Ruhe in der Bewegung: Chinesische Philosophie und Bewegungskunst 9783495860571, 9783495486030


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Table of contents :
Inhalt
Zur Einstimmung
Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben
1. dào 道 und die Welt
Wandlung und Differenzierung
dào als Fülle und Leere
Welt aus yīn 陰 und yáng 陽
Tabelle 1: yáng und yīn
Fünf Wandlungsphasen wǔ-xíng 五行
Tabelle 2: Resonanzgeschehen entlang der Fünf Wandlungsphasen in ihrer Wechselwirkung mit yīn und yáng
2. Wind, Atem und qì 氣
Eingetauschter Weltenraum
Bipolares Geschehen
Übung 1: Atmen
Diagramm 1: Bipolare Dynamik des qì 氣
Übung 2: Ruhe in der Bewegung
Abb. 1: Der kosmische Kreis
3. Körper, Leib und Körperleib
Differenz ja – Dualismus nein
Körper und Leib
Übung 3: Wahrnehmung des Körpers
Übung 4: Wahrnehmung des Leibes
Körperleib
Tabelle 3: Außen- und Innenaspekte des Menschen
Abb. 2: Kalligraphische Schreibweisen von shēn 身
Tabelle 4: Körperteile pars pro toto
Leibliche Regungen
Tabelle 5: Emotionen und Speicherorgane
4. Bewusstsein nah und fern den Dingen
shén 神 (Geisteskraft)
Abb. 3: Neolithische Ritzzeichnung
jīng 精 (Essenz) und jīng-shén 精神 (Feinstessenz)
xīn 心 (Herz)
Abb. 4: Piktogramm des Zeichens für »Herz« (mit der abgehenden Aorta)
Zwischen leiblicher und analytischer Intelligenz
Tabelle 6: Formen des Bewusstseins
5. Resonanz von Mensch und Welt
Eindruck und Ausdruck
Medien der Resonanz
Tabelle 7: Synästhetisches Zusammenspiel
Tabelle 8: Gestaltverläufe von yáng und yīn
Tabelle 9: Synästhetische Charaktere von yáng und yīn
Gemeinsame Situationen
Übung 5: Wahrnehmung in ganzen Situationen
Abb. 5: Optische Täuschung
6. Ökonomie und Ökologie der Mitte
In der Mitte des Kreises
Selbstschonung
Schonung von Umwelt und Natur
7. Zeit und Raum
Der rechte Augenblick
Wortzeichen für Zeit und Raum
Raum-Zeit-Metaphorik von dào 道
Zusammenfassung des ersten Teils
Übung 6: Philosophie in einem Atemzug
Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie
1. Qìgōng 氣功
Historisches
Abb. 6: Seidenbild von Mawangdui
Praxiseinheit: »Himmel-Mensch-Erde«
Übung 7: Eintreten in das Qìgōng (rù-gōng 入功)
Übung 8: Himmel
Gespürte Erfahrung
Übung 9: Mensch
Gespürte Erfahrung
Übung 10: Erde
Gespürte Erfahrung
2. Das Spiel der Fünf Tiere (wǔ-qín-xì 五禽戲)
Historisches
Abb. 8: Tierpiktogramme (rechts) und ihre modernen Formen (links)
Übungen: Affe und Bär
Übung 11: Affe
Gespürte Erfahrung
Übung 12: Bär
Gespürte Erfahrung
Vergleich der Tierspiele
3. Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳
Historisches zur Kampfkunst
Gespürte Erfahrung
Historisches zum Tàijíquán 太極拳
Diagramm 2: Tài-jí – der Große Dachfirst
Gespürte Erfahrung im Tàijíquán-jīng 太極拳經
Diagramm 3: Trigramme des Yijing
Abb. 12: Der Kosmos in einer Tuschezeichnung
4. Gedichte als Bewegungskunst
Das Buch der Lieder (Shijing 詩經)
Körperleiberfahrung mit chinesischen Gedichten
5. Qìgōng mit dem Pinsel
Historisches zur Pinselkunst
Körper und Leib in der Pinselkunst
Kalligraphische Stile und Stimmungen
Diagramm 4: Ruhe und Bewegung in den Schriftstilen
Abb. 19: Das Zeichen für qì 氣
Erfahrungsbegriffe der Tuschemalerei
Bildübung
Abb. 20: Anonymes Bild aus dem 15. Jahrhundert
6. Musik des Himmels, der Erde und der Menschen
Philosophisches
Historisches
Die chinesische Griffbrettzither
Gespürte Erfahrung beim Spiel der Qín 琴
7. Qìgōng in Haus und Garten
Fēngshuǐ 風水
Abb. 23: Fēngshuǐ-Kompass
Gespürte Erfahrung
Berg-Wasser-Garten
Gespürte Erfahrung in der Gartenkunst
Abb. 24: Gartenlandschaft
Exkurs: Ruhe im Alltag. Zwei Handwerksgeschichten
Der Holzschnitzer Qing
Die Kunst, einen Ochsen zu zerlegen.
Zusammenfassung des zweiten Teils
Diagramm 5: Ruhe und Bewegung in den Bewegungskünsten
Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein
1. Historische Formen der Meditation
Übung 13: Gedanken-Leere
2. Gespürte Erfahrung
3. Meditationsübung
Übung 14: Sitzen in Stille
Zusammenfassung des dritten Teils
Schlusswort
Endnoten
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Verzeichnis der Übungen
2. Verzeichnis der Tabellen und Diagramme
3. Verzeichnis der Abbildungen
4. Begriffe aus der Neuen Phänomenologie
5. Zeittafel
6. Zum Gebrauch des Buches
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Ruhe in der Bewegung: Chinesische Philosophie und Bewegungskunst
 9783495860571, 9783495486030

