteil Gottes, in dessen Namen der kühnste Geist seiner Zeit die ganze Gegenwart und Vergangenheit verdammt und seligspricht“ (TWA 15, 407). Hegels allegorische Charakterisierung der Weltgeschichte als ‚Weltgericht‘ kann somit als eine intertextuelle Metapher verstanden werden, die auf die religiöse Literatur des Mittelalters und insbesondere auf Dantes Göttliche Komödie Bezug nimmt. Seine Philosophie des absoluten Geistes erscheint aus dieser Perspektive als ein zu Dantes Universalgedicht analoges philosophisches Projekt. Hegel versucht hier, nach dem von ihm selbst hypostasierten Ende der Kunst die Darstellung der objektiven Totalität des Lebens aus dem überholten Element dichterischer Anschauung in die zeitgemäße, moderne Gestalt begrifflicher Wissenschaft zu übersetzen.
‚Von neuem Erfinder der Wissenschaftslehre‘ ‚Von neuem Erfinder der Wissenschaftslehre‘
Transzendentale Ikonomachie und interne Rhetorik in Fichtes Diarium III In Fichtes letztem philosophischem Tagebuch, dem Diarium III, finden sich diejenigen philosophischen Selbstgespräche, welche der Erfinder der Wissenschaftslehre vom Oktober 1813 bis Januar 1814 aufgezeichnet hat. Von diesen bis wenige Tage vor seinem Tod geführten intimen Selbstunterredungen des Gelehrten wurde schon von Reinhard Lauth festgestellt, dass sie „das letzte darstellen, was Fichte zur Wissenschaftslehre geschrieben hat“1. Dieser ‚letzte Fichte‘, wie er sich in seinem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Diarium III ungeschützt darstellt, gibt hier ein Beispiel starker philosophischer Subjektivität ab. Auf eine erstaunliche Weise selbstkritisch und geradezu ‚quer gegen sich selbst‘ arbeitet der bereits todkranke Philosoph trotz bereits langsam nachlassender körperlicher Kräfte dennoch unermüdlich weiter an einer neuerlichen Revision seiner Wissenschaftslehre. In Form selbstexperimenteller, interner Rhetorik versucht der Gelehrte, sich und seine Philosophie noch einmal neu zu erfinden. Bei diesem äußersten Versuch philosophischer Selbstverständigung strebt der letzte Fichte danach, das unklar gebliebene Verhältnis zwischen den beiden beherrschenden Grundthemen seines gesamten Philosophierens, d. h. dem transzendentalen ‚Ich‘ seiner frühen Wissenschaftslehre einerseits und dem absoluten ‚Sein und Leben‘ seiner Spätphilosophie andererseits erneut zu durchdenken. Dabei unternimmt der ‚letzte Fichte‘ den bemerkenswerten Versuch, die bilderzeugende, ikonostatische Form des Ich stärker denn je zu relativieren. Zugleich arbeitet er die ikonoklastische Gegenform einer unbildlichen, schöpferischen Freiheit des absoluten ‚Urlebens‘ deutlicher als je zuvor heraus. So tritt uns das meditative Sprechdenken des letzten Fichte insgesamt als eine variantenreiche transzendentale Ikonomachie entgegen, welche sich in der Differenz zwischen der ikonostatischen Figur des Ich und der ikonoklastischen Gegenfigur eines bildlosen ‚Urlebens‘ bewegt.
|| 1 Ultima Inquirenda. J. G. Fichtes letzte Bearbeitung der Wissenschaftslehre Ende 1813/Anfang 1814, hg. v. Reinhard Lauth, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, XI. https://doi.org/10.1515/9783110527667-018
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1 Fichtes Kunst des philosophischen Selbstgespräches Zu Fichtes Vernunftkunst, der „Kunst der W.L.“ (GA II/17, 11), welche einen ungewöhnlichen Reichtum von vielfältigen, rhetorischen und literarischen Formen seines Philosophierens aufweist, gehören nicht zuletzt seine philosophischen Tagebücher. Der Werklauf derjenigen Diarien, welche sich inhaltlich mit der Wissenschaftslehre in specie befassen, beginnt mit den frühen Aufzeichnungen Eigne Meditationen über Elementarphilosophie (1793/94), erstreckt sich etwa über die Aufzeichnungen Seit dem 1. April 1808 und endet mit dem noch bis kurz vor seinem Tod im Januar 1813 eigenhändig geführten Diarium III. Bei diesen philosophischen Tagebuchaufzeichnungen, welche sein gesamtes wissenschaftliches Leben begleiten, scheint Fichte, wie schon Erich Fuchs angemerkt hat, „an überhaupt keinen Leser gedacht“ (GA II/17, 5) zu haben. Als Soliloquien, in denen der Philosoph in Einsamkeit und Freiheit sich mit sich selbst unterredet, ohne auf die Angemessenheit seiner Meditationen an ein irgendwie geartetes Leserpublikum achten zu müssen, dokumentieren auf besonders authentische Weise Fichtes bis zuletzt vorangetriebenen Versuch der Reformulierung seiner Wissenschaftslehre. Fichte tritt den Lesern hier einmal nicht als Professor oder als popularphilosophischer Redner, sondern als ein auch von allen Konventionen öffentlicher Lehre befreiter ingeniöser Vernunftkünstler entgegen, welcher im Medium des intimen Selbstgespräches sich ‚quer gegen sich selbst‘ der Selbstkritik und Neuerfindung seiner bisherigen Lehre widmet. Was das philosophische Tagebuch Fichtes innerhalb der florierenden Diaristik des 18. und 19. Jahrhunderts auszeichnet, ist nicht nur seine philosophische Thematik, sondern auch sein ausgesprochen inventiver Charakter. Das Diarium III lässt so den Leser am inneren Prozess der experimentellen Neuerfindung seiner spätesten Wissenschaftslehre teilhaben. Anders als das literarisch stilisierte und für ein externes Leserpublikum geschriebene Soliloquium, wie z. B. die Meditationen Descartes, sind die intimen philosophischen Tagebücher Fichtes nur für ihn selbst bestimmt und stellen einen philosophiegeschichtlich vielleicht einmaligen Fund authentischer philosophischer Heuristik dar, welche die Genese der Gedanken- und Wortfindung geradezu im Quellpunkt ihres Entstehens sichtbar werden lässt. Der unsystematische, sprunghafte und bruchstückhafte Stil dieses Diariums spiegelt literarisch die Spontaneität einer inventiven Redetätigkeit, welche sich als inneres Sprechdenken durch die Simultaneität von Wort und Gedanken auszeichnet. Die Worte dienen hier nicht als ein nachträglich gesuchter Ausdruck
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vorher schon fertiger Gedanken, sondern treten im Prozess der Gedankenfindung zugleich mit ihnen auf. Insofern der philosophische Tagebuchschreiber dieses lautlose innere Sprechdenken zeitgleich mit seiner Schreibhand notiert, kann hier von einer Simultaneität von Gedanke, Wort und Schrift gesprochen werden, welche dem Diarium den Charakter besonderer Authentizität verleiht. Diese simultane Gleichursprünglichkeit von Res, Verbum und Scriptum widerspricht hier exemplarisch dem immer noch vorherrschenden, sprachphilosophischen Dogma, dass die Sprache lediglich als nachträglich gesuchter Ausdruck schon vorher verfertigter Gedanken anzusehen sei. Dieses Dogma von der Dominanz des Gedankens über das Wort hat allerdings auch noch der frühe Fichte in seiner Abhandlung Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprunge der Sprache 1795 vertreten und hier die Sprache lediglich als „Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen“ (GA I/3, 97) definiert. Eine dem inventiven Sprechdenken seines Tagebuchs angemessene Theorie der Simultaneität von Gedanke und Wort findet sich im zeitgenössischen Umfeld Fichtes aber z. B. in Heinrich von Kleists Schrift Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Kleists Augenmerk liegt hier von Anfang an auf der gedankenschöpferischen Energie der Redetätigkeit selbst. „Der Franzose sagt ‚l’appétit Vient en mangeant‘, und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert und sagt: ‚l’idée Vient en parlant.‘“2 Die Gedankenfindung geschieht somit nicht vor, sondern inmitten der Actio oder Performanz des Sprechdenkens selbst, im Sinne „einer allmählichen Verfertigung des Gedankens aus einem in der Not hingesetzten Anfang“3. In diesen Akten des inneren Sprechdenkens entspringt der heuristische Prozess des Philosophierens aus der Synergie parallel laufender Vorstellungen und Bezeichnungen: „Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemütsakte, für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.“4 Bei dieser Allegorie des zweirädrigen Wagens innovativen Sprechdenkens verweist Kleist auch auf eine aufschlussreiche Bemerkung Kants über die „Hebammenkunst der Gedanken“5. Kant unterscheidet nämlich in § 50 seiner Meta-
|| 2 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, Bd. II, München 5 1970, 319. 3 Kleist, Sämtliche Werke (Anm. 2), 322. 4 Kleist, Sämtliche Werke (Anm. 2), 322. 5 Kleist, Sämtliche Werke (Anm. 2), 324.
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physischen Anfangsgründe der Tugendlehre zwischen dem akroamatischen Vortrag, welcher sich an bloße Zuhörer wendet und dem erotematischen Vortrag, in welchem der Lehrer seine Schüler in ein Frage-Antwort-Spiel verwickelt. Diese erotematische Methode spaltet sich wiederum einerseits in eine, das Gedächtnis der Schüler prüfende katechetische Lehrart und andererseits in eine die Vernunft aktivierende dialogische Lehrart. Diese, das Selbstdenken der Schüler anregende dialogische Lehrart bezeichnet Kant in Anspielung an die Sokratische Maieutik nun als „Hebamme seiner Gedanken“6. Allerdings zeichnet sich das Fichtesche Diarium durch eine neuzeitliche Intensivierung des subjektiven Selbstbezugs aus, durch welche die externe Rhetorik des antiken Sokratischen Dialogs verinnerlicht wird und sich in die interne Rhetorik des einsamen Selbstgesprächs verwandelt. Diese Internalisierung des maieutischen Frage- und Antwortspiels setzt eine anspruchsvolle Selbstdifferenzierung des Autors voraus, welcher sich als Selbstunterredner in die zwei entgegengesetzten Rollen des Fragenden und des Antwortenden aufspaltet. Durch diese absichtlich herbeigeführte Dramatisierung des Selbstgesprächs in das bipolare Spiel des Dialogs erzeugt der selbstexperimentelle Tagebuchautor Fichte in sich eine geistige Spannung, aus der neue und überraschende Lösungen seines Philosophierens entspringen sollen. So etwa gibt er sich selbst die folgende Antwort auf die Frage nach dem eigentlichen Grundproblem seiner letzten Überlegungen zur Wissenschaftslehre: „Was soll denn verstanden werden; Antwort: gar nicht das Ich, sondern das absolute Leben selbst“ (GA II/17, 181). Der eigentliche Gegenstand dieser letzten Selbstvergewisserung im Diarium III ist demnach nicht mehr nur das transzendentale Ich, sondern vielmehr eine Hermeneutik des absoluten Lebens, dem es entspringt. Dabei beantwortet sich der philosophische Tagebuchschreiber seine Frage nach der wahren qualitativen Bestimmtheit dieses absoluten Lebens selbst mit dem folgenden Hinweis auf dessen reine Bildlosigkeit und Ikonoklastizität: „Es dringt sich mir nun hier die Frage auf; was ist denn also das wahre Leben? worauf die Antwort wäre: das qualitativ bildlose, reine“ (GA II/17, 151). Das zweite hervorstechende Kunstmittel stellt neben der dialogischen Dramatisierung die für das philosophische Selbstgespräch typische reflexive und kritische Besinnung auf das eigene Redehandeln dar. Das Soliloquium des Tagebuchs alteriert so zwischen den Passagen von unüberdacht dahinströmender kreativer Gedanken- und Wortproduktion (inventio) und der kritischen Beurteilung (iudicium) ihrer Resultate. Die Zäsur zwischen dem spontanen Strom inven-
|| 6 Immanuel Kant, AA VI, 478.
