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German Pages 240 [235] Year 2010
suhrkamp taschenbuch wissenschaft
Jan Patočka (-) ist einer der wichtigsten Vertreter der tschechischen Philosophie des . Jahrhunderts. Als Schüler von Husserl und Heidegger verband Patočka das phänomenologische Denken in neuer Weise mit der Reflexion über Politik und Geschichte. Durch seine legendären Prager Untergrundseminare und sein Engagement in der Charta wurde er zu einer intellektuellen und moralischen Autorität. In den Ketzerischen Essays – in den letzten Jahren seines Lebens geschrieben – hat Patočkas politisches und geschichtsphilosophisches Denken seinen prägnantesten Ausdruck gefunden. In der Zeit der »Normalisierung« nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« denkt Patočka über Europa als widersprüchliches, stets gefährdetes und niemals abschließbares Projekt nach – ein noch zu entdeckendes Denken, dessen Bedeutung für das Selbstverständnis Europas erst heute sichtbar wird.
Jan Patočka Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte Neu übersetzt von Sandra Lehmann Mit Texten von Paul Ricœur und Jacques Derrida sowie einem Nachwort von Hans Rainer Sepp
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe: Kacířské eseje o filosofii dějin © Jan Patočka Archive Prag Herausgegeben am Jan-Patočka-Archiv des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, Wien.
Gefördert vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. suhrkamp taschenbuch wissenschaft Erste Auflage © Suhrkamp Verlag Berlin Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim ISBN ---- –
Inhalt Paul Ricœur: Hommage an Jan Patočka . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jan Patočka Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte . Vor-geschichtliche Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. Der Anfang der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. Hat Geschichte einen Sinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. Europa und das Europäische Erbe bis zum Ende des . Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. Ist die technische Zivilisation zum Verfall bestimmt? . . . . Die Kriege des . Jahrhunderts und das . Jahrhundert als Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Des Verfassers eigene Glossen zu den Ketzerischen Essays . . . Anhang Jacques Derrida: Ketzertum, Geheimnis und Verantwortung: Patočkas Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort von Hans Rainer Sepp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorische Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Paul Ricœur Hommage an Jan Patočka1 Am Weihnachtsabend des Jahres schenkte Edmund Husserl in seinem Haus in Kappel seinem jungen Schüler Jan Patočka ein Lesepult, das er selbst in Leipzig von dem knapp zehn Jahre älteren Tomáš G. Masaryk erhalten hatte. (Durch Vermittlung Alexander Koyrés und aus Anlass von dessen soutenance de thèse hatte Patočka in Paris die Bekanntschaft Husserls gemacht. Er hörte dort auch Husserls berühmte Pariser Vorträge, die später zu den Cartesianischen Meditationen werden sollten.) In seinen Erinnerungen an Husserl kommentiert Patočka dieses Ereignis mit den Worten: »Ich wurde so zum Erben einer großen Tradition.«2 Über Husserl und Masaryk hinaus verband ihn diese Tradition mit dem Rationalismus der Aufklärung und, weiter noch, mit den Gelehrten und Humanisten der Renaissance, unter denen der berühmte Jan Amos Komenský, genannt Comenius, herausragt. Nach und dann ein zweites Mal nach den Ereignissen von von der Universität verbannt, war Patočka zu ideengeschichtlicher Forschung gezwungen, die geeignet war, den Nationalismus der tschechischen Kommunisten zu befriedigen. Ein ganzes Werk widmete er Comenius – eine seiner wenigen Arbeiten, die zur Publikation freigegeben wurden. Bei der Lektüre dieser Schrift aber wird deutlich, dass Patočka mit Comenius weit mehr verbindet als eine Auftragsarbeit oder auch ein legitimes Gefühl von Nationalstolz. Es war eine Geistes- und Schicksalsverwandtschaft, die erst in Patočkas letztem Werk, den Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte (auf die ich später zurückkommen werde), zutage Der Text erschien unter dem Titel »Hommage à Jan Patočka« in: Profils de Jan Patočka. Hommages et documents. Réunis par Henri Declève, Bruxelles . Ursprünglich publiziert unter dem Titel »Jan Patočka et le nihilisme«, in: Esprit Nr. , , S. -. In: Die Welt des Menschen, die Welt der Philosophie. Festschrift für Jan Patočka, hg. von Walter Biemel und dem Husserl-Archiv zu Löwen, Den Haag , S. VI-IX. Vgl. auch Karl Schuhmann, »Husserl and Masaryk«, in: On Masaryk, hg. von Josef Novák, Studien zur österreichischen Philosophie, Bd. XIII, Amsterdam , S. .
treten sollte. In der Tat glich Comenius’ Leben während des Dreißigjährigen Krieges mehr Patočkas eigener Epoche als der weniger gepeinigten Zeit Masaryks und Husserls. Gemeinhin kennt man von Comenius kaum mehr als seinen Beitrag zur Philosophie der Erziehung und übersieht die tragische Dimension seines Denkens, die hierin nur fragmentarisch aufscheint und im Centrum Securitatis kulminiert. In diesem düsteren Werk meldet sich die schwache Stimme des Trostes erst angesichts des Ausmaßes und der Tiefe des Bösen sowie, schlimmer noch, der Vergeblichkeit aller Hoffnung. Mit Erazim Kohák würde ich vermuten, dass das Motiv der »Solidarität der Erschütterten« auf den letzten Seiten der Ketzerischen Essays enger verwandt ist mit dem verzweifelten Trost, den Comenius anbietet, als mit Heideggers Entschlossenheit angesichts des Todes und mit Nietzsches Suche nach dem Übermenschen im Zeitalter des Nihilismus.3 Doch bevor ich zur Diskussion dessen übergehe, was ich das Denken des späten Patočka nennen möchte, nämlich der Jahre -, der Einsamkeit und der sokratischen Untergrundseminare – ich erinnere daran, dass Patočka am . März unter den Händen der Polizei starb –, ist es wichtig, Patočkas Beziehung vor zu jenen beiden Lehrern zu verdeutlichen, die an der Weitergabe des besagten Pultes beteiligt waren: Masaryk und Husserl. Seine Beziehung zu Masaryk blieb während seiner gesamten philosophischen Laufbahn von solch quälender Intensität, dass Patočka ihm noch seine Zwei Studien zu Masaryk widmete, die im Samisdat veröffentlicht wurden.4 Patočka hatte Grund, sich Masaryk mal nahe, mal fern zu fühlen. Zu Beginn seiner Laufbahn sympathisierte er mit Masaryks Kritik des Sinnverlusts in einer verwissenschaftlichten Welt. Aber Masaryks Verurteilung des »Titanismus«, der in seinen Augen der Hypostasierung der Subjektivität entsprang, sowie seine Ver Vgl. Erazim Kohák, Jan Patočka – Philosophy and Selected Writings, Chicago , S. f. Französische Übersetzung: »Deux études sur Masaryk«, in: Jan Patočka, La crise du sens, tome I, hg. und übers. von Erika Abrams, Brüssel . [Der erste Essay erschien in deutscher Übersetzung in: Jan Patočka, Ausgewählte Schriften: Schriften zur tschechischen Kultur und Geschichte, hg. von Klaus Nellen, Petr Pithart und Miroslav Pojar, Stuttgart , S. -; der zweite in: Tschechische Philosophen im . Jahrhundert (Reihe Tschechische Bibliothek), hg. von Ludger Hagedorn, Stuttgart , S. -, A. d. Ü.]
teidigung eines objektiven Sinns von Gut und Böse konnte kaum von einem Schüler Husserls akzeptiert werden, der lange Zeit von einem Transzendentalismus durchdrungen war, welcher die Subjektivität freisprach von den Sünden, deren Masaryk sie bezichtigte.5 Später musste Patočka wieder einen gewissen Gefallen finden an Masaryks Plädoyer für die Objektivität, denn in dieser Zeit war er selbst auf der Suche nach einer vor-reflexiven Erfahrung, in der sich das geltend machen konnte, was er die »Härte der Realität« nannte. In großer Nähe zu Eugen Fink spricht er in diesem Zusammenhang von einer »asubjektiven« Phänomenologie. Was ihn jedoch in einen entschiedenen Gegensatz zu Masaryk bringen musste, ist Patočkas immer stärker und düsterer werdende Behauptung einer grundsätzlichen Fraglichkeit, die jedem Totalitätsanspruch zuwiderläuft. Diese Position führte ihn auf die genau entgegengesetzte Seite jenes religiösen Fideismus, an dem Masaryk letztlich seinen Bedeutungsund Werteobjektivismus festmachte. Während das Motiv der Härte der Realität eine Art horizontaler Dialektik zwischen Subjektivität und Objektivität auferlegt, eröffnet sich in vertikaler Dimension gerade auf den Ruinen jegliches dogmatischen Sinnes die Möglichkeit, die Distanz der Reflexion über die Totalität des Wirklichen und des Denkbaren zu gewinnen. Dieses Thema der Fraglichkeit des Weltganzen grenzt Patočka nicht nur von Masaryk ab, sondern musste ihn ebenfalls in einen Gegensatz zu Husserl und dann auch zu Heidegger bringen, obwohl er sich gerade auf Letzteren stützte, um Husserl zu widerlegen. Die Auseinandersetzung mit Husserl beginnt mit Patočkas Habilitationsschrift, die unter dem Titel Die natürliche Welt als philosophisches Problem zuerst , dann ein zweites Mal im Jahre 6 und schließlich unter dem Titel Die natürliche Welt und die Bewegung der menschlichen Existenz ein drittes Mal im Samisdat erschien. In dem verfassten Nachwort zur Neuauflage von ist der Bruch mit Husserl vollzogen.7 Ein zweites, überarbei In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass es Masaryk war, der seinen Studenten und Freund Husserl seinem eigenen Lehrer, Franz von Brentano, empfohlen hatte. Auf Deutsch in: Jan Patočka, Ausgewählte Schriften: Die natürliche Welt als philosophisches Problem. Phänomenologische Schriften I, hg. von Klaus Nellen und Jiří Němec, Stuttgart , S. - (im Folgenden kurz NW). NW, S. -.
tetes Nachwort 8 für die in den Phaenomenologica erschienene französische Fassung akzentuiert die Abweichung noch stärker. Danach erschien das, was Husserl die »natürliche Welt« nannte und was er im Großen und Ganzen mit der vorwissenschaftlichen Erfahrungsschicht gleichsetzte, für Patočka seit den er Jahren als zu sehr von der Subjektivität geprägt. War der Weg, den Husserl mit der »natürlichen Welt« verfolgte, nicht nur eine Variante des Rückgangs auf die ursprüngliche Subjektivität, und zwar in einer Perspektive, die von Grund auf theoretisch blieb? Die drei fundamentalen Bewegungen der menschlichen Existenz, von denen Patočka seit dieser Zeit spricht und die ich im Folgenden noch definieren werde, sind nicht so sehr durch ihre Tauglichkeit zur Reflexivität und zur Anschauung bestimmt als vielmehr – in der Art Heideggers – als Weisen des In-der-Welt-seins. Es ist bemerkenswert, dass Patočka hier von der Bewegung der Existenz spricht. In der Tat denkt er dabei an die aristotelische kinesis in ihrer ebenso berühmten wie rätselhaften Bestimmung als Wirklichkeit des potenziell Seienden. Im Hinblick auf eine solche Bewegung, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist, reformuliert Patočka auch die Phänomenologie des Leibes als einen Nexus der Verräumlichung und Verzeitlichung, der den Objektivierungen der modernen Wissenschaft vorausgeht. Ein Blick auf diese Phänomenologie des Leibes lässt auf einen Schlag erkennen, wie sehr Patočka Heidegger verpflichtet ist; zugleich markiert sie eine Distanz, die – wie man an den Ketzerischen Essays feststellen wird – der zu Husserl in nichts nachsteht. Bei Heidegger, schreibt er in seiner retractatio von , taucht nirgendwo die Überlegung auf, dass die ursprüngliche Praxis grundsätzlich eine Tätigkeit des leiblichen Subjekts ist, dass also die Leiblichkeit ihren ontologischen Status haben muss, der mit dem Vorfinden des Leibes als eines hier und jetzt gegenwärtigen nicht identisch sein kann.9
Nirgends ist Patočka, wie er im Übrigen selber erkennt,10 näher an Merleau-Ponty, wobei ich allerdings hinzufügen würde, näher am NW, S. -. Von den Exemplaren der tschechischen Neuausgabe wurden für Institutionen reserviert. Der Rest fiel der Prager Zensur zum Opfer und wurde eingestampft … – wir sind in der Zeit nach dem Prager Frühling! NW, S. . NW, S. .
späten Merleau-Ponty von Le Visible et l’Invisible als am Autor der Phénoménologie de la Perception. Gleichsam allein mit dieser Wiederaufnahme der aristotelischen Bewegung, verstanden als Bewegung der Existenz, schreitet Patočka dann unter dem Vorzeichen einer »verwirklichten dynamis«,11 zwischen genesis und phtora, zwischen Entstehen und Vergehen des Seienden, fort: Die Bewegung ist das, wodurch sich zeigt, dass es in der Welt für jede einzelne Wirklichkeit unter all den anderen einzelnen Wirklichkeiten eine bestimmte Zeit lang einen bestimmten Ort gibt.12
Die heideggersche Triade von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart – eine wesentlich zeitliche Triade – ersetzt Patočka durch eine wesentlich leibliche Triade. Zunächst die Bewegung der Verankerung, in der wir durch das, wohinein wir gesetzt sind, akzeptiert werden, mit all ihren Sicherheit gewährenden Vorkehrungen, welche diese Bewegung aufrechterhalten; dann die Bewegung der Selbstverteidigung, der Projektion seiner selbst in die Arbeit und den Kampf – die Arbeit, die uns mit den Dingen, und den Kampf, der uns mit den Menschen konfrontiert; schließlich die Bewegung des Durchbruchs, die wesentliche und eigentliche Bewegung der menschlichen Existenz, aufgrund deren wir fähig sind, uns »auseinanderzusetzen mit« dem Ganzen der Dinge, nicht im Sinne einer additiven, sondern einer umfassenden Totalität. Es ist bemerkenswert, dass Patočka in den Jahren bis das charakteristische Gefühl dieses Durchbruchs, der untrennbar Durchbruch zu Endlichkeit und Tod wie Durchbruch zur Totalität des Seienden ist, als »Hingabe« bezeichnete. schreibt er: Diese Wendung hat nun vielmehr die Bedeutung einer Hingabe. Mein Seiendes wird nicht mehr als ein Für-mich-Sein definiert, sondern als Seiendes in der Hingabe, als Seiendes, das sich dem Sein erschließt, das dafür lebt, dass die Dinge das sind, sich als das zeigen, was sie sind – und ich und die Anderen ebenso. Das bedeutet: Ein Leben in der Hingabe, ein Leben außerhalb seiner selbst, nicht in bloßer Solidarität der Interessen, sondern in einem ganz neuen Interesse, ein solches Leben lebt nicht mehr in dem, was trennt und verschließt, sondern in dem, was eint und erschließt, weil NW, S. . NW, S. .
es die Offenheit selbst ist. Das Sein in der Hingabe ist das Seiende, das sich dem Sein hingibt, ein vollkommen ›objektives‹ Seiendes in dem Sinne, dass es sich singulärer Interessen begeben hat.13
Diese dritte Bewegung stürzt uns in die Fraglichkeit, durch die jeglicher Totalitätsanspruch mit dem Siegel des Sinnlosen behaftet ist. Fürs Erste scheint aber zu dieser Zeit der Akzent auf der Großzügigkeit der Öffnung jene Tragik zu bannen, die dann in den Ketzerischen Essays zutage tritt.14 Man dürfte ein ganz zutreffendes Bild von der Entwicklung seines Denken erhalten, wenn es gelänge, die Wandlungen und Umschwünge dieses Motivs der Hingabe, der Aufopferung zu beschreiben. Im Jahre stützt Patocka sich noch auf einen Mythos, »den Mythos vom göttlichen Menschen, vom vollkommen wahrhaftigen Menschen, von seinem unausweichlichen Ende und seiner sicheren ›Auferstehung‹«.15 Diesem Mythos der Vollkommenheit wird er zehn Jahre später die düstere Vision Heraklits von der Herrschaft des polemos gegenüberstellen. Es wird dann nicht mehr die Rede sein von einer »durch Hingabe geeinten Gemeinschaft (…), einer dienenden Gemeinschaft, die die Einzelnen überschreitet«,16 sondern von einer Gemeinschaft der Erschütterten, das heißt derjenigen, die die Geschichte, verstanden als einen beständigen Kataklysmus, überlebt haben. Es ist an der Zeit, von den Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte17 zu sprechen, die ich vorauseilend bereits mehrmals erwähnt habe. Ich gestehe, dass sie mich stärker verstört haben als die unter dem Titel Die natürliche Welt und die Bewegung der Menschlichen Existenz versammelten Essays.18 Diese Essays sind im Kontext der er Jahre, der Jahre der verlorenen Illusionen und der »Norma NW, S. . In den Ketzerischen Essays charakterisiert Patočka die drei Bewegungen als Bewegung des Akzeptierens, Bewegung der Selbstverteidigung und Bewegung der Wahrheit. NW, S. . NW, S. . [Die französische Ausgabe Essais hérétiques sur la philosophie de l’histoire, übers. von Erika Abrams, erschien in Paris bei Verdier, versehen mit einem Vorwort von Paul Ricœur und einem Nachwort von Roman Jakobson, A. d. Ü.] [Ricœur bezieht sich hier auf die französische Ausgabe Le monde naturel et le mouvement de l’existence humaine, übers. von Erika Abrams, Dordrecht (Phaenomenologica ), die in dieser Textzusammenstellung deutsch nicht vorliegt, A. d. Ü.]
lisierung«, zu sehen. (Ich möchte daran erinnern, dass es Jan Patočka über einen Zeitraum von Jahren nach seiner Habilitation nur für acht Jahre erlaubt war, öffentlich zu lehren.) Diese Umstände reichen indessen nicht aus, um seinen Bezug auf die Geschichte und die Geschichtsphilosophie zu erklären. Auch der Hinweis auf Patočkas Tätigkeit als Ideengeschichtler – auf seine Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, mit neuzeitlichen und zeitgenössischen Ansätzen sowie (nicht zu vergessen) seine Comenius gewidmeten Arbeiten – reicht ebenso wenig aus wie die Erinnerung daran, dass er beharrlich nach der Bedeutung der tschechischen Geschichte fragte. Denn in der Ausprägung, die Patočka dem Begriff der Geschichte verleiht, hat diese nichts mehr mit Historiographie gemein – selbst wenn dabei die Kulturgeschichte des Abendlandes den roten Faden liefert. Worum es hier geht, ist das Wirksamwerden der geschichtlichen Verfasstheit selbst, dadurch dass sie der vorangehenden Analyse der drei Bewegungen der menschlichen Existenz zugeordnet wird: als ein Geschick, das zur Verantwortlichkeit aufruft. Das Geschichtliche ist hier dem »Vor-geschichtlichen« entgegengesetzt, wobei sich dieser Ausdruck in keiner Weise auf irgendein wildes oder barbarisches Zeitalter bezieht. Die »vor-geschichtliche« Welt, selbst wenn man sie mit diesem Ausdruck bezeichnet, ist nicht mehr Husserls natürliche Welt, das vorgalileische und vornewtonsche Zeitalter der Erfahrung und der Praxis, deren Spur ausgehend von den vorprädikativen Schichten des intentionalen Bewusstseins wiederbelebt werden könnte. Nein, das »Vor-geschichtliche« bezeichnet die Welt vor der Entdeckung der generellen Fraglichkeit. Diese Welt vor der Fraglichkeit, schreibt Patočka, ist zugleich die Welt eines gegebenen, zwar bescheidenen, aber zuverlässigen Sinns. Sie hat Sinn, das heißt Verständlichkeit, dadurch, dass es Mächte, Dämonisches, Götter gibt, die über dem Menschen stehen, die ihn beherrschen und über ihn entscheiden.19
Darin erkennt man die erste der oben beschriebenen drei Bewe In diesem Band, S. . Die vorgeschichtliche Welt ist natürlich, »weil sie die sie ausmachende Gemeinschaft einfach als etwas Gegebenes annimmt, als das, was sich von sich selbst her zeigt. Die Gemeinschaft ist die zwischen Göttern und Sterblichen, der Lebensraum, den diejenigen, die auf die nährende Erde und die Lichter des Himmels angewiesen sind, mit denjenigen teilen, die auf nichts angewiesen und so das erstaunlichste Geheimnis dieser Welt sind« (ebd., S. ).
gungen: diejenige der Verankerung. Patočka fügt nun noch hinzu: Akzeptieren und Selbsthingabe, gemäß dem Diktum des Anaximander: »einander Recht tun und Unrecht ausmerzen«. Ebenso findet sich ein Anklang an Hannah Arendts Analysen zur Arbeit als Aufrechterhaltung des Lebens, jedoch mit einem zusätzlichen, tragischen Akzent: Die Arbeit geschieht nicht freiwillig: »Wir akzeptieren sie gezwungenermaßen, sie ist hart, sie ist eine Last.«20 Dem wird als geschichtlich jene Situation gegenübergestellt, die unter dem Zeichen des Verlustes des transzendenten und dogmatischen Sinnes steht und damit fraglich geworden ist. Im Zusammenhang mit diesem Eintritt des Menschen in die Geschichte führt Patočka auch das heraklitische Thema des polemos ein, der einen beunruhigenden Schatten über seine gesamte politische Philosophie werfen wird. Nachdem er mit Arendt zwischen dem Gemeinwesen als dem Ort der Politik und der Hausgemeinschaft als dem Ort der Bedürfnisse und der Arbeit unterschieden hat, schlägt er in einem anderen Punkt eine abweichende Richtung ein: während für Arendt die Macht dem Willen einer historischen Gemeinschaft entspringt, miteinander zu leben, ist der Geist der Polis für Patočka der »Geist der Einheit im Streit, im Kampf«.21 Hierin klingt Heraklits Fragment B nach: »Es ist nötig zu wissen, dass das Gemeinsame polemos ist, und das Recht ist Streit (Dike = Eris), und alles geschieht durch Eris und ihren Drang.«22 Aber ebendies ist es, so schließt Patočka, was die Menschheit nicht begreifen will und was ihr vielleicht erst eine spätere Zeit beibringen wird, die den Gipfel von Unheil und Zerstörung erreicht hat: dass das Leben nicht aus der Perspektive des Tages, aus der Perspektive der bloßen Lebensfristung und des akzeptierten Lebens zu verstehen ist, sondern aus der Perspektive des Streits, der Nacht, aus der Perspektive des polemos. Dass es in der Geschichte nicht darum geht, was widerlegt oder wodurch etwas erschüttert werden kann, sondern um die Offenheit für das Erschütternde selbst.23
Damit haben wir uns weit entfernt von Husserl und sogar von Heidegger, selbst wenn Patočka in Heideggers Konzept einer engen Beziehung zwischen Freiheit und Nichts einen provisorischen
Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. .
Rückhalt findet, besonders aber in dessen Vorstellung von der Verborgenheit des Seins des Seienden im Ganzen.24 Man sieht, wie das ältere Thema der Fraglichkeit alles Sinnes und aller Sinnhaftigkeit ergänzt wird durch das Motiv des polemos. Es ist nicht möglich, »die Erfahrung des Sinnverlustes durchzumachen«,25 ohne mit dem Nihilismus konfrontiert zu sein. Genauer gesagt, ist es der »dogmatische« Nihilismus, worüber der späte Patočka reflektiert. Mit dem Rücken zur Wand möchte er nämlich den Verlockungen einer reinen und bloßen Sinnlosigkeit genauso wenig nachgeben wie den Sicherheiten der vor-geschichtlichen Welt. Man muss anerkennen, dass er dem Anspruch des Nihilismus lediglich die Utopie »einer ungeheuren Umkehr, eines beispiellosen metanoein«26 entgegenstellt – in einem offensichtlich religiösen Sinne. Doch hören wir ihn selbst: Der Mensch kann nicht ohne Sinn, und zwar ohne einen gesamtheitlichen und absoluten Sinn leben. Das heißt, er kann nicht in der Gewissheit der Sinnlosigkeit leben. Aber heißt das auch, dass er nicht in der Suche, in einem fraglichen Sinn leben kann?27
Wir haben richtig verstanden: »in der Suche, in einem fraglichen Sinn«. An dieser Stelle schließt sich Patočka zutiefst der verzweifelten Hoffnung des Comenius im Centrum Securitatis an – mit einem offensichtlichen Anklang an das Christentum: Die Möglichkeit einer metanoia von historischen Ausmaßen hängt von folgender Frage ab: Ist der Teil der Menschheit, der zu begreifen imstande ist, worum es in der Geschichte gegangen ist und geht, und der zugleich durch die Stellung der heutigen Menschheit auf dem Gipfel der Technowissenschaft immer mehr dazu gezwungen ist, für die Sinnlosigkeit die Verantwortung zu übernehmen, auch zu der Disziplin und Selbstverleugnung fähig, die die Haltung der Nicht-Verankerung verlangt, in der allein sich der absolute und der Menschheit gleichwohl zugängliche, weil fragliche Sinn realisieren lässt?28 »Der Grund dieses Sinnes ist (…) die Fraglichkeit, mit Heidegger gesprochen, die Verborgenheit des Seienden im Ganzen als Grund aller Offenheit und alles Sich-Öffnens« (ebd., S. ). Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd. Ebd.
Patočka geht kaum über die Formulierung dieser Frage hinaus. In seinen Augen bietet die europäische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in dieser Hinsicht keinerlei Anlass zur Hoffnung, weder dazu, den Optimismus der Aufklärung wiederaufzunehmen, deren Erbe Masaryk war, noch auch nur zu jener verzweifelten Hoffnung eines Comenius. Der letzte der Ketzerischen Essays, mit dem Titel Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts und das zwanzigste Jahrhundert als Krieg, legt nahe, dass der Krieg – weit davon entfernt, ein Scheitern des Friedens oder ein listiger Umweg im Kampf für den Frieden zu sein – einen Ausweg für jene todbringenden Energien darstellt, die verwandt sind mit den durch Heraklits polemos symbolisierten Kräften der Nacht.: Der Krieg ist zugleich das größte Unternehmen der industriellen Zivilisation, das Produkt und das Werkzeug der totalen Mobilisierung (wie Ernst Jünger richtig gesehen hat) und die Freisetzung der orgiastischen Potenziale, denen nirgendwo anders das Extrem eines Rausches gestattet ist, der sich durch Vernichtung herstellt.29
Dieser traurigen Diagnose vermag Patočka nichts Stärkeres entgegenzusetzen als das, was er die »Solidarität der Erschütterten« nennt – in Anlehnung an die Fronterfahrung der Kämpfer des Ersten Weltkriegs. So drückt das Motto der »Solidarität der Erschütterten« zugleich Patočkas Faszination für das Thema des Krieges aus wie auch den Anfang einer mutigen Kehrtwendung gegen das, was niemals als »das Böse« bezeichnet wird: Die Solidarität der Erschütterten hat die Fähigkeit, »nein« zu sagen zu allen Mobilisierungsmaßnahmen, die den Kriegszustand verewigen. […] Die Solidarität der Erschütterten bildet sich in Verfolgung und Ungewissheit: das ist ihre Front, eine stille Front, ohne Reklame und Sensation auch da, wo sich die herrschende Kraft unter Einsatz dieser Mittel ihrer zu bemächtigen sucht.30
Als Patočka diese Zeilen schrieb, konnte er nicht ahnen, dass er mit der Annahme seines Amtes als Sprecher der Charta auf ganz praktische und konkrete Weise diesem Nein »zu allen Mobilisierungsmaßnahmen, die den Kriegszustand verewigen«, zum Sieg über die Faszination durch das Nichts verhelfen würde. Noch weni Ebd., S. . Ebd., S. .
ger konnte er ahnen, dass diese Entscheidung, besiegelt durch den Tod, ihn in unserer Erinnerung mit seinen berühmten Vorgängern Comenius und Masaryk versöhnen würde. Aus dem Französischen von Heinke Fabritius und Ludger Hagedorn
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. Vor-geschichtliche Betrachtungen Von der »natürlichen Welt« zum Problem der Geschichte Zur Zeit der beginnenden Krise der mechanistischen Physik entfaltete der positivistisch ausgerichtete Philosoph Richard Avenarius das Problem des »natürlichen Weltbegriffs«.1 Dieses Problem und die mit ihm verbundenen Prägungen wie »natürliche Welt« (später bei Husserl »Lebenswelt«) hatten eine große Wirkung, die weit über den Rahmen der Philosophie von Avenarius hinausging. Mit ihnen sollte zum Ausdruck kommen, dass wir uns von der »künstlichen« Anschauung der modernen mechanistischen (Meta-)Physik distanzieren, der zufolge die uns wahrnehmungsmäßig zugängliche Umwelt das subjektive Abbild der wahren, an sich seienden und von der mathematischen Naturwissenschaft erfassten Wirklichkeit ist – eine Anschauung, die freilich ein erfahrungsmäßig unzugängliches, »subjektives Inneres« postuliert, in dem sich auf der Grundlage kausaler Wirkungen in der physikalischen Welt und von ihr her das »Äußere« spiegelt. In der Folge wurde versucht, dieses Innere wegzudenken und die Umwelt in ihrer Gegebenheit als die Wirklichkeit selbst zu erfassen. Hieraus erwuchs das Problem einer Strukturbeschreibung dieser »menschlichen Welt«, der Welt einer »reinen Erfahrung«, ihrer »Elemente« und Beziehungen, der Verhältnisse, in die diese Elemente zueinander treten, usw. (wobei man sich später zum Teil des modernen logischen Instrumentariums der Relationslogik, des mathematischen Strukturbegriffs usw. bediente). Die Lösung, die sich zuerst anbot, war der so genannte neutrale Monismus in seinen verschiedenen Varianten, angefangen von Avenarius und Mach bis hin zu Russell, Whitehead, den russischen intuitiven Realisten2 sowie den angelsächsischen Neorealisten. Dem neutralen Monismus zufolge setzen sich die objektive Wirklichkeit und die Erlebniswirklichkeit aus denselben Elementen zusammen. »Objektiv« oder »subjektiv« werden sie je nach den Beziehungen, in denen die Datenelemente zu stehen kommen (Beziehungen einerseits zu einem privilegierten Datenkomplex, dem so genannten [Vgl. Richard Avenarius, Der menschliche Weltbegriff, Leipzig .] [Beispielsweise Nikolaj Onufrijewitsch Losskij (-).]
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»zentralen Nervensystem« oder »Organismus«, andererseits zum Gesamt aller übrigen Elemente). Dieser Versuch, die bisherigen kausalen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Subjekt und Objekt durch funktionale und strukturelle Relationen zu ersetzen, behielt allerdings das vereinheitlichende Wirklichkeitsschema der mathematischen Naturwissenschaft bei und führte in der Folge zu derart komplizierten hypothetischen Konstruktionen, dass die »natürliche Welt« unserer alltäglichen Erfahrung darin kaum wiederzuerkennen war. Das vereinheitlichende Verständnis der Wirklichkeit, wie es sich in der modernen Naturwissenschaft durchgesetzt hatte, wurde durch den neutralen Monismus nicht nur übernommen, sondern noch zugespitzt und gegen die Residuen des cartesianischen Dualismus in der mechanistischen Physik gerichtet. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Einheitsvorstellung sollte hier sogar von einigen Schwierigkeiten befreit werden, die die mechanistische Physik nicht zu beheben vermochte, zum Beispiel von dem Gegensatz zwischen primären und sekundären Qualitäten, ja überhaupt von der Existenz qualitativer Bestimmungen des Universums. Die Einheit der wirkenden Wirklichkeit blieb noch in der Wendung erhalten, die Bergson dem Problem der Objektivität der so genannten sekundären Qualitäten gab, für deren Rehabilitierung er nachdrücklich eintrat. Bergsons Wendung beruhte darauf, jeden Atomismus, selbst einen »logischen«, zu verwerfen und die Welt wie auch deren Erfahrung als qualitatives Kontinuum zu fassen, das sich nicht ohne entstellende Vereinfachungen und Verfälschungen »aufspalten« lässt. Gewiss, der menschliche Geist trifft aus praktischen Gründen eine Auswahl, die dem Entwurf und den Notwendigkeiten unseres Handelns entspricht, doch erlaubt ihm eine intuitive Tiefenerfahrung, die aus der Praxis zur wahren Erfahrung zurückkehrt, sich seines Zusammenhangs mit dem Weltganzen zu versichern (die Kontinuität der »inneren Dauer« verlässt uns niemals ganz). An Bergsons Beschreibungen der »Kontraktion« und der »Expansion« der Dauer zeigt sich allerdings, dass selbst die »Intuition der Dauer« manchen Zug der mechanistischen Schemata beibehalten hat. Dass man sich davon abwandte, das Problem des Zugangs zur Gegenständlichkeit auf der Grundlage kausaler Wirkungen des Äußeren auf das Innere zu »lösen«, drückte sich in der Folgezeit auch in zahlreichen anderen Philosophemen aus, die in verschiedener
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Weise bestrebt waren, den Atomismus (zum Beispiel in Form einer Monadologie oder anderer metaphysischer Motive) mit einer Lehre von der Kontinuität bzw. von der Beziehung zum Gesamtuniversum zu kombinieren. Sie alle versuchten, nicht-kausale Relationen (die »prehension«, die »gnoseologische Koordination« usw.)3 zugrunde zu legen, jedoch fassten sie diese als entweder objektiv oder in objektiven Relationen gegründet – stets in der Annahme, damit die »natürliche Weltsicht« des gemeinen Menschenverstandes zu restituieren. Die Unfähigkeit dieser Ansätze, auf diese Weise zu erklären, warum uns das Universum nicht ständig aktuell gegenwärtig ist und welche Rolle dem Leib bei unserer Auseinandersetzung mit der Umwelt zukommt, führte zur Stagnation. Ebenso musste man erkennen, dass sich die Zugänglichkeit des Nicht-Gegenwärtigen oder sogar Irrealen auf diese Weise nicht beschreiben lässt, ebenso wenig Selbsterkenntnis oder Selbstbewusstsein, ganz zu schweigen von geschichtlichen und geistigen Zusammenhängen, die sich durchwegs in der »natürlichen« und nicht in der methodisch rekonstruierten Welt der mathematischen Naturwissenschaft abspielen. All das schien durch die Wendung überholt, die Husserls Phänomenologie dem Problem gab. Husserl sah als Erster klar, dass die Frage nach der natürlichen Welt nach etwas zwar Bekanntem, jedoch Unerkanntem fragt und dass die natürliche Welt also allererst entdeckt, beschrieben und analysiert werden muss. Zum anderen bemerkte er, dass die natürliche Welt nicht auf dieselbe Weise erfasst werden kann, wie die Naturwissenschaft die Dinge erfasst, sondern dass es dazu eines grundsätzlichen Einstellungswechsels bedarf: Die Ausrichtung auf die realen Dinge ist zu ersetzen durch die Ausrichtung auf ihren Erscheinungscharakter, auf ihr Erscheinen. Damit zeigte sich weiter, dass es nicht um die Frage nach der Welt und ihren Strukturen geht, sondern um die Frage nach dem Erscheinen der Welt. Von der Welt ist also zum einen zu beschreiben und zu analysieren, wie sie sich zeigt, zum anderen ist zu erklären, warum sie sich so zeigt. Weil das Sich-zeigen immer als Sich-zeigen für jemanden geschieht, handelte es sich darum, diesen Grund des Erscheinens, des Sich-zeigens zu erforschen. Hier liegt das Motiv dafür, dass Husserl das Problem unerwarteterweise auf [Patočka bezieht sich mit dem ersten Begriff auf Alfred North Whitehead, mit dem zweiten auf Richard Avenarius.]
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den Boden des transzendentalen Idealismus verlagerte. Während der Idealismus vor Husserl, insbesondere in Gestalt des neukantianischen Kritizismus, untrennbar mit dem Weltbild der modernen mathematischen Naturwissenschaft verbunden schien, zeigte Husserls Phänomenologie, dass die Welt als das sich konkret zeigende Universum des Seienden stets in einem vorwissenschaftlichen Leben verankert und ursprünglich das Korrelat dieses vorwissenschaftlichen Lebens ist. Der Idealismus bot sich Husserl gerade aufgrund seiner Fähigkeit an, zu erklären, wie sich die originär-konkrete Anwesenheit des Seienden zum Bewusstsein verhält: Die Transzendenz der Gegenstände wurde als die wesensmäßige Korrelation der Akte des »intentionalen Lebens« zu ihren Gegenständen gedeutet, also als eine Art immanente Transzendenz; denn die Bewusstseinsakte sind eben durch Intentionalität charakterisiert, das heißt dadurch, dass sie einen »gegenständlichen Sinn« in sich tragen, auf dessen Grundlage sie Akte des Bewusstseins einer bestimmten Art von Gegenstand sind. In der naiven, natürlichen Weise, wie sich uns die Welt gibt, wie sie »erscheint«, wurde so in der Tiefe ein anderes, »reines Phänomen« entdeckt, das erst von der Phänomenologie ans Licht gebracht wird, während es in der gewöhnlichen, auf die Realität der Dinge gerichteten Einstellung unweigerlich verborgen bleibt. Dieses reine Phänomen ist nicht einfach ein Korrelat des »natürlichen Bewusstseins«, wobei dieses natürliche Bewusstsein ein Objekt der Welt unter anderen wäre, mit denen es in kausalen Beziehungen stünde und in der psycho-physischen Apperzeption als »Eigenschaft« oder als eine Seite des Organismus figurierte. Vielmehr ist das reine Phänomen das Korrelat des absoluten, »transzendentalen« Bewusstseins, das für alles Erscheinen und das SichZeigen jedes beliebigen Gegenstandes, also auch des Organismus und des realen, vergegenständlichten Bewusstseins, verantwortlich ist. Im Laufe der Ausformung der Phänomenologie erweiterte sich das transzendentale Bewusstsein zur »transzendentalen Intersubjektivität«, so dass sich die Beziehung zwischen dem Bewusstsein und der gegenständlichen Welt umkehrte: Anstelle von kleinen Bewusstseinsinseln im Meer einer erst naturhaft, dann naturwissenschaftlich aufgefassten Objektivität gibt es jetzt das Meer der Intersubjektivität, welches das Festland der objektiven Welt umspült und die einzelnen transzendentalen Erlebnis-»Ströme« miteinander kommunizieren lässt. Diese subjektive Wendung des Problems
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der natürlichen Welt führte zu einem extremen Idealismus und zu einer Wiederholung zahlreicher Themen des absoluten Idealismus aus der Zeit nach Kant (die Problematik der Intersubjektivität erinnert stark an den Schelling der transzendental-idealistischen Phase), freilich mit ganz anderen, nicht-konstruktiven Methoden. Auf diese Weise war zwar erklärt, wie die Gegenstände dem aktuellen Bewusstsein originär präsent sind. Problematisch blieb aber, ob die Gegenstände selbst damit nicht eine ihnen fremde Deutung erfahren hatten, ob hier nicht gegenüber dem ursprünglichen Phänomen ein gewisser mentalistischer Rest blieb. Die aktiven und passiven Synthesen, deren »Leistung« das Erscheinen der Dinge vor uns ist, scheinen nämlich nur dann Sinn zu haben, wenn sie auf der Grundlage von etwas mental »Realem« zustande kommen. Ein mentalistischer Rest jedoch bedeutet stets ein Überbleibsel der cartesianischen Aufspaltung des Seienden, also ein Überbleibsel jener Seinsauffassung, auf der die Tradition der mathematischen Naturwissenschaft gründet. Und trotz aller Betonung, wie wichtig die Erfassung der natürlichen Welt sei, wurde eine konkrete Analyse nie durchgeführt. Nie gelangte man bis zum Menschen, zu konkreten menschlichen Phänomenen wie Arbeit, Produktion, Handeln und künstlerischem Schaffen. Heidegger nahm den Gedanken Husserls auf, das Problem beim Erscheinen des Erscheinenden und bei den Strukturen desjenigen Seienden anzusetzen, dem sich das Erscheinende zeigt. Er formte diesen Gedanken jedoch um: Das Seiende, dem sich die Erscheinungen zeigen, das Seiende, das der Mensch ist, fasst er als ein Seiendes von ganz eigener Verfassung, das sich von allem übrigen Seienden dadurch unterscheidet, dass es das Sein versteht, weil es sich auf dieses bezieht, weil es sich zu ihm verhält (weil es diese Beziehung ist). Nur so kann es dazu kommen, dass der Mensch für das Seiende (dem das Sein zugehört) »offen« ist. Das bedeutet nicht, dass der Mensch das Seiende irgendwie abbildete oder widerspiegelte. Vielmehr besteht die »Leistung« seines Seinsverständnisses darin, dass sich ihm das Seiende von sich selbst her als das zeigt, was es ist. Der Mensch in seinem Wesen ist diese »Offenheit« und nichts anderes. Die Offenheit bezeichnet die grundlegende Möglichkeit des Menschen, dass sich ihm das Seiende (Seiendes von der Seinsart, die er selbst nicht ist, und Seiendes von der Seinsart, die er selbst ist
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– offenes Seiendes) von sich selbst her zeigt, das heißt ohne Vermittlung durch etwas anderes. (Das bedeutet nicht, dass es kein vermitteltes Zeigen gäbe, aber jedes solches Verweisen setzt ein primäres Zeigen voraus und ist Verweisen auf dieses hin und in ihm: die Sprache zum Beispiel zeigt den anderen, was sich uns selbst zeigt.) Dass das Seiende sich ihm zeigen kann, ist die wesentliche Eigenart des Menschen: dass etwas für ihn Phänomen werden, das heißt sich in seinem Dass-Sein und So-Sein zeigen kann. Der Mensch ist also weder ein Ort, an dem sich das Seiende bildet, um im Original erscheinen zu können, noch ist der menschliche »Geist« eine Sache, in der sich die Erscheinungen als Wirkungen der »Außenwelt« widerspiegeln. Der Mensch bietet dem Seienden die Gelegenheit, sich als das zu zeigen, was es ist, weil einzig im menschlichen Dasein ein Verständnis dafür präsent oder da ist, was sein heißt, eine Möglichkeit also, die die Dinge von sich selbst aus nicht haben und die für sie keinen Sinn hat – zu ihrem eigenen Sein zu kommen, das heißt, Phänomene zu werden, sich zu zeigen. Ein solcher Phänomenbegriff (das Erscheinen im tiefen Sinne als Seins-Verstehen) verbietet, das, was sich zeigt, als subjektive Sache zu nehmen, womit die Metaphysik der modernen (mechanistischen, aber nicht nur mechanistischen) Naturwissenschaft grundsätzlich überwunden ist. Aber auch jeder Idealismus im Sinne einer »Subjektivierung des Gegebenen« wird damit unmöglich, ebenso die positivistischen Bemühungen um den »neutralen Monismus«, die durchwegs an einem falschen Phänomenbegriff hängen: als sei die Welt ein Ensemble von Dingen und Dingbeziehungen, die einfach da sind, und als ließe sich ihr Sich-Zeigen aus diesen Beziehungen erklären. Als wäre das Problem der originären Gegebenheit, der Gegenwart des Seienden, dadurch lösbar, dass das Seiende einfach da ist. Dasselbe gilt jedoch auch von der qualitativen Welt Bergsons, die zwar einer Aufspaltung in Funktionsargumente widersteht, das Erscheinen aber ebenfalls nicht wirklich fassbar macht. Doch nicht einmal Husserl selbst, also derjenige Philosoph, der als Erster darauf hinwies, dass sich das Ding selbst und als solches mitsamt seiner Bedeutung sowie seinen Gegebenheits- und Seinscharakteren als Phänomen entfaltet, vermochte der Erscheinung völlig gerecht zu werden. Zwar sieht er, dass sich die Dinge von sich selbst her zeigen, ebenso bemerkt er, dass die »Gegebenheitsweise« und die Seinsstruktur der Dinge mitbeteiligt sind, aber all das deutet er wei
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terhin »mentalistisch« als »Belebung« des reell Gegebenen durch sinnverleihende »Intentionen«. Das lässt ihm zwar die Möglichkeit, für die »noetische Analyse« Begriffe der traditionellen Psychologie wie »Vorstellung«, »Denken«, »Phantasie« usw. neben solchen Begriffen zu benutzen, die aus der ursprünglichen Anschauung der Offenheit des In-der-Welt-seins geschöpft sind. Es macht ihn aber blind für die Frage nach dem Sein und ihren Zusammenhang mit dem Erscheinen. Wir können die Offenheit hier nicht einmal in ihren Grundzügen skizzieren. Es sei aber wenigstens darauf hingewiesen, dass zur Struktur der Offenheit ein doppelter Phänomenbegriff gehört, was von grundlegender Bedeutung ist. Die Offenheit des menschlichen In-der-Welt-seins lässt vor allem das Seiende sich zeigen, erscheinen, Phänomen werden. Wenn sich das Seiende als solches, das heißt in seinem Sein zeigen soll, muss es jedoch andererseits möglich sein, dass auch das Sein selbst sich zeigt und Phänomen wird. Das Sein ist jedoch ursprünglich und zumeist so »da«, dass es vor dem Seienden, dessen Erscheinen es ermöglicht hat, ins Dunkel zurücktritt, dass es sich im Seienden gleichsam verbirgt. Die Verborgenheit in ihren verschiedenen Formen wie »Verdecken«, »Abwesenheit«, »Verzerren«, »Verstecken« gehört zum Phänomen wesenhaft dazu. Jedes Phänomen ist nie anders zu verstehen denn als ein Aufleuchten, als ein Hervortreten aus der Verborgenheit. Die Verborgenheit durchsetzt das Phänomen, noch mehr aber: sie ist es, die aus sich das erscheinende Seiende erst entlässt. Wenn wir Husserls »noematische Sphäre« der Bedeutung »immanente Transzendenz« entledigen und zudem von einer einseitigen Objektausrichtung absehen, gewinnen wir ungefähr das, was Heidegger das Offene nennt. Es ist diese Sphäre, die in einer bestimmten »Zeit« die Möglichkeiten der Phänomenalisierung dessen vorstellt, was entborgen wird. Der offene Bezirk ist nicht identisch mit dem Universum des Seienden, sondern ist dasjenige, was zu einer bestimmten Zeit als seiend entborgen werden kann. Das bedeutet: Er ist die Welt einer bestimmten Epoche, wenn wir unter Welt die Struktur dessen verstehen, als was das Seiende dem Menschen zu einer bestimmten Zeit erscheinen kann. Dieses Als-was verbirgt sich – wie gesagt – zunächst in dem Seienden, das sich zeigt. Dieses Sich-Zeigende oder Erscheinende als solches, das Seiende in der Weise seines Erscheinungsinhaltes
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– die Farbe als Farbe, der Ton als Ton –, ist das sich selbst zeigende Phänomen. Das Phänomen ist niemals ohne Struktur, also ohne das, als was es erscheint. Dass sich jedoch etwas Ontisches zeigt, bedeutet immer: das sich selbst zeigende Phänomen, das sich vordrängt, erhält seinen Phänomencharakter von etwas Verborgenem, von dem ontologischen Phänomen, das sich nur unter bestimmten, besonderen Umständen zeigt – dann allerdings zeigt es sich (dem Philosophen) ebenfalls selbst und von sich selbst her (und verbirgt sich nicht nur im ontischen Phänomen). Phänomen, Erscheinen und Verbergen sind so aufs Engste miteinander verknüpft. Es gibt kein Erscheinen ohne Verborgenheit. Das Verbergen ist primär in dem Sinne, dass sich jedes Erscheinen nur als Ent-bergen verstehen lässt. Das Erscheinen im primären Sinne der ontischen Erscheinung ist stets Erscheinen des Seienden. Es gibt keine primäre Repräsentation des Seienden durch etwas »Mentales«. Vorstellung, Erinnerung, Phantasie, Traum usw. sind psychologische, aus der Perspektive einer realistischen Seelenauffassung konzipierte Titel und von der Offenheit her zu überdenken. In ihnen ist stets etwas Seiendes auf besondere Weise in die Sphäre der Offenheit getreten: als Phänomen vor dem ihm eigenen Hintergrund der Verborgenheit, als »Eintritt« in einen bestimmten Horizont (der entborgenen Verborgenheit), als »Verfallen« oder »Faszination« und »Bannung« durch einen bestimmten Horizont, der sich entweder vollkommen verbirgt oder der als solcher enthüllt ist. Es gibt aber auch abgeleitete Phänomenalität. Sie besteht nicht darin, dass sich etwas selbst zeigt, sondern im Zeigen auf etwas, das sich selbst zeigt. Die abgeleitete Phänomenalität zeigt auf das Zeigen und darin sekundär auf das, was sich primär zeigt. Eine solche Phänomenalität haben wir mit der Sprache, besonders mit den Aussagen vor uns. Die Aussagen schließen keinen Sinn in sich, der bereits in ihnen enthalten wäre, sondern weisen auf etwas hin, das sich unmittelbar zeigt. Sie können jedoch als solches Hinweisen zum Speicher dessen werden, was sich zeigt, und so das zu tradieren helfen, was einmal eingesehen wurde. Sie können zur Basis eines Verhaltens werden, das seine Bedeutung darin hat, die Offenheit zu erweitern und dieser Erweiterung zu dienen. Menschliches Verhalten, das darauf zielt, die Offenheit und ihren Umkreis zu erweitern bzw. zu tradieren, ist nicht auf die Spra
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che, die Aussagen und ihre verschiedenen Gestalten beschränkt. Es gibt Formen der Erweiterung und Tradierung der Offenheit in der Religion, im Mythos, in der Kunst und im Opfer. Wir können das hier nicht weiter ausführen. Jede dieser Tätigkeitsweisen, jedes solche Verhalten enthält einen besonderen Modus der Enthüllung des Seienden bzw. des Seins: Im Kult und im Mythos sind die Dinge ihrer alltäglichen Bedeutsamkeit, ihrer Dienlichkeit für das Leben entledigt und bekommen den Charakter eines freien, ursprünglichen Seienden. Erst in der bildenden Kunst zeigt sich der »Stoff« als solcher in dem, was er ist. Erst aus den realen Zusammenhängen herausgebrochen, in denen er seine Dienste erfüllt, bekommt er die Rolle, die Welt als Welt aufleuchten zu lassen. Die Öffnung der Welt ist jedoch in all ihren Gestalten immer geschichtlich, sie ist angewiesen auf das Sich-Zeigen der Phänomene und auf die Tätigkeit der Menschen, die aufbewahren und tradieren. Die Offenheit spielt sich als Ereignis im Leben der Einzelnen ab, betrifft aber vermittels der Tradition alle. Es beginnt nun deutlicher zu werden, wie wir uns dem Problem der natürlichen Welt hier nähern und auf welche Weise sie sich jenseits jedes Materialismus (der das Seiende im Sinne einer naturwissenschaftlichen Realität versteht und das Sein auf sie zu reduzieren versucht) und Idealismus restituieren lässt. Die Dinge, denen wir begegnen, werden als sie selbst aufgefasst, freilich mit der Struktur dessen, als was sie erscheinen, und in ihrem Auftauchen aus der wesentlichen Verborgenheit ins Offene. Im Spiel von Erscheinen und Verbergen zeigen sie sich in dem, was sie sind, sie zeigen also ihren Ernst. Das Erscheinen selbst jedoch ist geschichtlich, und das auf zweifache Weise: als die Entbergung des Seienden und als das Auftauchen der Seinsstrukturen, die sich selbst nicht anders als geschichtlich öffnen können. Wir können jetzt aber auch angeben, warum das Problem der natürlichen Welt (oder mit dem späteren Husserl: der Lebenswelt) bei Heidegger nicht gelöst wird, auch wenn zugestanden sei, dass der Begriff der Offenheit die bislang tragfähigste Grundlage bietet, auf die sich eine solche Lösung stützen könnte. Heideggers Analysen zum Phänomen und zur Offenheit richten sich nicht direkt auf das Problem der natürlichen Welt, sondern auf die Grundfrage der Philosophie nach dem Sinn von Sein, also auf die Frage nach der Grundlage aller Phänomenalität überhaupt. Mit Blick auf sie
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geht es Heidegger vor allem um jene Modalitäten des offenen Verhaltens des Menschen, die den Charakter haben, das Seiende und das Sein thematisch zu entdecken, also zum Beispiel um das praktische Entdecken, das Zeigen, die Rede und die Aussage, das Philosophieren, um die Wissenschaft und die Technik, die Kunst. Einzig oder zumindest überwiegend mit und in ihnen lassen sich Anhaltspunkte für die Seinsfrage und ihre den Phänomenen angemessene Entfaltung gewinnen. Demgegenüber gibt es freilich Weisen offenen menschlichen Verhaltens, deren Sinn und Inhalt nicht primär darin besteht, die Offenheit zu gewinnen und zu tradieren. Die natürliche Welt, die Lebenswelt lässt sich aber nur als das Ganze der wesentlichen menschlichen Verhaltensweisen, einschließlich ihrer Voraussetzungen und Sedimente, erfassen. Als die Welt des Menschen ist sie die Welt der Phänomene im oben angeführten Sinne (die Phänomene nicht als etwas Subjektives, sondern als Enthüllungen des Seienden und des Seins) und folglich auch nur dem offenen Verhalten zugänglich. Das offene Verhalten hat, indem es auf die Phänomene angewiesen ist, zeitlich-historischen Charakter: es ist immer in Bewegung, in einer Bewegung, die aus dem Dunkel kommt und wieder ins Dunkel der Verborgenheit mündet. Was seinen Sinn angeht, so zerfällt das offene Verhalten in verschiedene Teilbewegungen. Nur eine von ihnen richtet sich auf das Thema der Offenheit, des Offenbar-Werdens, der Enthüllung und ihrer Tradierung. Andere Bewegungen haben die Verwurzelung des Menschen im offenen Umkreis der gemeinsamen menschlichen Welt und die Verteidigung und Erhaltung dieser Welt zum Gegenstand. Erst wenn wir die gegenseitigen Beziehungen all dieser Bewegungen untersuchen und verstehen würden, ergäbe sich ein Bild dessen, was die natürliche Welt, die menschliche Lebenswelt ist. Bis zur Lösung dieser Frage ist es aber noch ein weiter Weg. Allerdings können wir jetzt schon sagen, auf welche Weise sich das Problem der natürlichen Welt unserer Meinung nach nicht lösen lässt. Vergeblich wäre der Versuch, unter den Aufschichtungen einer »künstlichen«, das heißt konstruktivistischen Auffassung der Welt das Ursprünglich-Primäre als Invariante wiederzufinden. Eine solche Invariante gibt es allem Anschein nach nicht. Das Seiende ist immer eine Synthese, freilich keine subjektive, sondern eine ontisch-ontologische Synthese. Das bedeutet, dass in den sich menschlich-historisch vollziehenden Enthüllungen des Seins immer
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neue historische Welten erscheinen, die als Synthesen selbst etwas Originales sein müssen: Jeder ihrer Teile bzw. jede ihrer Komponenten ist davon beeinflusst, zu einem neuen Ganzen zu gehören. Wir verfügen nicht einmal über dieselbe Wahrnehmung wie die alten Griechen, auch wenn, physiologisch gesehen, ihre und unsere Sinnesorgane dieselben sind. Der Mensch einer götterlosen Epoche sieht nicht nur andere Dinge, er sieht auch anders als derjenige, der sagen kann, panta plére theôn (»alles ist voller Götter«),4 oder der den Fremden zu sich in die Küche lädt, weil auch dort Götter sind.5 Es ist möglich, dass die historischen Welten einander auf der Ebene des Alltäglichen nahekommen, nur ist die Alltäglichkeit keinesfalls autonom. Als Invariante in diesem materiellen Sinne wurde die Lebenswelt aber von Husserl verstanden. Jenseits von ihr sieht er nur verschiedene Auffassungen oder »Weltbilder« (zum Beispiel das Weltbild der modernen mathematischen Naturwissenschaft), die jeweils auf eine bestimmte spezielle, das heißt der Tätigkeit bestimmter Spezialisten korrespondierende Welt verweisen. Es ist jedoch höchst zweifelhaft, ob wir auf diese Weise dem Phänomen der originären Gegenwart der Dinge in der Welt sowie dem der weltlichen Grundbereiche geschweige denn dem Phänomen des geschichtlichen Charakters des Weltinhalts gerecht werden, das heißt der Tatsache, dass die Weltinhalte je nach dem ontologischen Zugangsschlüssel auftauchen, hervortreten und sich wieder verlieren. Die ursprüngliche Geschichtlichkeit der Welt zeigt sich daher nicht in ihrer ganzen Fülle. Wenn sich von einer Invariante sprechen lässt, dann sicher nur in formalem Sinne – es gibt keine invariante Komponente, das einzig Beständige ist die ontisch-ontologische Synthese in der Enthüllung des Seienden. Alle geschichtlichen Welten sind »natürlich«. Künstlich sind nur bestimmte Tätigkeiten (wie die Technik) und die mit ihnen zusammenhängenden Auslegungen der Welt, nämlich wenn sie versuchen, sich nicht auf die Phänomene selbst, sondern auf abgeleitete Konstruktionen zu gründen. Von einer natürlichen Welt ließe sich jedoch auch in einem etwas anderen Sinne sprechen, nämlich wenn wir darunter die Welt vor der Entdeckung ihrer Fraglichkeit verstehen. Eine Welt ohne Fraglichkeit ist eine Welt, in der die Verborgenheit nicht als solche [Vgl. Hermann Diels/Walter Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin , Thales, A .] [Vgl. ebd., Heraklit, A .]
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erfahren wird. Das heißt nicht, dass eine solche Welt nicht geheime Dinge, Heiliges und Geheimnisvolles haben und kennen würde. Sie kann im Gegenteil sogar voll davon sein, und diese Dinge können in ihr eine entscheidende Rolle spielen. Aber die Erfahrung des Übergangs, des Hervortretens des Seienden als Phänomen aus dem Dunkel in jenes Offene, in dem zugleich dasjenige zum Vorschein kommt, wodurch das Erscheinen des Seienden überhaupt möglich wird und das der Frage nach dem Seienden erst festen Boden unter den Füßen gibt – solche Erfahrung kann man in der Welt ohne Fraglichkeit nicht machen. Denn erst das entdeckte Sein des Seienden gibt das Maß für das, was ist und was nicht ist, erst das entdeckte Sein erlaubt, durch Offenbares und Beständiges ausdrücklich zu bestimmen, was ist. Die Welt vor der Fraglichkeit ist zugleich die Welt eines gegebenen, zwar bescheidenen, aber zuverlässigen Sinns. Sie hat Sinn, das heißt Verständlichkeit dadurch, dass es Mächte, Dämonisches, Götter gibt, die über dem Menschen stehen, die ihn beherrschen und über ihn entscheiden. Es ist nicht der Mensch, der im Zentrum steht und um den es geht. Seinen Platz erhält er erst in Hinblick auf dieses Höhere. Er erhält ihn aber sicher – und er gibt sich mit ihm zufrieden. In der Welt entscheidend und für das Schicksal und Tun des Menschen bestimmend ist, was den Menschen in dieser Weise einordnet. Wir können uns dieser »natürlichen Welt«, die irgendwo vor Beginn unserer Geschichte liegt, teilweise aufgrund von Erfahrungsberichten über so genannte Naturvölker nähern, wobei freilich auf den phänomenalen Gehalt dieser Berichte zu achten ist. Die »Naturvölker« leben in einer von der unseren sehr verschiedenen und ontologisch schwer zu durchschauenden Welt. Jedenfalls ist das Übermenschliche in ihr stets als selbstverständlicher Gegensatz zum Menschlichen gegenwärtig (so wie es links nur im Gegensatz zu rechts, oben nur im Gegensatz zu unten, den Tag nur im Gegensatz zur Nacht und den Alltag nur im Gegensatz zum Festtag gibt). Aber auch wenn der Mensch in dieser Welt Geistern, Dämonen und anderen geheimnisvollen Wesenheiten begegnen kann – das Geheimnis der Erscheinung als solcher kann ihm nicht aufgehen. Der grundlegende Möglichkeitsentwurf eines solchen natürlichen In-der-Welt-seins besteht darin, in diesem unproblematischen, nicht fraglichen Sinn zu existieren. Am natürlichen Leben war stets auffällig, dass jene, die in ihm aufgehen,
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akzeptieren, wo wir zweifeln. Es scheint, als wüssten sie, bevor die Fragen gestellt sind. Dass das Leben etwas Sinnvolles ist und dass es sich zu leben lohnt, ist selbstverständlich. In dieser Hinsicht ähnelt das Leben der Naturvölker dem Leben der Tiere, die in schlichter Selbstverständlichkeit leben, um zu leben. Freilich unterscheidet es sich vom Leben der Tiere dadurch, dass es von der beständigen Möglichkeit der Fraglichkeit unterlegt ist, die hervorbrechen kann, die die Menschen allerdings nicht realisieren und auch nicht zu realisieren beabsichtigen. Die Fraglichkeit ist also da, aber in der Verborgenheit, gleichsam zurückgedrängt, jedoch nicht im Sinne vollständiger Privation. Zwischen dem Menschen und der Welt, dem Einzelnen und der Gruppe, der menschlichen Gemeinschaft und der Welt lassen sich hier Beziehungen erkennen, die uns auf phantastische Weise willkürlich, kontingent und unsachgemäß vorkommen, aber diese Beziehungen werden systematisch und genau eingehalten. Es handelt sich um ein höchst konkretes Leben, dem (als Zielstellung) nichts anderes in den Sinn kommt als zu leben. Ansonsten ist es so sehr erfüllt von der Sorge um das tägliche Brot und von der Nutzung dessen, was die Umwelt ihm bietet, dass sich sein Alltagsentwurf fast vollständig darin erschöpft, diese Aufgaben zu erfüllen. Es gibt nun eine bestimmte Stufe dieses Lebens in der Selbstverständlichkeit, die beinahe an die Grenze der Fraglichkeit stößt. Dazu kommt es dort, wo die Menschen sesshaft werden und es systematisch unternehmen, ihr Leben pro futuro zu sichern, wobei an dieser Aufgabe alle so teilhaben müssen, dass die Selbständigkeit Einzelner oder kleiner Gruppen ausgeschlossen ist. Unter diesen Umständen entstehen die ersten Hochzivilisationen. In ihnen gibt es dann auch ein gemeinsames Gedächtnis, das den Einzelnen überdauert: die Schrift. Aus ihr lassen sich in der Folge Sprach-Werke fertigen, die gleichsam eine zweite Welt bilden, die sich auf die primäre Welt bezieht. Der Mensch gibt seinem Gedenken die Dauer von Ziegel und Stein, und die Mythen, mit denen er nolens volens die Welt deutet, diese besondere Art von Werken, gewinnen auf dem Weg zwischen den Völkern an Gültigkeit und werden ihnen zum gemeinsamen Besitz. Es stellt sich hier die Frage, ob sich Überlegungen zu dieser Art von natürlicher Welt nicht für ein Verständnis dessen nutzen lassen, was Geschichte ist. Die Analysen des menschlichen In-der-Welt
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seins, die sich auf die Entborgenheit, ihre Erhaltung und Erweiterung richten, reichen hier jedoch nicht aus. Zwar muss das offene In-der-Welt-sein unser Ausgangspunkt sein und bleiben. Vor allem müssen wir unser Augenmerk aber auf jenen ursprünglichen, primären Entwurf des natürlichen, unproblematischen Menschen richten, auf das einfache Leben, wie es in der Selbstverständlichkeit des akzeptierten Sinns enthalten ist, der wiederum in der Lebensweise der Tradition, in ihren Formen und Überlieferungen enthalten ist. Dieses Leben mit all seinen Mühen und in seiner Endlichkeit ist akzeptiert, es ist bejaht als das Leben, das dem Menschen zusteht und das ihm bestimmt ist. Dies hat auch eine erhebliche praktische Konsequenz: Die menschliche Welt ist eine Welt der Arbeit, eine Welt der Anstrengungen und Mühen. An dieser Stelle sollten wir versuchen, phänomenologisch an die Analysen des praktischen, aktiven Lebens anzuschließen, die Hannah Arendt im Anschluss an Aristoteles’ Unterscheidung zwischen theôria, praxis und poiêsis durchgeführt hat.6 Es ist kein Zufall, dass in Sein und Zeit zwar Beispiele aus dem handwerklichen Bereich eingeführt werden, dass von Zeug oder Zuhandenem und seinem Bewandtniszusammenhang die Rede ist, dass die Sprache jedoch nie auf die Arbeit kommt, die – wie Hannah Arendt gezeigt hat – untrennbar mit der einfachen Erhaltung eines sich selbst verzehrenden Lebens verbunden ist. In ihren Untersuchungen, in denen sie die Arbeit, das Herstellen, das Reagieren und das Handeln als die großen Bereiche des aktiven Lebens unterscheidet, geht sie dem Menschen in denjenigen Möglichkeiten des Inder-Welt-seins nach, die nicht die Unverborgenheit, die Enthüllung (der »Wahrheit«) in all ihren Formen zum Thema haben. Unter ihnen ist der Entwurf eines Lebens um des bloßen Lebens willen vielleicht die wichtigste Möglichkeit: Die Arbeit muss die wesentliche Beziehung des In-der-Welt-seins werden, weil der Mensch wie alles Lebendige einem ständigen Selbstverzehr ausgesetzt ist, der ebenso beständig die Beschaffung dessen fordert, was sich immer wieder neu als Notwendigkeit meldet. Daraus resultieren Fragen, die einen spezifischen Problemkreis bilden: Eigen- und Fremdarbeit, die Probleme der Arbeitsnutzung und der Befreiung von der Arbeit. Der zentrale Wesenszug ist hier die Fesselung des Lebens an sich selbst: [Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart .]
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die »physische« Notwendigkeit, so zu existieren, dass das Leben auf das Leben, auf den Dienst am Leben verwendet wird. Das ist nun freilich eine der Formen, in denen die Endlichkeit des Lebens, sein Hineingehaltensein ins Nichts und in den Tod, unablässig gegenwärtig ist. Jedoch ist diese Form unbestimmt, sie ist eine verblendete Form, die Form einer Tätigkeit, die durch ihre Betriebsamkeit das eigene Thema verdeckt. Die Arbeit ist also im Unterschied zum tierischen Leben – dessen bescheidene Offenheit sich im Suchen von Beute beziehungsweise allgemeiner der nötigen Lebensmittel erschöpft – mit der Fraglichkeit in Berührung. Und zugleich verdunkelt und verwehrt sie die Sicht auf sie. Das Tier arbeitet nicht, obgleich es Sorge trifft und sich selbst und seine Familie absichert. Entsprechend ist die animalische Lebenserfüllung für das Tier keine Last, während sie für den Menschen eine ist. Die menschliche Arbeit setzt eine freie Verfügung über den Raum und die Zeitintervalle voraus und ist bei aller Einförmigkeit nicht stereotyp, sondern zielgerichtet und von einem Ziel her bestimmt. Lastcharakter hat die Arbeit nicht so sehr aufgrund der physischen Anstrengung (die daher rührt, dass das Aktionsfeld der Arbeit nicht als eine Art »Vorratskammer« das Lebensnotwendige bereitwillig zur Verfügung stellt und seiner Zurichtung für den Menschen Widerstand leistet), sondern aufgrund der Tatsache, dass uns hier eine bestimmte Entscheidung aufgezwungen wird und wir dies auch so empfinden. Paradoxerweise lässt uns die Arbeit unsere Freiheit fühlen. Der Lastcharakter der Arbeit leitet sich von einer noch ursprünglicheren Last ab, die mit dem menschlichen Leben überhaupt zusammenhängt: Wir können das Leben nicht einfach als etwas Gleichgültiges hinnehmen, sondern wir müssen es beständig »tragen« und »führen« – wir müssen die Garantie für es übernehmen und für es einstehen. So ist die Arbeit, die (laut Hannah Arendt) ursprünglich immer Arbeit für den Verbrauch ist, nur auf der Grundlage des freien In-derWelt-seins möglich. Aber zugleich ist sie imstande, die Entfaltung dieser Freiheit des In-der-Welt-seins und der mit ihr verbundenen Fraglichkeit zu bremsen und zurückzudrängen. Diejenige Welt, in der sich auf der Grundlage der verborgenen Freiheit die Fesselung des Lebens an sich selbst vollzieht, ist die Welt der Arbeit, und ihre Urzelle und ihr Muster ist der Haushalt, ist die Gemeinschaft derer, die für den Lebensunterhalt arbeiten (und später dafür, dass Menschen von solcher Bindung freigestellt sind). Die Großreiche
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der alten Welt, die ersten Hochzivilisationen oder Hochkulturen, waren so verstanden monumentale Haushalte. In ihnen diente das Leben vor allem der Reproduktion des Lebens, der Erhaltung der Lebensflamme. Nichts weist darauf hin, dass der Mensch dort je auf mehr Anspruch erhoben hätte. Wenn wir die Arbeit in diesem Sinne verstehen, erweist sie sich nicht nur als ein ungeschichtlicher Faktor, sondern sogar als ein Faktor, der gegen die Geschichte gerichtet ist, der sie zurückhält. Die Arbeit ist dasjenige, was am stärksten und längsten imstande war, den Menschen im Entwurfsrahmen des bloßen, nackten Lebens als solchen festzuhalten. Es ist nicht so, dass der Mensch aus der Arbeit erklärbar wäre, obwohl die Arbeit nur auf der Grundlage der Offenheit des menschlichen Lebens möglich ist. Die Geschichte lässt sich nicht von der Arbeit her erklären. Vielmehr geht die Arbeit erst in der Geschichte eine Einheit mit der Produktion (bzw. dem Herstellen bei Arendt) ein, was die Arbeit selbst von der Geschichte abhängig macht. Gewiss, bereits in den ersten Hochzivilisationen können wir den Unterschied zwischen Arbeit und Produktion beobachten. Erst auf der Basis der Produktion gewinnt die menschliche Welt den Charakter von etwas Dauerndem, ein festes Skelett unter der weichtierhaft veränderlichen Gestalt der Lebensreproduktion. Die Stadtmauer, der Marktplatz, der Tempel, die Schrift sind der Ausdruck dieses gefestigten Lebens. Dabei ist das gesamte Selbstverständnis des Menschen vorerst weiter durch die Arbeitswelt bestimmt, die damit ihre Dominanz zeigt. Verständlicherweise ist auch die Produktion der Arbeit untergeordnet. Sie dient der Ernährung der Produzierenden. Die Produktion steht so mit der Arbeit der Arbeitenden in notwendigem Austausch. Die Regulierung dieses Austausches, die Organisation der Gesellschaft der Arbeitenden, wird dabei notwendig von einem Zentrum betrieben, dessen Position es dazu privilegiert, sich von beiden Diensten, von der Arbeit wie der Produktion, zu befreien und das von daher dem gewöhnlichen menschlichen Los enthoben zu sein scheint. In der Dialektik des Selbstbewusstseins in der Phänomenologie des Geistes bringt Hegel den Anfang der Geschichte mit der Panik des knechtischen Bewusstseins zusammen, das sich seiner Gebundenheit an das Leben bewusst wird und sich selbst und seine Freiheit zugunsten eines Lebens aufgibt, das fortan einem anderen Be
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wusstsein (dem herrschaftlichen Bewusstsein) gehört und ihm unterstellt ist. Wir verfügen jedoch noch über ein viel eindrücklicheres Zeugnis für das ursprüngliche knechtische Selbstverständnis einer Menschheit, die in der Lebensform der ersten Hochzivilisationen dem Leben unterworfen ist, nämlich über die dichterisch-mythischen Schöpfungen. Der Mensch ist hier ein ständig bedrohtes und dem Tod geweihtes Leben, ein Leben, das der Arbeit, also der unablässigen Abwendung der Bedrohung, gewidmet ist, die sich letztlich immer siegreich durchsetzen wird. Am Rande einer so verstandenen Menschheit erscheint jedoch, als ihr Gegenstück, ein Leben, das nicht in dieser Weise bedroht ist, das zwar auf vielfältige Weise bedürftig sein kann, das aber nicht dem Tod unterworfen ist. Aus diesem Grund triumphiert es noch über die am heftigsten empfundenen Bedürfnisse: Ein solches Leben jedoch ist nicht menschlich, sondern göttlich. Im altbabylonischen Atrahasis-Epos müssen die Götter ursprünglich alle Arbeit selbst verrichten. Sie versuchen daher, die Last auf die niederen Gottheiten abzuwälzen, was aber nicht gelingt. Also müssen sie den Tod erfinden. Sie töten deswegen eine der niederen Gottheiten, aus deren Fleisch und Blut der Mensch geschaffen wird, dem sie die Arbeit zuweisen, während sie selbst das reine, ungetrübte Leben für sich behalten. Im Gegensatz dazu erhält sich das menschliche Leben durch Arbeit, Erschöpfung und Schmerz, und das Band zwischen Arbeit und Leben ist der Tod. Die Gesellschaft ist aus diesem Grund jedoch theokratisch: Diejenigen, die frei und mühelos von der Arbeit anderer leben, sind faktisch Götter oder Göttersöhne, denen das gewöhnliche Los der Menschen nicht zufällt. Die damit geschaffene Distanz lässt sich durch nichts überbrücken, zwischen Göttern und Sterblichen kann es keine Gegenseitigkeit im Sinne eines Anerkennungsverhältnisses geben. Und ebenso wenig gibt es ein solches Anerkennungsverhältnis zwischen den Unterworfenen selbst: Sie sind hier, um zu arbeiten, um auf den verschiedenen Leistungsstufen zu dienen. Sie bilden einen gut organisierten Haushalt, der imstande ist, große Leistungen zu vollbringen, Leistungen, die insgesamt wesentlich von derselben Art sind – alle Mitglieder dieser Gesellschaft am Leben zu erhalten um den Preis, dass sie einen anderen Lebensinhalt für sich selbst nicht kennen und nicht fordern. In diesem Zusammenhang ließe sich auch – im Anschluss an
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W. Bröckers7 Interpretation – an den Mythos von der Erschaffung des Menschen in der Genesis erinnern. Auch hier erschafft Gott den Menschen, damit dieser seinen Garten bestelle. Sich selbst hat er durch den Genuss der Früchte vom Baum des Lebens das reine Leben gesichert, während dies dem Menschen durch das Verbot, die Früchte vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu pflücken, verwehrt ist. Die Übertretung des Verbotes führt zur Vertreibung aus dem Paradies der Unwissenheit über das unvermeidliche Schicksal des Todes und zur Fesselung des Menschen an das Los mühevoller Arbeit und einer Geburt unter Schmerzen. Wir müssen jedoch auf den Mythos von Atrahasis zurückkommen, wenn wir den Sinn des göttlichen Enthobenseins von der Mühe einerseits und den Sinn der menschlichen Sterblichkeit andererseits besser verstehen wollen. Die Götter sind nicht grundsätzlich jeder Mühe enthoben, aber die Mühe ist bei ihnen nicht die Bedingung des Lebens überhaupt, sondern nur die Bedingung des guten Lebens in einer geordneten Welt, in der sie die ihnen gebührenden Ehren und Opfer genießen. In diesem Sinne brauchen sie auch die Gemeinschaft mit den Menschen, die allerdings eine Gemeinschaft in der Opposition, im Kontrast ist. Die Arbeiten der Götter sind daher übermenschlich, sie betreffen die Weltordnung und ihren Erhalt, es handelt sich bei ihnen nicht um Arbeiten in beständiger Sorge um das tägliche Brot. Der Tod auf der anderen Seite ist die Frucht der Gewalt der Götter gegen einen der ihren. Für das menschliche Denken ist der Tod so auch etwas, das über das Schicksal der Sterblichen hinausgeht. Die Einzelnen sterben, aber das Menschengeschlecht erhält sich (durch die sterbenden Generationen hindurch) im generativen Zusammenhang. Auf diese Weise hat der Mensch an der göttlichen Ordnung Anteil. Es mag vorkommen, dass sich die Götter von den Menschen missachtet oder gestört fühlen, es mag sogar vorkommen, dass sie sich so weit vergessen, dass sie die Absicht fassen, das Menschengeschlecht überhaupt auszulöschen. Hier liegt der Ursprung für die Deutung von Ereignissen wie der Sintflut und der Errettung des Menschengeschlechts aus ihr. Eine solche Katastrophe ist ein Beispiel für göttliches Wirken. Aber der Gott der Weisheit weiß schon im Voraus, dass die Menschheit nicht vernichtet werden darf. Er sendet einem [Vgl. Walter Bröcker, »Der Mythos vom Baum der Erkenntnis«, in: Anteile. Martin Heidegger zum . Geburtstag, Frankfurt/M. .]