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A

Gudula Linck

Ruhe in der Bewegung Chinesische Philosophie und Bewegungskunst

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860571

.

B

Gudula Linck Ruhe in der Bewegung

Verlag Karl Alber

A

https://doi.org/10.5771/9783495860571 .

Ruhe zu finden in der Bewegung, ist Gegenwart aus erster Hand, widersetzt sich Sprunghaftigkeit und jedem Kalkül. Darin liegt der Zauber ostasiatischer Philosophie und Bewegungskunst! Tut man sich schwer mit dem Widerspruch des Ineinander und Miteinander, Verwandlung ins Gegenteil und Uneindeutigkeit, genügt ein flüchtiger Blick in altchinesische Texte, die sich in paradoxen Denkfiguren ergehen – wie »Ruhe in der Bewegung«, »Fülle in der Leere« oder »Dauer, die keine Zeit hat«. Auch reicht ein wenig Praxis in chinesischer Bewegungskunst, um Ineinander, Miteinander, Verwandlung ins Gegenteil am eigenen Leib zu erfahren. Im ersten Teil des Buches gilt es, hinter den philosophischen Denkbegriffen Leib- und Lebenserfahrung ausfindig zu machen, um Erfahrungsbegriffe bereitzustellen, die im zweiten Teil an den einzelnen Bewegungskünsten durchgespielt werden. Neben Atem- und Bewegungsübungen ist vor allem danach gefragt, was die Bewegungserfahrung jeweils mit einem macht und warum. Bewegungskünste in der nächstliegenden Bedeutung sind die Lebenspflege des Qìgōng , das Spiel der Tiere, Kampfkunst und die verlangsamte Kampfkunstvariante des Tàijíquán , im weiteren Sinn: Dichtung, Malerei und Kalligraphie, Musik, die chinesische Garten- und Raumkunst Fēngshuǐ und im Exkurs handwerkliches Tun. Im dritten Teil geht es schließlich um Meditation im still-sitzenden Sein, in der auf ganz eigene Weise »Ruhe in der Bewegung« und »Bewegung in der Ruhe« erfahren werden kann.

Die Autorin Gudula Linck wurde 1943 in Mainz geboren. Studium in Paris, Germersheim, Salamanca, Tübingen, Taibei, Osaka, München, Freiburg, Beijing und Berkeley. Nach Promotion und Habilitation erhielt sie 1985–1990 ein Heisenberg-Stipendium und war von 1990–2008 Professorin für Sinologie in Kiel. Seit der Pensionierung 2008 lebt sie in Freiburg. Neben Lehraufträgen für chinesische Geschichte und Philosophie ist sie als Qigong- und Yoga-Lehrerin tätig. Zuletzt bei Alber: »Leib oder Körper. Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie«.

https://doi.org/10.5771/9783495860571 .

Gudula Linck

Ruhe in der Bewegung Chinesische Philosophie und Bewegungskunst

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860571 .

2. Auflage 2015 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Covermotiv: Traufziegel, Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48603-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86057-1

https://doi.org/10.5771/9783495860571 .

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Teil I: Denkfiguren. Der Sitz im Leben . . . . . . . . . . .

13

Zur Einstimmung

dào 道 und die Welt

. . . . .

15 15 16 17 19

2.

Wind, Atem und qì 氣 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingetauschter Weltenraum . . . . . . . . . . . . . . . . Bipolares Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 23 24

3.

Körper, Leib und Körperleib . Differenz ja – Dualismus nein . Körper und Leib . . . . . . . . Körperleib . . . . . . . . . . . Leibliche Regungen . . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

33 33 34 35 38

4.

Bewusstsein nah und fern den Dingen . . . . . . . . shén 神 (Geisteskraft) . . . . . . . . . . . . . . . . . jīng 精 (Essenz) und jīng-shén 精神 (Feinstessenz) . . xīn 心 (Herz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen leiblicher und analytischer Intelligenz . . . .