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tiven Sprechdenkens und dem Modus seiner kritischen Reflexion wird im Text oft durch den Ausdruck ‚Halt‘ markiert. Diese redereflexiven Feststellungen beziehen sich einerseits objektiv auf den sachlichen Inhalt und anderseits subjektiv auf die pragmatische Form des inneren Selbstgesprächs. Zu den sachbezogenen Feststellungen, welche die vorläufigen Resultate der bisherigen Überlegungen festhalten, gehören z. B. das Fixieren eines bedeutsamen Gedankenfundes: „Halt, noch ein sehr wichtiger Gedanke“ (GA II/17, 84); oder eines innovativen Gedankens: „Halt: da ist allerdings eine durchaus neue Erwägung“ (GA II/17, 66); oder die euphorische Feststellung der vermeintlich endgültigen Systemvollendung: „Halt, da liegts; […] du hast die eigentl. lezte, u. tiefste Frage der TransscendentalPh. gelöst, u. das System gefunden“ (GA II/17, 109). Unter den pragmatischen Bemerkungen, welche den Fortgang des philosophischen Selbstgespräches lenken, findet sich z. B. der Hinweis auf eine mögliche Gedankenvertiefung: „Halt: es scheint hier noch etwas zu liegen, noch tiefer im Mittelpunkte: ein unmittelbares lebendiges Bildseyn. Bildseyn in der Duplicität“ (GA II/17, 8); oder die Feststellung einer Aporie und ihrer möglichen Lösung durch eine neue Distinktion: „Halt, um aus dieser Verwirrung, u. Unbeholfenheit mir herauszuhelfen unterscheide ich […]“ (GA II/17, 9); oder einer notwendigen Korrektur: „Halt: daß ich von Begriffen, als todten, u. fertigen, rede, ist schon unrecht: ich muß eigentlich in das Begreifen selber, in das Leben hinein“ (GA II/17, 8). Ein weiteres Beispiel, welches in sich die rhetorische Technik des internen Dialogs mit dem Kunstmittel der redereflexiven Feststellung verbindet, lautet so: „Was Ich heisse? ohne Voraussetzung, u. Zirkel. – Halt: hier ganz populär: die Sache ist so: es wird das Bild eines Ich gebildet“ (GA II/17, 179). Dieses komplexe Beispiel ist auch deshalb besonders aufschlussreich, weil es das thematische Leitmotiv und die Problemformel des gesamten Diarium III anklingen lässt, nämlich: das Ich als Bild seiner selbst.
2 Die Depotenzierung des ikonostatischen IchPrinzips „Ueber das Ich muß durchaus eine ganz neue Forschung angestellt werden“ (GA II/17, 61). In seinem Diarium III sucht der letzte Fichte nach eigenem Bekunden noch einmal einen Neuanfang in seiner transzendentalen Analyse des Ich, welche sein Philosophieren seit seiner frühen Wissenschaftslehre bewegte. Dabei ist
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der Ausgangspunkt für die inventive Suchbewegung seines philosophischen Tagebuchs eine Formel, welche die Ich-Thematik seiner Frühphilosophie mit der Bildproblematik seiner Spätphilosophie in ein spannungsvolles Verhältnis setzt: „Ich bin Bild meiner selbst/ keine üble Formel: es ist aber sehr vieles darin zu bedenken“ (GA II/17, 104). Die heuristische Formel ‚Ich bin Bild meiner selbst‘ exponiert zunächst noch einmal die Gedankenfigur der transzendentalen Ichheit, welche an der ‚Spitze‘ seiner frühen Grundsatzphilosophie als transzendentaler „Erklärungsgrund aller Thatsachen des empirischen Bewusstseyns“ (GA I/2, 258) diente. In Anspielung auf das „Ich = Ich“ (GA I/2, 257), der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95, stellt sich damit einerseits im Diarium von 1813/14 erneut die Frage nach der apperzeptiven Identität des Selbstbewusstseins. „Alles kommt auf die Ichheit an: die Identität: ich bin Bild meiner selber“ (GA II/17, 7). Auf der anderen Seite wird in der Formel ‚Ich bin Bild meiner selbst‘ diese transzendentale Identitätsfrage wiederum mit der Bildproblematik seiner Berliner Spätphilosophie konfrontiert, welche das Ich als ‚Bild des Absoluten‘7 bestimmt hatte. Dabei wird im Diarium III, in Anknüpfung an den Bildbegriff der späten Berliner Wissenschaftslehre, das Phänomen des vorstellenden Selbstbewusstseins nun insgesamt als Produkt einer universellen Ikonostase des transzendentalen Ich gefasst. Der Bildbegriff wird hier auf der Grundlage der Theorie der transzendentalen Einbildungskraft infinitisiert und auf das gesamte Vorstellungsuniversum des menschlichen Selbstbewusstseins bezogen. Gegen den auf konkret-sinnliche Anschauungen restringierten gewöhnlichen Sprachgebrauch bezieht die transzendentalphilosophische Terminologie Fichtes nun auch alle abstrakt-begrifflichen Vorstellungen in ihren infiniten Bild-Begriff mit ein. In der Konsequenz dieser transzendentalen Infinitisierung und bewusstseinstheoretischen Universalisierung des Bildbegriffs wird im Diarium III selbst die apperzeptive Ich-Vorstellung als bloßes ‚Bild‘ verstanden: „Sich verstehen, Bild seyn seiner selbst“ (GA II/17, 169). Damit kehrt im philosophischen Tagebuch des letzten Fichte offenbar noch einmal die ungelöste Frage nach dem Realitätsund Seinsgehalt des Ich zurück, welche die neuzeitliche Subjektivitätsphilosophie seit dem Traum- und Trugbildverdacht der Cartesianischen Meditationen heimsucht. Veranlasst durch Jacobis Einwände gegen seine frühe Wissenschaftslehre hatte Fichte allerdings schon vorher dieses transzendentalphilosophische Fiktionalitäts- und Nihilismusproblem gedanklich durchgespielt und im zweiten
|| 7 Vgl. Wolfgang Janke, Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin/New York 1993, 293–392.
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Buch seiner Bestimmung des Menschen literarisch eindrucksvoll formuliert: „Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder […], Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. – Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird“ (GA I/6, 251). Bereits hier in der Bestimmung findet sich schon die für Fichte typische und in der Problemformel des Diarium III wiederkehrende ikonologische Formulierung der prekären Selbstdarstellungsproblematik des Ich. Im dritten Buch der Bestimmung hatte Fichte das damals theoretisch anscheinend unlösbare Nihilismusproblem des Ich mit einem dezisionistischen Sprung in den pragmatischen Glauben zu bewältigen versucht. Dass dieser glaubensphilosophische Weg zur vermeintlichen Lösung des Realitätsproblems des Ich für den letzten Fichte selbst systematisch unbefriedigend bleibt, bezeugt dann die Wiederkehr der These ‚Ich bin Bild meiner selbst‘ als Problemformel des Diarium III. Ausgerüstet durch die revidierte Systematik der Seins- und Lebenslehre seiner seit 1804 vorgetragenen Berliner Spätphilosophie versucht der letzte Fichte hier nun das in seiner frühen Wissenschaftslehre theoretisch ungelöste Realitätsproblem des Ich noch einmal anzugehen. Demnach erscheint die apperzeptive Ich-Vorstellung erneut als ein theoretisch rätselhaftes und höchst erklärungsbedürftiges „Ich-Denkbild“ (GA II/17, 98). Ausgehend von der ikonologischen Problemformel ‚Ich bin Bild meiner Selbst‘ unternimmt der letzte Fichte kurz vor seinem Tode die erstaunlich selbstkritische wie ehrgeizige Denkanstrengung eines ‚kühnen Idealismus‘, um gleichsam ‚quer gegen sich selbst‘ seine eigenen bisherigen Versuche zur Wissenschaftslehre zu übertreffen. „Ich vollziehe da etwas kühneres, als wohl je: (ich glaube ich habe es nie so gethan) die Ichheit selbst nicht in der Anschauung nachzuweisen, sondern sie abzuleiten, u. zusammen zu setzen aus ihren Elementen. Doch bedarf es in der That dieses Wagstüks, da die W.L. ja Konstruktion ist des Ich. – Sogar das Wort Ich muß erklärt werden“ (GA II/17, 180). Dieses ‚Wagstück‘ des ‚kühnen Idealismus‘ versucht eine scheinbar unmögliche Denkoperation, indem es auf eine überzeugende transzendentale Deduktion der ikonostatischen Ichheit aus einem per se ikonoklastischen Lebensprinzip zielt: „ein Leben jenseit der Apperception, als das, was in dieser erst gebrochen u. gesammlet wird“ (GA II/17, 17). Dabei verweisen Fichtes Überlegungen zunächst auf eine grundsätzliche „Unangemessenheit des Bildes“ (GA II/17, 76) zur Repräsentation des zugrunde liegenden Lebensprinzips. Mit dieser Feststellung der Unangemessenheit von Bild und Leben nimmt der letzte Fichte endgültig Abschied von der mimetischen Repräsentationstheorie und dem eidetischen Denkstil des klassischen Idealis-
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mus. Das hier erneut aufgeworfene transzendentalphilosophische Grundproblem der Inkommensurabilität des ikonoklastischen absoluten Lebens zur ikonostatischen Ich-Form des menschlichen Selbstbewusstseins tritt nun im Diarium III verschärft hervor. So wird die gesamte gegenständliche Vorstellungswelt des Ich aus einer Hemmung der reinen Actuosität des absoluten Lebens durch eine „vis inertiae“ (GA II/17, 75 f.) abgeleitet, welche in letzter Konsequenz den Tod als endgültigen Stillstand aller Lebenstätigkeit bedeuten würde. Das bildhaft vorstellende Selbstbewusstsein des Menschen erklärt sich dabei als ein Hemmungsprodukt des absoluten Lebens. In diesem Sinne ist es nicht nur metaphorisch, wenn der letzte Fichte kurz und bündig feststellt: „Bild ertödtend das Leben“ (GA II/17, 62). Allen Phänomenen des menschlichen Selbstbewusstseins, seien es sinnliche oder begriffliche Vorstellungen, wohnt demnach ein bildhaftes Moment des Stillstandes inne, in welchem sich für den letzten Fichte bereits die petrifizierende Macht des Todes artikuliert. Aus der Perspektive dieses thanatologisch akzentuierten transzendentalen Ikonoklasmus erscheint das gesamte bildhafte Universum des vorstellenden Selbstbewusstseins als ein illusionäres Totenreich, welches lediglich ein „Bild des Lebens, ohne Wahrheit, mit der Ertödtung drin“ (GA II/17, 76) abgibt. Bereits in der Anweisung zum seligen Leben deutet sich diese Todesmetaphorik an, wenn Fichte dort dem gesamten Wissen des menschlichen Selbstbewusstseins lediglich den „Charakter des bloßen Bildes“ (GA I/9, 88) zubilligt. Schon in der Anweisung tritt dabei auch die Ambivalenz der Apperzeption und des ihr zugrunde liegenden Ich-Prinzips zutage. Einerseits ist das transzendentale Ich als Reflexionsprinzip zwar der Schöpfer des menschlichen Selbstbewusstseins und seines Vorstellungsuniversums. Auf der anderen Seite jedoch stellt es zugleich ein Spaltungsprinzip dar, welches eine „absolute Trennung“ (GA I/9, 96) des menschlichen Daseins von dem ihm selbst zugrunde liegenden absoluten Sein und Leben bewirkt. Demnach ist das Ich-Prinzip verantwortlich für jene schöpferische Urkatastrophe, welche durch eine „Verwandlung des unmittelbaren Lebens in ein stehendes und todtes Seyn“ (GA I/9, 97) dem menschlichen Gegenstandsbewusstsein zugleich sein Dasein verleiht. Bereits in der Anweisung verweist die Todesmetaphorik Fichtes somit auf die bewusstseinstheoretische Tragik, dass sich das menschliche Dasein durch sein eigenes Ich fortwährend selbst von seinem beseligenden Seins- und Lebensgrund abschneidet und entfremdet. „Nicht im Seyn, an und für sich, liegt der Tod; sondern im ertödtenden Blicke des todten Beschauers“ (GA I/9, 57). Diese Metaphorik des ‚ertötenden Blicks‘ des Ich nimmt der letzte Fichte in seinem Diarium III wieder auf. So wird die Ichheit hier zunächst wiederum als das „GrundAuge“ (GA II/17, 171) bezeichnet, welches die gesamte Bildwelt des vor-
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stellenden Selbstbewusstseins erzeugt. Auf die Spitze getrieben geht auch im Diarium III von seinem ikonostatischen Todesblick eine geradezu exorzistische Gewalt aus, welche jede Lebenskraft aus seinen Objekten heraustreibt. „Das Leben herausgetrieben: nur die todte Gestalt kann eintreten ins Bild, nicht die Kraft“ (GA II/17, 59). ‚Quer gegen sich selbst‘ widerspricht der letzte Fichte seiner einstigen „Erzählung von der Tathandlung“ und notiert nunmehr in seinem Diarium III: „So sage ich ists, ohne Zirkel, nicht das Ich schaut sich, sondern das Leben schaut hin Ich: Daß es hinterher spricht: es habe sich hingeschaut, ist der Reflex der Hinschauung“ (GA II/17, 180). Diese letzte dokumentierte Entwicklung der Wissenschaftslehre erklärt somit die anfangs mit absoluter Selbstsetzungsmacht ausgestattete philosophische Figur des absoluten Ich zu einem bloßen ‚Reflex der Hinschauung‘. Dem Ich wird so im Diarium III jeglicher eigenständiger Tatcharakter abgesprochen. Damit widerruft der letzte Fichte seinen eigenen früheren ‚Ausgang vom Ich‘ als eine transzendentalphilosophische Selbsttäuschung. Größer könnte der Widerspruch des letzten Fichte zu seiner eigenen frühen Grundsatzphilosophie, welche einst die Gedankenfigur des Ich als absolutes Subjekt inthronisierte, nicht sein, wenn er im Diarium III nunmehr feststellt: „Das ist die Sache; zu sehen, u. zu verstehen ein Leben, das ich nicht bilde, sondern das mich bildet“ (GA II/17, 199). Als projektiver Effekt depotenziert, muss das Ich hier den Charakter seiner einstigen Absolutheit und schöpferischen Autoinvenienz, d. h. „das absolute schöpferische Vermögen zu entwerfen“ (GA II/17, 201), endgültig an das ihm zugrunde liegende absolute Leben abgeben.