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Auserwählten einen warnenden Traum, lässt ihn ein rettendes Schiff bauen und es mit der ganzen Familie besteigen. Damit es zwischen den Göttern nicht zu Unstimmigkeiten und Streit kommt, wird der Auserwählte schließlich unsterblich – im Gegensatz zu seinen Nachkommen, so dass das menschliche Geschlecht bewahrt, also bestehen bleibt. Die Flut selbst hat zum einen den Sinn, dem Menschen das Prekäre und die Abhängigkeit seiner Stellung vor Augen zu führen. Sie hat aber auch den Sinn, dass die Götter sich vor einer Verwüstung, die an die Wurzel der Weltordnung selbst greift, entsetzen und zur ungleichen Gemeinschaft mit den Menschen zurückkehren, die Verwüstung nur als Strafe für Vergehen erlaubt. Die Sintflut steht seit dieser Zeit nicht nur dafür, dass der Einzelne durch den eigenen Tod bedroht ist, sondern für die Bedrohung des menschlichen Geschlechts durch Katastrophen allgemein. Solche Katastrophen mögen zwar nicht die gesamte Menschheit auslöschen. Dennoch zeigen sie jedem Einzelnen, dass er durch sie gefährdet ist und seines Lebens nicht einmal durch Arbeit sicher sein kann. So besteht das Böse in der Welt als göttliche Einrichtung, als stete Drohung über der Menschheit. Zugleich können die Götter den Menschen auch helfen, gegen ebendieses Böse zu kämpfen und es einzudämmen. Die göttliche Einrichtung will, dass das Böse über dem Menschen steht, aber auch, dass der Mensch ihm die Stirn bietet und gegen es kämpft, soweit es in seinen Kräften steht. Die Annahme sei daher gestattet, dass im Hintergrund der Geschichte von Gilgamesch und seinem Kampf gegen das Weltböse der Mythos von der Sintflut steht und dass die sie betreffende Episode nicht aus äußerlichen Gründen in das Gedicht aufgenommen wurde. Gilgamesch ist kein Gott im eigentlichen Sinne: Göttlich ist er nur zu zwei Dritteln, das heißt, er ist der Sorge um das tägliche Brot enthoben, und er ist hier, um übermenschliche, die Weltordnung betreffende Taten zu vollbringen. Gleichwohl ist er dem Tod unterworfen. Seine hauptsächliche, fast göttliche Aufgabe besteht darin, die Weltordnung im Sinne des Guten aufrechtzuerhalten. Dem kommt er zunächst nach, indem er eine Stadt baut, in der die Menschen vor Elend und Feinden geschützt sind. Allerdings ist dazu Gewalt und mehr Anstrengung und Arbeit vonnöten, als die Menschen für gewöhnlich zu ertragen bereit sind. Um den Bitten der Sterblichen zu entsprechen, berufen die Götter Gilgamesch zu anderen Taten ab. Zuerst soll er seine Kräfte mit dem Tiermenschen
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Enkidu messen, den er aus einer feindlichen Macht zu seinem Helfer und Beschützer macht; dann mit dem Weltbösen Chumbaba, der stets bereit und aufmerksam, also lebendig an den westlichen Grenzen der Welt auf der Lauer liegt, bereit loszubrechen: Er ist der Schützling des Erdgottes Enlil, der sich von allen Göttern am nachdrücklichsten für die Sintflut ausgesprochen hat. Da Chumbaba auf Geheiß und mit Hilfe des Sonnengottes unterworfen und erschlagen wird, wird Enkidu als Versöhnungsopfer ausgewählt und muss selbst mit dem Tod bezahlen. Stärker aber noch schlägt das Schicksal Gilgamesch selbst, der sich, ähnlich dem ersten Menschen in der Genesis, seiner eigenen Sterblichkeit erst jetzt in vollem Maße bewusst wird und in panischer Angst bis an die Grenzen der Welt flieht, um Unsterblichkeit zu suchen. (Die Episode mit dem Himmelsstier und dem Auslachen der Göttin Ishtar überspringen wir hier, weil sie eine bloße Dublette des Kampfes mit dem Weltbösen Chumbaba ist und denselben Sinn hat: Enlil ist durch die Fruchtbarkeitsgöttin Ishtar, Chumbaba durch den Himmelsstier ersetzt.) Auf dem Weg zu dem einzigen Menschen, der auf einstimmigen Ratschluss der Götter hin unsterblich gemacht wurde, findet sich eine charakteristische Episode (die in der neueren Fassung aus der Bibliothek Assurbanipals nicht vorkommt): Die »göttliche Schenkin« Siduri spricht hier mit aller Deutlichkeit aus, was in der Macht des Menschen steht und was nicht: »Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du nicht finden! Als die Götter die Menschheit erschufen, teilten den Tod sie der Menschheit zu, nahmen das Leben für sich in die Hand. Du, Gilgamesch – dein Bauch sei voll, ergötzen magst du dich Tag und Nacht! Feiere täglich ein Freudenfest! Tanz und spiel bei Tag und Nacht! Deine Kleidung sei rein, gewaschen dein Haupt, mit Wasser sollst du gebadet sein! Schau den Kleinen an deiner Hand, die Gattin freu sich auf deinem Schoß! Solcherart ist das Werk der Menschen!«8 Diese Rede ist nicht hedonistisch, wie manchmal behauptet wird, sondern umreißt die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten aus der Perspektive des Entwurfs eines endlichen Lebens, das an sich selbst gefesselt ist: Das erreichbare Maximum bestimmt sich nach Maßgabe des geordneten Haushalts, des privaten und endlichen »Glücks«, das von der Aussicht auf das Ende überschattet ist. Diese [Zit. nach: Das Gilgamesch-Epos, übersetzt von Albert Schott, Stuttgart , S. f.]
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Aussicht macht das menschliche Leben so lange nicht sinnlos, wie sich der Mensch in den von den Göttern gesetzten Lebensrahmen einordnet. Nicht einmal heroische Taten können diesem Bild, das sich beständig wiederholt, mehr als eine provisorische Stütze geben. Die unermessliche Irrfahrt bis ans Ende der Welt endet damit, dass der von seinen großen Taten erschöpfte Gilgamesch dem Zartesten und Unscheinbarsten nicht widerstehen kann: Er erliegt dem Schlaf, dem Bruder des Todes, der schleichenden Erschöpfung, die wie Müdigkeit und Altern das Leben begleitet. Er kehrt zu dem zurück, was sich als einzige unter all seinen Taten als tragfähig erwiesen hat, zu seiner mächtigen Stadtmauer, zur Gründung eines Reichs, das dem Menschen noch am zuverlässigsten, wenn auch nur zeitweilig Schutz gewährt. So stellt das Gedicht das Selbstverständnis eines Menschen dar, für den die Welt den Göttern gehört. Die Götter entscheiden einmütig über das Schicksal der Einzelnen und der Menschheit insgesamt. Die Welt ist aus dieser Perspektive ein großer Haushalt. Mächtige verwalten ihn, die zusammen mit den Göttern versuchen, das Weltböse in Grenzen zu halten, und jenseits ihrer heroischen Taten das Schicksal der Sterblichkeit mit den Menschen teilen, wobei dieses sterbliche Los nicht solidarisch empfunden wird (bei allem Klagen um Enkidu denkt Gilgamesch in seiner Panik nur an sich selbst, er ist über sich selbst in Panik), sondern als die dunkle Macht eines endlichen, sich fortgesetzt erschöpfenden, zu besorgenden und zu beschützenden Lebens. Zwischen der Welt und dem »großen Haushalt« des Reichs gibt es keine scharf gezogene Grenze. Die Stadtmauer ist zwar ein menschliches Werk. Genauso wie alles andere, was die Menschen tun und beginnen, gehört sie aber in das eine Gebäude, das von der ungleichen Gemeinschaft der Götter und der Menschen erhalten wird. Es gibt keine grundsätzliche Grenze zwischen der Welt und dem Reich, weil auch das Reich aufgrund von etwas zu verstehen ist, das kein menschliches Werk ist, nämlich aufgrund des unfreien Lebens, das den Menschen als Los zugeteilt ist. Der Herrscher wiederum ist nicht so sehr in der Gemeinschaft mit den Menschen und durch ihre Vermittlung tätig. Vielmehr ist er selbst derjenige, der zwischen den Menschen und der übrigen Weltordnung vermittelt. Der Inhalt dieser Reflexion ist somit das Gebanntsein durch den Tod und damit zusammenhängend auch durch die Arbeit, die
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notwendig ist, um der beständigen äußeren Bedrohung des selbstverzehrenden Lebens zu trotzen, und die in der Folge dazu führt, dass sich das Leben durch den »großen Haushalt« erschöpft. Wir müssen aber noch in Betracht ziehen, dass der Mensch von den Göttern und aufgrund der Opferung eines Gottes zum Tod bestimmt ist. Obgleich das menschliche Los der Sterblichkeit unabwendbar ist, gibt es in der Beziehung des Menschen zum dunklen Reich des Todes noch etwas Höheres. Dieses Höhere kommt zwar von den Göttern, sein Bereich jedoch ist die Beziehung zwischen den Toten und den Lebenden. In dieser Beziehung gibt es eine Art Unsterblichkeit, die aber nicht den Einzelnen betrifft, sondern all jene, die im generativen Zusammenhang der Filiation zueinander stehen. In gewissem Sinne sind sie eins, eine Art Zeugnis dafür, dass das, was durch Vereinzelung, durch Individuation aus dem dunklen Reich hervorgeht, weiter das Siegel der Nichtindividualität trägt. Nach ihrem Tode fungieren die Einzelnen hier bloß als »Bilder«, als Erscheinungen für die Lebenden, bloß als Sein für sie, für die anderen. Das individuelle Sein der Einzelnen ist daher nach dem Tod völlig auf die Lebenden angewiesen, die sich weiterhin so auf sie beziehen, dass sie sie in diesem Für-sie-Sein halten, auf jene, die die Toten zum Beispiel im Traum sehen, die im Gebet mit ihnen sprechen, die sie beim Totenmahl bewirten. Freilich sind die Lebenden zu diesem Verhalten dadurch bestimmt, dass sie mit den Toten jenseits jeder Individuation eins sind: Das individuelle Seiende ist die Wirklichkeit des Geschlechts, das selbst wiederum gleichsam ein Mittelglied zwischen der Undifferenziertheit der Großen Nacht und der Selbständigkeit des Einzelnen ist. Infolgedessen ist es für die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten nicht gleichgültig, wie sich die Lebenden zu den Toten und zu den Lebenden, zu den Vorfahren und zu den Nachfahren verhalten. Das eigene individuelle Leben hängt in seiner realen Gestalt von den Vorfahren ab, ebenso wie sein abgeleitetes Bild, die aktuelle Gestalt der Beziehung der Lebenden zum Substrat des Geschlechts, von den Nachfahren abhängt. Der Vater, der Kinder in die Welt setzt, bezieht sich, indem er sie annimmt und die Sorge für sie übernimmt, vor allem auf das überlebende, überindividuelle Substrat des Geschlechts, das den einzelnen Lebenden aus sich entlässt und wieder in sich aufnimmt. Aber ebenso bezieht er sich auf sich selbst als auf einen Sterblichen, dessen prekäres persönliches Leben nach dem Tod
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auf die eigenen Nachkommen angewiesen ist, wobei dieses Leben nach dem Tod aber zugleich in dem allgewaltigen, stets gegenwärtigen und überindividuellen Lebenssubstrat wurzelt, das später (bei den Römern) lar familiaris heißen wird. Das alles zeigt, dass der Einzelne Glied einer »Akzeptationskette« ist. Er tritt ins Leben als jemand, der nicht nur von bereits Lebenden gezeugt und geboren, sondern der auch von ihnen angenommen und auf ihre Fürsorge angewiesen ist. Und wenn er die Lebenden wieder verlässt, ist er auf die angewiesen, die er selbst angenommen hat. Wir sind in solcher Angewiesenheit nicht nur mit der Welt des alltäglichen Lebens verbunden, die der Arbeit unterworfen ist. Vielmehr ist diese Szenerie aus Individuation und Arbeit selbst Teil einer dunklen Weltgegend, in die auch die Götter Zugang hatten, als sie den Tod in die Welt entließen und den Menschen zum Sklaven des Lebens und der Arbeit machten. Die dunkle Weltgegend ist zugleich der Bereich der Fruchtbarkeit, aus dem alles Einzelne hervorgeht, der Ort nicht nur der Akzeptanz der bereits geborenen Nachkommenschaft, sondern auch der Ort der Vorbereitung auf sie: Der Mensch akzeptiert nicht nur die bereits geborenen Kinder, sondern auch den Anderen, mit dem gemeinsam er in das fruchtbare Dunkel eintritt und von dem er sich annehmen lässt. Die Bewegung der Arbeit verweist so auf die dunkle Bewegung der Annahme, die selbst wiederum auf eine noch fundamentalere Bewegung zu verweisen scheint, auf eine Bewegung, die unser gesamtes Sein des Tages aus der nicht-individuierten Nacht hervorgehen lässt. Fustel de Coulanges hat vor mehr als hundert Jahren gezeigt, dass diese Vorstellungsreihe im Wesentlichen die Grundlage der antiken (Patrizier-)Familie in Griechenland und Rom blieb.9 Freilich sprach Fustel von einem »Unsterblichkeitsglauben«, der sich am Gräberkult festmache und das Überleben der Toten im Grab beinhalte. Diese Interpretation lässt sich nicht halten. Die Idee eines individuellen Überlebens verbindet sich nachweislich erst mit Platons Konzept von der »Sorge um die Seele«. Mit der Modifikation, die unsere oben versuchte Interpretation anbietet, kann die ideelle Grundlage der Familie der Eupatriden aber vielleicht ihre Berechtigung behalten, was dann auch für viele der von Fustel gezogenen Folgerungen relevant ist, etwa im Hinblick auf den Ursprung der [Vgl. Numa Denys Fustel de Coulanges, La Cité antique, Paris , S. -.]
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familiären Institutionen und Riten, das Bodeneigentum, die Adoption, das Klientelwesen usw. Auf die wichtigste Modifikation, die die späteren Vorstellungen mit sich brachten, hat Hannah Arendt aufmerksam gemacht, indem sie zeigte, dass die Sphäre des Hauses dort nicht mehr der Kern der Welt überhaupt ist, dass es sich bei ihr um die bloß private Sphäre handelt, neben die in Griechenland und in Rom eine andere, nicht weniger wichtige und in Opposition zu ihr stehende Sphäre, die Sphäre der Öffentlichkeit, getreten ist. Wie wir im Ausgang von Arendts These zu zeigen versuchen, wurzelt diese Veränderung darin, dass inzwischen die Geschichte im eigentlichen Sinne begonnen hat. Neue historische Forschungen, die an die Entschlüsselung der altmykenischen Schrift anknüpfen, scheinen zu zeigen, dass die gesellschaftliche Organisation des gesamten ägäischen Raumes bis auf einige Nuancen wesentlich mit derjenigen identisch war, die für die vorderasiatische Hochzivilisation bestimmend war, ein Faktum, das folglich auch die erste griechische Hochzivilisation betrifft. Wenn die vorangegangenen Ausführungen stimmen, dann wären diese glanzvollen Zivilisationen mit ihren wundervollen architektonischen bzw. ihren künstlerischen Leistungen überhaupt, unter denen die Dichtung sicher nicht den letzten Platz einnimmt, nichts anderes als riesige Haushalte gewesen, deren Endzweck im Erhalt des Lebens und in der Arbeit gelegen hätte. Natürlich erreicht die Produktion hier zwar ebenfalls einen hohen Grad, jedoch ohne dadurch ein bestimmendes Moment für das Selbstverständnis und die Ausrichtung des Lebens zu sein, vielmehr ist sie lediglich ein Mittel, das durch die Arbeit vorgegebene Ziel zu erreichen. Alles, was diesen Rahmen zu übersteigen scheint, ist nicht aus dem menschlichen Bereich hervorgegangen, sondern rührt daher, dass die ursprüngliche Verbindung zwischen den Sterblichen und den Göttern, den lebendigen und zugleich gefährlichen Mächten des Himmels und der Erde, nicht zerrissen ist und dass sich der menschliche Selbsterhalt im Glanze dieser unbeschädigten natürlichen Welt abspielt. Dieser Welt gegenüber ist der Mensch jedoch nicht frei, er hat in ihr keinen Raum, der sein Eigentum und Werk wäre, er hat in ihr keinen Zweck und kein Ziel, die über den Lebenserhalt hinausgingen. Dass er Kunst besitzt, bedeutet nicht mehr, als dass er die Position akzeptiert hat, die ihn als Gefangenen des Lebens dazu bestimmt, die Götter zu entlasten und ihnen bei der Sorge um den
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Erhalt der Weltordnung Einmütigkeit zu ermöglichen. Die Kunst ist nicht weniger Gottes-Dienst als das übrige Leben, denn das ständig bedrohte Leben hängt nicht an den Menschen selbst. Die in Sorge vollzogene Arbeit ist nur eine unerlässliche, das menschliche Leben vollkommen absorbierende Grundbedingung. Etwas wie die Sintflut jedoch lässt sich nicht abarbeiten. Die Kunst ist hier das Göttliche, das fortgesetzt die göttliche Gegenwart wie die Rolle des Menschen in Erinnerung ruft. Die Welt der vorderasiatischen Mythik greift demnach weit über den ursprünglichen vorderasiatischen Umkreis hinaus. Sie bildet sogar die Grundlage für jene weiteren dichterischen Reflexionen, welche die homerischen Epen vorstellen. Ebenso wie die Ilias bearbeitet auch die Odyssee Elemente der vorderasiatischen Mythik, die aus der mykenischen Dichtung übernommen sind. Einer plausiblen Hypothese zufolge hat sich in der Ilias das Thema der Sintflut – und des Untergangs der Menschheit überhaupt – zum reflexiven Thema der ionischen, nachmykenischen Zeit abgewandelt, in dem es um den Untergang des Geschlechts halbgöttlicher Heroen und der mit ihnen verbundenen Lebens- und Gesellschaftsform, eines von solchen heroischen Herrschern geführten theokratischen Haushalts geht. Das bedeutet dann weiter, dass diese Vorstellungen nicht nur durch die biblische Erzählung, sondern auch durch die Ilias – von der Odyssee und ihrem Thema einer Irrfahrt bis ans Ende der Welt einmal ganz abgesehen – Teil unserer historischen Tradition geworden sind. Entsprechend können sie, auch wenn sie bis zur Unkenntlichkeit verwandelt sind, als Sprungbrett für weitere Überlegungen dienen. Unsere historische Tradition zeugt also von einer vor-geschichtlichen Welt, die sich nach der oben charakterisierten Bedeutung als »natürlich« bezeichnen lässt. Natürlich ist diese Welt, weil sie die sie ausmachende Gemeinschaft einfach als etwas Gegebenes annimmt, als das, was sich von sich selbst her zeigt. Die Gemeinschaft ist die zwischen Göttern und Sterblichen, der Lebensraum, den diejenigen, die auf die nährende Erde und die Lichter des Himmels angewiesen sind, mit denjenigen teilen, die auf nichts angewiesen und so das erstaunlichste Geheimnis dieser Welt sind. Sie sind nicht angewiesen – und doch sind sie so beschaffen, dass die Gemeinschaft mit den Menschen ihnen von Vorteil sein kann, weil das, was die Menschen um des eigenen Erhalts willen verrichten, die
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Sisyphosarbeit im Dienste des selbstverzehrenden Lebens, letztlich die Arbeit der Götter ist, weil es an der Aufrechterhaltung der Weltordnung, der Zusammenfügung dessen, was oben, mit dem, was unten ist, der Erde und des Lichts, des geformten Sichtbaren und des dunklen Reichs Anteil hat. Die Götter sind zugleich das Geheimnisvollste: denn sie verbergen sich, indem sie ihre Macht zeigen; und doch ist die höchste Macht nur als freier, als vom Tod freier Aufenthalt auf der Welt möglich. Ist diese Sicht nicht zutiefst zutreffend? Ist mit ihr das Wesen des menschlichen Lebens nicht genau verstanden? Was kann der Mensch mehr erfassen als diesen großen Hintergrund, der ihn unabwendbar in die Unfreiheit der Lebenserhaltung stellt? Vor allem vielleicht eines: Was den großen Haushalt, die große Gemeinschaft bildet, ist verhältnismäßig klar (ebenso, warum neben der Dunkelheit des Grabes und der vorgeburtlichen Sphäre auch die übergeordnete Sphäre der Götter im Hintergrund bleibt). Aber was bewirkt, dass dies alles sich entbirgt, ist nicht klar, zeigt sich uns nicht, enthüllt sich nicht. Das zu enthüllen, was sich derart im Erscheinen verbirgt, bedeutet, die Frage oder genauer die Fraglichkeit zu entdecken – die Fraglichkeit nicht dieser oder jener Sache, sondern des Ganzen überhaupt und des ihm streng eingeordneten Lebens. Ist eine solche Frage erst einmal gestellt, hat sich der Mensch auf einen langen, nie zuvor betretenen Weg begeben, auf dem sich vielleicht manches gewinnen, auf dem sich aber gewiss auch vieles verlieren lässt. Dieser Weg ist die Geschichte. An ihrem Anfang ist der Mensch ein machtloser Leibeigener des Lebens. Aber er besitzt die natürliche Welt und hat seine Götter, den Dienst, der ihr Wohlgefallen findet, die Kunst, in der sich dieser Dienst und der Zusammenhang mit den Göttern ausdrückt. Dies alles setzt er fortan aufs Spiel.
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. Der Anfang der Geschichte Karl Marx sagt an einer Stelle, es gebe eigentlich nur eine einzige Wissenschaft, nämlich die Wissenschaft der Geschichte.1 Er meint damit, dass das wahre Wissen in der Erkenntnis des Entwicklungsganges der Welt bestehe. Aber eine solche Behauptung bedeutet entweder die Reduktion der Geschichte auf das Abstraktum eines allgemeinen zeitlichen Prozesses (wobei sich die Frage stellt, in welcher Zeit sich dieser Prozess abspielt), oder sie ist eine gewagte Spekulation, die dem gesamten Naturprozess die Rolle einer notwendigen Vorbereitung auf den geschichtlichen Prozess, das heißt auf den Sonderfall eines sinnvollen oder auf Sinn bezogenen Geschehens supponiert. Sinnvoll oder auf Sinn bezogen ist ein Geschehen aber nur da, wo es jemandem um etwas geht, wo wir es also nicht mit bloß zu konstatierenden Vorgängen zu tun haben, sondern mit Vorgängen, die sich aus einem Interesse und aus einer Beziehung zur Welt, aus der Offenheit sich selbst und den Dingen gegenüber verstehen lassen. Die ersten Anzeichen von Interesse finden sich im Bereich des Vitalen. Aber der Prozess der Entwicklung des Lebens, wie er heute allgemein angenommen wird, kann nur unter beträchtlichem spekulativen Aufwand als sinnvoll im eben bezeichneten Sinne gelten. Sinnvoll in diesem Sinne ist, soweit aus der Erfahrung bekannt, einzig das menschliche Leben. Noch die geringste seiner Regungen lässt sich nur aus seiner interessierten Beziehung zu sich selbst verstehen, die in der Offenheit für das gründet, was ist. Heißt das aber bereits, dass menschliches Leben schlechthin Geschichte stiftet, dass mit ihm als solchem Geschichte gegeben ist? Das wird wohl kaum jemand behaupten, nicht einmal dann, wenn aufgrund genauer Analysen anzunehmen wäre, dass dem menschlichen Wesen als solchem Geschichtlichkeit zukommt als etwas, das uns (wo und wann auch immer) davon abhält, Menschen als »fertig vorhandene« Naturgebilde aufzufassen, und uns dazu zwingt, sie als freie, weitgehend selbstbestimmte Wesen zu sehen. Ohne Zweifel jedoch gibt es (oder gab es wenigstens noch unlängst) »Völker ohne [Vgl. Karl Marx, Deutsche Ideologie, in: Marx Engels Werke (MEW), Berlin , Bd. , S. .]
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Geschichte«. Die Frage nach der Geschichte im eigentlichen Sinne muss also enger gefasst werden. Gewöhnlich sucht man eine Antwort auf diese Frage in dem Hinweis auf das Phänomen des kollektiven Gedächtnisses, das überhaupt erst mit der Schrift auftaucht oder zumindest seine festeste Stütze in ihr hat. Das würde jedoch bedeuten, den Sinn des Geschehens von dem Sinn der ihm geltenden Erzählung abzuleiten. Der Sinn des Geschehens, das erzählt wird, ist aber vom Sinn der Erzählung selbst verschieden. Der Sinn des Geschehens ist die Leistung derer, die handeln und leiden, während der Sinn der Erzählung im Verständnis der logischen Formen liegt, die uns auf das Geschehen verweisen. Der in solchem Verständnis artikulierte Sinn ist verhältnismäßig unabhängig von der Situation, was sich daran zeigt, dass er (in bestimmten Grenzen) für Menschen, die an anderen Orten, in anderen Zeiten und Traditionen leben, verständlich sein kann, während der Sinn des Geschehens in der sich entwickelnden Situation selbst liegt. Es ist gut möglich, dass echtes geschichtliches Handeln und Geschehen auf die orientierende Hilfe der Tradition und ihrer Erzählung angewiesen ist: Der Sinn der Erzählung erschließt sich dann jedoch von dem geschichtlichen Handeln, von der geschichtlichen Aktion her und nicht umgekehrt. Nehmen wir einmal an, dass nicht jede Erzählung und also auch nicht jede Erzählung von etwas Vergangenem primär und thematisch an wirklicher Geschichtlichkeit orientiert ist – dann hätten wir es mit dem eigentümlichen Phänomen einer nichtgeschichtlichen Geschichte, einer Geschichte ohne Geschichte zu tun. Unserer Ansicht nach handelt es sich bei der ursprünglichen Annalistik, wie sie etwa in Vorderasien, in Ägypten und Alt-China usw. gepflegt wurde, um eine solche Geschichte ohne eigentliche Geschichte. Der Sinn und Zweck dieser Annalistik nämlich liegt in der Erhaltung des Lebensstils des vor-geschichtlichen Menschen, des Menschen, dessen Leben einen gegebenen und vorgeschriebenen, durch Annahme, Weitergabe, Erhaltung und Sicherung des Lebens definierten Sinn hat. Ein solches Leben kann sich in komplexen und mächtigen gesellschaftlichen Gebilden, in großen Reichen mit komplizierten Hierarchien und Bürokratien abspielen, die gleichwohl im Wesentlichen nichts anderes als ein großer Haushalt oder ein um den Königssitz als der zentralen Zelle geschartes Ensemble von Haushalten sind. Daher kann ein solches Leben seiner gesam
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ten Lebensfunktion nach und im Sinne der stattfindenden Prozesse nicht über den Haushalt und dessen Zyklen von Geburt, Zeugung und Lebenssicherung sowie die Komplementärbewegung, den Lebenserhalt durch ständige Arbeit und Produktion, hinausreichen. Die Annalistik hält für den Großhaushalt (der sich in diesem Sinne um sich selbst sorgt) das an Vergangenheit fest, was für den zukünftigen Erfolg seiner Handlungen wichtig ist. Dabei handelt es sich vor allem um rituelle Schriften, kultisch-mantische Aufzeichnungen, Vermerke über Glück und Unglück in bestimmten Ereignissen und Handlungen. Solange der Mensch so lebt, dass sich der Sinn seiner Aktivitäten im Lebenszyklus von Annahme und Weitergabe, von Schutz und Stabilisierung erschöpft, lässt sich sagen, dass er sich im Rhythmus einer ständigen Wiederkehr bewegt, auch wenn sich natürlich in Wirklichkeit eine bestimmte Tradition aufbaut, Erfindungen gemacht werden, der Lebensstil sich wandelt und es zu so durchschlagenden Veränderungen wie etwa dem oben genannten kollektiven Gedächtnis kommt. Ungeachtet der Tatsache, dass das Leben einer solchen Gesellschaft seinen Schwerpunkt in der Annahme und im Selbsterhalt hat, das heißt in einem fundamental-menschlichen unmittelbaren Sein, für welches (wie unser vorangehender Essay zu zeigen versuchte) das Erscheinen noch nicht erscheint und das Leben nicht fraglich ist, partizipiert dieses Leben an der dritten Lebensbewegung, an der Bewegung der Wahrheit, auch wenn es der explizitthematischen Orientierung entbehrt, die für die geschichtliche Epoche charakteristisch ist. Gerade weil der Mensch hier nur lebt, um zu leben, und nicht, um nach tieferen, wahrhaftigeren Formen des Lebens zu suchen, gerade weil er sich auf die Bewegung der Annahme und Bewahrung konzentriert, wird sein Leben zu einer Art ontologischer Metapher. Wir unterscheiden drei fundamentale Bewegungen des menschlichen Lebens, die jeweils ihre ursprüngliche Form, ihren (thematischen oder unthematischen) Sinn, ihre eigene Zeitlichkeit haben, die indiziert ist durch die für sie vorherrschende Zeitdimension: die Bewegung der Annahme, die Bewegung der Verteidigung und die Bewegung der Wahrheit. Die Bewegung der Annahme gründet darauf, dass der Mensch in die Welt aufgenommen und eingeführt werden muss, dass sein Eintritt in den Bereich des offenen, individuellen Seienden durch Vorbereitung und wechselseitige Fügung
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(harmonia) bestimmt ist. Für die meisten Dinge, für die Elemente, für die Naturgegenstände, für die nicht von Menschenhand gefertigten Realien, ja sogar für den Großteil des Lebendigen hat die Annahme keinen inneren Sinn, die Fügung vollzieht sich hier, um mit der modernen Biologie zu sprechen, als mechanische Anpassung. Das Sein des Menschen aber, sein Eintritt unter die Individuen inmitten der Unermesslichkeit des Universums kann seiner Art nach nicht den gerade angeführten Seienden entsprechen, die von ihrem eigenen Sein unberührt bleiben, für die ihr Sein »gleichgültig« ist (das heißt weder gleichgültig noch nicht gleichgültig, sondern einfach ohne Sinn). Der Mensch ist von Beginn an nicht-gleichgültig, das heißt er »fühlt« die eigene Fremdheit und das »Un-recht«, die »Ungerechtigkeit« (adikia), er fordert »Recht« (dikê) und findet es tatsächlich im Entgegenkommen derjenigen Nächsten, die das neue Wesen schon angenommen haben, bevor es im eigentlichen Sinne da ist. Sie haben es bereits durch die einfache Tatsache angenommen, dass sie gemeinsam existieren und so die potenzielle Wölbung des Raumes schaffen, in die das neue Wesen eingeführt werden kann. Die menschliche Annahme ist das didonai dikên kai tisin allêlois tês adikias, »einander Recht tun und Unrecht ausmerzen«,2 von dem in dem uralten Spruch des Anaximander die Rede ist. Adikia ist der ursprüngliche Schlüssel zum Verstehen, mittels dessen sich ein Wesen zum Blitz der Individuation, zum Eintritt ins All »stellt«, und diese von ihm empfundene adikia – als ein Eindringen, ein Einbruch – wird von den anderen wiedergutgemacht, welche das Wesen annehmen und ihm die Welt zu jenem warmen und freundlichen Herd machen, der die Erhaltung des Lebensfeuers bedeutet. Umgekehrt wird die adikia zugleich durch das angenommene Wesen wiedergutgemacht – an all jenen, denen es sich anheimgibt, die es liebt, die es seinerseits annimmt. Damit wird deutlich, dass die Bewegung der Verteidigung (die ebenso die Bewegung der Selbstaufgabe genannt werden könnte) in unmittelbarer Korrelation zur ersten Bewegung steht. Wir können den anderen nur annehmen, indem wir uns selbst preisgeben, indem wir uns um seine Bedürfnisse nicht weniger kümmern als um die eigenen, indem wir arbeiten. Arbeit ist wesentlich Verfügung über uns selbst und zugleich Verfügung der anderen über uns, was [Vgl. Hermann Diels/Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin , Anaximandros, B .]
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in jener faktischen Gebundenheit des Lebens an sich selbst wurzelt, die das Leben zu einer ontologischen Metapher macht. Zu sein, das heißt, den Einbruch ins Universum der individuierten Dinge zu vollziehen, ist nicht möglich ohne die Bewegung der Annahme und der Selbstaufgabe, dikê kai tisis. Sobald wir zu einem Glied in der Akzeptierungskette werden, sind wir auch eo ipso potenzielle Teilhaber der Arbeit. Schon das Kind bereitet sich auf die Arbeit vor, und schon diese Vorbereitung selbst ist beginnende Arbeit. Der Grundcharakter der Arbeit ist aber Un-freiwilligkeit. Wir akzeptieren sie gezwungenermaßen, sie ist hart, sie ist eine Last. Die Harmonie, die Fügung, ohne die wir nicht existieren können, ist palintropos harmoniê,3 ist Zusammenfügung von einander Entgegengerichtetem. Das Leben ist unumgänglich mit der Last verbunden, was bedeutet: tisis tês adikias zeugt selbst adikia. Wir haben keine Wahl, wenn wir leben wollen. Die Grundwahl, zu leben oder nicht zu leben, bringt die Last mit sich, sie ist diese Last, die sich dann im Weiteren und konkreter in der Unfreiheit, in der Beschwerlichkeit der Arbeit äußert. Die Last, die so am Grund des endlichen Hineingestelltseins des Menschen in das Universum des Seienden, seines »Einbruchs« ins Seiende liegt, verweist auf Linderung, auf Erleichterung. Die Last, die der Mensch auf sich nimmt und die ihn unumgänglich während seines ganzen Lebens begleitet, wird in einer Atmosphäre der Erleichterung ebenfalls angenommen. Der Rhythmus und die gegenseitige Durchdringung von Leid und Erleichterung bildet die Skala des Lebensgefühls, auf der wir uns bewegen, insofern wir existieren. Die Erleichterung kann ihrer Modalität nach von der bloßen Pause und dem zeitweiligen Vergessen bis ins Ekstatische und Orgiastische reichen. In der vollkommenen Schwerelosigkeit der Euphorie (der Name schon weist auf eine Bewegung, die sich ungebremst und in vollkommener Schwerelosigkeit vollzieht) ist es, als sei alle Last verschwunden und als würden wir von einem Wirbel fortgerissen, dem wir uns rückhaltlos überlassen. Zur Bewegung der Annahme jedoch gehört jenes besondere Fortgerissensein, das eros heißt: eros einerseits als Hingabe, die selbst Annahme bedeutet und den Willen einschließt, selbst angenommen zu werden – als jene schützende Wölbung, welche die Annahme eines neuen Wesens [Vgl. Diels/Kranz, a. a. O., Heraklit, B .]
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ermöglicht, auch wenn das nicht eigentlich Absicht und Thema war; eros andererseits als das gesteigerte Fortgerissensein, das uns in der Ekstase die Sphäre des Ungeschiedenen berühren lässt und die Partizipation an ihr erlaubt als an der Wonne des Seins – der Wonne, von der Zarathustras Trunkenes Lied spricht. Es ist für den vor-geschichtlichen Menschen bezeichnend, dass er sein Leben durch eine Art ontologische Metapher versteht, dass er nicht unterscheidet zwischen der Nacht als Erfahrungstatsache und der Nacht als dem Dunkel, aus dem der Blitz des Seins schlägt, nicht zwischen der Erde, die Frucht gibt und nährt, und jenem Hintergrund des Alls, der Welt, der nicht identisch mit irgendeiner aus ihm je erst hervortretenden Einzeltatsache ist. Für den vor-geschichtlichen Menschen fallen so Seiendes und Sein, die Phänomene und die Bewegung ihres Erscheinens auf einer Ebene zusammen, was an die Sprache der dichterischen Metaphorik erinnert, wo in der gewöhnlichen Empirie nicht fassbare Bezüge durch dieser Empirie entnommene Bilder ausgedrückt werden, allerdings mit Hilfe von in der geläufigen Welt nicht zulässigen verbindenden, trennenden und variierenden Operationen, die als solche nicht thematisch sind. Ihre Nicht-Thematizität reicht hier sogar noch erheblich tiefer als in der Dichtung, weil der Leser von Dichtung Metaphern als Metaphern, als sprachliche Tropen erwartet, während der mythische Mensch nicht die übertragene von der übertragenden Ebene, nicht die Bedeutung vom Gegenstand, nicht die Rede und das, wovon die Rede geht, unterscheidet. Gleichwohl bringt diese ontologische Metapher etwas zum Vorschein, was keine Theorie des Mythos und der Mythologie, die von den Voraussetzungen unserer durch die Umwälzungen der metaphysischen Philosophie geprägten, in den Gegensatz von sinnlicher Wirklichkeit und mehr oder weniger rationalen Konstruktionen aufgespaltenen Welt ausgeht, erklären und im positiven Sinne (das heißt ohne Beschneidungen oder falsche Mystifizierungen) bewältigen kann: dass die Welt der vor-geschichtlichen Menschheit voll von Göttern und Mächten ist, dass sich das alles ganz selbstverständlich so verhält und so akzeptiert wird, obwohl noch niemand je die Götter gesehen hat und ihre Gegenwart bezeugen könnte – und obwohl andererseits die vor-geschichtlichen Menschen nicht weniger zu zweifeln und zu kritisieren imstande sind als der geschichtliche Mensch der szientistischen Epoche. Das Höhere, »Transzendente«,
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»Übernatürliche«, um das man sicher weiß, obgleich es nicht wie die gewöhnliche Wirklichkeit erfahren wird, rührt aus der Dualität der ontologischen Metapher: In der Welt des Seienden manifestiert sich die Gegenwart des Seins, das man als Höheres, Inkommensurables, Übergeordnetes versteht, das aber noch nicht als solches klar ist, sondern mit dem Seienden denselben Bereich der einen Welt teilt, in der sich alles gleichermaßen zeigt und verbirgt – auf ununterscheidbare Weise. Es ist also offenbar so, dass in der »natürlichen Welt« des vorgeschichtlichen Menschen auch die Bewegung der Wahrheit zur Geltung kommt, obgleich sie thematisch der Bewegung der Annahme und der Bewegung der Verteidigung bzw. der Selbstaufgabe untergeordnet ist. Zur Geltung kommt sie gerade durch diese Dominanz der Mächte in der einen und einzigen Welt. Die Bewegung der Wahrheit, die eigene Beziehung des Menschen zum Offenbarwerden oder genauer zu demjenigen, wodurch das Offenbarwerden ermöglicht wird, äußert sich in dem Unterschied von Übernatürlichem und Natürlichem, von Göttlichem und Empirischem. Die Bewegung der Wahrheit ist zugleich die Wurzel der Kunst, in der sich am stärksten der offene, auf das Zu-künftige gerichtete Charakter der Wahrheitsbewegung zeigt. Denn göttlich ist das, was alles Übrige öffnet, wie der Himmel und die Erde, aber das Göttliche selbst ist nicht unter den Dingen, die bereits da sind. In diesem Sinne »kommt« es immer erst noch, und der Mensch bezieht sich auf das Göttliche im Bild, im Tanz, im Gesang. Demgegenüber gründet die Bewegung der Annahme mit ihrem Moment des Einbruchs in die Welt und den Gegensätzen adikia - dikê und Last - Erleichterung wesentlich in der Vergangenheit, die Bewegung der Verteidigung oder Selbstaufgabe hingegen in der Gegenwart. Selbstverständlich trägt jede dieser Bewegungen die gesamte Zeitlichkeit in sich, ohne die sie nicht Bewegungen wären. In jeder von ihnen dominiert jedoch eine andere »Zeitekstase«, ein anderer Horizont. Die Zeitlichkeit der Bewegung der Annahme können wir uns am besten vielleicht am Beispiel der Patrizierfamilie im antiken Griechenland oder Rom veranschaulichen. Der Vater, der den ihm zu Füßen gelegten Säugling aufhebt, vollzieht einen Annahmeritus, der freilich in Bezug zu allen Zeithorizonten steht – im gegenwärtigen Akt, der über Leben und Tod entscheidet, erblickt er nicht nur die Möglichkeiten des Kindes, sondern auch
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die eigene Möglichkeit, in seinem Kind zu existieren, die eigene Endlichkeit, was jedoch alles in der Kontinuität des häuslichen lar zusammengefasst ist, dessen Existenz den Ausgangspunkt für den gesamten Akt des Akzeptierens bildet und zu welchem der von der Bewegung der Annahme geschlagene Kreis zurückkehrt. Solange sich der Mensch im Bereich des »bloßen Lebens« und einer Lebensbesorgung bewegt, welche die Sorge für den Erhalt der gesamten familia bedeutet, ist der »Glaube« an die Götter die einzige Weise, in der Welt zu sein und das Universum zu verstehen, die einzige dem Menschen angemessene Wahrheit. (Die Anthropologie des Linkshegelianismus ahnt etwas davon, wenn sie die Urgründe der Religion im Umkreis der Familie sucht. Allerdings verschließt sie sich den Weg zum Problem dadurch, dass sie vom Idealismus die Lehre von der »Vorstellung« als der Grundweise der Vermittlung zwischen Mensch und Welt sowie die Lehre von der Entfremdung als dem Ursprung der Verdinglichung der Vorstellungen übernimmt.) Die Frage ist dann, worauf sich der Umkreis des Göttlichen in einer solchen Welt bezieht und wie weit er reicht. Es leuchtet durchaus ein, dass er an erster Stelle alles erfasst, was die gesellschaftliche Ordnung, ihren Erhalt und ihre Organisation betrifft, denn ebendies ist im Universum den Göttern vorbehalten, und die menschliche Gesellschaft ist vom Universum durch keinerlei Schranke getrennt. Tatsächlich können wir feststellen, dass die ursprünglichen Reiche Theokratien mit göttlichen Herrschern oder mit Herrschern als Verwaltern göttlicher Haushalte sind. Stets vermitteln diese Herrscher zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Aus diesem Grund kann es jedoch zwischen dem Reich und dem Universum keine wesentliche Trennung, keinen wesentlichen Unterschied geben. Der Pharao bestimmt nicht nur über die menschliche Arbeit, sondern auch über den regelmäßigen Gang der Überschwemmungen. Der chinesische Kaiser ist für Naturkatastrophen nicht weniger verantwortlich als für gesellschaftliche. Der persische Großkönig pflegt mit den Göttern aller unterworfenen Völker Umgang. Von Xerxes wird die Anekdote überliefert, dass er den Hellespont wegen Ungehorsams auspeitschen ließ. (Wenn Platon später die wahre Gemeinde, die Gemeinde der Philosophen, auf die Grundlage der göttlichen Ideen stellt, bedeutet das etwas wesentlich anderes, auch wenn dieses ideelle Universum als Vorbild zur Nachahmung empfohlen wird. Die sinnliche Wirklichkeit – und die Staatsgemeinde ist eine solche –
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kann jedoch niemals Teil der ideellen Wirklichkeit sein. Gleichwohl wird die Gemeinde, insofern sie in den Ideen gründet, aus dem Zusammenhang mit der übrigen Sinneswelt gelöst. In diesem Punkt, dem Herausheben der Staatsgemeinde aus der »Natur«, folgt Platon der Tradition der griechischen polis.) Es scheint freilich, dass sich die Hochzivilisationen durch die geschriebene Tradition wesentlich von einer »naturhaften« Menschheit unterscheiden, denn die Schrift samt dem, was sie überliefert, verrät den Willen zur bewussten Erhaltung eines komplizierten Lebenssystems und den Entschluss, sich jeder Veränderung zu widersetzen, also so etwas wie das Bestreben, den Strom der Ereignisse menschlich zu regulieren, sich ein Ziel zu setzen, das es zuvor nicht gab. Aber der Wille zur Tradition, und zwar zu einer unveränderlichen Tradition, geht der Schrift voraus. Die Schrift ist demnach bloß ein neues, höchst effektives Mittel, eine Lebensform zu petrifizieren, sie ist kein neues Ziel. Der Wille zur Unveränderlichkeit ist im Grunde sakral und rituell, er hängt mit dem Grundcharakter der vor-geschichtlichen Wahrheit, mit der kosmisch-ontologischen Metapher zusammen. Sicher steht die Schrift in ursprünglichem Bezug vor allem zum Reich und zum Ritual, zu Bereichen, die eng zusammenhängen, worauf wir bereits weiter oben hingewiesen haben. Man pflegt die ältesten schriftlichen Zeugnisse des Vorderen Orients (eingeschlossen Mykenes) gewöhnlich in Palastschriften, juristische und literarische Schriften sowie Briefe zu unterteilen, aber das bedeutet nicht, dass die Palastschriften als in unserem Sinne profan einzustufen wären, denn der Herrscher vollbringt mit Hilfe seiner Register und Direktiven ebenjene übermenschlichen, Ordnung und Leben gestaltenden Organisationsleistungen, denen sich das Bestehen der gesamten Gesellschaft verdankt, ja die sogar einen bestimmten Teil der Erde vor der Verwahrlosung bewahren. Die Schrift und ihr petrifiziertes Gedächtnis taucht also ursprünglich nicht im Zusammenhang mit Handlungen auf, in denen sich der Mensch zu einer neuen Sinngebung des Lebens erhebt. Gleichwohl ergibt sich aus ihr eine neue Gegenwart des Vergangenen und die Möglichkeit jener weitreichenden Reflexion, die sich in der Dichtung und ihrem ungeheuren, sich über die gesamte damalige oikoumene erstreckenden Einfluss äußert. Aus diesen Gründen empfiehlt es sich, für das menschliche Geschehen drei Stufen zu unterscheiden: eine nicht-geschichtliche Stufe, die sich in der
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Anonymität der Vergangenheit und im rein natürlichen Rhythmus vollzieht; eine vor-geschichtliche Stufe, wo es, in Gestalt der schriftlichen Tradition, ein kollektives Gedächtnis gibt; schließlich die Stufe der eigentlichen Geschichte. Die vor-geschichtliche Stufe bildet die Voraussetzung der Geschichte nicht allein deshalb, weil das Vergangene hier in schriftlichen Dokumenten gegenwärtig ist, sondern vor allem, weil sich die Geschichte von der vor-geschichtlichen Periode aktiv distanziert, weil sie eine Reaktion auf sie ist, der Aufschwung über ihr Niveau hinaus, der Versuch einer Erneuerung und Aufrichtung des Lebens. In seinem auf französisch publizierten Artikel »La transcendence de la vie et l’irruption de l’existence«,4 der in seiner Sammlung Dasein und Dawesen keine Aufnahme fand, schlägt Oskar Becker einen stufenhaften Aufbau des menschlichen Werdens vor, welcher dem von uns versuchten bis zu einem gewissen Grade analog ist. Er unterscheidet dabei zum ersten eine »civilisation de base«. Sie sprengt den »Bannkreis der Gegenwärtigkeit« (»cercle de la situation momentanée«), in welchem das animalische Leben abläuft und den es nicht verlassen kann. In ihn bricht die Existenz mit ihren Horizonten von Retention und Antizipation mittels der Sprache und des Gebrauchs von Werkzeugen ein – allerdings nur zu dem Zweck der Aufrechterhaltung des Lebens in seinem »kleinen Rhythmus«, ohne darüber hinausreichende Ziele. Als zweite Stufe unterscheidet Becker die »basse civilization«, die für ihn unter Berufung auf Schelling durch den Einbruch der Freiheit (als der Freiheit zum Bösen: durch den Einbruch der sinnlichen Leidenschaft und der libido dominationis, jedoch auch durch den Einbruch des Schuldbewusstseins, das sich in den Texten der Genesis und der babylonischen Dichtung äußert, und ebenso, unter Berufung auf Freud, durch die Herrschaft des »Lustprinzips«) charakterisiert ist. Als letzte Stufe schließlich nennt Becker die Stufe der eigentlichen Geschichte, deren Hauptthema die Entfaltung der Grundmöglichkeit des freien menschlichen Wesens ist, sich selbst zu gewinnen oder zu verlieren. [In: Alexandre Koyré et al. (Hg.), Recherches philosophiques, tome II, Paris /, S. -. Oskar Becker bezieht sich hier auf Oswald Menghin, Weltgeschichte der Steinzeit, Wien , und damit mittelbar auf die Terminologie von Fritz Kern, Kulturenfolge, in: Archiv für Kulturgeschichte, . Band, Leipzig/Berlin , S. .]
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Es scheint nicht ganz angebracht, die Entstehung der Großreiche (oder der »Tiefenkulturen« in Beckers Sinn) von der ursprünglichen Menschheit durch den Einbruch der »Freiheit zum Bösen«, durch das neue Moment der Leidenschaft und Schuld abzusondern. Die ersten Reiche unterscheiden sich vom Dasein der »Naturmenschen« nicht durch ein neues Moment des menschlichen Lebens, das auf der vorherigen Stufe nicht vorgekommen wäre, wie es bei der Unterscheidung der menschlichen und der animalischen Stufe durch die Momente von Sprache und Werkzeuggebrauch der Fall ist. Die ersten Reiche unterscheiden sich einzig dadurch, dass sie organisiert verfahren, während sie dasselbe Ziel verfolgen und der menschlichen Existenz denselben Sinn der gemeinsamen Lebensfristung geben, auf die sich der Naturmensch bloß unsystematisch und elementar richtet. Der Eindruck des wesentlich Neuen, den das Auftauchen der Großreiche des Alten Orients hervorruft, rührt zum Großteil daher, dass ihnen das Erbe der langen neolithischen Perioden zufiel, während deren sich jene menschliche Sesshaftigkeit vorbereitet, die sich in den Reichen dann herauskristallisiert und organisiert. Aber der Gesamtsinn und die Gesamtrichtung, die dem menschlichen Tun und Handeln gegeben werden, sind weiter dieselben: die Weitergabe und der Schutz des Lebens, das Leben selbst in seinem Selbstverzehr und in seiner Restitution – um es mit einem alten Bild zu sagen: das Erhalten der Lebensflamme. Gleichwohl bilden die Großreiche die wesentliche Vorstufe zu einer anderen Art, den Lebenssinn zu verstehen. Diese neue Art von Verständnis kommt zwar nicht in ihnen selbst zur Entfaltung. Aber die Akkumulation von Individuen, ihre organisierte Abhängigkeit voneinander, der beständige Kontakt und die Kommunikation durch das Wort, die menschliche Weise des Erscheinen-Lassens schaffen dem Menschen den Raum für eine Existenz außerhalb seiner selbst, für die Sage, den Ruhm, für das Überdauern im Gedächtnis der anderen. Das organisierte Leben schafft die Grundlage für menschliche Unsterblichkeit oder zumindest für das, was ihr am nächsten kommt. Insofern die Organisation auf die Schrift angewiesen ist, bildet freilich auch diese eine Voraussetzung jener höheren Stufe, auf der sich das Leben ausdrücklich (und außerhalb des Bereichs der eigentlichen generativen Kontinuität) auf das Gedächtnis, auf die anderen, auf das Leben mit und in ihnen bezieht. Hier also, wo das Leben nicht mehr bloß dem Leben gilt, son
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dern wo es sich der Möglichkeit öffnet, Leben für etwas anderes zu sein, liegt die Zäsur, die keine nur quantitative ist. Hannah Arendt weist in ihren profunden Überlegungen zur Rolle der Arbeit (und der sich ihr anschließenden Produktion) im menschlichen Leben und deren ursprünglichem Gegensatz zum politischen Leben auf diese Zäsur hin.5 Da die Familie der ursprüngliche Ort der Arbeit ist, entwickelt sich das politische Leben, das Leben in der polis, zwar auf dem notwendigen Fundament des familiären oikos (Haus, Haushalt), aber im Gegensatz zu dessen abgeschlossener, generativer Privatheit und mit dem Willen zur Öffentlichkeit, zu einer durch freie menschliche Aktivität geschaffenen und erhaltenen Kontinuität. Diese neue menschliche Möglichkeit besteht in der gegenseitigen Anerkennung Gleicher und Freier, in einer Anerkennung, die ständig vollzogen werden muss, in der die Aktivität nicht den Charakter erzwungener Mühe hat wie im Falle der Arbeit, sondern eine Manifestation der Vortrefflichkeit ist, ein Ausdruck dessen, was der Mensch im Wettbewerb mit ihm grundsätzlich Gleichen sein kann. Das jedoch bedeutet zugleich: wesentlich nicht im Modus der Annahme, sondern im Modus der Initiative zu leben, bereit zu sein, auf den günstigen Augenblick zur Tat, auf sich bietende Möglichkeiten zu lauern. Es bedeutet ein Leben in aktiver Spannung, äußerstem Risiko und unablässigem Aufschwung, in dem jede Pause unvermeidlich schon Schwäche ist, auf die die Initiative der anderen wartet. Gegen die Unfreiheit des Naturkreislaufes ist diese neue Lebensweise durch die häusliche Sicherheit geschützt, die der oikos, der Haushalt, gewährt, der für die Bedürfnisse des Lebens Sorge trifft. Zugleich vermag sie, ihren inneren Hang zur Ruhe, zur Stagnation, zur Erschlaffung durch den Stimulus der Öffentlichkeit zu bekämpfen, die Gelegenheiten bietet, aber unter Bedingungen ständiger Rivalität. Arendt stellt der Arbeit, die das Verlöschen und die Dekadenz des Lebens verhindert, das verzehrt, ohne etwas Dauerhaftes zu hinterlassen, das Herstellen entgegen, das ein festes, dauerhaftes Lebensgerüst schafft, ein Obdach, eine Gemeinde, Orte, die unerlässlich sind, um ein Zuhause, ein Heim zu haben. Auf diesem Fundament, das die Befreiung vom reinen Selbstverzehr und von der Auflösung ins Ephemere garantiert, erhebt sich jetzt etwas wesentlich anderes [Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart .]
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– ein Leben, das sich in der Weise frei bestimmt, dass sich die Menschen fürderhin frei, das heißt von diesem Fundament unabhängig, bestimmen können. Ein solches Leben ist von diesem Augenblick an in seinem ganzen Wesen und Sein von einem Leben verschieden, das durch die Annahme bestimmt ist. Hier wird das Leben nicht als fertiges, als das Leben so, wie es ist, akzeptiert, sondern von Grund auf umgestaltet, es ist durch und durch Aufschwung. Aber zu diesem Aufschwung gehört wesentlich, dass er nicht als eine bloße Insel im akzeptierten Leben empfunden wird – was er auch nicht ist –, sondern dass er im Gegenteil alle Annahme, alles Passive begründet. Das politische Leben schöpft zwar seine freien Möglichkeiten aus dem Heim und der häuslichen Arbeit, aber das Heim kann seinerseits nicht ohne die Gemeinde existieren, unter deren Schutz es nicht nur steht, sondern die ihm auch einen Sinn verleiht. Das politische Leben als Leben in ständig fordernder Zeit, in der »Zeit zu …«, diese beständige Wachsamkeit bedeutet zugleich, stets unverankert, ohne festen Boden zu sein. Das Leben steht hier nicht auf der festen Grundlage der Unverbrüchlichkeit des Generationszusammenhangs, es lehnt nicht gegen ein dunkles Land, sondern es hat die Dunkelheit, das heißt aber die Endlichkeit und ständige Gefährdung des Lebens, stets vor sich. Einzig in dieser Konfrontation mit der Bedrohung, in dieser Un-erschrockenheit, kann sich dieses freie Leben als solches entfalten. Seine Freiheit ist ihrem eigensten Wesen nach die Freiheit der Unerschrockenen. Freilich ließe sich einwenden, dies gehöre zum Leben eines jeden Kriegers auf jeder Stufe, auch auf der gänzlich naturhaften. Jedoch stützt sich der Krieger vor der Entstehung des politischen Lebens auf den Sinn, der in der Unmittelbarkeit des Lebens liegt, er kämpft für sein Heim, für seine Familie, für das Lebenskontinuum, dem er zugehört – an ihnen hat er seine Stütze und sein Ziel, sie geben ihm vor der Gefahr den Schutz, den er braucht. Im Gegensatz dazu liegt das Ziel nun im freien Leben als solchem, gleichgültig, ob es das eigene ist oder das der anderen. Es handelt sich um ein Leben, das im Grunde durch nichts geschützt ist. Das ungeschützte Leben, das Leben des Aufschwungs und der Initiative, kennt keine Pause und Erleichterung, es ist nicht nur ein Leben mit anderen Zielen, mit einem anderen Inhalt, mit einer anderen Struktur als das akzeptierte Leben – es ist anders, und zwar darin, dass es sich selbst die Möglichkeit eröffnet hat, für die es sich
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hingibt. Und zugleich sieht es diese seine Befreiung, es sieht die Abhängigkeit des einen und die erhöhende Freiheit des anderen, sieht, was das Leben ist und sein kann. Ohne sich zum Übermenschlichen erhoben zu haben, wird es das freie menschliche Leben. Das bedeutet aber: Es ist das Leben auf jener Grenze, die es zu einer Begegnung mit dem Seienden macht, das Leben auf der Grenze all dessen, was ist, wobei dieses Ganze ständig fordernd präsent ist, weil hier unweigerlich etwas ganz anderes als einzelne Dinge, Interessen, Realitäten auftaucht. Dieses Leben entledigt sich nicht seiner Zufälligkeit, aber es gibt sich ihr auch nicht passiv hin. Dadurch, dass sich dem Menschen die Möglichkeit des echten Lebens, das heißt das Ganze des Lebens gezeigt hat, hat sich ihm erstmals auch die Welt geöffnet – die Welt ist nicht mehr nur der indifferente Hintergrund, vor dem sich das zeigt, was uns fesselt, sondern sie ist jetzt (erst) imstande, sich selbst zu zeigen – als das Ganze dessen, was sich vor dem schwarzen Hintergrund der geschlossenen Nacht auftut. Dieses Ganze spricht nun unmittelbar zum Menschen, ohne dämpfende Mythen und Tradition, es will nur von ihm persönlich angenommen und verantwortet werden. Nichts von dem bisherigen Leben der Annahme bleibt davon unberührt, alle Stützen der Gesellschaft werden gleichermaßen erschüttert, die Traditionen und Mythen, all die Antworten, von denen die Fragen immer schon verstellt sind, dieser ganze bescheidene, aber gesicherte und beruhigende Sinn verändert, ohne freilich zu verschwinden, seine Gestalt: Er wird fraglich, er wird etwas, das ebenso rätselhaft ist wie alles andere – der Mensch hört auf, mit ihm identisch zu sein, der Mythos kommt ihm nicht mehr über die Lippen; in dem Moment, in dem sich das Leben erneuert, steht alles in einem neuen Licht – dem Freien fällt es wie Schuppen von den Augen, aber nicht in dem Sinne, dass er neue Dinge sähe, vielmehr sieht er neu: die Dinge sind da wie eine vom Blitz erhellte nächtliche Landschaft, in der er allein steht, ohne Stütze und nur auf das verwiesen, was sich ihm zeigt, und was sich ihm zeigt, ist alles, ohne Ausnahme. Das ist der Augenblick der schöpferischen Dämmerung, der erste »Schöpfungstag«, rätselhaft und umso eindringlicher dadurch, dass er den Staunenden umfängt, in sich aufnimmt und mit sich fortträgt. Das bedeutet, dass in der Erneuerung des Lebenssinnes, den die Entstehung des politischen Lebens mit sich bringt, zugleich der
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Keim des philosophischen Lebens enthalten ist – wenn Platon und Aristoteles Recht haben, für die das Staunen der Anfang der Weisheit ist. Gewiss sagt Aristoteles auch, dass der Liebhaber von Mythen auf seine Weise ein Philosoph sei;6 aber das wird er nur dann sein, wenn er den Anschein des Wunderbaren, des Wunders, des Staunens über das, was wirklich der Fall ist, wecken will. Dieses Wunder des Seins ist nicht irgendeine dahererzählte Geschichte, es zeigt sich nur dem, der sich auf die Grenze zwischen Tag und Nacht und bis vor das Tor wagt, zu dem Dikê den Schlüssel hat, und ein solcher Unerschrockener ist zugleich eidôs phôs, einer, der weiß.7 Arendt hat mit eindringlicher Kraft den Passus der Nikomachischen Ethik über die Grundmöglichkeiten des freien Lebens (apolausis, bios politikos und bios philosophikos) aus der Perspektive der Befreiung (vom Privaten mit seiner Bindung an den Selbstverzehr des Lebens) durch das politische Leben interpretiert: Das politische Leben stellt den Menschen mit einem Schlag vor die Möglichkeit eines Lebens-Ganzen und eines Lebens im Ganzen, das philosophische Leben schlägt in solchem Boden Wurzeln und bringt zur Entfaltung, was in ihm zuvor noch unentwickelt und eingeschlossen war. Vielleicht lässt sich auf der Grundlage dieser Überlegungen, die ihrerseits an Aristoteles’ Unterscheidungen der Lebensweisen anknüpfen, auch der Anfang der eigentlichen Geschichte ableiten: Geschichte gibt es dort, wo das Leben frei und ganz wird, wo es bewusst den Raum für ein ebenso freies, sich nicht in der bloßen Lebensannahme erschöpfendes Leben schafft und wo es sich im Zuge der Erschütterung des »kleinen«, auf das Akzeptieren beschränkten Lebenssinns dazu entschließt zu versuchen, sich selbst einen neuen Sinn zu verleihen im Lichte dessen, wie sich ihm das Sein der Welt zeigt, in das es gestellt ist. Diese Überlegungen dürfen nicht im Sinne einer idealisierenden Auffassung der griechischen polis verstanden werden, etwa so, als ob diese aus dem Geiste einer selbstlosen Ergebenheit für das »Gemeinwohl« hervorgegangen wäre, analog der in Platons Politeia geforderten – aber nicht eigentlich dargestellten – Gesinnung der Wächter. Die Entstehung der Gemeinde ist zum einen kein Prozess, der sich genau lokalisieren und diesen oder jenen Individuen zuschreiben ließe; anonyme Voraussetzungen, die Zufälligkeit bestimmter Situ [Vgl. Aristoteles, Metaphysik, . Buch, . Kapitel.] [Vgl. Diels/Kranz, a. a. O., Parmenides, B .]
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ationen spielen hier eine nicht exakt anzugebende Rolle. Die Athener Gemeinde zum Beispiel ist bis zu den Perserkriegen etwas, das sich erst allmählich in den Kämpfen mit den Nachbarn und der einzelnen politischen Parteien untereinander herauskristallisiert. Eine nicht geringe Rolle spielt neben diesen beiden Momenten auch die Tyrannis, die zum eigentlichen Geist der Gemeinde im Widerspruch steht. Aber gerade der Umstand, dass die polis aus äußeren und inneren Kämpfen hervorgeht und sich in ihnen erhält, dass sie den eigenen Sinn und den lang gesuchten Ausdruck des hellenischen Lebens inter arma findet, ist für diese neue Form und Gestalt des Lebens bezeichnend. Aus partikularen, auf einem schmalen Territorium und mit geringen materiellen Mitteln geführten Kämpfen entsteht hier nicht nur die westliche Welt und ihr Geist, sondern – so lässt sich vielleicht behaupten – die Weltgeschichte überhaupt. Der westliche Geist und die Weltgeschichte sind in ihrer Entstehung verbunden: was sie ausmacht, ist der Geist der freien Sinngebung, ist die Erschütterung des bloß akzeptierten Lebens und seiner Sicherheiten, ist damit einhergehend die Entstehung der neuen Möglichkeiten des Lebens in dieser Erschütterung, das heißt die Philosophie. Insofern aber Philosophie und Geist der polis so eng zusammenhängen, dass der Geist der polis im Weiteren stets in Gestalt der Philosophie fortlebt, hat dieses partikulare Ereignis, die Entstehung der polis, universale Bedeutung. Für den Zusammenhang von Philosophie und Geist der polis finden wir schon bei den frühen griechischen Philosophen Belege. Der Geist der polis ist der Geist der Einheit im Streit, im Kampf. Man kann nicht anders Bürger (politês) sein als in einer Gemeinschaft der einen gegen die anderen, wobei dieser Streit selbst die Spannung, den tonus des Lebens der Gemeinde, die Form des Freiheitsraumes schafft, den sich die Bürger gegenseitig gewähren und streitig machen – gewähren, indem sie für eine Aktion Unterstützung suchen und Widerstand bekämpfen. Die Aktion selbst jedoch ist im Grunde nichts anderes als Kampf, als ein Akt der Verteidigung gegen die anderen und des Angriffs da, wo sich die Gelegenheit bietet. So bildet sich in der Gemeinde durch ständigen Kampf und Streit die Macht heraus, die über den streitenden Parteien steht und von der die Bedeutung und die Ehre der Gemeinde abhängen: der dauernde Ruhm unter den Sterblichen, kleos aenaon thnêtôn.8 [Vgl. Diels/Kranz, a. a. O., Heraklit, B .]
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Heraklit spricht von dem Gemeinsamen, aus dem sich alle »menschlichen Gesetze« »nähren«,9 das heißt die Gemeinde sowohl in ihrem allgemeinen Funktionieren als auch in jeder einzelnen Entscheidung. Was aber ist dieses göttliche Gesetz? – »Es ist nötig zu wissen, dass das Gemeinsame polemos ist, und das Recht ist Streit (dikê = eris), und alles geschieht durch eris und ihren Drang.«10 Polemos ist das Gemeinsame. Er verbindet die streitenden Parteien nicht nur, weil er über ihnen steht, sondern weil sie in ihm eins sind. In ihm bildet sich die eine und einheitliche Macht und der Wille, aus denen allein alle Gesetze und Verfassungen hervorgehen, wie verschieden sie auch sein mögen. Aber die Macht, die durch den Kampf geschaffen wird, ist keine blinde Kraft. Die aus dem Streit erwachsende Macht ist wissend, sehend: Einzig in diesem stärkenden Streit gibt es ein Leben, das wirklich bis in das Wesen der Dinge sieht, to phronein. Phronêsis also, das Verstehen, kann vom Wesen der Dinge her nicht anders als zugleich gemeinsam und im Streit existieren. Die Welt und das Leben im Ganzen zu sehen bedeutet, den polemos, die eris als das Gemeinsame zu sehen: xunon esti pasi to phronein, das allen Gemeinsame ist das Denken.11 Zu sprechen, der Einsicht in den gemeinsamen Ursprung Worte zu verleihen, bedeutet, »mit dem Verstand« (xun noô) zu sprechen. Das jedoch heißt, »die Dinge mit Worten zu begleiten, die jedes Ding nach seinem Sein zerteilen, und zu sagen, wie es sich mit ihnen verhält«.12 Das Ding nach seinem Sein zu zerteilen meint, zu sehen, wie das Ding aus dem Dunkel hervor und in die offene Sphäre (des individuierten Kosmos) tritt, meint, den Blitz des Seins über dem All, die offene Nacht des Seienden zu sehen. Das jedoch ist das Werk dessen, der weise ist, das Werk des Philosophen. In ihm vereinigt sich alle aretê, die Bestimmung des freien Lebens, durch das sich der politês auszeichnet. »Das Verstehen (to phronein) ist die größte Tugend (aretê), Weisheit ist es zu sagen, was enthüllt ist (ta alêthea), und zu tun, was dadurch in seinem wesenhaften Charakter verstanden ist.«13 [Ebd., B .] [Ebd., B .] [Ebd., B .] [Ebd., B .] [Ebd., B . In der Übersetzung von Diels/Kranz: »Verständigsein ist die wich-
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Polemos, das Aufblitzen des Seins aus der Nacht der Welt, lässt alles Einzelne sein und sich als das zeigen, was es ist.14 Der größte Gegensatz wird also in der Einheit zusammengehalten, die über allem ist, sich in allem äußert, über alles herrscht. Diesem »einzig Weisen«15 begegnet der Mensch jedoch nur dann, wenn er selbst handelt, wenn er selbst Taten vollbringt in jener Atmosphäre der Freiheit, die durch das Gesetz der Gemeinde verbürgt ist,16 das sich wiederum aus jenem göttlichen Gesetz nährt, dessen Name polemos ist. Polemos ist also zugleich das, wodurch die Gemeinde geschaffen wird, wie er auch die Ureinsicht ist, durch die die Philosophie ermöglicht wird. Polemos ist nicht der verheerende Furor eines wilden, barbarischen Angreifers, sondern der Schöpfer der Einheit. Die von ihm gegründete Einheit reicht tiefer als jede ephemere Sympathie oder Interessenkoalition. Die Widersacher treffen sich in der Erschütterung des gegebenen Sinns und bilden so eine neue Seinsweise des Menschen – die einzige vielleicht, die in den Stürmen der Welt Hoffnung gibt: die Einheit der Erschütterten, aber Unerschrockenen. So sieht Heraklit die Einheit und den gemeinsamen Ursprung von Gemeinde und Philosophie. Damit scheint auch die Frage nach dem Anfang der Geschichte entschieden. Die Geschichte entsteht dadurch und kann nur dadurch entstehen, dass sich die aretê, jene Vortrefflichkeit eines Menschen, der nicht mehr um des bloßen Lebens willen lebt, einen Geltungsraum schafft, dass sie bis in das Wesen der Dinge sieht und in Übereinstimmung mit diesem handelt – die aretê errichtet die Gemeinde auf dem Fundament des Weltgesetzes, das polemos ist, und sie bringt dasjenige zur Sprache, was sie als das sich dem freien, ungeschützten und unerschrockenen Menschen Enthüllende erblickt (Philosophie). So haben die Geschichte des Abendlandes und die Geschichte überhaupt einen würdigen Anfang – einen Anfang nämlich, der nicht nur zeigt, wo die große Zäsur zwischen dem vor-geschichtlichen Leben und der Geschichte liegt, sondern auch, auf welchem Niveau sich das geschichtliche Leben halten muss, wenn es tigste Tugend; und die Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun, auf die Natur hinhorchend.«] [Ebd., B .] [Ebd., B .] [Ebd., B .]
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nicht äußeren oder inneren Bedrohungen zum Opfer fallen soll. Dieser Anfang reicht allen weiteren Versuchen zu geschichtlichem Aufschwung die Hand, nicht zuletzt auch, weil er lehrt, was die Menschheit trotz aller unermesslichen Härte der Geschichte nicht verstehen will und was ihr vielleicht erst eine spätere Zeit beibringen wird, die den Gipfel von Unheil und Zerstörung erreicht hat: dass das Leben nicht aus der Perspektive des Tages, aus der Perspektive der bloßen Lebensfristung und des akzeptierten Lebens zu verstehen ist, sondern aus der Perspektive des Streits, der Nacht, aus der Perspektive des polemos. Dass es in der Geschichte nicht darum geht, was widerlegt oder wodurch etwas erschüttert werden kann, sondern um die Offenheit für das Erschütternde selbst. Hier ist es an der Zeit, sich mit den Geschichtsauffassungen auseinanderzusetzen, die von den beiden Schöpfern und Gestaltern der Phänomenologie rühren und die sich von unserer Auffassung erheblich zu unterscheiden scheinen, indem sie beide ausdrücklich nur von der Philosophie als dem Ausgangspunkt und gleichsam Zentrum der Geschichte sprechen. Edmund Husserl spricht von der europäischen Geschichte als dem teleologischen Nexus, dessen Achse der Gedanke der vernünftigen Einsicht und das auf dieser gegründete (das heißt verantwortliche) Leben bilden.17 Durch diese teleologische Idee unterscheidet sich die europäische Kultur laut Husserl von allen übrigen Kulturen. Der Gedanke eines Lebens aus Vernunft, eines Lebens in Einsicht hebt Europa gegen die übrigen Kulturen ab als die gegenüber den zufälligen Kulturen wesentliche Kultur. Die Einsicht, die Vernunft ist die »eingeborene« Idee der Humanität, so dass der europäische Geist zugleich der menschliche Geist überhaupt ist. Die europäische Kultur und Zivilisation ist allgemeingültig, alle übrigen Kulturen gelten nur partikular, auch wenn sie ansonsten durchaus interessant sein mögen. Daraus scheint zu folgen, dass es sich bei der Geschichte als der Entfaltung und allmählichen Realisierung dieser teleologischen Idee wesentlich um die Geschichte Europas handelt, während die übrige Welt erst geschichtlich wird, sobald sie das Feld der europäischen Kultur betritt. Ein weiteres Resultat scheint, dass sich der [Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana, Bd. VI, hg. von Walter Biemel, Den Haag .]