. . . . .

. . . . .

45 46 47 48 51

5.

Resonanz von Mensch und Welt Eindruck und Ausdruck . . . . . Medien der Resonanz . . . . . . Gemeinsame Situationen . . . .

. . . .

. . . .

59 60 62 69

1.

. . . . . . . . . . . . .

Wandlung und Differenzierung . . . dào als Fülle in der Leere . . . . . . Welt aus yīn 陰 und yáng 陽 . . . . Fünf Wandlungsphasen wǔ-xíng 五行

. . . . .

. . . . .

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. . . .

5

https://doi.org/10.5771/9783495860571 .

Inhalt

6.

Ökonomie und Ökologie der Mitte

. . . . . . . . . . .

In der Mitte des Kreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstschonung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schonung von Umwelt und Natur . . . . . . . . . . . . .

Zeit und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72 72 73 74

Der rechte Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortzeichen für Zeit und Raum . . . . . . . . . . . . . . Raum-Zeit-Metaphorik von dào 道 . . . . . . . . . . . .

76 76 78 83

. . . . . . . . . . . . . .

86

Teil II: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie . . . .

91

Qìgōng 氣功 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 95 103

7.

Zusammenfassung des ersten Teils

1.

Historisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxiseinheit: »Himmel-Erde-Mensch« . . . . . . . . . .

2.

3.

Das Spiel der Fünf Tiere (wǔ-qín-xì 五禽戲)

. . . . . . . 112

Historisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übungen: Affe und Bär . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich der Tierspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 116 121

Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳 . . . . . . . .

123 123 130 136 140

Historisches zur Kampfkunst . . . . . . . . . . . . . Gespürte Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historisches zum Tàijíquán 太極拳 . . . . . . . . . . Gespürte Erfahrung im Tàijíquán-jīng 太極拳經 . . .

4.

5.

Gedichte als Bewegungskunst

. . . . .

. . . . . . . . . . . . . . 145

Das Buch der Lieder (Shijing 詩經) . . . . . . . . . . . . Körperleiberfahrung mit chinesischen Gedichten . . . . .

145 147

Qìgōng mit dem Pinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159 159 160 165 173 179

Historisches zur Pinselkunst . . . . . Körper und Leib in der Pinselkunst . Kalligraphische Stile und Stimmungen Erfahrungsbegriffe der Tuschemalerei Bildübung . . . . . . . . . . . . . .

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6

https://doi.org/10.5771/9783495860571 .

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Inhalt

6.

Musik des Himmels, der Erde und der Menschen Philosophisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die chinesische Griffbrettzither . . . . . . . . . . Gespürte Erfahrung beim Spiel der Qín 琴 . . . . .

. . . . .

. . . . .

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. . . . .

181 181 183 186 188

7.

Qìgōng in Haus und Garten . . . . . . . . . Fēngshuǐ 風水 . . . . . . . . . . . . . . . . Berg-Wasser-Garten . . . . . . . . . . . . . Gespürte Erfahrung in der Gartenkunst . . .

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196 197 202 210

. . . .

. . . .

. . . .

Exkurs: Ruhe im Alltag. Zwei Handwerksgeschichten . . . . . 216 Der Holzschnitzer Qing . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Die Kunst, einen Ochsen zu zerlegen . . . . . . . . . . . 217 Zusammenfassung des zweiten Teils . . . . . . . . . . . . . . 220

Teil III: Synthese. Meditatives Sein . . . . . . . . . . . . . 223 1.

Historische Formen der Meditation . . . . . . . . . . . 225

2.

Gespürte Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

3.

Meditationsübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

Zusammenfassung des dritten Teils . . . . . . . . . . . . . . 242 Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Endnoten

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verzeichnis der Übungen . . . . . . . . . . . 2. Verzeichnis der Tabellen und Diagramme . . 3. Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . 4. Begriffe aus der Neuen Phänomenologie . . . 5. Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zum Gebrauch des Buches . . . . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

273 273 273 274 275 279 280

7

https://doi.org/10.5771/9783495860571 .

https://doi.org/10.5771/9783495860571 .