3 Die ‚fremde Kraft‘ des ikonoklastischen Lebens Im ‚kühnen Idealismus‘ des Diarium III nimmt seine Wissenschaftslehre in aller Entschiedenheit nicht mehr ihren ‚Ausgang vom Ich‘, sondern vom Prinzip eines per se bildlosen, absoluten Lebens: „In der W.L. könnte ich mich wohl berufen, auf das Vermögen ein absolutes Leben zu setzen“ (GA II/17, 192). Die Transzendentalphilosophie der Wissenschaftslehre wandelt sich somit zuletzt zu einer ikonoklastischen Hermeneutik des absoluten Lebens und setzt damit den Schlusspunkt unter ihre Werkgeschichte. Von ihrem Ende her gelesen, stellt sich somit der Werklauf der Fichteschen Wissenschaftslehre als sukzessiver Prozess der Depotenzierung ihrer anfänglich dominierenden Figur des absoluten Ich dar. Das Prinzip des absoluten Lebens lässt sich als philosophische Erstsetzung naturgemäß nicht weiter ableiten und stellt zudem, verglichen mit dem ‚Ichleben‘ des vorstellenden Selbstbewusstseins, eine rätselhafte, ‚andere‘ Form des
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Lebens dar. „In der That noch ein andres Leben ausser dem IchLeben“ (GA II/17, 76). Negativ lässt sich dieses alternative Leben jenseits der ichhaften Vorstellungswelt zunächst durch den Charakter der ‚Bildlosigkeit‘ beschreiben. „Leben, hat ein negatives Merkmal: die Bildlosigkeit“ (GA II/17, 111). A fortiori fomuliert besteht die Aktionsform dieses absoluten Lebens in der ikonoklastischen Tätigkeit des „Vernichten(s) des Bildes“ (GA II/17, 133). In Abgrenzung zum Ichleben lässt es sich ferner durch pure „Reflexlosigkeit“ (GA II/17, 133) bestimmen. Demnach besitzt es auch nicht den Charakter einer um sich selbst wissenden und sich selbst durchsichtigen Intelligenz: „Das Leben selbst schaut sich nie“ (GA II/17, 136). Dementsprechend verstärkt sich im intimen philosophischen Tagebuch des Diarium III in auffälliger Weise die Tendenz, sowohl auf die terminologischen Anklänge an die Ontologie der klassischen Metaphysik, als auch auf die Vernunftund Licht-Terminologie der Aufklärung zu verzichten. Die frühere, noch ontologisch gehaltene terminologische Doppelformel ‚Sein und Leben‘ wird nun in der philosophischen Deskription des ikonoklastischen Prinzips weitgehend reduziert auf den einfachen vitalistischen Terminus des ‚Lebens‘. Zudem weist der Text des Diarium III nur noch wenige Spuren von Fichtes früherer Vorliebe für die theologische Terminologie auf, welche ihn 1806 in der Anweisung zum seligen Leben noch in extenso von dem beseligenden „göttliche(n) Leben“ (GA I/9, 90) sprechen ließ. Die onto-theologische Topik der europäischen Metaphysikgeschichte scheint so bereits im spekulativen Vitalismus des letzten Fichte ihren prägenden Einfluss zu verlieren. Seiner früheren Vernünftigkeit und Göttlichkeit beraubt, bleibt im Diarium III für das spekulative Prinzip des absoluten Lebens nur noch die Bestimmung der „Fremdheit der Kraft“ (GA II/17, 185) übrig. Weder Rationalität noch Divinität, sondern aenigmatische Alienität machen demnach den Grundcharakter des ikonoklastischen Lebensprinzips aus, welches das intime Selbstgespräch des letzten Fichte bewegt. Die ‚fremde Kraft‘ des letzten Fichte besitzt mit ihrer Alienität und irrationalen Opazität eine unverkennbare Affinität zu anderen Gedankenfiguren des spätromantischen Philosophierens, wie z. B. zu Schellings ‚dunkeln Grund‘8 oder auch zu Schopenhauers Prinzip des ‚blinden Willens‘, in dem sich eine „radikale Relativierung des Kognitiven“9 ausspricht. Dennoch finden sich in Fichtes Diarium
|| 8 Vgl. „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, hg. v. Thomas Buchheim und Friedrich Hermanni, Berlin 2004. 9 Marek J. Simek, „Schopenhauer und die Philosophie des Deutschen Idealismus: Negation, Kritik, Fortsetzung“, in: Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus, hg. v. Lore Hühn, Würzburg 2006, 255–262, hier: 261.
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III keine nennenswerten Spuren der spätromantischen Melancholie Schellings oder des Schopenhauerschen Pessimismus. Im Gegenteil vermittelt Fichtes Diarium III durchgängig den Eindruck eines weiterhin ungebrochenen und manchmal sogar euphorisch gesteigerten philosophischen Enthusiasmus. Die radikale Depotenzierung der philosophischen Gedankenfigur des Ich steht somit in einem merkwürdigen Kontrast zur weiterhin euphorischen Grundgestimmtheit seines Autors. Das Theorieschicksal des Ich als zentrale Gedankenfigur der Fichteschen Wissenschaftslehre, die mit ihrer sthenischen Positionierung in der frühen Grundsatzphilosophie beginnt und schließlich in der Asthenie des Diarium III endet, antizipiert zwar die allgemeine philosophiegeschichtliche Depotenzierungstendenz des einst schöpferischen Ich bis zum deprimierten „erschöpfte(n) Selbst“10 der Gegenwart. Den philosophischen Optimismus seines Autors Fichte jedoch scheint dies erstaunlicherweise nicht tangieren zu können.
4 Ethos und Pathos des philosophischen Selbstgesprächs Die literarische Form des philosophischen Tagebuchs eignet sich im besonderen Maße neben der objektiven Sachdarstellung auch für die subjektive Selbstinszenierung ihres Autors. Auch im Diarium III nutzt der letzte Fichte ausgiebig die sich ihm bietende Möglichkeit, nicht nur seine neuen Gedanken und Formulierungen zur Wissenschaftslehre, sondern sich auch in eigener Person als philosophischer Autor zu präsentieren. Die interne Rhetorik seines philosophischen Tagebuchs bildet so auch eine literarische Bühne für die individuelle Selbstinszenierung des philosophischen Gelehrten Fichte. „In der That bin ichs Individuum, das die W. L. treibt“ (GA II/17, 182). So findet in den autokommunikativen Passagen des Diarium III eine explizite Selbstvergewisserung des Autors über sein Gelehrten-Ethos und die rhetorische Pragmatik seines inneren Redehandelns statt. Im Medium der Selbstunterredung tritt uns Fichte in Personalunion als Autor und zugleich als Adressat entgegen. Der romantische Philosoph und Rhetoriktheoretiker Adam Müller hatte bereits 1804 in seiner Abhandlung Lehre vom Gegensatze darauf hingewiesen, dass die rhetorische Situation durch einen grundsätzlichen „Gegensatz von Ich und
|| 10 Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2008.
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Gegenich“11 bestimmt sei. Diese interpersonale Differenz externer Rhetorik zwischen dem Sprecher (Ich) und dem Hörer (Gegen-Ich) verwandelt sich im Falle des philosophischen Tagebuchs in die intrapersonale Differenz interner Rhetorik. Der philosophische Tagebuchschreiber Fichte gewinnt so auf dem Feld des inneren Sprechdenkens jenen redereflexiven Spielraum, der es ihm erlaubt, sich über sein eigenes Redehandeln Rechenschaft zu geben, sich selbst zu motivieren und den Fortgang seiner Überlegungen zu steuern. An erster Stelle steht dabei für Fichte die Maxime der schonungslosen Selbstkritik, welche dazu auffordert, schonungslos selbstkritisch und ‚quer gegen sich selbst‘ zu argumentieren. „Während der gesamten Überprüfung werden die eigenen Vorstellungen geradezu schonungslos kritisiert.“12 Diese Maxime schonungsloser Selbstkritik lässt sich in einem intimen philosophischen Tagebuch wesentlich besser realisieren als in einer öffentlichen akademischen Vorlesung, welche ständig auf die Identitätserwartungen eines äußeren Publikums nach der rhetorischen Regel des sozialen Decorum Rücksicht zu nehmen hat. So kann Fichte in der intimen Freiheit und Einsamkeit seines Diarium III z. B. die Marginalität seiner bisherigen Überlegungen kritisieren: „Bis jezt bin ich drum herum gewesen, ohne eigentlich ins Herz einzudringen“ (GA II/17, 9); oder ihre Obskurität beklagen: „was ich da sage von Leben, u. Geist, sind dunkle Vorstellungen“ (GA II/17, 9); oder schlicht seine ganzen bisherigen Ausführungen für obsolet erklären: „was heißt nun dies: etwa sie ist Bild ihrer selbst: dies sagt nichts“ (GA II/17, 8). In den dramatischen kognitiven Krisen des Diariums hilft sich der Autor selbst durch affektgerichtete Autokommunikation, um seine philosophische Selbstmotivation aufrecht zu erhalten. Die rhetorische Pragmatik dieser moralischen Selbstaffizierung folgt dabei dem philosophischen Ethos des Sapere aude und umfasst eine ganze Palette emotional gefärbter Selbstermahnungen. So bekämpft Fichte angesichts der schwierigen und kraftzehrenden Untersuchungen einerseits die Untugend der schleichenden Erschlaffung und philosophischen Acedia. Er tadelt z. B. sich selbst mit den Worten: „Ich bin zu schlaff“ (GA II/17, 131) oder: „Halt: was zaudere ich“ (GA II/17, 142). Andererseits spricht er sich selbst Mut zu und ermahnt sich, unverdrossen und mit verstärkter Kraft sein Projekt des ‚kühnen Idealismus‘ in Angriff zu nehmen. Die selbstmotivierenden Sprechakte reichen hier von moderaten Formulierungen wie „Nur ruhig muthig, u. kühn“ (GA II/17, 135) über anfeuernde Ermahnungen wie „Gar richtig. nur mit entschloßner Kühnheit fort“ (GA II/17, 145) und „Nur fort: es könnte sich doch
|| 11 Adam Heinrich Müller, Lehre von Gegensatze, Berlin 1804, 44. 12 Reinhard Lauth, Ultima Inquirena (Anm. 1), XII.