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Anfang der Geschichte mit dem Anfang der europäischen Kultur decken muss. Damit steht in Übereinstimmung, dass Husserl von den ersten griechischen Anfängen spricht und darunter die »Urstiftung« der teleologischen Idee Europas in der griechischen Philosophie versteht. Auf den ersten Blick scheint diese Auffassung den naiven Rationalismus der Aufklärung wiederherzustellen, dem einzig das Aufklärende, das »Licht« Quell des Lebens ist. In Wirklichkeit hängt Husserls Geschichtsverständnis mit dem Gesamtcharakter seiner Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie zusammen. Was kann in ihr Geschichte bedeuten? Die Phänomenologie ist die Lehre nicht nur von der Struktur des Seienden, sondern auch dessen, dass und wie das Seiende erscheint und warum es so erscheint, wie es uns erscheint. Die Geschichte kann hier nichts anderes, nicht mehr und nicht weniger als das notwendige Skelett dieses Sich-Entdeckens, dieses Erscheinens des Seienden sein. Dieses Erscheinen kann seinen Gipfel nur darin erreichen, dass sein eigenes Wesen erscheint, sich entdeckt – das ist die Philosophie, nicht eine bestimmte, sondern die Philosophie als Prozess. Es gehört zur Natur der Sache, dass sich das Seiende so nicht nur als vernünftig erweist, sondern als die Vernunft selbst. Die Phänomenologie Husserls erinnert weniger an den Rationalismus der Aufklärung als an den Hegels. Die Ironie will es, dass Husserl jenes Werk, das seine phänomenologische Geschichtskonzeption enthält, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und also jenes Umbruchs schreibt, der Europa endgültig um seine globale Führungsrolle bringen sollte. Zwar ist es wahr, dass ebendieser Umbruch die europäische Wissenschaft und Technik zum planetarischen Bindemittel gemacht hat. Doch entstand so jene Version der europäischen Zivilisation, von der Husserls Krisis-Schrift gezeigt hat, dass sie zum Verfall bestimmt ist, dass sich in ihr ein Sinnverlust zugetragen hat, nämlich der Verlust jener Sinn gebenden teleologischen Idee, auf der laut Husserl das innere, geistige Wesen Europas beruht. Die Phänomenologie kann die Geschichte nicht als etwas Wesentliches ansehen und zu einem ihrer Hauptgegenstände machen, ohne dabei ihre gesamte Grundkonzeption im Hinblick sowohl auf die Methode als auch die Materie zur Geltung zu bringen. Im Verlauf seiner Denkentwicklung betont Husserl zunehmend die Gene
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se gegen die statische Analyse, die Rolle der passiven Genesis, das Entstehen aller vermeintlich nur rezipierten Erlebniskomponenten im inneren Zeitbewusstsein. Alles Statische deutet auf die Genese und damit auf die Geschichte. Die Geschichte ist also die tiefste inhaltliche Ebene, an welche die Phänomenologie reicht; aber wenn wir Geschichte als so etwas wie freies Handeln und Entscheiden bzw. dessen Grundvoraussetzungen verstehen, ist zu sagen, dass Husserls Genese, obwohl sie transzendental ist, ja gerade weil sie es ist, nur Strukturen kennt, die in der Reflexion eines unvoreingenommenen, uninteressierten Zuschauers, also einer (in unserem Sinne) wesentlich ungeschichtlichen Subjektivität erfassbar sind. Wenn das Phänomen der Phänomenologie (das »tiefe« Phänomen, das heißt nicht das »vulgäre« Phänomen dessen, was sich von sich selbst her zeigt, sondern seine verborgenen und es ermöglichenden Voraussetzungen) in der transzendentalen Genese liegt, dann – so ist weiter zu sagen – setzt seine Erfassung eine von Grund auf »ungeschichtliche«, weil uninteressierte Subjektivität voraus. Damit hängt ferner der Begriff der Reflexion selbst zusammen. Husserls Reflexion erfasst die subjektiven Strukturen als Wendung des objektiven Blicks »nach innen« auf das Erlebnis, auf die »noetische« Seite – als ob die Aktstruktur, der das Gegensatzpaar »Noesis-Noema« ursprünglich entnommen ist, für alle Phänomene überhaupt gelten würde und als ob die Intentionalität das letzte Wort wäre, das sich von der Subjektivität des Subjekts sagen ließe. Im Gegensatz dazu ist Heideggers Konzeption geschichtlich – und das nicht nur im Sinne einer auf die Genese führenden phänomenologischen Analyse. Geschichtlich ist Heideggers Konzeption vor allem, insofern sie nicht nur den uninteressierten Zuschauer als die Voraussetzung der Möglichkeit der Phänomenologisierung verwirft, sondern gerade die Interessiertheit am Sein als den Ausgangspunkt und die Möglichkeitsbedingung dafür ausweist, das Tiefenphänomen, nämlich das Phänomen des Seins zu verstehen. Sie deutet damit einerseits auf eine Erneuerung der ontologischen Frage auf phänomenologischer Grundlage, andererseits auf ein angemessenes Verständnis der Bedeutung der Phänomenologie überhaupt. Für Heidegger ist Phänomenologie kein inhaltlicher Titel, sondern ein methodischer, der Titel für ein Forschen, das sich in allem, was es behauptet, auf den direkten Aus- und Aufweis stützt. Das
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heißt jedoch nicht, dass es sich bei den phänomenologischen Forschungen um Selbstverständlichkeiten handelte, die offen zutage lägen. Im Gegenteil liegen die eigentlichen Phänomene der Phänomenologie ursprünglich im Verborgenen, weil sie nicht die seienden Dinge betreffen, die sich selbst zeigen, sondern deren Sein, deren Ermöglichung und deren Wesen, das erst noch zu eruieren ist. Dieses »Ans-Licht-bringen« ist aber eben nur möglich, weil die Beziehung zum eigenen Sein – und damit zum Sein überhaupt – dem Menschen nicht in der Weise fremd ist wie sie etwa den Dingen der Natur oder den von menschlicher Hand gefertigten Gegenständen fremd ist. Diese Beziehung ist alles andere als uninteressiert, sie ist kein bloß zuschauendes Konstatieren und kann es nicht sein. Eben das ist der Inhalt des Ausdrucks, dem Menschen gehe es in seinem Sein um dieses Sein. Das eigene Sein ist ihm zur Verantwortung gegeben, nicht zur Betrachtung. Er muss es tragen, es vollziehen, und er ist je nachdem, ob er diese Aufgabe annimmt oder ob er sie sich leicht macht, vor ihr flieht, sie vor sich verleugnet. Anders ausgedrückt: Das Dasein (d. i. das Wesen des menschlichen Lebens) ist um seiner selbst willen da. Es ist offensichtlich, dass bereits dieser erste Ansatz der Analyse in ganz anderem Sinne historisch ist als die transzendentale Genese Husserls. Dieses »Vollziehen«, das keine betrachtende Schau ist, ist deswegen nicht etwa blind. Es hat seine eigene Weise des Sehens, von der unser »Verhalten«, der praktische Umgang mit den praktischen Dingen in unserer Umgebung, nur den letzten, auffälligsten Teil bildet, der wie die Spitze des Eisberges in unseren Alltag hineinragt. Aber nicht einmal dieses Verhalten und Tun lässt sich mit der üblichen Akttheorie des Bewusstsein erklären: Sie betont am Verhalten, genauer: sie behält von ihm nur das, was sich entweder durch direkte oder durch innere Anschauung konstatieren lässt. In Wirklichkeit ist dieses Verhalten nur das Ergreifen jener Möglichkeiten (Möglichkeiten der Beziehung zu uns selbst inmitten der Dinge und durch sie), die uns schon irgendwie offen sein müssen, und offen können sie nur in der wirklichen Situation sein, in diesem faktischen »Da«, das für jeden von uns und in jedem Augenblick ein anderes ist und in dem die Stimmung unser mögliches Verhalten auf dasjenige Seiende einstimmt, zu dem wir nach Maßgabe unserer Umgangsmöglichkeit mit ihm gestellt sind. So eröffnet uns dieses »Urfaktum der Befindlichkeit« mit einem Schlag und nicht-intentional, nicht-gegenständlich, un
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ser rätselhaftes Gestellt-Sein in die Mitte der Dinge, ebenso aber das Ganze, zu dem wir unablässig in Bezug stehen, das Ganze der Beziehung zu sich selbst durch die Möglichkeit der Begegnung mit den Dingen und mit anderen Menschen. Aber genau so, wie das Verhalten immer schon dieses Gestellt-Sein in das voraussetzt, was wir nicht selbst geschaffen haben und was bereits da gewesen sein muss, setzt es auch voraus, dass wir verstehen, wozu wir uns verhalten und warum: Und weil das praktische Verstehen primär und als einziges wirklich fasslich ist und die Dinge in ihm das sind, was unseren Möglichkeiten »entspricht« oder »entgegenkommt«, setzt das wiederum voraus, dass die Möglichkeiten als solche, das heißt als die unsrigen und erst noch kommenden Möglichkeiten, als verständlicher, bedeutungsbildender Zusammenhang bereits da sind, dass ich in demselben »Augenblick«, in dem ich in die Dinge eingelassen bin, den »Entwurf« vor mir habe, von dem her ich das verstehe, was ist. Wieder also handelt es sich bei dem Verstehen und der Auslegung dessen, dem ich begegne, nicht um eine Apperzeption, die ja als solche immer die Synthese eines in der Vergangenheit Konstatierten mit einem gegenwärtig Konstatierten bildet, sondern dieses Verstehen sieht das Gegenwärtige immer schon im Lichte dessen, was wir »vor uns« haben, jedoch nicht als Gegenstand, sondern als das, was »wir zu ergreifen haben«. Wie wir sehen, setzt das Verhalten zum einzelnen Seienden das Verständnis eines bestimmten Seinsganzen voraus, das uns im »Entwurf« unserer Möglichkeiten offensteht und das in der Empfindung der Gestimmtheit auch als Ganzes gefühlt wird. Weder der Entwurf noch die Stimmung sind intentionale Gegenstände und auch nicht selbständig, jedoch ist das konkrete Ergreifen unserer Lebensaufgabe ohne sie nicht möglich – das Leben lässt sich ohne sie nicht als Freiheit und ursprüngliche Geschichte begreifen. Nicht Intentionalität, sondern Transzendenz ist der ursprüngliche Charakter des Lebens, durch den es sich vom Sein solches Seienden unterscheidet, dem es nicht um sein Sein geht und das also nicht um seiner selbst willen existiert und kein »Um-willen« hat bzw. nur in einem Aufschimmern wie bei den Tieren. Die Transzendenz mit ihren sich gegenseitig bedingenden Momenten von Befindlichkeit, Entwurf und Verhalten ist jedoch das Transzendieren des Menschen zur Welt, zu diesem Ganzen des Gelichteten, des Entworfenen, zu dem stets ein Seiendes unserer Seinsart gehört, das Beziehung ist,
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und ein Seiendes, dem dieser Charakter fehlt. Wie Kant als Erster gesehen hat, ist die Welt kein Ding und auch kein Ensemble von Erfahrungsgegenständen. Der Grund dafür ist aber nicht, dass sie eine bloß »abgeleitete«, in der Wirklichkeit unerfüllbare Idee ist, sondern der, dass sie durch die Ganzheit der Transzendenz, durch diese »Ur-geschichte« gegeben ist, wie Heidegger sich ausdrückt. Die Welt ist kein Erfahrungsgegenstand, nicht, weil sie nicht gegeben sein kann, sondern: sie kann grundsätzlich nicht gegeben sein, weil sie kein Seiendes ist und somit ihrem Wesen nach nicht »existieren« kann. Der Transzensus zur Welt ist ursprünglich nicht, wie bei Kant, durch die Aktivität des Verstandes und der Vernunft gegeben. Seine Grundlage ist Freiheit. Wir sehen, wie in der Konzeption dieser beiden Phänomenologien die uralte philosophische Opposition zwischen dem Primat des Intellekts und dem der Freiheit wieder auftaucht in der Frage, was das eigentliche Wesen des menschlichen Geistes ausmache, womit notwendig auch die Frage nach der philosophischen Verankerung und dem Wesen der Geschichte zusammenhängt. Heidegger ist ein Philosoph des Primats der Freiheit, die Geschichte ist für ihn kein Theater, das sich vor unseren Augen abspielt, sondern die verantwortlich vollzogene Verwirklichung der Beziehung, die der Mensch ist. Die Geschichte ist nicht Schau, sondern Verantwortung. Heidegger versteht Freiheit aber weder als liberum arbitrium noch als Spielraum zur Verwirklichung der Pflicht, sondern an erster Stelle als Freiheit, das Seiende sein zu lassen, was es ist, es nicht zu entstellen. Dies setzt nicht nur Verständnis für das Sein voraus, sondern auch die Erschütterung dessen, was zuerst und zumeist, in naiver Selbstverständlichkeit, für das Sein gehalten wird, den Zusammenbruch seines angeblichen Sinnes, zu dem das Auftreten des Seins als solchen in Gestalt eines radikalen »Nein« und der ausdrücklichen Infragestellung seiner selbst führt. Die Enthüllung des Seins ist die Erfahrung, aus der die Philosophie erwächst, der beständig erneuerte Versuch eines Lebens in der Wahrheit. Die Freiheit ist letzten Endes die Freiheit der Wahrheit, und zwar in Gestalt der Enthülltheit des Seins selbst, der Wahrheit des Seins selbst, nicht nur des Seienden (in Gestalt des offenen Verhaltens und in der Angemessenheit der Aussagen). Die Freiheit ist nicht eine Seite des menschlichen Wesens, sondern bedeutet wesentlich, dass das Sein selbst endlich ist, dass es in der Erschütterung aller
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naiven »Sicherheiten« liegt, die im Seienden ein Heim zu finden suchen, um nicht zugeben zu müssen, dass der Mensch kein Heim hat, es sei denn dieses Allenthüllende und Freie, das gerade deswegen nicht so »sein« kann wie die seienden Entitäten: das Sein und sein Geheimnis und Wunder – dass das Seiende ist. Die Enthüllung des Seins selbst jedoch spielt sich in der Philosophie und ihrem ursprünglicheren, radikaleren Fragen ab. Diese Enthüllung bewirkt daher notwendig, dass nicht nur der Umkreis des als enthüllt zugänglichen Seienden, sondern auch die Welt selbst, die Welt einer bestimmten Epoche, einem Wandel unterliegt. Seit dem Entstehen der Philosophie ist die Geschichte vor allem diese innere Geschichte der Welt als Sein, das vom Seienden geschieden ist und ihm dennoch zugehört, als Sein des Seienden. Es überrascht bei der Gegenüberstellung dieser phänomenologisch arbeitenden Philosophien, dass sie trotz aller grundlegenden Diskrepanz des Ausgangspunkts – hier die Anschauung, dort die Freiheit – beide zum Gedanken der zentralen Stellung der Philosophie in der Geschichte gelangen. Und weil sie unter Philosophie die Philosophie des Abendlandes verstehen, gelangen sie beide gleichermaßen zu der zentralen Stellung Europas in der Geschichte. Geschichte ist ohne freie Verantwortung nicht denkbar. Beide Philosophien wissen das und bekennen sich dazu. Nur dass die eine den Ursprung der Verantwortung in der Ungetrübtheit der Evidenz, in der Unterordnung der bloßen Meinung unter die Anschauung erblickt, während die andere ihn darin sieht, dass wir nicht die Augen verschließen vor dem Anspruch, der Freiheit eine offene Bahn und einen Ort zu schaffen, jenem Da-sein also, das befreit ist vom gewöhnlichen, oberflächlichen Vergessen gegenüber dem Geheimnis des Seins des Seienden. Worin wurzelt bei diesen beiden sonst so tief verschiedenen Philosophien die Übereinstimmung ihrer Geschichtskonzeptionen? Wie erklärt sich, dass beide der Philosophie eine so zentrale Bedeutung zuerkennen, dass sie in ihr den eigentlichen Anfang der Geschichte sehen? Die Antwort liegt darin, dass es sich offenbar bei beiden Philosophien um Philosophien der Wahrheit handelt und dass also die Wahrheit ihr zentrales Problem ist, ein Problem, das sie nicht im Ausgang von angeblich evidenten Thesen, sondern im Ausgang von den Phänomenen lösen wollen, im Ausgang von dem, was sich zeigt. Aber die eine Philosophie sieht die Wahrheit
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als vollkommene Klarheit, die dunkle Stellen nur als Fragen, als Durchgänge zu Antworten betrachtet, während die andere, von der Endlichkeit des Seins inspiriert, für das ewige Geheimnis des Seienden offen ist, das gerade in diesem seinem Geheimnis zu Fragen, die Fragen bleiben, anregt und so die eigene wesentliche Wahrheit zu bewahren sucht: die Entborgenheit des Seins des Seienden, zu der unweigerlich seine Verborgenheit gehört, wie es das griechische a-lêtheia ausdrückt. Heideggers Philosophie pflegt also in ihrem Kern eine ebenso enge Beziehung zum philosophischen Denken wie Husserls Phänomenologie. Sie eignet sich jedoch besser als Ansatzpunkt, um über die Geschichte zu philosophieren, weil sie davon ausgeht, dass Freiheit und Verantwortung im menschlichen Sein und nicht erst im Denken begründet liegen. In ihrem Zentrum stehen Probleme wie die Lösung von jener Ding- und Welt-Verfallenheit, von der die heute führenden Geschichtsphilosophien allesamt befangen sind. Als Philosophie einer endlichen Freiheit und als Gemahnerin an das, was über der Welt ist, weil es die Welt ermöglicht, steht sie dem Idealismus nahe. Sie gibt dem geschichtlichen Aufschwung des Menschen jedoch eine tiefere und »realistischere« Grundlage, weil sie die einzige und konsequente Doktrin ist, die es vermag, die Selbständigkeit des Seienden gegen jede Art von Subjektivismus zu behaupten, auch gegen den, der aus der gängigen materialistischen Auffassung resultiert, die Subjekt-Objekt-Beziehung beruhe auf der Kausalität in der äußeren Welt. Vor allem jedoch vermag Heideggers Philosophie das Wesen des geschichtlichen Handelns zu erläutern und die Augen dafür zu öffnen, worum es in der Geschichte geht. Unsere weiteren Überlegungen werden versuchen, einige Probleme der zurückliegenden und der gegenwärtigen Geschichte im Lichte der Anregungen zu erörtern, die uns diese Philosophie gegeben hat. Die Verantwortung für die folgenden Ausführungen trägt natürlich der Autor selbst.
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. Hat Geschichte einen Sinn? Man spricht oft vom Sinn bestimmter menschlicher Belange, vom Sinn des Lebens, der Geschichte, der verschiedenen Institutionen, vom Sinn der Demokratie usw., ohne dass der Begriff des Sinns selbst bestimmt wäre und ohne dass man auch nur den Versuch zu einer solchen Bestimmung machte – vermutlich deswegen, weil man einerseits die Notwendigkeit eines solchen Begriffs spürt und ihn andererseits für selbstverständlich hält. Die Notwendigkeit des Sinnbegriffs gründet darin, dass all diese »menschlichen Belange« problematisch sind und – weil uns die Unterschiedlichkeit ihrer möglichen Auslegungen nicht gleichgültig lassen kann – einer Klärung bedürfen. Die (scheinbare) Selbstverständlichkeit teilt der Sinnbegriff mit allen grundlegenden Begriffen, die so allgemein sind, dass ihr Wesen der gewöhnlichen, nach dem Raster der traditionellen Logik verfahrenden Definition widerstrebt. Solche Begriffe sind der Begriff des Seins, der des Werdens und der des Erscheinens. Zweifellos gehört auch der Sinnbegriff hierher, und zweifellos liegt es an seiner Schwierigkeit und gleichzeitigen Unverzichtbarkeit, dass man so oft zu dem probaten Mittel greift, sich seine nähere Analyse zu ersparen, indem man seine Evidenz voraussetzt. Wir wollen bei unserem Analyseversuch von der Beziehung zwischen den Begriffen »Sinn« und »Bedeutung« ausgehen. Im Bereich der Logik war es Frege, für den »Bedeutung« den gegenständlichen Bezug, »Sinn« dagegen die Auffassungsweise meinte: »vierseitige Figur« und »Viereck« sind je ein Sinn derselben Bedeutung, ebenso »Abendstern« und »Morgenstern«.1 Das zeigt, dass auch die Logik von einer Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen guten Gebrauch machen kann, wobei »Sinn« stärker mit unserer Auffassungsweise zusammenhängt, während »Bedeutung« objektiver ist. Von einer anderen Seite her betrachtet scheint es aber so, dass wir »Bedeutung« eher auf den Bereich des logos beschränken, während »Sinn« für uns eher etwas Reales ist, das zum Beispiel im Zusammenhang mit den Gefühlen oder dem Handeln steht. Wir fragen, inwiefern das Leiden Sinn (weniger Bedeutung) [Vgl. Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung« (), in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. v. Mark Textor, Göttingen .]
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habe oder was der Sinn einer bestimmten Handlung gewesen sei, zum Beispiel der Sinn dessen, dass die deutsche Seite während des Ersten Weltkriegs ihre Kriegsziele verschwiegen hat und wir unterscheiden davon scharf die Bedeutung dieses Verschweigens etwa für die Verlängerung des Krieges. Der Sinn ist dasjenige, woraus sich verstehen lässt, dass diese Ziele verheimlicht werden mussten (zum Beispiel der Wille, den gesamten Status quo der bisherigen Welt zu verändern). Die »Bedeutung für…« ergibt sich aus dem verstandenen Sinn, sie ist dessen Ergebnis. Von daher die Berechtigung von Heideggers Bestimmung, dass der Sinn dasjenige sei, aufgrund dessen etwas verständlich wird. Demnach wäre der Sinn begründend, aber nicht nur im Sinne einer formal-logischen Prämisse, sondern auch darin, dass er materiell-inhaltliche Verständlichkeit begründet. Zu dieser Verständlichkeit gehören die Motivationen einer Tat, aber ebenso der tiefere Hintergrund des Erlebens und Handelns, von dem die Rede ist, wenn wir zum Beispiel vom Sinn des Leidens sprechen, vom Sinn der Angst, vom Sinn der Tatsache, dass der Mensch ein leiblich verfasstes Geschöpf ist. In all diesen Fällen liegt der Sinn nicht offen zutage, sondern wir müssen ihn durch eine Auslegung gewinnen, die enthüllt, was ihn uns ursprünglich zu sehen verwehrt, was ihn verbirgt, verzeichnet, verdunkelt. Mit der Frage nach der Motivation einer Tat stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Sinn und Zweckhaftigkeit. Das Tatmotiv ist nämlich eigentlich der Zweck, der von dem Handelnden verfolgt wird. Es ist des Weiteren der Antrieb, aus dem der Zweck resultiert. Der Hass und der Wille, die verhasste Person zu beseitigen, sind der Antrieb und der Zweck, die den Mord als Mittel zur Beseitigung als dem Zweck diktieren. Es ist damit klar, dass jede zweckhafte Handlung sinnvoll ist, doch ist nicht alles Sinnvolle zweckhaft oder in Zwecken verankert. Die Relation von Mittel und Zweck ist eine kausale Verknüpfung, die durch Einfügung in den Zusammenhang der menschlichen Motive und Taten sinnvoll geworden ist. Es ist also nicht möglich, den Sinn mit der Zweckhaftigkeit zu identifizieren oder ihn gar aus ihr zu erklären. Im Gegenteil, eine Handlung kann zweckhaft sein und dennoch ihren (ursprünglichen) Sinn verlieren: so scheint es zum Beispiel, dass die moderne Wissenschaft durch ihren durchgängigen Objektivismus den inneren Sinn verloren hat und sich nur durch äußere, sich aus der Möglichkeit ihrer
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Anwendung ergebende Zwecke begründet. Auf der anderen Seite kann menschliches Handeln zweckfrei oder zweckwidrig sein und dennoch Sinn haben: das pathologische Verhalten von Hysterikern oder überhaupt von neurotischen Menschen hat einen Sinn, der sich verstehen lässt, aber es ist nicht zweckhaft. Fehler, die wir in einer Handlung begehen, sind verständlich, aber nicht zweckhaft, freilich setzen sie einen Zweck und die (falsche) Wahl von (inadäquaten) Mitteln voraus. Den Sinn vom Zweck und der Zweckhaftigkeit abzuleiten bedeutet, ihn der Kategorie der Kausalität unterzuordnen, denn mit Kant lässt sich der Zweck als die Kausalität der Vorstellung verstehen. Wenn aber der Sinn nicht auf den Zweck reduzierbar ist, lässt sich mit größerem Recht die Ansicht vertreten, der Zweck sei in die Sphäre des Sinns erhobene Kausalität, wobei offenbleibt, ob dies die einzige Weise ist, wie Sinn Wirkung entfaltet. Im Anschluss an das Gesagte stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Sinn und Wert. Werte wie das Wahre, das Gute, das Schöne sind an sich selbst keine Zwecke und Ziele. Natürlich kann ihre Verwirklichung zum Ziel und Zweck menschlichen Handelns werden. Grundsätzlich jedoch bedeuten Werte nichts anderes, als dass das Seiende sinnvoll ist, und bezeichnen das, was ihm Sinn »gibt«: Das Wahre bedeutet, dass das Seiende verständlich und für Begreifen und Klärung zugänglich ist; das Schöne bedeutet, dass der Eintritt des Seienden in die menschliche Welt auf das Geheimnis des Seins als auf etwas stets Ergreifendes verweist; das Gute bedeutet, dass selbstverleugnende Güte und Gnade in der Welt möglich sind. Und ähnlich verhält es sich mit der gesamten Vielfalt von Werten, die unablässig an uns appellieren, die uns anziehen und abstoßen und die insgesamt »bewirken«, dass das Seiende kein gleichgültiges Faktum für uns ist, sondern uns »anspricht«, uns etwas sagt, der Gegenstand eines positiven oder negativen Interesses ist. »Wert« ist also nichts anderes als die Sinnhaftigkeit des Seienden, die ausgedrückt wird, als ginge es um etwas Selbständiges, als handelte es sich um irgendeine »Qualität« (wie der gängige Ausdruck lautete). In Wahrheit handelt es sich darum, dass sich uns nichts zeigen kann, es sei denn in einem sinnvollen und verständlichen Zusammenhang, im Rahmen unserer Offenheit für die Welt, einer Offenheit, die bedeutet, dass wir nie als gleichgültige Zuschauer und Zeugen auf der Welt sind, sondern dass das
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Sein-auf-der-Welt, unser Weltaufenthalt, das ist, worum es uns im ureigentlichen Sinne geht. In unserem Zusammenhang ist eine bestimmte Seite des Wertbegriffs wichtig, nämlich diejenige, die ihn als etwas Selbständiges präsentiert, als ein positives Seiendes, das unter allen Umständen das ist, was es ist. Die Idee des Schönen und die Idee des Guten bei Platon sind das, was alles Seiende in dem Maße, in dem es an ihnen Anteil hat, gut und schön macht. Das Seiende kann also als solches problematisch sein, nicht jedoch die Ideen. Die Sinnhaftigkeit des Seienden ist somit garantiert, auch wenn das einzelne Seiende einer Sinn-Entwertung anheimfallen kann. Die Sinnhaftigkeit des Seienden gilt ungebrochen, solange die Werte selbst unproblematisch bleiben, mögen sie nun so wie bei Platon als dasjenige verstanden werden, das dem Seienden Sinn gibt, oder wie in der vom Neuplatonismus beeinflussten christlichen Theologie aus der Vollkommenheit des Schöpfergottes hervorgehen. Solange der Wert als eine ewige Sinnquelle und die Idee oder Gott als dasjenige verstanden werden, was den Dingen sowie den menschlichen Taten und Ereignissen Sinn gibt, besteht weiter die Möglichkeit, die Erfahrung des Sinnverlusts nicht als einen Defekt dessen zu verstehen, das Sinn gibt, sondern dessen, dem Sinn gegeben wird. Dies ist ein Vorteil, der gegen den Sinn-Nihilismus Schutz bietet. Der Schwachpunkt besteht in der Notwendigkeit, auf metaphysische Begriffe rekurrieren zu müssen, während Sinn und Sinnverlust konkret erfahrene Phänomene sind. Auf die Metaphysik zu rekurrieren bedeutet, Sinn für etwas fertig Gegebenes zu erachten und sich der Frage nach seinem Ursprung (nicht in empirisch-zeitlichem, sondern in philosophisch-strukturellem Sinne) gänzlich zu begeben. Anders verhält es sich, wenn wir die Erfahrung des Sinnverlustes, die in unserem Leben zweifellos vorkommt, wirklich ernst nehmen. Diese Erfahrung verweist dann nicht nur auf unsere Unzulänglichkeit, auf unsere Unfähigkeit, den Sinn zu erfassen, ihn zu verstehen, sondern auf die radikale Möglichkeit, dass sich der Sinn gänzlich verlieren könnte, dass wir uns an seinem Nullpunkt wiederfinden könnten. Die Dinge haben nicht Sinn für sich selbst, sondern ihr Sinn setzt voraus, dass jemand »Sinn« für sie hat: Ursprünglich liegt der Sinn also nicht im Seienden, sondern in der Offenheit, in einem Verständnis, das ein Prozess, das eine Bewegung ist, die sich von
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der Bewegung, die unser Leben im Kern ist, nicht unterscheidet. Gewiss, die Dinge selbst sind es, die schön und wahr sind, aber sie sind es nicht für sich selbst: erst wir haben die Möglichkeit, sie zu dem Sinn in Beziehung zu bringen, der ihnen eignet, weil wir so beschaffen sind, dass das eigene Leben für uns selbst Sinn haben kann, während den Dingen solche Beziehung zu sich selbst nicht gegeben ist, für sie »keinen Sinn hat«. Wenn dies der Fall ist, sind dann nicht wir selbst es, die den Dingen Sinn verleihen? Ist nicht unsere Beziehung zu den Dingen auf dem Wege unserer Beziehung zu uns selbst »Sinngebung des Sinnlosen«? Wenn es eine Erfahrung der Sinnlosigkeit gibt, bedeutet das nicht, dass alles an uns und an der Offenheit liegt, die wir sind? Und wenn wir verschlossen sind, so dass uns »die Dinge nichts sagen«, schweigt dann nicht auch diese Sinngebung, zeigt sich die Welt dann nicht in Sinn-Nichtigkeit, in Sinnleere? Und wenn sich zeigen lässt, dass diese Erfahrung zugleich die Grundoffenheit für das Ganze unseres Lebens, für die Freiheit unserer Existenz ist, bedeutet das dann nicht umso mehr, dass der Ursprung alles Sinnes, sein Nullpunkt, in uns und in unserer Macht liegt? Doch der Gedanke, wir schafften den Sinn so, dass die Sinnhaftigkeit bzw. die Sinnleere des Seienden in unserer Macht stünden, steht im Widerspruch zum phänomenal begründeten Gedanken der Offenheit für das Seiende und seinen Sinn. Vor allem ist die Sinngebung keine Sache unseres Willens oder unserer Willkür. Sie ist nicht »unsere Sache«, es liegt nicht in unserer Verfügbarkeit, dass die Dinge unter bestimmten Umständen sinnlos erscheinen, und umgekehrt und korrelativ dazu, dass uns, wenn wir offen dafür sind, Sinn aus den Dingen anspricht. Wir sind nicht weniger für das Sinnvolle als für das Sinnlose offen, und es ist dasselbe Sein, das sich das eine Mal als sinnvoll und das andere Mal als sinnlos, als nichtssagend zeigt. Was bedeutet das anderes als die Fraglichkeit jedes Sinnes? Und was bedeutet diese Fraglichkeit wiederum anderes, als dass uns unsere Offenheit für die Dinge und Mitmenschen davor warnt, dem Hang nachzugeben, bestimmte Weisen von Sinnverständnis und den ihnen je zugehörigen Sinn zu verabsolutieren? An dieser Stelle scheinen nun einige Bemerkungen zum Verhältnis zwischen dem Begriff »Sinn« zu dem Begriff »Sein« angebracht. Zwischen beiden besteht eine weitreichende Analogie und zugleich ein tiefer Unterschied. Wie der Sinn hat auch das Sein die Eigenart,
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einerseits Seienden, die wesensmäßig nur im Bezug zu ihm möglich sind, zuzukommen, andererseits aber solchen Seienden, die eines solchen Bezugs wesensmäßig entbehren. Wie es die ursprünglich auf ihr eigenes Sein bezogenen Wesen sind, welche die bloß vorhandenen Dinge zu deren Sein in Beziehung bringen, indem sie die Dinge als etwas erfassen und anschließend über sie urteilen, so bringen diese für ihr Sein offenen Wesen die Dinge auch zu dem ihnen eigenen Sinn in Beziehung, indem sie die Dinge in ihrer Bedeutsamkeit erfassen, und zwar nicht nur ästhetisch-kontemplativ, sondern durch praktisches Handeln. Nun wurde allerdings phänomenologisch nachgewiesen, dass wir eine ausdrückliche Beziehung zum Sein nur gewinnen, indem die Dinge für uns ihre Bedeutsamkeit verlieren, indem sie also ihren »Sinn verlieren«. Die Sinnhaftigkeit der Dinge und unser ausdrücklicher Zugang zum Sein, die Enthüllung des Seins, würden sich so ausschließen. Das Sein träte erst da zutage, wo der Sinn endet, und wäre so etwas seinem Charakter nach Sinnloses. Wilhelm Weischedel hat gezeigt, dass Sinnhaftigkeit niemals als etwas Einzelnes möglich ist, als etwas, das diese oder jene Einzelheit unabhängig von sonstigen Zusammenhängen charakterisiert.2 Jeder Einzelsinn verweist auf einen Gesamtsinn, jeder relative auf einen absoluten Sinn. Weil der Sinn der Dinge von unserer Offenheit für die Dinge und ihrer Bedeutsamkeit unabtrennbar ist, lässt sich auch sagen, dass uns da, wo diese Offenheit fehlt, die Welt nicht ansprechen kann und infolgedessen menschliches Sein als Sein-auf-der-Welt nicht möglich ist. Ferner ergibt sich daraus, dass menschliches Leben nicht möglich ist ohne ein (sei es naives, sei es kritisch gewonnenes) Vertrauen in einen absoluten Sinn, in einen Gesamtsinn des Universums von Seiendem, Leben und Geschehen. Wo menschliches Leben mit der vollkommenen Sinnlosigkeit konfrontiert ist, bleibt ihm nichts anderes, als zu kapitulieren und sich selbst aufzugeben. Vilém Mrštík, der sich selbst das Leben nahm, spricht daher von »der furchtbaren Bewegungslosigkeit der Selbstmörder«.3 Die Antinomie von Sinn und Sinnlosigkeit, von Sinn [Vgl. Helmut Gollwitzer/Wilhelm Weischedel, Denken und Glauben, Stuttgart , S. -; ders., Der Gott der Philosophen, Bd. , München , S. .] [Vilém Mrštík (-), tschechischer Schriftsteller und Kritiker. Patočka bezieht sich hier auf den Roman Santa Lucia von .]
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und Sein scheint so darauf hinzudeuten, dass das Leben nur durch die ständige Illusion eines totalen Sinns möglich ist, die sich in bestimmten Erfahrungen eben als Illusion erweist. Zugleich würde sich zeigen, dass die Wahrheit grundsätzlich feindlich, in einer unversöhnlichen Opposition, in einem nicht zu befriedenden Kampf gegen das Leben steht. Wir wissen, dass der Kampf zwischen Wahrheit und Leben, wenn auch auf andere Weise philosophisch begründet, eine der wesentlichen Thesen Nietzsches ist. Bei Nietzsche allerdings bedeutet die Wahrheit gerade den absoluten Sinn, und dieser steht im Widerspruch zum Wesen des Seienden, das Wille zur Macht ist, ständiges Werden, weil Sich-selbst-Übersteigen, Leben. Trotz dieser Begriffsverschiedenheit lässt sich sagen, dass Nietzsche den Widerstreit zwischen dem Sein des Seienden und der Absolutheit des Sinns ahnte, auch wenn er gerade diesen absoluten Sinn als etwas dem Leben Feindliches, also aus unserer Perspektive falsch auslegt. Dieser Widerstreit ist für ihn ein Signal, das Symptom des Nihilismus, der Entwertung der höchsten Werte, des Verfalls dessen, was dem Leben bis dahin Sinn gegeben hat. Die Lösung dieser Situation liegt für ihn dann offensichtlich im Bekenntnis zum Nihilismus, darin, die Welt für sinnlos zu erklären im Namen des Lebens, das schöpferisch ist und infolgedessen vermag, einen Teil des Seienden so zu organisieren, dass es einen relativen Sinn bekommt. Wenn jedoch unsere obigen Analysen der Antinomie von Sein und Sinn, von Sinn und Nicht-Sinn richtig sind, dann ist die Lösung des Nihilismusproblems mit Hilfe eines relativen und partikularen Sinns nicht möglich, dann handelt es sich bei ihr um eine illusorische Lösung. Das Leben in seiner praktischen Entfaltung kann sich nicht auf einen relativen Sinn stützen, der auf Nicht-Sinn basiert, weil kein relativer Sinn dem Sinnlosen Sinn verleihen kann, sondern immer in die Sinnlosigkeit dessen, worauf er basiert, mitgerissen wird. Wahrhaftes Leben ist im vollkommenen Nihilismus, ist im Bewusstsein der Sinnlosigkeit des Ganzen nicht möglich, möglich wird es nur um den Preis von Illusionen. Die Thesen eines so verstandenen Nihilismus sind jedoch um nichts weniger dogmatisch als die Thesen eines naiv-ungebrochenen Sinnglaubens! Gründlich vollzogene Skepsis muss nicht nur Skepsis gegenüber der Skepsis beinhalten und so, wenigstens bis zum definitiven Beweis, zu einem Zustand der Ungegründetheit, zu einem
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Schwebezustand führen. Vielmehr ist es auch nötig, das Phänomen des verlorenen Sinns selbst zu befragen, was es eigentlich bedeute. In Heideggers Analyse der Grundbefindlichkeit der Angst finden wir, dass sich in der Angst die Möglichkeit und auch – wenn auch nur für einen Augenblick – die Wirklichkeit eröffnen, vor das Nichts gestellt zu sein. Warum nur für einen Augenblick? Weil die Angst nichts anderes als den Augenblick der Krise bedeutet, der notwendig entweder verlangt, zur Welt, und das heißt zu Sinn und Bedeutsamkeit, zurückzukehren oder sich in die »furchtbare Bewegungslosigkeit« der tiefen Langeweile schlechthin, ins taedium vitae, zu entfernen, aus dem es keinen Weg zurück gibt. Zurückzukehren zur Welt bedeutet jedoch, dass die Dinge nie mehr sein werden, was sie waren. Niemals wieder werden sie so unproblematisch, bruchlos sein, wie sie vormals erschienen. Es verhält sich mit ihnen ähnlich – und doch wieder anders – wie mit dem befreiten Höhlenbewohner bei Platon: Auch dieser muss zurückkehren, obwohl nicht ganz klar ist, warum. Hier dagegen leuchtet die Rückkehr ein, denn die Rückkehr bedeutet Leben. Aber das Ausbrechen aus der Gefangenschaft, aus der gewöhnlichen Voreingenommenheit, meint hier nicht die Entdeckung von etwas im ausgezeichneten Sinne Positivem, die Entdeckung ewiger und dadurch aller Relativität enthobener Wesenheiten, sondern die Entdeckung des Seins des Seienden jenseits der Grenzen alles Seienden und seiner Bedeutsamkeit, die Entdeckung des Seins, das nicht Seiendes, sondern aus der Perspektive des Seienden das bloße Nichts, das bloße Wunder ist – das Wunder-same, das Seiendes ist, das, was jenen »Schritt zurück« vor alles Seiende ermöglicht, aufgrund dessen das menschliche Leben ist, was es ist: die ständige Distanz gegenüber den seienden Dingen und die Möglichkeit, sich in diesem spatium und dank seiner auf sie zu beziehen. Die Erfahrung des Sinnverlusts durchzumachen bedeutet, dass der Sinn, zu dem wir eventuell zurückkehren, kein einfaches, in schlichter Ungebrochenheit dastehendes Faktum mehr ist, sondern ein reflektierter, nach Begründung suchender und sich rechtfertigender Sinn. Dementsprechend kann der Sinn niemals schlicht gegeben noch auf einfache Weise gewonnen sein. Ein neues Verhältnis, eine neue Weise des Bezugs auf das, was sinnvoll ist, entsteht: Sinn kann nur erscheinen in einer aktiven Suche, die einem Sinnmangel entspringt, das heißt als Fluchtpunkt der Fraglichkeit,
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als indirekte Epiphanie. Wenn wir uns nicht täuschen, dann entspricht diese suchende Sinn-Findung als neuer Lebensentwurf dem Sinn der sokratischen Existenz. Die ständige Erschütterung des naiven Sinnglaubens meint eine neue Art von Sinn, meint die Entdeckung, dass der Sinn und die Rätselhaftigkeit des Seins und des Seienden zusammenhängen. Nicht nur das individuelle Leben gelangt, wenn es die Erfahrung des Sinnverlustes durchmacht und aus ihr die Möglichkeit wie die Notwendigkeit eines vollkommen neuen Verhältnisses zwischen ihm selbst und allem übrigen ableitet, zu einer umfassenden »Konversion«. Es scheint durchaus möglich, dass das eigentliche Wesen der Zäsur, die wir als Trennlinie zwischen der vor-geschichtlichen und der eigentlich geschichtlichen Epoche vorschlagen möchten, in der Erschütterung der naiven Sinngewissheit liegt, die das menschliche Leben beherrscht – bis zu jener spezifischen Transformation, welche die fast gleichzeitige – und in tieferem Sinne tatsächlich gleichursprüngliche – Entstehung von Politik und Philosophie bedeutet. Nicht dass die vor-geschichtliche Menschheit in ihrer Bestimmung dessen, was sinnhaft ist, anspruchsvoll wäre – im Gegenteil, sie ist in der Bewertung des Menschen und des menschlichen Lebens bescheiden, die Welt ist für sie in gewisser Weise in Ordnung und gerechtfertigt – die Sterblichkeitserfahrung oder die Erfahrung von gesellschaftlichen oder Naturkatastrophen erschüttert sie nicht, es genügt für die Sinnhaftigkeit ihrer Welt, dass sich die Götter für sich selbst das Beste reserviert haben: Ewigkeit im Sinne von Unsterblichkeit. Dem Wert des Universums gereicht ebenso wenig zum Nachteil, dass es in ihm Tod, Schmerz und Leiden gibt, wie es auch nicht stört, dass die Tiere und Pflanzen in ihm vergehen, dass alle Dinge dem Rhythmus von Werden und Vergehen unterliegen. Das schließt im Extremfall nicht das Gefühl der Todespanik aus, so etwa wenn sich ein Mensch angesichts des toten Freundes bewusst wird, dass ihn dasselbe erwartet. Doch die Suche nach einem anderen Sinn, zum Beispiel nach dem ewigen Leben, ist allenfalls Sache eines Halbgottes, keine im eigentlichen Sinne menschliche Angelegenheit. Der Mensch – der wirkliche Mensch – kehrt von solchen Abenteuern in seine menschliche Umgebung zurück, zu Frau und Kindern, zu seinen Rebstöcken und seinem Herd, in den eng bemessenen Rhythmus seines Lebens, das in den großen Wogenschlag
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eingefügt ist, in dem ganz andere Wesenheiten und Mächte herrschen und entscheiden. Die »Sache des Menschen« liegt in der Sorge für das eigene Leben und das der Nächsten, sie liegt in dem, was dem Menschen seine Einbindung in den ständigen Lebenserhalt suggeriert, sie liegt in der Bescheidenheit, die den Menschen lehrt, sich mit dem Los des Dienstes am Leben und mit der Mühsal nie endender Arbeit zu versöhnen. Um diesen Preis kann der Mensch in Frieden mit der Welt leben und sein Leben statt für sinnlos für bloß exzentrisch gegenüber dem halten, was über ihn entscheidet, für »natürlich« sinnhaft wie das Leben der Blumen auf dem Feld und der Tiere im Wald. Für die eigentlichen kosmischen Wesen wäre die Welt ohne die Belebung von Pflanzen und Tieren ebenso arm und freudlos wie ohne Menschen. Das sagen die Götter selbst, als sie sich über die Verheerung entsetzen, die sie mit der Sintflut über die Welt gebracht haben. Die Geschichte unterscheidet sich von der vor-geschichtlichen Epoche durch die Erschütterung dieses akzeptierten Sinns. Wenn wir fragen, wodurch diese Erschütterung bewirkt wurde, ist die Frage falsch und ebenso vergeblich gestellt, als wenn wir fragten, wodurch bewirkt werde, dass der Mensch die Geborgenheit der Kindheit hinter sich lässt und zum verantwortungsvollen Erwachsenen wird. Der Mensch der vor-geschichtlichen Epoche zieht sich qua Selbstbescheidung ähnlich in den akzeptierten Frieden mit dem Universum zurück (und hierfür ist die Panik des Gilgamesch angesichts des Todes seines Freundes ein Zeugnis), wie sich ein Heranwachsender in die Sicherheit des Infantilismus zurückziehen mag. Die Möglichkeit der Erschütterung schwebt über ihm, aber er schlägt sie aus. Er gibt seiner bescheidenen Eingliederung ins Universum den Vorzug, und dem entspricht auch seine Existenz im Schoße einer Gemeinschaft, die sich nicht gegen das Universum und die es beherrschenden Kräfte absetzt. Auch dasjenige, das, oder besser gesagt derjenige, der über das Reich der Menschen herrscht, ist göttlicher Natur, und die Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes sind zu seinem Dienst bestimmt. Im Gegenzug erhalten sie von ihm und durch seine Vermittlung all das, was sie körperlich und als Sinn zu ihrer Existenz brauchen. Es gibt keinen spezifisch menschlichen Bereich des Seienden, der dem Menschen und seinem Bestreben, für sich selbst verantwortlich zu sein, vorbehalten wäre, und schon gar nicht ein »Reich des Menschen«. Dort also, wo sich die Men
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schen an der Schaffung eines solchen Spatiums versuchen, kann sich die Bescheidenheit des akzeptierten Sinns, die den bisherigen Menschen charakterisiert hat, nicht mehr halten. Indem der Mensch für sich selbst und für die anderen Verantwortung übernimmt, stellt er die Sinnfrage implizit neu und anders. Mit der Bindung des Lebens an sich selbst, mit der Lebensfristung als durchgängigem Inhalt, mit der Arbeit im »Schweiße seines Angesichts« als dem Los eines Wesens, dessen Sinn Episodenhaftigkeit und Unterordnung sind, gibt er sich nicht mehr zufrieden. Die ursprüngliche Erschütterung des akzeptierten Sinns meint infolgedessen nicht den Fall in die Sinnlosigkeit, sondern im Gegenteil die Entdeckung der Möglichkeit, zu einem freieren und anspruchsvolleren Sinn zu kommen. Damit im Zusammenhang steht dann das ausdrückliche Staunen über das Seiende im Ganzen, über die wunder-same Tatsache, dass das Universum ist, jenes Staunen, in dem den alten Philosophen zufolge das eigentliche Pathos und der Ursprung der Philosophie liegen. Menschen, die nicht in der Bescheidenheit des passiv akzeptierten Sinns verbleiben, können sich nicht mehr mit der Rolle zufriedengeben, die ihnen dieser Sinn auferlegt hat. Dazu gehört wesentlich auch die besagte neue Möglichkeit, sich auf Sein und Sinn zu beziehen, und die Philosophie ist nichts anderes als diese Möglichkeit eines Bezugs, der nicht auf fertigen, im Voraus akzeptierten Antworten, sondern im fragenden Suchen gründet. Das fragende Suchen setzt jedoch die Erfahrung der Rätselhaftigkeit, der Fraglichkeit voraus, und diese Erfahrung, der die vor-geschichtliche Menschheit ausweicht und angesichts derer sie sich lieber in die wahrheitsschwangeren Tiefen des Mythos versenkt, kommt in Gestalt der Philosophie zur Entfaltung. So wie sich der Mensch im politischen Handeln der Fraglichkeit aussetzt, insofern die Ergebnisse seines Handelns für ihn unabsehbar sind und jede von ihm ergriffene Initiative sofort in fremde Hände fällt, so setzt sich der Mensch in der Philosophie der Fraglichkeit des Seins und des Sinns alles Seienden aus. In der geschichtlichen Epoche weicht die Menschheit der Fraglichkeit also nicht aus, sondern fordert sie geradezu heraus und verspricht sich von ihr den Zugang zu einer tieferen Sinndimension des Lebens als sie der vor-geschichtlichen Menschheit zu eigen war. In der Gemeinde, der polis, in dem der Gemeinde gewidmeten Leben, dem politischen Leben, bildet die Menschheit den Raum
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für einen autonomen und rein menschlichen Sinn, für den Sinn eines sich in gegenseitiger Anerkennung vollziehenden Handelns und Wirkens, das für all seine Beteiligten Bedeutung trägt und sich nicht auf den rein körperlichen Lebenserhalt beschränkt, sondern der Quell ist für ein Leben, das sich im Gedächtnis an die vollbrachten Taten (das eben von der Gemeinde garantiert wird) übersteigt. Ein solches Leben ist in vieler Hinsicht riskanter und gefährlicher als das Leben in vegetativer Selbstbescheidung, das die vor-geschichtliche Menschheit ausmacht. Und ebenso ist das ausdrücklich fragende Suchen, das die Philosophie ausmacht, riskanter als das ratende Eintauchen in den Mythos. Es ist riskanter, weil es sich – ebenso wie im Fall des Handelns, der Initiative, deren sich der Handelnde in demselben Augenblick begibt, in dem er sie ausdrücklich ergriffen hat – nie endenden Meinungsstreitigkeiten ausliefert, die die ursprünglichen Intentionen der einzelnen Denker ins Ungeahnte und Unvorhersehbare führen. Es ist riskanter, weil es das gesamte Leben, das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft, in einen Bereich der Sinnveränderung zieht, in einen Bereich, innerhalb dessen sich das Leben insgesamt in seiner Verfassung, weil in seinem Sinn, verändern muss. Eben das und nichts anderes bedeutet Geschichte. Die Philosophie hat den bescheidenen Sinn des eng bemessenen, von der Faszination des leiblichen Lebens und seiner Fesselung an sich selbst diktierten Lebensrhythmus nicht erschüttert, um den Menschen ärmer, sondern mit dem Willen, ihn reicher zu machen. Sie ruft den Menschen auf, sich des akzeptierten Sinns zu entledigen, um sich zu demjenigen zu erheben, das von jeher dem All des Seienden und ihm selbst wie allen anderen abhängigen Wesen, den Pflanzen und sonstigen Lebewesen, Sinn verliehen und über den Sinn der Dinge entschieden hat, weil es unvergänglich und somit göttlich ist. Die Philosophie bietet eine neue Form des Unvergänglichen – nicht nur Beständigkeit, Unsterblichkeit, Kontinuität, wie sie den Göttern zu eigen sind, sondern Ewigkeit. Die Ewigkeit zeigt sich der Philosophie zunächst in Gestalt jenes Unvergänglichen, das die physis ist. Aus der physis hat alles Seiende sein Entstehen und Vergehen, sein Aufblühen und seinen Verfall, sein Aufleuchten und Wiederverlöschen. Zur Nacht der physis gehört das Dämmern des Kosmos, der Ordnung der Dinge, welches das Geheimnis von Sein und Seiendem nicht abschwächt, sondern hervorhebt. Aber
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so, wie dem Leben der freien polis nur eine kurze Frist gegönnt ist, sich dem eigenen Wesen entsprechend frei und kühn zu entfalten, mit furchtlos ins Unbekannte gerichtetem Blick, so wird auch die Philosophie, die sich ihres Zusammenhangs mit dem Problem der Gemeinde bewusst ist und in Ansätzen deren Gefährdung und Ende spürt, durch ihr Streben nach einer definitiven und neuen Sinngebung dahin geführt, im Dunklen nur den Lichtmangel und in der Nacht nur die Schwächung des Tages zu sehen – sie wird, in der durchgängigen Klarheit alle Anschauung durchziehender, endgültiger Sicherheit, zu einer Theorie des Seienden, die den Sinn des Seienden neu und definitiv erschöpft. In dem Moment, in dem der Untergang der polis entschieden ist, formt sich die Philosophie zu dem um, was für Jahrtausende ihre Gestalt sein wird, sie wird bei Platon und Demokrit Metaphysik – Metaphysik in zweifacher Form: Metaphysik von oben und Metaphysik von unten, Metaphysik des logos und der Idee einerseits, Metaphysik der Dinge in ihrer reinen Dinglichkeit andererseits, beides mit dem Anspruch auf definitive Klarheit und letztgültige Auslegung der Dinge, beides gestützt auf jenes Vorbild gedanklicher Klarheit, das die Entdeckung der Mathematik (als letztlich den Keim der zukünftigen Umwandlung der Philosophie in Wissenschaft) vorstellte. Mit diesem mathematischen Motiv eines Maßstabs dafür, was ein für alle Mal und unter welchen Umständen auch immer für jeden eine klar einsehbare Wahrheit ist, steht das platonische Motiv des chorismos in Verbindung. Chorismos bedeutet Trennung, bedeutet den Abgrund zwischen der wahren, dem genauen und strengen Blick der Vernunft zugänglichen Welt und der ungenauen, sinnlich erscheinenden, nicht im strengen Sinne erfassbaren Welt dessen, was die alltägliche Erfahrung zur einzigen Wirklichkeit erklärt – unsere Umgebung, die uns umgebende Welt. Diese auf den ersten Blick seltsame und bizarre Ansicht, die eine Wirklichkeit für die wahre erklärt, von welcher der gesunde Menschenverstand und die überwiegende Mehrheit der Menschen überhaupt nichts wissen, ist tatsächlich eines der historisch wirkmächtigsten metaphysischen Motive, ohne das es nicht nur solche mittlerweile umstrittenen Disziplinen wie die Theologie, sondern auch die gesamte moderne Wissenschaft, insbesondere die Naturwissenschaft und all die weitreichenden, auf sie gründenden Anwendungen nicht gäbe. Man kann sogar sagen, dass Platon gerade durch diesen Gedanken
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Demokrit überragt und hinter sich lässt. Allem Anschein entgegen folgt die moderne Wissenschaft eher Platon als Demokrit. Für die historische Entwicklung ist jedoch an erster Stelle die Dualität bedeutsam, für die Gestalten wie Platon und Demokrit stehen. Sie besagt, dass die Metaphysik nicht nur eine einzige, sondern bereits seit ihrem Entstehen zwei Ausformungen kennt, denen sich bald schon eine dritte, von ihnen wesentlich verschiedene beigesellt, nämlich die aristotelische. Die Philosophie in ihrer metaphysischen Gestalt schüttelt so zwar das Geheimnis ab, das der Ausgangspunkt der Erschütterung war, aus der sie entstanden ist – sie wird von ihm jedoch in Gestalt des Rätsels der Pluralität der metaphysischen Konzepte, in Gestalt der grundsätzlich verschiedenen Auffassungen vom Charakter des Seienden als solchen wieder eingeholt. Den engen Zusammenhang zwischen der metaphysischen Philosophie und der Politik dokumentiert Platons Lehre, indem sie es sich zur vorrangigen Aufgabe macht, ein Gemeinwesen zu konstruieren, in dem Philosophen (also Menschen, die beschlossen haben, ein auf Wahrhaftigkeit basierendes Leben zu führen) leben können, ohne dabei in einen Konflikt mit ihm zu geraten, der für sie selbst wie für die Gemeinde tödlich wäre. Aristoteles liefert in der Folge die erste gedankliche Begründung der Politik auf der Basis der polis. Gleichwohl ist es das Verdienst Platons, dass auch da, wo im westlichen Lebenszusammenhang diese Basis wegfällt – wie es im Hellenismus und beim Übergang der römischen civitas ins Prinzipat geschieht – der Staat etwas bleibt, das von der übrigen Welt durch eine scharf gezogene Grenze geschieden ist. Denn der Staat wird weiter im Kontext der »wahren« Welt stehen und aus ihr seine Institutionen und Unternehmungen sanktionieren. Dass es die Philosophie nicht vermag, dem Menschen einen höheren, durchwegs positiven, bruchlosen und unmittelbar verständlichen Lebenssinn bar all jener Rätselhaftigkeit zu geben, zu der die Erschütterung des ursprünglichen, bescheidenen Sinns führt, und dass die Metaphysik irreführend ist, dass sie statt zum versprochenen oder erhofften Positiven zu Unsicherheit führt, ist eine Erfahrung, die sich mit großer Vehemenz gerade in Zeiten durchsetzt, in denen der Mensch den praktischen Sinn seiner Existenz in der Gemeinde verloren hat und sich nach innen wendet, um dort zu finden, was ihm das Leben in der Gemeinde – und das
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heißt zugleich: im Kosmos, von dem die Gemeinde der dem Menschen zugewiesene Teil und das autonome Abbild ist – verwehrt hat. Zwischen Mensch und Kosmos bildet sich so eine Wand aus Misstrauen, die auch die Philosophie als das Organ der Sinnhaftigkeit betrifft. Die Bedeutung der christlichen Erfahrung liegt dabei geschichtlich in Folgendem: Wozu die philosophische Wissenschaft mit ihrem Anspruch auf eine feste episteme nicht imstande ist (und was ihr auch von der Skepsis abgesprochen wird), was der Mensch trotz größter Anstrengung nicht vermag, das ist Gott ein Leichtes, und der Glaube, das Angesprochenwerden des Menschen durch das Wort Gottes und die Antwort auf dieses Wort, lässt die Beziehung zum Kosmos zweitrangig und zuletzt bedeutungslos werden. Dabei stört es die christliche Theologie nicht, dass sich die Deutung dieses Angesprochenwerdens des Menschen durch Gott in der Sphäre des transzendentalen chorismos abspielt, den einst und zu einem ganz anderen Zweck die platonische Metaphysik geschaffen hatte. Die göttliche Transzendenz, deren gedankliche Grundlage ohne Zweifel nicht aus dem Ideenschatz Israels stammt, ist ein Erbe der »wahren Welt«, die Platons Schöpfung war und die von Aristoteles theologisch umgeformt wurde. Der christliche Glaube besteht in einem Sinn, der zwar vom Menschen gesucht wird, den er aber nicht autonom findet, sondern der ihm aus der jenseitigen Welt diktiert wird. Zum christlichen Glauben gehört daher auch wesentlich etwas, das im griechischen Leben in dieser Form nicht vorkommt, nämlich das Bewusstsein von der Not des Menschen, der als solcher nicht dazu imstande ist, Sinn zu schaffen und sich selbst Sinn zu geben – ein Element, das die christliche Sichtweise mit der alten Skepsis gemein hat, jedoch in radikalerer Gestalt und ohne die für die Skepsis charakteristische Resignation. Auge in Auge mit der menschlichen Not gibt der christliche Mensch den Sinn, und zwar den absoluten und umfassenden Sinn, nicht auf, sondern behauptet ihn umso nachdrücklicher, je deutlicher sich ihm die Not darbietet. Die Sinnfrage wird also positiv gelöst, indem die Philosophie zurückgesetzt und die Skepsis durch das Wort aus der anderen, unzugänglichen »wahren« Welt eingedämmt wird. Auf diesem Boden entsteht einerseits eine neue Gemeinschaft, andererseits ein neuer erkenntnismäßiger Umgang mit dem Universum all dessen, was ist. Eine neue Gemeinde, die freilich nicht mehr durchwegs menschliches Werk ist, an der sich die Menschen aber gleichwohl frei betei
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ligen: eine Gemeinschaft nicht nur der Menschen untereinander, die sich als Teilhaber an einem Prozess gegenseitiger Anerkennung das eigene ideelle Überdauern im ruhmreichen Gedächtnis verbürgen – sondern eine Gemeinschaft mit Gott, der ihr ewiges Gedächtnis ist und in dessen Blick sie geistige Wesen sind; eine Gemeinde, in der die Menschen, ungeachtet aller Hierarchien, vor dem Angesicht der letzten »wahren« Wirklichkeit gleich sind und so erst wirklich am Sinn teilhaben, an einem Sinn, den sie nicht geschaffen haben, zu dessen Verwirklichung sie aber beitragen müssen. Dieses Konzept der neuen Gemeinde bietet natürlich eine Fülle von Möglichkeiten zu seiner historischen Ausformung. In ihrer ältesten Gestalt löst die neue Gemeinde das sittliche Dilemma des Römischen Reiches, dessen Existenz ebenso wie das Leben in ihm und die Verpflichtungen ihm gegenüber nach einer höheren, absoluten Sanktion verlangten. Das konstantinische Modell stellt nur eine dieser Möglichkeiten dar. Hier decken sich die weltliche und die geistige Welt in einer Weise, dass der ciceronische Gedanke, der beste Staat, der Staat des »wahren Wesens«, und die römische res publica seien ein und dasselbe, auf der Grundlage einer neuen Dogmatik und auf der Ebene des römischen Voluntarismus eine monumentale Verwirklichung erfährt. Allerdings ist diese Möglichkeit so beschaffen, dass ihre Folgen, wenn auch in »säkularer« Gestalt, bis auf den heutigen Tag wirken. Nicht einmal dem Islam ist die Idee einer heiligen Gemeinde des wahren Seienden fremd, wenigstens nicht in den Köpfen einiger seiner philosophischen Hauptvertreter, die das Konzept der Prophetie und deren Beziehung zum Reich des arabischen Gesetzes wiederum in Beziehung zu Platons Lehre vom Philosophenherrscher zu bringen versuchen (al-Farabi, Avicenna). Am bedeutendsten und reichsten in seinen Folgen jedoch blüht diese Thematik im Kontext des abendländischen Mittelalters auf, wo sie eine eigene Problematik darstellt, um die sich Protagonisten aus dem politischen und geistigen Leben bemühen. Der reale Rahmen für ein sinnvolles Leben ist hier nicht mehr so einfach gegeben wie der weltliche Staat für den Römer der späten Kaiserzeit oder wie das von seinem Gesetz bestimmte Reich für den Islam. Das Verhältnis zwischen der irdischen und der wahren Gemeinde nimmt im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Gestalt an, wobei diese Ausformungen gleichwohl in einem wesentlich gleich bleibenden
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Glauben gründen (auch wenn sich die jeweiligen Auffassungen vom Verhältnis des Glaubens zu den anderen »natürlichen« Kräften und Seiten des Menschen unterscheiden mögen). Es ist hier daher nötig, den neuen Ort und die Bedeutung zu verstehen, die die Metaphysik im System des christlichen Glaubens und der christlichen Dogmatik bekommt. Die Metaphysik ist nicht länger der Ort, an dem man nach dem Sinn des Universums sucht und ihn autonom zu finden meint. Vielmehr erhalten das metaphysische Denken und das metaphysische Fragen nunmehr in dem Rahmen, der durch den Glauben vorgezeichnet und garantiert ist, den Sinn, ein Verständnis dafür zu vermitteln, was der Glaube gibt. Die Verstandeserkenntnis erreicht so die transzendenten Ziele ohne Furcht, sich zu verirren, und zugleich kann sie sich auf alle Abenteuer der Spekulation einlassen, ohne in skeptizistische Gefilde zu geraten, wo sie die Sinnlosigkeit erwartet. Der Verstand als das natürliche Organ zur Wahrheitserkenntnis hat so zwar seine Führungsposition im Leben verloren, aber die Auffassung scheint vertretbar, dass er dadurch sogar gewinnt: er gewinnt festen Boden unter den Füßen, er gewinnt an Sicherheit und damit an Kühnheit. Das mittelalterliche Universum ist zunächst unter dem Einfluss der antiken Konzeption durch einen endlichen Raum charakterisiert, aber es tendiert zur räumlichen Unendlichkeit; dafür ist es der Zeit nach wesentlich endlich, seine Zeit leitet sich aus der Heilsgeschichte ab, die zur mittelalterlichen Auffassung des Sinns von Leben und Geschichte (einer Geschichte, die in Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Gericht beschlossen liegt) unabdingbar dazu gehört. An diese christliche Auffassung vom Sinn der Geschichte und des Universums hat sich die europäische Menschheit in solchem Maße gewöhnt, dass es ihr nicht einmal da gelingt, sich von ihr zu befreien, wo für sie die christlichen Grundbegriffe von Gott als Schöpfer, Erlöser und Richter ihre Bedeutung verloren haben. Sinn sucht sie nach wie vor in einem christlichen Konzept, das säkularisiert wurde, indem der Mensch oder die Menschheit an die Stelle Gottes getreten sind. Karl Löwith, der eindrücklich darauf aufmerksam gemacht hat, dass der antike Kosmos als Sinnquelle in der christlichen Ära durch die Annäherung zwischen Gott und Mensch ersetzt wird, sieht in dieser auch für die moderne Zeit
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gültigen Geschichtsgebundenheit alles Sinns eine der Quellen der modernen Verzweiflung am Sinn.4 Wenn die Geschichte nämlich der Ort des Sinns ist, dann heißt sich auf sie zu stützen so viel wie sich bei Schiffbruch an den Wellen festhalten zu wollen. Ein anderer christlicher Ursprung des Nihilismus liegt Löwith zufolge im Bezug zur Natur als dem Bereich der Dinge, die dem Menschen zur Verfügung gestellt sind, um über sie zu herrschen und sie zu verwalten. Dieser Gedanke, der ursprünglich die Sorge des Menschen für die ihm anvertrauten Dinge meinte, wird in der Moderne zur Doktrin der Beherrschung und Ausbeutung der Naturschätze ohne jede Rücksicht nicht nur auf die Natur, sondern auch auf künftige Menschengenerationen. Das Wichtigste ist jedoch, dass die Natur für den christlichen Menschen nicht mehr notwendig jenes Konkretum ist, in das er eingetaucht ist und zu dem er gehört (als eine der wesentlichen Stellen, an denen ihr geheimnisvolles Wesen offenbar wird), sondern dass sie, insbesondere seit der Zeit des Nominalismus, ein Gegenstand der Ableitung und Konstruktion ist. Die Natur ist uns nicht gegeben und offenbar, sondern sie ist uns fern und fremd, wir müssen sie erst mit den Mitteln des eigenen Geistes ableiten. Der Ort von Sinn und Sein ist Gott in seiner Beziehung zur menschlichen Seele. Die Natur dagegen ist der Ort kalter, abstrakter Überlegungen. Daher schließt der moderne Mensch in der Frage der Natur nicht an die Antike an, und vor allem nicht an die griechische Antike mit ihrer ästhetischen Geometrieauffassung, sondern an die christliche Sichtweise mit ihrer kühlen Distanz und ihrem Misstrauen. In der letzten Phase der christlichen Sicht auf die Natur wird die Nähe Gottes zur menschlichen Seele als die Garantie Gottes für das aufgefasst, was fortan als das Hauptinteresse aktuell wird (und für die maßgeblichen Denker eigentlich schon geworden ist): für eine Auffassung der Natur, welche sie weniger zu betrachten als mathematisch einsichtig zu berechnen erlaubt. Das Interesse an der Natur als solcher, als eigenständigem Seienden, schwindet, sie hört auf, Gegenstand der Betrachtung zu sein, und wird etwas Formales – der Gegenstand der mathematischen Naturwissenschaft. In der mathematischen Naturwissenschaft ist die Natur nicht das, [Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Sämtliche Schriften, Bd. , hg. von Klaus Stichweh, Marc B. de Launay, Bernd Lutz und Henning Ritter, Stuttgart .]
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was sich von sich selbst her zeigt, sie ist nicht Phänomen, sondern Gegenstand der Konstruktion und des Experiments. Die Natur wird so in den Rahmen streng definierter Antizipationen gestellt, die als solche unrealisierbar sind, aber eine Berechnung erlauben. Nirgendwo in der Natur lässt sich die Trägheitskraft im strengen Sinne feststellen, und dennoch gilt in der Natur das Trägheitsprinzip und wäre eine exakte Kinematik ohne es undenkbar. Hieraus sowie in Anbetracht der ungeheuren, an Wunder grenzenden Erfolge der mathematischen Methode in der Physik und überhaupt in den Naturwissenschaften resultiert ein neuer, zugleich nüchterner und mutiger Blick auf das Wirklichkeitsganze, ein Blick, der kein anderes Seiendes anerkennt als dasjenige, zu dem er qua mathematischer Rekonstruktion der Sinneswelt, in der wir uns »natürlich« bewegen, gelangt ist. Nicht ohne den Beitrag der christlichen Sinnkonzeption entsteht so im Schoße der westeuropäischen Gesellschaften eine vom Christentum genährte Wirklichkeitsauffassung, die sich nicht nur allmählich von dem eigentlichen Ursprung des christlichen Sinns abkehrt und für die Begriffe wie Gott, Schöpfer, Sündenfall oder Erlösung keinen Sinn haben, sondern die nach und nach zu einem vollständigen Auseinanderfallen von Wirklichkeit und Sinn führt: die Wirklichkeit im eigentlichen Sinne des Wortes, die Wirklichkeit des effizienten Wissens ist bar jedes Sinnes, ist sinn-los. Durch ihre Anwendungsmöglichkeiten und ihre Effizienz in den verschiedensten Lebensbereichen wurde die mathematische Naturwissenschaft ein Bestandteil unserer heutigen Gegenwart, ohne den wir nicht leben könnten. Nicht ohne sie leben zu können, und zwar im physischen Sinne, heißt jedoch noch nicht, dass es uns gelingen könnte, mit ihr und ausschließlich auf ihrer Grundlage zu leben. Wenn Weischedel mit seiner These Recht hat, dass es sich im Bewusstsein vollkommener Sinnlosigkeit wortwörtlich physisch nicht leben lässt, und wenn die mathematische Naturwissenschaft jenes Stils, der sich in den letzten drei Jahrhunderten, seit den Anfängen des modernen Mechanizismus, herausgebildet hat, gegenwärtig für eine weiterhin wachsende Anzahl von Menschen zur Norm des Seienden wird, dann wird verständlich, dass unser Leben bei allem Anwachsen der für es erforderlichen Mittel nicht nur leer, sondern verheerenden Kräften preisgegeben ist. Husserl hat in seiner großen Arbeit über die Krisis der modernen Wissenschaften gezeigt, inwiefern im Falle des modernen Menschen
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die Mathematik durch ihren formalen und sich zunehmend auf die bloße Form und Struktur konzentrierenden Stil dort, wo sich der methodische Charakter ihrer naturwissenschaftlichen Anwendung nicht mehr klar durchschauen lässt, unweigerlich zur Auflösung aller konkreten Anschaulichkeit in einen bloßen Dunst von Formeln führt.5 Die Naturwissenschaft ist Nihilismus der Natur, wenn sie zur rein faktologischen Disziplin unverständlicher, wenn auch leicht zu manipulierender Fakten wird. Eine solche Wissenschaft kann sich nicht selbst als sinnvolle Tätigkeit begründen, sie bezieht ihren Sinn unweigerlich woandersher, von außen, aus dem »sozialen Auftrag«, der, wie man weiß, als Sinninstanz zumindest zweifelhaft ist, wenn er nicht gar von demselben Nihilismus zeugt, für den die in der »beauftragenden« Gesellschaft dominierende Wissenschaft selbst ein Symptom ist. Die mathematische Naturwissenschaft als Disziplin wie auch als Vorbild für jede Verwissenschaftlichung ist – oder war bis vor Kurzem – eine der Hauptbastionen des modernen Nihilismus. Husserl beschreibt eher ihre negative Seite, die Weise, in der sie die natürliche Wirklichkeit zersetzt. Demgegenüber gibt es aber auch die ungeheure Effizienz dieser Technowissenschaft, unter deren Blick die Wirklichkeit offenbar zu einem nach Belieben nutzbaren Reservoir von Kräften und Wirkzusammenhängen wird. Dieses Netz von Wirkzusammenhängen, diese Er-fassung spart den Menschen nicht aus, er fungiert im Netz als Akkumulator und Relais. Daher bietet auch die Gesellschaft das Bild von Mobilisierungsund Akkumulierungsprozessen, die sich in der Folge in ungeheuren Konflagrationen entladen, die zu immer umfassenderen, letztlich planetarisch-universalen Kräftekonstellationen führen. Vertreter des wissenschaftlichen Lebens empören sich oft über den »Missbrauch der Wissenschaft« in der heutigen Zeit. Tatsächlich jedoch kann eine Wissenschaft, die ihres inneren Sinns verlustig gegangen ist, nicht etwas reklamieren, dessen sie sich selbst entledigt hat. Mit ihren eigenen Augen gesehen und an ihren eigenen Maßstäben gemessen, ist dieser »Missbrauch« – in Wirklichkeit meint er eine relative, und also sinn-lose Sinnstiftung – etwas Legitimes. Nicht nur die Einzelnen, sondern ganze Gesellschaften setzen [Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana, Bd. VI, Den Haag .]
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sich heute gegen die Sinnlosigkeit mit Derivaten des alten, christlichen Sinns zur Wehr. Um solche handelt es sich etwa bei unseren geschichtsphilosophischen Konzeptionen, von denen die meisten Totgeburten sind, etwa die Religion der Humanität Comtes oder Durkheims animistischer Pantheismus oder Konzeptionen, die den Sinn mit Trotz und Gewalt dort suchen, wo er ex datis nicht sein kann, wie der Marxismus – nicht als kritische Gesellschaftswissenschaft, sondern als die »heilige« Doktrin neuer, umgeschmolzener und aggressiver Gesellschaften, die aus der nagenden Skepsis der alten Gesellschaften Nutzen ziehen. Diese Doktrin gründet auf Feuerbachs Materialismus und teilt mit ihm die Zweideutigkeit des Materialismusbegriffs: Entweder ist die »Materie« im Sinne der modernen Wissenschaft als etwas wesentlich Sinn-loses oder Sinnleeres aufzufassen, womit dann die Unterteilung der Wirklichkeit in eine real wirksame materielle Grundlage und in eine sekundäre, eigentlich nur aufgrund von konzeptueller Inkonsequenz wirksame Ideologie korrespondieren würde. Oder die Materie ist nach dem Vorbild des alten Hylozoismus zu verstehen, was dann aber keine konstruktiv-dialektische Methode wäre, sondern ein Vertrauen in die Dinge als solche, also eine ganz andere philosophisch-wissenschaftliche Zielsetzung und eine ganz andere Einstellungs- und Zugangsweise zur Welt bedeuten würde. In Wirklichkeit wird hier unbewusst jene Widersinnigkeit Nietzsches praktiziert, die in dem Rezept besteht, den Sinn, wenn es ihn denn nicht gibt, dadurch zu schaffen, dass wir jenen Teil der Welt organisieren, der uns zugänglich ist.6 Weischedels Betrachtungen zu den verschiedenen Stufen von Sinn rücken diese Widersinnigkeit ins helle Licht: Jeder Einzelsinn setzt, wenn er wirklich Sinn sein soll, einen totalen und absoluten Sinn voraus, ein relativer und partikularer Sinn aber kann niemals einem Ganzen Sinn geben, weil ein partikularer Sinn mit Sinnlosigkeit zusammen bestehen, ja ihr Produkt sein kann, während nur der totale Sinn davor bewahren kann, dass alles Einzelne in Sinnlosigkeit versinkt. Die schrecklichste Erfahrung von Sinnlosigkeit ist vielleicht jene, die der Anblick vernichteter partikularer Sinngehalte, des Untergangs ganzer, über Generationen errichteter gesellschaftlicher und geistiger Welten bietet. Und wenn [Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe), hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/München , Bd. , Nachgelassene Fragmente. Herbst bis März , S. .]