Zur Einstimmung

Ruhe in der Bewegung klingt paradox. Die Wissenschaft, die unser Leben prägt, zieht das Entweder-Oder vor. Entweder Ruhe oder Bewegung! Entweder A oder B! Doch wer A sagt, denkt schon B, so ist das eine im andern enthalten, und Sowohl-als-auch, Verwandlung ins Gegenteil sind plötzlich ebenso wahr. Auf diesen schwankenden Boden hatte die altchinesische Philosophie gebaut: yīn 陰 im yáng 陽, Glück im Unglück, weniger ist mehr, Rückzug ein Zeichen von Stärke, das weiche Wasser besiegt den harten Stein … Immer wieder einmal innehalten, um Kraft zu schöpfen und dem Alltag gewachsen zu sein, dann ist Ruhe in der Bewegung Schonung von Lebenskraft. Immer wieder einmal vergessen, was kommen mag und was gewesen ist, um wach zu sein für den jetzt gelebten Augenblick, dann ist Ruhe in der Bewegung Lob der Gegenwart. Sowohl-als-auch, Schonung von Lebenskraft, Lob der Gegenwart – darin liegt der Zauber chinesischer Philosophie und Bewegungskunst. Von Anfang an sind beide begrifflich und bildmächtig miteinander verknüpft. Philosophie erweist sich als körper- und leibfundiert, und Bewegungskunst setzt Denkfiguren in Tanzfiguren um. Bewegungskunst umfasst Qìgōng 氣功, das Spiel der Tiere, Kampfkunst und die Kampfkunstvariante des Tàijíquán 太極拳. Im weiteren Sinn zählen dazu: Dichtung, Malerei und Kalligraphie, Musik, Wohn- und Gartenkunst und zuletzt die Meditation, in der auf besondere Weise Ruhe in der Bewegung, Bewegung in der Ruhe erfahrbar ist. Die Schönen Künste aufzunehmen in den Reigen der Bewegungskunst kommt aus der Erfahrung, dass auch diese Praktiken Lebenskraft schonen und mehren. Alle in diesem Buch versammelten Künste, einschließlich der Meditation, sind so gesehen Qìgōng 氣功, da Qìgōng 氣 功 nichts anderes bedeutet als »effektiver Umgang (gōng 功) mit der Lebenskraft (qì 氣)«. Analogie und Wechselwirkung sämtlicher Künste trägt die Sig9

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Zur Einstimmung

natur der vormodernen chinesischen Gelehrtenkultur, die Landschaftsbilder mit Versen versieht, Gedichte in Schönschrift verfasst, die Zither zupft, mit dem Schwert tanzt, den Atem aus der Ferse holt und meditiert – oft alles in einer Person. Manchmal blitzt ein Bewusstsein auf vom einst selbstverständlichen Zusammenspiel, wenn ein Qìgōng-Meister heute begegnet, der kalligraphiert, ein Schwerttänzer, der philosophiert, oder ein Kalligraph behauptet, dass die Kunst, mit dem Pinsel zu schreiben, das Leben nährt und pflegt. Das Buch bewegt sich im Zwischenraum von Theorie und Praxis, einer Wirklichkeit eigener Art. Von der Theorie her kommend, wird gefragt, was an Leib-Erleben und Lebenspraxis in die Denkbegriffe eingeflossen ist, von der Praxis kommend, was Bewegungskunst mit einem macht und warum! Dann wird ein Raum begehbar, der zwischen philosophischem Nachdenken auf der einen und sprachlosem Spüren auf der anderen Seite Erfahrungsbegriffe bereithält in inniger Nähe der Phänomene selbst. Begriffene Erfahrung 1 nah den Phänomenen verdichtet sich zum »Alphabet der Leiblichkeit« des Kieler Philosophen Hermann Schmitz. Darauf wird vielfach rekurriert, um die Zusammenschau verständlich zu machen aus der Sicht von Körper und Leib. Der erste Teil hält sich – von schweifenden Blicken abgesehen – in den Jahrhunderten vor Christus auf, der formativen Phase chinesischer Philosophie. Hier wird in chinaspezifischen Denkbegriffen nach Indizien der Lebenserfahrung gesucht. Es wird sich zeigen, dass altchinesisches Nachdenken über die Welt im leiblichen Spüren gründet, mit Fug und Recht Phänomenologie des Leibes genannt werden kann. Die so erfassten Erfahrungsbegriffe werden im zweiten Teil an den Bewegungskünsten nacheinander durchgespielt. Dabei kommen historische, aber auch schicht- und geschlechtsspezifische Differenzierungen in den Blick. Der dritte Teil behandelt, als Krönung und Synthese, die Kunst der Meditation, da konzentrierte Aufmerksamkeit jede Bewegung begleitet. Nichts spricht dagegen, die philosophische Betrachtung zunächst zu überschlagen, um sich gleich den Bewegungskünsten zuzuwenden – obwohl die vierzehn Übungen, ebenso viele Tabellen und Diagramme, fünfundzwanzig Abbildungen, zahlreiche Gedichte östlicher und westlicher Herkunft in alle Teile des Buches eingestreut sind und Querverweise die Teile miteinander verbinden. 10