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neues ergeben“ (GA II/17, 179) bis zu „Aber ja fleißig, denn jezt bin ich endlich im Mittelpunkte“ (GA II/17, 124). Durch schonungslose Selbstkritik und Selbstermahnung angetrieben, gestaltet sich die innere Redehandlung des Diarium III insgesamt zu einem spannungsvollen heuristischen Drama des Suchens und Findens. In der spontanen Erfindung neuer Gedanken ist der Forscher Fichte nach eigenem Bekunden nicht nur auf sein Können, sondern auch auf das Glück angewiesen. „Allerdings noch immer eine schwierige Forschung: – (Ich bin in der höchsten Abstraktion drin, u. werde mich wohl mit der Ausarbeitung auf das Glük verlassen müssen)“ (GA II/17, 108). Dieser heuristische Fortuna-Moment ist für die ambitionierte philosophische Forschung unverzichtbar, weil sich gerade die Erfindung des Neuen durch methodische Überlegung allein nicht erzwingen lässt. Zudem durchläuft das Drama des Forschungsprozesses zahlreiche Krisen, in denen das Denken zum Stillstand kommt und sogar endgültig aporetisch zu scheitern droht. „Dieses fast unerschwingliche ist es eigentlich/ das Denken steht still: die Forschung scheint abgeschlagen. Ich möchte es erzwingen“ (GA II/17, 37). Auch hier bedarf es dann eines glücklichen Einfalls, um dem Denken neue Wege zu eröffnen. Tatsächlich ist Fichte nach eigenem Bekunden immer wieder das Glück der Invention hold. Die Katastrophe des tragischen Scheiterns im Gesprächsabbruch lässt sich abwehren, so dass der Autor aufatmend sagen kann: „Es wird Licht“ (GA II/17, 109), sodann: „Es ist gewonnen“ (GA II/17, 187) und endlich: „Hier endlich schließt sich das Geheimniß (bisher) ganz auf“ (GA II/17, 165). Dazu gehört auch die euphorische Feststellung eines alles Bisherige überbietenden Gelingens: „So ists: dies endet alles, u. ist vielleicht sogar über die tiefsten Forschungen, die ich jezt angestellt habe, hinaus“ (GA II/17, 147). Zu den affektiven Momenten des Fichteschen Selbstgesprächs gehört nicht zuletzt der intellektuelle Lust- und Genusscharakter seiner inneren Redekultur. So betont der Autor des Diariums z. B.: „Ich bekomme Lust nach Fragen“ (GA II/17, 188) oder auch: „Jezt will ich gleichsam mich erquiken durch Vorgriffe, u. NebenUntersuchungen“ (GA II/17, 75). Wie die folgende Selbstkommentierung andeutet, kann sich der Hedone-Charakter seines inneren Redelebens bis zu einem ‚Überströmungserlebnis‘ steigern, welches die gesamte Person des Philosophierenden ergreift: „Es überströmt mich, besonders unten, eine durchaus neue u. durchgreifende Ansicht. Ich muß mich sammeln“ (GA II/17, 41). So wird das philosophische Ethos zusätzlich durch das Pathos beglückender intellektueller Vollzuglust bestärkt, welche sich nicht ausschließlich kognitiv der Darstellung neuer Gedanken verdankt, sondern vielmehr performativ der gelungenen Actio des kühnen und energischen Stromes innerer Rede entspringt.
280 | ‚Von neuem Erfinder der Wissenschaftslehre‘
5 ‚Das fließende Ich‘ philosophischer Selbsterfindung Die vivifizierende Vollzuglust interner Rhetorik, welche den bereits zu Tode erkrankten Autor des Diarium III immer wieder zu beleben vermag, erklärt, warum Fichte sich bis zuletzt keineswegs resignativ als depressiv erschöpftes Subjekt empfindet, sondern im Gegenteil als optimistisch gestimmter schöpferischer Gelehrter. Insgesamt hinterlässt das Diarium III den Eindruck eines spannenden und neue Perspektiven eröffnenden, autokommunikativen Forschungsgesprächs, welches nach vorläufigen Antworten immer wieder mit neuen Fragestellungen aufwartet. Diesem tendenziell unendlichen Prozess des philosophischen Selbstgesprächs vermag dann nur der nahende physische Tod seines Autors ein Ende zu setzen. Zwischenzeitlich gewinnt der bereits zu Tode erkrankte Wissenschaftslehrer sogar den Eindruck, sich als Philosoph noch einmal neu erfinden zu können: „Halt: ich glaube, das ganz ungeheure gelingt mir schon hier (u. ich werde gewissermaassen von neuem Erfinder der Wissenschaftslehre“ (GA II/17, 181). In der rhetorischen Pragmatik des Diarium III durchdringen sich somit die objektive Tendenz zu einer unaufhörlichen Invenienz der Wissenschaftslehre und das subjektive Streben zur permanenten Autoinvenienz ihres Autors. Dazu bietet Fichte in seinen letzten Aufzeichnungen mit Ausdruck „das fliessende Ich“ (GA II/17, 88) sogar eine erstaunliche neue Selbstbeschreibung, welche mit den üblichen identitätslogischen Definitionen des Ich bricht. In dieser Wasser-Metaphorik des ‚fließenden Ich‘ deutet sich eine ‚Verflüssigung‘ des Ich an, welche „gleichsam eine fliessende Identität, d. i. eine Identität im Wandel“ (GA II/17, 199) in den Blick nimmt.13 Diese Tendenz zur ‚Verflüssigung‘ des Ich beim letzten Fichte, entspringt vermutlich der beglückenden Erfahrung eines bereits zu Tode erkrankten Autors, welcher in der internen Rhetorik seines intimen philosophischen Tagebuchs die beglückende Erfahrung macht, sich ‚quer gegen sich selbst‘ als Wissenschaftslehrer noch einmal neu erfinden zu können.
|| 13 Zur Neuartigkeit der philosophischen Selbstbeschreibung des letzten Fichte, auf welche seine herakliteische Metapher des ‚fliessenden Ich‘ hindeutet, siehe: Martin Bondeli, Apperzeption und Erfahrung. Kants transzendentale Deduktion im Spannungsfeld der frühen Rezeption und Kritik, Basel 2006, 147–157.
Kryptoplatonismus Heideggers eigenwillige Adaption der Doxa
1 Vorbemerkungen War Heidegger in Sachen Rhetoriker ein reiner Neoaristoteliker?1 Auf den ersten Blick scheint es so. Unbestreitbar geht der Einfluss der aristotelischen Philosophie über die von Heidegger selbst eingestandene, explizite Rezeption der PatheLehre hinaus, die zweifellos in einer „direkte(n) Nachfolge der aristotelischen Rhetorik“2 steht. Er reicht weit in die implizite, apokryphe Rezeption der klassischen Rhetorik hinein, die die existenziale Hermeneutik von Sein und Zeit durchzieht.3 Dabei führt Heideggers Weg von der Rhetorik des Aristoteles zur Existenzialphilosophie von Sein und Zeit auch über die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie aus dem Jahre 1924. Zu den Grundbegriffen dieser Aristoteles-Vorlesung, die Heidegger dann in Sein und Zeit apokryph adaptiert, gehört auch der antike Begriff der Doxa, der sich in Sein und Zeit in seiner Phänomenologie der Öffentlichkeit niederschlägt. Dabei springt die merkwürdige, „negative Aspektuierung des Öffentlichkeitsphänomens“4 in Sein und Zeit, die nicht in Übereinstimmung mit der aristotelischen Politik und Rhetorik zu bringen ist, aus dem bisher von der Forschung favorisierten Bild Heideggers als phänomenologischem Neoaristoteliker heraus. Ferner ist es nicht zuletzt die unter dem Titel ‚Öffentlichkeit‘ figurierende apokryphe DoxaAdaption, die den berechtigten Eindruck hinterlässt, dass die Philosophie von || 1 Besonders nachdrücklich wird die These vom phänomenologischen Neoaristotelismus Heideggers in jüngster Zeit von Günter Figal vertreten: „Aristoteles ist der Denker, an dem Heidegger Maß nimmt. […] Als ob es die platonischen Dialoge nicht gäbe, sind nicht nur seine Überlegungen zum Wesen der Aussage, sondern auch die zum Unterschied zwischen sachorientiertem Sprechen und der rhetorischen Macht der Überzeugung auf Aristoteles konzentriert“ (Günter Figal, „Heidegger als Aristoteliker“, in: Heidegger-Jahrbuch 3, 2007, 53–76, hier: 54 f.). 2 Jean Grodin, Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, 29. 3 Zur apokryphen Rezeption der klassischen Rhetorik in Sein und Zeit vgl. Peter L. Oesterreich, „Die Idee einer existentialontologischen Wendung der Rhetorik in M. Heideggers Sein und Zeit“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 43, 1989, 656–672; Ders., „Phänomenologie“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, 921–927; Daniel M. Gross/Ansgar Kemmann, Heidegger and Rhetoric, New York 2005. 4 Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, 20. https://doi.org/10.1515/9783110527667-019
282 | Kryptoplatonismus
Sein und Zeit „kein Verständnis für das Prinzip der demokratischen Öffentlichkeit“5 besitzt und eine abschätzige Einstellung öffentlicher Rede als ‚Gerede‘ erkennen lässt, die „der traditionellen philosophischen Verachtung praktizierter Rhetorik entspricht“6. Vordergründig betrachtet war es nicht falsch, diese rätselhafte Deviation Heideggers vom aristotelischen Gedankengut zunächst als Ausdruck einer in der späten Weimarer Republik weit verbreiten Zivilisationskritik zu sehen, die auch der modernen, demokratischen Öffentlichkeit skeptisch gegenüberstand.7 Inzwischen ermöglicht uns aber heute die lang erwartete Veröffentlichung der Aristoteles-Vorlesung aus dem Jahre 1924 einen tieferen Einblick in die philosophiegeschichtliche Genese dieser von Aristoteles abweichenden, tendenziell rhetorikrepugnanten und demokratiefernen Phänomenologie der Öffentlichkeit, die Heidegger in Sein und Zeit präsentiert. Es lässt sich nun zeigen, dass schon die mehrdimensionale Phänomenologie der Doxa, die Heidegger in den Grundbegriffen der aristotelischen Philosophie vorträgt, philosophiegeschichtlich ambivalent zu beurteilen ist. Neben einer Rezeption der aristotelischen Endoxa-Lehre enthält sie auch schon jene konkurrierende Gegentendenz einer radikalisierten, platonischen Doxa-Kritik, die dann in Sein und Zeit einseitig zu Herrschaft gelangt. Im Punkte dieser eigenwilligen Adaption der Doxa in Sein und Zeit erweist sich Heidegger – so die These meiner Interpretation – gerade nicht als rhetorikaffiner Neoaristoteliker, sondern als ein rhetorikrepugnanter Kryptoplatoniker. Damit wird die auch in der jüngsten Forschung vorherrschende Vorstellung eines generell affirmativen Verhältnisses Heideggers zur Rhetoriktradition hinfällig und korrekturbedürftig.8 Neben der fraglos weit reichenden Rezeption der aristotelischen Rhetorik sollte auch der Einfluss des rhetorikrepugnanten Platonismus auf Heideggers Hauptwerk nicht unterschätzt werden. Als Quelle der problematischen Phänomenologie der Öffentlichkeit reicht seine sowohl der Rhetorik als auch der Demokratie feindliche Doxa-Kritik bis tief in das systematische Zentrum von Sein und Zeit hinein.
|| 5 Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Wien/München 1994, 202. 6 Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1987, 262. 7 Vgl. Oesterreich, Fundamentalrhetorik (Anm. 4), 21. 8 Vgl. Gross/Kemmann, Heidegger and Rhetoric (Anm. 3), hier insbesondere: Daniel M. Gross, „lntroduction: Being-Moved. The Pathos of Heidegger’s Rhetorical Ontology“, 1–45.
Heideggers Interesse an der Doxa | 283
2 Heideggers Interesse an der Doxa Schon im Hintergrund der Fragestellung der gesamten Aristoteles-Vorlesung von 1924 steht eine moderne, metaphilosophische Abwandlung des traditionellen platonischen Oppositionstopos’ Doxa contra Episteme. Die eigentliche Absicht Heideggers zielt nicht nur darauf ab, einige ‚Grundbegriffe‘ der Aristotelischen Philosophie zu erläutern, sondern auch die historische Genese der philosophischen Begrifflichkeit in der klassischen griechischen Philosophie überhaupt zu erläutern. Heideggers metaphilosophische Fragestellung an Aristoteles lautet: Wie lässt sich auf dem Boden einer durch Meinungen beherrschten vorwissenschaftlichen Lebenswelt die Entstehung wissenschaftlicher Philosophie überhaupt erklären? Oder: Wie lässt sich auf der Basis einer Doxa-Anthropologie, die den Menschen zunächst als rhetorisch beeinflussbares Meinungswesen beschreibt, die Erfindung der logisch geformten Begriffssprache philosophischer Wissenschaft als ausgezeichnete Möglichkeit menschlichen Daseins und Redenkönnens verstehen? Das Phänomen einer exemplarischen Redekultur, welche die Möglichkeiten des menschlichen Redenkönnens bereits voll ausgebildet und zudem reflektiert hat, findet Heidegger nicht in der zeitgenössischen deutschen Gegenwart, sondern in der Antike, bei den Griechen. Heidegger realisiert damit in seiner Aristoteles-Vorlesung den Topos vom Vorbildcharakter der griechischen Klassik, allerdings sogleich mit einer auf der Phänomenologie der Rede liegenden Akzentuierung: „Die Griechen existierten in der Rede.“9 Die klassische griechische Kultur sei – so Heidegger – zur Zeit Platons und Aristoteles’ eine bereits hoch differenzierte Redekultur gewesen, welche konsequent die Möglichkeiten des anthropologischen Redeprinzips auslebte. Die Griechen hätten die existenzielle Möglichkeit des Redenkönnens – durch die Sophistik geschult – bereits in all ihren Facetten ausgebildet. Zu dieser hochreflexiven und artifiziellen Redekultur der Griechen gehöre nicht nur ihre Vorliebe für die öffentliche Redepraxis, sondern darüber hinaus ihre technische Reflexion und Potenzierung durch die Redekunst. Diese ermögliche schließlich die Steuerung und Beherrschung der öffentlichen Überzeugungsbildung durch den sophistisch geschulten Redner. „Der Rhetor ist derjenige, der die eigentliche Macht über das Dasein hat: ῥητορικὴ πειθοῦς δημιουργός, das Redenkönnen ist diejenige Möglichkeit, in der ich über
|| 9 GA 18, 108.