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ein weiterer Gedanke Weischedels zutrifft, den wir weiter oben zu begründen versuchten, indem wir seinen phänomenalen Ursprung in der (wie wir sie nennen möchten) scheinbaren Antinomie von Leben und Sein aufdeckten, dass nämlich Handeln und Leben ohne das Bewusstsein von Sinnhaftigkeit nicht möglich sind, dann enthält dies auch eine Erklärung dafür, warum, bei aller wachsenden Akkumulation von Kräften und Mitteln, unser Leben in die Katastrophen des Weltbrandes oder (was aber hinsichtlich der Frage der Sinnlosigkeit im Wesentlichen auf dasselbe hinausläuft) der Kapitulation führt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum eben in der planetarischen Epoche – der Epoche, in der Europa mit innerer geschichtlicher Notwendigkeit und durch sein Versinken in Sinnlosigkeit aus dem Zentrum der Geschichte abtritt – die Anonymität des Nihilismus herrscht und alle krampfhaft gehegten Hoffnungen samt den ihnen zugehörigen Philosophien erstickt. In ihrer Polarisierung wirkt die heutige Welt manchmal wie das Kampffeld eines doppelten Nihilismus, was hier im Sinne Nietzsches gemeint ist: wie der Schauplatz des Kampfes zwischen einem aktiven und einem passiven Nihilismus, zwischen dem Nihilismus derer, die von den erratischen Sinnresten der Vergangenheit gelähmt sind, und dem Nihilismus derer, die bedenkenlos eine Umwertung aller Werte aus der Perspektive von Stärke und Macht vornehmen. Die dominierenden Philosophien der Gegenwart vertreten dabei, ob offen oder insgeheim, eine Auffassung vom Menschen und seinen wesentlichen Interessen, die ihn als biologischen Organismus, als Teil der materiellen Welt sieht, jedoch nicht so, wie wir leibhaftig leben, sondern wie uns der Blick der sinnleeren, naturwissenschaftlichen Theorie sieht: als Organismus, der sich durch metabolischen Austausch mit seinem Lebensumfeld erhält und sich reproduziert. Es scheint demnach so, als ob die gesamte Bewegung der Geschichte mit all ihrem auf einen absoluten Sinn gerichteten Elan in der Politik, in der metaphysischen Philosophie, in einer Religion von solcher Tiefe wie dem Christentum, heute wieder dorthin gemündet sei, wo sie begonnen hat: in die Bindung des Lebens an den Selbstverzehr und an die Arbeit als das grundlegende Medium des Erhalts. Wir haben bezüglich dieser Bindung zu zeigen versucht, dass die Bescheidung mit und in ihr das ist, was den Menschen der vor-geschichtlichen Epoche von dem der eigentlichen Geschichte unterscheidet. Es läge hier das Paradox ei
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ner Geschichte vor, die in Vor-geschichtlichkeit mündet. Damit ginge der besondere Umstand einher, dass Nationen und Zivilisationen, die sich seit Jahrtausenden im vor-geschichtlichen Zustand gehalten haben (wie etwa China), bei ihrem heutigen Eintritt in die Geschichte gut, wenn auch mit Korrekturen, an gewisse Elemente ihres vor-geschichtlichen Lebens anknüpfen und aus ihm sogar einen beträchtlichen Teil der Energie schöpfen können, mit der sie den neuen Kampfschauplatz betreten. Aber dem ist nicht so. Die Vor-geschichtlichkeit ist nicht durch Sinnentleerung charakterisiert, sie ist nicht nihilistisch wie unsere Gegenwart. Die Vor-geschichtlichkeit meint einen bescheidenen, nicht aber einen relativen Sinn. Es handelt sich um einen Sinn, der gegenüber dem Menschen exzentrisch, aber ursprünglich auf andere Wesen und Mächte bezogen ist. In diesem bescheidenen Sinn kann der Mensch menschlich leben und sich dabei als etwas wie eine Blume oder ein Tier des Feldes verstehen. Er kann mit dem Seienden in Frieden leben und nicht in diesem verheerenden Kampf, der in Äonen erworbene Möglichkeiten des Lebens für etwas opfert, das sich als vollkommen banal und sinnentleert erweist. Unsere Überlegungen scheinen sich so in hoffnungslosem Pessimismus zu verlieren: Von allen angeführten Phänomenen schaut als das letzte Ergebnis des menschlichen Strebens nach Wahrheit, das heißt nach dem wirklichen Sinn, die Sinnlosigkeit heraus. »Dogmatischer« Nihilismus lautet das letzte Wort der menschlichen Weisheit, die sich so mit dem zu decken scheint, was sich ein heutiger Monsieur Homais7 unter ihr vorstellen mag. Dogmatisch ist der Nihilismus in der Tat, sobald er die Sinnlosigkeit als das letzte und unbezweifelbare Faktum behauptet und wenn sein Zweifel am dogmatisch behaupteten Sinn nicht zugleich Skepsis gegenüber dieser Skepsis impliziert. Der dogmatische Nihilismus erweist sich damit als das Korrelat der dogmatischen SinnThesen, jener Thesen, die auf das Konto der Metaphysik und der mit ihr zusammenhängenden dogmatischen Theologie gehen (umso schlimmer, wenn sie »offenbart« ist). In dieser Perspektive wäre die Geschichte nicht die Geschichte der allmählichen Enthüllung der Sinnlosigkeit, zumindest nicht notwendig, und so bestünde für die Menschheit vielleicht die Mög [Gestalt aus Flauberts Madame Bovary.]
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lichkeit, Existenz sinnvoll zu verwirklichen – unter der Bedingung einer ungeheuren Umkehr, eines beispiellosen metanoein. Der Mensch kann nicht ohne Sinn, und zwar einen gesamtheitlichen und absoluten Sinn, leben. Das heißt, er kann nicht in der Gewissheit der Sinnlosigkeit leben. Aber heißt das auch, dass er nicht in der Suche, in einem fraglichen Sinn leben kann? Dass zur echten, nicht zu bescheidenen, aber auch nicht dogmatischen Sinnhaftigkeit gerade dieses Leben in der Atmosphäre der Fraglichkeit gehört? Vielleicht wusste Sokrates dies, und vielleicht ist aus ebendiesem Grund die von einem zeitgenössischen Denker stammende Charakterisierung, Sokrates sei, wenn auch nicht der größte, so doch der wahrhaftigste Denker gewesen, ebenso zutreffend, wie sie tief ist. Und hatte nicht Lessing, als er vor die Wahl gestellt war, ob er die »Wahrheit haben« oder die »Wahrheit suchen« wolle, und sich für das Letztere entschied, nicht wiederum dasselbe vor Augen? Die Situation bekommt eine besondere Färbung, wenn wir uns mit Weischedel – und davor schon mit seinen Lehrern – darüber im Klaren sind, dass die Frage und das Infragestellen nicht nur subjektive Akte und Einstellungsweisen sind, sondern dass diese Akte und Einstellungsweisen die Fraglichkeit als objektiven Bestandteil der Situation voraussetzen. Und liegt nicht letztlich im Kern der Wirklichkeit selbst so etwas wie ein Geheimnis, ist denn das Geheimnis zwangsläufig etwas Privat-Subjektives, bedeutet dieses dunkle Strahlen nicht vielmehr eine Helle, die imstande ist, alles in den Schatten zu stellen, was wir alltäglich für klar halten? Ist die unendliche Tiefe der Wirklichkeit nicht gerade nur dadurch möglich, dass sich unmöglich bis auf ihren Grund blicken lässt, und ist nicht gerade das die Herausforderung und ebenso die Chance des Menschen in seinem Aufschwung zu einem Sinn, der mehr meint als das Aufblühen und Verwelken der Lilien auf dem Feld unter den Augen der göttlichen Mächte? Die Möglichkeit einer metanoia von historischen Ausmaßen hängt von folgender Frage ab: Ist der Teil der Menschheit, der zu begreifen imstande ist, worum es in der Geschichte gegangen ist und geht, und der zugleich durch die Stellung der heutigen Menschheit auf dem Gipfel der Technowissenschaft immer mehr dazu gezwungen ist, Verantwortung für die Sinnlosigkeit zu übernehmen, auch zu der Disziplin und Selbstverleugnung fähig, die die Haltung der Nicht-Verankerung verlangt, in der allein sich der
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absolute und der Menschheit gleichwohl zugängliche, weil fragliche Sinn realisieren lässt? Fassen wir zusammen. Wir unterscheiden zum einen den Sinn, der als dauerndes Sediment im Verstehen und Erkennen entsteht – die Bedeutung, den Begriff; sinnvolle Mittel zur Kommunikation von Sinn gehören ebenfalls in diese Rubrik, an erster Stelle die Sprache. Zum anderen unterscheiden wir den Sinn, der in den Dingen selbst enthalten ist, das heißt das, wodurch uns eine Sache anspricht und unserer Möglichkeit entspricht, uns mit ihr oder mit ihrer Hilfe mit anderem Seienden auseinandersetzen, uns in verständlicher Weise zu Dingen oder Personen verhalten zu können. Bezüglich dieses Sinns ist dann zu fragen, ob er absolut, ganzheitlich und allumfassend ist oder je nur relativ auf anderes und von diesem anderen (zum Beispiel dem animalischen Leben) bedingt, so dass er mit diesem steht und fällt. Im Rahmen dieses objektiv-sachlichen Sinns unterscheiden wir wiederum zwischen einem Sinn, der gegenüber dem Menschen exzentrisch ist, und einem Sinn, der im Menschen sein Zentrum hat. Der relative Sinn der Dinge unserer Umwelt ist menschlich zentriert, er ist relativ zum menschlichen Leben. Der absolute Sinn muss nicht in jedem Fall gegenüber dem Menschen exzentrisch sein. Nicht exzentrisch ist er, wenn das im Menschen, was der Sinn ansprechen kann, dem entspricht, was dem All des Seienden Sinn gibt. Die Erfahrung des Sinnverlusts führt auf die Frage, ob nicht aller Sinn überhaupt auf den Menschen zentriert und relativ zum Leben ist. Wenn das der Fall ist, stehen wir vor dem Nihilismus. Der Sinn, den wir in allem Seienden, im Seienden als Ganzem wie in seinen einzelnen Teilen, zu erkennen geglaubt haben, erweist sich als eingeschränkt und nichtig. Eine solche Erschütterung des Sinns muss, falls sich aus ihr kein Ausweg findet, zur Stagnation des Lebens führen. Weil die Erschütterung des gegebenen Sinns mit der Erfahrung des Seins als desjenigen zusammengeht, das sich unmöglich je als Seiendes ansprechen lässt, liegt es nahe, den Nihilismus als die Antinomie von Sinn und Sein zu formulieren: die Erfahrung des auftauchenden Seins wäre zugleich die Erfahrung der vollkommenen Sinnlosigkeit des Seienden. Tatsächlich handelt es sich um die Enthüllung eines Sinns, der sich nicht als Sache verstehen, der sich nicht beherrschen, begrenzen, positiv erfassen und bewältigen lässt, sondern nur in der Su
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che nach dem Sein gegenwärtig ist. Deswegen kann er uns auch nicht wie der relative und positive Sinn direkt in den Dingen und unmittelbar mit ihnen begegnen. Der Grund dieses Sinns ist, mit Weischedel gesprochen, die Fraglichkeit, er ist, mit Heidegger gesprochen, die Verborgenheit des Seienden als der Grund aller Offenheit und jedes Sich-Öffnens. Das also ist das Geheimnis, das in der Erschütterung des naiv akzeptierten Sinns (handele es sich nun um den relativen Sinn des unmittelbaren menschlichen Handelns oder um den absoluten Sinn des Mythos) zum Ausdruck kommt. Aus der Erschütterung des naiven Sinns ergibt sich so die Perspektive auf einen Sinn, der absolut und dennoch nicht exzentrisch gegenüber dem Menschen ist. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch bereit ist, auf unmittelbare Sinngegebenheit zu verzichten und sich den Sinn als Weg anzueignen. Die hier skizzierte Problematik gilt – und das ist für unsere Frage nach dem Sinn der Geschichte wichtig – nicht nur für das individuelle Leben, sondern auch für die Geschichte selbst. Die Geschichte beginnt mit der Erschütterung des naiven und absoluten Sinns in der fast gleichzeitigen und sich gegenseitig bedingenden Entstehung von Politik und Philosophie. Im Wesentlichen handelt es sich bei Politik und Philosophie um die Entfaltung der Möglichkeiten, die in der Erschütterung keimhaft angelegt sind. Aus diesem Grund und für diejenigen, deren Leitbild Lebensunmittelbarkeit ist, scheint die Geschichte auf den Nihilismus der Sinnentleertheit des Seienden hinauszulaufen. In jenem Verständnis des Seienden in seinem Sein, wie es für die moderne objektivistische, auf die Asymptote einer idealen Sinnbeziehung verzichtende Wissenschaft charakteristisch ist, scheint sich dieser Zug vehement zu bestätigen. Jedoch ist dieser Objektivismus in sich widersprüchlich, und die Wissenschaft selbst zeigt Ansätze, ihn zu überwinden. Wir werden darauf zurückkommen.
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. Europa und das Europäische Erbe bis zum Ende des . Jahrhunderts In seiner unvollendeten Jugendschrift Die Verfassung Deutschlands sagt Hegel, dass weder eine einheitliche Gesetzgebung noch eine einheitliche Religion den Staat (zumindest in neuerer Zeit) ausmachten. Es habe jedoch Zeiten gegeben, in denen auch »in dem frostigeren Europa« die Religion »immer die Grundbedingung eines Staates gewesen« sei. Dieses »Band« sei »zuzeiten so energisch« geworden, dass es sogar Nationen, die sich fremd waren und die in »Nationalfeindschaft« lebten, »mehrmals plötzlich in einen Staat verwandelt« habe, »welcher nicht bloß als eine heilige Gemeinde der Christenheit, noch als eine ihre Interessen und um derselben willen ihre Wirksamkeit verbindende Koalition, sondern als eine weltliche Macht, als Staat zugleich das Vaterland seines ewigen und zeitlichen Lebens im Kriege über das Morgenland als ein Volk und Heer erobert hat«.1 Europa ist also für Hegel an der Schwelle zum . Jahrhundert und nach dem letzten Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation kein Staat mehr. Gleichwohl ist es einmal ein Staat gewesen. Europa meint hier das westliche Europa, das durch die Kreuzzüge gegen die islamische Welt (aber auch im vierten Kreuzzug gegen Byzanz) geeint wurde. Diese Einheit wurde im Krieg gehärtet, so dass sie auch im Zeitalter des europäischen Partikularismus und des Zerfalls in moderne souveräne Staaten im Bewusstsein blieb. Doch dass die europäische Einheit einen geistigen Ursprung hat, daran bestehen weder für Hegel noch für andere Europäer seiner Zeit Zweifel, und diese Einschätzung ist sicher richtig. Was beinhaltet sie? Die durch Kriegsexpeditionen geschmiedete Einheit Westeuropas, die im Inneren bestimmt ist durch die Dualität von geistlicher und weltlicher Vgl. G.W. F. Hegel, Die Verfassung Deutschlands [in: G.W. F. Hegel, Werke in Bänden, I. Frühe Schriften, Frankfurt/M. , S. ]. Die Idee einer katholischen Version des Europäismus kam in der Jenaer Romantik, insbesondere in Novalis’ Schrift von Die Christenheit oder Europa auf. Hier findet sich auch die Idee einer neuen Mission Deutschlands, die Hegel, freilich ohne katholische Ausrichtung, für die Phänomenologie des Geistes übernimmt. [Patočka hat die zentralen Passagen Hegels direkt ins Tschechische übernommen. Wir geben sie hier in Hegels eigenem Wortlaut wieder.]
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Macht bei Suprematie der geistlichen, ist eine von drei Versionen der Idee des Sacrum Imperium, zu denen neben der westeuropäischen noch eine byzantinische und eine islamische gehören. Die Idee des Sacrum Imperium in christlicher Version kristallisierte sich auf der Grundlage der im Hebräerbrief und im Brief des Paulus an die Römer enthaltenen Geschichtstheologie heraus. Die im Inneren des untergehenden Römischen Reiches, an seiner Peripherie ebenso wie in seinem mediterranen Zentrum, geführten Kämpfe um den Lebensnerv der damaligen Welt bekommen im . Jahrhundert mit dem Ost-West-Schisma und der arabischen Expansion eine geistige Fassung.2 Westeuropa grenzt sich gegen den byzantinischen Osten ab, erst politisch, dann geistig im Kampf um die (nur hier schließlich auch erreichte) Unabhängigkeit und Hoheitsmacht der Kirche gegenüber der weltlichen Macht. Die islamische Version des Sacrum Imperium, die an die Idee des Prophetismus geknüpft ist und darin der jüdischen Konzeption nahe steht,3 scheidet im Laufe der Kreuzzüge aus der Konkurrenz aus, ebenso für eine Weile die byzantinische. Das neu umrissene Gebilde widmet sich in der Folge der eigenen Organisation, der eigenen Durchgestaltung und Konsolidierung, der Kolonisierung des zur Disposition stehenden nordöstlichen Raumes, der vor allem durch die Schwächung Polens und das Verschwinden der Kiewer Rus nach dem Einfall der Tartaren kein inneres Gravitationszentrum mehr hat. Was bildet den Kern der Idee des Sacrum Imperium? Nichts anderes als das ins Transzendente geweitete geistige Erbe des Römischen Reiches, das an der Entfremdung zwischen der staatlichen Organisation und der Öffentlichkeit, die seine Basis gebildet hatte, zugrunde ging. Das Römische Reich bezeichnet zweifellos den Abschluss der Epoche des Hellenismus mitsamt seinem Imperialismus, für den die Überzeugung von der Suprematie des griechischen Geistes und seiner Leistungen tragend ist. Diese Leistungen sind aber sämtlich in der griechischen Philosophie zusammengefasst, die in ihrer hellenistischen Phase – wenigstens in ihrer einflussreichsten Richtung, dem Stoizismus – eine ihrer Hauptaufgaben darin sah, Siehe dazu Alois Dempf, Sacrum Imperium, München , bes. Teil II, Kap. : Grundbegriffe der christlichen Geschichtstheologie. Siehe hierzu die bemerkenswerten Ausführungen von Leo Strauss in seiner Schrift Philosophie und Gesetz, Berlin , besonders über den Zusammenhang Platon, Avicenna, Averroës und Maimonides, S. ff.
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die klassische Philosophie der sokratisch-platonischen Tradition in das erzieherische Ferment eines universalen Staates umzubilden, dessen gelungenste Version schließlich Rom lieferte. Gewiss, was Rom im Grunde ausmacht, ist die Besessenheit von der Idee des Imperiums, von der Idee eines Staates in eigenständiger, von einem ethnischen Substrat, einem Territorium, einer Regierungsform unabhängiger Gestalt – in diese Form zumindest münden seine unermüdlichen kriegerischen und organisatorischen Bemühungen und definieren sich an ihr. Die größten Gestalten Roms lassen sich nur von der Tatsache her verstehen, dass sie dieses Ziel verinnerlicht haben. In seinen Anfängen jedoch unterscheidet sich Rom noch nicht wesentlich von der griechischen polis, was auch Aristoteles’ Wahrnehmung entspricht. Für diese (römische) Polis wird die stoisch-platonische Idee einer Erziehung, die sich auf das Gemeinwohl richtet, auf Universalität, auf einen Staat, in dem Recht und Gerechtigkeit herrschen und der in Wahrheit und Einsicht gründet, zumindest in den gebildeten Schichten etwas ganz Geläufiges und Selbstverständliches. Cicero und Seneca liefern den literarischen Beweis dafür, und die Gestalten aus Ciceros philosophischen Dialogen repräsentieren diese Tendenz, die römische Staatlichkeit mit dem Erziehungsideal der Hauptrichtung der hellenistischen Philosophie zu identifizieren. Die Idee des Sacrum Imperium zeugt einerseits von dem Scheitern dieses Programms, andererseits überdauert es in ihr in neuer Gestalt: Nicht der weltliche Cäsarenstaat mit seinem allzu menschlichen Schwanken zwischen Willkür und Willen zur Rechtlichkeit, zwischen natürlichem Despotismus und »Naturrecht« ist es, auf das sich das ius civile stützt, sondern die direkt in der absoluten Wahrheit gegründete Gemeinde, die Gemeinde einer Wahrheit, die nicht von dieser, sondern von jener Welt ist und deren Normen und Urbild nicht durch die menschliche, sondern durch die göttliche Macht und die göttliche Geschichte vorgegeben sind, welche die menschliche Geschichte durchwirken und in sich einbeziehen. Das Erbe des Römischen Reiches setzt also, wie schon das hellenistische Reich, seinerseits nur das Erbe der griechischen Polis fort, das sich konzentriert in dem Bemühen um eine Gemeinde der Gerechtigkeit und Wahrheit, gegründet auf Einsicht als der höchsten sittlichen Idee der klassischen Philosophie. Zur Reife gelangte diese Idee in der Reflexion über Größe und Untergang der
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griechischen polis, über die weltumspannende Bedeutung und die Not des griechischen Menschen in dem für ihn charakteristischen gesellschaftlichen Rahmen, in dem er sich gegen ein bloß quantitatives Übergewicht behauptete, um dann jedoch sich selbst und diesen Rahmen zu diskreditieren und zunichtezumachen durch Misstrauen, Neid und die Angst, seine Errungenschaften könnten überholt und in den Schatten gestellt werden. Das Schicksal eines wahrhaftigen und gerechten Menschen, das Schicksal eines Menschen, der sich ein Leben in der Wahrheit zum Lebensziel gesetzt hat, macht die Idee einer neuen menschlichen Gemeinschaft unverzichtbar: Einzig in einer solchen Gemeinde der Wahrheit wird er leben können, ohne am Konflikt mit der Wirklichkeit zu zerbrechen. Die Welt liegt im Argen, und mit ihrem Urteil über den Gerechten verdammt sie sich selbst. Gerecht und wahrhaftig ist der Mensch dadurch, dass er sich um seine Seele sorgt. Das Erbe der klassischen griechischen Philosophie ist die Sorge um die Seele. Die Sorge um die Seele bedeutet: Die Wahrheit ist nicht ein für alle Mal gegeben, und sie ist auch keine Sache der bloßen Betrachtung, die sich nur im Bewusstsein realisierte, sondern eine lebenslange, prüfende, sich selbst kontrollierende, mit sich selbst abgleichende geistige Denk- und Lebenspraxis. Die Sorge um die Seele hat im griechischen Denken zwei Formen ausgebildet: Wir sorgen uns um die Seele, damit sie in vollkommener Reinheit und mit ungetrübtem Blick die Welt, die Ewigkeit des Kosmos geistig durchwandern und so wenigstens für kurze Zeit diejenige Existenzweise erlangen kann, die den Göttern eignet (Demokrit, später Aristoteles); oder im Gegenteil: wir denken und kommen zu der Erkenntnis, aus unserer Seele jenen festen, im Angesicht der Ewigkeit gestählten Kristall des Daseins zu machen, der zu werden eine der Möglichkeiten eines Seienden ist, das in sich das Prinzip der Bewegung trägt, die Fähigkeit zu entscheiden über das eigene Sein oder Nicht-Sein als Aufgehen im Unbestimmten des Instinkts und der unhinterfragten Tradition (Platon). Die Sorge um die Seele ist die praktische Form jener Entdeckung des Universums und der ausdrücklichen geistigen Beziehung zu ihm, die sich bereits in der ionischen Urphilosophie vollzogen hatte: Hier nahm die Entdeckung des Kosmos die Gestalt des philosophischen Ideals eines Lebens in der Wahrheit an, das sich mit den Worten Edmund Husserls, des letzten großen Diadochen dieser
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Traditionsreihe, so formulieren lässt: Die Meinung ist nach der Einsicht zu richten und nicht umgekehrt. Von hier aus wird auch verständlich, wenn Husserl (und die gesamte Entstehung Europas gibt ihm hier Recht) von der »Eigenheit der europäischen Kultur« spricht, die als einzige unter allen Weltkulturen eine Kultur der Einsicht sei, eine Kultur, in der in allen wesentlichen Lebensfragen, gehe es nun um Erkenntnis oder praktische Angelegenheiten, die Einsicht eine entscheidende Rolle spiele. Eine solche geschichtliche Formation wird also stets durch Einsicht zumindest mitgestaltet, stets tritt hier Einsicht an die Stelle von Nicht-Einsicht, von einer anonymen, sich im Dunkel verlierenden Tradition. Insgesamt lässt sich also sagen, dass das europäische Erbe dasselbe bleibt, dasselbe in den verschiedenen Gestalten, die die Sorge um die Seele im Laufe der zwei großen geschichtlichen Katastrophen, des Untergangs der Polis und des Untergangs des Römischen Reiches, annimmt. Wie sich sogar weiter sagen lässt, verhilft dieses Erbe dazu, dass sich diese beiden Katastrophen aus rein negativen Erscheinungen in Versuche einer Überwindung dessen verwandeln, was versteinert und unter den aktuellen historischen Bedingungen lebensunfähig ist, dass sie zu einer Adaption und zugleich Generalisierung des europäischen Erbes führen. Denn im Römischen Reich nimmt die Sorge um die Seele die Gestalt des Bemühens um eine für den Bereich der gesamten oikouméne geltende rechtliche Regelung an, die das Imperium zum größten Teil wirklich, den restlichen Teil aber zumindest dem Anspruch und Einfluss nach erfasst. Das christliche Sacrum Imperium des Westens wiederum schafft einen viel breiteren gemeinschaftlichen Zusammenhang als das römisch-mediterrane Imperium, und zugleich diszipliniert es und gibt dem Menschen innere Tiefe. Europa ist also aus der Sorge um die Seele, tês psychês epimeleia, entstanden – diese These lässt sich ohne jede Übertreibung vertreten. Das . Jahrhundert scheint den großen Bruch im westeuropäischen Leben zu bezeichnen. Von dieser Zeit an tritt statt der Sorge um die Seele ein anderes Thema in den Vordergrund, das einen Bereich nach dem anderen – Politik, Wirtschaft, Glauben und Wissen – erobert und dem neuen Stil entsprechend umformt. Nicht die Sorge um die Seele, die Sorge zu sein, sondern die Sorge zu haben, die Sorge um die äußere Welt und ihre Beherrschung, wird dominierend. Es ist nicht der Sinn dieser Überlegungen, die
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Dialektik innerhalb der christlichen Thematisierung des Lebens zu entwickeln, in der diese Sorge ums Haben, dieser Wille zur Beherrschung ursprünglich angelegt ist. Zweifellos enthielt die Expansion Europas über seine ursprünglichen Grenzen hinaus (eine Expansion, die an die Stelle des bloßen Zurückdrängens der außereuropäischen Konkurrenz trat) den Keim eines neuen und für das alte Prinzip verderblichen Lebensstils. Es geschah nicht durch die Ausrichtung nach Osten, dass die europäische Expansion zu einer Veränderung der Grundbestimmungen des europäischen Lebens führte. Die Veränderung vollzieht sich vielmehr mit der Verdrängung des Islams im Westen, sie führt zu den Entdeckungen in Übersee und zu der plötzlich einsetzenden wilden Jagd nach den Reichtümern der Welt, hauptsächlich der Neuen Welt, die der hochentwickelten militärischen Organisation Europas, seinen Waffen und Techniken preisgegeben ist.4 Erst in Kombination mit dieser Expansion Europas nach Westen bekommt die essentielle, mit der Reformation einhergehende Veränderung der christlichen Lebenspraxis, die aus einer Praxis des Heils eine Praxis in der Welt wird, jene politische Bedeutung, die sich in der Organisation des nordamerikanischen Kontinents durch das radikal-protestantische Element zeigt. Und nicht einmal ein Jahrhundert wird vergehen, bis Bacon eine vollkommen neue Idee des Wissens und der Erkenntnis formulieren wird, die zutiefst verschieden ist von der, die für die eigentliche Sorge, die Sorge um die Seele, bestimmend ist: Wissen ist Macht, einzig effektives Wissen ist wirkliches Wissen. Was früher nur für die Praxis und die Produktion galt, gilt nun für das Wissen überhaupt. Das Wissen soll uns zurück ins Paradies führen, in ein Paradies der Erfindungen und der Möglichkeiten, die Welt entsprechend den eigenen Bedürfnissen zu verändern und zu beherrschen, wobei diese ebenso undefiniert wie uneingeschränkt sind. Bald schon wird Descartes sagen, das Wissen habe uns zu den Herren und Eigentümern der Natur zu machen. Im Gegensatz zum Mittelalter, wo die Macht auf Autorität grün Claude Lévi-Strauss hat die mit beginnende Erfahrung als das bisher größte Experiment in der menschlichen Selbstbegegnung bezeichnet. Zugleich hat er gezeigt, wie grausam diese Begegnung verlief und wie katastrophal sie für den außereuropäischen Teil der Menschheit, die Menschen der Neuen Welt endete. [Claude Lévi-Strauss, Tristes Tropiques, Paris ; deutsch: Traurige Tropen, Frankfurt/M. .]
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dete und am besten von jenem eigenartigen Gebilde namens Imperium Romanum Nationis Germanicae verkörpert wurde, das gleichsam ein Mittelding zwischen einer Institution des öffentlichen und des internationalen Rechts war, wird der Staat, oder besser gesagt, werden die Staaten erst jetzt zu Schutz- und Trutzeinrichtungen zwecks gemeinsamer Sicherung des Eigentums (wie es Hegel später definiert hat). Der Partikularismus eines solchen Staatsverständnisses knüpft an bestimmte mittelalterliche Tendenzen an, lässt sie jedoch weit hinter sich zurück. Die sich zur selben Zeit vollziehende Organisation des Wirtschaftslebens nach modern-kapitalistischen Methoden entspringt ebenfalls diesem Stil und Prinzip. Seither gibt es für das expandierende Europa kein universales Band, keine universale Idee mehr, die sich in einer konkreten und tatkräftig einigenden Institution und Autorität verkörpern könnte. Das Primat des Habens vor dem des Seins schließt Einheit und Universalität aus, und vergeblich sind alle Versuche, beide durch die Hegemonie der Macht zu ersetzen. Politisch äußert sich dies durch ein neues System, in dem das Reich aus dem Zentrum an die östliche Peripherie abgedrängt wird. Den Platz in der Mitte besetzt nach und nach Frankreich – eine straff organisierte Macht, die das kontinentale Gegengewicht zu den ins Riesenhafte gewachsenen Weltdomänen Spaniens und Englands darstellt. Als sich zudem die Stärke des jungen Amerika abzuzeichnen beginnt und der Menschheit damit das Versprechen einer neuen Organisation aufleuchtet, die keine Hierarchien und weder Ausbeutung noch Missbrauch des Menschen durch den Menschen kennt, geht nicht nur durch die Neue Welt, sondern durch ganz Europa ein Beben der Hoffnung auf eine neue Epoche der Menschheit. Etwa zur selben Zeit jedoch gerät Europa – anfangs eher unmerklich, später dafür umso heftiger – von Osten her unter Druck. Seit dem . Jahrhundert hat die Moskauer Rus das byzantinische Erbe der östlichen Christenheit und damit das Erbe einer imperialen Kirche angetreten, deren Anspruch sie übernimmt. Daran wird sich eine räumliche Expansion ungekannten Ausmaßes anschließen, die an der bisher konturlosen Ostgrenze Europas eine gewaltige, von oben regierende, ebenso imperial wie autokratisch organisierte Macht entstehen lässt, der erst die Küste Asiens eine Grenze setzt. Diese Macht wird zunächst darauf aus sein, sich gegen den Westen zu definieren, abzugrenzen und abzusichern, später ihn
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für sich zu nutzen, indem sie ihn bedroht, teilt und beherrscht. Das durch den Dreißigjährigen Krieg (von dem Frankreich profitiert hatte) erschütterte, auf den Osten konzentrierte und von der türkischen Gefahr in Bann geschlagene Restreich nimmt anfangs das Anwachsen dieser riesigen Masse vor den eigenen Toren nicht wahr, die vom . Jahrhundert an für sein Schicksal, damit aber auch für das Schicksal Europas zur Belastung wird. Vorläufig arbeitet Europa mit ungeheurem Fleiß an der Umgestaltung seiner Ideen, Institutionen, seiner Produktionsverfahren, seiner staatlichen und politischen Organisation. Dieser Prozess, der den Namen Aufklärung trägt, meint wesentlich die Anpassung des bisherigen Europa an seine neue Stellung in der Welt, an eine in planetarischem Ausmaß entstehende Wirtschaft, an das Vorstoßen der Europäer in neue Räume samt den daraus entspringenden neuen Anforderungen an Wissen und Glauben. Das tiefgreifendste Produkt dieser Bewegung ist die moderne Wissenschaft, sind Mathematik, Naturwissenschaft, Geschichtswissenschaft. In all dem lebt ein ganz anderer Geist und eine ganz andere Art von Wissen als in den Zeiten davor. Zwar steht die Wissenschaft der Renaissance (mit Vertretern wie Kopernikus, Kepler oder Galilei) noch in deutlicher Verbindung mit der antiken theoria als einem Moment der Sorge um die Seele. Immer mehr jedoch macht sich in der Wissenschaft selbst, an erster Stelle in der Mathematik, der Geist technischer Beherrschung und damit eine Universalität ganz anderen Typs bemerkbar, als er in der Antike herrschte, die sich an Form und Inhalt orientierte: eine formalisierende Universalität, die unmerklich dazu übergeht, dem Inhalt das Resultat und dem Verstehen das Beherrschen vorzuziehen. Diese Wissenschaft enthüllt sich ihrem gesamten Charakter nach immer mehr als Technik und tendiert daher auch zu Technologie und Anwendung. Je mehr sich diese Denkhaltung durchsetzt, umso deutlicher werden die Reste des »metaphysischen« Denkens verdrängt, das die europäische Philosophie noch im . Jahrhundert beherrschte, wo französische, niederländische und von ihnen beeinflusste Denker versuchten, die alte Zielsetzung noch einmal mit neuen Mitteln anzugehen. Im . Jahrhundert stellen sich Frankreich und die Vereinigten Staaten an die Spitze einer radikalen Aufklärungsbewegung, die in Frankreich bereits säkular ist. Die Revolutionsidee, die Idee einer radikalen Wende der menschlichen Verhältnisse, die Möglichkeit eines hierarchielosen Lebens
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in Gleichheit und Freiheit: all das rührt wahrscheinlich von der Wirklichkeit der Neuen Welt her. Die erfolgreiche Revolution in den britischen Kolonien steht am Anfang des Revolutionsgedankens als des Grundcharakteristikums der Moderne überhaupt.5 Frankreich empfängt ihn direkt aus diesen Händen und gibt ihm in seiner Revolution einen teilweise bereits offen sozialen Anstrich, der zeigt, dass nichts unerschüttert bleiben wird. Die Radikalität der französischen Aufklärung, die das Fundament der geistigen Autoritäten einreißt, kann (obgleich viele es anders wünschen) vor dem Gebäude der Gesellschaft und der staatlichen Ordnung nicht haltmachen. Die Verbindung von Industrie, Technologie und kapitalistischer Organisation führt in England und in einem Teil des westlichen Kontinents zum Durchbruch der industriellen Revolution: Von da an bekommt der Sprung auf die Reichtümer der Welt eine neue Bedeutung – er erlaubt die Ausbildung eines ungeheuren militärisch-technischen Übergewichts, dem die außereuropäische Welt nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hat. Der Weltmarkt arbeitet von da an nicht bloß für den europäischen Wohlstand, sondern auch für die physische Macht Europas. Ihr erster erschütternder Ausdruck sind die napoleonischen Revolutionskriege, die auf einem profan-rationalen Fundament die universale Bedeutung Frankreichs als europäischen Zentrums zu etablieren versuchen, womit der letzte illusorische Rest des Römischen Reiches ausgelöscht wird. Kontinentaleuropa und England wissen sich nicht anders zu wehren als durch einen offenen Appell an den russischen Koloss, der für lange Zeit Schiedsrichter ihrer Fragen und Architekt ihres Machtsystems sein und aus den europäischen Konflikten und Misserfolgen den größten Nutzen ziehen wird. Nachdem Russland im . Jahrhundert die nordöstlichen Mächte Schweden und Polen ausgeschaltet und Letzteres dabei immer konsequenter von der Bühne gedrängt hat, nachdem es mit Unterstützung des aufstrebenden Preußen die Kluft zwischen den beiden auf dem Boden des Römischen Reiches verbliebenen Mächten, Preußen und Habsburg, vertieft und dadurch indirekt die historischen Organismen des östlichen Teils (etwa die böhmische Krone) zerstört hat, steht es am Anfang des . Jahrhunderts im Herzen Europas als ein Wall gegen jene erste Amerikanisierung, wie sie das revolutionäre und So stellt die Dinge bekanntlich Hannah Arendt in ihrer Arbeit On Revolution dar, London [deutsch: Über die Revolution, München .].
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nachrevolutionäre Europa verkörpert. So sind die beiden Erben Europas in der zweiten Dekade des . Jahrhunderts erstmalig aufeinandergestoßen, zwar noch nicht als politische Widersacher, doch in Gestalt von Prinzipien. Hegel hat gelegentlich die Frage berührt, ob Amerika oder Russland die Erben Europas werden würden. Konkrete Gestalt nahmen solche Zukunftsüberlegungen aber erst da an, wo das Problem aus der Perspektive der gesellschaftlichen Tendenz zu Gleichheit und rationaler Organisation betrachtet wurde, und Tocqueville war hier der Erste.6 Das europäische Denken begriff so die Vereinigten Staaten früher und profunder, als es Russland begriff, was verständlich ist, insofern die Vereinigten Staaten von Europa geprägt waren und das nachrevolutionäre Europa von Amerika. Auf eine tiefere Beziehung der östlichen Welt zu Europa, analog zum Verständnis Tocquevilles, wartete die westliche Welt lange, und im Grunde wartet sie darauf bis heute. Bevor wir jedoch das Europa des . Jahrhunderts als jenes Kampffeld näher schildern, über dem sich bereits der Schatten der Zukunft abzeichnet, ein neuer Raum mit neuen, Europa selbst entsprungenen und es in Frage stellenden Mächten, müssen wir noch den Versuch erwähnen, über das westeuropäische Aufklärungsprinzip selbst zu reflektieren und es zu problematisieren. Zu diesem Versuch kam es auf deutschem Boden, also auf dem Boden des zerfallenden Reiches, und zwar zunächst im preußischen Milieu, wo die Aufklärung in Gestalt eines Militärstaates fortlebte, der sich die traditionellen Strukturen rational zunutze machte – in Gestalt einer äußerst paradoxen Synthese von Altem und Neuem also. Die Kraft und Tiefe der Aufklärung lagen zweifellos in dem, was das ältere, vor allem nach innen und auf den Menschen gerichtete Wissensmodell vernachlässigt hatte: in der neuen Idee eines aktiven, effizienten, an Resultaten reichen und zunehmend reicher werdenden Wissens. Dieses Wissen ließ sich nicht einfach abtun. Ebenso wenig ließ es sich mit den alten europäischen Wissens- und Glaubensgrundsätzen zu einem bloß äußerlichen Konglomerat zusammenfügen. Auf der anderen Seite konnte eine Synthese nicht zufriedenstellend sein, die allein aus dem eingeschränkten Blickwinkel unmittelbarer Nützlichkeit praktiziert wurde, wie es in den Vgl. Alexis de Tocqueville, La démocratie en Amérique, Paris - [Deutsch: Über die Demokratie in Amerika, Bd. , Leipzig , Bd. , Stuttgart ].
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angelsächsischen Ländern der Fall war. Aber auch eine radikale Amputation des bisher Gültigen ließ sich, wollte man nicht auf die Bahn der Französischen Revolution geraten, nicht durchführen. Die deutsche, von Kant ausgehende Philosophie und das übrige, mit ihm tendenziell verwandte Geistesleben versuchten sich noch einmal an einer Wende des europäischen Geistes: Die Aufklärung sollte akzeptiert werden, aber nur als eine Methode zum Verständnis der Natur, also des Reiches jener Gesetzmäßigkeiten, die nicht den Kern der Dinge berühren. Wo diese phänomenale Welt in ihrer Phänomenalität (das heißt in ihrem Wesen) analysiert wird, kommt wieder das alte europäische Prinzip der Sorge um die Seele, der philosophisch-kontemplativen theoria zu seinem Recht. Die Sorge um die Seele ist das Prinzip, das uns für die geistig-sittliche Sphäre frei macht, in der der Mensch eigentlich verankert ist und in der seine Bestimmung liegt. Nach diesem Durchbruch, mit dem die Aufklärung nicht durchgestrichen, aber in ihrer Bedeutung für den Menschen begrenzt und gemindert wird, gehen die Bemühungen des deutschen Kunstschaffens in Dichtung und Musik in dieselbe Richtung. In der Philosophie kommt es in letzter Steigerung zu den Systemen eines beispiellosen, absoluten Idealismus und zu einer metaphysischen Radikalität, die wir hier nicht weiter beschreiben müssen. Dieses geistige Deutschland bietet sich Westeuropa als das Land an, in das sich der Geist nach der Krise der Anarchie während der Revolutionszeit zurückziehen und in dem er sich der Kur unterziehen kann, welche die Freiheit braucht, um mittels Verstehen in der Realität Fuß fassen zu können. Aber das geistige Universum – das für sich genommen ohne Kraft ist – bildet ambivalente Gedankenformen aus, die der reale Kampf um das europäische Erbe wird nutzen können, um sich selbst zu entfalten: die Idee der geistigen Individualität (zugunsten der fortschreitenden Partikularisierung und des Zerfalls Europas in Nationen), die Idee der Dialektik (zugunsten weiterer revolutionärer Kämpfe) und die Idee des Staates als einer Gottheit auf Erden, die keine Einschränkung der eigenen Souveränität duldet. So mündet der große deutsche Versuch in einer Stärkung derjenigen europäischen Zerfallstendenzen, gegen die er ursprünglich gerichtet war. Die deutschen Denkentwürfe, die stark und gültig sind als Kritik, als geistige Positionen, die dem Wirkungsbereich der Aufklärung Grenzen setzen, sind für sich selbst genommen nicht in der Lage, die Probleme (politischer und
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sozialer Art) im Rahmen der Problematik der Aufklärung zu lösen und müssen daher in der Praxis zu bloßen Mitteln der Kämpfe um die politische und gesellschaftliche Realität verkommen. Nach der scharfen, durch die ganze Welt gehenden Brise, die die Revolution und die nachrevolutionären napoleonischen Kriege mit sich brachten, kehrt Europa unter dem Druck des imperialen Russland zunächst zur allgemein diskreditierten Idee der Legitimität zurück. Da die Gegner der französischen Despotie an den Partikularismus regionaler Traditionen und die Spontaneität der Nationen appellieren mussten, bedeutet diese scheinheilige Rückkehr den Anfang eines neuen, bunten und teilweise äußerst chaotischen Kapitels, das sich unter den Titeln »Nationalismus«und »Nationalbewegung« zusammenfassen lässt. Im Westen Europas, wo es längst zentralisierte und sprachlich unifizierte Staaten gibt, vereinigen sich die Nationalbewegungen auf ganz natürliche Weise mit dem faktischen Bedürfnis der industriellen Revolution nach staatlichem Schutz für wirtschaftliche Unternehmungen und Spekulationen – die Staaten geraten unter den Einfluss des bürgerlichen Kapitalismus. Mit Neid verfolgen Mittel- und Osteuropa diese Entwicklung, die ihnen zum Vorbild wird, während sich der rationalistische Universalismus des revolutionären Radikalismus in die Sphäre der sozialen Revolution, in den entstehenden Sozialismus flüchtet. All diese Tendenzen bilden ein farbenreiches und oft eklektizistisches Gemisch, in dem die einzige Gewissheit die Unhaltbarkeit des Status quo ist. Mit Blick auf die Revolution und die napoleonische Epoche einerseits und auf Russland andererseits entwickelt die damalige europäische Publizistik die Begriffe »Weltmacht« und »Weltstaatensystem«.7 Russland selbst indessen, das seine imperiale Stellung mit Erfolg gegen erste Versuche verteidigt, es durch westliche Einflüsse ins Schwanken zu bringen, entwickelt seine vom byzantinisch-imperialen Christentum übernommenen politischen Kategorien immer deutlicher hin auf die Idee des Erbes eines verfallenden, eines in Auflösung begriffenen Europas. Diese Idee wird sich unter Einschluss der in ihr Konzept passenden europäischen Motive mehr oder weniger das gesamte . Jahrhundert hindurch halten. Grundsätzlich stimmt das russische Denken darin überein, dass der rus Siehe dazu und zum Folgenden Dieter Groh, »Russland als Weltmacht«, in: Orbis scriptus. Dimitrij Tschizewskij zum . Geburtstag, hg. v. Dietrich Gerhardt, München , S. ff.
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sische Staat zum europäischen Erbe berufen ist. Die Meinungsverschiedenheiten betreffen die Mittel, die zur Wahrnehmung dieser Bestimmung notwendig sind. Das alte Konzept Peters des Großen, aus Europa Nutzen zu ziehen, ihm nicht zu unterliegen, sondern es zu beherrschen, beinhaltet ebenso die Möglichkeit einer größeren Annäherung an den Westen wie die, sich in sich selbst zu verschließen und auf einen günstigen Augenblick zu warten. Der Teil der europäischen Publizistik, dessen Blick sich auf Russland und seinen gewaltigen Einfluss auf Europa richtet – Persönlichkeiten wie Moses Hess, Haxthausen, Fallmerayer,8 vor allem jedoch die konservativ-katholische Publizistik solcher Autoren wie Jörg, Marlo, Konstantin Frantz,9 die sich von der Nostalgie des Römischen Reiches deutscher Nation noch immer nicht lösen können – enthält den Keim eines Europäismus, das Streben nach europäischer Einheit wenigstens in Gestalt einer Solidarität der westlichen Staaten gegenüber dem russischen Koloss. Frantz hat auf die Übereinstimmung seines Ansatzes mit dem in Comtes positiver Philosophie enthaltenen Traditionalismus hingewiesen (Comtes System der positiven Politik kannte er nicht).10 Diese Ansätze, denen in den sechziger Jahren der Liberale Julius Fröbel11 seine amerikanische Erfahrung beigesellt, hatten aber gegenüber den vorherrschenden Tendenzen der europäischen Realität nicht wirklich die Kraft zur politischen Organisation. [Moses Hess (-), Theoretiker und Publizist, Junghegelianer und Vater des »Sozialistischen Zionismus«, vgl. zum Beispiel Die heilige Geschichte der Menschheit, Stuttgart ; August von Haxthausen (-), Agrarwissenschaftler, Arbeiten insbes. über das russische Agrarwesen, Hauptwerk: Die ländliche Verfassung Russlands, Leipzig ; Jakob Philipp Fallmerayer (-), Historiker, Reiseschriftsteller und Publizist, wurde bekannt durch seine Fragmente aus dem Orient, Tübingen .] [Joseph Edmund Jörg (-), Historiker und Publizist, eine der herausragenden Gestalten des politischen und sozialen Katholizismus, vgl. etwa Die neue Ära in Preußen, Regensburg ; Karl Marlo, eigentlich Karl Georg Winkelblech (-), Volkswirtschaftler und Sozialreformer, vgl. etwa Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie, Kassel ; Konstantin Frantz (-), Politiker und Publizist, vgl. etwa Untersuchungen über das Europäische Gleichgewicht, Berlin .] [Vgl. Auguste Comte, Cours de philosophie positive, Paris -.] [Julius Fröbel (-), Politiker und Publizist, vgl. etwa System der sozialen Politik, Mannheim ; Aus Amerika: Erfahrungen, Reisen und Studien, Leipzig /.]
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Im bürgerlich-kapitalistischen Europa sind also die Hauptkräfte des europäischen Westens, das heißt die Aufklärung, die Wissenschaft (Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft) und die Technik, an die partikularistische Realität des Nationalstaates gebunden. Sein Vorbild ist auf dem Kontinent Frankreich (das Frankreich des dritten Kaiserreichs), das bei der Entwicklung zum Partikularismus eine fatale Rolle spielt. Hierzu gehören auch Frankreichs ephemere Erfolge, wie die trügerische Koalition der europäischen Staaten gegen Russland im Krimkrieg und Russlands teilweise und vorübergehende Zurückdrängung. Sie schläfern die Aufmerksamkeit Europas ein und erzeugen bei seinen sich auf ihr industrielles, technisches und wissenschaftliches Übergewicht stützenden Mächten ein falsches Selbstvertrauen. Der ursprüngliche Universalismus der radikalen Aufklärung zieht sich, wie bereits angedeutet, ins sozialistische Denken und in die sozialistische Bewegung zurück. Insbesondere seit seiner »hegelianischen Überwindung des hegelschen Denkens«12 lässt Marx nicht ab, die Heuchelei, Halbheit, reale Unlogik und vor allem den Zynismus und das moralische Chaos zu brandmarken, das in den europäischen Gesellschaften mit bürgerlich-liberalem Status quo entfesselt worden sei. Die Schwächen der französischen Lösung des europäischen Problems wachsen noch mit der preußischen Lösung der deutschen Frage, die Frankreich aus dem Zentrum Europas verdrängt und dieses wieder mit Deutschland besetzt. Dieses Deutschland hat zwar eine neue, nach dem Modell des westeuropäischen Nationalstaats geformte Gestalt, enthält aber (als Konglomerat nicht zusammenstimmender Elemente) weiter seine durch keinen wirklichen gesellschaftlichen Umbruch beschnittenen feudalen Traditionen und hegt eine konservative Bewunderung für den russischen Koloss, dem Preußen seine gesamte Karriere in Deutschland und Europa verdankt – dies unter dem Druck, sich möglichst rasch umzuorientieren und die Funktion von Schild und Schwert zumindest für Südosteuropa zu übernehmen. Die bürgerliche Lösung (der Nationalstaat als Protektor der unaufhaltsam wachsenden Industrieproduktion) zeigt hier noch viel deutlicher als im europäischen Westen ihre innere Widersprüchlichkeit, denn die gewaltige Produktionszunahme geht Alphonse de Waelhens, La philosophie et les experiences naturelles, Den Haag , S. .
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einher mit der Herausbildung eines starken Selbstbewusstseins und der unbezwingbaren Organisation des »Vierten Standes«. Der sich daraus ergebende und sich immer schärfer zuspitzende Konflikt führt zu bis dahin ungekannten sozialen Spannungen und mit der Bismarck-Koalition von schließlich zur Verewigung der Politik der eisernen Hand gegen die Mehrheit, gegen das Volk. (Bekannt ist die These Elie Halévys,13 dass eine der Hauptwurzeln des Kriegskonflikts von in dem Bestreben zu suchen sei, diese innere Problemlage zu überwinden, indem man die Gesellschaft für außenpolitische Ziele mobilisierte und die Bahn für die wirtschaftliche und organisatorische Energie Deutschlands freimachte.) Wie ersichtlich, vertieft sich im Europa des . Jahrhunderts die politische Krise somit gerade da, wo man die Fragen scheinbar löst: in Deutschland, in Italien. Statt dass die dort gefundenen Lösungen Europa beruhigen, verschärfen sie in Wirklichkeit seine Partikularismen und lassen sie in dem engen europäischen Raum zur letalen Bedrohung werden. Zugleich spitzt sich die soziale Krise zu, und das unentbehrlich gewordene Industrieproletariat präsentiert mit wachsendem Nachdruck seine Rechnung. Der sich in ebendieser Situation anbietende »Ausweg«, der von einigen für den Gipfel welt- und staatsmännischen Scharfsinns gehalten wird, nämlich den europäischen Problemen einen globalen Rahmen zu geben, die Aufteilung Europas auf eine Aufteilung der Welt zu übertragen, kann nur dazu führen, bis dahin latente Antagonismen hervortreten zu lassen und die Mittel der gesamten Welt für das lebensgefährliche Unternehmen der europäischen Konkurrenz einzuspannen – gerade in dem Moment, wo sich die außereuropäische Welt der Möglichkeit bewusst wird, vom zeitgenössischen Europa der Massen, vom Europa des allgemeinen Wahlrechts und der großen bürokratisierten Parteien die Kunst zu lernen, das eigene politische Gewicht zu erhöhen und sich diesem Europa gegenüber auf die eigenen Füße zu stellen. Als weiteres tiefliegendes Moment kommt das immer deutlichere Bewusstsein der sittlichen Krise des zeitgenössischen Europas hinzu. Dass die staatlichen Institutionen Europas, sein politisches und gesellschaftliches Gerüst, auf etwas basierten, dem die Gesellschaft in der realen Praxis schon längst die Gefolgschaft und jedes Vertrauen [Vgl. Elie Halévy, L’ère de tyrannies: études sur le socialisme de la guerre, Paris .]
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entzogen hatte, wurde einzig im revolutionären Radikalismus klar hervorgehoben und machte einen Teil seines Umsturzprogramms aus. Dieser Radikalismus hält sich jedoch selbst, was seinen »Glauben« angeht, an Gedankenderivate des europäischen Erbes, die ebenso unglaubwürdig sind wie die Vorstellungen, von denen sie abgeleitet sind. Gott ist tot, aber eine materielle Natur, die mit gesetzlicher Notwendigkeit die Menschheit und deren Fortschritt produziert, ist um nichts weniger eine Fiktion. Vor allem hat diese Vorstellung den Schwachpunkt, dass sie keine Kontrollinstanz bietet für die individuelle Tendenz des Einzelnen zum Eskapismus, dazu, sich in einer kontingenten Welt als der »letzte Mensch« einzurichten, der »sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht hat«.14 Ein Held Dostojewskis hat es so ausgedrückt: Alles ist nichtig, alles ist erlaubt! Was Dostojewski abwehrt, indem er sich auf das traditionelle Russland samt seiner gebrochenen Seele und seines Einzelnen beruft, der sich vor der großen Gemeinde demütigt, die ihn erdrückt und ihm auferlegt, sich durch Leiden zu reinigen, spricht Nietzsche in scharf zugespitzter Form für die europäische Gegenwart aus: Seien wir ehrlich, schauen wir dem Faktum ins Auge, dass wir Nihilisten sind, reden wir uns nicht etwas ein, das es nicht gibt – einzig dann werden wir die moralische Krise überwinden, die sich hinter allen übrigen Krisen verbirgt und sie umfasst. »Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Die Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, auf eine Katastrophe zu: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.«15 Wohin Dostojewski umzukehren rät, dort hat für Nietzsche der Ni [Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Sämtliche Werke (Kritische Studienausgabe), hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. , Berlin/München , S. .] [Ders., Nachlass, November -März , /; in: Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. , S. (Wille zur Macht, Vorrede Nr. ).]
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hilismus gerade seine Wurzel: in der christlichen Entwertung dieser Welt durch eine »wahre« Welt, in der Entwertung des Lebens, des Willens, der Tat durch die Moral und durch das Gebot »du sollst«. Verlangt ist, sich von jeglichem Jenseits und allen Ausflüchten, die die Wahrheit über die Wirklichkeit stellen, zu befreien. Mit aller Kraft sind das Leben und die Wirklichkeit zu bejahen. Die Wirklichkeit aber ist Selbstüberwindung, ist gesteigerte Macht. So bildet sich eine neue Stufe der Existenz aus, der Mensch, der von den bisherigen Ausflüchten, Zufluchten und Schwächen befreit ist, der Übermensch, der in einer Wirklichkeit angesiedelt ist, aus der es kein Entweichen gibt, weil sie ewig ist. Nietzsches Offensive gegen die zeitgenössische europäische, als nihilistisch entlarvte Zivilisation ist allerdings selbst nihilistisch und rechnet sich ihren Durchgang durch den Nihilismus als Aufrichtigkeit und Verdienst an. Ihre Radikalität imponiert noch heute, auch wenn der titanische Gestus der Individualität inzwischen komisch wirkt. Aber Nietzsches Kritik am Fortschritt und an der Aufklärung als Krypto-Nihilismus hat weiter Gültigkeit. In der Diagnose, die europäische Gesellschaft des . Jahrhunderts sei nihilistisch, sind so deren Krisen zusammengefasst: Die politische und die soziale Krise wurzeln in der moralischen Krise. Dostojewski schlägt zur Lösung der Krise die Rückkehr zum byzantinischen Christentum, Nietzsche die »ewige Wiederkehr« vor. Indessen setzen das ursprüngliche Fundament des Christentums und die Wiederentdeckung der Ewigkeit offenbar die Wiederholung von etwas voraus, das einst, ganz zu Anfang der europäischen Epoche, eine Wirklichkeit war: die Seele als dasjenige in uns, das in Beziehung zu jenem unvergänglichen Bestandteil des Universums steht, der die Wahrheit und mit ihr das Sein-in-der-Wahrheit nicht des Übermenschen, sondern eines wahrhaft menschlichen Wesens ermöglicht.
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. Ist die technische Zivilisation zum Verfall bestimmt? Das . und das . Jahrhundert sind die Zeit einer industriellen Zivilisation, die, wie es heute scheint, andere, ältere Versuche der Menschheit, ihr Leben ohne Zuhilfenahme von Wissenschaft und Technik (einer Technik, die auf Wissenschaft gründet und in gewissem Sinne mit ihr verschmilzt) zu gestalten oder gar zu produzieren, hinweggefegt hat. Ein gewaltiger Einschnitt hat sich innerhalb der Kontinuität der menschlichen Geschichte vollzogen, der einige moderne Aufklärer veranlasste, in den letzten kaum dreihundert Jahren den zaghaften Beginn der eigentlichen Menschheitsgeschichte zu erblicken, während die gesamte vorangehende Zeit zur Vorgeschichte herabgestuft wird. Der Mensch der industriellen Epoche ist unvergleichlich mächtiger, ihm stehen weitaus größere Kraftreserven zur Disposition als den Menschen früherer Epochen; weil ihm die Erde nicht mehr genügt, dringt er in subatomare Bereiche vor, von denen sich die Sterne nähren, er lebt in unvergleichlich höherer gesellschaftlicher Dichte und weiß dies dazu zu nutzen, die Intensität seines Angriffs auf die Natur zu erhöhen, die ihm ein immer größeres Quantum ihrer Wirkkraft liefern soll, einer Wirkkraft, die er in die Schemata seine Berechnungen bringen und seinen Händen dienstbar machen möchte. Das enorme Wachstum der industriellen Zivilisation scheint eine Tendenz zu sein, die weder äußere noch innere Komplikationen aufhalten können. Die äußeren Hindernisse, die sich (in physikalischer und quantitativer Hinsicht) am nachdrücklichsten und aktuellsten vielleicht in den Überlegungen des Club of Rome widerspiegeln, betreffen die Erschöpfung der weltweiten Energiereserven, das demographische Wachstum, die Umweltverschmutzung und die Grenzen der Nahrungsmittelproduktion, wobei der exponentielle Charakter der Wachstumstendenzen auf die Möglichkeit nicht allzu ferner Katastrophen hinweist. Diese alarmierenden Aussichten, die bekanntlich bislang ohne überzeugende Gegenargumente geblieben sind, haben in der heutigen Gesellschaft allerdings nicht das grundsätzliche Interesse wachgerufen, das sich die Rationalisten erhofft hatten. Und die inneren Hindernisse, die sich
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in der Wirkung zeigen, die diese Zivilisation auf den Charakter des menschlichen Wesens als solchen hat und die in jenen MenschenHekatomben (oder eigentlich Myriatomben) Ausdruck finden, zu denen die »Vorgeschichte« nichts Vergleichbares kennt, haben sich offenbar bislang historisch nicht bemerkbar gemacht, es sei denn in dem Impuls, so schnell wie möglich in weiteren Leistungssteigerungen Vergessen zu suchen. Bekanntlich sind die europäischen Gesellschaften nicht nur nie zuvor reicher gewesen, sondern haben auch nie zuvor in ihrer Geschichte derart umfassende soziale Absicherungen geschaffen wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, gerade so, als ob Europas Abtritt aus dem Zentrum der Geschichte (ich meine hier das alte Europa, den europäischen Westen, der aus dem Weströmischen Reich hervorgegangen ist) durch diese Errungenschaft kompensiert werden sollte. Freilich wusste dieser beispiellose Fortschritt insgesamt nicht zu befriedigen. Die Ansprüche auf die Reichtümer der Welt wachsen weiter und damit auch die Anforderungen an eine Gesellschaft, deren Struktur sich diesen zu widersetzen scheint. Der herrschende, unbändige und elementare Optimismus scheint stärker zu sein als jeder Einwand, den der Gang der Geschehnisse wohl zu wecken vermöchte. Und wirklich fehlt es nicht an Einwänden. Man kann sagen, dass ein ganzer Wissenschafts- oder Denkzweig, die moderne Soziologie, zu einem guten Teil aus der Reflexion über die Gefahren, ja den als pathologisch empfundenen Charakter der bisherigen Entwicklung der industriellen Zivilisation hervorgegangen ist. Die einen hielten diesen Charakter für vorübergehend und hofften, dass er – gemäß einer inneren Gesetzmäßigkeit, die sie zu bemerken glaubten – durch die kommende Entwicklung behoben würde. Auguste Comte sah die Krise in einem Mangel an gesellschaftlichem Konsens, an einer spontanen Übereinkunft der Meinungen, die sich aber, so hoffte er, durch die allgemeine Entwicklung zu einem positiven und wissenschaftlichen Denken aller Menschen wiederherstellen würde. Auch Karl Marx war nicht ohne Hoffnung, wenn er sein Vertrauen auch in eine andere Entwicklung setzte: in den unabwendbaren Verfall und Untergang der industriellen Produktionsweise, dem die kapitalistische Gesellschaft durch ihre eigene Funktionsweise preisgegeben ist. Andere wieder meinten, an der steigenden Selbstmordrate und an der Zahl mentaler Erkrankungen deutlich pathologische Symptome zu erkennen. Heute könnte man den Drogenmiss
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brauch, die Jugendrevolte und die an Anarchie grenzende Tendenz zur Abschaffung aller gesellschaftlichen Tabus hinzufügen. Bevor wir die im Titel gestellte Frage beantworten können, müssen wir uns auf die Kriterien und Maßstäbe einigen, nach denen sich Verfall bzw. positiver Zustand beurteilen lassen. Wir wollen hier nicht die Frage der Werte und ihrer Beziehung zum Wahrheitsproblem entwickeln und beschränken uns auf die allgemeine Feststellung, dass der »Verfall« und sein Gegenteil nicht bloß abstrakten »Werten« und »moralischen Begriffen« entsprechen, sondern untrennbar mit dem menschlichen Leben in seinem innersten Wesen, in seinem ureigenen Sein verbunden sind. Zum Verfall bestimmt ist ein Leben, das seinen inneren Funktionsnerv verliert, das in seinem innersten Kern beschädigt ist, so dass es sich zwar ein »volles Leben« dünkt, sich aber in Wirklichkeit mit jedem Schritt und mit jeder Tat weiter entleert und verstümmelt. Zum Verfall ist eine Gesellschaft bestimmt, die durch ihre Funktionsweise zu einem solchen Leben führt, zu einem Leben im Verfallensein an etwas, das seinem Seinscharakter nach nicht menschlich ist. Welcher Art aber ist ein Leben, das sich selbst verstümmelt, während es dem Anschein nach voll und reich ist? Die Antwort muss in der Frage unmittelbar enthalten sein. Was gibt dem menschlichen Leben die Möglichkeit, in Wirklichkeit etwas anderes zu sein, als es scheint, etwas anderes, als es sich selbst erscheint? Dass sich die Dinge anders zeigen, als sie sind, beruht darauf, dass sie sich stets einseitig, entfernt, perspektivisch zeigen und infolgedessen ein Aussehen annehmen können, das sie Dingen ähnlich macht, die sich eigentlich von ihnen unterscheiden. Dass wir uns selbst anders erscheinen, als wir sind, muss aber einen anderen Grund haben. Der Mensch nämlich ist sich selbst nicht in derselben Weise fremd, wie ihm ein Ding und dessen Seinsweise fremd sind: Der Mensch ist er selbst. Wenn er sich selbst anders erscheinen soll, muss er sich von sich selbst entfremden, und diese Entfremdung muss zu ihm gehören, sie muss in seiner eigenen Seinsweise gründen. Der Mensch ist folglich so beschaffen, dass ihm die Entfremdung irgendwie »angenehmer« und »natürlicher« ist als das eigentliche Sein. Das eigentliche Sein ist niemals selbstverständlich, sondern immer eine Leistung. In diesem Sinne lässt sich allerdings sagen, dass letztlich auch die Entfremdung eine Leistung ist. Sie ist eine »Erleichterung«, sie ist nicht
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»natürliche« Leichtigkeit, sondern das Ergebnis eines bestimmten »Aktes«. Der Mensch kann nicht in der Selbstverständlichkeit sein wie außermenschlich Seiendes, er muss sein Leben leisten, tragen, er muss mit ihm »fertig werden«, »sich mit ihm auseinandersetzen«. Das mag dann so aussehen, als ob er immer zwischen zwei Möglichkeiten stehe, die äquivalent sind. Dem ist aber nicht so. Entfremdung bedeutet, dass es keine Äquivalenz gibt, sondern dass von allen möglichen Leben nur eines das wahre, eigentliche, unvertretbare, nur durch uns selbst zu leistende Leben in dem Sinne ist, dass wir es tatsächlich tragen und uns mit seiner Last identifizieren – während jedes andere Leben Ausweichen, Flucht, Rückzug ins Unechte und Erleichterung ist. Daher meint der Gesichtspunkt der »Wahl«, der »Dezisionismus«, immer schon einen falschen, objektivierten und objektivistischen Blick von außen. Der wirkliche Blick ist der der Nicht-Äquivalenz, für die der Unterschied zwischen einerseits einer Verantwortung, die trägt und sich exponiert, und andererseits Erleichterung und Flucht wesentlich ist. Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens erlaubt daher keinen Blick von außen, keinen Blick eines unbeteiligten Zuschauers. Diese Unterscheidung zwischen Echtem und Unechtem beruht darauf, dass wir an unserem eigenen Sein nicht uninteressiert sein können. Wir sind immer interessiert, voreingenommen, von der eigenen Verantwortung in Besitz genommen: Über uns ist entschieden, noch ehe wir »uns entschieden haben«. Das echte, eigentliche Sein beruht jedoch darauf, dass wir dazu in der Lage sind, alles, was ist, so sein zu lassen, dass es ist und wie es ist, es nicht zu entstellen, ihm sein Sein und sein Wesen nicht vorzuenthalten. Neben dieser Unterscheidung ist noch eine andere nötig: zwischen dem Alltäglichen, dem »Alltag«, und dem Außerordentlichen und Feierlichen. Das Außerordentliche und Feierliche entlastet auch, aber nicht durch Flucht vor der Verantwortung, sondern indem es jene Dimension im Leben entbirgt, in der es nicht um die Last der Verantwortung und die Flucht vor ihr geht, sondern in der wir hingerissen sind, in der etwas Stärkeres als unsere freie Möglichkeit und unsere Verantwortung in unser Leben einzudringen und ihm einen Sinn zu geben scheint, der ihm sonst unbekannt ist. Das ist die Dimension des Dämonischen und der Leidenschaft. Beiden ist der Mensch ausgeliefert. Er flieht hier nicht einfach vor sich
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selbst in das »Man«, in den gewöhnlichen Alltag, in die »Sachlichkeit«, er entfremdet sich nicht in der Weise der Alltäglichkeit. Es geht hier nicht um Selbstentfremdung, sondern um ein Überwältigt- und Hingerissensein. Wir fliehen nicht vor uns selbst, sondern wir werden von etwas überrascht, überwältigt, ergriffen, und dieses Etwas gehört nicht den Dingen und dem Alltag zu, in dem wir uns in unseren Besorgungen verlieren können. Wir erfahren, dass die Welt nicht nur der Bereich dessen ist, was wir vermögen, sondern auch der Bereich dessen, was sich uns von selbst öffnet und was dann als Erfahrung (zum Beispiel des Erotischen, des Sexuellen, des Dämonischen, des heiligen Schreckens) imstande ist, unser Leben zu durchdringen und zu verändern. In direkter Konfrontation mit diesem Phänomen sind wir dazu geneigt, die gesamte Dimension des Kampfes um uns selbst, Verantwortung wie Flucht, zu vergessen und uns in eine neue, offene Dimension fortreißen zu lassen, ganz so, als würden wir erst jetzt das wirkliche Leben vor uns haben und als brauchte sich dieses »neue Leben« überhaupt nicht um die Dimension der Verantwortung zu kümmern. Die Dimension sacrum – profanum ist also von der Dimension der Echtheit, der Dimension »Verantwortung – Flucht« verschieden. Sie muss auf andere Weise in Bezug zur Verantwortung gebracht werden als die Flucht, sie kann nicht einfach überwunden werden, sie muss dem verantwortlichen Leben einverleibt werden. Der Unterscheidung sacrum – profanum kommt auch insofern wichtige Bedeutung zu, als das profanum wesentlich den Bereich der Arbeit und der Selbstknechtung des Lebens, sein Gefesseltsein an sich selbst meint. Die dämonische, orgiastische Dimension steht in wesenhafter Opposition zu dieser nur vom Menschen empfundenen Knechtung durch das Leben, deren stärkster Ausdruck die Notwendigkeit zur Arbeit ist. Die Arbeit ist immer erzwungene Arbeit. Die Arbeit ist Rücksichtnahme auf sich selbst, das Dämonische ist rücksichtslos. Zu einem Leben, das an sich selbst gefesselt ist, gehört ein orgiastisches Pendant, ein Leben in der Entfesselung des Unbesorgbaren und Unverfügbaren. Die orgiastische Dimension verschwindet daher nicht einfach, wo die Verantwortung als solche nicht entdeckt ist oder man sie nicht beachtet, wo man sie flieht, sondern wird im Gegenteil gerade hier akut. Ihre Unentbehrlichkeit und ihre Herrschaft reichen von den »primitiven« Naturvölkern bis in die Gegenwart.
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Die Differenz des Sakralen, des sakralen Bereichs, bildet sich so in Opposition zur Alltäglichkeit. Durkheim hat zum Beispiel gezeigt, dass die Wirklichkeit in totemistischen Gesellschaften – wie er sie etwa in Australien analysiert hat – in zwei grundsätzliche Kategorien zerfällt: in die der profanen Dinge, zu denen sich der Mensch »ökonomisch« verhält, und in die der heiligen Dinge, denen die Totems, ihre Symbole und ihre Vertreter unter den Menschen angehören. Jedem, der Durkheims Analysen kennt, bleibt seine Interpretation der von den Forschungsreisenden Spencer und Gillen stammenden Schilderung einer orgiastischen Szene unvergesslich: »Man kann sich leicht vorstellen, dass sich der Mensch bei dieser Erregung nicht mehr kennt. Er fühlt sich beherrscht und hingerissen von einer äußeren Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln. Ganz natürlich hat er das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Er glaubt sogar, ein neues Wesen geworden zu sein. Die Verkleidungen, die Masken, mit denen er sein Gesicht verdeckt, drücken wirklich diese innere Verwandlung aus, mehr noch: sie tragen dazu bei, sie hervorzurufen. Da sich aber zur gleichen Zeit auch seine Genossen auf die gleiche Weise verwandelt fühlen (…), so geschieht es, dass er sich wirklich in eine fremde, völlig andere Welt versetzt glaubt als die Welt, in der er gewöhnlich lebt (…). Wie sollen solche Erfahrungen, besonders wenn sie sich wochenlang täglich wiederholen, in ihm nicht die Überzeugung stärken, dass es wirklich zwei verschiedene und miteinander nicht vergleichbare Welten gibt? In der einen schleppt er träge sein tägliches Dasein dahin, in die andere kann er aber nicht eindringen, ohne alsbald mit außerordentlichen Mächten in Verbindung zu treten, die ihn bis zur Raserei aufpeitschen. Die erste ist die profane Welt, die zweite die Welt der heiligen Dinge.«1 Das positivistische Vorurteil, die alltägliche Welt habe vor der anderen Welt Vorrang, kann uns nicht daran hindern, in Durkheims Interpretation eine präzise Darstellung des Phänomens zu sehen. Das Dämonische muss in eine Beziehung zur Verantwortung gebracht werden, in eine Beziehung, die es ursprünglich und primär nicht hat. Das Dämonische ist gerade dadurch dämonisch, dass es [Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. , S. .]