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Zur Einstimmung

Danksagung. Kein Text schwebt im luftleeren Raum, und jedes Mal steht Ringelnatz Pate: »So viel Danke gibt es gar nicht, wie ich nunmehr schuldig bin«: zunächst allen »Bewegungskünstlern«, mit denen ich üben und praktizieren durfte: Yoga, Qìgōng, Tierspiele, Tàijíquán, Kampfkunst und Kalligraphie, Wandern im südlichen Schwarzwald, an Nord- und Ostsee, Steigen in den Bergen … Von Herzen dankbar bin ich meinem Sohn Florian, Gerhild Götzky, Barbara Hofmann-Huber für kritische Lektüre von Anfang an, meiner Schwester Marei und Dr. Ulla Ott für Sorgfalt beim Korrekturlesen – und nicht zuletzt Lukas Trabert vom Alber Verlag für diese und jene Anregung und freundliches Wohlwollen überhaupt. Gudula Linck

Freiburg 2013

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Erster Teil Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als die eine. Auf die Schiffe, ihr Philosophen! Friedrich Nietzsche

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Die Revision chinaspezifischer Grundworte kreist um die Frage nach ihrem »Woher?«, nach dem »Sitz im Leben«, der sich in philosophischer Welt- und Selbstauslegung verdichtet. Manchmal liegt der Ursprung offen zutage, z. B. bei »Ruhe und Bewegung«, die mit yīn 陰 und yáng 陽 korrelieren, bei der »Mitte« zwischen den Extremen, beim »Verdichten und Zerstreuen« der Atem- und Lebenskraft qì 氣. Hinter altchinesischen Denkfiguren nach Indizien des Erlebens zu fragen, heißt, in unmittelbarer Nähe der gespürten Phänomene zu suchen. Strukturen des Körpers vergleichbar, wie Muskeln, Knochen, Fleisch, Haut, präsentieren sich hier Strukturen des Spürens, die schon beim schlichten Ein- und Ausatmen erfahrbar sind: »Fülle und Leere«, »Enge und Weite«, »Rhythmus und Intensität«, »Widerstreit der Kräfte« … Diese erweisen sich als »relativ stabile, jedenfalls nicht beliebig wandelbare leibliche Grundlagen menschlichen Wirklichkeitserlebens« 1. Die philosophische Musterung setzt ein mit signifikanten Begriffen zur Auslegung der Welt, bevor das Spezifische menschlichen Seins in den Mittelpunkt rückt. Danach sind Brückenqualitäten gefragt, die Resonanz zulassen zwischen Mensch und Welt! Auf dieser Brücke ist jenseits der Extreme die Mitte gefragt – als Haushalten mit der eigenen Lebenskraft, aber auch als schonender Umgang mit der Natur. Zuletzt folgen Überlegungen zu Raum und Zeit, zwei Erfahrungsweisen, die bildmächtig in die Wortzeichen eingraviert sind. Wo der Vergleich sich aufdrängt mit späteren chinesischen Begriffen, europäischen oder altindischen Denkfiguren, wird dem mit einem Fingerzeig nachgegeben. Jeder Kontrast, der Konturen verleiht, ist willkommen. Umgekehrt bezeugen Analogien über Orte und Zeiten hinweg, dass Erleben von Wirklichkeit nicht nur kulturspezifisch geprägt oder gar »konstruiert« sein kann.

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1. dào 道 und die Welt

Wie alles entsteht, sich wandelt und vergeht, ist als Erfahrung in archaischen Erzählungen so präsent, dass mythische Bilder vom Entstehen der Welt vorausgeschickt sind. Danach wird in philosophischen Texten unterschiedlicher Herkunft Ausschau gehalten nach Leib- und Lebenserfahrung in den Konzepten dào 道, qì 氣, yīn-yáng 陰陽, wǔ-xíng 五 行 und assoziierten Begriffen.

Wandlung und Differenzierung Altchinesische Mythenfragmente lassen die Welt von-selbst (zì-rán 自 然) entstehen aus einem kosmischen Ei, einem Hohlraum, aus der Wandlung eines Urzeitwesens. Das Ei mag den Hühnern abgeschaut, der Hohlraum in Form einer Vase, Höhle, Kalebasse dem Mutterschoß nachempfunden sein. Der Riese Pangu mag zerfallen, sein Blut die Flüsse und Meere füllen, die Stimme als Donnergrollen, sein Atem als Wind durch die Lande brausen. Ein Gott ist er kaum, der aus Nichts etwas erschafft. Pangu zerfällt, und daraus entsteht die Welt. Warum und wieso erfahren wir nicht. Wie Pangu ist Hundun, der »Ungeschiedene«, ein Urzeitwesen, gesichtslos, sich selbst genug, ruhend in seiner eigenen Mitte, nichts als ein dunkler Sack. Er stirbt, sobald er Augen hat zu sehen, Ohren zu hören, sobald die Welt sich differenziert: Der Herr des Südmeeres war der Hastige, der Herr des Nordmeeres der Unachtsame, der Herr der Mitte der Ungeschiedene (hún-dùn 渾沌). Der Hastige und der Unachtsame trafen sich zuweilen im Land des Ungeschiedenen, und der Ungeschiedene behandelte sie zuvorkommend. So überlegten der Hastige und der Unachtsame, wie sie des Ungeschiedenen Freundlichkeit vergelten könnten und sprachen: »Die Menschen haben alle sieben Öffnungen zum Sehen, Hören, Essen und Atmen. Er allein hat keine. Lasst uns versuchen, sie