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die Überzeugungen des Menschen, wie sie miteinander sind, die eigentliche Herrschaft habe.“10 Dieses Bild von der kulturellen Herrschaft der sophistischen Rhetorik bildet ferner die Kontrastfolie für Heideggers platonisierenden, heroischen Entstehungsmythos der klassischen griechischen Philosophie. Dabei greift Heidegger den platonischen Topos vom urstiftenden Konflikt der Philosophie mit der Sophistik auf und formt ihn in seinem Sinne zu einem Existenzkampf des gesamten griechischen Kulturlebens um seine eigentliche Seinsmöglichkeit aus. Die bahnbrechende Erfindung der philosophischen Begriffssprache erscheint bei Heidegger als die geradezu heroische, wissenschaftliche Gegenbewegung zur vermeintlich in ‚Geschwätz‘ versunkenen Alltagskultur der Griechen. „Zur Zeit Platos und Aristoteles’ war das Dasein so mit Geschwätz beladen, dass es der ganzen Anstrengung beider bedurfte, um überhaupt mit der Möglichkeit der Wissenschaft Ernst zu machen.“11 Die philosophische Soteriologie des Siebten Platonbriefes aufgreifend, entwirft Heidegger eine kulturgeschichtliche Dramaturgie, welche die Rettung der sophistisch gefährdeten Redekultur bei den Griechen durch die Erfindung philosophischer Wissenschaft vorsieht. Dabei liegt Heideggers eigene Akzentuierung auf einem kulturellen Selbstheilungsmotiv: Der Verfall der griechischen Redekultur sei nicht exogen, etwa durch einen Kulturimport, sondern endogen, durch die philosophische Erfindung der Logik durch Platon und Aristoteles abgewendet worden. Sie ermögliche es der griechischen Kultur, aus sich selbst heraus eine neue und eigentliche Möglichkeit zu schaffen, ‚in der Rede zu existieren‘ und dadurch ihre sophistische Selbstgefährdung immanent zu überwinden. „Das Entscheidende ist, daß sie nicht von irgendwoher, etwa aus Indien, also von außen her, eine neue Existenzmöglichkeit bezogen haben, sondern aus dem griechischen Leben selbst: Sie machten Ernst mit den Möglichkeiten des Sprechens. Das ist der Ursprung der Logik, der Lehre vom λόγος.“12 Heideggers heroische Hintergrunderzählung, die der platonisierenden Dramaturgie eines siegreichen Streites der Philosophie mit der Sophistik folgt, führt allerdings nicht nur den klassischen Gründungsmythos der europäischen Philosophiegeschichte weiter fort. Vielmehr gibt sie ihm durch die explizite Thematisierung des Verhältnisses von philosophischer Wissenschaft und kulturellem Leben eine eigene, moderne Ausprägung. Die metaphilosophische Gedankenfigur der genealogischen Rückgründung philosophischer Wissenschaft in ihrem eige-
|| 10 GA 18, 108. 11 GA 18, 109. 12 GA 18, 109.
Heideggers Interesse an der Doxa | 285
nen vorwissenschaftlichen Grund bildet eine typisch moderne Abschlussfigur der europäischen Metaphysikgeschichte. Sie führt bei Heidegger allerdings nicht – wie z. B. bei Nietzsche – zu einer neosophistischen Inversion und (Wieder-)Einebnung des platonischen Hierarchiegefüges von Doxa und Episteme zugunsten der Doxa. Vielmehr exponiert sie eine Rehabilitierung der meinungshaft verfassten vorwissenschaftlichen Lebenswelt als genetischer Grund philosophischer Wissenschaft. Dass die Doxa damit nicht mehr nur als Gegnerin der Philosophie, sondern auch als ihr genetischer, lebensweltlicher Grund gesehen werden kann, bildet einen attraktiven Gedankengang, den Heidegger allerdings nicht bei Platon, sondern bei Aristoteles vorgezeichnet findet und der sein spezielles Interesse an der aristotelischen Rhetorik motiviert. Zu Beginn seiner Aristoteles-Vorlesung gibt Heidegger vor, mit seinen Hörern lediglich eine propädeutische Lektüreübung durchführen zu wollen. „Die Abzweckung ist philologisch, sie will das Lesen von Philosophen etwas mehr in Übung bringen.“13 Zu diesen vermeintlich ‚nur philologischen‘ Übungen im Sinne einer „Erkenntnis des Ausgesprochenen“14 gehört dann auch die Übersetzung von ‚Logos‘ als ‚Rede‘. Aus dieser dissimulatorisch vorgetragenen, rein ‚philologischen‘ Fingerübung ergeben sich allerdings für die philosophische Anthropologie und das metaphilosophische Selbstverständnis der Philosophie weitreichende und geradezu revolutionäre Konsequenzen. Schon ganz im Sinne seines späteren Programms einer Destruktion der Geschichte der Philosophie wird hier von Heidegger der in der europäischen Schulphilosophie führende rhetorikrepugnante, rationalistische Vernunftbegriff demontiert und durch das rhetorikaffine, universalanthropologische Prinzip der Rede ersetzt. „Der Mensch ist ein Lebendes, das im Gespräch und in der Rede sein eigentliches Dasein hat.“15 Auch das ‚Vernunftgeschäft‘ der wissenschaftlichen Philosophie wird nun im größeren Kontext der vielfältigen Seinsmöglichkeiten sichtbar, über die das Redelebewesen ‚Mensch‘ verfügt. Inmitten des Pluralismus seiner möglichen Redeweisen wird die begriffssprachlich verfasste wissenschaftliche Philosophie als eine durchaus nicht selbstverständliche und geschichtlich kontingente Sonderform identifizierbar. Heideggers neuer anthropologischer Blick auf die menschliche Lebenswelt lässt die wissenschaftliche Philosophie als spezielle, begriffssprachliche Existenzmöglichkeit entdecken, im Gespräch und in der Rede sein eigentliches ‚Dasein‘ zu gewinnen. Im Zuge der phänomenologischen Exploration der rhetorisch verfassten menschlichen Lebenswelt stellt sich für Heidegger
|| 13 GA 18, 5. 14 GA 18, 4. 15 GA 18, 108.
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auch die Aufgabe einer eingehenden Phänomenologie der Doxa. Dabei erscheint die Doxa als grundlegende Wissensform, die mit dem rhetorischen Logos korreliert und in der sich das vorwissenschaftliche, alltägliche Leben und Miteinanderreden bewegt.
3 Die ambivalente Rezeption der Doxa in der Aristoteles-Vorlesung Heideggers Rezeption der Doxa in seiner Vorlesung über die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie erweist sich als mehrsinnig und ambivalent zugleich. Entsprechend der Bedeutungsvielfalt der Doxa in der klassischen griechischen Philosophie erscheint sie im dreifachen Sinne: erstens als primordiales Weltwissen, zweitens als lebensweltliche Ausgangsbasis der Wissenschaft und drittens als defiziente Wissensform. Dabei bewegt sich Heideggers Phänomenologie der Doxa ambivalent zwischen dem positiven, aristotelischen Endoxa-Modell und der negativen, platonisierenden Doxa-Kritik.
3.1 Die Doxa als primordiales Weltwissen Die Phänomenologie der Doxa, die Heidegger aus seiner Aristoteles-Lektüre gewinnt, findet sich vor allem im § 15. seiner Vorlesung über die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Heidegger entwirft hier den Umriss einer Anthropologie, die den Menschen in seiner Lebenswelt zunächst als rhetorisch beinflussbares Meinungswesen charakterisiert. Das Meinen ist demnach die fundamentale Seinsweise, welche die Existenz des Menschen in seiner alltäglichen Lebenswelt bestimmt. Sie ist „die Weise, in der das Leben von sich selbst weiß“16. Damit macht Heidegger darauf aufmerksam, dass das menschliche Leben in seiner vorwissenschaftlichen Praxis, inmitten seiner alltäglichen Besorgungen, im erkenntnistheoretischen Sinne keineswegs blind ist, sondern eine eigene Art und Weise des Alltagswissens ausbildet. Dem alltäglichen Leben der Menschen ist gleichsam das Auge der Meinung eingepflanzt. Primär ist den Menschen die Welt schon vor jeder wissenschaftlichen Einsicht in Form meinungshafter Ansichten erschlossen, die ihre Lebenspraxis orientieren und ihnen die Bedeutungsperspektiven ihrer Um- und Mitwelt vorge-
|| 16 GA 18, 138.
Die ambivalente Rezeption der Doxa in der Aristoteles-Vorlesung | 287
ben. Mit Aristoteles macht Heidegger ferner darauf aufmerksam, dass sich die Meinung (Doxa) als primäre und fundamentale Sicht- und Wissensweise menschlicher Existenz durch ihren konstitutiven Bezug zur menschlichen Rede (Logos) von der bloßen sinnlichen Wahrnehmung anderer Lebewesen unterscheidet. Diese das menschliche Leben orientierenden Meinungen werden ferner vor allem in der öffentlichen Sphäre des alltäglichen Miteinanderredens gebildet, artikuliert und kommuniziert. Jede Meinung äußert dabei eine bestimmte Ansicht über die zur Rede stehende Sache (Pragma). Darüber hinaus artikuliert sich im Meinen, wie Heidegger ausdrücklich betont, der Glaube (Pistis), die richtige Ansicht über die Dinge zu äußern. Deshalb ist die „Ausbildung des πιστεύειν […] nichts anderes als die Ausbildung einer δόξα, der rechten Ansicht über eine Sache“17. Damit ergibt sich ein signifikanter Zusammenhang von Meinung (Doxa), Rede (Logos) und Glaube (Pistis), der eine unverkennbare Affinität zur Rhetorik aufweist. Insbesondere der Glaubenscharakter der Meinung, der innere Zusammenhang von Doxa und Pistis, rückt das Meinen in die Nähe zur Rhetorik. Nach Aristoteles’ berühmter Definition aus dem ersten Buch seiner Rhetorik besteht bekanntlich das Wesen der Redekunst im Vermögen, bei jeder Sache das jeweils Glaubenserweckende sehen zu können. Jede Meinung besteht daher nicht nur in einer bestimmten Ansicht einer Sache, sondern darüber hinaus in einer durch persuasive Rede vermittelten Beglaubigung, die zur Annahme dieser Ansicht vonseiten der Rezipienten führt. Dieser Doppelcharakter der Meinung, einerseits eine objektive sachhaltige Ansicht zu bieten und andererseits (inter-)subjektive Annahme zu sein, wird von Heidegger eigens hervorgehoben. Demnach kann ‚Doxa‘ einerseits übersetzt werden als ‚Ansicht haben über etwas‘. In dieser Hinsicht erschließen die Meinungen die praxisrelevanten Sach-Aspekte der alltäglichen Lebenswelt. Andererseits enthält die Meinung neben diesem objektiven Erschließungscharakter aber auch ein durch persuasive Rede vermitteltes, (inter-)subjektives Annahme- und Glaubensmoment. Sie impliziert ein doxales Fürwahr- oder Fürwerthalten, ein Parteinehmen und Dafürhalten. Diesem Doppelcharakter gemäß kann Meinung einerseits übersetzt werden mit ‚ich bin darüber der Ansicht‘ und andererseits ‚ich bin dafür, dass […]‘.18 Als diese Ansichts-Annahme ermöglicht die Meinung ferner der menschlichen Existenz eine zumeist unausdrückliche Erstaneignung ihrer geschichtlichen Lebenswelt. Der Meinung eignet damit ein primordialer Welterschließungscharakter. Der Mensch existiert demnach allererst und meistens als Meinungswe-
|| 17 GA 18, 138. 18 Vgl. GA 18, 140.