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die Selbstentfremdung vertieft, auf die es andererseits aufmerksam macht: Der Mensch ist von sich entfremdet, weil er an das Leben und an die Dinge des Lebens gefesselt ist und sich in ihnen verliert. Die Entrückung aber entreißt ihn ebendieser Knechtschaft. Das jedoch macht die Entrückung noch nicht zur Freiheit. Sie kann sich als Freiheit ausgeben und tut es manchmal auch – aus der Perspektive der Überwindung dieser orgiastischen Sakralität wird sie genau dann als dämonisch verstanden. Dass auch die Sexualität in diese Dimension einer dämonischen Opposition zur alltäglichen Profanität gehört, bedarf keiner besonderen Beweise – orgiastische Kulte enthalten fast immer ein sexuelles Element. Auf der anderen Seite birgt die Sexualität dasselbe Moment einer zweifachen Welt, einer zweifachen Wirklichkeit, das laut Beschreibung Spencers und Gillens für die Orgie charakteristisch ist. An der Sexualität wird auch deutlich, dass das Orgiastische notwendig in Beziehung zur Sphäre der Verantwortung zu setzen ist. Diese Herstellung einer Beziehung zur Verantwortung, also zum Bereich menschlicher Echtheit und Wahrheit, stellt wahrscheinlich die Keimzelle der Geschichte der Religionen dar. Die Religion ist nicht das Sakrale, ebenso wenig geht sie direkt aus der Erfahrung sakraler Orgien und Riten hervor, vielmehr entsteht sie da, wo das Sakrale als das Dämonische ausdrücklich überwunden wird. Die sakrale Erfahrung geht in die religiöse Erfahrung über, sobald man versucht, dem Sakralen Verantwortung einzubeschreiben oder es Regeln zu unterwerfen, die von der Verantwortung diktiert sind. All das geschieht ursprünglich und kann immer wieder geschehen, ohne dass ausdrückliche Klarheit darüber bestünde, was die Seinsweise eines verantwortlichen Wesens, wie es der Mensch ist, ausmacht. Ausdrückliche Klarheit über den Menschen lässt sich nicht ohne ausdrückliche Beziehung zum Sein gewinnen. Die sakrale oder religiöse Erfahrung hat diese Klarheit nicht; bei solcher Erfahrung handelt es sich um die Erfahrung von Brüchen, von Kehren und Konversionen, in denen sich das Sein des Menschen ohne ausdrückliche Klarheit, das heißt ohne ein wesentliches Maß für das, was ist und was nicht ist, geltend macht. Für die Frage nach dem menschlichen Sein haben daher die religiösen Brüche (und was mit ihnen zusammenhängt, zum Beispiel die künstlerische Erfahrung) nicht dieselbe grundsätzliche Bedeutung, wie sie die
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ontologische Erfahrung der Philosophie hat. Wohl deshalb kann es auch vorkommen, dass eine Religion eine Zeitlang der Verdunkelung anheimfällt, solange ihre Probleme nicht philosophisch gelöst sind. Die Oppositionen sacrum – profanum, Feier – Alltag, Außerordentliches – Alltägliches fallen nicht mit der Opposition Echtes – Unechtes zusammen, vielmehr gehören sie zu den Problemen, deren die Verantwortung erst noch Herr werden muss. Jede Form des Menschlichen kennt auf jeder »Stufe« und in irgendeiner Gestalt die Opposition zwischen dem Alltäglichen und dem Nichtalltäglichen, aber nicht jede ringt deshalb schon um Aufschwung aus dem Verfall. Wenn wir uns vom Alltäglichen befreien, haben wir dann schon unser eigentliches, volles und unveräußerliches Sein erreicht, auf das in geheimnisvoller Andeutung das Wort »Ich« weist? Die hier vertretene These lautet, dass ein Ich in diesem Sinne am Anfang der Geschichte auftaucht und dass es darauf gründet, sich nicht im Heiligen zu verlieren, sich dort nicht einfach seiner selbst zu begeben, sondern die Opposition zwischen dem sacrum und dem profanum auszuleben, indem das Ich in verantwortlicher Weise Fragen stellt, welche die in der nüchternen Klarheit des Alltags entdeckte Problematik erhellen und mit tatkräftigem Mut den ihr entspringenden Taumel akzeptieren: die Alltäglichkeit zu überwinden, ohne dass wir uns selbstvergessen in die Sphäre des Dunkels stürzen, so verlockend sie auch sein mag. Das geschichtliche Leben meint einerseits die Differenzierung der konfusen Alltäglichkeit des vor-geschichtlichen Lebens, Arbeitsteilung und Funktionalisierung der Individuen, andererseits die innere Beherrschung des Heiligen durch seine Interiorisierung, dadurch, dass wir uns ihm nicht mehr von außen hingeben, sondern uns innerlich mit seinem Wesensgrund konfrontieren, zu dem uns die radikale Erschütterung des Diffusen – als der Zufluchtstätte unserer alltäglichen Routine – den Weg öffnet. Daher ist die Entstehung der epischen und später besonders der dramatischen Dichtungen in den Anfängen des geschichtlichen Prozesses von so großer Bedeutung. In den Dichtungen folgt der Mensch erst mit dem inneren, dann mit dem äußeren Auge einem Geschehen, an dem teilzunehmen das Verfallen ans Orgiastische bedeutete. Die Geschichte entsteht als Aufschwung aus dem Verfall, als die Einsicht, dass das Leben bislang ein Leben im Verfall war und dass es andere Möglichkeiten zu leben gibt, als einerseits
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für den vollen Magen zu schuften, umgeben von Not und Mangel, die nur leidlich durch die Erfindungskraft des Menschen gemildert werden, oder sich, andererseits, privat oder öffentlich orgiastischen Momenten, der Sexualität, dem Kult hinzugeben. Die griechische polis, das Epos, die Tragödie und die Philosophie sind verschiedene Seiten dieses Elans, der Aufschwung aus dem Verfall bedeutet. Gerade weil die Geschichte in erster Linie dieses innere Geschehen bedeutet, das heißt die Entstehung eines Menschen, welcher der ursprünglichen, sich widerstreitenden menschlichen Möglichkeiten Herr wird, indem er das wahre und einzigartige Ich entdeckt, ist die Geschichte maßgeblich eine Geschichte der Seele. Daher ist die Geschichte fast von Anfang an durch die Reflexion auf die Geschichte begleitet. Daher bezeichnet Sokrates die polis, den eigentlichen Ort der Geschichte, auch als den Ort der Sorge um die Seele. Daher spricht Heraklit noch davor – in Entrüstung darüber, dass seine Gemeinde die Besten vernichtet, also diejenigen, die als Einzige dazu in der Lage wären, gegen die Alltäglichkeit ebenso wie gegen den orgiastischen Sprung in die Dunkelheit den Aufschwung aus dem Verfall zu vollbringen – von den Grenzen der Seele (im Sinne dessen, was ihr Gestalt gibt), die sich »selbst jeden [das ist gewöhnlichen] Weg beschreitend« »nicht herausfinden« ließen, weil der logos der Seele, ihr Wort oder Ausdruck, zu tief sei.2 Daher ist der Hauptgegenstand von Platons Überlegungen der Staat, der für ihn zugleich das Modell ist, an dem sich der Bau der einzelnen Seele äußerlich aufzeigen lässt. Und aus demselben Grund ist Platons Philosophie wesentlich um die Seele als deren Zentrum gruppiert, durch das sie erst zu etwas Festem und Definiertem wird. Freilich lässt sich annehmen, dass die besondere Beschaffenheit der antiken Gesellschaft auch die der antiken Philosophie in ihrer klassischen Gestalt begünstigte. Platons Denken, das für die ontologische Konzeption dieser Philosophie als Metaphysik entscheidend war, ist der gelungenen Charakterisierung Eugen Finks zufolge ein Denken schattenlosen Lichts (freilich erst in letzter Konsequenz, weil bei Platon über den Dualismus Vernunft – Notwendigkeit in der faktischen Welt kein Zweifel besteht).3 Das bedeutet, dass sich die Philosophie ihrer Vgl. Hermann Diels/Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin , Heraklit, B . [Vgl. Eugen Fink, Metaphysik der Erziehung im Weltverständnis von Platon und Aristoteles, Frankfurt/M. .]
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eigentlichen Lebensaufgabe, der nicht-ekstatische, nicht-orgiastische Gegenpol und die eigentliche Lösung des durch die Alltäglichkeit gestellten Problems zu sein, ohne Rücksicht auf die Struktur der Gesellschaft widmen kann – Vernunft und Verstand haben einzig diese Funktion und können sich voll in ihr ausleben, denn in der Lebens-Realität findet sich so viel an Nicht-Alltäglichem, dass kein Anlass zu der Befürchtung besteht, das Pathos des Alltags könnte dominieren und dessen Widerpart unterdrücken. Deswegen ist diese Ontologie eine Philosophie der Seele, die erst durch die Einsicht in den Unterschied zwischen dem echten, transzendenten, seinem Seinscharakter nach ewig unbewegten Seienden und der Wirklichkeit unserer bloß vorübergehenden, wechselnden Meinungen jenen einheitlichen Kern gewinnt, der dem Druck der verschiedensten Fragen und Problematiken, von denen die Seele sonst hin- und hergerissen würde, standhalten kann. Das Wesen der Seele ist Einheit, und die Einheit erreicht man durch das Denken, durch den inneren Dialog, durch die Dialektik, die die eigentliche Methode der Einsicht und das Wesen des Verstandes ist. Von daher ist offensichtlich, dass die Philosophie gleichzeitig Sorge um die Seele (epimeleia tês psychês), Ontologie und Theologie sein muss und dass sie das alles in der Sorge um die Gemeinde, um den besten Staat ist. Diese Struktur bleibt ihr erhalten, auch wenn das eigentliche Wesen des Seins dessen, was der Gegenstand der Philosophie ist, sich von der idea zur energeia (bei Aristoteles) wandelt und sich die Transzendenz von der Welt der Ideen auf eine Gottheit bzw. auf Gottheiten verlagert. Auch hier erfüllt die philosophische Theorie ihre Sendung, die eigentliche Domäne zu sein, in der unser Ich zu sich selbst und zum Erlebnis seines allmählich begriffenen Wesens gelangt. (Die Transzendenz des göttlichen Teils der Welt wird dann durch das Unvermögen der Welt, an das Göttliche zu reichen, und das Unvermögen des Göttlichen, an die Welt zu denken, gerade betont – diese Transzendenz ist der exakte Ausdruck für jene »geistige« Überwindung des Alltäglichen, zu der die Philosophie wesentlich beiträgt.) Platons Seelenlehre enthält noch weitere Aspekte. Auf einen der wichtigsten macht Eugen Fink in seiner Auslegung von Platons Höhlengleichnis aufmerksam.4 Das Höhlengleichnis ist, besonders in seinem dramatischen Teil, eine Verkehrung der traditionellen Mysteri [Vgl. ebd., S. f.]
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en und ihrer orgiastischen Kulte. Bereits diese Kulte tendierten wenn nicht zu einer Verbindung, so doch zu einer Konfrontation zwischen Verantwortung und Orgiastik. Die Höhle ist ein Relikt der unterirdischen Mysterienorte, sie ist der Schoß der Mutter – der Erde. Platons neuer Gedanke beruht auf dem Willen, den Schoß der Erdmutter zu verlassen und den reinen »Weg des Lichts« zu beschreiten, also den Orgiasmus vollständig der Verantwortung unterzuordnen. Daher führt der Weg der platonischen Seele direkt in die Ewigkeit und zum Ursprung aller Ewigkeit, zur Sonne des »Guten«. Ein anderer Aspekt hängt mit dem Vorangehenden zusammen. Die platonische »Konversion« ermöglicht den Blick auf das Gute. Dieser Blick ist so unveränderlich und ewig wie das Gute selbst. Der Weg zum Guten, der das neue Mysterium der Seele ist, spielt sich in Gestalt eines inneren Gesprächs der Seele ab. Bei der Unsterblichkeit, die in untrennbarer Verbindung zu diesem Gespräch steht, handelt es sich also um eine andere Unsterblichkeit als die der Mysterien. Zum ersten Mal in der Geschichte handelt es sich um eine individuelle Unsterblichkeit. Sie ist individuell, weil innerlich, weil untrennbar mit der eigenen Leistung verbunden. Die platonische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ist das Ergebnis der Konfrontation von Orgiasmus und Verantwortung. Die Verantwortung triumphiert über den Orgiasmus, sie verleibt ihn sich als untergeordnetes Moment ein, als eros, der sich selbst so lange nicht versteht, wie er nicht versteht, dass sein Ursprung nicht in der körperlichen Welt, in der Höhle, im Dunkel liegt, sondern dass er das bloße Mittel des Aufstiegs zum Guten mit dessen absolutem Anspruch und harter Disziplin ist. Diese Auffassung führt im Neuplatonismus dazu, dass das Dämonische – Eros ist ein großer Dämon – aus der Perspektive des echten Philosophen, der alle Versuchungen überwunden hat, zu einem dienstbaren Reich wird. Dies hat eine einigermaßen unerwartete Folge: Der Philosoph ist zugleich der große Thaumaturg. Der platonische Philosoph ist ein Zauberer – ein Faust. Der holländische Ideenhistoriker Gilles Quispel leitet daraus einen der Hauptursprünge der Faustlegende und des Faustischen überhaupt ab, jenes »unendlichen Strebens«, das jeden Faust so gefährlich macht, ihn aber schließlich auch erlösen kann.5 [Vgl. Gilles Quispel, »Faust, Symbol of Western Man«, in: Eranos Jahrbuch , Zürich .]
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Ein weiteres wichtiges Moment ist, dass der platonische Philosoph den Tod wesentlich dadurch überwindet, dass er vor ihm nicht die Flucht ergreift, sondern sich ihm stellt. Seine Philosophie ist meletê thanatoû,6 Sorge um den Tod. Die Sorge um die Seele ist von der Sorge um den Tod nicht zu trennen, die zur echten Sorge um das Leben wird: Das (ewige) Leben erwächst aus diesem direkten Blick auf den Tod, aus der Überwindung des Todes (vielleicht ist es nichts anderes als diese »Überwindung«). Zusammen mit der Beziehung zum Guten, der Identifizierung mit ihm und der Lösung von Dämonie und Orgiasmus, bedeutet sie die Herrschaft der Verantwortung und damit der Freiheit. Die Seele ist absolut frei, das heißt, sie wählt ihr Schicksal. Auf diese Weise erwächst auf der Grundlage der Dualität zwischen dem Echten und Verantwortlichen einerseits und dem Außerordentlichen und Orgiastischen andererseits eine neue Lichtmythologie der Seele: das Orgiastische wird nicht beseitigt, sondern diszipliniert und dienstbar gemacht. Wie sich leicht einsehen lässt, musste diese ganze Motivik in dem Moment weltgeschichtliche Bedeutung erlangen, als sich mit dem Ende der polis-civitas durch die Errichtung des Römischen Imperiums das Problem einer neuen, transzendent gegründeten Verantwortung auch gesellschaftlich, nämlich einem Staat gegenüber stellte, der nicht länger eine Gemeinschaft der Gleichen in Freiheit sein konnte. Freiheit bestimmt sich nicht mehr aus dem Verhältnis zwischen einander Gleichen (Bürgern), sondern aus dem Verhältnis zum transzendenten Guten. Damit stellen sich neue Fragen und werden neue Lösungen möglich. Die soziale Problematik des Römischen Reiches wird letztlich ebenfalls auf der Grundlage behandelt, die der platonische Seelenbegriff gelegt hat. Der neuplatonische Philosoph auf dem Kaiserthron, Julian Apostata, bildet – wie Quispel wohl richtig gesehen hat7 – eine wichtige Peripetie in der Beziehung zwischen dem Orgiasmus und der Disziplin der Verantwortung. Das Christentum wusste die platonische Lösung nicht anders als durch eine abermalige Wendung zu überwinden. Das verantwortliche Leben wird dabei als Gabe aufgefasst, als Gabe von etwas, das letztlich, obgleich es den Charakter des Guten hat, zugleich unzugänglich und dem Menschen auf immer [Vgl. Platon, Phaidon, a.] [Vgl. Gilles Quispel, Gnosis als Weltreligion, Zürich .]
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übergeordnet ist – also Züge des Mysteriums besitzt, welches das letzte Wort behält. Das Christentum versteht das Gute eben doch anders als Platon – als selbstvergessene und sich hingebende (nicht orgiastische) Liebe. Kein Orgiasmus – dieser bleibt nicht nur untergeordnet, sondern wird fast völlig unterdrückt –, aber doch ein mysterium tremendum. Tremendum, weil die Verantwortung jetzt nicht mehr in das dem Menschen einsehbare Wesen von Güte und Einheit eingefügt ist, sondern in die uneinsehbare Beziehung zu einem absoluten, höchsten Seienden, das uns weniger von außen als von innen beherrscht. Die Freiheit des Weisen, der den Orgiasmus überwunden hat, kann immer noch als eine bestimmte Dämonie verstanden werden, als der Wille zu Absonderung und Verselbständigung, der Wille zum Widerstand gegen die einfache Hingabe und die selbstvergessene Liebe, in der die eigentliche Gottähnlichkeit besteht. Man sucht die Seele jetzt nicht mehr nur im Aufstieg des inneren Gesprächs, sondern spürt auch die Gefährlichkeit dieses Aufstiegs. In letzter Instanz ist die Seele nicht eine Beziehung zu einem wie auch immer erhabenen Gegenstand (wie dem platonischen Guten), sondern zu einer Person, die in die Seele sieht, ohne selbst einsehbar zu sein. Was eine Person ist, wird aus christlicher Perspektive nicht wirklich adäquat thematisiert, ist jedoch in Bildern und »Offenbarungen« von großer Kraft gegenwärtig, vor allem in Gestalt des Problems der göttlichen Liebe und des Mensch gewordenen Gottes, der unsere Schuld auf sich nimmt. Die Schuld bekommt ebenfalls einen neuen Sinn, sie ist eine Beleidigung der göttlichen Liebe, eine Missachtung des Allerhöchsten, die persönlichen Charakter hat und nur persönlich gesühnt werden kann. Der verantwortliche Mensch als solcher ist ein Ich, er ist ein Individuum, das sich mit keiner der Rollen deckt, die es annehmen kann – bei Platon findet das seinen Ausdruck im Mythos von der Wahl des Lebensloses. Der Mensch ist ein verantwortliches Ich, weil er in Konfrontation mit dem Tod und in Auseinandersetzung mit dem Nichts auf sich nimmt, was jeder nur in sich selbst vollziehen kann und worin er unvertretbar ist. Jedoch wird die Individualität jetzt in Beziehung zur unendlichen Liebe gebracht, und der Mensch ist ein Individuum, weil er gegenüber dieser Liebe schuldig ist und stets schuldig sein wird. Jeder Mensch ist als Individuum durch die Einmaligkeit seiner Stellung zur Allgemeinheit der Sünde bestimmt. Nietzsche hat das Wort geprägt, das Christentum sei Platonis
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mus fürs Volk, und das ist insofern richtig, als der christliche Gott die Transzendenz der onto-theologischen Konzeption als etwas Selbstverständliches übernimmt. Aber in der christlichen Konzeption der Seele liegt ein tiefer, grundsätzlicher Unterschied. Nicht nur weil der christliche Mensch, wie Paulus formuliert, die griechische sophia tou kosmou (die Metaphysik) und ihre Methode des inneren Dialogs – die Ideenschau – als den Weg zu jenem Sein, das unweigerlich zur Entdeckung der Seele dazugehört, zurückweist. Der Hauptunterschied scheint die Tatsache zu sein, dass erst jetzt dieser eigentliche Inhalt der Seele entdeckt ist, der darin besteht, dass die Wahrheit, um die die Seele kämpft, nicht die Wahrheit der Schau ist, sondern die Wahrheit des eigenen Schicksals, eine Wahrheit, die mit ewiger, für alle Zeit nicht widerrufbarer Verantwortung verbunden ist. Nicht durch die Schau der Ideen und also durch die Bindung an ein Seiendes, das von Ewigkeit an ewig ist, sondern durch das Sich-Öffnen für die Abgründigkeit des Göttlichen und des Menschlichen, der Gottmenschlichkeit, die vollkommen einzigartig ist und daher definitiv über sich selbst entscheidet, entsteht das eigentliche Leben der Seele, ihr wesentlicher, einzig diesem beispiellosen Drama geltender Inhalt. Amalgamiert mit dem alttestamentarischen Herrn der Geschichte, wird der klassische transzendente Gott zur Hauptfigur dieses inneren Dramas und macht es zu einem Drama von Erlösung und Gnade. Die Überwindung der Alltäglichkeit nimmt die Gestalt der Sorge um das Heil der Seele an, die sich in einer sittlichen Verwandlung, in einer Umkehr angesichts des (ewigen) Todes gewonnen hat, zwischen Angst und Hoffnung schwankt, im Bewusstsein der Sünde zittert und sich mit ihrem ganzen Wesen zum Sühneopfer anbietet. Obwohl niemals ausdrücklich reflektiert und zum philosophischen Gegenstand gemacht, impliziert dies den Gedanken, dass das Wesen der Seele mit dem Wesen jedes gegenständlichen Seienden absolut unvergleichbar ist, dass dieses Wesen der Seele mit ihrer Sorge um das eigene Sein zusammenhängt, an dem sie, im Unterschied zu allem übrigen Seienden, unendlich interessiert ist, und dass zu dieser Disposition der Seele wesentlich die Verantwortung, also die Möglichkeit der Wahl und des Zu-sich-selbst-Gelangens in der Wahl gehört – der Gedanke, dass die Seele nicht von vornherein da ist, sondern erst am Ende, dass sie in ihrem ganzen Wesen etwas Geschichtliches ist und nur kraft dessen dem Verfall entgeht.
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Insofern es seinen Grund in dieser abgründigen Tiefe der Seele hat, ist das Christentum der bislang größte und unüberbotene, wenngleich noch nicht zu Ende gedachte Aufschwung, der den Menschen jemals zum Kampf gegen den Verfall befähigt hat. Die konkrete Gestalt des äußeren (gesellschaftlichen) und des inneren (geistigen) Lebens ist während der christlichen Periode allerdings mit der Problematik des Römischen Reiches (das ursprünglich der griechischen polis analog war, sich aber aufgrund der eigenen Erfolge aus einer res publica in ein imperium verwandelte und sich so die Masse seiner Bürger entfremdete, denen damit der Lebensinhalt genommen war) und seinem Untergang verbunden. Er meint nicht nur das negative Phänomen des Zerfalls einer elitären Gesellschaft, die von einem zunehmend härter und zugleich krisenanfälliger werdenden Sklavensystem abhängig war, und des Wandels ihres sozioökonomischen Systems. Der Untergang des Römischen Reichs bedeutet auch die Entstehung dessen, was wir heute unter dem Wort Europa verstehen. Die Philosophie der revolutionär ausgerichteten ökonomischen Dialektik hat uns für die Tatsache blind gemacht, dass sich unsere Revolutionsepoche auf einen Wandel gründet, der sich durch einen äußeren Zusammenbruch und nicht durch innere Eruption ereignete. Der innere soziale Wandel vollzog sich ruhig und beruhte darauf, dass die Arbeitslast mehr und mehr von der Sache, die der Sklave war, von einem Wesen ohne sittlichen Charakter, auf ein Wesen überging, das in seiner Familie und in seinem Eigentum, mag dieses noch so ausgebeutet und bescheiden gewesen sein, einen selbständigen, ansatzweise freien Charakter, den Charakter einer Person hatte. (Hegel und Comte waren sich der Bedeutung dieses Wandels, seiner entscheidenden Tragweite, noch vollkommen bewusst.) Es ist dieser Wandel, der bewirkte, dass die europäische und besonders die westeuropäische Gesellschaft nach Jahrhunderten der Wirrnis als eine gewaltige, expansive Macht in Erscheinung trat und dass die in ihr enthaltenen Potenziale in neuen sozialen und politischen Strukturen von ungeheurer Tragweite Ausdruck fanden: in der Kolonisierung, in der Entstehung von Städten, deren Charakter vollkommen anders beschaffen ist als der der antiken polis, von Städten, in denen die Arbeit von der Idee der Maschine und ihrer Vervollkommnung geleitet ist und man also die Last der Arbeit vom Menschen auf die Sache zu übertragen sucht; in der Expansion in Bereiche, die das Römische Imperium verloren
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– das Mittelmeer und den Orient –, und in solche, die es niemals besessen hatte, nämlich Mittel- und Nordosteuropa. Was jedoch in unserem Zusammenhang am meisten interessiert: Wie eine ganze in der Linie Tocquevilles stehende Schule der modernen Soziologie betont, zeichnet sich die moderne Entwicklung dadurch aus, zu demokratischem Ausgleich, Chancengleichheit, zum Vorrang von Wohlstand vor »Größe« zu tendieren. Wo liegen die Gründe dafür? Die mittelalterliche Gesellschaft war ihrem Ursprung nach hierarchisch, sie ging aus den Resten der römischen Munizipalorganisation und aus den germanischen Eroberungskriegen hervor, aber ihre Basis bildete ein neues, auf Kolonat und städtischer Produktion gründendes Verhältnis zur Arbeit. Dabei war der Klerus das Element, das die Überwindung der Alltäglichkeit in authentischer Weise besorgte, indem er die orgiastischen Tendenzen einmal unterband, dann wieder (wie im Falle der Kreuzzüge) kanalisierte. Es lässt sich nun leicht verstehen, dass das städtische Element in diesem Geschehen der Träger neuer Potenziale war. Aus seinem neuen Verhältnis zur Arbeit und seinem skeptischen Gebrauch der antiken, rationalistischen Tradition resultierte mit der Zeit auch eine neue Auffassung des Wissens als eines im Wesentlichen praktischen und beherrschenden Wissens. Dies traf sich mit bestimmten praktischen Tendenzen der christlichen Theologie, die betonte, dass der Mensch nicht auf der Welt sei, um sie nur oder vorwiegend zu betrachten, sondern um zu dienen und tätig zu sein. Die Expansion Europas vollzog sich nicht mehr in Gestalt der Kreuzzüge, sondern durch die Entdeckungen in Übersee und den Sprung auf die Reichtümer der Welt. Die innere Entwicklung der Produktion, der Techniken, der Handels- und Finanzpraktiken führte zugleich zur Entstehung eines Rationalismus ganz neuer Art, wie er bis heute regiert: zu einem Rationalismus, der die Dinge beherrschen will und der (über das Gewinnstreben) von ihnen beherrscht wird. Die Entstehung dieses modernen (nicht-platonischen) Rationalismus ist komplex. Große Bedeutung kommt in ihr dem Problem der Überwindung der Alltäglichkeit und des Orgiasmus zu, das die christliche Epoche von der Antike geerbt hatte, ohne dafür eine eigene Lösung zu finden. Die christliche Theologie verwarf zwar den platonischen Lösungsansatz, entlehnte ihm aber entscheidende Elemente – mit weitreichenden Folgen. Der platonische Rationalismus, das Bestreben, auch die Verantwortung der Objektivität der
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Erkenntnis zu unterwerfen, wirkt im Untergrund der christlichen Auffassung weiter. Die Theologie selbst beruht auf einem »natürlichen« Fundament, und das »Übernatürliche« wird als Erfüllung des »Natürlichen« verstanden. Die Distanz zur »Natur«, die nicht mehr das ist, worin der Mensch steht, sondern die von ihm durch die einzige unmittelbare Beziehung, die ihm eignet, durch die Beziehung zu Gott, getrennt ist, ermöglicht jetzt den Blick auf diese »Natur« als ein Objekt. Nach seiner Freiheit strebt der Mensch fortan im Rahmen dieser – platonisch verstandenen – Natur, über welcher er steht, weil er sie durch seine Ideenschau erfasst. Von daher rührt der mathematische Entwurf der Natur und ihre neue Gestalt, die sich ab dem . Jahrhundert vorbereitet und im . Jahrhundert ihren Durchbruch hat, als sie ihre maßgeblichen Interpretationserfolge verbucht. Es ist bekannt, dass Galilei Platoniker war. Es ist Platon mit seiner Metaphysik der unsterblichen Seele, der es ermöglicht, dass sich die Beherrschung der Natur durch den menschlichen Geist in der christlichen Welt geltend machen kann, ohne dass freilich das problematische Verhältnis zwischen metaphysischer Philosophie und christlicher Theologie geklärt wäre. Platonisch sind auch die Thaumaturgie, die Alchemie und die paracelsische Medizin der Renaissancezeit. Das Faustische meldet sich und verführt dazu, das Bündnis mit dem Göttlichen durch einen Pakt mit dem Dämonischen zu brechen. Auf der anderen Seite ermöglicht die christliche Bezugnahme auf die Lebenspraxis, das heißt die positive Bewertung des praktischen Lebens gegenüber der Theorie, die platonische Beherrschung der Natur in praktische Zusammenhänge einzugliedern und so ein effizientes Wissen zu schaffen, das technisch und wissenschaftlich zugleich ist – die moderne Naturwissenschaft. Die Veränderung im geistigen Kern des Christentums selbst, der Übergang zunächst vom Adelschristentum zur kirchlichen Autonomie und später zum Laienchristentum, ermöglichte, dass das Christentum mit seiner aus der Reformation stammenden Mentalität weltlicher Askese und dem Pathos persönlicher Bewährung durch ökonomischen Erfolg zur Entstehung jener Autonomie des Produktionsprozesses beitrug, die für den modernen Kapitalismus charakteristisch ist. Dieser entledigt sich sehr bald seines religiösen Impulses und verbindet sich mit dem im Wesentlichen äußerlichen,
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jedem persönlichen oder moralischen Auftrag fremd gegenüberstehenden modernen Rationalismus samt seinem höchst effizienten mathematischen Formalismus und seinem erfolgreichen, der Beherrschung von Natur, Bewegung und Kraft zugewandten modernen Mechanizismus, der sich allzu bereitwillig in Maschinismus verwandelt und so zur industriellen Revolution beiträgt. In der Folge durchwirkt und bestimmt die industrielle Revolution unser Leben immer stärker: Die europäische Menschheit bzw. inzwischen schon die Menschheit überhaupt mit ihren vielfältig ausdifferenzierten Berufszweigen und komplexen Interessenverflechtungen vermag schlechthin physisch nicht mehr zu existieren ohne diese immer stärker auf Wissenschaft und Technik beruhende (und die planetaren Energiereserven verheerende) Produktionsweise. Die rationale Beherrschung, die kalte »Wahrheit« dieses kältesten aller kalten Ungeheuer, verbirgt uns den Ursprung dieser Produktionsweise vollständig und unterdrückt alle traditionellen Verfahren, die Alltäglichkeit nicht orgiastisch und insofern echt (im Sinne einer tieferen Wahrheit, die nicht nur auf das formale Gewand schaut, in das sich die beherrschbare Natur kleidet, sondern auf den Menschen in seiner unveräußerlichen und abgründigen Individualität) zu überwinden. Sie geriert sich als Herr im Hause des Kosmos. Es ist also eine ganze Fülle von geistigen Motiven, die sich vereinigt haben, um schließlich ein ungeistiges, ganz und gar »praktisches«, weltliches und materielles Verständnis des Wirklichen hervorzubringen, ein Verständnis, das das Wirkliche zu einem Gegenstand der Beherrschung durch unser Denken und unsere Hände macht. Was ursprünglich bei Platon ein Wall gegen die Verantwortungslosigkeit des Orgiasmus war, ist jetzt in den Dienst der Alltäglichkeit getreten. In ihr schmeichelt sich der Mensch, das eigene Leben in den Händen zu halten, und tatsächlich vermag er es auch, sich kraft Einsicht in die von ihm entdeckten Ursachen Mittel zur Erleichterung seines Lebens und zur äußerlichen Mehrung seiner Güter zu schaffen. Die Arbeit selbst knechtet dabei zwar anfangs in nie dagewesener Weise, dann jedoch »befreit« sie zunehmend, bis sich dem Menschen die Perspektive auftut, sich vollständig von ihr zu »befreien«. Ein Ergebnis dieser Entwicklung, das erst unbeachtet bleibt, sich dann aber immer deutlicher bemerkbar macht, ist die Langeweile.
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Die Langeweile ist keine Nebensächlichkeit, keine »bloße Stimmung« oder private Befindlichkeit, sondern der ontologische Status einer Menschheit, die ihr gesamtes Leben der Alltäglichkeit und deren unpersönlichem Charakter untergeordnet hat. Kierkegaard hat bereits im . Jahrhundert die Langeweile als die Wurzel der ästhetischen Haltung herausgestellt, jener Unbeständigkeit, die uns nicht erlaubt, im Seienden Fuß zu fassen.8 Ähnliche Motive finden sich schon bei Pascal im . Jahrhundert, inspiriert von einem sich auf breiter Front durchsetzenden Mechanizismus. Durkheim hat angemerkt, dass bestimmte Erscheinungen der Französischen Revolution auf eine spontane Erneuerung des Sakralen wiesen. Während der Revolution werden die Menschen von einer Art religiösen Begeisterung erfasst. »Die Fähigkeit der Gesellschaft, sich zu vergotten oder Götter zu erschaffen, ist nirgends deutlicher zu sehen als in den ersten Jahren der Französischen Revolution. Unter dem Einfluss der allgemeinen Begeisterung wurden seinerzeit rein profane Dinge durch die öffentliche Meinung vergöttlicht: das Vaterland, die Freiheit, die Vernunft.«9 Es handelt sich hier allerdings um eine Begeisterung, die unbeschadet ihres Kultes der Vernunft einen orgiastischen, nicht, oder zumindest kaum, durch persönlich übernommene Verantwortung disziplinierten Charakter hat. Die Gefahr eines erneuten Falls in den Orgiasmus zeigt sich hier akut. Die Verfallenheit an die Dinge, an ihre alltägliche Besorgung und an die Bindung durch das Leben zieht als unausweichliches Pendant eine neue Welle des Orgiastischen nach sich. Je mehr sich die moderne Technowissenschaft als der eigentliche Bezug zum Seienden durchsetzt, je mehr alles Natürliche und dann auch Menschliche in ihren Griff gerät, je mehr die Traditionen des alten Ausgleichs zwischen dem Echten und dem orgiastisch Mitreißenden verdrängt und als unrealistisch, unglaubwürdig und phantastisch abgetan werden, umso grausamer fällt die Revanche des orgiastischen Enthusiasmus aus. Bereits in den »Befreiungskriegen« und in den Revolutionskrisen des . Jahrhunderts bricht er durch. Die gegen ihn aufgebotenen, zumeist brutalen Repressionen steigern ihn noch. Die Ernsthaftigkeit des Lebens, all sein Interesse am eigenen Sein, konzentriert sich so in dieser Sphäre des sozialen Kampfes. Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, Erster Teil VII, Die Wechselwirtschaft. [Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, a. a. O., S. .]
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In diesem Kampf, der bis ins Extrem und ohne jede Gnade geführt wird, gehen Alltäglichkeit und Enthusiasmus Hand in Hand. Während des ganzen . Jahrhunderts bleibt diese Verbindung noch weitgehend latent, weil starke Trägheitskräfte in ihm fortwirken. Im . Jahrhundert jedoch, das gleichsam die Wahrheit des . Jahrhunderts ist, ist dieses Gegensatzpaar so deutlich das allbeherrschende Motiv, dass es dafür nicht einmal eines Nachweises bedarf. Der Krieg ist in diesem Jahrhundert die vollendete Revolution der Alltäglichkeit. Hand in Hand mit ihm marschieren die universale Befreiung und das universale Happening, der Orgiasmus in neuen Formen. Nicht nur der Ausbruch von Kriegen und Revolutionen, sondern auch der Verfall der bisherigen Formen von ethos, die Durchsetzung des »Rechts auf den Körper« und auf das »eigene Leben«, die universale Ausweitung des Happenings usw. belegen diesen Zusammenhang. Der Krieg als universales »Alles ist erlaubt«, als wilde Freiheit, erfasst die Staaten, wird »total«. Ein und dieselbe Hand organisiert Alltäglichkeit und Orgie. Der Organisator von Fünfjahresplänen ist ebenso der Autor von inszenierten Prozessen, die Teil einer neuen Hexenjagd sind. Der Krieg ist zugleich das größte Unternehmen der industriellen Zivilisation, das Produkt und das Werkzeug der totalen Mobilisierung (wie Ernst Jünger richtig gesehen hat10) und die Freisetzung der orgiastischen Potenziale, denen nirgendwo anders das Extrem eines Rausches gestattet ist, der sich durch Vernichtung herstellt. Bereits zu Anfang der Moderne, in den Religionskriegen des . und des . Jahrhunderts, herrschten eine ähnliche Brutalität und eine Orgiastik desselben Stils, bereits damals waren daran der Verfall der bestehenden allgemeinen Disziplin und die Dämonisierung des jeweiligen Widerparts schuld. Dass aber die Dämonie ihren Gipfel gerade in einer Zeit maximaler Nüchternheit und Rationalität erreicht, ist beispiellos. Gleichzeitig nimmt die Langeweile nicht ab. Im Gegenteil, sie drängt sich in den Vordergrund der Szene. Sie zeigt sich nicht nur in den raffinierten Formen des Ästhetizismus und romantischer Proteste, sondern auch in der Gestalt der Konsumgesellschaft, die mit positiven Mitteln das Ende der Utopie besiegelt. Als Pflicht zum Vergnügen wird die Langeweile zu einer jener kollektiven [Vgl. Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung (), in: ders., Sämtliche Werke, . Abteilung: Essays I, Bd. , Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart .]
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metaphysischen Erfahrungen, die unsere Zeit auszeichnen (andere sind das Fronterlebnis, Hiroshima). Was sonst bedeutet diese ungeheure Langeweile, die aller Scharfsinn der modernen Wissenschaft und Technik nicht zu maskieren vermag und die zu unterschätzen oder nicht zu beachten naiv und zynisch wäre? Die raffiniertesten Erfindungen sind langweilig, wenn sie nicht dazu führen, das Geheimnis zu vertiefen, das sich hinter dem verbirgt, was entdeckt, was enthüllt ist. Die gewaltige Durchdringungskraft des menschlichen Denkens enthüllt mit nie erträumter Vehemenz. Aber im selben Augenblick bemächtigen sich seiner der Alltag und ein Seinsverständnis, für welches das Seiende im Grunde bereits vollständig enthüllt und klar ist und das aus dem Geheimnis von heute im Handumdrehen das allgemeine Geschwätz und die Trivialität von morgen macht. Das Problem des Individuums, das Problem der menschlichen Person war von Anfang an das Problem der Überwindung von Alltäglichkeit und Orgiasmus. Es bedeutete zugleich, dass der Mensch mit keiner der Rollen, die er in der Welt spielt, identisch sein kann. Der moderne Individualismus, der sich (nach Burckhardt und anderen11) seit der Renaissance ausbreitete, liegt nicht in dem Bestreben, die Rollen zu durchdringen zu dem hin, was ihnen zugrunde liegt, sondern eine bedeutende Rolle zu spielen. Die Kämpfe der bürgerlichen Revolutionen gelten Rollen. (Gleichheit ist die Gleichheit der Rollen; und Freiheit ist die Möglichkeit, die Rolle zu wählen, die uns gefällt.) Der moderne Individualismus entpuppt sich immer mehr als Kollektivismus (Universalismus), und der Kollektivismus ist dieser falsche Individualismus. Die eigentliche Frage nach dem Individuum stellt sich deshalb nicht als Alternative zwischen Liberalismus und Sozialismus, zwischen Demokratie und Totalitarismus, die bei allen tiefen Unterschieden gemein haben, all das zu ignorieren, was nicht objektiv, was keine Rolle ist. Von daher kann auch eine Lösung des zwischen ihnen herrschenden Konflikts nicht die Forderung erfüllen, den Menschen an seinen eigentlichen Ort zu stellen und ihn von seinem Irren außerhalb seiner selbst und außerhalb des ihm zugehörigen Ortes zu erlösen. Dieses Irren im Außerhalb drückt sich unter anderem in der modernen Heimatlosigkeit aus. Trotz der gewaltigen Produktion von [Vgl. Jakob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien, Basel .]
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Mitteln zur Deckung des Lebensbedarfs bleibt das menschliche Leben heimatlos. Heim und Heimat werden zunehmend als bloße Unterkunft verstanden, als der Ort, wo der Mensch schläft, um am nächsten Tag zur Arbeit gehen zu können, als der Ort, an dem er die Erträge seiner Arbeit aufbewahrt und ein immer weniger existentes »Familienleben« führt. Dass der Mensch im Unterschied zu allen anderen Lebewesen nur deswegen wohnt, weil er in der Welt nicht zu Hause ist, weil er aus ihr heraussteht, dass er aber gerade aus diesem Grund eine Sendung in der Welt und ihr gegenüber hat, die in den tiefsten und (solange sie im Menschen lebendig sind) unvergänglichen Vergangenheiten verankert ist – das alles verflüchtigt sich angesichts der modernen Mobilität, sei sie nun freiwillig oder erzwungen, es verschwindet angesichts dieser riesigen Völkerwanderung, die sich bereits über fast sämtliche Weltteile erstreckt. Die größte Heimatlosigkeit jedoch liegt in unserem Bezug zur Natur und zu uns selbst: Hannah Arendt hat bemerkt, dass der Mensch nicht mehr verstehe, was er tut, und sie zeigt, dass er sich in seinem Bezug zur Natur mit der bloßen praktischen Beherrschung und mit Prognosen begnügt, die jedes eigentlichen Verständnisses entbehren. Das heißt, dass der Mensch innerhalb der Naturwissenschaft schon lange vor den Weltraumflügen die Erde verlassen und damit in der Tat den Boden, dem seine Sendung gilt, unter den Füßen verloren hat. Damit aber hat er sich zugleich seiner selbst und seiner besonderen Stellung zum Universum begeben, die darauf beruht, dass er sich als das einzige uns bekannte Lebewesen auf das Sein bezieht, ja dieser Bezug ist. Das Sein hat aufgehört, ein Problem zu sein, wenn alles Seiende sich als berechenbare Sinnlosigkeit herausstellt. Der Mensch hat aufgehört, der Bezug zum Sein zu sein, und ist zu einer Kraft, zu einer der mächtigsten Kräfte überhaupt geworden. Er wurde vor allem in seinem gesellschaftlichen Dasein eine mächtige Station zur Freisetzung kosmischer, seit Äonen akkumulierter und gebundener Kräfte. Es scheint, als sei der Mensch in einer nur aus Kräften bestehenden Welt zu einem großen Akkumulator geworden, der auf der einen Seite die Kräfte nutzt, um zu existieren und sich zu mehren, der aber auf der anderen Seite gerade deswegen selbst in diesen Prozess verschaltet ist und wie jeder andere Kräftekomplex kumuliert, vorausberechnet, verbraucht und manipuliert wird. Dieses Bild scheint auf den ersten Blick mythologisch: Was ist »Kraft« anderes als der Begriff für die Weise
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des Menschen, Wirklichkeit vorausblickend zu steuern? Aber das punctum saliens besteht gerade darin, dass das Verständnis der Welt als Kraft die bloßen Kräfte zu mehr macht als zu einem Korrelat des menschlichen Zugriffs. In der Kraft verbirgt sich das Sein, das nicht aufgehört hat, jenes Licht zu sein, das die Welt erhellt, auch wenn es jetzt ein unheilvolles Licht ist. Wenn wir das Sein bloß aus der Perspektive des Seienden verstehen, dem es zugehört – und wir verstehen das Sein so, weil das Seiende für uns von jeher dasjenige ist, das ein für alle Mal radikal über allem herrscht, das also in diesem Sinne eins ist mit den ersten Anfängen, die zu beherrschen bedeutet, alles zu beherrschen –, dann ist die Kraft unserem heutigen Verständnis nach das höchste Seiende, das alles schafft und vernichtet, dem alles und alle dienen. Die Metaphysik der Kraft ist zwar ohne Zweifel fiktiv und unwahr, ein Anthropomorphismus – und doch wird ihr diese Kritik nicht gerecht. Denn gerade ihre praktische Vergottung macht die Kraft über ihren Begriff hinaus zu einer Wirklichkeit, zu etwas, das vermittels unseres Dingverständnisses alle in den Dingen potenziell enthaltene Wirksamkeit freisetzt, alle Potenziale aktualisiert. Die Kraft wird so nicht nur zu einem Seienden, sondern zur Wirklichkeit schlechthin. Alles existiert nur noch in der Wirkung, in der Akkumulation und in der Freisetzung von Potenzialen, alle übrige Realität verliert sich, jede Qualität, jede objektive Existenz. Das Erkenntnissubjekt erkennt nicht mehr, sondern transformiert nur noch… So erweist sich die Kraft als die größte Verbergung des Seins, als etwas, das, wie der entwendete Brief in Edgar Allen Poes gleichnamiger Erzählung, am sichersten dort ist, wo es sich dem Blick aussetzt, als die Allheit des Seienden, das heißt der Kräfte, die sich gegenseitig organisieren und freisetzen, wobei sie auch den Menschen nicht auslassen, der dabei allerdings gleich allem Seienden jedes Geheimnisses beraubt wird. Diese Vision eines vom Seienden resorbierten Seins hat ein großer zeitgenössischer Denker in seinem Werk entworfen, ohne Glauben oder auch nur Beachtung zu finden. Der nachfolgende und letzte unserer Essays über die Geschichte wird zu zeigen versuchen, wie sich dieses Sein im gegenwärtigen historischen Geschehen und seinen Alternativen widerspiegelt. Es scheint nunmehr leicht, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob die industrielle Zivilisation (insgesamt und als technowissen
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schaftliche) zum Verfall bestimmt sei. Gleichwohl zögern wir. Zwar ist es wahr, dass diese Zivilisation das große innere Problem des Menschen – und zugleich ihr eigenes Problem – nicht gelöst hat, nämlich das Problem, nicht bloß zu leben, sondern echt menschlich zu leben, wie es die Geschichte mehr als einmal als Möglichkeit aufgezeigt hat. Die technische Zivilisation hat die Lösung dieses Problems sogar noch erschwert, denn in ihr ist die Möglichkeit einer Beziehung des Menschen zu sich selbst und damit zugleich zur Welt insgesamt und ihrem wesentlichen Geheimnis nicht vorgesehen. Ihre Konzepte verflachen das Denken, sie gewöhnen das Denken im tiefen, grundsätzlichen Sinne ab. Die technische Zivilisation bietet da Surrogate, wo wir des Echten bedürfen. Sie entfremdet den Menschen von sich selbst, sie nimmt ihm seine Heimat in der Welt, sie lässt ihm nur noch die Wahl zwischen der Langeweile (die sich in dem Maße ausbreitet, wie die tägliche Mühsal der Arbeit abnimmt) einerseits und billigen Surrogaten und schließlich gewalttätigen Orgiasmen andererseits. Sie unterwirft die Erkenntnis dem uniformen Modell der angewandten Mathematik. Sie erschafft das Konzept einer Kraft, die allbeherrschend ist, sie mobilisiert die gesamte Wirklichkeit zur Freisetzung der gebundenen Kräfte, zu einer sich in Konflikten von planetarischen Ausmaßen verwirklichenden Herrschaft der Kraft. Der Mensch ist so äußerlich zugrunde gerichtet und innerlich verelendet, er ist um sein »Selbst« gebracht, um sein durch nichts ersetzbares Ich, er wird identifiziert mit der Rolle, die er spielt. Auf der anderen Seite ist aber ebenso wahr, dass diese Zivilisation ermöglicht, was keine vor ihr bieten konnte: ein Leben ohne Gewalt und in weitgehender Chancengleichheit. Nicht dass diese Zielstellung je ganz eingelöst worden wäre. Doch erst die technische Wissenschaft hat dem Menschen die Mittel an die Hand gegeben, die äußere Not zu bekämpfen. Nicht dass sich dieser Kampf gegen die äußere Not auf gesellschaftlichem Wege und mit den Mitteln, welche die technische Zivilisation zur Verfügung stellt, gewinnen ließe. Auch der Kampf gegen die äußere Not ist ein innerer Kampf. Aber die entscheidende Chance, die sich mit unserer Zivilisation eröffnet, besteht in der sich erstmals in der Geschichte bietenden Möglichkeit, die Herrschaft der Kontingenz abzulösen durch eine Herrschaft derer, die verstehen, worum es in der Geschichte geht. Diese Chance nicht zu erkennen und sie nicht zu ergreifen wäre
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nicht nur ein Unglück, es wäre ein tragischer Fehler der Intelligenz. Die Geschichte ist nichts anderes als die erschütterte Gewissheit des gegebenen Sinns. Sie hat keinen anderen Sinn und kein anderes Ziel. Für die schlechte Unendlichkeit der prekären menschlichen Existenz auf der Welt, für eine Existenz, die heute noch komplizierter wird durch die planetarische Affirmation der Massen, die daran gewöhnt sind, sich umschmeicheln zu lassen und steigende Ansprüche zu stellen, um nur noch leichter Opfer der manipulierenden Demagogie zu werden, ist dies Sinn und Ziel genug. Der zweite zentrale Grund, warum sich die technische Zivilisation nicht ohne weiteres als »zum Verfall bestimmte« kennzeichnen lässt, ist jedoch der, dass die Verfallserscheinungen, die wir an ihr konstatiert und dargestellt haben, nicht einfach ihr eigenes Werk, sondern das Erbe der vorangegangenen Epochen sind, deren geistige Problemstellungen und Motive das Material für ihre Hauptthematik geliefert haben. Dies geht aus unserer skizzenhaften Darstellung der Entstehung der modernen Zeit und ihres metaphysischen Grundcharakters hervor. Die moderne Zivilisation leidet nicht nur unter ihren eigenen Fehlern und Kurzsichtigkeiten, sondern auch darunter, dass das gesamte Problem der Geschichte noch ungelöst ist. Allerdings kann das Problem der Geschichte auch gar nicht gelöst werden, sondern muss ein Problem bleiben. Die Gefahr unserer Zeit besteht darin, dass wir vor lauter Detailwissen verlernen, die Fragen zu sehen und das, was ihren Grund bildet. Vielleicht ist die ganze Frage nach dem Verfall der Zivilisation falsch gestellt. Eine Zivilisation an sich gibt es nicht. Die Frage wäre eher, ob sich der geschichtliche Mensch noch zur Geschichte bekennen will.
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. Die Kriege des . Jahrhunderts und das . Jahrhundert als Krieg Der Erste Weltkrieg hat bei uns eine ganze Reihe von Deutungen hervorgebracht, die das Bemühen widerspiegeln, dieses ungeheure, zwar von Menschen getragene, jedoch jeden Einzelnen, ja die Menschheit übersteigende, in gewisser Weise kosmische Ereignis zu verstehen. Wir haben versucht, es in unsere Kategorien einzuordnen und es zu bewältigen, so gut wir konnten, im Wesentlichen auf der Grundlage des Denkens des . Jahrhunderts. Der Zweite Weltkrieg hat nichts Vergleichbares hervorgebracht. Seine unmittelbaren Ursachen ebenso wie seine Gestalt liegen (zumindest scheint es so) auf der Hand, und vor allem hatte er kein Ende. Er ging in etwas Eigenartiges über, das weder Krieg noch Frieden gleicht, und die Revolution, die diesen Zustand gewissermaßen kommentiert, erlaubt es niemandem, innezuhalten und das Wort zu sprechen, das »jedes Ding nach seinem Sein eingeteilt und gesagt hätte, wie die Dinge liegen«.1 Außerdem scheint bei uns die Überzeugung zu herrschen, dass es eine wahre, das heißt marxistische Deutung des Zweiten Weltkriegs geben müsse, irgendwo versteckt in den Ideentresoren der Partei, welche die Bewegung der Geschichte lenkt. Dass es eine solche Deutung tatsächlich nicht gibt, stört dann niemanden mehr … Es ist nicht die Aufgabe dieser Zeilen, eine Kritik der einzelnen Formeln vorzulegen, die für den Ersten Weltkrieg geprägt wurden. Lieber möchte ich auf die Tatsache aufmerksam machen, dass sie alle – ob sie ihn nun auf den Kampf des Germanentums gegen das Slawentum zurückführen oder auf den Kampf zwischen Demokratie und Theokratie, ob sie in ihm einen imperialistischen, aus dem letzten Stadium des Kapitalismus erwachsenen Konflikt sehen oder ein Resultat des exzessiven modernen Subjektivismus, der sich gewaltsam objektiviert – eines gemein haben: Sie alle betrachten den Krieg aus der Perspektive des Friedens, des Tages und des Lebens unter Ausschluss seiner dunklen, nächtlichen Seite. Aus dieser Perspektive erscheint das Leben, und vor allem gerade das Hermann Diels/Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin , Heraklit, B.
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geschichtliche Leben, als ein Kontinuum, in dem die Einzelnen gleichsam die Träger der allgemeinen Bewegung sind, auf die es einzig ankommt. Der Tod hat hier die Bedeutung einer Übergabe von Funktionen; der Krieg, dieser massenhaft organisierte Tod, ist eine unangenehme, obgleich notwendige Zäsur, die man im Interesse bestimmter, die Kontinuität des Lebens betreffender Zielsetzungen auf sich zu nehmen hat, an der als solcher sich aber nichts »Positives« finden lässt. Allenfalls mag der Krieg, wie Hegel sagt (und nach ihm Dostojewski wiederholt), jener heilsamen Erschütterung dienen, deren das bürgerliche Leben bedarf, um nicht in Routine zu erstarren.2 Aber dass der Krieg selbst etwas Deutendes sein könnte, das von sich selbst her sinnstiftende Kraft hat, ist ein Gedanke, der allen Geschichtsphilosophien und damit auch allen uns bekannten Interpretationen des Ersten Weltkrieges zutiefst fremd ist. Die bestehenden Deutungen des Ersten Weltkriegs stützen sich durchweg auf Ideen des . Jahrhunderts. Das aber sind Ideen des Friedens, des Tages und seiner Interessen. Es nimmt daher nicht wunder, dass sie nicht imstande sind, die Grundgestalt des so ganz anders gearteten . Jahrhunderts zu erklären, denn dieses Jahrhundert ist eine Epoche der Nacht, des Krieges und des Todes. Nicht dass es nicht notwendig wäre, zu seinem Verständnis auf die vorangehende Zeit zu rekurrieren. Doch aus ihren Ideen, Programmen und Zielen lässt sich nur die Entstehung des furchtbaren Willens erklären, der über Jahre hinweg Millionen von Menschen ins Feuer und noch mehr Menschen in die gigantischen, nicht enden wollenden Vorbereitungen dieses monumentalen Autodafés getrieben hat. Nicht erklären dagegen lässt sich aus ihnen der eigentliche Inhalt dieses Jahrhunderts und seine tiefe Verfallenheit an den Krieg. Hinter dem Ersten Weltkrieg stand, wie hinter allen europäischen Kriegen, eine bestimmte, allgemein geteilte Überzeugung, die mit Gewalt dahin drängte, sich zu manifestieren, sich zu verwirklichen. [Hegel rät den Regierungen, von Zeit zu Zeit Kriege zu entfachen. Um die Gemeinwesen innerhalb des Staates nicht »festwerden, hier durch das Ganze auseinanderfallen und den Geist verfliegen zu lassen, hat die Regierung sie in ihrem Innern von Zeit zu Zeit durch die Kriege zu erschüttern, ihre sich zurechtgemachte Ordnung und Recht der Selbständigkeit dadurch zu verletzen und zu verwirren, den Individuen aber, die sich darin vertiefend vom Ganzen losreißen und dem unverletzbaren Fürsichsein und der Sicherheit der Person zustreben, in jener auferlegten Arbeit ihren Herrn, den Tod, zu fühlen zu geben«. G.W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Suhrkamp Werkausgabe, Bd. , Frankfurt/M. , S. .]
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Auch dieser Krieg war ein »Ideen-Krieg«, selbst wenn sich die ihn bestimmende Idee schwer greifen lässt, weil ihre Negativität sie unauffällig macht. Die napoleonischen Kriege zum Beispiel schöpften noch aus den Ideen der Französischen Revolution; in ihnen spiegelte sich die Aufklärung in eigentümlicher, militärisch-technischer Gestalt wider, wobei die Aufklärung, gegründet auf die positive Idee, dass die Vernunft die Welt regiere, zu jener Zeit ideologischer Allgemeinbesitz war, eine von allen geteilte Überzeugung. Ebenso wurde der Dreißigjährige Krieg von der Überzeugung beherrscht, dass es notwendig sei, die Spaltung innerhalb der westlichen Christenheit zu überwinden. Die Kreuzzüge wiederum stützten sich auf den Glauben an die Suprematie der westlichen Christenheit, die auf deren innerer Wahrhaftigkeit beruhe. Die allgemeine Idee dagegen, die den Hintergrund des Ersten Weltkriegs bildete, war die sich lange schon vorbereitende Überzeugung, dass es so etwas wie einen positiven, objektiven Sinn der Welt und der Dinge nicht gebe und dass es am Menschen läge, solchen Sinn in dem Umkreis, der ihm zugänglich ist, durch Kraft und Macht zu verwirklichen. In diesem Geist spielten sich die Kriegsvorbereitungen ab: einerseits der Wille zum Erhalt des bisherigen Status quo, andererseits der Wille, diesen radikal zu verändern. Offensichtlich gingen hier auch Derivate anderer, älterer Überzeugungen christlichen Ursprungs ein: aufgeklärt-demokratische Ideen einerseits, theokratisch-hierarchische Ideen andererseits. Angesichts der Tatsache, dass es die demokratischen Staaten waren, die den europäischen Imperialismus am stärksten repräsentierten, erweist sich ihr Demokratismus als eine Komponente ihrer Verteidigung des weltweiten Status quo. Besonders deutlich wird dies an der Koalition mit dem schwächsten Element des damaligen imperialen Status quo, dem zaristischen Russland. Nicht dass die Menschen für besagte Derivate ins Feld gezogen wären; diese Ideen hatten aber Einfluss auf den Verlauf der Geschehnisse und auf die Willensintensität, die sich in ihnen manifestierte. Erst durch den Kriegseintritt Amerikas und die Einmischung der sozialistischen Revolution traten auf der Seite der Alliierten wie auf der Gegenseite gegen den Status quo gerichtete Kräfte in Erscheinung, in deren Namen der Krieg zwar beendet wurde, die aber, weil dieses Ende nicht wirklich einen Schlussstrich zog, zugleich den Boden für neue Konflikte oder eher das Wiedererstehen der alten bereiteten.
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Wenn wir das Kriegsgeschehen und den Willen, der für die unerwartet lange Kriegsdauer verantwortlich ist, auf diese Weise – und es ist die einzig realistische – verstehen, dann ist die Kriegspartei, die sich gegen den Status quo auflehnte und die daher mit Recht und gegen allen Anschein revolutionär genannt werden muss, das Deutschland nach Bismarck. Gegen allen Anschein, denn wie soll dieses vom konservativen Preußen mit seiner Militärkaste, seiner erstarrten Bürokratie und seiner unglaublich bornierten lutherischen Orthodoxie angeführte Gebilde ein revolutionäres Element, das Vehikel und der Agent der Weltrevolution sein? Sprechen nicht alle Fakten, unter anderem die Sozialgeschichte des Krieges, gegen eine solche Interpretation? Wenn wir uns an die gängige Konzeption der Revolution halten, wie sie sich in den sozial-ökonomischen Doktrinen, im historischen Materialismus, im Sozialismus des . Jahrhunderts durchgesetzt hat – eine Konzeption, welche die Revolution in politischer Hinsicht nach dem Modell der Revolutionen des . Jahrhunderts (hauptsächlich der französischen, weniger der amerikanischen) verstand und stilisierte –, kann diese These freilich nicht mehr als ein an den Haaren herbeigezogenes Paradox sein. Unter allen Gemeinwesen der damaligen Welt (die Vereinigten Staaten ausgenommen) ist jedoch ebenjenes Deutschland das Gebilde, das trotz seiner traditionellen Strukturen der Wirklichkeit des neuen technowissenschaftlichen Zeitalters am nächsten kommt. Selbst sein Konservatismus dient im Wesentlichen der Disziplin, die vehement, rücksichtslos, unter Verachtung aller Bemühungen um Gleichheit und Demokratie auf die Akkumulierung von schaffender, organisierender und umgestaltender Energie gerichtet ist. In Ernst Jüngers Der Arbeiter3 findet sich eine Vorahnung dieses revolutionären Moments des alten Vorkriegsdeutschlands. Es geht dabei vor allem um seinen sich immer deutlicher ausprägenden technowissenschaftlichen Zug, um den organisatorischen Willen der deutschen Wirtschaftsführer und Technokraten, deren Pläne zur bisherigen Organisation der Welt zwangsläufig im Widerspruch stehen. Diese Pläne haben sich in eine bestimmte, historisch vorbereitete Form gefügt: Hatte nicht der Krieg von / gezeigt, dass der bisherige Pfeiler Westeuropas, Frankreich, nicht mehr in der Lage ist, das weströmische Erbe zusammenzuhalten, dass Ös [Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (), in: Sämtliche Werke, . Abt.: Essays II, Bd. : Der Arbeiter, Stuttgart .]
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terreich, das letzte Relikt des alten Reiches, eine leichte Beute für solche Planungen abgibt und dass das »europäische Konzert« aus dieser Perspektive ein obsoletes Konzept ist? Angesichts all dessen lag der Eindruck nah, dieses imperiale Deutschland sei traditionalistisch und erneuere schlicht seinen Machtanspruch auf das alte Imperium auf der neuen Grundlage des Nationalismus, der den Krieg von / angetrieben hatte. Deutschlands innere Widersacher, die Sozialisten, mussten in ihm den Tummelplatz raffgieriger kapitalistischer Magnaten sehen und später einen typischen Vertreter des kapitalistischen Weltimperialismus mit seinem Bemühen, sich aller Reichtümer und Produktivkräfte des Planeten zu bemächtigen. In Wirklichkeit arbeiteten sie selbst mit an der Organisation einer neuen Gesellschaft der Arbeit, der Disziplin, der Produktion und eines planmäßigen Aufbaus, der in jeder Hinsicht zur Freisetzung immer weiterer Energiereserven führte. Dieses Deutschland wandelte Europa schon lange vor dem Krieg in einen energetischen Komplex um. Bei aller Intelligenz, mit der sich die übrigen Länder Europas, besonders Frankreich, in dieselbe Richtung bewegten, verliefen die Transformationsprozesse hier langsamer und wurden durch den Willen zu einer individualistischen Lebensart gemäßigt, wie Friedrich Sieburg auch noch lange nach dem Krieg in seinem Gott in Frankreich? 4 beobachtet hat. Die konservativen Strukturen Vorkriegsdeutschlands dienten weitgehend dieser Entwicklung, sie bewirkten, dass sich der Prozess diszipliniert vollzog, ohne große Erschütterungen, und dass sich die Massen trotz allem Zähneknirschen ihrer politischen Führer der Umgestaltung unterwarfen, ja dass Letztere sich beeilten, der politischen Organisation der Arbeiterklasse mittels Parteibürokratie dieselbe Marschrichtung vorzugeben. Die Revolution, zu der es hier kam, hatte ihre tiefe Antriebskraft in der augenfälligen Verwissenschaftlichung, die alle Kenner Vorkriegseuropas und -deutschlands als Hauptzug des Landes konstatiert haben, in einer Verwissenschaftlichung, die zugleich ein Verständnis der Wissenschaft als Technik meinte, einen Positivismus, dem es gelang, auch jene Traditionen, die vom Deutschland der ersten Hälfte des . Jahrhunderts, dem Deutschland des schwindenden alten Reiches und seiner geschichtlichen, philosophischen und theologischen Traditionen, übrig geblieben waren, zum Groß [Friedrich Sieburg, Gott in Frankreich?, Frankfurt/M. , erweiterter Neudruck .]
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teil zu neutralisieren oder sogar der neuen VerwissenschaftlichungsLokomotive anzuhängen. Entgegen allem Anschein ist die Achillesferse dieser Bewegung ihre Militärmaschinerie. Zwar befleißigt auch sie sich in ihrer Arbeit und ihrem Denken der neuen Schule, stößt dabei aber auf Widerstände. Es gibt hier eine Faszination für die Tradition und ihre Konzepte, Schemata und Ziele. Ungeheure Inflexibilität und Trägheit gehen einher mit autoritärer Rohheit und vollkommenem Mangel an Einbildungskraft. Die Kriegsführung ist mechanisch, der Sieg stellt sich durch Organisation, Zucht und Ordnung ein, dort, wo es dem Feind an diesen Qualitäten fehlt. Denkfaulheit bewirkt, dass keine Alternativpläne existieren, was zum Beispiel das Fehlen eines Offensivplanes für den Osten erklärt. Auch das »Verfaulen« im Grabenkrieg ist ein Verdienst des deutschen Generalstabs – die technischen Voraussetzungen für einen Bewegungskrieg waren bereits erfüllt, doch einzig die Franzosen wussten sie in der Marne-Schlacht teilweise zu nutzen. Das ganze »Können« erschöpfte sich im Steigern der Feuerkraft, was letztlich zwangsläufig dem Feind zuarbeitete. Die instinktive Ausrichtung des Krieges nach Westen beweist eines: es handelte sich um einen Krieg gegen den Status quo, dessen Zentrum der europäische Westen war. Für diesen Zweck genügte es nicht, Russland zu besiegen, es zu »erledigen«. Man musste dort zuschlagen, wo die Konkurrenz anderer, gleichgearteter Organisationszentren drohte. Von daher erklärt sich wohl die Faszination für die Westfront oder die Tatsache, dass man auf den wahnwitzigen Schlieffen-Plan, auf den U-Boot-Krieg, auf die »Großoffensive« des Jahres setzte. Der Gedanke, den Feind dazu zu bringen, sich an der Verteidigungslinie entlang des Rheins erschöpfen zu lassen, und unterdessen sich definitiv des Ostens als der Basis für die Organisation eines wirtschaftlichen Großraums zu bemächtigen, in dem kaum mit Widerstand zu rechnen war, kam nicht auf oder fand zumindest keine Beachtung. Der Erste Weltkrieg ist das entscheidende Ereignis in der Geschichte des . Jahrhunderts. Er prägte dessen Charakter und hat gezeigt, dass die Verwandlung der Welt in ein Laboratorium, das über Milliarden von Jahren akkumulierte Energiereserven freisetzt, sich nur mittels Krieg vollziehen kann. Er stellt den endgültigen Durchbruch des im . Jahrhundert entstandenen und mit der
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Entstehung der mechanischen Naturwissenschaft einhergehenden Seinsverständnisses dar, das alle »Konventionen« beseitigt, die dieser Freisetzung im Weg stehen: eine Umwertung aller Werte im Zeichen der Kraft. Warum muss die energetische Transformation der Welt über den Krieg erfolgen? Weil der Krieg, der akute Widerstreit, das effizienteste Mittel zur schnellen Freisetzung der akkumulierten Kräfte ist. Der Konflikt ist das große Mittel, das – mythologisch gesprochen – der Kraft dient, von der Potenzialität in Aktualität überzugehen. Der Mensch dient bei diesem Vorgang als bloßes Relais. Rührt nicht ebendaher jener Eindruck von der Kosmizität des Kriegsgeschehens, den Teilhard de Chardin so eindrücklich festgehalten hat? »Le front n’est pas seulement la nappe ardente où se révèlent et se neutralisent les énergies contraires accumulées dans les masses ennemies. Il est encore un lieu de vie particulière à laquelle participent seuls ceux qui se risquent jusqu’à lui et aussi longtemps seulement qu’ils restent en lui (…).«5 – »Il me semble qu’on pourrait montrer que le front n’est pas seulement la ligne de feu, la surface de corrosion des peuples qui s’attaquent, mais aussi en quelque façon, le ›front de la vague‹ qui porte le monde humain vers ses destinées nouvelles (…). Il semble qu’on se trouve à l’extrême limite de ce qui s’est réalisé et de ce qui tend à se faire (…).«6 Teilhards Stoff- und Lebensmystik trägt das Siegel des Fronterlebnisses. Es sind die Kräfte des Tages, die vier Jahre lang Millionen von Menschen in die Gehenna des Feuers schicken, und die Front ist der Ort, an dem sich vier Jahre lang alle Aktivitäten des industriellen Zeitalters konzentrieren, das der Frontkämpfer Ernst Jünger das Zeitalter des Arbeiters und der totalen Mobilmachung7 genannt hat. Diese Kräfte selbst sterben nicht, sie erschöpfen sich nur, es ist ihnen gleichgültig, ob sie vernichten oder organisieren. Im Grunde »wollen« sie eher organisieren und sich sogleich an jenes Werk machen, von dem der Krieg bloß abhält. »Kriegsziele« ist der falsche [Vgl. Pierre Teilhard de Chardin, Écrits du temps de la guerre, Paris , S. . Die hier zitierte Studie La nostalgie du front und die damit zusammenhängende Korrespondenz ist nicht in die deutsche Übersetzung von P. Teilhard de Chardin, Frühe Schriften, Freiburg/München aufgenommen worden.] [Ebd., S. .] [Vgl. Ernst Jünger, »Die totale Mobilmachung« (), in: ders. Sämtliche Werke, . Abteilung: Essays I, Bd. : Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart .]
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Ausdruck: es handelt sich um Friedensziele, freilich um solche einer pax teutonica oder pax americana. Aber die Menschheit verbringt gezwungenermaßen vier Jahre an der Front, und wer die Front durchgemacht hat, sagt Teilhard, ist ein anderer Mensch. Ein »anderer Mensch« in welchem Sinne? Es gibt eine ganze Reihe von Beschreibungen der Fronterfahrung, Berichte, die aus verschiedenen Blickwinkeln konzipiert sind. Wir greifen hier auf die Zeugnisse Jüngers und Teilhards zurück. Beide, Jünger wie Teilhard, heben die Erschütterung durch die Front hervor, die kein momentanes Trauma, sondern eine grundsätzliche Veränderung in der menschlichen Existenz bedeutet: Der Krieg als Front zeichnet für immer. Eine weitere Gemeinsamkeit beider: Der Frontkrieg ist zwar schrecklich, und jeder in den Schützengräben erwartet ungeduldig seine Ablösung (selbst nach dem sicher nicht zimperlichen Maßstab der Generalstäbe ist es unmöglich, länger als neun Tage durchzuhalten), und doch findet, wer die Erfahrung des Fronterlebnisses voll durchlebt, dort etwas tiefgründig und rätselhaft Positives. Es handelt sich dabei weder um eine Anziehung durch den Abgrund noch um Abenteuerromantik, ebenso wenig um eine Perversion des natürlichen Empfindens. Vielmehr bemächtigt sich des Menschen an der Front schließlich ein überwältigendes Gefühl von Sinnfülle, das sich nur schwer in Worte fassen lässt, ein Gefühl, das viele Jahre anhalten kann. Im Falle Jüngers überdauerte es die Wiederkehr der partikularistischen, national-chauvinistischen Mentalität der Friedenszeit. Das Rätsel des Fronterlebnisses wird nicht gelöst, es wird aber auch nicht verdrängt. Offensichtlich durchläuft das Fronterlebnis verschiedene Phasen und Tiefengrade, die in der Geschichte der Folgezeit eine wichtige Rolle spielen. Die erste Phase, die nur wenige zu überschreiten vermögen, ist das Erlebnis von Sinnlosigkeit und unerträglichem Grauen. Die Front ist die Absurdität par excellence. Die Vorahnung der Epoche wird hier Wirklichkeit: das höchste Gut des Menschen wird rücksichtslos in Stücke gerissen. Der einzige Sinn, der bleibt, ist die Demonstration, dass eine Welt, die etwas Derartiges hervorbringt, verschwinden muss. Dieser Krieg ist der Beweis ad oculos, dass die Welt ganz und gar dem Untergang geweiht ist. Wer allen Ernstes versprechen kann, die Wiederkehr des Krieges zu verhindern, der soll uns mit Haut und Haaren haben, und das umso radikaler, je weiter seine Versprechungen von der sozialen Reali
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tät des Heute, das zu etwas Derartigem führen konnte, entfernt sind. In dieser Form der Erfahrung und ihrer Folgen, in diesem aktiven Abgestoßensein, das bei Barbusse8 auf unsterbliche Weise festgehalten ist, wurzelt ein großes Phänomen: der Kampf für den Frieden. Dieses Phänomen gewann seine erste geschichtlich ebenso bedeutsame wie unterschätzte Gestalt in den Verhandlungen über den Frieden von Brest-Litowsk und erlebte besonders im Zweiten Weltkrieg und danach einen Aufschwung. Der Entschluss, eine Wirklichkeit, die etwas Derartiges ermöglicht, endgültig hinter sich zu lassen, verweist darauf, dass es sich hier auch um die Einsicht in etwas »Eschatologisches«, etwas wie das Ende aller Werte des Tages handelt. Kaum gesichtet, wird dieses »Andere« freilich schon wieder von den Zusammenhängen des Tages vereinnahmt. Kaum findet sich der Mensch mit einer bis in die Grundfesten erschütterten Welt konfrontiert, wird er von den Kräften der Welt erfasst und zu einem neuen Kampf mobilisiert. Die Sinnlosigkeit seines bisherigen Lebens und des soeben erlittenen Krieges stiftet den Sinn eines neuen Krieges, eines Krieges gegen den Krieg. Derselbe Mensch, der eben noch die Front ablehnte, die ihm aufgezwungen wurde, zwingt sich nun selbst, für Jahre, die nicht weniger schwer und hart sein werden, an eine weitere Front zu gehen. Dieser Krieg gegen den Krieg scheint die neue Erfahrung in sich aufgenommen zu haben, er scheint eschatologisch vorzugehen. Tatsächlich jedoch biegt er die Eschatologie auf eine »weltliche« Ebene, auf die Ebene des Tages zurück. Im Interesse des Tages opfert er, was Nacht und Ewigkeit angehört. Dies ist die Dämonie des Tages, der sich als das Ein und Alles geriert und auch das zu verflachen und auszusaugen vermag, was jenseits seiner Grenzen liegt. So beginnt mit dem Vorstoß der radikalen Revolutionäre auf das Feld der ersten russischen Revolution (eigentlich des ersten russischen Zusammenbruchs) ein neuer Krieg, der zum bisherigen Kampf gegen den Status quo quer steht: ein neuer Kampf, der den Status quo auf beiden Seiten im Sinne eines ganz anderen Friedenskonzepts umstürzen will, als es den Deutschen vorschwebt. Dass die deutsche Attacke gegen den Status quo diesen neuen Angriff ermöglicht und radikal unterstützt, tut dem keinen Abbruch. Von diesem Moment an führt man einen Krieg des Wartens auf die [Vgl. Henri Barbusse, Le Feu. Journal d’une escouade, Paris , sowie ders., Clarté, Paris .]