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

ihm zu bohren.« Täglich bohrten sie ihm eine Öffnung. Nach sieben Tagen war der Ungeschiedene tot. 2

Den Mythen gemeinsam sind die Motive Wandlung, Differenzierung, ein Geschehen von-selbst aus einem Urzustand der Mitte heraus, der in späteren Texten als rund-geschlossen, dunkel-geheimnisvoll, einheitlich-ungespalten, verworren-chaotisch umschrieben wird, der in Bewegung ist »wie Pferdegalopp, wie Flügelschlagen« oder auch in Ruhe im Unterschied zur bewegten Welt. Sowohl-als-auch. Im Namen des »Ungeschiedenen« (Hundun) entspricht in beiden Schriftvarianten 渾沌/混沌 dem Undifferenziert-Chaotischen das Sinnelement »Wasser« 氵. Ersteres hún 渾, im zweiten Ton (´ ) ausgesprochen, bedeutet »trübe«. Letzteres hùn 混, im vierten Ton ( `) ausgesprochen, bedeutet »ununterscheidbar vermischt«. Beides verweist auf chaotisch flutendes, strudelndes »schwarzes Wasser, worin alles Werdende gärt« 3.

dào als Fülle und Leere Die mythischen Motive – Wandlung, Differenzierung, Chaos, Mitte, das Geschehen von-selbst – formen sich in den Jahrhunderten vor Christus unter der Hand der Philosophen zur folgenreichen Denkfigur des dào 道, Urzustand primärer Weltentstehung und fortdauernder Grund einer sich ununterbrochen vollziehenden Kosmogonie. Aus diesem »einen« (yī 一) dào kommt die Vielfalt der Welt hervor, und alles kehrt zu seiner Zeit entdifferenziert dahin zurück. Alles Seiende »wurzelt« (gēn 根) im dào, auch das »geringste« Wesen und Ding (wù 物): die Ameise, das Unkraut, der Ziegelstein, der Misthaufen oder Kot. 4 Wirkkraft des dào ist dé 德, die im Titel des Daodejing (Klassiker vom dào und dé) 5 gleichberechtigt neben dào genannt ist, denn nichts in der Welt ist einfach nur da! Jede Präsenz entfaltet dè. Als menschliche »Tugend« ist dé dann auch nicht bloß Charaktereigenschaft, sondern wirksame Tugendkraft. Kommt differenzierte Welt aus dem einheitlich Undifferenzierten hervor, kann das nur heißen, dass im anfänglichen Chaos des dào die Vielfalt des Seienden potentiell vorhanden ist – als Fülle in der Leere. Leere ist dann nicht »Nichts«, sondern nur »nicht differenziert«, d. h. leer von Bestimmungen, leer von Identität und Verschiedenheit! Leere 16

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1. dào 道 und die Welt

als undifferenzierte Fülle ist demnach unbegrenzte Wirkkraft, unbegrenzte Möglichkeit. Im elften Vers des Daodejing ist die Figur der »Leere in der Fülle« in eindrucksvoller Metaphorik veranschaulicht: Dreißig Speichen hat ein Rad und die allen gemeinsame Nabe. Wo die Leere ist (wú 無), liegt der Gebrauch des Wagens. Aus Ton entsteht ein Gefäß. Wo die Leere ist (wú 無), liegt der Gebrauch des Gefäßes. Man bohrt Türen, Fenster und schafft Raum. Wo die Leere ist (wú 無), liegt der Gebrauch des Raumes. 6