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sen und das Meinen ist die Grundweise, „wie das menschliche Dasein zunächst seine Welt durchschnittlich da hat“19. Durch diese primordiale „doxastische Aneignung von Welt“20 gewinnt das menschliche Dasein seine erste und grundlegende Orientiertheit in der Welt, die für Heidegger wiederum in einem genetischen Zusammenhang zur Rede steht. Denn der Mensch als Meinungswesen gewinnt seine primäre vorwissenschaftliche Welterschließung „aus dem, wie das Dasein selbst jeweils über sich selbst spricht“21. Das kommunitäre Denken des Aristoteles’ aufgreifend, hebt Heidegger auch den interpersonalen Charakter lebensorientierender Meinungen hervor. Die doxale Ersterschließung der Lebenswelt bildet sich vor allem im öffentlichen Miteinandersein und Miteinanderreden aus. Die Welt des alltäglichen Meinens zeigt sich damit von vorneherein als eine der Intersubjektivität, oder in den Worten Heideggers, des ‚Miteinandersein-in-der-Welt‘. Das Kommune des Miteinanderseins gilt dabei sowohl für den Ansichts- als auch für den Annahmecharakter der Doxa. Dabei bilden die Menschen nicht erst in der aktuellen Alltagskommunikation ihre Meinungen, sondern finden sich immer schon in einer bestimmten Meinungswelt vor. Die doxale Verfasstheit der menschlichen Existenz gehört somit zum konkreten Apriori der Lebenswelt. Diesen kommunen und intersubjektiven Charakter seiner Phänomenologie der Doxa betonend, kann Heidegger formulieren: „In einer δόξα leben heißt: sie mit anderen haben.“22 Der Inbegriff der allgemein akzeptierten Meinungen, in denen sich die Ersterschließung einer geschichtlichen Lebenswelt vollzieht und in deren Horizont sich der permanente Prozess der weiteren Meinungsbildung bewegt, ist die Endoxa. Mit Bezug auf die von vorneherein intersubjektiv ausgelegte Endoxa-Lehre des Aristoteles entgeht Heidegger den egologischen Aporien moderner Selbstbewusstseinstheorien und schafft eine phänomenologische Wiederbelebung der rhetoriknahen Opinio-communis-Lehre. Mit der Explikation dieses Zusammenhangs von Meinung, Gemeinschaft und Rede rückt Heidegger in seiner Vorlesung von 1924 zweifellos in die Nähe der politischen Anthropologie des Aristoteles. Im ersten Buch seiner Politik hatte Aristoteles bekanntlich hervorgehoben, dass der Mensch ein politisches Gemeinschaftswesen sei. Dabei gründet die Polis auf den gemeinsamen Ansichten über
|| 19 GA 18, 149. 20 Josef Kopperschmidt, „Was ist neu an der Neuen Rhetorik? Versuch einer thematischen Grundlegung“, in: Ders. (Hg.), Die Neue Rhetorik. Studien zu Chaim Perelman, München 2006, 9–72, hier: 60. 21 GA 18, 263. 22 GA 18, 149.
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das Nützliche und das Gerechte. Diese aufzuzeigen und verbindlich zu machen – so zeigt Aristoteles dann in seiner Rhetorik – ist die eigentümliche Leistung des rhetorischen Logos. Auch für Heidegger existiert der Mensch primär in der Gemeinschaft des alltäglichen Miteinanderredens, aus dem sich das Miteinanderhaben gemeinsamer Meinungen erklärt. Damit schließt die Doxa-Phänomenologie Heideggers an die beiden anthropologischen Grundbestimmungen des Menschen bei Aristoteles an, dass der Mensch sowohl ein politisches Lebewesen (ζῷον πολιτικόν) als auch ein Redelebewesen (ζῷον λόγον ἔχον) sei. Zudem ist im alltäglichen Miteinanderreden ein jeder und eine jede „ebenso Hörer wie Sprecher“23. Die Doxa-Anthropologie der heideggerischen Vorlesung fügt sich somit ein in das Bild vom Menschen als Homo rhetoricus, der sowohl als Redender wie auch als Hörender versucht, sich und andere von bestimmten Ansichten der Welt zu überzeugen und glauben zu machen. Das Glaubensmoment gemeinsamer Annahmen über die Welt verstärkt sich dabei in der Sphäre der Öffentlichkeit zu einem intersubjektiv getragenen „Dafürsein, daß es so ist“24. In der interpersonalen Annahme einer Ansicht liegt demnach eine existenzielle Bekräftigung, ein gemeinsam vertretenes Pro und ein dementsprechendes Contra gegenüber der entgegengesetzten Ansicht. Erst diese konsensuellen Pro- und Contraentscheidungen ermöglichen die Perspektivierung der alltäglichen Lebenswelt und damit auch die Orientierung für ein gemeinschaftliches Handeln in ihr. Die alltägliche Lebenspraxis der Menschen vollzieht sich so meistens im endoxalen Rahmen eines unthematisch bleibenden, selbstverständlichen Vertrauens und „Mitgehens mit dem, wie sich die Welt zunächst zeigt“25. Die vorwissenschaftliche Lebenspraxis der Menschen und ihrer alltäglichen Besorgungen gewinnt ihre Orientierung und Sicherheit durch die Pro-undContra-Kontrastierungen von gemeinsamen Meinungen, deren rhetorische Genesis in der Regel nicht thematisiert wird. Die Welt der Meinungen ist demnach eine Welt des gemeinsamen Glaubens und des Vertrauens, nicht eine Welt des Zweifels und der wissenschaftlichen Kritik. Heideggers Doxa-Anthropologie gibt hier eine phänomenologische Erklärung der traditionellen Sensus-communis-Lehre. Aus dem intersubjektiven und präreflexiven Ersterschließungscharakter der Endoxa erklärt sich der Gemeinsinn (sensus communis) als eine durch Glauben getragene, vermeintlich unmittelbare und daher der sinnlichen Wahrnehmung nahe stehende Art und Weise, die Welt gemeinsam zu sehen.
|| 23 GA 18, 263. 24 GA 18, 150. 25 GA 18, 150.
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3.2 Die Doxa als genetischer Grund der Wissenschaft In Heideggers Aristoteles-Vorlesung wird der Meinung aufgrund ihrer ersterschließenden Kraft für die alltägliche Lebenswelt der Charakter der ‚Eigentlichkeit‘ zunächst keineswegs abgesprochen. Sie ist demnach „eigentliche Orientiertheit des Miteinanderseins-in-der-Welt, und zwar des durchschnittlichen Miteinanderseins“26. Insofern sie eine zwar erste, aber nur durchschnittliche Ansicht der Welt bietet, ist es nach Heidegger gar nicht ihre Aufgabe, alles Seiende hinsichtlich der Totalität seiner Sachaspekte zu erforschen. Die doxale Wissensform bezieht sich im Unterschied zur szientifischen primär auf den pragmatischen Umgang mit den Dingen und Personen der nächsten Um- und Mitwelt. Die Meinung als eine das gewöhnliche Leben der Menschen leitende, pragmatische Wissensform erhebt von sich aus gar nicht den Anspruch, die Dinge vollständig von sich selbst her sehen zu lassen, sondern gibt nur eine Ansicht derjenigen Sachaspekte, die für die alltägliche Lebenspraxis von Bedeutung sind. Diese vorwissenschaftliche pragmatische Sicht der Doxa erschließt – um eine terminologische Unterscheidung von Sein und Zeit vorweg zu nehmen – das innerweltlich Begegnende als ‚Zuhandenes‘, d. h. in seiner lebenspraktischen Bedeutsamkeit und nicht als ‚Vorhandenes‘, d. h. als theoretischer Gegenstand der Wissenschaft. In diesem Zusammenhang hebt Heidegger noch einmal die Interdependenz von Doxa und Logos, Meinung und Rede, hervor. Einerseits wird, wie gesagt, die Meinung durch das alltägliche Miteinanderreden erzeugt. In dieser Hinsicht ist die Meinung also ein Produkt rhetorischer Alltagskommunikation. Umgekehrt erscheint sie als Endoxa, aber auch als „Boden, Quelle und Antrieb für das Miteinanderreden“27. Damit gewinnt die Doxa wiederum ein Doppelgesicht: Sie ist einerseits Produkt und andererseits – als endoxale Ressource und Movens – auch Produktionsbedingung für die inartifizielle Rhetorik der Lebenswelt. Mit den beiden metaphorischen Ausdrücken ‚Boden‘ und ‚Quelle‘ macht Heidegger aufmerksam, dass sich die rhetorische Kommunikation in der alltäglichen Lebenswelt gerade nicht in einem thematisch unbegrenzten Horizont bewegt, sondern sich im begrenzten Umkreis der jeweils aktuell herrschenden Meinungen, der Endoxa, aufhält. Demnach bildet die Doxa das materiale Fundament und die thematische Ressource für den rhetorischen Logos der Lebenswelt. Darüber hinausgehend ist die Doxa aber auch ein das alltägliche Miteinanderreden unaufhörlich motivierender ‚Antrieb‘. Diesen produktiven Charakter gewinnt die Doxa gerade
|| 26 GA 18, 151. 27 GA 18, 151.
Die ambivalente Rezeption der Doxa in der Aristoteles-Vorlesung | 291
als eine gegenüber der Episteme schwächere Form des Wissens. Im Unterschied zur Stabilität der begründeten wissenschaftlichen Einsicht ist es nämlich gerade die beunruhigende Instabilität und mangelnde Gewissheit der alltäglichen Ansichten, die den Menschen als Meinungswesen immer wieder zum Reden antreibt. Da die Meinung die Alterität eines Anderssehen- und Fürwahrhaltenkönnens im Unterschied zur Identität der wissenschaftlichen Gewissheit niemals von sich ausschließen kann, enthält sie in sich selbst eine nie ganz zu tilgende, beunruhigende Latenz des Umschlages in ihr Gegenteil. Die Meinung steht somit gleichsam immer auf dem Sprung, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Es bedarf daher immer erneut der Energie persuasiver Rede, um die einmal gefasste Ansicht festzuhalten und ihre öffentliche Geltung zu sichern. „Denn obzwar die δόξα eine gewisse Festigkeit hat, liegt es doch in ihr, daß man darüber, worüber man einer Ansicht ist, immer noch reden kann. Es könnte auch anders sein. Ihr Sinn ist, eine Diskussion offen zu lassen. Der λόγος, das Verhandeln darüber, ist ständig latent; in der δόξα ist das Zur-Sprache-Bringen ständig auf dem Sprung.“28 Es ist diese beunruhigende, niemals ganz hinweg zu redende latente Alterität der Doxa, die nach Heidegger das eigentliche Movens der permanenten rhetorischen Prozessualität ausmacht, in der sich die praktische Lebensbedeutsamkeit der Alltagswelt jeweils neu herausbilden muss. Doxa und rhetorischer Logos, öffentliches Meinen und Miteinanderreden bedingen sich somit gegenseitig, fordern sich so einander permanent heraus und beherrschen somit die alltägliche Weltauslegung der Menschen. Aus dieser zirkulären, interdependenten Beziehung von rhetorischem Logos und Doxa erklärt sich, wie sie „die Herrschaft und Führung des Miteinanderseins in der Welt“29 übernehmen kann. Im Anschluss an die Topik des Aristoteles gesteht Heidegger in seiner Vorlesung der Endoxa auch für die Wissenschaft eine fundierende Funktion zu. Bekanntlich hat Aristoteles im ersten Buch seiner Topik die Auffassung vertreten, dass nicht alles Thema und Problem des wissenschaftlichen Lehr-, Forschungsund Übungsgespräches sein kann. Auch die wissenschaftliche Unterredung nimmt demnach ihren thematischen Ausgang beim endoxalen Wissen der Lebenswelt, zu der auch die bekannten Lehrmeinungen der Philosophen gehören.30 Aristoteles vertritt damit die Auffassung, dass auch das wissenschaftliche Wissen
|| 28 GA 18, 151. 29 GA 18, 151. 30 Vgl. Aristoteles, Topik, 100b.
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nicht aus einem Absprung, sondern aus der thematischen Anknüpfung an das vorwissenschaftliche Meinungswissen hervorgeht. Diesen aristotelischen Gedanken des endoxalen Anschlusses des wissenschaftlichen Wissens und damit auch der philosophischen Begrifflichkeit nimmt nun Heidegger in seiner Aristoteles-Vorlesung explizit auf. Die vorwissenschaftliche Ersterschließung der Welt, die das Seiende in eine erste Ansicht, Bekanntheit und Verständlichkeit bringt, ist demnach „auch der Boden für die Weise des Erfassens des Seienden, die wir als ἐπιστήμη bezeichnen, als θεωρεῖν“31. Die wissenschaftliche Problemstellung knüpft demnach thematisch in der vorwissenschaftlichen Bekanntheit lebensweltlich eingeführter Annahmen und Lehrmeinungen an. Die Endoxa stellt sich somit auch als genetischer Grund der Episteme heraus. So geht die Möglichkeit, Wissenschaft zu betreiben, aus dem alltäglichen Leben und seiner rhetorisch generierten endoxalen Weltansicht hervor und in der sedimentierten Form allgemein bekannter Lehrmeinungen auch in sie zurück.