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gegenseitige Schwächung, ja Vernichtung der beiden Gegner, die in einem Kampf auf Leben und Tod aneinandergeschmiedet sind. Die Erschöpfung des einen und der Sieg des anderen ist hier nur das bloße taktische Moment eines anderen Kampfes. Der Sieg ist der Schein, in dem sich die kommende Niederlage vorbereitet, und die Niederlage ist das Ferment neuer Schlachten. Der siegreiche Frieden ist eine Illusion, die den Sieger moralisch korrumpiert. Dass der Kriegszustand andauert, lässt sich daraus ersehen, dass das Leben von Verdächtigung, Verleumdung und Demagogie vergiftet ist und dass im Land der Revolution dieselbe Verachtung aller Konventionen und dieselbe Geringschätzung des Lebens herrschen wie in den Tagen, als die Front allbeherrschend war und man nicht nur sämtliche Kampfmittel des Feuers, sondern vor allem auch die Schwächen des Gegners und alle Möglichkeiten, ihn in den inneren Zusammenbruch zu treiben, nutzte, um (zumindest für den Augenblick und zum Schein) das eigene Ziel zu erreichen. Was in diesem rücksichtslosen Kampf triumphiert, ist einmal mehr die Kraft, welche den Frieden als Mittel für den Kampf gebraucht, so dass der Frieden selbst ein Teil des Krieges wird, zu einer listigen Etappe des Krieges, die den Gegner ohne einen Schuss erledigt – dadurch, dass er ihn in seiner Mobilisierung erlahmen lässt, während der andere, der wirkliche oder der potenzielle Gegner, auf Posten bleibt und einen mächtigen, schmerzhaften und um den Preis von Menschenleben, Freiheit und gewaltsamen Umgestaltungen erkauften Elan entwickelt. Die Kraft triumphiert indes nun auch dadurch, dass sie eine neue, potenzierte Form der gegenseitigen Spannung geschaffen hat, eine Spannung auf zwei Ebenen zugleich, als jene Mobilisierungskraft, die bisher durch die schwache Organisation des einen Gegners niedergehalten worden war. Dieser wird jetzt zum Organisationszentrum par excellence, das im Gegensatz zur übrigen Welt nicht mehr durch den Respekt gegenüber der Tradition oder einem althergebrachten Seinsverständnis gebremst wird. Diese erscheinen hier nur noch als zu vernachlässigender Aberglaube und Material zur Manipulation. Die ohnmächtigen Versuche des europäischen Westens, den Krieg nach Osten zu lenken, führten direkt zu dessen erneutem Ausbruch im Westen. Der Krieg war nicht tot, er hatte nicht einmal geschlafen, sondern sich nur für einige Zeit in ein schwelendes Feuer verwandelt. Deutschland war keineswegs ein für alle Mal besiegt
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und vernichtet, vielmehr zu einer Wiederholung des ganzen Dramas von fähig, zu einer Reprise (und etwas anderes war es nicht) mit einer noch unsinnigeren Kriegsmaschinerie, einem noch flagranteren Fehlen eines Gesamtplans, mit noch hastiger improvisierten Gewaltakten, noch fanatischerem Schüren von Hass, mit noch schrecklicheren Akten von Rachgier und Ressentiment. Dadurch gab Deutschland jedoch seinem geschlagenen Gegner aus dem Ersten Weltkrieg die Gelegenheit zu einer Revanche von geradezu planetarischen Ausmaßen: Denn dieser Gegner hatte inzwischen von Frieden auf Krieg umgestellt und war imstande, da durchzuhalten, wo er früher versagt hatte. Der Westen, der Deutschlands Kraft gern in die Richtung dieses Gegners gelenkt hätte, war gezwungen, ihm um den Preis des eigenen Blutes und eigener Verluste zum Sieg zu verhelfen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er mit diesem Gegner ebenfalls in einem Dauerkrieg lag. So gelang zuletzt das, was Deutschland begonnen hatte: die Veränderung des globalen Status quo – jedoch nicht zugunsten Deutschlands, sondern seines unterlegenen Gegners aus dem Ersten Weltkrieg. Die neue Konstellation, die aus diesen traurigen Manövern hervorging, konnte nur zum definitiven Fall Europas führen. Europa – und darunter verstehen wir das aus dem Erbe des Weströmischen Reiches hervorgegangene Westeuropa – trug in den Anfängen des Zeitalters der Energie die Insignien planetarischer Vormacht, Europa war alles. Dieses Europa hatte nach dem Ersten Weltkrieg zugunsten der Vereinigten Staaten und somit des eigenen Nachfolgers abgedankt, eines Nachfolgers, der aus der Verwirklichung dessen entstanden war, was Europa selbst immer erstrebt, aber nie erreicht hatte: Freiheit. Jetzt jedoch tritt es von seiner Führungsposition in der Welt ab, es verliert seine Kolonien, es verliert sein Prestige, sein Selbstvertrauen und sein Selbstverständnis; sein dritter Partner aus dem Ersten Weltkrieg erweist sich als fähiger Erbe, denn dank einer im Zuge anhaltender Mobilisierung erworbenen Disziplin und durch einen zuerst verdeckten, dann offenen Krieg verwandelt er sich wieder in das, was er traditionell war und ist – in den Erben Ost-Roms, der gleichermaßen über Leib und Seele des Menschen herrscht. Wie herrscht der Tag, das Leben, der Frieden über jeden Einzelnen, über seinen Leib und seine Seele? Mit Hilfe des Todes, durch Bedrohung des Lebens. Aus der Perspektive des Tages ist das Leben für den Einzelnen alles, es ist der höchste Wert, der für ihn existiert.
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Für die Kräfte des Tages dagegen existiert der Tod nicht, sie verfahren, als ob es ihn nicht gäbe, bzw. planen den Tod aus der Distanz und statistisch, als bedeutete er, wie wir gesehen haben, eine bloße Übergabe von Funktionen. Im Willen zum Krieg herrschen also der Tag und das Leben mit Hilfe des Todes. Der Wille zum Krieg rechnet mit den zukünftigen Generationen, er konzipiert seine Pläne aus ihrer Perspektive. So herrscht in ihm der Frieden. Unmöglich kann sich vom Krieg befreien, wer sich nicht von jener Gestalt der Herrschaft des Friedens, des Tages, des Lebens befreit, die den Tod ausklammert und vor ihm die Augen verschließt. Die große, die tiefe Erfahrung der Front und ihrer Feuerlinie beruht jedoch darauf, dass sie die Nacht in ihrer Dringlichkeit und Unabweisbarkeit beschwört. Frieden und Tag können nicht anders herrschen, als dass sie Menschen in den Tod schicken, um anderen einen künftigen Tag im Zeichen des Fortschritts, einer langsamen und kontinuierlichen Entwicklung und heute noch nicht existierender Möglichkeiten sicherzustellen. Von den Geopferten dagegen wird Ausdauer im Angesicht des Todes verlangt. Das bedeutet, man weiß dunkel, dass das Leben nicht alles ist, dass es sich selbst aufgeben kann. Ebendiese Selbstaufgabe, dieses Opfer wird gefordert. Es wird gefordert als etwas Relatives, als etwas, das auf Frieden und Tag bezogen ist. Die Fronterfahrung jedoch ist eine absolute Erfahrung. Wie Teilhard zeigt, erfahren die Frontkämpfer plötzlich eine überwältigende absolute Freiheit, eine Freiheit von allen Interessen des Friedens, des Lebens, des Tages. Damit hat das Opfer dieser Geopferten plötzlich nicht mehr nur relative Bedeutung, es ist nicht mehr ein Beitrag zu den Programmen von Aufbau, Fortschritt und Erweiterung der Lebensmöglichkeiten, vielmehr hat es Bedeutung allein in sich selbst. Die absolute Freiheit meint die Einsicht, dass etwas bereits hier erreicht ist, etwas, das kein Mittel zu etwas anderem, keine »Etappe auf dem Wege zu…« ist, sondern etwas, hinter und über dem nichts Weiteres sein kann. Der Gipfel ist genau hier, in diesem Sich-Hingeben, zu dem die Menschen aufgerufen sind und um dessentwillen sie ihren Beruf, ihre Talente, ihre Möglichkeiten und ihre Zukunft zurückgelassen haben. Dies zu vermögen, dazu erwählt und berufen zu sein in einer Welt, die Kraft mittels Konflikt mobilisiert und so ein vollkommen verdinglichter und verdinglichender Quell von Energie zu sein scheint, bedeutet zugleich, die Kraft zu überwin
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den. Die Motive des Tages, die den Willen zum Krieg wachgerufen haben, verbrennen im Feuer der Front, wenn die Fronterfahrung tief genug ist, der Kraft des Tages nicht erneut zu unterliegen. Der Frieden, in den Willen zum Krieg verwandelt, vermag den Menschen so lange zu verdinglichen und zu veräußerlichen, wie diesen der Tag beherrscht, die Hoffnung auf das Alltägliche, auf Beruf und Karriere, mithin auf Möglichkeiten, um die er bangen muss und die er bedroht sieht. Jetzt jedoch kommt es zur Erschütterung dieses Friedens samt seiner Planungen, seiner Programme, seiner gegenüber dem Tod indifferenten Fortschrittsideen. Alle Alltäglichkeit, alle Bilder eines zukünftigen Lebens verblassen vor dem einfachen Gipfel, den der Mensch hier erreicht. Ihm gegenüber verlieren alle Ideen von Sozialismus, Fortschritt, demokratischer Liberalität an Inhalt, Tragfähigkeit und Konkretheit. Sie tragen ihren vollen Sinn nicht in sich selbst, sondern nur in dem Maße, wie sie ihn von jenem Gipfel beziehen und wieder zu ihm zurückführen; wie sie den Menschen veranlassen, eine solche Verwandlung seines ganzen Lebens, seiner ganzen Existenz zu vollziehen; wie sie nicht die Erfüllung des Alltäglichen bedeuten, sondern sich als eine Kosmizität und Universalität gestalten, die der Mensch durch das absolute Opfer seiner selbst und seines Tages erreicht. So wird plötzlich die Nacht das absolute Hindernis für den Tag und seinen Weg in die schlechte Unendlichkeit zukünftiger Tage. Von jenem Augenblick an, da die Nacht als unüberbietbare Möglichkeit über uns hereinfällt, treten die vorgeblich überindividuellen Möglichkeiten des Tages zur Seite, und es meldet sich jenes Opfer als die echte Überindividualität. Eine weitere Konsequenz: Der Feind ist nicht mehr der absolute Widersacher auf dem Weg des Willens zum Frieden, er ist nicht mehr dasjenige, was nur dazu da ist, beseitigt zu werden. Der Feind partizipiert an derselben Situation wie wir, er entdeckt gemeinsam mit uns die absolute Freiheit, er ist der, mit dem Eintracht in der Zwietracht möglich ist, unser Teilhaber an der Erschütterung des Tages, des Friedens und eines Lebens diesseits des Gipfels. Hier also tut sich das Abgründige des »Gebets für den Feind« auf, das Phänomen der »Liebe zu jenen, die uns hassen« – die Solidarität der Erschütterten ungeachtet des Gegensatzes und des Widerstreits. Die tiefste Entdeckung der Front ist also dieses Hineingehaltensein des Lebens in Nacht, Kampf und Tod; die Unmöglichkeit,
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diesen Posten aus dem Leben zu tilgen, der aus der Perspektive des Lebens als bloße Nichtexistenz erscheint; die Verwandlung des Lebenssinns, der hier an das Nichts stößt, an die unüberwindliche Grenze, an der sich alles ändert. So wie sich einem bedeutenden modernen Psychologen9 zufolge die Landschaft im Erleben eines Frontartilleristen derart in ihrem topographischen Charakter verwandelt, dass sie plötzlich ein Ende hat und die Ruinen nicht mehr das sind, was sie waren, nämlich Dörfer etc., sondern das, was sie zu einem gegebenen Augenblick sein könnten, Unterstände etwa oder Stützpunkte, so hat sich auch die »Landschaft« der grundlegenden Lebenswerte verwandelt, sie hat ein Ende bekommen, hinter dem es nichts mehr geben kann, nichts zu Erhoffendes, nichts Höheres. Warum hat sich diese große Erfahrung, die einzige, die dazu in der Lage ist, die Menschheit aus dem Krieg heraus und in einen wirklichen Frieden zu führen, in der Geschichte des . Jahrhunderts nicht geltend gemacht, obgleich ihr die Menschen zweimal ausgesetzt waren, obgleich sie von ihr betroffen waren und verwandelt wurden? Warum hat sie ihr erlösendes Potenzial nicht entfaltet? Warum spielte und spielt sie in unserem Leben nicht die Rolle, wie sie in dem großen Krieg, den das . Jahrhundert darstellt, dem Kampf für den Frieden zukam und weiter zukommt? Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht. Sie ist es umso weniger, als die Menschheit von der Kriegserfahrung derart durchsetzt und fasziniert ist, dass sich einzig aus ihr der Charakter der Geschichte unserer Epoche verstehen lässt. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Unterscheidung zwischen Front und Hinterland aufgehoben. Der Luftkrieg schlug überall auf gleiche Weise zu. Und wenn ein hinreichend starker imperialer Wille die atomare Situation intelligent nutzt, werden die Ergebnisse dieses letzten heißen Konflikts definitiv sein. Man hat eine Zeitlang von einem »Hiroshima-Komplex« gesprochen, aber Hiroshima war nichts anderes als ein radikales Kondensat der Kriegserfahrung, der Erfahrung der Front, aufgeladen mit der spektakulären Intensität eines apokalyptischen Weltendes. Hier vermochten sich selbst die nüchternsten Zeugen des eschatologischen Eindrucks dieses Ereignisses nicht zu erwehren. Und die geschichtliche Auswirkung? Bis heute ist nichts zu beobachten, das sich jener fundamentalen und (laut Teilhard) [Vgl. Kurt Lewin, »Kriegslandschaft«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie, XII (), S. -.]
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mit nichts anderem vergleichbaren Wende und Konversion zuschreiben ließe. Die Kraft fasziniert uns nach wie vor, wir lassen uns weiter von ihr leiten, sie verzaubert und betört uns und macht uns zu ihren Narren. Wo wir meinen, sie zu beherrschen und uns dank ihrer abgesichert wähnen, befinden wir uns in Wirklichkeit im Stadium der Demobilisierung und sind dabei, einen Krieg zu verlieren, der seine Gestalt auf heimtückische Weise verändert hat, aber nie zu Ende ging. Das Leben würde so gern endlich leben, doch ist es gerade das Leben selbst, das den Krieg erzeugt und sich ihm mit seinen eigenen Mitteln nicht entwinden kann. Was wartet am Ende dieser Perspektiven? Der Krieg als das Mittel der Kraft, sich freizusetzen, kann kein Ende nehmen. Es ist vergebens, sich in den eigenen Bereich zu verschließen, wenn es keine geschlossenen Bereiche mehr gibt, wenn durch die Wirkung von Kraft und Technowissenschaft die ganze Welt derart bloßgelegt und verfügbar gemacht wird, dass das kleinste Ereignis den weitesten Nachhall hat. Die Perspektive des Friedens, des Lebens und des Tages kennt kein Ende, sie ist die Perspektive ein und desselben unbeendbaren Konflikts, der in immer neuen Gestalten wiederauflebt. Das gigantische wirtschaftliche Erneuerungswerk, die nie dagewesenen und bis dahin unvorstellbaren sozialen Errungenschaften, die sich in dem aus der Geschichte ausgeschiedenen Europa entfaltet haben, zeigen zugleich, dass sich dieser Weltteil zur Demobilisierung entschlossen hat, weil ihm keine andere Wahl blieb. Damit vertieft sich zugleich die Kluft zwischen den beati possidentes und denen, die auf einem an Energien reichen Planeten Hungers sterben – es vertieft sich also der Kriegszustand. Die Ohnmacht der ehemaligen Herren der Welt, ihre Unfähigkeit, in einem aus der Perspektive des Friedens konzipierten Krieg zu siegen, ist offensichtlich. Einzig auf Wirtschaftsmacht zu setzen ist ein trügerischer Ausweg, weil er an Demobilisierung gebunden ist, und zwar auch da noch, wo ganze Armeen von Arbeitern, Forschern und Ingenieuren mobilisiert werden: letztlich fügen sich alle der Peitsche. Besonders deutlich wurde das unlängst an der Energiekrise. Unter den neuen Bedingungen atomarer Aufrüstung und damit einer ständig drohenden totalen Vernichtung kann der Krieg von einem heißen zu einem kalten oder schwelenden Krieg werden. Dieser schwelende Krieg erzeugt nicht weniger Leid, er ist oft sogar grausamer als der heiße Krieg, dessen Fronten ganze Kontinente
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durchpflügt haben. Es wurde bereits gezeigt, wie der Krieg den »Frieden« in Gestalt der Demobilisierung in sich aufnimmt. Auf der anderen Seite ist die permanente Mobilisierung ein für die Welt nur schwer erträgliches fatum. Es fällt schwer, ihm ins Gesicht zu blicken, es fällt schwer, aus ihm die Konsequenzen zu ziehen, auch wenn sie ganz klar sind. Wer hier will, wer seinen Willen behauptet und nicht beschädigen lässt, der wird unmittelbar mit einem Kriegszustand konfrontiert, der Wahrheit und Öffentlichkeit ausschließt – mit einer inneren und äußeren Diktatur, einer Geheimdiplomatie, einer verlogenen und zynischen Propaganda. Man mag dem entgegenhalten, dass die extremen Mobilisierungsmittel, etwa der systematische Terror mit seinen Prozessen und der Liquidierung ganzer Gruppen und Schichten der Gesellschaft ebenso wie die langsame Vernichtung in Arbeits- und Konzentrationslagern, schrittweise aufgegeben worden sind. Die Frage ist jedoch, ob dieser Abbau eine wirkliche Demobilisierung bedeutet oder im Gegenteil einen Krieg, der sich mit »friedlichen« Mitteln dauerhaft etabliert. Der Krieg zeigt hier sein »friedliches« Gesicht, das nichts anderes ausdrückt als eine zynische Demoralisierung, einen Appell an den Willen, zu leben und zu besitzen. Ist der Krieg einmal entfesselt, so wird die Menschheit sein Opfer – ein Opfer des Friedens und des Tages. Der Frieden und der Tag setzen auf den Tod als Mittel, die menschliche Dienstbarkeit auf die äußerste Spitze zu treiben, eine Fessel, vor der die Menschen die Augen verschließen, die aber präsent ist in Gestalt einer vis a tergo, eines Terrors, der die Menschen vorwärtstreibt, bis ins Feuer. Der Mensch ist durch Tod und Angst ans Leben gefesselt und daher bis zum Äußersten manipulierbar. Gerade deshalb aber scheint es auch eine Möglichkeit zu geben, dem durch Frieden generierten Krieg zu entkommen und in einem wirklichen Frieden Fuß zu fassen. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist die teilhardsche Fronterfahrung, die auf nicht weniger scharfe, wenn auch weniger mystische Weise Jünger formuliert hat: die Positivität der Front, die Front nicht als die Unterwerfung unter das Leben, sondern als eine rückhaltlose Befreiung gerade von dieser Knechtschaft. Der Krieg zeigt sich heute als ein Halbfrieden, in welchem die Gegner mobilisieren, indem sie auf die Demobilisierung des anderen setzen. Auch dieser Krieg hat seine Front und seine Methode, zu brandschatzen, zu zerstören, die Menschen jeglicher Perspektive zu berauben und sie als schieres Material der sich
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freisetzenden Kraft zu behandeln. Das ist die Front des Widerstands gegen die »demoralisierenden«, terrorisierenden und betrügerischen Motive des Tages. Sie enthüllt deren wahren Charakter, sie ist ein Protest, der mit einem Blut bezahlt wird, das nicht fließt, sondern das in Gefängnissen vermodert, in erzwungenen Rückzügen, in der Zunichtemachung von Lebensplänen und -chancen – und das wieder fließen wird, sobald die Kraft darin einen Vorteil sieht. Es gilt zu verstehen, dass hier der Ort ist, wo sich das eigentliche Drama der Freiheit abspielt. Die Freiheit stellt sich nicht »erst danach« ein, wenn der Kampf beendet ist, sondern hat ihren Ort genau im Kampf – das ist das punctum saliens, der Gipfelpunkt, von dem aus sich das Kampffeld überschauen lässt: Frei sind die, die dem Druck der Kraft ausgesetzt sind, freier als jene, die in der Etappe sitzen und voll Besorgnis darauf warten, ob und wann die Reihe auch an sie kommt. Wie kann die »Fronterfahrung« eine Gestalt gewinnen, die sie zu einem geschichtlichen Faktor macht? Warum ist sie das noch nicht? Weil sie in der Gestalt, in der Teilhard und Jünger sie so nachdrücklich beschrieben haben, die Erfahrung von Einzelnen ist, die jeder für sich auf ihren Gipfel geworfen werden, von dem ihnen nichts als der Abstieg zurück in den Alltag bleibt, wo sich ihrer wieder unweigerlich der Krieg in Gestalt der den Frieden planenden Kraft bemächtigt. Das Mittel, diesen Zustand zu überwinden, ist die Solidarität der Erschütterten. Die Solidarität derer, die zu verstehen imstande sind, um was es im Leben und im Tod und folglich in der Geschichte geht; die verstehen, dass die Geschichte dieser Konflikt zwischen einem bloßen, nackten Leben, das von Angst gefesselt ist, und einem Leben auf dem Gipfel ist, das den zukünftigen Alltag nicht plant, sondern klar sieht, dass der Alltag und das ihm zugehörige Leben und der ihm zugehörige »Frieden« ein Ende haben werden. Nur wer das zu verstehen vermag, wer die Fähigkeit zur Umkehr, zur metanoia hat, ist ein geistiger Mensch. Der geistige Mensch versteht, und sein Verständnis ist kein bloßes Konstatieren, es ist kein »objektives Wissen«, auch wenn er das objektive Wissen meistern und es in den Bereich dessen einbeziehen muss, was seine Sache ist und was er beherrscht. Die Solidarität der Erschütterten – der in ihrem Glauben an den Tag, das Leben und den Frieden Erschütterten – gewinnt ihre besondere Bedeutung gerade in der Epoche der Freisetzung der
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Kraft. Ohne diese freigesetzte Kraft könnten der Tag und der Frieden, das menschliche Leben als Produkt einer Welt exponentieller Wachstumsraten nicht existieren. Die Solidarität der Erschütterten ist die Solidarität derer, die verstehen. Unter den heutigen Umständen kann das Verstehen sich aber nicht nur auf die grundsätzliche Ebene von Knechtschaft und Freiheit dem Leben gegenüber beschränken, sondern impliziert auch ein Verständnis der Bedeutung von Wissenschaft und Technik, von jener Kraft, die wir freisetzen. In den Händen derer, die auf diese Weise verstehen, liegen potenziell alle Kräfte, aufgrund deren allein der heutige Mensch leben kann. Die Solidarität der Erschütterten hat die Fähigkeit, »nein« zu sagen zu allen Mobilisierungsmaßnahmen, die den Kriegszustand verewigen. Sie wird keine positiven Programme aufstellen, sondern sie wird, gleich dem daimonion des Sokrates, in Warnungen und Verboten sprechen. Sie muss und kann eine geistige Autorität bilden und zu einer geistigen Macht werden, welche die kriegführende Welt dazu drängt, sich einzuschränken, und so bestimmte Handlungen und Maßnahmen unmöglich macht. Die Solidarität der Erschütterten bildet sich in Verfolgung und Ungewissheit: das ist ihre Front, eine stille Front, ohne Reklame und Sensation auch da, wo sich die herrschende Kraft unter Einsatz dieser Mittel ihrer zu bemächtigen sucht. Unpopularität fürchtet sie nicht, sondern fördert sie, und ihr Ruf ist leise. Die Menschheit wird das Feld des Friedens nicht betreten, indem sie sich in die Maßstäbe des Tages schickt und seinen Versprechungen anheimfällt. Wer diese Solidarität verrät, muss sich bewusst sein, dass er den Krieg nährt und dass er der Parasit in der Etappe ist, der vom Blut der anderen lebt. Dieses Bewusstsein findet eine starke Unterstützung in den Opfern der Front der Erschütterten. Dahin zu führen, dass jeder, der zu verstehen fähig ist, in seinem Inneren das Unbequeme an der Bequemlichkeit seiner Situation verspürt – das ist der Sinn, der sich noch über den menschlichen Gipfel in Gestalt des Widerstands gegen die Kraft und der Überwindung der Kraft hinaus erreichen lässt. Es muss erreicht werden, dass auch jene Komponente des Geistes, die »technische Intelligenz«, also vor allem die Wissenschaftler und die praktischen Anwender, die Erfinder und Ingenieure, den Hauch dieser Solidarität fühlt und entsprechend handelt. Die Alltäglichkeit der Faktologen und Routiniers muss erschüttert werden, es muss ihnen bewusst gemacht
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werden, dass ihr Platz auf dieser Seite der Front ist und nicht auf der Seite der Parolen des Tages. Gleich wie verführerisch diese sind, gleich ob ausgesprochen im Namen der Nation, des Staates, der klassenlosen Gesellschaft, der Einheit der Welt oder wessen auch immer, rufen diese Parolen in Wahrheit zum Krieg auf und werden sämtlich demaskiert durch die Barbarei der Kraft. In den Anfängen der Geschichte hat Heraklit von Ephesos seine Idee vom Krieg als dem göttlichen Gesetz formuliert, aus dem sich alles Menschliche nährt. Er verstand den Krieg dabei nicht im Sinne einer Expansion des Lebens, sondern als die Vorherrschaft der Nacht, als jenen Willen der aristeia, sich frei der Gefahr zu stellen, als Sich-Bewähren an der Grenze der menschlichen Möglichkeiten – eine Herausforderung, welche die Besten wählen und sich damit für den dauernden Ruhm im Gedächtnis der Sterblichen anstelle der ephemeren Verlängerung eines bequemen Lebens entscheiden.10 Dieser Konflikt ist der Vater der Gesetze der Gemeinde wie von allem überhaupt: Er zeigt, dass die einen Sklaven sind und die anderen frei.11 Aber auch das freie menschliche Leben hat noch einen Gipfel über sich. Der Krieg vermag zu zeigen, dass einige unter den Freien imstande sind, Götter zu werden, das Göttliche zu berühren, das, was die letzte Einheit und das letzte Geheimnis des Seins bildet. Das jedoch sind diejenigen, die verstehen, dass der polemos nichts Einseitiges ist, dass er nicht trennt, sondern verbindet,12 dass die Feinde nur scheinbar isoliert sind, dass sie in Wahrheit in der gemeinsam erlebten Erschütterung des Alltags zueinander gehören. Dass sie also das berührt haben, was in allem überall und für alle Zeit dauert, weil es der Quell alles Seienden, mithin das Göttliche ist. Dasselbe Gefühl und dieselbe Vision hatte Teilhard, als er an der Front das Übermenschliche, das Göttliche erlebte. Und Jünger spricht an einer Stelle davon, dass Kämpfende im Angriff zu zwei Teilen einer einzigen Kraft werden, dass sie zu einem einzigen Körper verschmelzen, und er fügt hinzu: »Zu einem Körper – das ist ein Gleichnis besonderer Art. Wer es versteht, der bejaht sich selbst und den Feind, der lebt im Ganzen und in den Teilen zugleich. Der kann sich eine Gottheit denken, die sich diese bunten Fäden durch die Hände gleiten lässt – mit lächelndem Ge Hermann Diels/Walther Kranz, a. a. O., Heraklit, B . Ebd., B . Ebd., B .
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sicht.«13 Kann es Zufall sein, dass zwei Denker, die ansonsten von Grund auf verschieden sind, angesichts des Fronterlebnisses jeder für sich zu Metaphern gelangen, die Heraklits Vision vom Sein als polemos erneuern? Erschließt sich darin etwas von dem unabweislichen Sinn der Geschichte der westlichen Menschheit, der zum Sinn der menschlichen Geschichte überhaupt geworden ist?
[Ernst Jünger, »Der Kampf als inneres Erlebnis« (), in: ders., Sämtliche Werke, . Abteilung: Essays I, Bd. : Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart .]
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Des Verfassers eigene Glossen zu den Ketzerischen Essays I Sind unsere Überlegungen zur »vor-geschichtlichen Epoche« nicht von einem Intellektualismus diktiert, der sich mit einer unkritischen Vorliebe für das spekulative Denken der Philosophie verbindet und dem gegenüber andere Denkweisen, etwa in der Wissenschaft, in der Technik, im Rechtswesen oder in der Verwaltung, weitaus lebensnäher sind? Warum sollte man gerade der Philosophie und ihrer Entstehung, noch dazu in der besonderen Form der griechischen Philosophie der Antike (die doch auch ganz andere Formen und Leistungen des Geistes kannte), solche in der Tat epochale, weil mit der Geschichte auch Epochen überhaupt erst schaffende, Bedeutung beimessen? Sind denn etwa die herausragenden Leistungen von Dichtung und bildender Kunst, die großen religiösen Bewegungen keine Geschichte? Erzählt nicht die Geschichte der Kunst von einem Werden der Kunst lange vor der Morgenröte der Philosophie? Reicht die Geschichte der Religionen mit ihrer reichen Artikulation religiöser Erfahrung nicht lange vor die Entstehung der griechischen polis und der ionischen historia zurück? Ist es weiter nicht ebenso ungerecht wie inkonsequent, der Politik in Bezug auf die Philosophie eine Sonderstellung zuzuschreiben, Philosophie und Politik sozusagen in einem Atemzug als geschichtsgründend im eigentlichen Sinne zu proklamieren, während wir diese Bedeutung, in Anbetracht ihres kollektiven, gesellschaftlichen Einflusses, mit größerem Recht der Religion beimessen könnten, der doch wohl, wie etwa im Falle Israels, bei der Schaffung von Völkern als Trägern der Geschichte das entscheidende Wort zukam? Und ist es nicht der Gipfel nicht nur der Ungerechtigkeit, sondern auch der Blindheit, die entscheidende Erfahrung der Religion in eine Phase der Menschheit zu verbannen, die nur den »kleinen« Sinn des Menschen kennt, einen Sinn, der zwar absolut ist, aber naiv als selbstverständlich angenommen wird, einen gegebenen und ohne jedes Suchen gefundenen Sinn? Existiert nicht eine Fülle von Belegen dafür, dass gerade in der Sphäre der Religion die Umkehr,
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die Kon-version, so etwas wie Tod und Wiedergeburt, also die Entdeckung eines grundsätzlich neuen Sinnes, im Zentrum aller Erfahrung liegt? Also ist die Geschichte entweder im Kern wirklich die Geschichte der Welt im Sinne einer unseren menschlichen Möglichkeiten vorgängigen Totalität – dann ist sie vor allem Geschichte der Religionen. Oder wir müssen diese Konzeption verwerfen und zu der herkömmlichen Sicht zurückkehren, die die Frage nach dem Anfang der Geschichte nicht nur ungelöst lässt, sondern ihr auch die besondere Bedeutung abspricht, die wir herauszustellen versucht haben; vielmehr beschränkt sie die Bedeutung der Geschichte auf eine subjektiv aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft gesehene methodologische Bedeutung: der Anfang der Geschichte fällt hier mit dem Beginn einer aufgrund schriftlicher Zeugnisse überprüfbaren Tradition zusammen. Vielleicht ist es zweckmäßig, die Antwort auf diese sich unweigerlich aufdrängenden Fragen mit dem Hinweis einzuleiten, dass unsere Überlegungen nicht der nicht-geschichtlichen, sondern der vor-geschichtlichen Menschheit gelten. Die vor-geschichtliche Menschheit ist ein Übergang; einerseits teilt sie mit dem nicht-geschichtlichen Leben die Armut eines Lebens um des Lebens willen, andererseits nähert sie sich der Schwelle einer neuen, tieferen, aber auch anspruchsvolleren und tragischeren Lebensweise. Damit stellt sich die Frage, ob mit dem Auftreten von Propheten, die ihr Leben für eine religiöse Wiedergeburt einsetzen, die sich einer ihr Leben ganz und gar absorbierenden Askese unterwerfen und dem Protest gegen die Mächtigen und Gewalttätigen weihen, nicht wirklich die Schwelle des »Lebens um des Lebens willen« überschritten ist. Es gibt Propheten, die eine strenge Norm für das Leben erarbeiten und verkörpern, und zwar nicht nur für den Einzelnen, als Ausnahme, sondern für eine umfassende Gemeinschaft. Sie stehen damit am Ursprung einer Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens, das wir für gewöhnlich ohne Zögern geschichtlich nennen würden. Bei solchen Figuren stellt das Vor-geschichtliche die »metaphorische« Präfiguration einer Lebensform dar, die ihren Grund wesentlich nicht im »bloßen Leben« hat, sie weisen voraus auf ein Leben aus Freiheit – ohne selbst schon einem solchen Leben anzugehören, weil die Freiheit als Thema noch fehlt. Dass man das Leben für vitale Ziele opfern kann, zu denen das genus, das Geschlecht, ursprünglicher gehört als der Einzelne, wird hinreichend durch Beispiele aus dem
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Leben der Tiere belegt. Die Religion freilich ist nichts Biologisches, sie entspringt weder dem Reich der Pflanzen noch der Tiere, sie verfügt über einen absoluten Sinn, der allerdings exzentrisch zum Menschen ist. Für den Menschen hat die Religion einen Sinn, dessen Inhalt in der Praxis ein Leben um des Lebens willen oder, mit Kant gesprochen, Heteronomie bleibt: Der Mensch genießt den Schutz der Mächte (oder der Macht), bei denen die Entscheidung liegt; er befindet sich in ihrer Sphäre und wird dadurch zu Inhalten gehoben, die seine eigenen Möglichkeiten übersteigen. Freilich ist er dafür auch strengeren Normen und Bedingungen unterworfen, und zwar nicht bedingt und episodisch, sondern im Hinblick auf sein gesamtes Leben. Sobald dieser Weg betreten ist, gibt es kein Zurück mehr, es handelt sich um eine vollkommene, um eine totale, das Leben insgesamt betreffende Verwandlung. Und doch ist die Grenze des Lebens um des Lebens willen noch nicht überschritten, die Motivation für diese Verwandlung liegt im Leben vor der Verwandlung, in seinem Leiden (wie bei Buddha), in seiner Bedrohung, vor allem für das Kollektiv, die von den Nachbarn und ihren Gewaltakten ausgeht (wie bei den Israeliten). Was bedroht ist und was droht, ist selbstverständlich und gegeben, es wird nicht erst in einer tieferen Erfahrung eingesehen. Bestenfalls ließe sich von der Ahnung einer neuen Bedeutung der Bedrohung sprechen – aber insgesamt haftet man hier weiter an der »natürlichen Welt« und ihrem »akzeptierten Sinn«. Dagegen bedeutet die Freiheit eine Erschütterung, die den Gesamtsinn des bisherigen Lebens erfasst, sie schafft ein neues »Umwillen, ein neues oû heneka, weil die Fraglichkeit zutage tritt, weil der »natürliche« Sinn klar in Frage gestellt wird. Man ahnt nicht mehr, man predigt nicht mehr, man prophezeit nicht mehr, und man verlässt sich auch nicht mehr auf den »unerschütterlichen Glauben«; man sieht, und dieses Sehen ist mehr als ein bloßes Betrachten von etwas, dem gegenüber wir Distanz halten können und das schlicht konstatiert werden kann. In dem Augenblick, da der bisherige Sinn erschüttert und als »kleiner Sinn« begriffen wird, werden wir angetrieben, einen neuen Sinn zu suchen, und wir können die Dringlichkeit dieses Impulses einsehen. Diese Offenbarkeit ist nicht die Evidenz des einfachen Betrachtens, der Kontemplation, vielmehr ist sie ein Sprung in einen neuen Sinn, ein Sprung, der sich in der Klarheit der Situation der Fraglichkeit vollzieht. Wenn Sokrates zu
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dem Ergebnis gelangt, dass Tapferkeit in dem Wissen bestehe, was zu fürchten sei und was nicht,1 dann ist das intellektualistisch ausgedrückt, aber zugleich ist darin der problematische Charakter des unmittelbaren Lebenssinns in einer Weise ausgesprochen, wie es im Rahmen der religiösen Erfahrung nie der Fall war: nämlich als Frage, die auf der bewusst gewordenen Fraglichkeit aufbaut. Die Freiheit – die immer die Freiheit ist, das Seiende sein zu lassen, was und wie es ist, aber immer neu und immer tiefer – ist daher sehende Freiheit, nicht bloß ahnende und vor allem auch nicht glaubende, verkündigende oder oktroyierende Freiheit. Die Verwandlung der Welt vollzieht sich hier in einer Weise, in der dieses Geschehen nicht mythisch umhüllt wird, sondern in der sich in Bild und Begriff gerade ent-hüllt, was ist. Dabei geht es nicht um einen »Intellektualismus«, der bislang Ungeahntes und Neues more geometrico, mit Hilfe kalter, objektiver Konstruktionen und jedermann zugänglicher Deduktionen erreicht. Und auch nicht unbedingt um eine Metaphysik, die nur zu gern durch eine einmalige Bestimmung und endgültige Aneignung des Seins die immer neue Erschütterung ersparen würde (kraft einer »Ideenschau« wie bei Platon). Mythos, Religion, Dichtung sprechen nicht aus der Fraglichkeit, sondern vor der Fraglichkeit, aus der Ekstase, aus dem Enthusiasmus – aus der unmittelbaren »Besessenheit« durch die Gottheit. Die Philosophie spricht aus der Fraglichkeit und in die Fraglichkeit hinein. Die Tatsache, dass der Mensch diese Dimension der Fraglichkeit entdeckt hat, und zwar als diejenige Dimension, in der sich das wirkliche Wissen heranbildet (aber nicht: mit der es sich deckt!), bedeutet einen tieferen Einschnitt in das menschliche Leben, in die Sphäre der menschlichen Möglichkeiten, als die religiöse Erneuerung oder die künstlerische Ekstase, die nebenbei gesagt fast immer durch eine religiöse inspiriert ist. Die Philosophie eröffnet ein radikal neues Leben, ein Leben, das zum ersten Mal die Freiheit entdeckt als eine andere, eigentliche Möglichkeit, die sich von jedem gängigen und überkommenen Sinn unterscheidet und erst ausdrücklich zu leisten, zu verwirklichen ist. Die besondere Stellung der Politik gründet darin, dass das politische Leben in seiner ursprünglichen und originären Form nichts [Vgl. Platon, Protagoras, -.]
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anderes ist als die (aus Freiheit für die Freiheit) handelnde Freiheit selbst. Das angestrebte Ziel ist hier nicht ein Leben um des Lebens willen (wie immer ein solches Leben beschaffen sein mag), sondern einzig ein Leben für die Freiheit und aus ihr heraus, ein Leben das begriffen, das heißt aktiv ergriffen wird als Möglichkeit. Das jedoch verleiht dieser ursprünglichen Politik eine ganz andere Nähe zur Philosophie, als sie Religion und Kunst zukommt, so groß deren Bedeutung für das geistige Leben auch sein mag. Wenn das geistige Leben grundsätzlich Erschütterung (der unmittelbaren Lebensgewissheiten und des unmittelbaren Lebenssinns) ist, dann wird diese Erschütterung in der Religion geahnt, in der Dichtung und in der Kunst überhaupt dargestellt und abgebildet, in der Politik in die Lebenspraxis gewendet und in der Philosophie begriffen. In dieser Form – als radikale Frage nach dem Sinn, die der Erschütterung des naiv und unmittelbar übernommenen Lebenssinns entspringt und die sogleich die Frage nach der Wahrheit nach sich zieht und die Fraglichkeit fortgesetzt weitertreibt – ist die Philosophie jedoch nur auf der abendländischen Linie ausgebildet worden. Das ist der entscheidende Grund für unsere Überzeugung, die Geschichte im eigentlichen Sinne sei als abendländische Geschichte entstanden und durch Komplikationen ihrer eigenen Problematik dazu geführt worden, immer neue Völker samt ihren Ländern in sich aufzunehmen – um schließlich in unserer Zeit planetarisch und universal zu werden. Universalität steht nicht am Anfang der Geschichte als das allgemeine Menschentum, das sich demselben Gesetz folgend hier schneller und dort langsamer »entwickelt«, wie es sich Comte vorstellte. Universalität steht vielmehr am Ende der Geschichte Europas oder besser gesagt am Ende der Geschichte als europäischer (die sich aus der abendländischen Geschichte entwickelte). Kommen wir nun auf die anderen, lebensnäheren Denkformen zurück, von denen zu Anfang die Rede war (Technik, Rechtswesen, Verwaltung). Sie alle gingen zwar in ihrer elementaren Gestalt aus bestimmten Bedürfnissen des Lebens hervor. In ihrer enorm effizienten Gestalt jedoch, in der ihnen die römische Welt ihre oikoumenê öffnete, und in jener modernen Gestalt, in der ihnen der gesamte Planet und sein »Kosmos« zur Verfügung stehen, sind sie immer schon durch die Philosophie und die politische Tradition (die Tradition der polis) geprägt. Wie das Römertum, aus dem die
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katholische Kirche und fast alle modernen Staaten hervorgegangen sind und das im zeitgenössischen Willen zu weltweiter Geltung und zu einem Weltstaat weiterlebt, hat auch die moderne Technik, die die Umsetzung solcher Pläne ermöglicht, philosophische Wurzeln, freilich in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Traditionen. Beide sind ohne diese Wurzeln nicht denkbar. Dass diese Wurzeln sich derzeit in einer Krise zu befinden scheinen, ist ein anderes Problem. Es ändert nichts daran, dass die schöpferische Kraft der Geschichte nicht der elementaren Gestalt besagter Denkformen entstammt, sondern dem Bereich der Freiheit und hier vor allem der Philosophie.
II Der Gedanke, die Geschichte sei die Domäne des Handelns aus Freiheit und die Freiheit beruhe auf dem Ergreifen der Möglichkeit, die Dinge sein zu lassen, was sie sind, in dem Einräumen der Möglichkeit, dass sie sich von sich selbst her zeigen; in dem Willen, ein Feld ihres Erscheinens zu sein; in der Empfänglichkeit für die Erschütterung unserer gewohnten und »gegebenen« Gewissheiten, auf dass sich das zeigen kann, was wahrhaft ist – dieser Gedanke scheint auf den ersten Blick unter die Kritik jenes historischen Subjektivismus zu fallen, der in der geschichtswissenschaftlichen Disziplin herrschte, bevor positive Methoden entdeckt wurden, welche die objektiven Bedingungen »subjektiver« Positionen wie Freiheit und Freiheitsbewusstsein analysieren. Die Anwendung der phänomenologischen Methode auf die Geschichtswissenschaft scheint eine Neuausgabe des idealistischen Subjektivismus zu sein, in der lediglich die Begrifflichkeit ausgetauscht wurde, noch dazu eine schlechtere Neuausgabe, weil sie als den Motor der Geschichte nicht nur etwas so Subjektives wie das Verstehen proklamiert, sondern dieses Verstehen auch noch einer willkürlichen Interpretation unterwirft, die sich danach richtet, was dem »erschütterten« Einzelnen gerade gelegen kommt. Die idealistische Methode erklärt fälschlicherweise die Vernunft zur treibenden Kraft der Geschichte, prätendiert dabei aber auf objektive, universale Gültigkeit; die existentiell orientierte Phänomenologie hingegen folgt einem ebenso subjektiven, also nicht auf Fakten gründenden Prinzip, verzichtet aber auf universale Gültigkeit.
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Was jedoch bedeutet der Subjektivismusvorwurf konkret? Was bedeutet er gegenüber dem Idealismus? »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.«2 Dem Idealismus wird – philosophisch gesprochen – vorgeworfen, das Sein des Menschen unkritisch als Bewusstsein zu bestimmen. Wenn man fragt, ob das Bewusstsein tatsächlich zur Auslegung des konkreten menschlichen Lebensprozesses genügt, ohne den kein Bewusstsein existiert, scheint es, dass nicht nur die Existenz, sondern auch Form und Inhalt des Bewusstseins durch etwas Tieferes bestimmt sind – durch das gesellschaftliche Sein des Menschen. Dieses wird definiert als Produktionsverhältnisse, die objektiv und unabhängig vom Bewusstsein, dagegen abhängig von den Produktivkräften sind. Die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse sind objektive Faktoren. Sie zeichnen sich durch dieselbe Objektivität aus, wie sie den Gegenständen der Naturwissenschaften zukommt, erfordern allerdings eine andere Methode: In ihnen herrscht Dialektik, deren Gesetze in den Naturwissenschaften keine systematische Geltung haben, weil dort immer noch eine »metaphysische« Methode vorherrscht. Im gesellschaftlichen Leben jedoch tritt die Dialektik deutlich hervor. Die Dialektik ist die Theorie der objektiven Konflikte, der Spannungen, der Widersprüche. Das »Sein« ist widersprüchlich. Das Bewusstsein folglich auch. Die gesellschaftliche Reproduktion des Lebens ist ein komplexes Phänomen, das verschiedene Sphären umfasst, von den Elementen und Naturkräften bis zu den menschlichen Gesellschaften, ihren verschiedenen Ausformungen und Beziehungen. Entsprechend ist sie zu analysieren. Marx zeigt die Warenproduktion als dialektischen Prozess, in dem auch das Bewusstsein eine Rolle spielt, und zwar eine negative: eine Beziehung verkehrt es unter kapitalistischen Produktionsbedingungen in eine Sache; aus einem gesellschaftlichmenschlichen Verhältnis macht der Kapitalismus etwas Eigenständig-Dingliches. Die Täuschung oder eher der Betrug des Bewusstseins besteht also nicht darin, dass es etwas Objektives setzt, als vielmehr darin, dass das Objektive nicht die Dinge sind, sondern die Verhältnisse und ihre Dialektik, ihre Spannungen und Wendungen, ihre Bewegung und Entwicklung. [Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Marx Engels Werke (MEW), Bd. , Berlin , S. .]
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Entscheidend ist hier, dass das menschliche Sein sich nicht auf das Bewusstsein und dessen Strukturen reduzieren lässt. Das Bewusstsein muss überschritten werden, wenn wir zum Sein gelangen wollen. Aber was ist das Sein? Vor allem: was ist das gesellschaftliche Sein des Menschen? Ist dadurch, dass wir auf der Grundlage bestimmter Phänomene die Notwendigkeit zeigen, das individuelle Selbstbewusstsein zu überschreiten, schon gezeigt, was jenes ursprüngliche Seiende ist, dessen Reflex das Bewusstsein ist? Das gesellschaftliche Sein des Menschen bedeutet nichts anderes als die Intersubjektivität in ihren konkreten, insbesondere gesellschaftlich-ökonomischen und von der Ökonomie abhängigen Funktionen (Produktion, »Lebensproduktion«) und Beziehungen (Klasse). Diese Intersubjektivität – so die Behauptung – kann und muss dialektisch verstanden werden. Die Dialektik eignet sich dazu aus mehreren Gründen: Erstens wurde durch sie (von Schelling und dann vor allem von Hegel in der Phänomenologie des Geistes) gezeigt, dass sich das Bewusstsein in der Weise entfremden kann, dass es seine eigene Bewegung ursprünglich vergegenständlicht. Wenn wir dies auf das ökonomische Problem von Preis und Wert anwenden, gewinnen wir die konkrete Warendialektik. Zweitens hat bereits die alte, vormaterialistische Dialektik gezeigt, dass das individuelle Bewusstsein, das Subjekt, sich nicht genügt, sondern sich notwendig in den objektiven Geist, ins Subjekt-Objekt oder besser Objekt-Subjekt, übersteigt; die Dialektik zeigt so mittels der inneren Bewegung des individuellen Bewusstseins, wie dieses intersubjektiv bedingt ist. Drittens hatte schon die alte Dialektik die Aufgabe zu zeigen, dass jede Etappe der Entwicklung des »Geistes« (das heißt der Gesellschaft) ihre Welt hat, die in dem Maße falsch ist, wie sie nicht total ist. Insofern eignet sich die Dialektik im Rahmen der »materialistischen Wende« dazu, die »Ideologie« der herrschenden Klasse zu entlarven. Und schließlich besteht der Hauptvorteil der Dialektik darin, dass sie eine Logik der Geschichte liefert, das heißt des notwendigen Gangs der Geschichte als Folge von Umstürzen, von Negation und Negation der Negation, und damit die Grundlage für eine Theorie der Revolution als Weg zur Beseitigung aller gesellschaftlichen Antagonismen, aller Widersprüche, und zur Eröffnung einer neuen geschichtlichen Etappe im Zeichen der Freiheit (der Befreiung des Menschen von der Not, von der materiellen Knechtung und
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damit zugleich von dem Zwang, zu knechten und sich knechten zu lassen). Die Dialektik selbst war ursprünglich ein Instrument zur Analyse der Subjekt-Objekt-Beziehung mit dem Ziel, das Absolute, Unendliche in seinem Grund zu zeigen. Hegel schuf auf diese Weise eine neue Version metaphysischer Onto-theologie, der er die Gestalt einer Logik gab. Die »materialistische Wendung« der Dialektik will diese innere Notwendigkeit des logisch-dialektischen Ganges bewahren, freilich innerhalb der Geschichte und ihrer Ausmündung in einen Zustand höchster realer und bewusst gewordener Freiheit. Zu diesem Zweck knüpft die materialistische Dialektik an derjenigen Sphäre des menschlichen Lebens an, in der sich die Gesetzmäßigkeit, die materielle Bedingtheit, die Objektivität und ihre Strukturen am deutlichsten zeigen, nämlich an der ökonomischen Sphäre. Eine mit naturwissenschaftlicher Stringenz ausgestattete Theorie dieses Bereichs vorzulegen war das Ziel der englischen politischen Ökonomie. Bedauerlicherweise taugte diese Ökonomie wegen ihrer empirischen und damit relativistischen Grundlage nur bedingt für Prognosen. Die Logik des dialektischen Materialismus muss, wenn sie dieses Problem mittels einer neuen, geschichtsdialektischen Logik lösen will, sich entweder ebenfalls auf empirisches Niveau hinabbegeben oder in ihre kritische Theorie ein irreparables dogmatisches Moment einführen. Es steht indes fest, dass weder dialektisch noch empiristisch erwiesen wurde, dass sich das »gesellschaftliche Sein des Menschen« mit dem ökonomischen Prozess und den entsprechenden Beziehungen deckt, sondern dass diese für den materialistischen Geschichtsbegriff unerlässliche Voraussetzung tatsächlich eine Voraus-Setzung ist, etwas, das im Voraus gesetzt wird, dass sie also ein Postulat ist und nicht eine nachgewiesene oder evidente These. Die Geschichtskonzeption vom Fortschritt als einer ehernen, von der individuellen Subjektivität Opfer verlangenden Notwendigkeit (Schelling sprach sinngemäß von einem Abarbeiten des subjektiven Geistes) ist so weit verbreitet, dass sie sich ohne Zögern als diejenige (latente oder offene) geschichtsphilosophische Konzeption bezeichnen lässt, die den heutigen Menschen beherrscht. Nadeschda Mandelstam hat in Das Jahrhundert der Wölfe3 gezeigt, welche Rolle [Vgl. Nadeschda Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie, Frankfurt/M. .]
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diese Konzeption für die Kapitulation der Intelligenz vor Regimen gespielt hat und spielt, die die Dialektik zu ihrer offiziellen Idee gemacht haben. Betrachten wir noch einmal die Formel »in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse«.4 Diese Grundformel des historischen Materialismus macht sich möglicherweise einer fundamentalen Ahistorizität schuldig. Wenn Hannah Arendt Recht hat, dass deutlich zu unterscheiden ist zwischen der Arbeit, die den Erhalt des Lebens und seiner Ordnung zum Gegenstand hat, und dem Herstellen, der Produktion, die sich auf das Unbelebte richtet und zum Zweck hat, der menschlichen Welt ein festes und dauerhaftes Gerüst zu geben, dessen sie zur Stütze, zur Verteidigung und zum Angriff auf ihre natürliche Umgebung bedarf, dann ist eine Formel wie die von der »Produktion des Lebens« irreführend. Nicht etwa, weil das Individuum in der Arbeit weniger abhängig vom »Objekt« wäre (es ist im Übrigen eine Frage, inwiefern sich der Titel »Objekt« für die Realitäten eignet, mit denen der arbeitende Mensch zu tun hat; inwieweit sind die Erde, das Material, die Instrumente »Objekte« für ein »Subjekt« – denn die Subjekt-Objekt-Beziehung ist ja grundsätzlich kontemplativ-theoretisch, und nirgendwo ist der Mensch so abhängig und erfährt er seine Abhängigkeit so konkret wie in der Arbeit; von jeher wird die Arbeit als drückendes Schicksal verstanden, das zwar auch seine guten Seiten hat, aber im Wesentlichen die Verknechtung des Menschen bedeutet!); nein, vielmehr weil es erst ab einer bestimmten Zeit möglich ist, die Arbeit als Produktion zu sehen, nämlich wenn sie mit der Produktion wirklich eine Einheit eingegangen ist. Diese Einheit übernimmt von der Arbeit den variablen und permanenten Charakter, von der Produktion die Hinwendung zur unbelebten Natur, zur Erde nicht als der Mutter, sondern als einer Sache, als dem Material, das ausgebeutet und genutzt wird. Das jedoch ist erst innerhalb des modernen, kapitalistischen Industriesystems möglich, das selbst die Frucht einer historischen Entwicklung ist, in der Arbeit und Produktion für lange Zeit getrennt waren. Dieser Trennung ist die Geschichte entsprungen, als nämlich die Arbeit, die Domäne des Haushalts, [Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, a. a. O., S. .]
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bestimmte Individuen für das politische Leben freistellte, wie wir weiter oben zu zeigen versucht haben. Man kann darin zu Recht eine Abhängigkeit der Politik von der Ökonomie erblicken, muss aber zugestehen, dass hier etwas Neues beginnt, dass es sich von der Zeit der Erfindung der Politik an bei dieser Abhängigkeit um eine gegenseitige handelt. Wir haben zu zeigen versucht, dass die Erfindung der Politik nicht einfach mit einer auf religiöser Machtgrundlage organisierten Arbeit zusammenfällt; mit einer solchen Arbeit entsteht das Reich, nicht aber die Politik, die es erst da gibt, wo der Begriff einer Sinngebung des Lebens aus der Freiheit und für die Freiheit aufkommt. Wo nur ein einziger (der Herrscher, der Pharao) das »Bewusstsein der Freiheit« hat, ist das, wie Hegel sagt, unmöglich. Ein Bewusstsein der Freiheit kann der Mensch wesentlich nur in einer Gemeinschaft Gleicher haben. Der Anfang der Geschichte im eigentlichen Sinne ist daher die polis. Die Rede von der »gesellschaftlichen Produktion des Lebens« liefert somit ein schlagendes Zeugnis für die Wechselwirkung zwischen Ökonomie und Politik. Angesichts dessen erweist sich die gängige Streitfrage, welche von beiden, Ökonomie oder Politik, »ursprünglich« sei, als scholastisch: Mit der Geburt der Politik erhält die Ökonomie einen neuen, dienenden Sinn, und es ist also nicht so, als ob die Politik, also die Domäne der Entdeckung der Freiheit und das Feld der Wahrheit (denn es geht um die wirkliche Freiheit, um ein Leben, das nicht einzig dem bloßen Leben dient), der schiere Reflex der ökonomischen Verhältnisse wäre. Vielmehr ist gerade die Politik die »höhere Sphäre«, die sich in der niederen widerspiegelt, ihr Zustand, ihr Aufschwung und Verfall projizieren sich in die Ökonomie. Das bedeutet aber, dass man, wenn man die Dialektik der Geschichte mehr oder weniger mit dem Klassenkampf gleichsetzt, auch anerkennen muss, dass sich dieser Kampf in der Sphäre der Politik abspielt und dass es sich bei ihm letztlich um einen in der Sphäre der Freiheit stattfindenden Kampf um mehr Freiheit handelt. Der Klassenkampf ist daher nicht notwendig ein Beleg für eine ökonomisch zentrierte Geschichtsauffassung. Wenn der Klassenkampf aber keine ökonomische, sondern eine »geistige« und »existenzielle« Angelegenheit ist, dann kann er auch nicht von dem Gesamt des Geistigen isoliert werden, das sich in der Sphäre der Freiheit geltend macht. Es gibt nicht nur den Kampf, sondern auch die Solidarität, es gibt nicht nur das Kollektiv, son
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dern auch die Gemeinschaft, und die Gemeinschaft kennt andere Bindungen als jene, die der gemeinsame Feind stiftet. Wir wollen nicht behaupten, dass die Dialektik aller Grundlagen entbehrt, es gibt das Problem und die Probleme der Dialektik. Die Dialektik, wie man sie uns als geschichtliches Prinzip präsentiert, sei sie metaphysisch oder materialistisch, scheint uns jedoch gegen ein zentrales Prinzip zu verstoßen, das in der Philosophie des . Jahrhunderts explizit formuliert wurde und einen ihrer originellsten Aspekte bildet, nämlich das Prinzip des Phänomens. Es ist auf der Grundlage der Phänomene zu philosophieren und nicht auf der Grundlage hypothetischer Konstruktionen aus Prinzipien. Die Dialektik ist so lange ein lebendiges Problem, wie sie uns hilft, die Phänomene zu sehen, zu lesen, auszulegen. Sie ist tot, sobald sie diese Grenzen in Richtung einer absoluten Philosophie oder hin auf eine Verabsolutierung bestimmter geschichtlicher Positionen zu überschreiten versucht, eine Verabsolutierung, die nur in Mythisierung münden kann. Was bedeutet »Phänomen«? Phänomen ist das, was wir sehen, was in unserer Erfahrung »da« ist, »was sich von sich selbst her zeigt«, in den Grenzen dessen, wie es sich zeigt. Daher ist die Dialektik ein Teil, vielleicht auch ein Ableger der Phänomenologie dort, wo sich die Dialektik dessen zeigen lässt, was in der Erfahrung gegeben ist. Es wäre verkehrt, im Gegenteil anzunehmen, die Lehre von den Phänomenen sei von der dialektischen Logik, gleich ob idealistisch oder materialistisch, abhängig. Entsprechend ist auch die Frage nach dem gesellschaftlichen Sein des Menschen an erster Stelle eine phänomenologische Frage. Wir wollen daher kurz auf die Phänomenologie eingehen. Auch bei ihrem Begründer Edmund Husserl hat die Phänomenologie, wie schon die Dialektik, die Frage nach dem gesellschaftlichen Sein des Menschen gestellt (in Gestalt des Problems der Intersubjektivität) und ist dabei von einer Analyse des Bewusstseins ausgegangen, wiewohl von einer Analyse des Bewusstseins als Phänomen, also in der Absicht, erscheinen zu lassen, was sich hier wahrhaftig und restlos zeigt (ursprünglich in Anknüpfung an den Gedanken Descartes’, dass die einzige wirkliche Gewissheit die Selbstgewissheit des Bewusstseins sei). Husserl versuchte, das Feld des Bewusstseins, das traditionelle Feld philosophischer Interpretationen, zu erweitern und zu vertie
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fen, es durch seine Phänomenologie in ein helleres Licht zu setzen. Ähnlich wie im alten deutschen Idealismus entdeckt er im Bewusstsein selbst den Gegensatz von Endlichem und Un-endlichem als Gegensatz von »transzendentalem« und »mundanem« Bewusstsein. Wie Husserl zu zeigen unternimmt, ist das Sein des Menschen Bewusstsein, allerdings nur, wenn wir es von dem »reinigen«, was es zu einem Ding unter Dingen macht, einschließlich der Kausalbeziehungen. Was wir dann vor uns haben, ist das Bewusstsein als die Basis für das »reine Phänomen«, als eine neue Interpretationsbasis, von der im Subjekt-Objekt-Schema nicht die Rede ist. Husserls Phänomenologie lässt sich daher tatsächlich als eine neue Version des philosophischen Subjektivismus verstehen. Auf der von ihr gelegten Grundlage ist es möglich, den Menschen und sein Bewusstsein als Träger der leiblichen (das erlebte Körperliche im Gegensatz zum physiologischen!) und geistigen Akte aufzufassen, die keinen Dingcharakter haben, weil sie sich von den Dingen wesentlich darin unterscheiden, wie sie sich zeigen, durch die Art ihrer »Phänomenalisierung«. Husserl glaubte, auf dem Boden dieses (durch bestimmte Prozeduren gereinigten und bestimmten gesetzmäßigen Variationen unterworfenen) Bewusstseins eine exakt erfassbare, wissenschaftlich überprüfbare Wesensanalyse der Menschheit liefern zu können. Husserls Grundgedanke ist, wie bereits weiter oben bemerkt, dass die Philosophie nicht auf Prinzipien gegründet werden darf, das heißt auf allgemeine Begriffe und Sätze, die stets Hypothesen bleiben, auch wenn sie zur Erklärung einzelner Wirklichkeiten unerlässlich sind; die Philosophie müsse vielmehr auf Phänomene gegründet werden, auf das, was sich zeigt, was für den Blick, für die Anschauung gegenwärtig ist. Aber den Phänomenen steht die Weise im Weg, wie wir in der alltäglichen Praxis und in den Wissenschaften mit ihnen umgehen. Im Alltag gebrauchen wir sie zum Zweck der Erhaltung des Lebens und seiner Ansprüche, in der Wissenschaft zur kausalen Einordnung, zur Vorhersage (was letztlich ebenfalls eine Art von Praxis ist, wie sich an der Technik und ihrer Verflechtung mit der Theorie zeigt). Wenn wir nun rein das erfassen wollen, was sich zeigt, die Phänomene, müssen wir eine »Ausschaltung« durchführen, eine »Epoché« von allen Interessen und vom Glauben an die Gegenständlichkeit als solche, insofern sie über das, was sich rein zeigt, hinausgeht. Die Epoché ist weder eine Negation der Existenz noch ein Zweifel an ihr, noch ist sie eine blo
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ße Abstraktion, vielmehr ist sie ein Akt der Freiheit, der die Dinge nicht berührt, weshalb sie immer möglich ist. Ihr Umfang und ihre Reichweite sind universal: Sie bezieht sich auf die gesamte »Generalthese« des natürlichen Weltglaubens, der für unser gewöhnliches Verhalten als weltliche, endliche Wesen, die sich durch diese These selbst verendlichen, charakteristisch ist. Doch woher rührt diese Kraft der Freiheit, diese Suspendierung dessen, was für mich ohne Beweis und Zweifel, doch unanfechtbar gilt? Die Epoché ist etwas Negativeres als die Negation, die immer auch eine These ist: In der Epoché aber wird gerade nichts gesetzt. Versuchen wir nun zu zeigen, inwiefern uns Husserls Reflexion selbst zu der Notwendigkeit führt, über die Reflexion hinauszugehen und die reflexive Methode zu verlassen, welche die Epoché als Einleitung in die Reduktion der »Welt« auf das reine Bewusstsein betrachtet und der Philosophie die Aufgabe der »Konstitution« aller Gegenständlichkeit in den gesetzmäßigen Strukturen des bewussten Erlebens zuweist. Reicht denn aber die Reflexion tatsächlich bis in die Tiefen des Erlebens? Lässt sich das Erleben vollständig durch Bewusstmachung erfassen, ist es letztlich mit dem Bewusstsein gleichzusetzen? Einige heutige Phänomenologen zeigen, dass sich das letzte Wesen des Bewusstseins von Husserls »transzendental-genetischem« Standpunkt aus nur negativ bestimmen lässt. Das Sein des Bewusstseins ist in seinem letzten Kern nichts, weil die gesamte Gegenständlichkeit als Gegenstand seiner Erfahrung sein eigenes, von ihm selbst zu leistendes Werk ist. Der letzte Grund alles Bewusstseins ist kein Objekt; was letztlich das cogito ermöglicht, ist kein cogitatum – wir stehen vor dem reinen, objektiv unbestimmbaren Sein. Aber ist dieses negative Ergebnis nicht gerade das Ergebnis der Entschlossenheit zur absoluten Reflexion, das Ergebnis des Willens zur vollkommenen Vorurteilslosigkeit und des Bestrebens, das menschliche Sein auf das bloße Anschauen und Konstatieren zu reduzieren? Verweist dieses Ergebnis in seiner Negativität – in der Unmöglichkeit, die die Gegenständlichkeit konstituierende Tätigkeit auf positive Weise zu fassen – nicht zugleich darauf, dass es notwendig ist, das Feld der Reflexion zu überschreiten und sich dorthin zu begeben, wo die Phänomene mehr Positives versprechen? Die radikale Reflexion mündet in einem Unfassbaren, einem
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Nicht-Dinghaften, einem Nicht-Gegenständlichen. Gleichwohl spricht man von Leistungen. Was ist der wesentliche Charakter unseres Tuns, unserer Leistungen? Muss nicht gerade über sie philosophische Klarheit gewonnen werden? Ist nicht dieses besondere Apperzipieren, in dem unsere Erfahrung besteht, zugleich der Zugang zur Welt, und ist nicht diese Welt die Welt unseres möglichen Lebens in ihr, eines Lebens, das wir leisten, erfüllen müssen, weil wir es leisten können? Ist diese Möglichkeit nicht der ontologische Grundcharakter des Seins des Menschen? Und ist diese Existenz als etwas uns Aufgegebenes, als etwas in seinem Grund nicht durch uns Produziertes, für das wir gleichwohl Verantwortung übernehmen, nicht zugleich das, was wir gesucht haben und auf was die Formel abzielte, unser »Denken«, unser »Bewusstsein« sei vom Sein abhängig, und nicht umgekehrt? Ist das Bewusstsein, das heißt das Subjekt, das ein Objekt vor sich hat, nicht das reflexive Erfassen und die konstatierende Charakterisierung des Ergebnisses von etwas, das ursprünglich Leistung ist, und zwar Leistung nicht im Sinne einer schöpferischen Konstitution, sondern im Sinne einer Leistung im Rahmen des Lebens, das immer schon in einer Welt ist, die es nicht geschaffen hat und nicht schaffen kann, in die es aber doch als die seine eingeführt wird und die es übernehmen muss, mit der es sich in Hinsicht auf die eigene mögliche Ganzheit auseinanderzusetzen hat? Ist diese Hinsicht nicht ebenso unumgänglich und unentrinnbar wie die ursprüngliche und grundsätzliche Faktizität der Welt, wenn nicht gar eins mit ihr? Was ist Husserls Epoché, wenn man sie aus diesem Blickwinkel betrachtet? Sie ist einer jener zutiefst negativen Akte unseres Bewusstseins, die zeigen, wie tief das Verständnis für das Nein in ihm reicht, für eine Negation, die tiefer ist als alle logischen Negationen. Dieses Negative als solches ist möglicherweise das Phänomen, von dem auszugehen ist, wenn wir dasjenige erfassen wollen, was das Bewusstsein fundiert, was jedoch selbst nicht Bewusstsein ist: das Sein des Menschen. Das Bewusstsein ist Bewusstsein dadurch, dass ihm etwas erscheint. Das Erscheinen selbst zeigt sich aber für gewöhnlich nicht. Wenn sich das Erscheinen zeigen soll, muss in gewissem Sinne auch die Sphäre des im Bewusstsein Erfassbaren überschritten werden. Warum? Weil das radikale Nein, das Nichts, nicht existiert und niemals ein Gegenstand sein kann und gleichwohl aus ihm die ganze Kraft rührt, die zum Erscheinen nötig ist, wie
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Husserls Epoché bezeugt. Das Erscheinen kann sich nur vor dem Hintergrund des Nichts zeigen. Das Nichts haben wir aber nie als Gegenstand, das heißt in der Gegenwart. Wir können bloß zu ihm vorlaufen. In diesem Vorlaufen beziehen wir uns auf den Tod als die letzte Möglichkeit: die Möglichkeit der radikalen Unmöglichkeit, zu sein. Diese Unmöglichkeit verdunkelt unser Leben, aber ermöglicht es zugleich in allem, was es ist, sie gibt ihm die Möglichkeit, ein Ganzes zu sein. Nun zeigt sich auch, was das Element unseres Seins ist: Das Sein des Menschen ist Sein aus dem Möglichen. Es gibt zwei Grundmöglichkeiten: einerseits die Möglichkeit, sich ausdrücklich auf das Ganze und auf das Ende zu beziehen (das meint nicht, den Tod zu reflektieren, sondern jene Art von Leben zu entwerten, die um jeden Preis leben will und sich das bloße Leben, und das bedeutet die »Welt« und das Leben in ihr, zum Maßstab nimmt), und andererseits die Möglichkeit, sich nicht darauf zu beziehen, das heißt, vor dem Ende zu fliehen und sich so die eigene grundlegende Möglichkeit zu verschließen. All dies sind »Akte«, die nicht auf ein Bewusstsein im Sinne einer Subjekt-Objekt-Struktur zurückgehen, sondern etwas Grundlegenderes: Existenz, deren Sein im Verstehen (nicht in der Erkenntnis oder der Bewusstwerdung!) der Dinge, des Anderen, seiner selbst liegt. Da wir nun bei diesem Sein in den Möglichkeiten angelangt sind und da eine der beiden Grundmöglichkeiten in der Möglichkeit besteht, sich von der Gebundenheit an das Leben zu befreien und es an etwas Freies zu binden, das fähig ist, Verantwortung zu übernehmen und die Verantwortung, das heißt die Freiheit der Anderen, zu respektieren – muss dann nicht gerade die Geschichte, also die eigentlichste Leistung des Menschen, aus dieser Dimension seines Seins und also nicht aus dem Bewusstsein verstanden werden? Das Postulat, das Sein bestimme unser Bewusstsein, ist da nicht erfüllt, wo das menschliche Leben bloß als in »objektive« Zusammenhänge eingefügt verstanden wird. In einem solchen Verständnis wird die Frage nach dem eigentlichen Charakter des menschlichen Seins übersprungen, es wird das Grundproblem der Philosophie übersprungen, das heißt das Problem des Seins überhaupt, es wird die Dimension des Lebens übersprungen, als wäre das Leben die objektive Grundlage und zugleich das Subjekt, das diese anschaut und fixiert. Es ist eben die Geschichte – das heißt die Domäne des in Bewe
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gung begriffenen gesellschaftlichen Seins des Menschen, der Boden der Traditionen, in denen positiv wie negativ, durch Affirmation wie durch Leugnung, an bestimmte Leistungen angeknüpft wird –, welche imstande ist, das gesellschaftliche Sein der Menschen als ein grundsätzlich freies Sein zu erweisen, das uns zwar in dem Maße »objektiv« zugänglich ist, wie wir retrospektiv feststellen können, was von ihm in fest gefügte Fakten übergegangen ist, das wir aber nicht auf diese Fakten reduzieren dürfen oder gar von einem bestimmten Faktenbereich her restlos erklären können. Was ist das gesellschaftliche Sein des Menschen? Ohne eine positive Antwort geben zu können, reichen diese wenigen Bemerkungen vielleicht aus, deutlich zu machen, dass das gesellschaftliche Sein in einer Tiefe wurzelt, für die die ökonomischen Verhältnisse ebenso wenig ein erschöpfender wie adäquater Maßstab sind. Eine solche Reduktion ist ebenfalls eine Art von Subjektivismus, freilich nicht nur ein theoretischer, sondern auch ein praktischer. Wir haben uns hier darauf beschränkt, eine grundlegende philosophische Antwort auf die Kritik unserer Konzeption aus der Perspektive der materialistischen Geschichtsphilosophie zu geben. Wir wollten weder eine systematische philosophische noch eine soziologische Kritik dieser Geschichtsphilosophie liefern, obgleich dies ebenso verlockend wie notwendig wäre. Soziologische Kritik wird der neugierige Leser heute überall finden, auf eine grundlegend andere Geschichtskonzeption dagegen wird er wohl schwerlich irgendwo stoßen. Wenn wir uns mit unseren schwachen Kräften an dergleichen versucht haben, ist zu erwarten, dass sich von Seiten einer Philosophie, die heute nicht nur die Staaten, sondern auch die Geister beherrscht, Einwände melden werden. Deshalb haben wir diesen kurzen Erläuterungsversuch unternommen.
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Jacques Derrida Ketzertum, Geheimnis und Verantwortung: Patočkas Europa1 In seinem fünften Ketzerischen Essay zur Philosophie der Geschichte2 setzt Jan Patočka das Geheimnis und die Verantwortung, genauer: das Mysterium des Sakralen und die Verantwortung, in Beziehung. Er setzt sie einander entgegen. Er unterstreicht, mehr noch, deren Heterogenität. Ein wenig in der Art von Levinas warnt er vor einer Erfahrung des Sakralen oder des in der Verschmelzung aufgehenden Enthusiasmus und im besonderen vor einer dämonischen Verzückung, deren Wirkung und mitunter erste Bestimmung es wäre, unverantwortlich zu machen, den Sinn oder das Bewusstsein für die Verantwortung verloren gehen zu lassen. Im gleichen Zug unterscheidet Patočka die Religion von der dämonischen Sakralisierung. Was ist eine Religion? Die Religion setzt den Zugang zur Verantwortlichkeit eines freien Ich voraus. Sie impliziert also den Bruch mit jenem Typus des Geheimnisses (denn es ist mit Sicherheit nicht das einzige), das man mit dem sakralen Mysterium und mit dem, was Patočka in der Regel das Dämonische nennt, zu verknüpfen pflegt. Zwischen dem Dämonischen einerseits (eben dem, was die Grenze zwischen dem Tierischen, dem Menschlichen und dem Göttlichen verwischt und nicht ohne eine Affinität zum Mystischen, Initiatischen, Esoterischen, Geheimen oder Sakralen fungiert) und der Verantwortung andererseits gilt es zu unterscheiden. Es handelt sich somit um eine These über den Ursprung und das Wesen des Religiösen. Unter welcher Bedingung kann man von einer Religion sprechen, im eigentlichen Sinne des Wortes, wenn es dergleichen gibt? Unter welcher Bedingung kann man von einer Geschichte der Religion, und zunächst der christlichen Religion, sprechen? Wenn ich daran erinnere, dass Patočka nur deren Beispiel erwähnt, so will ich damit keineswegs eine Unterlassung oder das schuldhafte Dem Text liegt die sechste Patočka Memorial Lecture zugrunde, die Jacques Derrida auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien gehalten hat. Er erschien zuerst in: Transit – Europäische Revue, Nr. (). »Ist die technische Zivilisation zum Verfall bestimmt?«, S. - in diesem Band.