Neben den Leerräumen des Rades, dem Hohlraum von Gefäß und Haus steht hier für die paradoxe Figur der Leere in der Fülle das Wortzeichen wú 無. Das alte Piktogramm, ein »tanzender Mensch mit Federn in der Hand«, zeigt den Schamanen, der in ekstatischer Bewegung Zugang sucht zum numinosen Grund der Welt. In verbaler Funktion bedeutet wú »nicht [differenziert] vorhanden sein« im Gegensatz zu yǒu 有 »[differenziert] vorhanden sein«. Damit ist der Unterschied zwischen differenzierter Welt (yǒu) und undifferenziertem dào (wú) begrifflich erfasst. Hat die Welt teil am dào, dann ist dào die Ameise und auch wiederum nicht, dann ist dào im Ziegelstein und auch wiederum nicht. So führt Immanenz des Numinosen zu einer weiteren Paradoxie, dem, was im Manifesten verborgen ist und im Verborgenen manifest. Neben wú stehen in altchinesischen Texten gleichberechtigt xū 虛 und kōng 空 für die offene, mit allen Möglichkeiten ausgestattete Leere des dào, aber auch für den leeren Bewusstseinszustand im Einklang mit dem dào. Hier erweist sich Leersein von differenzierten Gedanken als eine der leiblichen Grunderfahrungen, aus der die Figur des dào schöpft (siehe dritter Teil). Auch der Buddhismus kommt in den Jahrhunderten nach Christus auf kōng 空 zurück, um die Leerheit der Phänomene, Substanzlosigkeit, und Geisteszustand der Buddha-Natur in chinesischer Sprache begrifflich zu fassen.

Welt aus yīn 陰 und yáng 陽 An der Zweiteilung der Welt aus dem dào heraus ist qì 氣 beteiligt, die kosmische Lebenskraft (siehe I.2). So sind yīn und yáng auch nichts 17

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

anderes als primäre Manifestationen von qì – yīnqì 陰氣 und yángqì 陽 氣: Das dào bringt das Eine hervor; das Eine die Zwei und die Zwei die Drei. Die Dreizahl bringt die Zehntausend Wesen und Dinge (wàn-wù 萬物) hervor: Die Zehntausend Wesen und Dinge – getragen vom yīn, umhüllt vom yáng, geeint vom durchdringenden qì. 7

Aus yīn und yáng entstehen alle weiteren »Wesen und Dinge« (wù 物) der Welt, die der Bipolarität innig verbunden bleiben – bis zur Rückkehr ins dào (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: yáng und yīn yáng 陽

yīn 陰

Himmel

Erde

Sonne

Mond

Tag

Nacht

Sommer

Winter

Feuer

Wasser

Wind

Regen

Mann …

Frau …

Die Kosmogonie am Beginn der Welt liest sich im Huainanzi, nicht anders als die Genesis im Buch Mose, mit dem Unterschied, dass hier ein Gott am Wirken ist, im alten China ein sich selbst regulierendes Geschehen der Natur. Wie folgt betreten eine nach der anderen die Hauptfiguren der altchinesischen Philosophie die Bühne der Welt: Das ursprüngliche qì 氣 mit seinen Manifestationen yáng 陽 und yīn 陰 yáng und yīn mit ihren Qualitäten leicht-fein-zerstreut-flüchtig-klar (yáng) vs. schwer-grob-kompakt-fest-trüb (yīn); Himmel und Erde; die Vier Jahreszeiten; die Welt aus Zehntausend Wesen und Dingen; Feuer und Wasser; Sonne, Mond und Sterne; Fluten und Staub, das Viereckige und Dunkle der Erde, das Runde und Helle des Himmels;

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1. dào 道 und die Welt

Atmosphärisches in Form von Wind und Sturm, Regen, Donner, Nebel, Tau, Frost und Schnee; die Behaarten und Gefiederten, Muschel- und Schuppentiere, Vierfüßler, Vögel, Fische, Drache, Wal, Seidenwürmer – und zuletzt der Mensch. 8

Aus solchem Stoff ist die Welt gemacht – vielmehr nicht »gemacht«. Sie ist da, so wie sie ist, vollzieht sich von selbst. Heraus aus dem Chaos und wieder hinein! Primäre Manifestation von yáng und yīn ist der zweifach in »Himmel und Erde« (tiān-dì 天地) differenzierte Kosmos. In deren Mitte steht aufgerichtet der Mensch (rén 人), der als Mikrokosmos an beiden partizipiert. Die Zusammensetzung aus »Himmel-Erde-Mensch« tiāndì-rén 天地人, auch sān-cái 三才 (Drei Wesenheiten) genannt, ist die chinesische Variante der Dreifaltigkeit: So entsteht der Weg des Himmels durch yīn und yáng, der Weg der Erde durch Weich [Wasser] und Hart [Berg], der Weg der Menschen durch rén 仁 (Zwischenmenschlichkeit) und yì 義 (pflichtbewusstes Handeln). 9

Herausgehoben aus dem naturspontanen Wirken hat der Mensch durch bewusstes Tun oder auch Nicht-Tun die kosmische Harmonie zu bewahren und immer wieder neu zu realisieren. Das Wortzeichen tiān 天 für sich allein ist entweder mit »Himmel« oder mit »Natur« zu übersetzen. Selbst anthropomorph als Himmelsmacht gedacht, ist sie kein transzendenter Schöpfergott, greift aber lohnend und strafend in den Lauf der Welt ein. Als »Natur« steht tiān für jene numinose Wirkkraft, die von selbst geschieht. Die Nähe zum dáo ist unverkennbar. Beide sind der Welt immanent, fern jeder Metaphysik.