3.3 Die Doxa als defiziente Wissensform Neben der weitgehend positiven, neoaristotelischen Phänomenologie der Doxa findet sich schon in Heideggers Vorlesung aber auch schon die Gegentendenz einer Doxa-Kritik, die – wie schon ihre hintergründige Rahmenerzählung – wiederum an den platonischen Oppositionstopos Episteme versus Doxa anschließt. Für diese negative Charakterisierung der Doxa im Unterschied zur Episteme ist ausschlaggebend, dass auch für Heidegger nicht jede im Alltag vorfindliche beliebige Redeweise, sondern ausschließlich die von der Logik kontrollierte traditionelle Begriffssprache der Philosophie das Ideal des seinshaltigen und sachhaltigen Logos repräsentiert. „Dieser λόγος, der das Seiende in seinem Sein von ihm selbst her anspricht, ist der ὁρισμός.“32 Damit wird der Sonderform der artifiziell geformten Sonderform begrifflicher Rede, wie sie die Dialektik Platons und aristotelische Organon ausgebildet haben, ein privilegierter Zugang zum Seienden zugesprochen. Nur die Begriffssprache der Philosophie demnach kann für sich beanspruchen, ‚ursprüngliche‘ und ‚echte‘ Rede zu sein, da nur sie das Seiende als Phänomen in seinem Wesen zu definieren und unverstellt sehen zu lassen vermag.
|| 31 GA 18, 152. 32 GA 18, 283.
Die ambivalente Rezeption der Doxa in der Aristoteles-Vorlesung | 293
Gemessen an diesem exklusivistischen Ideal der philosophischen Begriffssprache werden die anderen vielfältigen Möglichkeiten inartifizieller alltagssprachlicher Rede, in denen sich gerade die Meinung bewegt, abfällig beurteilt. Platons Doxa-Kritik aufgreifend, vertritt Heidegger schon in seiner AristotelesVorlesung die Auffassung, dass gerade die vorwissenschaftliche und meinungsbildende Alltagsrede das Seiende zunächst und zumeist sogar verstellt und die Möglichkeiten seiner rein begrifflichen Freilegung verlegen. Die radikal negative Charakterisierung der Öffentlichkeit von Sein und Zeit vorweggreifend, tendiert Heidegger schon in seiner Aristoteles-Vorlesung zur Auffassung, dass die alltägliche Rede, in der sich die öffentliche Meinung ausbildet, zumeist im Unauthentischen, d. h. lediglich „im Wortdenken, Hörensagen, Angelesenem“33 bewegt. Diese vermeintlich generelle Defizienz der alltäglichen Rede wird von Heidegger vor allem durch den Anteil jener interpersonalen Konstitutionsmomente begründet, die nach der Rhetorik des Aristoteles neben dem reinen Sachbezug ihre meinungsbildende Überzeugungskraft begründen. Zum Wesen der rhetorisch erzeugten Meinung gehört es, wie gesagt, dass sie nicht nur eine bloße Ansicht der Sache geben will, sondern ihre Glaubwürdigkeit und Stärke ganz wesentlich auf dem intersubjektiven Moment des gemeinsamen Glaubens und Annahme ihrer Richtigkeit gründet. Die Festigkeit der Meinung beruht demnach damit „nicht ausschließlich im Sachgehalt, den sie vermittelt, sondern in denjenigen, die die δόξα haben“34. Wie Heidegger weiter ausführt, gründet die Stärke der Doxa vor allem in dem ‚Ja‘, einer Zustimmung und Bekräftigung, d. h. nicht im Was der Sachaufweisung, sondern im Dass ihrer öffentlichen Akzeptanz. Im Unterschied zur Wissenschaft spielt das Wer, die konkrete Subjektivität, d. h. das Ethos des- oder derjenigen, der oder die eine Meinung äußert, eine wichtige Rolle für ihren öffentlichen Erfolg. „Zur Bestimmung der δόξα gehört notwendig derjenige, der die δόξα hat. Bei einer ἐπιστήμη ist es gleichgültig, wer sie hat; bei einem gültigen Satz ist es gleichgültig, wer ich bin, es trägt nichts bei zur Aufhellung, zum Wahrsein des Gewussten. Dagegen ist der die Ansicht Habende als solcher mit entscheidend für die δόξα.“35 Dass bei öffentlichen Überzeugungsprozessen nicht nur die Sachaufweisung der Rede, sondern das Ethos des Redenden eine entscheidende Rolle spielt, lässt sich zwar schon der Rhetorik des Aristoteles entnehmen. Diese konstitutive Rolle rhetorischer Subjektivität bei der Erzeugung öffentlicher Meinungsgeltung ist
|| 33 GA 18, 274. 34 GA 18, 151. 35 GA 18, 150.
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aber noch nicht Heideggers eigentlicher Kritikpunkt an der Doxa. Im Gegenteil, es ist gerade die Entindividualisierung und Depersonalisierung rhetorischer Subjektivität, die Heideggers über Aristoteles hinausgehende moderne Kritik an der Doxa bestimmt. Aus der modernen Sicht Heideggers generiert sich die öffentliche Meinung nicht mehr im Rahmen der klassischen rhetorischen Situation ‚einer vor vielen‘, sondern, wie z. B. im Journalismus, unter massenmedialen Produktionsbedingungen, in deren Rahmen die unmittelbare Gegenwart der Rednerpersönlichkeit ihre Funktion eingebüßt hat. Im Unterschied zur Rhetorik des Aristoteles tritt somit in Heideggers moderner Phänomenologie der Doxa die individuelle Subjektivität des Rhetors, aber auch die seines konkreten Publikums in den Hintergrund. Das genetische ‚Wer‘ der Doxa verliert seine individuellen Züge und wird schon in der Aristoteles-Vorlesung von Heidegger im Vorgriff auf die negative Phänomenologie der Öffentlichkeit von Sein und Zeit als unbestimmtes und anonymes ‚Man‘ charakterisiert. „Was hinter der Herrschaft der δόξα steht, sind die anderen, die eigentümlich bestimmt sind, die man nicht fassen kann – man ist der Ansicht: eine eigentümliche Herrschaft, Hartnäckigkeit und ein Zwang, der in der δόξα selbst liegt.“36 Heideggers Doxa-Kritik bedient sich hier nicht nur des konventionellen Contra-Argumentes aus dem vermeintlich irrational subjektiven Charakter der Meinung im Gegensatz zum objektiven des Wissens. Sie kritisiert vielmehr auch das Verschwinden individueller rhetorischer Subjektivität des Redner-Ethos in den entindividualisierten und anonymen Meinungsbildungsprozessen der Moderne. Nach dem von Heidegger für die öffentliche Kommunikation generellen Ausfall unterstellten authentischen Sachbezug und der individuellen rhetorischen Subjektivität, d. h. dem Was und Wer der Rede, bleibt als Konstitutionsmoment der modernen Doxa nur noch ihr bloßes Dass ihres wiederholten Geredetoder Geschriebenseins übrig. Die Rede degeneriert in den Augen Heideggers somit zu einer defizienten Redeweise, dessen Meinungsmacht sich durch das Dass ihres öffentlichen Ausgesprochen- oder Geschriebenseins erzeugt und sich im ständigen Nach- und Weiterreden potenziert. Die Herrschaft der durch das anonyme ‚man‘ erzeugten öffentlichen Meinung gründet nach Heidegger damit in einem individuell nicht mehr verantworteten wiederholten Weiter- und Nachreden. Entscheidend für ihre Herrschaft ist weder, was gesagt wird, noch wer im Einzelnen etwas sagt, sondern die tendenziell unendliche Wiederholung ihres bloßen Ausgesprochenseins. Die genealogische Grundfigur doxaler Herrschaft ist somit die Wiederholung (repetitio). Es ist somit die durch Wiederholung potenzierte performative Kraft, der actio-Charakter || 36 GA 18, 151.
Die eigenwillige Adaption der Doxa in Sein und Zeit | 295
öffentlicher Rede, aus dem sich für Heidegger die geradezu unheimliche und ‚eigentümliche‘ Herrschaft und Hartnäckigkeit der öffentlichen Meinung erklärt. Diese negative Tendenz einer mit dem Blick auf die moderne Massenkommunikation auch gegenüber Platon noch radikalisierten epistemologischen Doxa-Kritik, kann sich in der Aristoteles-Vorlesung von 1924 allerdings noch nicht gegen die konkurrierenden positiven, aristotelischen Interpretationstendenzen durchsetzen.
4 Die eigenwillige Adaption der Doxa in Sein und Zeit In zumeist unausdrücklicher und apokrypher Form gehen die Ergebnisse der Aristoteles-Vorlesung von 1924 in die Existenzialphilosophie von Sein und Zeit ein. Philosophiegeschichtlich deutet Heidegger seine eigene Existenzialphilosophie dabei als phänomenologische Restitution der anfänglich bei den Griechen und vor allem bei Aristoteles schon vertretenen rhetorikaffinen Anthropologie. Dabei folgt Heideggers Disposition der Philosophiegeschichte dem romantischen Restitutionstopos einer befreienden Wiederentdeckung ursprünglicher Wahrheit: Die anfängliche anthropologische Wahrheit der Griechen, dass der Mensch ein Redelebewesen sei, soll von den verdeckenden Überlagerungen und Restriktionen der rationalistischen Schulphilosophie befreit werden und in der Existenzialphilosophie von Sein und Zeit in moderner Form wieder zutage treten: „Ist es Zufall, daß die Griechen, deren alltägliches Existieren sich vorwiegend in das Miteinanderreden verlegt hatte, und die zugleich ‚Augen hatten‘, zu sehen, in der vorphilosophischen sowohl wie in der philosophischen Daseinsauslegung das Wesen des Menschen bestimmten als ζῷον λόγον ἔχον? Die spätere Auslegung dieser Definition des Menschen im Sinne von animal rationale, ‚vernünftiges Lebewesen‘, ist zwar nicht ‚falsch‘, aber sie verdeckt den phänomenalen Boden, dem diese Definition des Daseins entnommen ist. Der Mensch zeigt sich als Seiendes, das redet.“37 Diese philosophische Rückkehr von der restringierten Logosinterpretation des Rationalismus zum ursprünglich weiter gefassten griechischen Logosverständnis als Rede relativiert einerseits die bisherige Schuldisziplin ‚Logik‘ zu einer propositionalistisch verengten Spezialdisziplin. Auf der anderen Seite erhebt sie die Rede im erweiterten Gesamtspektrum ihrer lebens-
|| 37 GA 2, 219.
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weltlichen Modi – die schon die aristotelische Rhetorik thematisiert – zu einem Existenzial und verleiht ihr einen universalanthropologischen Status. Die logikkritische und rhetorikaffin erweiterte Interpretation des Logos als Rede aus der Rhetorik-Vorlesung von 1924, trägt nun in Sein und Zeit ihre konzeptionellen Früchte. Selbst die Grammatik sei traditionell an der reduktionistischen Logos-Interpretation der Schuldisziplin ‚Logik‘ orientiert. Von daher ergebe sich nun auch die Aufgabe einer ‚Befreiung‘ der Grammatik von der Logik. Unausgesprochen gewinnt damit in Sein und Zeit – im Gegensatz zur schulphilosophischen Tradition – die Rhetorik im Trivium der klassischen Rededisziplinen den Vorrang einer heuristischen Leitdisziplin gegenüber der Logik und Grammatik. Der positive Sinn dieser kritischen Destruktion der philosophiegeschichtlichen Vorherrschaft der Logik ist eine neue Phänomenologie der Rede, welche das von der Aristotelischen Rhetorik vorgezeichnete lebensweltliche Redephänomen „in der grundsätzlichen Ursprünglichkeit und Weite eines Existenzials“38 darzustellen vermag. In Sein und Zeit hat Heidegger diese neue Phänomenologie der Rede vor allem im fünften Kapitel und dort besonders in § 34. Da-Sein und Rede. Die Sprache und § 35. Das Gerede vorgelegt.39 Dabei lässt sich in Sein und Zeit die schon in der Aristoteles-Vorlesung von 1924 thematisierte und der Doxa korrelierende Form des sachfremden und seinsfernen öffentlichen Redens und Weiterredens unschwer unter dem Titel ‚Gerede‘ wiederfinden. Im defizienten Modus des Geredes – so Heidegger in § 35 – habe das „Reden den primären Seinsbezug zum geredeten Seienden verloren bzw. nie gewonnen“40. Es gewinne seinen ‚autoritativen Charakter‘ auf dem Wege des permanenten ‚Weiter-und-Nachredens‘ und steigere dadurch „das schon anfängliche Fehlen der Bodenständigkeit zur völligen Bodenlosigkeit“41. Schon in der metaphorischen Wendung der ‚völligen Bodenlosigkeit‘ zeigt sich gegenüber der eher verhaltenen Kritik in der AristotelesVorlesung von 1924 eine erhebliche Steigerung der negativen Perspektuierung der alltäglichen Rede, die in Sein und Zeit nun generell als Gerede charakterisiert wird. Während das alltägliche Miteinanderreden im ‚Gerede‘ in Sein und Zeit eine direkte terminologische Entsprechung findet, stellt sich die Spurensuche einer
|| 38 GA 2, 220. 39 Einen Gesamtüberblick über die Phänomenologie der Rede in Sein und Zeit bietet: Heinrich Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt a. M 1987, 243–266. 40 GA 2, 224. 41 GA 2, 224.