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Versäumnis einer notwendigen komparativen Analyse beklagen. Es scheint im Gegenteil notwendig, die Kohärenz eines Denkens zu unterstreichen, welches das Ereignis des christlichen Mysteriums als absolute Singularität, als Religion par excellence und als irreduzible Bedingung in der gemeinsamen Geschichte des Subjekts, der Verantwortung und Europas in Rechnung stellt; und dies selbst dann, wenn hier oder da der Ausdruck »Geschichte der Religionen« im Plural auftaucht, und selbst wenn man in diesem Plural auch das Jüdisch-Christlich-Islamische und die so genannten Religionen des Heiligen Buches mitvernehmen kann. Man kann, nach Patočka, erst von dem Moment an von Religion sprechen, wo das dämonische Geheimnis ebenso wie das orgiastische Sakrale überschritten sind. Es gibt Religion, im eigentlichen Sinne des Wortes, von dem Augenblick an, wo das Geheimnis des Heiligen, das orgiastische oder dämonische Mysterium wenn nicht zerstört, so doch zumindest beherrscht, integriert und schließlich der Sphäre der Verantwortung unterworfen sind. Das Subjekt der Verantwortung ist dann das Subjekt, das es vermocht hat, sich das orgiastische oder dämonische Mysterium zu unterwerfen. Doch geschieht dies in der Absicht, sich frei dem ganz anderen Unendlichen zu unterwerfen, das das Subjekt sieht, ohne gesehen zu werden. Die Religion ist Verantwortung, oder sie ist nicht. Ihre Geschichte hat Sinn nur in einem Übergang zur Verantwortung. Ein solcher Übergang durchläuft oder erduldet die Prüfung, die das ethische Bewusstsein schließlich vom Dämonischen, von der Mystagogie und vom Enthusiasmus, vom Initiatischen und Esoterischen befreit. Religion im echten Sinne des Wortes könnte es in dem Moment geben, wo die Erfahrung der Verantwortung sich der Form des Geheimnisses entzieht, welches das dämonische Mysterium genannt wird. Dass Patočka dem Begriff des daimon, der die Grenzen passiert, die das Tierische, das Menschliche und das Göttliche trennen, eine grundsätzliche Dimension sexuellen Begehrens zuerkennt, wird keine Überraschung darstellen. Nur, inwiefern bindet uns dieses dämonische Geheimnis des Begehrens in eine Geschichte der Verantwortung, genauer: in die Geschichte als Verantwortung, ein? »Das Dämonische muss in eine Beziehung zur Verantwortung gebracht werden, in eine Beziehung, die es ursprünglich und primär nicht hat.«3 Mit anderen Worten, das Dämonische wird ori Ebd., S. .
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ginär durch Unverantwortlichkeit oder, wenn man will, durch Nicht-Verantwortlichkeit definiert. Es gehört einem Raum an, in dem das Gebot zu antworten noch keinen Widerhall gefunden hat: man vernimmt, versteht darin noch nicht den Ruf, sich, seine Handlungen oder seine Gedanken zu verantworten, für den Anderen und gegenüber dem Anderen verantwortlich zu sein. Die von Patočka vorgeschlagene Genese der Verantwortung beschreibt nicht nur eine Geschichte der Religion oder der Religiosität. Sie fließt mit einer Genealogie des »ich«-sagenden Subjekts, seiner Beziehung zu sich selbst als Instanz der Freiheit, der Singularität und der Verantwortung, der Beziehung zu sich als Sein gegenüber dem Anderen zusammen: dem Anderen in seiner unendlichen Andersheit, einer Andersheit, die erblickt, ohne gesehen zu werden, aber einer Andersheit auch, deren unendliche Güte gibt, in einer Erfahrung, die darauf hinauskäme, den Tod zu geben. Den Tod geben: lassen wir diesem Ausdruck fürs Erste seine ganze Ambiguität. Selbstverständlich folgt diese Genealogie, wenn sie auch eine Geschichte der Sexualität ist, den Spuren eines Geistes des Christentums als Geschichte Europas. Denn in der Mitte von Patočkas Essay wird das, worum es geht, wie folgt definiert: wie denn »die Entstehung dessen, was wir heute unter dem Wort Europa verstehen«,4 interpretieren? Wie »die Expansion Europas«5 vor und nach den Kreuzzügen denken? Radikaler noch: woran leidet die »moderne Zivilisation« als europäische? Nicht, dass sie an diesem oder jenem Fehler, an dieser oder jener Blindheit litte. Warum leidet sie schlicht daran, dass sie ihre Geschichte nicht kennt, dass sie die Verantwortung, das heißt das Gedächtnis ihrer Geschichte als Geschichte der Verantwortung, nicht übernimmt? Dieses Verkennen verrät keine akzidentielle Schwäche des Wissenschaftlers oder Philosophen. Es ist keine Sünde aus Unwissenheit oder ein mangelhaftes Wissen. Es ist nicht aus Mangel an Wissen, dass der Europäer seine Geschichte nicht als Geschichte der Verantwortung kennt. Wenn der Historiker Europas die Geschichtlichkeit und zuvorderst das, was die Geschichtlichkeit an die Verantwortung bindet, verkennt, so geschieht das im Gegenteil in dem Maße, wie sein geschichtliches Wissen die Fragen, die Grundlagen oder die Abgründe verdunkelt, verschließt oder verstopft, Ebd., S. . Ebd., S. .
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weil er naiv glaubt, totalisieren und aktualisieren zu können, oder weil er sich, was auf dasselbe hinauskommt, in den Details verliert. Denn im Herzen dieser Geschichte gibt es Abgrund, gibt es eine Kluft, die der totalisierenden Wiederaneignung widersteht. Das orgiastische Mysterium vom christlichen Mysterium trennend, zeigt dieser Abgrund auch den Ursprung der Verantwortung an. Auf diese Schlussfolgerung hin ist der ganze Essay ausgerichtet: Die moderne Zivilisation leidet nicht nur unter ihren eigenen Fehlern und Kurzsichtigkeiten, sondern auch darunter, dass das gesamte Problem der Geschichte noch ungelöst ist. Allerdings kann das Problem der Geschichte auch gar nicht gelöst werden, sondern muss ein Problem bleiben. Die Gefahr unserer Zeit besteht darin, dass wir vor lauter Detailwissen verlernen, die Fragen zu sehen und das, was ihren Grund bildet. Vielleicht ist die ganze Frage nach dem Verfall der Zivilisation falsch gestellt. Eine Zivilisation an sich gibt es nicht. Die Frage wäre eher, ob sich der geschichtliche Mensch noch zur Geschichte bekennen will.6
Der letzte Satz legt nahe, dass die Geschichtlichkeit ein Geheimnis bleibt. Der geschichtliche Mensch will für die Geschichtlichkeit nicht einstehen und sich vor allem nicht den Abgrund eingestehen, der seine eigene Geschichtlichkeit aushöhlt. Zwei Motive könnten diesen Widerstand gegen das Ein(ge)stehen erklären. Einerseits fließt diese Geschichte der Verantwortung mit einer Geschichte der Religion zusammen. Nun ist es stets ein Wagnis, eine Geschichte der Verantwortung einzugestehen: Verantwortlich sein, frei sein oder fähig sein zu entscheiden denkt man häufig ausgehend von einer Analyse eben des Begriffs der Verantwortung, der Freiheit oder der Entscheidung, und dies darf keine erworbene, bedingte oder von Bedingungen abhängige Möglichkeit sein. Auch wenn die Existenz einer Geschichte der Freiheit oder der Verantwortung nicht bestritten werden kann, so muss, denkt man, eine solche Geschichtlichkeit äußerlich bleiben. Sie darf nicht an das Wesen einer Erfahrung rühren, die gerade darin besteht, sich von seinen eigenen geschichtlichen Bedingungen zu befreien. Was wäre eine motivierte, bedingte, durch eine Geschichte möglich gemachte Verantwortung? Obgleich für manche die Ausübung der Ebd., S. .
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Verantwortung nur auf eine grundsätzlich geschichtliche Weise denkbar ist, scheint der klassische Begriff der Entscheidung und der Verantwortung aus dem Wesen, dem Herzen oder dem eigentlichen Moment der verantwortlichen Entscheidung jede geschichtliche Verkettung auszuschließen (ob sie nun genealogisch sei oder nicht, von mechanischer oder dialektischer Kausalität, oder ob sie noch anderen Typen motivierender Programmierung untersteht, beispielsweise solchen, die auf eine psychoanalytische Geschichte verweisen würden). Es ist also schwierig, eine solche Geschichtlichkeit einzugestehen, und noch schwieriger, sie grundsätzlich an eine Geschichte der Religion zu binden, zumal eine Ethik der Verantwortung eben darauf Wert legt, sich, als Ethik, der religiösen Offenbarung zu entziehen. Wenn Patočka andererseits von dieser Geschichtlichkeit behauptet, für sie müsse eingestanden werden, und darunter mitversteht, dass sie nur mühsam übernommen werden kann, so heißt das, dass die Geschichtlichkeit als ein auf immer ungelöstes Problem offenbleiben muss: »das Problem der Geschichte (…) muss ein Problem bleiben«.7 In dem Augenblick, wo dieses Problem gelöst wäre, bewirkte dieser totalisierende Abschluss das Ende8 der Geschichte: das Verdikt der eigentlichen Un-Geschichtlichkeit. Die Geschichte kann weder zu einem entscheidbaren Objekt noch zu einer beherrschbaren Totalität werden, eben weil sie an die Verantwortung, an den Glauben und an die Gabe gebunden ist. An die Verantwortung in der Erfahrung absoluter Entscheidungen, die getroffen werden, ohne in einem kontinuierlichen Zusammenhang mit einem Wissen oder mit gegebenen Normen zu stehen, die also in der Prüfung eben des Unentscheidbaren getroffen werden; an den religiösen Glauben, der sich, durch eine Form der Verpflichtung oder der Beziehung zum Anderen, in die absolute Gefahr jenseits des Wissens und der Gewissheit vorwagt; an die Gabe und an die Gabe des Todes, die mich mit der Transzendenz des Anderen, mit Gott – als selbstvergessene Güte – in Beziehung setzt und die mir das, was sie mir gibt, in einer neuen Erfahrung des Todes gibt. Verantwortung und Glaube gehen zusammen, so paradox das einigen erscheinen mag, und beide sollten in ein und demselben Schritt die Beherrschung und das Wissen überschreiten. Der gegebene Tod Ebd. [»La fin«, auch »das Ziel«, »der Zweck«, A. d. Ü.]
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wäre dieses Bündnis der Verantwortung und des Glaubens. Unter dieser Bedingung überschreitender Öffnung gäbe es Geschichte. Das Paradox spielt hier zwischen zwei heterogenen Geheimnissen: einerseits das Geheimnis der Geschichtlichkeit, das, wofür der geschichtliche Mensch nur mit Mühe einstehen kann, für das er aber einstehen muss, weil es hierbei um seine eigentliche Verantwortung geht; und andererseits das Geheimnis des orgiastischen Mysteriums, mit dem die Geschichte der Verantwortung brechen muss. Eine supplementäre Komplikation überdeterminiert noch die Dichte oder den Abgrund dieser Erfahrung. Warum von Geheimnis sprechen, da, wo Patočka erklärt, dass (für) die Geschichtlichkeit eingestanden werden muss? Dieses Verantwortlich-Werden, das heißt dieses Geschichtlich-Werden des Menschen scheint wesentlich an das eigentlich christliche Ereignis eines anderen Geheimnisses, oder genauer: eines Mysteriums, das mysterium tremendum, gebunden zu sein: das furchtbare Mysterium, der Schrecken, die Furcht und das Zittern des christlichen Menschen in der Erfahrung der Opfergabe. Dieses Zittern erfasst den Menschen, wenn er zur Person wird, und die Person kann das, was sie ist, erst in dem Moment werden, wo sie sich in eben ihrer Einzigartigkeit durch den Blick Gottes erstarrt sieht. Sie sieht sich nun aus der Sicht des Blicks eines Anderen, eines »absoluten, höchsten Seienden, das uns weniger von außen als von innen beherrscht«.9 Dieser Übergang von der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit, aber auch vom Zugänglichen zum Unzugänglichen sichert das Hinübergehen vom Platonismus zum Christentum. Mit einer Verantwortung und einem ethisch-politischen Ich platonischen Typs beginnend, setzte eine allmähliche Verwandlung die Verantwortung der christlichen Person frei, zumindest so, wie sie zu denken aufgegeben bleibt; denn dieser Essay ist ja einer der Ketzerischen Essays Patočkas: Er versäumt es nicht, im Vorbeigehen hervorzuheben, dass das Christentum das eigentliche Wesen der Person, dessen Heraufkunft es doch bezeichnet, noch nicht gedacht hat; es hat ihm noch keinen ihm angemessenen thematischen Wert verliehen: »Was eine Person ist, wird aus christlicher Perspektive nicht wirklich adäquat thematisiert.«10 Ebd., S. . Ebd.
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Das Geheimnis des mysterium tremendum löst ein heterogenes Geheimnis ab, mit dem es bricht. Dieser Bruch nimmt entweder die Form der einverleibenden Unterordnung (das eine Geheimnis unterwirft sich das andere oder bringt es zum Schweigen) oder die Form der Verdrängung an. Das mysterium tremendum begehrt auf, im doppelten Sinne des Wortes: es erhebt sich gegen ein anderes Mysterium, aber es erhebt sich auch, indem es vom Grund eines vergangenen Mysteriums aus aufsteigt; es drängt in den Grund zurück und verdrängt, was sein Grund bleibt. Dieses Geheimnis, gegen das das christliche Ereignis aufbegehrt, ist zugleich ein gewisser Platonismus – oder Neoplatonismus –, der etwas von der thaumaturgischen Tradition sowie das Geheimnis des orgiastischen Mysteriums bewahrt, ebenjenes, von dem angeblich bereits Platon die Philosophie zu befreien versucht hat. Was eine Geschichte der Verantwortung mit extremen Schichtungen zur Folge hat. Die Geschichte des verantwortlichen Ich bildet sich in der Hinterlassenschaft, im Patrimonium der Geheimnisse, durch eine Reihe von miteinander verketteten Brüchen und Verdrängungen hindurch, die eben die Tradition sichern, die sie mit ihren Unterbrechungen skandieren: Platon bricht mit dem orgiastischen Mysterium und führt eine erste typische Erfahrung der Verantwortung ein; doch bleibt noch etwas vom dämonischen Mysterium und der Thaumaturgie im Platonismus oder Neoplatonismus zurück mitsamt der politischen Dimension der Verantwortung, die dem entspricht. Danach kommt das mysterium tremendum des verantwortlichen Christen auf, das zweite Erdbeben in der Genese der Verantwortung als Geschichte des Geheimnisses, aber auch, wir werden später dazu kommen, in den Figuren des Todes als Figuren der Gabe, in Wahrheit des gegebenen Todes. Diese Geschichte wird niemals abgeschlossen sein. Eine Geschichte, die dieses Namens würdig wäre, könnte niemals gesättigt (saturer) oder zugenäht (suturer) werden. Diese Geschichte des Geheimnisses, dessen Thematisierung oder gar Eingeständnis dem Menschen, im besonderen dem christlichen Menschen Mühe bereitet, ist durch vielfältige Verkehrungen, genauer durch Konversionen skandiert. Patočka bedient sich des Wortes »Konversion«, wie es häufig getan wird, um die aufsteigende Bewegung der anabasis zu bezeichnen, durch die Platon dazu aufruft, den Blick dem Guten und der intelligiblen Sonne außerhalb der Höhle zuzuwen
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den (ein Gutes, das noch nicht Güte ist und somit der Gabe fremd bleibt). Das Wort Konversion steht in geregelter Beziehung zu der Lexik der »Verkehrung«11 oder der »Wendung«.12 Die Geschichte des Geheimnisses als gemeinsame Geschichte der Verantwortung und der Gabe nimmt die Spiralform dieser Drehungen, Wendungen, Versionen, Verkehrungen, Schleifen und Konversionen an. Man könnte sie mit einer Geschichte der Revolutionen, sogar mit einer Geschichte als Revolution vergleichen. Unter Berufung auf die Autorität Eugen Finks beschreibt Patočka den eigentlichen Ort der platonischen Speläologie als den unterirdischen Grund der orgiastischen Mysterien. Die Höhle wäre die Mutter Erde, der man sich schließlich entreißen muss, um, wie es bei Patočka heißt, »den Orgiasmus (…) der Verantwortung unterzuordnen«.13 Doch die platonische Anabase liefert nicht den Übergang vom orgiastischen Mysterium zu einem Nicht-Mysterium. Sie ist Unterordnung eines Mysteriums unter ein anderes, Konversion eines Geheimnisses in ein anderes. Denn die platonische Konversion, die einen ewigen Blick dem Guten zuwendet, nennt Patočka ein neues Mysterium der Seele. Dieses Mal wird das Mysterium zu einem mehr innerlichen; es hat die Form eines »inneren Gesprächs der Seele«,14 und auch wenn es, im Bezug der Seele zum Guten, einem ersten Erwachen der Verantwortung entspricht, so befreit sich damit das Bewusstsein noch nicht vom mystischen Element: es nimmt immer noch die Form eines Mysteriums an, auch wenn dieses nicht mehr eingestanden und verkündet, sondern verleugnet wird. Das Gesetz, wofür dies hier ein erstes Beispiel ist, gibt sich damit bereits zu erkennen. Ebenso wie die Konversionen, die in dieser Geschichte der Verantwortung als einer Kapitalisierung des Geheimnisses auf die platonische Anabase noch folgen werden, bewahrt auch diese erste Konversion stets etwas von dem, was sie scheinbar unterbricht, in sich auf. Die Logik dieses bewahrenden Bruchs ähnelt der Ökonomie eines Opfers, welches bewahren würde, was es preisgibt. Mitunter lässt sie an die Ökonomie einer Auf
Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd.
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hebung*15 denken und mitunter, was nicht im Widerspruch dazu steht, an eine Logik der Verdrängung, die noch bewahrt, was verneint, überschritten und vergraben wird. Die Verdrängung zerstört nicht, sie verschiebt von einem Ort des Systems zu einem anderen. Sie ist somit auch eine topologische Operation. Patočka greift oft auf eine Lexik psychoanalytischen Typs zurück. In der zweifachen Konversion, die er analysiert (derjenigen, die vom orgiastischen Mysterium hin zum platonischen oder neoplatonischen Mysterium umwendet, sowie derjenigen, die letzteres zum christlichen mysterium tremendum konvertiert), wird das ältere Mysterium zwar dem nachfolgenden »untergeordnet«, aber es wird niemals unterdrückt. Um diese hierarchische Unterordnung noch besser zu beschreiben, spricht Patočka von »Einverleibung« oder »Verdrängung«: Einverleibung (privtelení) im Fall des Platonismus, der das orgiastische Mysterium, das er unterordnet, unterwirft und diszipliniert, in sich bewahrt; aber Verdrängung (potlaceni) im Fall des Christentums, welches das platonische Mysterium unterdrückt und in sich bewahrt. Von da an geschieht alles so, als ob die Konversion darin bestünde, zu trauern, das heißt, jenes in sich zu bewahren, von dem man den Tod erleidet. Und das, was man in dem Moment in sich bewahrt, da eine neue Erfahrung des Geheimnisses, eine neue Situation der Verantwortung als Teilung des Geheimnisses eingeführt wird, ist das vergrabene Gedächtnis, die Krypta eines älteren Geheimnisses. Bis zu welchem Punkt ist es legitim, die Wörter Einverleibung und Verdrängung buchstäblich zu nehmen – die ich zunächst in der französischen Übersetzung Patočkas vorfinde? War es sein Wunsch, diesen Wörtern die begrifflichen Umrisse zu geben, die ihnen in einem psychoanalytischen Diskurs, namentlich in einer Theorie der Trauer, zukommen? Selbst wenn das nicht der Fall wäre, so verbietet uns nichts, zumindest unter einem experimentellen Anspruch eine psychoanalytische Lektüre oder jedenfalls eine Hermeneutik auszuprobieren, die die psychoanalytischen Begriffe in Anschlag brächte, die diesen Wörtern entsprechen. Und das gilt vor allem, wenn unsere Problematik durch das Motiv des Geheimnisses eine Zuspitzung erfährt. Dieses Motiv kann denen der Einverleibung (insbesondere [Mit dem nachgestellten Sternchen werden Worte und Passagen angezeigt, die bereits im Original auf Deutsch stehen, A. d. Ü.]
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in der Trauerarbeit und in Verbindung mit jenen Figuren des Todes, die zwangsläufig mit dem absoluten Geheimnis verknüpft werden) und der Verdrängung als dem bevorzugten Verlauf aller GeheimnisEffekte nicht gleichgültig sein. Die geschichtlichen Konversionen hin zur Verantwortung, so wie Patočka sie in den beiden Fällen analysiert, beschreiben ebenjene Bewegung, in der das Ereignis eines zweiten Mysteriums das erste nicht vernichtet. Es bewahrt es im Gegenteil nach Bewerkstelligung einer topischen Verschiebung und einer hierarchischen Unterordnung auf unbewusste Weise in sich auf: Ein Geheimnis wird durch das andere zugleich eingeschlossen und unterworfen. Das platonische Mysterium verleibt sich so das orgiastische Mysterium ein, das christliche Mysterium verdrängt das platonische Mysterium. Das ist schon die ganze Geschichte, die es »einzugestehen«, fast zu bekennen gilt! Wollte man vermeiden, dort von Geheimnis zu sprechen, wo Patočka von Mysterium spricht, wäre man versucht zu sagen, dass das Geheimnis hierbei, das, was es als die Geschichtlichkeit selbst einzugestehen und zu analysieren gilt, die geheime Beziehung zwischen den beiden Konversionen und diesen drei Mysterien (dem orgiastischen, dem platonischen und dem christlichen) ist. Die Geschichte, die es einzugestehen gilt, ist das Geheimnis der Einverleibung und der Verdrängung, das, was sich von einer Konversion zur anderen ereignet: Es ist die Zeit der Konversion – und dessen, woraus es dabei zurückkehrt: des gegebenen Todes. Denn dieses Thema ist nicht irgendein Thema – schließlich ist eine Geschichte des Geheimnisses an eine Kultur des Todes, mit anderen Worten: an die verschiedenen Figuren des gegebenen Todes gebunden. Was heißt im Französischen donner la mort, den Tod geben? Wie gibt man sich den Tod? Wie gibt man ihn sich in dem Sinne, wo sich den Tod geben heißt, so zu sterben, dass man die Verantwortung für seinen Tod auf sich nimmt, Selbstmord zu begehen, aber sich ebenso für den Anderen zu opfern, für den Anderen zu sterben, also vielleicht sein Leben zu geben, indem man sich den Tod gibt, indem man den gegebenen Tod annimmt, wie das auf so verschiedenartige Weise Sokrates, Christus und einige andere vollbracht haben? Und vielleicht auf seine Weise Patočka? Wie gibt man sich den Tod in diesem anderen Sinne, wo sich den Tod geben auch heißt, den Tod auslegen, sich eine Vorstellung, eine Figur, eine Bedeutung, eine Bestimmung davon geben? Wie gibt man ihn sich
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in dem Sinne, wie man sich schlicht und ganz allgemein und gemäß irgendeiner Sorge, irgendeiner Auffassung auf diese Möglichkeit des Todes bezieht, und wäre es auch, gemäß der Formulierung Heideggers, als auf die Möglichkeit einer Unmöglichkeit? Welch eine Beziehung besteht zwischen dem »sich den Tod geben« und dem Opfer? Zwischen dem Sich-den-Tod-Geben und dem Sterben für den anderen? Zwischen dem Opfer, dem Selbstmord und der Ökonomie dieser Gabe? Die Einverleibung, mit der die platonische Verantwortung über das orgiastische Mysterium triumphiert, ist die Bewegung, in der die Unsterblichkeit der individuellen Seele bekräftigt wird – und sie ist auch der Sokrates gegebene Tod, der Tod, den man ihm gibt und den er annimmt, mit anderen Worten: den er sich auf eine Weise selbst gibt, indem er im Phaidon einen ganzen Diskurs entfaltet, durch den er seinem Tod Sinn gibt und dafür gewissermaßen die Verantwortung übernimmt. Bezogen auf die Allegorie der Höhle und auf der Spur von Fink schreibt Patočka: Das Höhlengleichnis ist, besonders in seinem dramatischen Teil, eine Verkehrung der traditionellen Mysterien und ihrer orgiastischen Kulte. Bereits diese Kulte tendierten wenn nicht zu einer Verbindung, so doch zu einer Konfrontation zwischen Verantwortung und Orgiastik. Die Höhle ist ein Relikt der unterirdischen Mysterienorte, sie ist der Schoß der Mutter – der Erde. Platons neuer Gedanke beruht auf dem Willen, den Schoß der Erdmutter zu verlassen und den reinen »Weg des Lichts« zu beschreiten, also den Orgiasmus vollständig der Verantwortung unterzuordnen. Daher führt der Weg der platonischen Seele direkt in die Ewigkeit und zum Ursprung aller Ewigkeit, zur Sonne des ›Guten‹. [Hervorhebungen von mir – J. D.]16
Diese Unterordnung nimmt also die Form einer »Einverleibung« an – die man im psychoanalytischen oder in einem weiter gefassten Sinne verstehen kann –, die Form einer Integration, die sich das, was über ihren Rand hinausgeht, sie überschreitet oder aufhebt, assimiliert und in sich aufbewahrt. Die Einverleibung eines Mysteriums durch das andere läuft zugleich auf die Einverleibung einer Unsterblichkeit in eine andere, einer Ewigkeit in eine andere hinaus. Diese Einhüllung der Unsterblichkeit entspräche somit einer In diesem Band, S. .
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Transaktion zwischen zwei Verneinungen (négations) oder Verleugnungen (dénégations17) des Todes. Und sie wäre – ein bedeutsamer Zug in dieser Genealogie der Verantwortung – von einer Interiorisierung gezeichnet: einer Individualisierung oder Subjektivierung, einer reflexiven Beziehung der Seele, die sich in eben der Bewegung der Einverleibung auf sich selbst zurückfaltet: Ein anderer Aspekt hängt mit dem Vorangehenden zusammen. Die platonische »Konversion« ermöglicht den Blick auf das Gute. Dieser Blick ist so unveränderlich und ewig wie das Gute selbst. Der Weg zum Guten, der das neue Mysterium der Seele ist, spielt sich in Gestalt eines inneren Gesprächs der Seele ab. Bei der Unsterblichkeit, die in untrennbarer Verbindung zu diesem Gespräch steht, handelt es sich also um eine andere Unsterblichkeit als die der Mysterien. Zum ersten Mal in der Geschichte handelt es sich um eine individuelle Unsterblichkeit. Sie ist individuell, weil innerlich, weil untrennbar mit der eigenen Leistung verbunden. Die platonische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ist das Ergebnis der Konfrontation von Orgiasmus und Verantwortung. Die Verantwortung triumphiert über den Orgiasmus, sie verleibt ihn sich als untergeordnetes Moment ein, als eros, der sich selbst so lange nicht versteht, wie er nicht versteht, dass sein Ursprung nicht in der körperlichen Welt, in der Höhle, im Dunkel liegt, sondern dass er das bloße Mittel des Aufstiegs zum Guten mit dessen absolutem Anspruch und harter Disziplin ist. [Hervorhebungen von mir – J. D.]18
Ein derartiger Begriff der Disziplin hüllt mehrere Bedeutungen ein. Sie erweisen sich hierbei als gleich wesentlich: die Bedeutung der Ertüchtigung an erster Stelle, der Übung, der Arbeit, um das orgiastische Mysterium unter Kontrolle zu halten, um es eben in seiner Unterordnung, als einen Sklaven oder Diener arbeiten zu lassen, mit anderen Worten: um ein Geheimnis, einem anderen Geheimnis dienstbar gemacht, in dessen Dienst arbeiten zu lassen – doch es heißt auch, das dämonische Geheimnis des Eros im Inneren dieser neuen Hierarchie arbeiten zu lassen. Zu dieser Disziplin wird auch die Philosophie oder die Dialektik, insofern sie – als Disziplin eben – exoterisch und esoterisch zugleich gelehrt werden kann; diese Disziplin ist auch die der Übung, mit der zu sterben gelernt wird, um den Zugang zu einer neuen Unsterblichkeit zu erhalten: meletê thanatoû, die dem Tod gewidmete Sorge, die Einübung des Todes, [Zu beachten ist, dass »dénégation« auch als Übersetzung für den psychoanalytischen Terminus »Verneinung« dient, A. d. Ü.] In diesem Band, S. .
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das »sich in den Tod einüben«,19 von dem Sokrates im Phaidon spricht. Der Phaidon versteht die Philosophie als sorgende Vorwegnahme des Todes, als auf das Sterben zu verwendende Sorge, als Meditation über die beste Weise, den Tod zu empfangen, zu geben oder sich zu geben, als Erfahrung eines wachen Erwartens des möglichen Todes und des möglichen Todes als Unmöglichkeit, diese melete oder diese epimeleia nun, die zu Recht mit Sorge übersetzt werden kann, öffnet die Ader – und die Wacht –, in die sich die Sorge* in dem Sinn, den Heidegger ihr in Sein und Zeit verleiht, einschreibt. Die berühmte Passage aus dem Phaidon (e), die Patočka von ferne erwähnt, aber weder analysiert noch zitiert, beschreibt eine Art subjektivierender Interiorisierung, diese Bewegung der Versammlung der Seele auf sich, diese Flucht aus dem Körper hin zum Drinnen ihrer selbst, wohin sie sich zurückfaltet, um sich an sich selbst zu erinnern, um sich selbst nahe zu sein, um sich in dieser Geste erinnernder Versammlung zu bewahren. Diese Konversion kehrt die Seele um und versammelt sie auf sich selbst hin. Diese Bewegung einer inneren Sammlung im syn kündigt das Bewusstsein an, das heißt auch jenes vorstellende Selbstbewusstsein, in dem das Geheimnis, dieses Mal im Sinne des abgetrennten, abgesonderten secretum (se cernere), als eine objektive Vorstellung aufbewahrt werden könnte. Denn einer der Fäden, denen wir hier folgen, ist diese Geschichte des Geheimnisses und seiner differenzierten Semantik, vom griechischen Mystischen und Kryptischen zum lateinischen secretum und zum deutschen Geheimnis*. Sokrates erinnert an eine gewisse Unsichtbarkeit der psyche, nachdem er einmal mehr, so wie er es bereits im Kratylos getan hat, mit aides-Aides gespielt hat, mit der Tatsache, dass die unsichtbare (aides heißt auch: die nicht sieht, die blinde) Seele sich bei ihrem Tode hin zu einem unsichtbaren Ort davonmacht, der auch der Hades (Aides) ist – und diese Unsichtbarkeit des aides ist an sich schon eine Figur des Geheimnisses:
[Aus Kontextgründen wird hier und im folgenden Zitat, soweit es die »Einübung in den Tod« betrifft, abweichend von den deutschen Platon-Übersetzungen (Schleiermacher, Apelt) nach der von Derrida zitierten französischen Version übersetzt, A. d. Ü.]
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Wenn sie [die Seele – J. D.] sich rein losmacht und nichts von dem Leibe mit sich zieht [mit anderen Worten, Sokrates beschreibt die Absonderung der unsichtbaren Seele – und Absonderung plus Unsichtbarkeit sind die Bedingungen für das Geheimnis; er beschreibt die Selbstgeheimhaltung, mit der die Seele sich aus dem sichtbaren Körper zurückzieht, um sich in sich selbst zu versammeln, um in ihrer unsichtbaren Innerlichkeit bei sich selbst zu sein – J. D.], weil sie mit gutem Willen nichts mit ihm gemein hatte im Leben, sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb [jedes Mal, wenn Levinas in verschiedenen Texten über den Tod den Phaidon erwähnt – und er tut das oft –, betont er diese Versammlung der Seele auf sich selbst hin, den Moment, in dem das Ich sich in seiner Beziehung zum Tod identifiziert – J. D.] und dies immer einübte, was nichts anderes heißen will, als dass sie recht philosophierte und sich einübte, ohne Mühsal zu sterben. Kann man nicht sagen, ein solches Verhalten sei eine Einübung des Todes?20
Es handelt sich dabei um eine jener kanonischen Passagen, die zu den meistzitierten oder zumindest am häufigsten erwähnten in der Geschichte der Philosophie gehören. Man liest sie, wenn man sie wiederliest, selten sehr genau. Man kann überrascht sein, dass Heidegger sie nicht, zumindest kein einziges Mal in Sein und Zeit, zitiert, nicht einmal auf den Seiten, die der Sorge oder dem Sein zum Tode gewidmet sind. Denn es geht in dieser Passage sehr wohl um eine Sorge, um ein Wachsamsein-auf, um ein Sorge-Tragen für den Tod, die die Beziehung desjenigen zu sich konstituieren, der hier, in der Existenz, sich auf sich selbst bezieht. Aber man hebt niemals hinreichend hervor, dass nicht zuerst die psyche da ist und dass diese alsdann dahin kommt, sich um ihren Tod zu sorgen, über ihn zu wachen, das eigentliche wache Erwarten ihres Todes zu sein. Nein, die Seele unterscheidet sich, sondert sich ab, versammelt sich in sich selbst allein in der Erfahrung dieser meletê thanatoû. Sie ist – als Beziehung zu sich und Versammlung ihrer selbst – allein diese Sorge um das Sterben. Sie kommt auf sich selbst zurück – im Sinne zugleich des Sich-Versammelns und des Sich-Erweckens, des Wachwerdens, im Sinne des Selbstbewusstseins im Allgemeinen – allein in der Sorge um den Tod. Und Patočka spricht hier ganz zu Recht von einem Mysterium oder Geheimnis in der Konstitution einer psyche oder eines individuellen und verantwortlichen Ich. Denn sobald die Seele sich absondert, indem sie sich an sich selbst erinnert, Platon, Phaidon, e.
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individualisiert sie sich, interiorisiert sie sich und wird ihre eigene Unsichtbarkeit. Und sie philosophiert von Anbeginn, wobei ihr die Philosophie nicht zufällig zustößt, denn sie ist nichts anderes als dieses wache Erwarten des Todes, das auf den Tod hin wachsam ist und über ihn wacht wie über das Leben selbst der Seele. Die Psyche als Leben, als Atem des Lebens, als pneuma, kommt nur aus dieser sorgenden Vorwegnahme des Sterbens heraus zum Erscheinen. Und so sieht die Vorwegnahme dieses wachen Erwartens bereits einer Trauer auf Provision, einem wachen Erwarten als Wacht, einem wake ähnlich. Doch dieses wache Erwarten, welches das Ereignis eines neuen Geheimnisses verzeichnet, verleibt sich in seiner Disziplin das orgiastische Geheimnis ein, das es, es unterordnend, in Schlaf versetzt. Aufgrund dieser Einverleibung, die das dämonische oder orgiastische Mysterium einhüllt, bleibt die Philosophie, selbst während sie Zugang zur Verantwortung erhält, eine Art Thaumaturgie: Diese Auffassung führt im Neuplatonismus dazu, dass das Dämonische – Eros ist ein großer Dämon – aus der Perspektive des echten Philosophen, der alle Versuchungen überwunden hat, zu einem dienstbaren Reich wird. [Dienstbarmachung also und nicht Vernichtung des Eros – J. D.]. Dies hat eine einigermaßen unerwartete Folge: Der Philosoph ist zugleich der große Thaumaturg. Der platonische Philosoph ist ein Zauberer [denken wir an Sokrates und seinen Dämon – J. D.] – ein Faust. Der holländische Ideenhistoriker Gilles Quispel leitet daraus einen der Hauptursprünge der Faustlegende und des Faustischen überhaupt ab, jenes »unendlichen Strebens«, das jeden Faust so gefährlich macht, ihn aber schließlich auch erlösen kann.21
Diese Sorge um den Tod, dieses Erwachen, das über den Tod wacht, dieses Bewusstsein, das dem Tod ins Gesicht sieht, ist ein anderer Name für Freiheit. Da noch lässt sich – ohne die grundsätzlichen Unterschiede ausstreichen zu wollen – in diesem Band zwischen der Sorge des Seins zum Tode als einer eigentlich* übernommenen und der Freiheit, das heißt der Verantwortung, eine Struktur erkennen, die zu der des Daseins*, so wie Heidegger es beschreibt, analog ist. Patočka ist nie weit von Heidegger entfernt, vor allem nicht, wenn er wie folgt fortfährt: In diesem Band, S. .
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Ein weiteres wichtiges Moment ist, dass der platonische Philosoph den Tod wesentlich dadurch überwindet, dass er vor ihm nicht die Flucht ergreift, sondern sich ihm stellt. Seine Philosophie ist meletê thanatoû, Sorge um den Tod. Die Sorge um die Seele ist von der Sorge um den Tod nicht zu trennen, die zur echten Sorge um das Leben wird: Das (ewige) Leben erwächst aus diesem direkten Blick auf den Tod, aus der Überwindung [›triomphe‹; Triumph in der frz. Übers. – A. d. Ü.] des Todes (vielleicht ist es nichts anderes als diese »Überwindung« [›triomphe‹ – A. d. Ü.]). Zusammen mit der Beziehung zum Guten, der Identifizierung mit ihm und der Lösung von Dämonie und Orgiasmus, bedeutet sie die Herrschaft der Verantwortung und damit der Freiheit. Die Seele ist absolut frei, das heißt, sie wählt ihr Schicksal. [Hervorhebungen von mir – J. D.]22
Was bedeutet diese Anspielung darauf, dass »die Herrschaft der Verantwortung und damit der Freiheit« vielleicht in einem Triumph über den Tod besteht, mit anderen Worten, in einem Triumph des Lebens (The triumph of life, wie Shelley in Umkehrung der traditionellen Figur vom Triumph des Todes gesagt hat23)? Patočka deutet gar in einer Parenthese die Vermutung an, dass all dies – das so genannte ewige Leben, die Verantwortung, die Freiheit – vielleicht nichts anderes ist als dieser Triumph. Nun bewahrt ein Triumph in sich die Spur eines Kampfes. Der Sieg, errungen im Verlauf eines Krieges zwischen zwei im Grunde untrennbaren Gegnern, bricht sich Bahn am Tag darauf im Augenblick des Festes, das, um des Krieges – dieses polemos, von dem Patočka so häufig und in für die Ketzerischen Essays so bedeutsamer Weise spricht – zu gedenken (nochmals wake), dessen Gedächtnis bewahrt. Der Essay über »Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts und das zwanzigste Jahrhundert als Krieg« ist einer von denen, die Ricœur in seinem Vorwort zur französischen [und deutschen – A. d. Ü.] Ausgabe als »in geradezu erschreckender Weise fremdartig« beurteilt. Er ist ebenso eine paradoxe Phänomenologie der Nacht, aber auch des geheimen Bündnisses des Tages und der Nacht. Diese Paarung von Gegensätzen spielt eine wesentliche Rolle im politischen Denken Patočkas; und obgleich er darin allein Ernst Jünger (Der Arbeiter und Der Kampf als inneres Erlebnis ()) und Teilhard de Chardin (Ecrits du temps de guerre) zitiert, ist sein Diskurs in manchen Momenten Ebd., S. . [Vgl. dazu Jacques Derrida, »Survivre«, in: ders., Parages, Paris , S. ff., A. d. Ü.]
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dem – sehr komplizierten, sehr zweideutigen – Diskurs Heideggers, der sich um den herakliteischen polemos dreht, nahe, ihm näher denn je, näher, wie mir scheint, als es Ricœur in seinem Vorwort sagt – trotz eines grundsätzlichen Unterschiedes, den wir hier nicht genauer ausführen können.24 Der Krieg ist eine weitere Erfahrung des gegebenen Todes (ich gebe dem Feind den Tod, und ich gebe den meinen im Opfer des »Sterbens für das Vaterland«). Patočka interpretiert den polemos des Heraklit: »Er verstand den Krieg (…) nicht im Sinne einer Expansion des Lebens, sondern als die Vorherrschaft der Nacht, als jenen Willen der aristeia, sich frei der Gefahr zu stellen, als SichBewähren an der Grenze der menschlichen Möglichkeiten – eine Herausforderung, welche die Besten wählen und sich damit für den dauernden Ruhm im Gedächtnis der Sterblichen anstelle der ephemeren Verlängerung eines bequemen Lebens entscheiden.«25 Dieser polemos vereint die Gegner, versammelt die Gegensätze (worauf auch Heidegger immer wieder bestanden hat). Als Ort des Ersten Weltkriegs gibt die Front diesem polemos, der die Feinde als einander in der äußersten Nähe des Von-Angesicht-zu-Angesicht Verbundene zusammenführt, seine geschichtliche Gestalt. Diese einzigartige und verwirrende Verherrlichung der Front lässt vielleicht eine andere Trauer erahnen, den Verlust der Front während und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Verschwinden dieses frontalen Aufeinanderstoßens, das den Feind zu identifizieren und sogar und vor allem sich mit dem Feind zu identifizieren gestattete. Nach dem Zweiten Weltkrieg, würde Patočka vielleicht im Sinne Carl Schmitts sagen, verliert man die Figur des Feindes, verliert man den Krieg und vielleicht seitdem sogar die Möglichkeit des Politischen. Diese Identifizierung des Feindes, die in der Erfahrung der Front stets die Identifizierung mit dem Feind streift, ist genau das, was Patočka am meisten beunruhigt und fasziniert: Dasselbe Gefühl und dieselbe Vision hatte Teilhard, als er an der Front das Übermenschliche, das Göttliche erlebte. Und Jünger spricht an einer Stelle davon, dass Kämpfende im Angriff zu zwei Teilen einer einzigen Kraft werden, dass sie zu einem einzigen Körper verschmelzen, und er fügt hinzu: Ich gehe dem in meinem Essay über »L’oreille de Heidegger« nach, in: Reading Heidegger, Commemoration, Bloomington und Indianapolis . In diesem Band, S. .
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»Zu einem Körper – das ist ein Gleichnis besonderer Art. Wer es versteht, der bejaht sich selbst und den Feind, der lebt im Ganzen und in den Teilen zugleich. Der kann sich eine Gottheit denken, die sich diese bunten Fäden durch die Hände gleiten lässt – mit lächelndem Gesicht.« Kann es Zufall sein, dass zwei Denker, die ansonsten von Grund auf verschieden sind, angesichts des Fronterlebnisses jeder für sich zu Metaphern gelangen, die Heraklits Vision vom Sein als polemos erneuern? Erschließt sich darin etwas von dem unabweislichen Sinn der Geschichte der westlichen Menschheit, der zum Sinn der menschlichen Geschichte überhaupt geworden ist?26
Doch wenn er des Todes und des Sieges über den Tod gedenkt, so verzeichnet dieser Triumph auch dieses jubilatorische Moment des in Trauer Überlebenden, der dieses Über-Leben, wie Freud bemerkt, in einer quasi manischen Weise genießt. In dieser Genealogie der Verantwortung oder der Freiheit, ihrer »Herrschaft«, wie es bei Patočka heißt, könnte die triumphierende Bejahung des freien und verantwortlichen Ich von Seiten eines sterblichen oder endlichen Wesens durchaus die Manifestation einer Manie sein. Sie verheimlichte oder sie verheimlichte sich, in derselben Verleugnung, mehr als ein Geheimnis: das Geheimnis des orgiastischen Mysteriums, das sie sich dienstbar gemacht, untergeordnet und einverleibt hat, und das ihrer eigenen Sterblichkeit, die sie eben in der Erfahrung des Triumphs verweigert oder verleugnet. Diese Genealogie macht einen recht zweideutigen Eindruck. Die Interpretation eines solchen philosophischen und philosophischpolitischen Hervortretens der absoluten Freiheit (»die Seele ist absolut frei, das heißt, sie wählt ihr Schicksal«) scheint nichts weniger als einfach und vollständig. Sie verrät immer noch eine nicht zur Ruhe gekommene Bewertung. Denn trotz der impliziten Lobrede auf die verantwortliche Freiheit, die sich so aus dem orgiastischen oder dämonischen Schlaf erweckt, erkennt Patočka in dieser Wachsamkeit eine »neue Mythologie«. Einmal einverleibt, diszipliniert, bezwungen und dienstbar gemacht, ist das Orgiastische nicht vernichtet. Es hält weiterhin, nach der zweiten Wendung oder der zweiten Konversion, dem Christentum, unterirdisch eine Mythologie der verantwortlichen Freiheit am Leben, die auch eine Politik, das noch heute teilweise intakte Fundament des Politischen in der westlichen Welt, sein wird: Ebd.
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Auf diese Weise erwächst auf der Grundlage der Dualität zwischen dem Echten und Verantwortlichen einerseits und dem Außerordentlichen und Orgiastischen andererseits eine neue Lichtmythologie der Seele: das Orgiastische wird nicht beseitigt, sondern diszipliniert und dienstbar gemacht. [Hervorhebungen von mir – J. D.]27
Die grundsätzliche politische Dimension dieser Krypto- oder Mysto-Genealogie scheint genau den Einsatz zu bilden, um den es in diesem Übergang vom platonischen Geheimnis (das mit dem einverleibten dämonischen Mysterium schwanger geht) zum christlichen Geheimnis als mysterium tremendum geht. Für eine nähere Bestimmung werden wir zunächst drei wesentliche Motive an dieser gemeinsamen Genealogie von Geheimnis und Verantwortung unterscheiden müssen: . Es darf niemals vergessen werden, und zwar gerade aus politischen Gründen – das einverleibte, danach verdrängte Mysterium ist niemals zerstört. Diese Genealogie hat ein Axiom, nämlich dass die Geschichte niemals auslöscht, was sie vergräbt; stets bewahrt sie in sich das Geheimnis dessen auf, was sie in eine Krypta einschließt, das Geheimnis ihres Geheimnisses. Eine geheime Geschichte des gewahrten Geheimnisses. Das ist auch der Grund, warum diese Genealogie eine Ökonomie ist. Dem orgiastischen Mysterium kommt das Attribut einer endlosen Wiederkehr zu, es bleibt stets am Werk: nicht nur, wie gesehen, im Platonismus, sondern auch im Christentum und sogar im Raum der Aufklärung* und der Säkularisierung. Wenn Patočka daran erinnert, dass jede Revolution, und sei es auch eine atheistische oder weltliche, von einer Wiederkehr des Heiligen in der Gestalt des Enthusiasmus zeugt, mit anderen Worten: von der Anwesenheit der Götter in uns, so lädt er uns ein, daraus, für heute und für morgen, eine politische Lehre zu ziehen. Von der »Erneuerung der orgiastischen Flut« sprechend, die stets unmittelbar bevorsteht und die stets einer Schwäche der Verantwortung entspricht, gibt Patočka das Beispiel des religiösen Enthusiasmus, der unter der Französischen Revolution die Menschen erfasst hat. Nimmt man die Affinität, die stets das Heilige mit dem Geheimnis und die Opferzeremonie mit der Initiation verbindet, als gegeben an, so könnte man sagen, dass jeder revolutionäre Enthusiasmus seine zündenden Losungen als Opferriten und Geheimnis-Effekte Ebd., S. .
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hervorbringt. Patočka sagt das zwar nicht ausdrücklich, aber sein anschließendes Durkheim-Zitat scheint in diese Richtung zu gehen: Die Fähigkeit der Gesellschaft, sich zu vergotten oder Götter zu erschaffen, ist nirgends deutlicher zu sehen als in den ersten Jahren der Französischen Revolution. Unter dem Einfluss des allgemeinen Enthusiasmus wurden seinerzeit rein profane Dinge durch die öffentliche Meinung vergöttlicht: das Vaterland, die Freiheit, die Vernunft.28
Und nach diesem Zitat aus Les formes élémentaires de la vie religieuse fährt Patočka fort: Es handelt sich hier allerdings um eine Begeisterung, die unbeschadet ihres Kultes der Vernunft einen orgiastischen, nicht, oder zumindest kaum, durch persönlich übernommene Verantwortung disziplinierten Charakter hat. Die Gefahr eines erneuten Falls in den Orgiasmus zeigt sich hier akut.29
Eine solche Warnung (mise en garde) vermag offenbar – und dies sind die Paradoxien oder Aporien einer jeden Ökonomie – nur eine Trauer einer anderen entgegenzusetzen, eine Melancholie einem Triumph und einen Triumph einer Melancholie, eine Form der Depression einer anderen Form der Depression oder, was auf dasselbe hinausläuft, des Widerstandes gegen die Depression: Dem dämonischen Orgiasmus wird man durch den platonischen Triumph und diesem durch das Opfer oder die Buße gemäß der christlichen »Wendung«, sprich: »Verdrängung« entgehen. . Sollte es kein Missbrauch sein, wenn ich die épiméleia tes psychés in Richtung einer psychoanalytischen Ökonomie des Geheimnisses als Trauer oder der Trauer um das Geheimnis interpretiere, so würde ich sagen, dass das essenzielle Christentum dieser Ökonomie sie dem heideggerschen Einfluss entzieht. Das heideggersche Denken ist nicht nur eine beständige Bewegung gewesen, sich vom Christentum loszureißen (eine Geste, die man unablässig in Beziehung setzen muss, so komplex diese Beziehung auch sein mag, mit der unerhörten Entfesselung antichristlicher Gewalt, die – man vergisst das heute oft – die höchst offizielle und erklärte Ideologie des Nazismus gewesen ist). Dasselbe heideggersche Denken besteht häufig, Vgl. ebd., S. . Ebd.
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vor allem in einigen bestimmenden Motiven von Sein und Zeit, darin, auf einer ontologischen Ebene christliche Themen und Texte entchristianisiert zu wiederholen. Diese Themen und Texte werden nun als ontische, anthropologische oder künstliche Versuche dargestellt, die auf dem Weg einer ontologischen Wiederergreifung ihrer eigenen ursprünglichen Möglichkeit vorzeitig abbrechen (ob es sich nun beispielsweise um den status corruptionis und um den Unterschied zwischen eigentlich und uneigentlich handelt oder um das Verfallen* ins Man, um sollicitudo und Sorge, um die Lust zu sehen und die Neugier, um den eigentlichen oder den vulgären Begriff der Zeit, um die Texte der Vulgata, des Heiligen Augustinus oder Kierkegaards). Patočka vollzog die umgekehrte und symmetrische Geste, die von da an vielleicht auf dasselbe hinauskommt. Er re-ontologisierte die geschichtlichen Themen des Christentums und verbuchte auf das Konto der Offenbarung oder des mysterium tremendum den ontologischen Gehalt, den Heidegger dem Christentum gerade zu entziehen sucht. . Doch Patočka tat dies nicht in der Absicht, auf den rechten Weg eines orthodoxen Christentums zurückzuführen. Sein Ketzertum höhlt vielleicht das aus, was man, um ein wenig zu provozieren, das andere Ketzertum nennen könnte: die Verdrehung oder Ver-wendung, mit der die heideggersche Wiederholung das Christentum auf ihre Weise affiziert. An zwei oder drei Stellen wiederholt Patočka seine Klage über das Fortbestehen eines gewissen Platonismus – und einer gewissen platonischen Politik im Herzen eines europäischen Christentums, das insgesamt im Geschehen seiner Wendung den Platonismus nicht hinreichend genug verdrängt hat, der immer noch sein Bauchredner ist. In diesem Sinne ließe sich auch vom politischen Gesichtspunkt aus das Wort Nietzsches bestätigen (»wahr« bis zu einem gewissen Punkt, wir haben gerade daran erinnert), wonach das Christentum Platonismus für das Volk wäre. A. Einerseits ist das die Unterwerfung der verantwortlichen Entscheidung unter das Wissen: Die christliche Theologie verwarf zwar den platonischen Lösungsansatz [nämlich die Verwerfung des Orgiasmus, doch ausgehend von einer Metaphysik der Erkenntnis als sophia tou kósmou: als Erkenntnis der Ordnung der Welt und Unterordnung der Ethik und der Politik unter die objektive Erkenntnis – J. D.], entlehnte ihm aber entscheidende Elemente – mit
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weitreichenden Folgen. Der platonische Rationalismus, das Bestreben, auch die Verantwortung der Objektivität der Erkenntnis zu unterwerfen, wirkt im Untergrund der christlichen Auffassung weiter. Die Theologie selbst beruht auf einem »natürlichen« Fundament, und das »Übernatürliche« wird als Erfüllung des »Natürlichen« verstanden.30
Die Verantwortung der Objektivität der Erkenntnis zu unterwerfen heißt offensichtlich in den Augen Patočkas – und wie nicht unterschreiben, was er hier darunter mitversteht? –, die Verantwortung zu annullieren. Die Behauptung, eine verantwortliche Entscheidung müsse sich nach einem Wissen richten, scheint zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Verantwortung (man kann eine verantwortliche Entscheidung nicht ohne Wissen und Bewusstsein31 fällen, ohne zu wissen, was man tut, aus welchem Grund, mit welcher Absicht und unter welchen Bedingungen man es tut) und die Bedingung der Unmöglichkeit der Verantwortung zu definieren (wenn eine Entscheidung gemäß diesem Wissen verfügt wird, das zu befolgen oder zu entwickeln sie sich begnügt, so ist dies keine verantwortliche Entscheidung mehr – es ist die technische Inbetriebnahme eines kognitiven Dispositivs, die simple maschinelle Entfaltung eines Theorems). Diese Aporie der Verantwortung würde somit die Beziehung des platonischen Paradigmas zum christlichen Paradigma in der Geschichte der Moral und der Politik definieren. B. Deshalb kreist Patočka andererseits, wiewohl er seinen ethischen oder juridischen Diskurs und insbesondere seinen politischen Diskurs in die Perspektive einer christlichen Eschatologie einschreibt, eine Art Ungedachtes des Christentums ein. Ob ethisch oder politisch, das christliche Bewusstsein der Verantwortung ist unfähig, das zu ihm gehörige platonische Verdrängte zu denken und, im gleichen Zug, das zu denken, was das platonische Mysterium vom orgiastischen Mysterium einverleibt. Dies wird in der Bestimmung eben des Ortes und des Subjektes all dieser Verantwortungen deutlich, nämlich der Person. Kaum hat er die christliche »Wendung« und die christliche »Verdrängung« im mysterium tremendum bezeichnet, da schreibt Patočka: Ebd., S. . [»Conscience«, was auch »Gewissen« heißen kann, A. d. Ü.]
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In letzter Instanz [im christlichen Mysterium – J. D.] ist die Seele nicht eine Beziehung zu einem wie auch immer erhabenen Gegenstand (wie dem platonischen Guten) [worunter also mitzuverstehen ist: wie im Platonismus, wo sie Beziehung auf ein transzendentes Gutes ist, das auch die ideale Ordnung der griechischen polis oder der römischen civitas regeln wird – J. D.], sondern zu einer Person, die in die Seele sieht, ohne selbst einsehbar zu sein. Was eine Person ist, wird aus christlicher Perspektive nicht wirklich adäquat thematisiert.32
Das Unzureichende dieser Thematisierung bleibt also auf der Schwelle der Verantwortung. Sie thematisiert nicht, was eine verantwortliche Person ist, das heißt, was sie sein muss, nämlich dieses die Seele dem Blick der anderen Person Aussetzen, der Person als transzendentem Anderen, als Anderem, der mich anblickt und angeht (regarde), aber der mich anblickt und angeht, ohne dass ich, das Ich/ich (le moi-je), ihn erreichen, ihn sehen oder ihn in Reichweite meines Blickes halten könnte. Vergessen wir niemals, dass eine ungenügende Thematisierung dessen, was die Verantwortung ist, das heißt, was sie sein muss, auch eine unverantwortliche Thematisierung ist: nicht zu wissen, kein ausreichendes Wissen oder Bewusstsein davon zu haben, was verantwortlich sein heißt, ist an sich schon ein Verfehlen der Verantwortung. Um verantwortlich zu sein, muss man für das verantwortlich sein können, was verantwortlich sein heißt. Denn wenn der Begriff Verantwortung in der gewissesten Kontinuität seiner Geschichte die Verpflichtung auf ein Handeln, ein Tun, eine Praxis, eine Entscheidung impliziert hat, die über das einfache Bewusstsein oder die einfache theoretische Feststellung hinausreicht, so verlangt derselbe Begriff, dass eine verantwortliche Entscheidung oder Handlung sich selbst als Bewusstsein verantwortet, das heißt im thematischen Wissen dessen, was getan ist, was die Handlung bedeutet, was ihre Ursachen und ihre Ziele sind etc. Man muss in den Auseinandersetzungen rund um die Verantwortung stets diese ursprüngliche und irreduzible Verwicklung von theoretischem Bewusstsein (das auch ein thetisches oder thematisches Bewusstsein sein muss) und »praktischem« (ethischem, juridischem oder politischem) Bewusstsein berücksichtigen, und wäre es nur, um die Arroganz all der »guten Gewissen« zu vermeiden. Man muss unaufhörlich daran erinnern, dass eine gewisse Ebd., S. .
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Unverantwortlichkeit sich überall einschleicht, wo Verantwortung verlangt wird, ohne dass hinreichend auf den Begriff gebracht und thematisch gedacht worden ist, was Verantwortung heißt: das heißt überall. Überall, man kann es auch a priori und auf nicht empirische Weise sagen, denn wenn die Verwicklung zwischen dem Theoretischen und dem Praktischen, von der wir gerade sprachen, mit Sicherheit irreduzibel ist, so gilt das für die Heterogenität zwischen den beiden so ineinander verwickelten Ordnungen genauso. Von nun an wird die Verwirklichung einer Verantwortung im Werk (die Entscheidung, der Akt, die Praxis) stets voran und über jede theoretische oder thematische Bestimmung hinaus gehen müssen. Sie wird ohne sie, unabhängig im Hinblick auf das Wissen, entscheiden müssen – und dies wird die Bedingung einer praktischen Freiheit sein. Woraus zu schließen wäre, dass die Thematisierung des Begriffs Verantwortung nicht nur stets unzureichend ist, sondern dies deshalb stets ist, weil sie es sein muss. Was hier für die Verantwortung gilt, gilt aus eben denselben Gründen auch für die Freiheit oder die Entscheidung. Überantwortet nicht auch die Heterogenität, die wir hier zwischen der Ausübung der Verantwortung und ihrer theoretischen, ja doktrinären Thematisierung vermuten, die Verantwortung dem Ketzertum? Der Häresie, der airesis als der Wahl, Auswahl, Bevorzugung, Neigung, Parteinahme, das heißt Entscheidung? Aber auch als (philosophische, literarische oder religiöse) Schule, die dieser entschiedenen Parteinahme entspricht? Und schließlich als Ketzertum im durch das Vokabular der katholischen Kirche fixierten und seither verallgemeinerten Sinne, nämlich als eine Abweichung in der Lehre, der Doktrin, Abweichung in ihr und in Bezug auf sie, in der Bezugnahme auf eine offiziell und öffentlich erteilte Doktrin und auf die institutionelle Gemeinschaft, die sich nach ihr richtet? Dann aber ist dieses Ketzertum in dem Maße, wie es stets die Abweichung bezeichnet, wie es sich stets in Abweichung, in Abstand zu dem hält, was öffentlich und bekanntermaßen verkündet wird, nicht nur, in seiner Möglichkeit, die wesentliche Bedingung der Verantwortung; es schickt paradoxerweise die Verantwortung in den Widerstand oder in die Dissidenz eines bestimmten Geheimnisses. Es hält die Verantwortung in der Abweichung und im Geheimen. Und die Verantwortung hält an der Abweichung und am Geheimnis fest. Dissidenz, Abweichung, Ketzertum, Geheimnis – alles paradoxe
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Erfahrungen, in dem starken Sinne, den Kierkegaard diesem Wort gegeben hat. Es geht in der Tat darum, an das Geheimnis eine Verantwortung zu binden, die gemäß der überzeugtesten und überzeugendsten doxa darin besteht, zu antworten, sprich: dem Anderen zu antworten, vor (gegenüber) dem Anderen und vor (gegenüber) dem Gesetz und, wenn möglich, öffentlich sich selbst, die eigenen Absichten, die eigenen Ziele zu verantworten, und das mit dem Namen des für verantwortlich erachteten Handelnden. Dieser Bezug der Verantwortung auf die Antwort ist nicht in allen Sprachen verzeichnet, aber er ist es auch im Tschechischen. Dies mag dem Geist des patočkaschen Ketzertums zugleich getreu und, selbstverständlich, ketzerisch im Hinblick auf ebendieses Ketzertum erscheinen. Dieses Paradox lässt sich tatsächlich am Leitfaden dessen interpretieren, was Patočka in Bezug auf die Person und das christliche mysterium tremendum vertritt; doch ebenso auch gegen ihn, wenn er sich, von einer inadäquaten Thematisierung sprechend, wie es scheint, auf irgendeine Letztadäquation in einer schließlich erfüllten Thematisierung beruft. Es scheint im Gegenteil so zu sein, dass gerade das Thema der Thematisierung, das zuweilen phänomenologische Motiv des thematischen Bewusstseins wenn nicht verworfen, so doch zumindest in seiner Trefflichkeit strikt begrenzt wird durch diese andere Radikalform der Verantwortung, die mich dissymmetrisch dem Blick des Anderen aussetzt und dabei nicht länger meinen Blick – jeweils für den, der mich anblickt – zum Maß aller Dinge macht. Der Begriff Verantwortung ist einer jener seltsamen Begriffe, die zu denken geben, ohne sich der Thematisierung hinzugeben; er setzt sich weder als ein Thema noch als eine These, er gibt, ohne sich zu sehen zu geben, ohne sich leibhaftig, in persona in einem »Sich-Zeigen« phänomenologischer Anschauung zu vergegenwärtigen. Dieser paradoxe Begriff hat auch die Struktur eines gewissen Geheimnisses – und dessen, was man im Code bestimmter religiöser Kulturen Mysterium nennt. Die Ausübung der Verantwortung scheint keine andere Wahl zu lassen als die unbequemste, die es gibt, die des Paradoxons, des Ketzertums und des Geheimnisses. Schwerwiegender noch, sie muss stets die Gefahr der Konversion und der Apostasie in Kauf nehmen: keine Verantwortung ohne den dissidenten und erfinderischen Bruch mit der Tradition, der Autorität, der Orthodoxie, der Regel oder der Doktrin.
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Dissymmetrie im Blick: diese Disproportion, die mich in dem, was mich anblickt oder angeht (regarde), auf einen Blick bezieht, den ich nicht sehe und der sich vor mir geheim hält, während er über mich gebietet, ist genau das furchtbare, das schreckliche mysterium tremendum, das sich für Patočka im christlichen Mysterium ankündigt. Ein derartiger Schrecken hätte in der Erfahrung der Transzendenz, die die platonische Verantwortung auf das agathon bezieht, nicht stattgefunden, keinen Ort gehabt. Und auch nicht in der darauf begründeten Politik. Und der Schrecken dieses Geheimnisses überbordet die ungestörte Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt, geht dieser Beziehung voran und über sie hinaus. Ist die Bezugnahme auf diese abgründige Dissymmetrie im dem Blick des Anderen Ausgesetztsein ein Motiv, das zunächst und allein dem Christentum zugehört, und wäre es auch in einer inadäquaten christlichen Thematik? Lassen wir die Frage beiseite, ob man nicht zumindest das Äquivalent dazu »vor« oder »nach« dem Evangelium, im Judentum oder im Islam, findet. Beschränkt man sich auf eine Lektüre Patočkas, so ist kein Zweifel möglich, dass in seinen Augen das Christentum – und das christliche Europa, das er niemals davon loslöst – der mächtigste Impuls für die Vertiefung dieses Abgrunds der Verantwortung ist, selbst wenn dieser Impuls, dieser Aufschwung noch durch das Gewicht eines bestimmten Ungedachten, insbesondere durch seinen unabänderlichen Platonismus begrenzt ist: Insofern es seinen Grund in dieser abgründigen Tiefe der Seele hat, ist das Christentum der bislang größte und unüberbotene, wenngleich noch nicht zu Ende gedachte Aufschwung, der den Menschen jemals zum Kampf gegen den Verfall befähigt hat.33
Wenn dieser Aufschwung nicht zu Ende gedacht worden ist, so lässt das verständlich werden, dass man in den Augen Patočkas bis zu seinem Endpunkt gehen müsste: nicht nur durch eine vertiefte Thematisierung, sondern durch eine Verwirklichung im Werk oder durch eine politisch-geschichtliche Aktion. Und dies auf den Wegen eines messianischen, aber auch und unablösbar phänomenologischen Eschatologismus. Etwas ist noch nicht angekommen: im Christentum, aber auch durch das Christentum. Was nicht einmal Ebd., S. .
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im Christentum angekommen ist, ist das Christentum. Das Christentum ist nicht im Christentum angekommen. Was noch nicht angekommen ist, das ist die Vollendung – in der Geschichte, in der politischen Geschichte, und zuerst in der europäischen Politik – der neuen, durch das mysterium tremendum angekündigten Verantwortung. Eine im echten Sinne christliche Politik hat es noch nicht gegeben, und zwar aufgrund der platonischen polis. Die christliche Politik muss radikaler mit der griechisch-platonisch-römischen Politik brechen, um endlich das mysterium tremendum zu vollenden. Unter dieser Bedingung wird es eine Zukunft für Europa und eine Zukunft im Allgemeinen geben, denn Patočka spricht weniger von einem vergangenen Ereignis oder einem Faktum als von einem Versprechen. Dieses Versprechen sollte bereits stattgefunden haben. Die Zeit dieses Versprechens definiert zugleich die Erfahrung des mysterium tremendum und jene doppelte Verdrängung, mit der es eingerichtet wird, doppelte Verdrängung, durch die es sowohl den vom Platonismus einverleibten Orgiasmus als auch den Platonismus selbst unterdrückt, aber so auch in sich bewahrt. Man könnte radikal entfalten, was im Text Patočkas, dieses Ketzers im Hinblick zugleich auf ein gewisses Christentum, einen gewissen Heideggerianismus, aber auch im Hinblick auf alle großen Diskurse über Europa, sowohl implizit als auch explosiv bleibt. Bis zu seiner äußersten Konsequenz getrieben, scheint der Text einerseits nahezulegen, dass Europa nur das sein wird, was es sein muss, wenn es voll und ganz christlich sein wird, in dem Moment, wo die Thematisierung des mysterium tremendum endlich adäquat sein wird. Doch scheint er zugleich auch nahezulegen, dass dieses zukünftige Europa nicht mehr griechisch, griechisch-platonisch und nicht einmal mehr römisch sein können wird. Die radikalste, vom mysterium tremendum versprochene Forderung wäre die eines Europas, das derart neu (oder derart alt) wäre, dass es sich von jenem griechischen oder römischen Gedächtnis emanzipierte – auf das man sich so allgemein beruft, um Europa zu denken –, bis es schließlich mit jeder Anbindung daran bricht, bis es demgegenüber heterogen wird. Was wäre das Geheimnis eines von Athen wie von Rom gelösten Europas? Zunächst einmal das Rätsel eines unmöglichen und unausweichlichen Übergangs: zwischen dem Platonismus und dem Christentum. Dass man im Moment der Wendung-Verdrängung bevorzugt
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etwas von jener instabilen, vielfältigen, etwas geisterhaften, doch um so faszinierenderen und leidenschaftlicheren Figur, die man Neoplatonismus nennt, und insbesondere das, was diesen Neoplatonismus an die politische Macht der Romanitas zu binden vermocht hat, zu sehen bekommt, daran ist nichts Erstaunliches. Doch zugleich mit einer politischen Figur des Neoplatonismus benennt Patočka auf elliptische Weise etwas, das keine Sache ist, sondern zweifellos der eigentliche Ort des entscheidendsten Paradoxons, eine Gabe nämlich, die kein Geschenk/keine Gegenwart ist (qui n’est pas un présent), die Gabe von etwas, das unzugänglich bleibt, also nicht dargestellt, vergegenwärtigt werden kann und infolgedessen geheim bleibt. Das Ereignis dieser Gabe würde das wesenlose Wesen (l’essence sans essence) der Gabe mit dem Geheimnis verbinden. Denn eine Gabe, so könnte man sagen, wenn sie sich als solche in vollem Licht / am hellichten Tag zu erkennen gäbe / anerkennen ließe, eine zur Erkenntnis / Anerkennung ausersehene Gabe würde sich sogleich annullieren. Die Gabe ist das Geheimnis selbst, sofern sich das Geheimnis selbst sagen lässt. Das Geheimnis ist das letzte Wort der Gabe, welche das letzte Wort des Geheimnisses ist. Auf eine Passage, die diesen Übergang (passage) von Platon zum Christentum betrifft, folgt unmittelbar die Anspielung auf die »neue Lichtmythologie der Seele auf der Grundlage der Dualität des Echten, der Verantwortlichkeit und des Außerordentlichen, Orgiastischen«. »Das Orgiastische«, heißt es dann weiter bei Patočka, »ist nicht beseitigt, sondern diszipliniert und dienstbar gemacht«: Wie sich leicht einsehen lässt, musste diese ganze Motivik in dem Moment weltgeschichtliche Bedeutung erlangen, als sich mit dem Ende der poliscivitas durch die Errichtung des Römischen Imperiums das Problem einer neuen, transzendent gegründeten Verantwortung auch gesellschaftlich, nämlich einem Staat gegenüber stellte, der nicht länger eine Gemeinschaft der Gleichen in Freiheit sein konnte. Freiheit bestimmt sich nicht mehr aus dem Verhältnis zwischen einander Gleichen (Bürgern), sondern aus dem Verhältnis zum transzendenten Guten. Damit stellen sich neue Fragen und werden neue Lösungen möglich. Die soziale Problematik des Römischen Reiches wird letztlich ebenfalls auf der Grundlage behandelt, die der platonische Seelenbegriff gelegt hat.
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Der neuplatonische Philosoph auf dem Kaiserthron, Julian Apostata, bildet – wie Quispel wohl richtig gesehen hat34 – eine wichtige Peripetie in der Beziehung zwischen dem Orgiasmus und der Disziplin der Verantwortung. Das Christentum wusste die platonische Lösung nicht anders als durch eine abermalige Wendung zu überwinden. Das verantwortliche Leben wird dabei als Gabe aufgefasst, als Gabe von etwas, das letztlich, obgleich es den Charakter des Guten hat, zugleich unzugänglich und dem Menschen auf immer übergeordnet ist – also Züge des Mysteriums besitzt, welches das letzte Wort behält. Das Christentum versteht das Gute eben doch anders als Platon – als selbstvergessene und sich hingebende (nicht orgiastische) Liebe. [Hervorhebungen von mir – J. D.]35
Ich habe das Wort »Gabe« hervorgehoben. Besteht nicht zwischen dieser Verleugnung, die ein Selbstverzicht ist, eine Aufopferung der Gabe, der Güte oder der Freigebigkeit der Gabe, die sich zurückziehen, sich verbergen, auch sich opfern muss, um tatsächlich zu geben, und andererseits der Verdrängung, welche die Gabe in eine Ökonomie des Opfers verwandeln würde, eine geheime Affinität, eine unauslöschliche Gefahr der Kontamination zwischen zwei einander genauso nahen wie heterogenen Möglichkeiten? Denn was so im Zittern, als das Zittern gar des Schreckens, gegeben wird, ist nichts anderes als der Tod, ist eine neue Bedeutung des Todes, eine neue Auffassung des Todes, eine neue Weise, sich den Tod zu geben: der Unterschied zwischen Platonismus und Christentum wäre vor allem eine »Umkehr angesichts des (…) Todes«, die »zwischen Angst und Hoffnung schwankt, im Bewusstsein der Sünde zittert und sich mit ihrem ganzen Wesen zum Sühneopfer anbietet«.36 Das wäre dann der allerdings im Modus und in den Grenzen einer Verdrängung vollführte Bruch: zwischen der Metaphysik, der Ethik und der Politik des platonischen Guten (nämlich dem »einverleibten« orgiastischen Mysterium) und dem mysterium tremendum der christlichen Verantwortung. Kein Orgiasmus – dieser bleibt nicht nur untergeordnet, sondern wird fast völlig unterdrückt –, aber doch ein mysterium tremendum. Tremendum, weil die Verantwortung jetzt nicht mehr in das dem Menschen einsehbare [Vgl. Gilles Quispel, Gnosis als Weltreligion, Zürich , A. d. Ü.] In diesem Band, S. . Ebd., S. .
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Wesen von Güte und Einheit eingefügt ist, sondern in die uneinsehbare Beziehung zu einem absoluten, höchsten Seienden, das uns weniger von außen als von innen beherrscht.37
Die Krypto- oder Mysto-Genealogie der Verantwortung wird gemäß dem unauflöslich verflochtenen Doppelfaden der Gabe und des Todes – in zwei Worten: des gegebenen Todes – gewebt. Die Gabe, die mir durch Gott widerfährt, insofern er mich unter seinen Blick und in seine Hand nimmt, während er mir unzugänglich bleibt, die furchtbar dissymmetrische Gabe dieses mysterium tremendum gibt mir zu antworten, erweckt mich zu der Verantwortung, die sie mir gibt, nur, indem sie mir den Tod, das Geheimnis des Todes, eine neue Erfahrung des Todes gibt. Ob dieser Diskurs über die Gabe und über die Gabe des Todes ein Diskurs über das Opfer und über den Tod für den Anderen sei oder nicht, wäre das, was wir uns nun zu fragen hätten. Umso mehr als dieses Fragen nach dem Geheimnis der Verantwortung, nach dem paradoxen Bündnis des Geheimnisses und der Verantwortung eminent geschichtlich und politisch ist. Ja, es betrifft das Wesen oder die Zukunft einer europäischen Politik. Wie die polis und die ihr entsprechende griechische Politik hat das platonische Moment das dämonische Mysterium sich ohne weiteres einverleibt, präsentiert er sich als Moment ohne Mysterium. Was das Moment der platonischen polis sowohl vom orgiastischen Mysterium, das er sich einverleibt, als auch vom christlichen mysterium tremendum, von dem er verdrängt wird, unterscheidet, ist dies, dass man sich darin offen dazu bekennt, kein Geheimnis zuzulassen. Es gibt einen Platz für das Geheimnis, für das mysterium oder für das Mystische in dem, was dem Platonismus vorangeht oder ihm folgt (das dämonisch-orgiastische Mysterium oder das mysterium tremendum). Doch in der Philosophie und in der Politik platonischer Tradition gibt es dergleichen, gemäß Patočka, nicht. Die Politik schließt hier das Mystische aus. Seitdem ignoriert, unterdrückt und exkludiert alles, was in Europa, und sogar noch im modernen Europa, Erbe dieser Politik griechisch-platonischer Herkunft ist, in seinem Raum jede grundsätzliche Möglichkeit von Geheimnis und jede Bindung der Verantwortung an das bewahrte Geheimnis, all das, wodurch eine Verantwortung am Geheimnis Ebd., S. .
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festhalten kann. Dass man darin dann den unvermeidlichen Übergang vom Demokratischen (im griechischen Sinne) zum Totalitären sieht, ist eben nur ein Schritt, das einfache Weitergehen, sobald ein Übergang sich eröffnet. Die Folgen wären ziemlich gravierend. Sie verdienen es, dass man zweimal hinschaut. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek
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Hans Rainer Sepp Nachwort Der vor etwas mehr als einhundert Jahren, , im nordböhmischen Turnov geborene Jan Patočka gilt als der bedeutendste tschechische Philosoph des . Jahrhunderts. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler Roman Jakobson nennt ihn in einem Atemzug mit den beiden anderen Großen der tschechischen Kultur- und Geistesgeschichte, denen es gelang, Wissenschaft mit sozialem Engagement zu verbinden: dem Pansophen und Pädagogen Jan Ámos Komenský, genannt Comenius, und Tomáš Garrigue Masaryk, dem Philosophen und Präsidenten der ersten tschechoslowakischen Republik. Prägend für Patočkas Gedankenwelt war zum einen die intensive Beschäftigung mit den Klassikern der antiken Philosophie und des deutschen Idealismus und zum anderen die Begegnung mit der phänomenologischen Philosophie. Patočka kam mit einem Humboldtstipendium nach Freiburg, war regelmäßig Gast bei Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie, der zum damaligen Zeitpunkt bereits emeritiert war, hörte bei Martin Heidegger und freundete sich mit dem fast gleichaltrigen Eugen Fink an. Patočka hinterließ ein an Umfang und Gehalt erstaunliches Œuvre – zieht man vor allem die massiven Behinderungen in Betracht, denen er in seinem akademischen Wirken lebenslang ausgesetzt war: Nach seiner Habilitation im Jahr lehrte er an der Prager Karls-Universität, bis ihn der Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei zwang, seine Stellung aufzugeben; als Studienrat an höheren Schulen durchlebte er die Kriegszeit. Nach dem Krieg an die Universität zurückberufen, wurde er wenige Jahre später, nachdem die kommunistische Partei in der Tschechoslowakei die Macht übernommen hatte, seiner Position abermals enthoben. Die fünfziger Jahre durchstand er als Mitarbeiter zuerst der Masaryk-Bibliothek, dann der Akademie der Wissenschaften, wo er sich unter anderem mit der Comenius-Forschung und -Edition befasste, bevor er im politischen Tauwetter des »Prager Frühlings« für wiederum nur wenige Jahre erneut die Möglichkeit erhielt, sich als akademischer Lehrer zu betätigen. Der Einmarsch der Truppen
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der Warschauer Paktstaaten im August zog eine massive Einschränkung der politischen Freiheit nach sich und erschwerte es Patočka zunehmend, seine Gedanken in öffentlichen Lehrveranstaltungen zu entfalten; es bildeten sich in der Folge private Diskussionszirkel, in deren Rahmen er bis zu seinem Tod wirkte. Die Sammlung Kacířské eseje o filosofii dějin, die Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte, entstammt einer Zeit, die durch eine verstärkte Repression des totalitären Staatsapparats gekennzeichnet war und den Widerstand tschechischer Intellektueller herausforderte. Nachdem Patočka sich im Winter bereit erklärt hatte, gemeinsam mit Václav Havel und Jiří Hájek als Sprecher der Charta zu fungieren, geriet er zunehmend ins Visier der Staatspolizei. Er starb am . März , wenige Monate vor Vollendung seines siebzigsten Lebensjahres, an den Folgen von Polizeiverhören. Die Ketzerischen Essays wurden als »Samisdat«, als Untergrundpublikation, veröffentlicht und auf deutsch erstmals in dem von Klaus Nellen und Jiří Němec herausgegebenen gleichnamigen Band im Rahmen der mittlerweile vergriffenen fünfbändigen Ausgabe der Ausgewählten Schriften Patočkas vorgelegt.1 Nach mehr als zwanzig Jahren erscheint mit der vorliegenden Neuausgabe dieses für Patočkas Denken zentrale Werk in einer von Sandra Lehmann an den Manuskriptquellen überprüften Fassung. Die Essays, seine »Abschiedssonate«, wie Patočka sich Walter Biemel gegenüber äußerte,2 nehmen auf, womit sich sein Autor zeit seines Lebens philosophisch befasste, und fügen es in neue Zusammenhänge. In ihnen werden nahezu alle wichtigen Stränge von Patočkas Denken miteinander verknüpft: das frühe Ringen um eine phänomenologische Jan Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, hg. v. Klaus Nellen u. Jiří Němec, Stuttgart , S. -. – Ivan Chvatík und Pavel Kouba besorgten eine tschechische Ausgabe der Gesammelten Werke Patočkas (Sebrané spisy, Praha ff.). Zur Einführung in Patočkas Leben und Werk siehe: Jan Patočka, Texte – Dokumente – Bibliographie (Orbis Phaenomenologicus Quellen, ), hg. v. Ludger Hagedorn und Hans Rainer Sepp, Praha/ Freiburg/München ; diese Publikation enthält im Anhang eine vom Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) gemeinsam mit dem Prager Jan-Patočka-Archiv erarbeitete Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur. Vgl. auch die einführende Monographie von Filip Karfík, Jan Patočka: Facetten seines Denkens (Orbis Phaenomenologicus Studien, ), Würzburg . Briefwechsel Patočka-Biemel, Patočka-Archiv des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, Wien, Brief Nr. a.
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Bestimmung der »natürlichen Welt« und um eine Philosophie der europäischen Geschichte ebenso wie das Bemühen um eine eigene philosophische Theorie der menschlichen Existenz, sodann die späteren phänomenologischen Studien sowohl zur »Bewegung der menschlichen Existenz« wie zur Phänomenalität des »Erscheinungsfeldes« und schließlich die Auseinandersetzung mit Grundthemen der europäischen Philosophie bei Platon, Aristoteles und Hegel einerseits, mit den denkerischen Ansätzen seiner Lehrmeister Husserl und Heidegger andererseits. Die Essays sind gewollt zwiespältig, ihre Thematik ist gebrochen: Die Texte nehmen das überlieferte Projekt einer Philosophie der Geschichte auf und stellen es mit dem schlichten Zusatz ketzerisch zugleich in Frage. Ricœur sagt von ihnen, dass sie »die dichte Schönheit gewisser Gestalten bei Rembrandt« aufwiesen, »die aus dem in der Schwebe gehaltenen Dunkel des Hintergrundes hervortreten«.3 Die essayistische Form und der besondere Stil einer Denkbewegung, die immer wieder Spuren legt, sie verlässt, um anderen Spuren nachzugehen, und dann später doch wieder an sie anknüpft, mögen auf den ersten Blick den Eindruck des Beiläufigen, einer mehr oder minder losen Aneinanderreihung von Gedankenketten erwecken und darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei nichtsdestotrotz um ein streng komponiertes Ganzes handelt. Die Vorläufigkeit des Essayistischen und der umherstreifende Gedankengang sind dem Thema selbst, der Philosophie der Geschichte, geschuldet. Ihnen liegt die Einsicht zugrunde, dass eine Philosophie, welche die konkrete Zeitlichkeit menschlicher Existenz dartun will, sich zugleich der Grenze des eigenen Orts und der eigenen Zeit als Bedingung der Möglichkeit der Problemstellung bewusst werden sollte. Welches ist diese Problemstellung, mit der hier eine Philosophie der Geschichte zugleich sich selbst auf den Prüfstand hebt? Das grundlegende Problem ist mit der Frage nach dem Sinn bezeichnet. Es tritt für Patočka in einer Sinnkrise zutage, in welche die im . Jahrhundert begründete mechanistische Physik zwei Jahrhunderte später geriet: Die Annahme einer dualen Balance von subjektiv wahrnehmbarer Umwelt und einer in ihr sich spiegelnden wahren Wirklichkeit als Thema der mathematischen Naturwissenschaft wurde im . Jahrhundert brüchig. Die Antwort darauf stellte Paul Ricœur, Einleitung zu den Ketzerischen Essays (), a. a. O., S. .
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das Konzept der »natürlichen Welt« dar, welche den Dualismus mit der Theorie eines einheitlichen Erfahrungsfeldes überwinden wollte. Patočka nennt zwei Strömungen, die diesen Überwindungsversuch unternehmen. Es ist dies der »neutrale Monismus«, der annimmt, objektive und Erlebniswirklichkeit setzten sich aus denselben Elementen zusammen, und die Phänomenologie. Patočka erblickt das Manko der Lösungsversuche des neutralen Monismus darin, dass seine Spielarten – für Patočka die Ansätze von »Avenarius und Mach bis hin zu Russell, Whitehead, den russischen intuitiven Realisten sowie den angelsächsischen Neorealisten«4 – aufgrund ihrer Nähe zur modernen mathematischen Naturwissenschaft es vor allem nicht vermochten, das spezifisch geschichtliche Sein der natürlichen Welt menschlicher Existenz adäquat zu erfassen. Die Krisis, welche in der mechanistischen Physik aufbrach, betrifft in Patočkas Augen daher insbesondere das Problem der Geschichte: Der Sinn des Menschen als eines geschichtlichen Wesens wird fraglich. Für Patočka scheint es klar zu sein, dass diese Krise des Geschichtlichen ihrerseits eine geschichtliche Epoche charakterisiert, die zudem insofern »unsere« ist, als sie noch die Gegenwart mit umfasst. Schon die einleitenden Bemerkungen des ersten Essays, der mit »Vor-geschichtliche Betrachtungen« überschrieben ist, verdeutlichen, dass eine Philosophie der Geschichte im Sinne Patočkas der Gegenwart darin verpflichtet ist, dass sie das Faktum, dass das Geschichtliche selbst fraglich geworden ist, zu ihrem Anlass und Gegenstand nimmt. In vielem ist dieser Ansatz Patočkas mit Husserls letztem großen Werk, der Krisis-Schrift,5 vergleichbar. Auch Husserl setzt dort bei einer von europäischer Wissenschaft verschuldeten Sinnkrise an, die er für die Gegenwart diagnostiziert; auch er fügt die Klärung dieser Krise in den Rahmen einer geschichtsphilosophischen Untersuchung ein. Vor allem aber erblickt Patočka selbst in Husserls Phänomenologie den zunehmend zutage tretenden Versuch, mit einem genuinen Analysekonzept der »natürlichen Welt«, der phänomenologisch zu befragenden »Lebenswelt«, jener Sinnkrise zu begegnen. Doch in der Umsetzung dieses Programms werden sogleich die entscheidenden Unterschiede bemerkbar. Für Husserl ist die faktische In diesem Band, S. . Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana, Bd. VI), hg. v. Walter Biemel, Den Haag .
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Wissenschaft eine gegenüber ihrer »Urstiftung« verkürzte Gestalt; zur Behebung der Krisis müsste also die teleologische Kraft dieser Urstiftung erneuert und so Wissenschaft auf ihren eigentlichen Kurs gebracht werden. Die von Husserl konzipierte Teleologie ist bei Patočka verabschiedet. Dennoch wird ein wesentliches Moment verwandelt übernommen: Um die teleologische Implikation der Urstiftung von Wissenschaft aufzuzeigen, entwickelt Husserl eine transzendentale Analyse der Sinngenese der europäischen theoría, die zeigen soll, wie eine ursprüngliche Sinnentfaltung durch nachkommende Partialerfüllungen ihrer Intentionen »verbogen« wurde. Dieses Verfahren eines genealogischen Rückfragens von einer kritischen Gegenwartssituation aus übernimmt Patočka. Er löst es aber aus seinem transzendentalphänomenologischen Kontext, und zwar mit Rückgriff auf Heideggers Denken. Was Patočka von Heidegger übernimmt, ist die ontologische Differenz. Wird zwischen Seiendem und Sein unterschieden, löst sich der vergegenständlichende Blick: Das Erscheinen von Einzelnem wird als solches fassbar, das vorweg in ein Erscheinungsfeld integriert ist, und dieses ist nicht so zugänglich wie das Einzelne, das aus ihm heraus erscheint. Das Feld des Erscheinens ist gegenüber dem konkret Erscheinenden »offen«.6 Dieses Offensein, aus dem heraus menschliches Dasein lebt, wird für Patočka wie für Heidegger zum Angelpunkt dafür, die Bedingung des Sinnbezugs in einem »Seinsverstehen« neu zu verorten. Wird der Bezug auf Sinn in die Mitte der Existenz verlagert (ohne in ihr aufzugehen), ist, so betont Patočka, nicht nur die auch für den neutralen Monismus noch bestimmende Subjekt-Objekt-Spaltung überwunden, sondern auch Husserls nicht aus der Mitte der Existenz heraus operierende Transzendentalphänomenologie. Gleichzeitig betont Patočka in einem weiteren Rückgriff auf Heidegger, dass Seinsverstehen und Offensein der Existenz nur als auf eine ursprüngliche Weise geschichtlich begriffen werden können – ursprünglich, da Existenz nicht anders offen ist als in der jeweiligen Bestimmtheit situativer Kontexte und Großkontexte (»Epochen«). Dies ermöglicht es, eine Genealogie geschichtlichen Lebens nicht mehr am Patočkas nachgelassene Texte zur Phänomenalität wurden auf Deutsch von Helga Blaschek-Hahn und Karel Novotný herausgegeben: Jan Patočka, Vom Erscheinen als solchem. Texte aus dem Nachlaß (Orbis Phaenomenologicus Quellen, Bd. ), Freiburg/München .
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Leitfaden einer transzendentalen Intention und ihrer Erfüllbarkeit zu entwickeln, sondern aus dem jeweiligen Sinnganzen epochaler Schritte und der eigentümlichen Bewegung, in dem diese Sinnganzen stehen und untereinander verflochten sind. Es ist vor allem diese Bewegung, die Patočka interessiert, und noch in seinem Versuch, den Verlauf dieser Bewegung zu skandieren, schimmert ein husserlsches Grundanliegen durch: den Verlauf des Geschehens nicht sich selbst zu überlassen, vielmehr für den Menschen die Möglichkeit vorzusehen, sich gestaltend zu ihm zu verhalten, also nicht nur »Hüter des Seins« im Sinne des späteren Heidegger zu sein. Gewiss unterscheidet sich Patočka von Heideggers insbesondere späteren Auffassungen durch die Betonung einer ursprünglichen Freiheit des Menschen, in der sich Offenheit gegenüber den Resultaten der Geschichte und soziales Engagement verbinden.7 Und doch ist es nicht dieser Punkt, mit dem sich Patočka trotz der in wesentlichen Fragen erfolgenden Anknüpfung an Heidegger zunächst von ihm abheben will: Es ist »das Problem der natürlichen Welt«, das, so heißt es lapidar, »bei Heidegger nicht gelöst« sei.8 Das, was in Patočkas Sicht Antwort auf die Sinnkrise sein sollte, die Konzeption einer Theorie der natürlichen Welt, wurde also, trotz partialer Errungenschaften, in den entscheidenden Schritten noch nicht realisiert. Eine Philosophie der natürlichen Welt war das erste große Projekt schon des jungen Patočka,9 und es sollte ihn sein Leben lang beschäftigen. Die Ketzerischen Essays können nicht nur, sie müssen als der letzte von Patočka unternommene Versuch gelten, dieses Projekt voranzutreiben. Hierzu die Arbeit von Sandra Lehmann, Der Horizont der Freiheit. Zum Existenzdenken Jan Patočkas (Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. ), Würzburg . In diesem Band, S. . Patočkas Habilitationsschrift Přirozený svět jako filosofický problém erschien im Druck (dt.: Die natürliche Welt als philosophisches Problem. Phänomenologische Schriften I, hg. v. Klaus Nellen u. Jiří Němec, Stuttgart ) – ein Jahr vor der Publikation des ersten Teils von Husserls Krisis-Schrift. – Ähnlich wie das Thema der natürlichen Welt beschäftigte Patočka schon früh die Problematik einer Philosophie der Geschichte. Eine Auswahl aus seinen frühen Untersuchungen zur europäischen Ideengeschichte vor allem der vierziger und fünfziger Jahre sind auf Deutsch jetzt zugänglich in: Jan Patočka, Andere Wege in die Moderne. Studien zur europäischen Ideengeschichte von der Renaissance bis zur Romantik (Orbis Phaenomenologicus Quellen N. F., .), übers. u. hg. v. Ludger Hagedorn, Würzburg .
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Im Verlauf des ersten Essays erhält die Rede von »natürlicher Welt« noch einen anderen Sinn, dann nämlich, wenn unter dieser »die Welt vor der Entdeckung ihrer Fraglichkeit«10 verstanden wird. Die natürliche Welt bezeichnet damit nicht mehr die Verläufe genetischer Vorstufen höherer sinnkonstitutiver Leistungen wie bei Husserl und nicht mehr nur die in epochalen Schritten jeweils neu sich aktualisierende Seinsoffenheit wie bei Heidegger. Sie kommt zweimal oder auf zwei Weisen vor: einmal als der beständige Boden eines geschichtlichen Seinsverstehens, zum anderen als ein Lebensbereich, in dem der Mensch in seiner Seinsoffenheit noch nicht fraglich, und das heißt für Patočka: noch nicht geschichtlich, geworden ist. Erst dort, wo diese Fraglichkeit erschlossen ist, ist der Mensch geschichtlich. Patočkas Begriff des Geschichtlichen begreift Geschichtlichkeit somit als ein eigentümliches Reflexionsgeschehen: »Geschichtlich« ist der Mensch dann, wenn er seiner Seins- und Sinnoffenheit selbst gegenüber offen ist. Daraus wird ersichtlich, warum für Patočka das Problem der natürlichen Welt nicht auf dem Weg einer positiv ansetzenden Philosophie der Geschichte behandelt werden kann. Setzt Geschichtlichkeit die Selbstreflexion der Existenz voraus, ist diese auch Bedingung für die Reflexion, die Geschichte im Thema hat, für die Philosophie der Geschichte. Daher bedarf eine radikalisierte Philosophie der Geschichte der Loslösung aus der Bindung überlieferter Zugriffe auf Geschichte und des Absprungs in eine Phänomenologie der natürlichen Welt als des Vor-geschichtlichen. Analog wie die Rede von der natürlichen Welt wird auch der Gebrauch des Wortes »vor-geschichtlich« im Titel des ersten Essays, »Vor-geschichtliche Betrachtungen«, doppelsinnig. Die einleitenden Betrachtungen betreffen das Vor-geschichtliche zum einen als das zeitliche Davor, die Vorstufe des Geschichtlichen, zum anderen weisen sie auf die Notwendigkeit hin, diese Untersuchungen zu einer »Philosophie der Geschichte« mit einem propädeutischen Hinweis zu beginnen: damit, dass eine solche Philosophie sich nicht auf ihr tradiertes Genre verlassen darf, wenn sie die in der natürlichen Welt des Vorgeschichtlichen verankerte Bedingung des Geschichtlichen und damit ihrer selbst jetzt einholen will. Die besondere Spielart der Philosophie der Geschichte, die Patočka hier In diesem Band, S. .
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entfaltet, könnte somit als eine Theorie der natürlichen Welt als der Genealogie des Geschichtlichen einschließlich seiner Reflexionsformen bezeichnet werden. Darin liegt ein Sinn des im Titel des Werks angesprochenen Ketzertums: gegen den überlieferten Rahmen einer Geschichtsphilosophie zu revoltieren, die vom Boden der Geschichte ihren Ausgang nimmt bzw. für die Menschsein und Geschichtlichsein zusammenfallen. Den Relationen, die zwischen dem Nicht- und Vor-geschichtlichen und der »eigentlichen Geschichte«11 bestehen, widmet sich expressis verbis der zweite Essay, »Der Anfang der Geschichte«. Hier gilt Patočkas Augenmerk vor allem der Übergangsphase des Vorgeschichtlichen. In dieser Genealogie zum Geschichtlichen weist er eine Bewegungsfolge auf, die parallel zu den qualitativen Schritten individueller Entwicklung verläuft, wie er sie in seiner Theorie von der »Bewegung der menschlichen Existenz« darzulegen sucht:12 Die Bewegungen des »Akzeptierens«, des »Selbsterhalts« und der »Wahrheit«, die jeweils das Hervorstechende des Nicht-, des Vorund des eigentlichen Geschichtlichen markieren, bilden sich in ihren Radikalformen innerhalb dieser Genealogie nacheinander aus und stehen am Ende, im Geschichtlichen, als Möglichkeiten für die Einzelexistenz integral parat. Alles Nicht-geschichtliche ist für Patočka vor allem durch die Akzeptanz des Einzelnen im Ganzen eines generativen Zusammenhangs gekennzeichnet, die auf eine »noch fundamentalere Bewegung« verweist, die das »gesamte Sein des Tages aus der nicht-individuierten Nacht hervorgehen lässt«.13 Demgegenüber emanzipiert sich das Vor-geschichtliche mit der Errichtung und wehrhaften Umgürtung von Städten und, wie Patočka im Anschluss an Hannah Arendt feststellt, der Etablierung der Arbeit von der generativen Akzeptanz, ohne diese dabei jedoch wirklich zu transzendieren. Es ist eher eine Verlagerung des Lebensinteresses, das nicht mehr primär dem Aufgehobensein in der Folge der Generationen gilt, sondern dem Erhalt des Lebens, das durch die fortschreitende Siedlungs- und Wehrtechnik in einem höheren Maße Bedürfnisse befriedigen und seine Verteidigung sicherstellen muss. In dieser Ebd., S. . Vgl. Jan Patočka, Die Bewegung der menschlichen Existenz. Phänomenologische Schriften II, hg. v. Klaus Nellen, Jiří Němec und Ilja Srubar, Stuttgart . In diesem Band, S. .
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das Vor-geschichtliche kennzeichnenden Annahme um den Preis der Arbeit stiftet sich ein wegweisender Unterschied, wobei die unterschiedlichen Momente demselben Faktum der Lebenserhaltung entstammen: Dem Lastcharakter der Arbeit steht ein Drang zur Erleichterung gegenüber, der bis zum Orgiastischen führt, um in der »Schwerelosigkeit der Euphorie«14 zeitweilige Entlastung zu erfahren. Das aber bedeutet, dass das Orgiastische in den Welten des Vor-geschichtlichen und späterhin des Geschichtlichen einen privativen Existenzmodus darstellt, der eine nicht mehr bestehende Form der Akzeptanz durch Surrogate erlangen will. Die Annahme um den Preis der Arbeit besitzt also in einer Entlastung ihr Pendant, die eine Annahme unter Umgehung der Arbeit zu erlangen sucht. Die Zäsur zwischen dem Vor-geschichtlichen und dem eigentlichen Geschichtlichen wird durch eine weitere Emanzipationsstufe bezeichnet: durch den Akt einer Befreiung, und mit ihm wird für Patočka ein weiterer Unterschied relevant. Der im Vor-Geschichtlichen noch weithin unangetastete Untergrund der Nachtseite des Lebens erhält einen Riss. Patočka deutet diesen Einbruch mit Mitteln von Heideggers ontologischer Differenz: Das Leben ruht nicht mehr selbstverständlich auf dem dunklen Grund der Ahnenreihe und Göttergewissheit auf; der Entzug dieser Gewissheit lässt nicht nur die Kraft der Götter schwinden, sondern darin den Transzendenzbezug als solchen aufdringlich werden: Im Entzug der Götter und der unausdrücklichen Gewissheit des eigenen Ganzseins bildet sich die Grenze zwischen einem Verwiesensein auf Seiendes als den Inbegriff der durch Arbeit zu leistenden Dinge und einem namenlosen und ungreifbaren »Ganzen«, vor dem alles jeweilige Tun vonstatten geht: zwischen dem Seienden und der Offenheit des Seins, der jeweiligen Gültigkeit in einzelnen Verhältnissen und dem Wahrsein selbst. Für Patočka erfolgt diese Grenzbildung in der Stiftung der griechischen Polis und der Philosophie. Mit diesen Gedanken reformuliert Patočka zugleich Husserls Theorie von der Urstiftung der Philosophie. Bemerkenswert dabei ist, dass diese Urstiftung für Patočka nicht mehr, wie noch Husserl dachte, aus dem Akt einer spezifischen Neugier und Verwunderung, des thaumazein, erfolgt; auch lokalisiert Patočka diese Bewegung nicht in einem Akt, für den sich nur in einem auf sich Ebd., S. .
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zurückgeworfenen Dasein die Differenz von Seiendem und Sein eröffnet. Die Problematik der Seinsoffenheit sowie von Wahrsein und Wahrseinkönnen bedarf hier als eine rein existenzielle des Anderen: Auch die ihr zugrunde liegende Erfahrung vereinzelt, aber im Angesicht des Anderen – dann, wenn diese Erfahrung als eine »Erschütterung« erlebt wird. Die Erschütterung ist das Ausbleiben der Gesichertheit im eigenen Grund, ist Erschütterung der Annahme in jeglicher davor ausgebildeter Form. Auch dieses Moment findet sich bei Husserl dort vorgedacht, wo er den Anlass des thaumazein in einer Reaktion der griechischen Heimwelt auf die Begegnung mit dem Fremden vermutet: Das Spezifische der griechischen Kultur sei es gewesen, auf die erfahrene Diversität der Kulturen und der damit erwiesenen Relativität heimweltlicher Gründe mit der Frage nach der Einheit der Welt bzw. dem Wahren selbst zu reagieren.15 Patočka jedoch betont mit Verweis auf Heraklit das Gewalttätige dieses Konflikts: Der Zusammenprall von Interessen, der polemos, sei es, der ein Sinnsystem in seinen Grundfesten erschüttert. Was er zu erwirken vermag, ist jedoch nicht schon die theoretische Frage nach der Wahrheit, sondern zuerst die »Einheit der Erschütterten«,16 eine ursprüngliche Form des Solidarischen. Hier liegt für Patočka der Ursprung für die Idee der Polis als eines Verbands von »Gleichen und Freien«,17 aber auch, so wäre zu ergänzen, für imperiale Kulturformen, wie sie sich als Frühstufen eines – hier freilich erzwungenen – »interkulturellen« Verbunds schon im Hellenismus herauszubilden begannen. Vor allem aber gibt die Erschütterung zu verstehen, dass, wie Patočka sich ausdrückt, »Leben nicht aus der Perspektive des Tages, aus der Perspektive der bloßen Lebensfristung« verstanden werden dürfe, »sondern aus der Perspektive des Streits, der Nacht, aus der Perspektive des polemos«. Damit erweist sich, dass noch die Grenze der Seinsoffenheit zurückverweist auf die Grenze, die durch den polemos gezogen wird, und dass diese einander überlagernden Grenzziehungen nur auf dem Grunde statthaben können, den vorweg Akzeptanz und Erhalt des Lebens bereitet haben. Zugleich bleibt hier aber noch unbeantwortet, wie sich der im Vor-geschichtlichen konstituierende Unterschied von Lebenserhaltung vs. Erleichte Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, a. a. O., S. . In diesem Band, S. . Ebd., S. .
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rung zu den beiden das Geschichtliche erwirkenden Differenzpaaren von Lebenssicherung vs. Kampf bzw. vs. Offensein für das Offene der Existenz verhält. Auf alle drei Differenzpaare lässt sich der metaphorische Gegensatz von »Tag« und »Nacht« anwenden. Doch schon hier zeigt sich, warum es für Patočka wichtig ist, die Philosophie der natürlichen Welt auf das Vor- und Nicht-geschichtliche auszudehnen: Erst mit den genannten Differenzpaaren entfalten der natürliche »Unterbau« der geschichtlichen Welt und diese selbst ein Spannungsfeld, das den vollen Sinn der natürlichen Welt ausmacht. Den Beginn der Geschichte markiert für Patočka das Faktum, dass der Sinnbezug menschlicher Existenz als dieser selbst fraglich wird. Besitzt aber, so fragt im Titel der dritte der Ketzerischen Essays, »Geschichte« als Entdecken der und Verhalten zur Sinnoffenheit selbst einen Sinn? Wenn Sinnoffenheit besagt, dass ein vertrauter Gesamtsinn erschüttert wurde, dass der gewohnte Umgang mit dem Seienden einer Welt deren überwölbenden Zusammenhang verlor, aus dem heraus Seiendes verständlich war, so dass Welt nur mehr wie eine Hohlform erscheint, als »Sein« im Sinne eines Nichts von Seiendem, dann erwächst, sofern menschliche Existenz auf Dauer nur im Rahmen einer Sinngewissheit zu leben vermag, ein Drang nach Sinnerneuerung. Diese Erneuerung ist der Sinn, welcher der Geschichte in seinem Fraglichwerden selbst aufgegeben ist. Sinnbildung im Rahmen erlittener Sinnerschütterung – das wäre der Sinn, welcher der Geschichte inhärent ist. Geschichte besitzt also nicht einen bestimmten, benennbaren Sinn, den es zu realisieren gilt; ihr Sinn liegt einzig im Verhalten zur erfahrenen Sinnöffnung. Auf die Offenheit des Sinns kann nicht mit einem neuen festgefügten Sinn geantwortet werden, ohne die existenzielle Problematik, die sich mit der Sinnerschütterung auftat, zu verbiegen. Und doch kennzeichnet gerade dies den Verlauf der Geschichte in ihrer faktischen europäischen Gestalt. Zwar fand, wie Patočka mehrfach betont, die existenzielle Problematik des Verhaltens zum Sinn ihre gültige Formel bei Platon in der »Sorge um die Seele«; gleichwohl charakterisiert es die Entwicklung der Metaphysik, dass sie dazu tendierte, Sinnerneuerung in neuen Sinngefügen, einer in immer neuen Ansätzen definierten »wahren Wirklichkeit«, festzuschreiben. Der »Chorismos«, die Trennung zwischen einem als ungenügend erachteten Lebens- und Erkenntnismodus und dem Wahren selbst,
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wurde, auf der Grundlage der antiken Philosophie, auch für den Wahrheitsbezug des Christentums bestimmend. Das Christentum prägte nicht nur die Geschichte Europas, es ist selbst aus dem Sinnganzen der europäischen Geschichte heraus motiviert. Patočkas knappe Analyse zeigt, in welchen Hauptschritten das Christentum diesen Chorismos umsetzte und welche entscheidenden Weichenstellungen es dabei vollzog: Der Chorismos der »wahren Welt« verschob sich in die göttliche Transzendenz, zugleich erwachte ein neues Verständnis für den einzelnen Menschen, der nicht Sinn zu schaffen vermag. Die Lösung der Sinnfrage wurde dabei durch ein Zurücksetzen der Philosophie erreicht, indem jegliche Skepsis in den Wert der wahren Welt aufgehoben wurde; dadurch verblieb in und mit dieser das Philosophisch-Metaphysische als Denkform. Dabei trat eine – von Patočka nicht eigens behandelte – eigenartige Spannung hervor: zwischen der Dogmatisierung, also der Festschreibung der Lösung der Sinnfrage, einerseits und dem strikt Gegenteiligen: der Beachtung des gerade nicht zu verobjektivierenden, sich nur im Vollzug artikulierenden und sich nur darin sinnhaft realisierenden menschlichen Leben andererseits.18 Diese im Sinnhaften sich ereignenden Verschiebungen und Umbesetzungen hatten, so wieder Patočka, markante sozialpolitische und wissenssoziologische Veränderungen zur Folge: Die Wendung an jeden einzelnen Menschen und die Verankerung der wahren Welt in göttlicher Transzendenz bewirkte die Bildung einer neuen Gemeinschaftsform, welche die Polis ablöste; der Bund »Freier und Gleicher«, Vertreter nur einer Gruppe, erweiterte sich prinzipiell auf jeden, der nun vor dem Göttlichen »gleich« wurde. Schließlich entsprach der neuen Sozialform ein neuer erkenntnismäßiger Umgang mit dem Universum; die Nähe der Menschengemeinschaft vor Gott bewirkte eine emotionale und erkenntnishafte Distanz zur Natur und zum Kosmischen. Dieses zweite, die äußere Entwicklung des Christentums nicht wesentlich bestimmende, jedoch schon von Augustinus betonte Moment des Gottesbezugs aus der Tiefe eines in sich distanzlosen Lebensvollzugs trat ab dem späten . Jahrhundert zunehmend in den Vordergrund des philosophischen Interesses, oftmals bezeichnenderweise verbunden mit einer Kritik an der Distanz schaffenden Okularität der griechisch-metaphysischen Tradition (zum Beispiel bei Yorck von Wartenburg). Voll entfaltet wurde es erst in der französischen Phänomenologie der Gegenwart, vor allem im Werk von Michel Henry und Jean-Luc Marion.
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Nimmt man zu dieser Distanzbildung die in der griechischen Tradition angelegte, vom Lebensvollzug sich distanzierende Tendenz der theoretischen Schau hinzu, ergeben sich zwei Traditionsstränge, welche die Grundlage für die Entfaltung moderner Naturwissenschaft und Technik bilden. Für Patočka ist es gerade der Beitrag der christlichen Sinnkonzeption, welcher die »Wirklichkeit des effizienten Wissens« der modernen Wissenschaft und das in ihr sich ereignende »vollständige Auseinanderfallen von Realität und Sinn« möglich werden ließ: indem nämlich moderne Wissenschaft den Wahrheitsbezug der wahren Welt göttlicher Transzendenz entwertet, als Schablone aber beibehalten und neu definiert hatte, ohne ihn mit der Sinnfrage zu verknüpfen. Versteht man unter »Nihilismus« diesen Vorgang der Ausgrenzung der Sinnfrage auf der Grundlage eines mechanistischen Umgangs mit sinnfreier »Materie«, dann besitzt er eine zweifache Wurzel, einmal im Christentum – bzw. einer bestimmten Rezeption eines zentralen Zugs desselben –, das andere Mal in der im . Jahrhundert sich formierenden mathematischen Naturwissenschaft. Wenn dieser Nihilismus das Ergebnis von Voraussetzungen ist, die sowohl der modernen Naturwissenschaft als auch der faktischen Entwicklung des Christentums zugrunde liegen, vermögen »Derivate des alten, christlichen Sinns«19 es nicht, gegen diese Sinnlosigkeit anzugehen. Das Faktum, dass die Erschütterung des Sinns, durch welche Philosophie und Polis gestiftet und Europa konstituiert wurde, nach gut zweitausend Jahren in die Sinnlosigkeit führte, bezeichnet Patočka als ein Paradox;20 denn dies heiße, dass Geschichte wieder in Vor-geschichte mündet. Das Argument für das Konstatieren dieses Paradoxons lautet, dass sich gerade in der Moderne die einmal radikal aufgebrochene Fraglichkeit wieder entzieht. Patočka nennt hierfür zwei Symptome, die für die »kritische Gegenwart«, das heißt für eine Zeit der Krisis vom . Jahrhundert bis heute, bestimmend sind: zum einen, dass mit den sozialen Krisen des . und . Jahrhunderts das Signum des Vor-geschichtlichen, die Dominanz der Lebenssicherung, der Arbeit, erneut hervortritt und in kommunistischen und kapitalistischen Systemen in gleicher Weise vorherrschend wird, und zum anderen, dass Sinnlosigkeit und Sinnverweigerung zum neuen Dogma wurden. Zugleich zeigt für In diesem Band, S. . Ebd., S. .
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Patočka gerade diese kritische Situation die Bedingung der Möglichkeit für eine Sinnerneuerung, die in Augenhöhe mit der Geschichtlichkeit der Geschichte zu stehen kommt: Diese müsste im Sinne des Anfangs der Genealogie der Geschichte operieren, das heißt dort ansetzen, wo Sinn fraglich geworden ist. Wurde mit der Stiftung der Geschichte der sich festmachende Sinn als solcher erschüttert, kann nicht mit einem neuen Sinn auf seine Fraglichkeit geantwortet werden, auch nicht mit dem Leersinn des Sinnleeren. Darf ein Sinnbezug nicht vergegenständlicht werden, ist eine wahrhafte Konversion, ein metanoein, daher nur dort möglich, wo »Sinn als Weg«21 begriffen, Sinnbildung selbst auf eine noch näher zu bestimmende Weise offengehalten wird. Verfolgt der dritte Essay den faktisch-geschichtlichen Umgang mit dem Sinn in metaphysischer, religiöser und wissenschaftlicher Hinsicht samt den sozialen Folgeerscheinungen, richtet der vierte Essay diese Frage an die politische Welt. Liegen Europas Wurzeln in der Sorge um die Seele – sofern mit dieser Sorge in der Konstitution von Geschichte die Richtung für die radikalste Antwort auf die Erschütterung des Sinns formuliert ist – und fungierte diese Sorge in den Weisen ihrer Sinnverschiebungen als soziales Gestaltungsprinzip für Polis, Imperium und christliche Gemeinde, so erfuhr sie im . Jahrhundert einen Bruch: Im »Jahrhundert der Entdeckungen« und der beginnenden modernen Wissenschaft wurde sie von einer »Sorge um die äußere Welt und ihre Beherrschung«22 abgelöst, in der seitdem »das Primat des Habens vor dem des Seins«23 herrscht. Diese Entwicklung hat für Patočka nicht nur den im dritten Essay aus metaphysisch-wissenschaftlicher Sicht beschriebenen Nihilismus zur Folge, sondern in politischer Hinsicht einen Zerfall Europas. Auch im Politischen sind es verschobene Relikte eines nie realisierten Sinns, welche die Geschicke auf der Landkarte Europas bestimmten. Für Patočka wurde mit der platonischen Sorge um die Seele zum ersten Mal die Idee individuellen Überlebens zum Ausdruck gebracht – also nicht nur das Weiterleben im generativen Verbund, wie es für das Nicht- und Vor-geschichtliche bezeichnend ist. Wie der Chorismos der wahren Welt erfuhr jedoch auch die entdeckte Individualität des Einzelnen eine fortlaufende Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. .
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Sinnverschiebung; nicht nur führt Patočka darauf den Staats- und Nationalegoismus zurück, sondern auch die Anarchie der Revolutionen. Der Nationalgedanke, der Staaten zu Überindividuen machte, wurde vorgedacht in der Lehre von der staatlichen Souveränität, wobei der Staat in ein Individuum verwandelt und zu einer »Gottheit auf Erden«24 erhoben worden war. Die Rigidität, mit der größere zeitliche Verläufe der europäischen Geschichte auf den Punkt gebracht werden, lässt erstaunen. Patočka ist der Auffassung, dass das bürgerlich-kapitalistische Europa, das seinen Schwerpunkt im europäischen, durch Aufklärung, Wissenschaft und Technik geprägten Westen hat, sich im . Jahrhundert in zunehmendem Maße an die partikularistische Realität der Nationalstaaten ausliefert. In deren Egoismen, verbunden sowohl mit den sozialen wie den metaphysisch-religiösen Krisen des . Jahrhunderts, erblickt er den Anlass für die Katastrophen des . Jahrhunderts. Erstaunlicher noch ist seine Schlussfolgerung, dass die ersten beiden dieser Krisen, die politische und die soziale, in einer dritten, der »moralischen« Krise25 wurzeln. Dies wird in ersten Umrissen verständlich, wenn man bedenkt, dass für Patočka jene Krisen aus Verschiebungen resultieren, die ursprünglich das Existenzielle betreffen: die Sorge um die Seele als Antwort auf die Erschütterung des Lebenssinns, die den Einzelnen erstmals radikal dem überindividuellen Verband entriss und ihn auf sich selbst zurückwarf. Freilich erfährt man an dieser Stelle noch nicht, was für Patočka das Moralische ist. Man kann mit Sicherheit nur schließen, dass es dabei nicht um eine positive Moralität geht, die Verhaltensregeln aufstellt, wenn mit ihr die Verantwortung für den Sinn, das heißt für sein Offenhalten, gemeint ist. Offenhalten lässt sich nicht mit einer Vorschrift fassen. Der Hinweis auf die moralische Krise zeigt vorläufig nur an, wie Patočka die Sinnkrise letztlich verstanden wissen will, deren Konstatierung für die Ketzerischen Essays den Leitfaden bildet. Bezieht man das Moralische aber auf den von Patočka bezeichneten Gegensatz von »Verfall« und »Aufschwung«, sind damit die Stichwörter für die beiden abschließenden Essays gefallen. Die brüchig gewordene Gewissheit des Sinns, so zeigte der erste Essay, veranlasste die Rückfrage nach der natürlichen Welt und un Ebd., S. . Ebd., S. .
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terstellte diese als vorgeschichtliche der Problematik der Geschichtlichkeit. Der zweite Essay entfaltete die Bezüge zwischen nicht- und vorgeschichtlich und hob von beidem das Geschichtliche ab; das Pendant dieser Abfolge wurde in der Bewegung der menschlichen Existenz freigelegt. Das Ergebnis, zu dem die beiden in gewisser Hinsicht einführenden Essays gelangt waren, lautete, dass Geschichte Offensein von Sinn besagt. Der dritte Essay befragte mit diesem Leitverständnis den europäischen Weg von Metaphysik, Religion und Wissenschaft, während der vierte Essay dies auf dem Gebiet des Sozialen und Politischen unternahm. Mit diesem Bogen der Analyse konnte eine erste Antwort auf die Frage nach Beschaffenheit und Herkunft der Sinnkrise gegeben werden: Die Krise des Sinns entsteht durch sein Verschließen, und wenn Geschichte Öffnung und Offensein des Sinns bedeutet, so führt eine Sinnschließung zur Preisgabe von Geschichtlichkeit. Vordergründig betrachtet, wiederholt der fünfte Essay lediglich die dem dritten und vierten Essay zugrunde liegende Perspektive einer Befragung der europäischen Ideengeschichte. In Wirklichkeit unternimmt er dies, um das Moralische, das in der Sinnkrise zutage tritt, deutlicher zu fassen. Der fünfte Essay stellt die provokante Frage, ob die technische Zivilisation zum Verfall bestimmt sei, und führt sogleich an, was unter »Verfall« verstanden werden soll: Verfallen ist ein Leben, das »seinen inneren Funktionsnerv«26 verloren hat, ein Leben also, das aus Surrogaten besteht. Welches sind diese Ersatzmittel? Patočka erwähnt hier erneut den Gegensatz von Verantwortung und Erleichterung einerseits, von Verantwortung und Orgiasmus andererseits – Themen, die schon im zweiten Essay anklangen – und fügt hinzu, dass Erleichterung nicht mit dem Dämonischen des Orgiasmus gleichgesetzt werden dürfe. Bleibt Erleichterung als Entlastung von Arbeit auf diese bezogen, sind Arbeit und Alltäglichkeit als zum Bereich des Profanen gehörend vom Sakrum unterschieden. Sofern der Bezug zum Sakrum aber eine Radikalisierung der Tendenz der Entlastung darstellt, nämlich der Entlastung im Außerordentlichen des Orgiastischen, lautet die Frage letztlich, wie das Dämonische in eine Beziehung zur Verantwortung gebracht werden könnte. Die Antwort auf diese Frage ist für Patočka die Begründung der Religion Ebd., S. .
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im Horizont des Geschichtlichen. Die antike Epik und Dramatik – die Patočka hier nur streift27 – sind gerade darin ein Signum der Geschichtlichkeit, dass sie nicht nur ein differenziertes Bild von der Alltäglichkeit des vorgeschichtlichen Lebens zeichnen, sondern vor allem zu einer »inneren Beherrschung des Heiligen« tendieren, seine »Interiorisierung«28 betreiben, will sagen, ebenjenen Stil des Lebens auszubilden beginnen, der sich auf seinen »inneren Funktionsnerv« bezieht. Geschichte als ein »inneres Geschehen« erprobt auf diese Weise den Aufschwung. Die übrigen Ausführungen des Essays analysieren pointiert, wie gerade der Versuch, diesen Aufschwung zu halten, ja ihn zu intensivieren – was in der europäischen Geschichte partiell auch gelang –, nichtsdestoweniger auf einen Verfall zusteuert. An dieser Stelle bringt Patočka das Verhältnis von Orgiasmus und Alltäglichkeit auf der einen, Verantwortung auf der anderen Seite mit der Sinngeschichte Europas, wie sie in groben Zügen der dritte und vierte Essay entwarfen, zusammen. Patočka deutet Platons Höhlengleichnis als den Versuch, das Orgiastische der Verantwortung unterzuordnen, indem es durch eine Lichtmythologie der Seele gebändigt wird. Das Christentum übernimmt dieses Erbe, deutet das verantwortliche Leben als eine Gabe, die dem Menschen von einer ihm übergeordneten Macht verliehen wird – und intensiviert gerade damit den inneren Lebensvollzug, sofern der Mensch nicht mehr vermittelt durch die distanzierende Schau der Ideen, sondern unmittelbar in seiner vereinzelten Existenz in Beziehung zur unendlichen Liebe Gottes tritt. Aus diesem Grund ist für Patočka das Christentum »der bislang größte und unüberbotene, wenngleich noch nicht zu Ende gedachte Aufschwung, der den Menschen jemals zum Kampf gegen den Verfall befähigt hat«.29 Dem widerspricht nicht, dass in der faktischen Geschichte des Christentums die Überwindung von Alltäglichkeit und Orgiasmus nicht geleistet ist. Die christliche Interiorisierung im Bezug des Menschen zu Gott und die platonistische Ideenschau führen in der Neuzeit dazu, die Natur auszuschließen, sie als Objekt zu setzen und zu mathematisieren. Gleichzeitig erfährt vor dem Hintergrund der christlichen Bezugnahme auf die Lebenspraxis die Vgl. dazu Jan Patočka, Kunst und Zeit. Kulturphilosophische Schriften, hg. v. Klaus Nellen und Ilja Srubar, Stuttgart , S. -. In diesem Band, S. . Ebd., S. .
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platonistische Beherrschung der Natur Eingang in praktische Zusammenhänge, so dass der Weg für einen technischen Umgang mit der Natur und ihre kapitalistische Ausbeutung offensteht. Diese Entwicklung schob, so Patočkas Resultat, alle anderen Versuche, Alltäglichkeit auf nicht-orgiastische Weise zu überwinden, beiseite, ja schlimmer noch: »Was ursprünglich bei Platon ein Wall gegen die Verantwortungslosigkeit des Orgiasmus war, ist jetzt in den Dienst der Alltäglichkeit getreten.«30 Diese Entwicklung, die unheilvolle Verschwisterung eines Verfallenseins an die Gegenstandswelt und eine »neue Flutwelle des Orgiastischen«, wie sie erstmals die Französische Revolution erlebte, zeichnet das bislang letzte Kapitel in der europäischen Entwicklung des Verhältnisses von Verantwortung versus Alltäglichkeit und Orgiasmus vor: den Krieg des . Jahrhunderts als die »vollendete Revolution der Alltäglichkeit«. Dieser Krieg ist total, da »ein und dieselbe Hand«31 Alltäglichkeit und Orgie organisiert. Für Patočka liegt dem eine anonyme »Metaphysik der Kraft«32 zugrunde. Mit dem Begriff der Kraft will Patočka die Befähigung des Menschen kennzeichnen, nicht nur in die Wirklichkeit eingreifen, sondern sie vorausberechnend steuern zu können. Metaphysik ist diese Kraft, da sie das Seinsverständnis einer Großepoche steuert, das Verständnis von einem Sein allerdings, das »vom Seienden resorbiert« ist.33 Bemerkenswerter als dieser implizite Hinweis auf Heidegger ist Patočkas Charakterisierung der Kraft als »Wirklichkeit schlechthin«.34 Denn dies besagt, dass sie nicht darin aufgeht, einem entsprechenden Seinsverständnis zugänglich zu sein, um auf hermeneutisch-phänomenologischem Weg restlos aufgeklärt werden zu können. Sofern Kraft schlichtweg wirklich ist, entzieht sie sich gerade durch ihre rohe Faktizität jeglichem Seinsverständnis (und resorbiert aus diesem Grund Sein). Diese Linie verfolgt Patočka jedoch nicht. Er konstatiert stattdessen, dass trotz dieser die Möglichkeiten letztlich verengenden Entwicklung erstmals die Möglichkeit zu einer Umkehr gegeben ist. Diese paradox erscheinende Aussage zu klären wird dem letzten Essay vorbehalten sein. Hier merkt Patočka Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd. Ebd.
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nur an, dass die Umkehr, also die Rettung aus der moralischen Krise, darin liegt, zu wissen, »worum es in der Geschichte geht«: nämlich um die »erschütterte Gewissheit des gegebenen Sinns«.35 Dies läuft erneut auf die Grundthese von der Notwendigkeit zu, Sinn offenzuhalten. Dementsprechend geht es nicht darum zu konstatieren, das Problem der Geschichte sei ungelöst. Es darf, so betont Patočka, nicht gelöst werden, sondern »muss ein Problem bleiben«.36 Dies bestätigt aber nicht nur, was schon der vierte Essay am Ende andeutete. Die zunächst abgrenzende Feststellung, dass das Prinzip des Offenhaltens es verbietet, das Moralische inhaltlich festzuschreiben, ist jetzt selbst zu dessen einzig angemessener Charakterisierung geworden. Außerdem ist mit der Zusammenstellung von Erschütterung und Krieg ein neuer Fingerzeig gegeben, der diese Charakterisierung noch deutlicher zu fassen erlaubt. Der sechste und letzte der Ketzerischen Essays bestimmt den Aufschwung in der Tat als Resultat einer Erschütterung und klärt, was unter dieser zu verstehen ist, indem er direkt an den fünften Essay anknüpft: an den Krieg als vollendete Revolution des Alltäglichen. Und ein weiterer Faden wird wieder aufgenommen: die Spannung zwischen der Tag- und der Nachtseite des Lebens, die bereits im zweiten Essay zur Sprache kam. Was den Krieg des . Jahrhunderts betrifft, der für Patočka im Ersten Weltkrieg sein schreckliches Wesen enthüllte, so wendet sich Patočka gegen eine Auffassung, die den Krieg auch dieser Art immer noch als eine Unterbrechung von Friedenszeiten und damit vom Frieden, vom Tag her versteht und ihn der »Kontinuität des Lebens« unterstellt. Patočka fragt dagegen, ob der Krieg nicht vielmehr selbst »etwas Deutendes« sei, »das von sich selbst her sinnstiftende Kraft« besitzt,37 eine Sinngebung aber, die nicht nur seinen nächtlichen Charakter nicht aufhebt, sondern schlechterdings nicht mit den Verständnismitteln des Tags zu begreifen ist. Für Patočka ist das . Jahrhundert die Zeit der Nacht, des Kriegs und des Todes und der Erste Weltkrieg das »entscheidende Ereignis«38 aus dem Grunde, weil sich mit ihm, mit seinen Materialschlachten und der ihnen zugrunde liegenden Technikgläubigkeit, die Welt selbst in ein gewaltiges Laboratorium
Ebd., S. . Ebd. Ebd., S. . Ebd., S. .
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verwandelt habe. Eben dies besagt nichts anderes – und hier knüpft dieser Essay an den vorangegangenen an –, als dass hier eine Freisetzung der Kraft erfolgte. »Die Kriege des . Jahrhunderts und das . Jahrhundert als Krieg«, so lautet der Titel, den Patočka dem sechsten Essay gab, können somit als das »effizienteste Mittel zur schnellen Freisetzung der akkumulierten Kräfte« bezeichnet werden.39 Gerade dieser extreme, sich bis ins Äußerste vom Tag entfernende Krieg hält jedoch selbst ein Extremes besonderer Art bereit, das in einem Erleben einer absoluten Grenze das Wesen dieses Kriegs ebenso wie die Endlichkeit des Tags enthüllt: die Fronterfahrung. Indem sich Patočka auf die Schilderungen bezieht, die Teilhard de Chardin und Ernst Jünger überliefert haben, macht er deutlich, dass diese Erfahrung es ist, die eine einzigartige Erschütterung bewirken kann. Das Einzigartige besteht darin, dass hier, inmitten einer Maschinerie, die dem entfesselten Tag entstieg, der Bezug zu ebendiesem Funktionieren mit einem Mal zum Stillstand kommt. Patočka kennzeichnet diesen Bruch im Kontinuum des Tags als das »Erlebnis von Sinnlosigkeit«, die »Absurdität par excellence«.40 Verkörpert die Kraft des technologischen Zeitalters für sich schon die »Wirklichkeit schlechthin«, so ist ihre Überwindung, ja schon ihr Bewusstwerden nur möglich, wenn diese Wirklichkeit durch eine andere Wirklichkeit gebrochen wird, und dies ist etwas, was der Sinn nicht bereitstellen kann. Hier bewirkt nur der Abbruch des Sinns neuen Sinn. Nur eine solche, den Bann des Tages auflösende Grenz-Erfahrung vermag für Patočka die Epoche der Kraft zu überwinden und zu einem »wirklichen Frieden«41 zu führen. Alles andere, jede bloße Wendung gegen den Krieg im Licht des Tages, im Kontext des Sinns und, enger noch, im Namen der Technologie, also jeder »Krieg gegen den Krieg«, betreibt nur eine Verlängerung des Kriegszustands. Der wirkliche Frieden wird für Patočka nur dort möglich, wo die Wirklichkeit der Kraft selbst gebrochen wird. Die Gemeinschaft, die hieraus erwachsen kann, wird nicht mehr durch Zugehörigkeit zu Nationen oder sozialen Gruppen definiert. Im Gegenteil: Indem Gegner in der ultimativen Erfahrung der Grenze dasselbe erfahren: Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. .
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den radikalen Abbruch des Sinns, nehmen sie Anteil an derselben Situation. Patočka kommt an dieser Stelle auf den polemischen Charakter des Kampfes zurück, der Gemeinschaft und darin Sinn stiftet. Die Gemeinschaft, die dann möglich wird, ist die »Solidarität der Erschütterten«.42 Ihre Realisierung ist für Patočka das einzige Mittel, um die Wirklichkeit der Kraft zu durchbrechen, und das heißt, den Bann zu lösen, der ihre Durchdringung des Alltags wie auch ihre orgiastischen Spitzen in Funktion hält. Die Erschütterung, die aus dieser Erfahrung der Grenze resultiert, also einer Erfahrung, die alle Sinnbildung für einen entscheidenden Moment zum Stillstand bringt, ist das »eigentliche Drama der Freiheit«.43 Diese Freiheit wird dort entbunden, wo sich das Leben zu einem »Gipfelpunkt«44 aufschwingt. Schon der junge Patočka hatte energisch betont, dass ein »Leben in der Amplitude« einem »Leben im Gleichgewicht« entschieden vorzuziehen sei.45 Der Aufschwung, den eine Grenzerfahrung bereithält, ist nichts anderes als jener völlige Abbruch des gegebenen Sinns. Hat Patočka Geschichte von Anfang an als Erschütterung des Sinns definiert, so wird jetzt deutlich, dass Geschichte genau dies besagt: radikal zu scheiden zwischen dem »bloßen, nackten Leben«,46 einem Leben, das nur fristen will und sein Kontinuum von Frist zu Frist verlängert, und einem solchen, das sich zum Gipfel aufschwingt und das ultimativ Mögliche unternimmt; zugleich aber auch die Entscheidung zugunsten des Letzteren zu treffen, eine Entscheidung, die jegliche Sinnhaftigkeit definierende Sorgegestalt des Lebens außer Kraft setzt, nicht Sinn gegen Sinn hält, sondern Sinn abbrechen lässt, um neuen Sinn zu stiften. Spätestens hier wird deutlich, wie weit Patočka von Heidegger abgerückt ist, ohne dies ausdrücklich zu machen. Der Abbruch des Sinns ist ein anderes als die existenzielle Erfahrung der Angst, die den entzogenen Sinn der Welt als solcher als ein Nichts, aber eben als ein Nichts im Kontext von Sinn, enthüllt; er ist ein anderes als das existenziale Vorlaufen in die ultimative Möglichkeit des eigenen
Ebd., S. . Ebd. Ebd. Vgl. Jan Patočka, »Leben im Gleichgewicht, Leben in der Amplitude« [], in: ders., Texte, Dokumente, Bibliographie, a. a. O., S. -. In diesem Band, S. .
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Todes, der die sinnhafte Grenze all meiner Möglichkeiten und ihres sie umschließenden Sorgecharakters aufleuchten lässt; und er ist ein anderes als die Hut des Hirten, der den sinnhaften Zuspruch des Seins verwahrt. Die Nacht der Grenzerfahrung ist mit dem Nichts, das stets das Sein im Rücken hat, nicht gleichzusetzen. Mehr noch: Obgleich es, wie auch Patočka betont, Einzelne sind, Einzelne sein müssen, die sich in diese Nacht begeben, erwirkt gerade dies keine Einsamkeit, im Gegenteil; und das Solidarische, das hier erwachsen kann, ist insofern fest gefügt, als diejenigen, die diese Solidarität bilden, wirklich alles, selbst für einen Moment den Sinn als solchen, verloren haben. Die Umkehr, die metanoia, zu vollziehen heißt für Patočka: nicht »mitgehen«,47 weder in der Sinnbildung des homo philosophicus noch des homo politicus, sondern schlicht und einfach nein zu sagen.48 Was aber ist aus dem Verhältnis von Geschichte und Verantwortung geworden? Die bei Patočka sich schließlich abzeichnende Antwort auf diese Frage ist: Nur der Ausbruch aus tradierten Sinngefügen, der Sinn selbst abbrechen lässt, vermag Verantwortung zu stiften. Dann aber genügt es nicht zu sagen, dass Geschichte das Offenhalten des Sinns, der Seinsoffenheit ist. Wenn dem so wäre, hätte Patočka seine Überlegungen spätestens mit dem dritten Essay abschließen können. Der weitere Verlauf der danach folgenden Essays bis hin zum letzten Text zeigt aber, dass Geschichte bei Patočka sich nicht darin erschöpft, Sinn offenzuhalten. Geschichtlichkeit verweist vielmehr darauf, dass diese Öffnung selbst nur in Extremsituationen möglich ist, in denen das Leben insofern seine Akme erlangt, als aller Sinn verstummt. Die Frage nach dem Verhältnis von Verantwortung und Geschichte kann aber erst dann wirklich beantwortet werden, wenn auch das Verhältnis der Verantwortung zum Orgiasmus klar geworden ist. Wie Jacques Derrida in seiner Studie zu Patočkas Ketzerischen Essays eindrücklich dargelegt hat,49 geht es Patočka darum zu zeigen, dass die Stufen der europäischen Verantwortung – von Platon über das Christentum bis zur neuzeitlichen Aufklärung – das Orgiastische »aufgehoben«, das heißt nicht beseitigt, sondern in sich als einen unverarbeiteten Rest integriert Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (/), Gesamtausgabe, Bd. , hg. v. Hans-Helmuth Gander, Frankfurt/M. , S. . Vgl. in diesem Band, S. . Vgl. Derridas Beitrag im vorliegenden Band.
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haben. Um das Verhältnis von Verantwortung und Orgiasmus deutlicher vor Augen zu bekommen, sei noch einmal auf die wesentlichen Strukturmomente im Verlauf europäischer Geschichte geachtet, wie Patočka sie herausstellt. Bricht durch den Entzug der Götter die durch eine absolute Deutung stabil gehaltene Welt zusammen, kann eine Reaktion darauf sein, die Sinnsplitter dieser Welt und deren reale Verkörperungen wie etwa heilige Orte oder ganze Städte aufzugeben. Eine andere Reaktion besteht darin, den Zusammenbruch auszuhalten, den Splittern und ihrem Bruch eine neue Fügung zu geben. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, nicht lediglich einen bestimmten Sinn preiszugeben, sondern sich von einem selbstverständlichen Leben im Sinn zu entfernen. Indem man eine Haltung begründet, die fortan vom Sinn Rechenschaft ablegen soll, richtet man sich in einer Metaebene zu ihm ein. Solch eine Metaebene besagt, dass der Sinn in seiner Fraglichkeit gehalten wird, und indem auf diese Weise ein Organ geschaffen wird, das den bloßen Verlauf von Geschehnissen zu spiegeln und zu skandieren vermag, bietet diese Ebene einen Raum für Geschichte in einem ersten, vorläufigen Sinn. Zugleich ist sie Ausdruck und Bereich der Freiheit, da sie es erlaubt, zum gesetzten Sinn auf Distanz zu gehen, Sinn offenzuhalten. Sie ist absolut dergestalt, dass sie auf dieses Konzept der Freiheit verpflichtet. All dies geschieht mit der Errichtung der griechischen Polis und der Ausbildung der Philosophie. Der weitere Verlauf der europäischen Entfaltung dieses Offenhaltens von Sinn belegt jedoch, dass sein Konzept nicht durchgehalten werden kann. Da allmählich die Spannung zwischen jeweils gesetztem Sinn und der Möglichkeit seiner Prüfung verloren geht, die sinnhafte Metaebene des Sinns also ihrerseits fragwürdig wird und ihre Autorität dadurch verliert, dass die von ihr geleitete Rechenschaftsabgabe nicht mehr überzeugt, erwächst die Notwendigkeit, den Spannungsbogen zu erneuern. Es konstituiert den Übergang von der Antike zum Christentum, dass Sinn nun nicht mehr nur auf eine Metaebene hin verpflichtet, sondern in einem Absoluten, in der Person Gottes, verankert wird. Sinn wird damit in einem Bereich festgemacht, der zwar, formal gesprochen, die Nähe einer übergeordneten Metaebene hat, der aber insofern absolut entzogen ist, als menschliches Verstehen es nicht vermag, ganz zu ihr durchzudringen. Da dieser Bereich nicht mehr von Menschen gesetzt ist,
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sondern von Gott, stellt den Maßstab nicht mehr menschliche Prüfung, sondern göttliche Offenbarung bereit. Diese Verschiebung der Maßgabe vom menschlichen zum göttlichen Bereich dient jedoch der Stabilisierung der Spannung, um das Fraglichbleiben des Sinns zu stützen: Die Maßgabe des Sinns darf nicht mit dem Sinnraum selbst zusammenfallen; andererseits darf die Differenz zwischen beidem nicht so groß werden, dass die Maßgabe nicht mehr greift. Dieser Balanceakt scheitert schließlich dort, wo die Spannung erneut verloren geht: Mit der Realisierung des Konzepts des Unendlichen in der neuzeitlichen mathematisierten Naturwissenschaft wird ein einziger Raum konstituiert, der weder in sich eine Differenz kennt noch als er selbst an Grenzen stößt. Was für diese Wissenschaft selbst angemessen sein mag, wird, übertragen auf die Welt des Menschen, zum Desaster. Auf die Frage, was der Grund des Scheiterns ist, der Grund dafür, dass der Spannungsbogen nicht gehalten, das Konzept des Fraglichbleibens nicht durchgehalten wird, könnte man antworten, dass diese sinnhaften Mechanismen, sich zur Sinnbildung zu verhalten, ihrerseits nicht durchschaut wurden. Diese Antwort befriedigt jedoch nicht wirklich, da sie selbst das Problem nur wieder verschiebt: von einem Sinn zum andern. Außerdem bleibt man eine andere Antwort immer noch schuldig: eben die Antwort auf die Frage, was das Orgiastische mit diesen Versuchen der Verantwortung zu tun hat. Dass die Stufen der europäischen Verantwortung das Orgiastische nur aufgehoben, aber nicht bewältigt haben, könnte man jedoch auch so ausdrücken, dass Europa nicht wirklich eine Kultur des Begehrens ausgebildet hat, das heißt, mit Levinas zu sprechen, es verabsäumt hat, das endliche (spannungsarme) mit dem unendlichen (spannungsreichen) Begehren zu konfrontieren. Ersteres wäre die »sublimierte« Form, mit der das Sakrum des Orgiastischen sich schließlich realisiert hat, Letzteres das nicht zum Zug gekommene Projekt, ein Verhältnis zum »unendlichen Anderen« zu bahnen. Welche Verantwortung kann es also angesichts dieser Sachlage geben? Auf diese Frage sind wohl drei Antworten möglich. Zum einen kann versucht werden, fortlaufende Sinnverschiebungen im Medium des Sinns selbst einzuholen. Dies wäre eine interpretierende Vergewisserung des Sinnorts, an dem man sich jeweils befindet. Als zweites kann man sich gegen Sinnverfestigungen zur Wehr
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setzen, das heißt gegen die Verabsolutierung von Sinn angehen, indem man ihn auf die Größe seines Sinnorts zurückbringt. Diese Begrenzung von Sinn wäre zugleich sein Herauslösen aus Verendlichungen, denn Verabsolutierungen verendlichen stets. Die beiden genannten Möglichkeiten würden realisieren, was man mit Patočka ein Offenhalten des Sinns nennen kann, und doch ist dies nicht das letzte Wort. Die eigentliche Frage lautet, ob sich Verantwortung nicht erst dann ergibt, wenn es gelingt, sich noch zum Bereich des Sinns als solchen in ein Verhältnis zu bringen. Diese Frage ist umso berechtigter, wenn man sich daran erinnert, dass das Orgiastische jenseits des Sinns liegt: Denn es ist ja eine Kompensierung der Tendenz, die meint, in Welt – und das ist nicht nur je bestimmter Sinn, sondern Sinn überhaupt – aufgehen zu müssen. Weil das Orgiastische aus Welt ausbricht, ist es schwierig, ihm mit Mitteln des Sinns zu begegnen. Es kann letzten Endes also nicht nur darum gehen, unbewusste Sinngründe in bewusste zu verwandeln, sondern die Grenze von Sinn selbst, die man fälschlicherweise immer wieder in den Bereich des Sinns übertrug, muss übernommen werden. Sofern das nicht verantwortete Orgiastische meine Ekstase ist, die sich mit dem Anderen grenzenlos vereinen zu können glaubt und meinen Sinn, man könnte auch sagen, mein Fassungsvermögen mit ihrem Begehren durchtränkt, bestünde die Verantwortung darin zu akzeptieren, dass es die Grenze des Sinns, meines Sinns als meiner Welt ist, die vom Anderen tangiert wird, und dass dieser immer schon über diese Grenze hinaus ist; dass es aber an mir ist, die Grenze transparent zu halten, ohne sie aufzulösen, und dass es schließlich darum zu tun ist, in der Reduktion meiner ekstatischen Begehrlichkeit, die sich des Anderen bemächtigen will, noch den Sinn zu finden, den ich mit dem Anderen wirklich teilen kann. Dieses Verständnis von Verantwortung ist es, in welches die Fraglichkeit des Sinns als Konstitution von Geschichte in einem ursprünglichen Sinn hinabreicht. Was aber ist das Ketzerische an diesem Verständnis? Dass Erschütterung des Sinns im Abbruch des Sinns selbst es ist, die Geschichte konstituiert, steht diametral zur gängigen Vorstellung von der Aufgabe einer Philosophie der Geschichte. Gewöhnlich nimmt Geschichtsphilosophie an, dass Geschichte im Medium des Sinns verläuft und einen Sinn besitzt, und sucht, diesem Sinn auf die
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Spur zu kommen. Bei Patočka aber trifft die Philosophie der Geschichte auf ein Wesensmerkmal des Geschichtlichen, das es überhaupt verwehrt, Geschichte in Philosophie aufzuheben. Geschichte kann nicht von Philosophie (und auch von keiner Wissenschaft) im Maßstab eins zu eins behandelt, das heißt gegenständlich gefasst werden, wenn sie existenzielle Erschütterung eines Sinnbezugs ist. Philosophie (und nur sie allerdings) vermag lediglich in Worte zu fassen, was sich Worten entzieht und nur vollzogen werden kann, damit Geschichte ist. Und dieses Konzept einer ketzerischen Philosophie der Geschichte zu entfalten bliebe letztlich die Aufgabe einer umfassenden Theorie der natürlichen Welt als einer Genealogie des Geschichtlichen. Der Vollzug dieses Geschichtlichen selbst bleibt jedoch stets außerhalb der ihn benennenden Philosophie. Offenlassen heißt dann auch unbeantwortet lassen, so dass das namhaft gemachte Problem nur im Erleben selbst letzte Beantwortung finden kann. Das Ketzertum, auch und gerade Patočkas Ketzertum, ist als »Abweichung«, wie Derrida sagt, »die wesentliche Bedingung der Verantwortung«.50 In ihm ist die Spannung, die zwischen seiner Abweichung und seiner Herkunft besteht, lebendig; höbe es Letztere in sich auf, verlöre es das Bewusstsein seiner Häresie. Solches Ketzertum ist nicht damit charakterisiert, dass man ihm »lediglich die Utopie« eines metanoein konzediert, wie Ricœur dies tut.51 Es realisiert die schwierige Position, welche zwischen den Extremen einer zu geringen und einer zu großen Differenz die Balance hält: abgerückt von dem Glauben, auf den es sich bezieht, ohne in einem anderen Glauben angekommen zu sein. Die Position des Ketzers ist ein déplacement, eine Verrückung, und darin ein Balanceakt auf den Spitzen der Amplitude des Existenzvollzugs. Der Ketzer verabschiedet sich aus dem Verbund, für den ein Glaube fraglos gilt. Er betritt aber nicht das Terrain eines ganz anderen Glaubens. Er bleibt auf den alten Glauben bezogen, in Spannung zu ihm. Er bleibt an der Front, hält sich im Zwischenbereich des Niemandslands: nicht mehr da und nicht woanders. Er sagt einfach nein.
Vgl. Derrida, in diesem Band S. . Vgl. Ricœur, in diesem Band S. .
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Editorische Nachbemerkung Die Textgeschichte der Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte ist nicht von der politischen Situation der er Jahre in der Tschechoslowakei zu trennen. Die auf die kurze, gewaltsam niedergeschlagene Liberalisierungsphase des Prager Frühlings von folgende so genannte »Normalisierung« bedeutete für Jan Patočka das endgültige Scheitern aller Aussichten, noch einmal im akademischen Betrieb Fuß zu fassen. , nur vier Jahre nach der Berufung auf einen Lehrstuhl der Prager Karls-Universität, nimmt man den bevorstehenden . Geburtstag des Philosophen zum Anlass, ihn zwangsweise zu emeritieren. Fortan wirkt Patočka außerhalb der offiziellen Strukturen und ist bald eine Leitfigur der sich im Untergrund formierenden Dissidenz, zu deren intellektuellem Leben er durch private Seminare und Vorträge maßgeblich beiträgt und deren Anliegen er schließlich als Mitinitiator und Sprecher der Charta vor einer internationalen Öffentlichkeit vertritt – bis zu seinem nach einer Reihe von Polizeiverhören eintretenden Tod am . März . Die Ketzerischen Essays sind Patočkas letzte große Arbeit. Den Anstoß gab die Bitte des jungen polnischen Philosophen (und späteren Gründers des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, IWM), Krzysztof Michalski, Patočka möge für die polnische Zeitschrift Znak einen Artikel über die »phänomenologische Deutung des Sinnes der Geschichte« schreiben.1 Patočka lieferte Michalski Ende einen Beitrag über den Anfang der Geschichte, berichtete aber schon bald darauf über weitere Artikel zum Thema, die er im Laufe des Jahres ausarbeitete. Diese Arbeit ging einher mit einer Reihe von geschichtsphilosophischen Vorlesungen, die Patočka im Atelier des Fotografen Jaroslav Krejčí hielt und die an seinen vorgetragenen Zyklus zur Sorge um die Seele (später im Samisdat publiziert unter dem Titel Platon und Europa) anknüpften. Am . August teilt Patočka Michalski mit, dass nun seine »›Häretikeressays‹ zur Geschichte« beisammen seien, sechs an der Zahl. Sie wurden am Ende des Jahres im Sa Vgl. Jan Patočka, »Briefe an Krzysztof Michalski«, in: Jan Patočka and the European Heritage, ed. by Ivan Chvatik, Studia Phaenomenologica (), S. -.
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misdat unter dem Titel Kacířské eseje o filosofii dějin in der Edice Petlice publiziert (der vierte, »Europa und das Europäische Erbe bis zum Ende des . Jahrhunderts«, war bereits in einer SamisdatFestschrift für die Philosophin Božena Komárková erschienen). Die Glossen verfasste Patočka ein halbes Jahr später; auch sie erschienen im Samisdat. Von der besonderen Bedeutung der Ketzerischen Essays zeugt die Tatsache, dass sie im Tschechischen bis heute sieben Ausgaben, davon vier im Samisdat/Tamisdat, erlebten. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen folgten.2 Die erste deutsche erschien und eröffnete den inzwischen vergriffenen zweiten Band der am IWM besorgten fünfbändigen Ausgewählten Schriften Patočkas.3 Sie wurde von Joachim Bruss und Peter Sacher angefertigt und gab wesentliche Anhaltspunkte für die vorliegende Neuübersetzung. Hilfreich waren auch die von Patočka selbst verfassten deutschen Übersetzungen der ersten drei Essays und der Glossen. Ebenfalls herangezogen wurden die französische Übersetzung von Erika Abrams4 und die englische von Erazim Kohák.5 Die Textgrundlage der vorliegenden, am Patočka-Archiv des IWM erstellten Neuübersetzung bildet der publizierte dritte Band der am Prager Patočka-Archiv von Ivan Chvatík und Pavel Kouba seit herausgegebenen kritischen Patočka-Gesamtausgabe6 sowie die im Verlag Oikoymenh (Prag) erschienene durchgesehene Ausgabe, die Patočkas erst wiederaufgetauchte Originalmanuskripte berücksichtigt. Mein Dank gilt dem Direktor des Prager Patočka-Archivs, Ivan Von den inzwischen vorliegenden Interpretationen der Essays seien hier, neben jenen in diesem Band, nur zwei erwähnt: Filip Karfík, »Das Problem der Geschichtsphilosophie«, in: ders., Unendlichwerden durch die Endlichkeit. Eine Lektüre der Philosophie Jan Patočkas, Würzburg ; Burkhard Liebsch, »Rückfragen einer erschütterten Vernunft. Jan Patočkas Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte«, in: ders., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg/München . Jan Patočka, Ausgewählte Schriften Bd. II: Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, hg. von Klaus Nellen und Jiří Němec, Stuttgart ; vgl. dort auch das Nachwort der Herausgeber. Essais hérétiques sur la philosophie de l’histoire, Edition révisée, Paris . Heretical Essays in the Philosophy of History. Translated by Erazim Kohak, edited by James Dodd, Chicago . Kacířské eseje o filosofii dějin, Sebrané Spisy, Péče o duši III, S. -.
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Chvatík, dessen philosophisch und philologisch sachkundige und im Deutschen wie im Tschechischen versierte Unterstützung bei der Erstellung der deutschen Neuausgabe von unschätzbarem Wert war. Danken möchte ich auch dem Leiter des Wiener Archivs, Klaus Nellen, für die gründliche Durchsicht der Übersetzung sowie Ludger Hagedorn für seinen Rat in schwierigen Textfragen. Nicht zuletzt bedanke ich mich, auch im Namen des IWM, für die Unterstützung der am Wiener Archiv betriebenen Patočka-Forschung7 durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), ohne welche die vorliegende Ausgabe nicht zustande gekommen wäre. Wien, im Dezember Sandra Lehmann
Mehr zur Patočka-Forschung am IWM unter www.iwm.at/Patocka.htm .
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