Die eigenwillige Adaption der Doxa in Sein und Zeit | 297
Rezeption der Doxa auf den ersten Blick schwieriger dar. Es findet sich im Zusammenhang mit Heideggers Ausführungen über ‚Rede‘ und ‚Gerede‘ auf dem ersten Blick kein Hinweis auf das griechische Wort δόξα oder das deutsche Übersetzungswort ‚Meinung‘. Obwohl die Adaption der Doxa in Sein und Zeit apokryph bleibt, lässt sich ihre Spur aber unschwer auffinden: Das terminologische Korrelat zur Doxa bildet in Sein und Zeit die ‚alltägliche Ausgelegtheit‘ bzw. die ‚öffentliche Ausgelegtheit‘ des Daseins oder: die ‚Öffentlichkeit‘. In diesem Zusammenhang verwandelt sich die ‚Ansicht‘ der Doxa in die ‚Umsicht‘ und ‚alltägliche Ausgelegtheit‘ des durch die Sorge-Struktur gekennzeichneten In-der-Welt-Seins. Damit hält Heidegger auch in Sein und Zeit an dem ersterschließenden Charakter des doxalen Wissens fest. Dieser primären doxalen Erschließung des alltäglichen In-der-Welt-seins korreliert in Sein und Zeit allerdings das Gerede: „Im Dasein hat sich je schon diese Ausgelegtheit des Geredes festgesetzt. Vieles lernen wir zunächst in dieser Weise kennen, nicht weniges kommt über ein solches durchschnittliches Verständnis nie hinaus. Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst, vermag es sich nie zu entziehen.“42 Auch in Sein und Zeit existiert demnach das Dasein – in die Terminologie der Aristoteles-Vorlesung zurückübersetzt – endoxal, d. h. in den vom Gerede vorgegebenen Möglichkeiten und Grenzen der durchschnittlichen und alltäglichen Ausgelegtheit seines In-der-Welt-Seins. Dabei verschärft sich allerdings in Sein und Zeit freilich – im Kontext der existenzialen Analyse der Öffentlichkeit – die bereits in der Aristoteles-Vorlesung vorfindliche Tendenz zur negativen Charakterisierung der Doxa. Ihr depersonalisierender, repressiver Herrschaftscharakter verdichtet in Sein und Zeit zur „Diktatur“43 des Man. Aus der Perspektive von Sein und Zeit erscheint die endoxale Sphäre der Öffentlichkeit nun prinzipiell als Ort existenzieller Entfremdung, das heißt des ‚unechten‘ Geredes und des ‚uneigentlichen‘ Existierens. „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnen konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ‚die Öffentlichkeit‘ kennen. Sie regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht. Und das nicht auf Grund eines ausgezeichneten und primären Seinsverhältnisses zu den ‚Dingen‘, nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern auf Grund des Nichteingehens ‚auf die Sachen‘, weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die
|| 42 GA 2, 225. 43 GA 2, 169.
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Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus.“44 Die endoxale Sphäre der Öffentlichkeit wird von Heidegger hier geradezu perhorrifiziert. Dem in ihr herrschenden Gerede wird generell nicht nur jeder ‚echte‘, sach- und seinshaltige Wahrheitsbezug, sondern auch jede Wahrhaftigkeit ‚eigentlichen‘ Existierens abgesprochen. Analog zum platonischen Höhlengleichnis lebt der Mensch als Meinungswesen in der Öffentlichkeit an einem Ort der Seins- und Selbstentfremdung. Die metaphorische Perspektivierung der Öffentlichkeit durch Ausdrücke wie ‚Verdunklung‘, ‚Bodenlosigkeit‘ und ‚Entwurzelung‘ unterstreicht diese radikal negative Charakterisierung. In Sein und Zeit spaltet Heidegger somit die positive Deutung der öffentlichen Meinung, die an die Endoxa-Lehre des Aristoteles anknüpft, zugunsten einer einseitig platonisierenden Doxa-Kritik der Öffentlichkeit ab. Mit dieser selektiven Abspaltung verlässt Heidegger den Horizont der Bedeutungsvielfalt der Doxa in der klassischen griechischen Philosophie, die seine Aristoteles-Vorlesung von 1924 noch entfaltet. Seine radikal negative Charakterisierung der Öffentlichkeit in Sein und Zeit überbietet selbst die Doxa-Kritik Platons, die der Doxa als möglicherweise richtige Meinung nicht jeden Wahrheitsbezug schlechthin abspricht. Insgesamt liegt in Sein und Zeit somit keine angemessene Rezeption, sondern eine eigenwillige Adaption der antiken Doxa-Lehre vor, die in einer Art existenzialphilosophischer Überbietung die platonische Doxa-Kritik radikalisiert. Während Heidegger in seiner Existenzialphilosophie der rhetorikaffinen Anthropologie des Aristoteles weitgehend folgt und in wichtigen Teilen seiner Theoriebildung explizit oder implizit an die aristotelische Rhetorik anschließt, erweist sich dagegen seine eigenwillige Doxa-Adaption in Sein und Zeit als eindeutig rhetorikrepugnant. In seiner radikal negativen Charakterisierung der Öffentlichkeit entfernt sich Heidegger ganz entschieden vom endoxalen Anknüpfungsmodell des Aristoteles. Dabei verschärfen sich in Sein und Zeit jene antisophistischen, antirhetorischen und antidemokratischen Tendenzen der platonischen Doxa-Kritik, die sich tendenziell schon in seiner Aristoteles-Vorlesung von 1924 abzeichnen. Somit gewinnt in der negativen Phänomenologie der Öffentlichkeit von Sein und Zeit die unterschwellig einfließende platonisierende Doxa-Kritik die Oberhand gegen das positive Anknüpfungsmodell der aristotelischen Rhetorik und Topik, das auf endoxaler Basis einen legitimen praktisch-politischen (vita activa) oder wissenschaftlichen Vernunftgebrauch (vita contemplativa) ermöglicht. Dabei ist es gerade dieser rhetorikrepugnante Kryptoplatonismus, der in Sein und Zeit die – für die moderne Philosophie der Rhetorik bahnbrechende – exis|| 44 GA 2, 170.
Die eigenwillige Adaption der Doxa in Sein und Zeit | 299
tenzialphilosophische Wendung der aristotelischen Rhetorik verkürzt. Im Gegensatz zu Aristoteles wird der Mensch in Sein und Zeit zwar wieder als Redelebewesen (ζῷον λόγον ἔχον) sichtbar, aber im Gerede der Öffentlichkeit nicht mehr im positiven Sinne als politisches Wesen (ζῷον πολιτικόν) bestimmbar. Heideggers eigenwillige Adaption der Doxa gerät im Gegenteil zu einer existenzialphilosophischen Entfremdungstheorie, der gemäß der Mensch im vermeintlich prinzipiell unauthentischen Gerede der Öffentlichkeit und in der Diktatur des Man nur uneigentlich existieren kann. Heidegger vertritt hier eine politikrepugnante Anthropologie, die genau das Gegenteil der politikaffinen Anthropologie des Aristoteles besagt, der gemäß der Mensch – neben dem theoretischen Leben der Philosophie – gerade im praktisch-politischen Leben eine eigentliche Lebensform zu finden vermag. Heideggers negative Phänomenologie der Öffentlichkeit und des Geredes schließt somit die Wiederanknüpfung an die Tradition der politischen Philosophie des Aristoteles, die sich z. B. bei Hannah Arendt findet, definitiv aus. In seiner Phänomenologie der Öffentlichkeit erweist sich Heidegger damit eindeutig nicht als rhetorikaffiner Neoaristoteliker, sondern vielmehr als rhetorikrepugnanter Kryptoplatoniker. Indem Heidegger der öffentlichen Rede und dem rhetorischen Logos prinzipiell jede Authentizität und Wahrheitsfähigkeit abspricht, isoliert er sich nicht nur von der humanistischen Rhetoriktradition, sondern auch von der bürgerlichen Aufklärung und ihrem Modell der kritischdemokratischen Öffentlichkeit.
Drucknachweise „Thesen zum homo rhetoricus und zur Neugestaltung der Philosophie im 21. Jahrhundert“, in: Rhetorica XX (2002), 289–298 „Homo rhetoricus interior. Zur fundamentalrhetorischen Rekonstruktion des cartesianischen Ego“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 21 (2002) 37–48 „Selbsterfindung, Subjektivität und interne Rhetorik“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 30 (2012), 80–95 „Polypersonalität. Das grand arcanum starker autoinvenienter Subjektivität“, in: Wege moderner Rhetorikforschung. Klassische Fundamente und interdisziplinäre Entwicklung, hg. v. G. Ueding/Gregor Kalivoda, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 75–88 „Pithanologie. Fundamentalrhetorische Überlegungen zur Aktualität der rhetorischen Glaubenslehre des Aristoteles“, in: Sprachen des Glaubens. Philosophische und theologische Perspektiven, hg. v. M. Fritz/R. Fritz, Stuttgart: Kohlhammer 2013, 36–53 „Empfindenkönnen. Fundamentalrhetorische Pathelogie im Ausgang von Heidegger und Aristoteles“, in: „Und es trieb die Rede mich an …“ Festschrift zum 65. Geburtstag von Gert Ueding, hg, v. J. Knape/O. Kramer/P. Weit, Tübingen: Niemeyer 2008, 287–299 „Rhetorik als Anthropotechnik. Antike Prolegomena zu einer modernen Rhetorik der Medizin“, in: Autoinvenienz. Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Selbsterfindung, hg. v. R. Breuninger/Peter L. Oesterreich, Würzburg: Königshausen und Neumann 2012, 87–99 „‚Allein durchs Wort‘. Rhetorik und Rationalität bei Martin Luther“, in: Religion und Rationalität, hg. v. R. Breuninger/P. Welsen, Würzburg: Königshausen und Neumann 2000, 31-50. „Die Erfindung des religiösen Selbstes. Fundamentalrhetorische Annäherung an die Theologie“, in: Welche Philosophie braucht die Theologie?, hg. v. A. J. Bucher, Regensburg: Pustet 2002, 203–221
https://doi.org/10.1515/9783110527667-020
302 | Drucknachweise
„Credibilität. Einige Thesen zu Rhetorik, Religion und Wissenschaft“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 34 (2015), 1–11 „Die Topographie der Metaphysik“, in: Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, hg. v. Th. Schirren/G. Ueding, Tübingen: Niemeyer 2000, 433–444 „Indecorum. Die unhöfliche Pararhetorik berühmter Philosophen“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 31 (2012), 11–25 „Erfindung des Absoluten. Die Entdeckung des rhetorischen Geistes in der Metaphysik“, in: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 18 (1999), 114–127 „‚Was des Lobes wert ist, mit Lob ehren‘. Epideixis und Demokratie in der antiken Sophistik“, in: Fest und Festrhetorik. Zu Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik, hg.v. J. Kopperschmidt/H. Schanze, München: Fink 1999, 221–234 „Das Hervorbrechen des Erhabenen. Pseudo-Longins pathozentrische Anthropologie“, in: Die Ausnahme denken. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus-Michael Kodalle, Bd. 2, hg. v. C. Dierksmeier, Würzburg 2003, 101–107. „Herders rebellischer Abschied von Kant. Autoinvenienz und interne Rhetorik in seiner Metakritik“, in: Herders Rhetoriken im Kontext des 18. Jahrhunderts, hg. v. Ralf Simon, Heidelberg: Synchron 2014, 335–348 „Vom Vernunftgerichtshof zum Weltgericht. Gerichtliche Metaphorik bei Kant und Hegel“, in: Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie nach Kant, hg. v. B. Bowman, Paderborn: Mentis 2007, 45–59. ‚Von neuem Erfinder der Wissenschaftslehre‘. Transzendentale Ikonomachie und interne Rhetorik in Fichtes Diarium III, Originalbeitrag; Vortrag, gehalten auf dem IX. Kongress der Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft in Madrid am 9.9.1015. „Kryptoplatonismus. Heideggers eigenwillige Adaption der Doxa“, in: Heidegger über Rhetorik, hg. v. J. Kopperschmidt, München: Fink 2009, 179–195