Fünf Wandlungsphasen wǔ-xíng 五行 Kosmologische Überlegungen unmittelbar vor Christus fügen den mythischen und altphilosophischen Motiven den Gedanken der Resonanz hinzu. Resonanz entfaltet sich, neben der Wirkung von yīn und yáng, entlang der »Fünf Wandlungsphasen« (wǔ-xíng 五行). Diese wiederum korrelieren mit yīn und yáng und sind – nicht anders als yīn und yáng – Manifestation der alles durchdringenden Lebenskraft qì. In der Kosmogonie des Huainanzi sind Feuer und Wasser explizit 19

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

genannt. Zum vollständigen Zyklus der Wandlungsphasen bedarf es noch der Erde, des Holzes und des Metalls. Schon im Buch der Urkunden (Shujing) 10 sind die wǔ-xíng nicht nur Materialien, die der Mensch vorfindet und sich zunutze macht, auch nicht »Elemente« und Grundbausteine der Welt. Wandlung als Denk- und Erfahrungsfigur vorausgesetzt – sind die Fünf Wandlungsphasen »Prozesse einer sich permanent verändernden Lebenskraft, wie sie in der Natur zu beobachten sind« 11. Und doch ist auch Zou Yan (305–240 v. Chr.), der die fünf Wirkkräfte mit yīn und yáng verknüpft, nicht im modernen Sinn mit Naturkunde befasst. Der Wirkzusammenhang, den er behauptet, zielt auf gesamtkosmische Gesetzmäßigkeit, so dass Bewegungen der Natur ihr ebenso unterworfen sind wie der Mensch als Verursacher und Betroffener historisch-politischer Prozesse. Seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. spielen die Fünf Wandlungsphasen Wasser, Holz, Feuer, Erde, Metall führend mit im Konzert der Lebenskräfte – nicht anders als yīn und yáng und mit ihnen verquickt und verbandelt! Um die Phänomeno-Logik dieser Denkfigur zu veranschaulichen, sind von den zyklischen Reihungen im Folgenden zwei konkretisiert, die in der späteren Philosophie und Medizin den Ton angeben: Im Zyklus wechselseitiger Hervorbringung (shēng 生) bringt Wasser [Regen] das Holz [Pflanzen, Blumen, Gebüsch und Bäume] hervor; Holz (mù 木) bringt Feuer hervor; Feuer (huǒ 火) bringt Erde [Asche] hervor; Erde (tǔ 土) bringt Metall hervor; Metall (jīn 金) [in Gestalt undurchlässiger Erdschichten] bringt Wasser [Quellen, Bäche und Flüsse] hervor; Wasser (shuǐ 水) bringt Holz hervor … Im Zyklus wechselseitiger Überwindung (kè 克) überwindet Wasser das Feuer; Feuer überwindet Metall; Metall überwindet Holz; Holz [Grabstock] überwindet Erde; Erde [Deiche und Dämme] überwindet Wasser; Wasser überwindet Feuer …

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1. dào 道 und die Welt

Im Laufe der Zeit kommen alle möglichen Korrespondenzen hinzu – verwoben zu einem hochkomplexen Weltbild (siehe Tabelle 2). In dem aus yīn–yáng und wǔ-xíng geknüpften Netz haben alle Phänomene Platz. Manches Ineinander und Auseinander leuchtet unmittelbar ein, anderes überrascht, wieder anderes scheint weit hergeholt und gezwungen zu sein. Tabelle 2: Resonanzgeschehen entlang der Fünf Wandlungsphasen in ihrer Wechselwirkung mit yīn und yáng Pentagonik

Holz

Feuer

Jahreszeit

Frühling

Hochsommer Nachsommer Herbst

Winter

Weltgegend

Osten

Süden

Mitte

Westen

Norden

Hitze

Feuchtigkeit

Trockenheit Kälte

Atmosphärisches Wind

Erde

Metall

Wasser

Planet

Jupiter

Mars

Saturn

Venus

Tier

Drache

Phönix

Einhorn

Schildkröte Mensch

Merkur

Tierspiel

Hirsch

Affe

Bär

Kranich

Tiger

Fēngshuǐ-Tier

Drache

Phönix

/

Tiger

Schildkröte

Sinnesöffnung

Augen

Zunge

Mund

Nase

Ohr

Ton

jiǎo角 Terz

zhǐ 徵 Quinte

gōng宮 Gr.ton

shāng商 Sek.

yǔ 羽 Sexte

Farbe

Grün/Blau Rot

Gelb

Weiß

Schwarz

Geschmack

Sauer

Bitter

Süß

Scharf

Salzig

Geruch

Ranzig

Verbrannt

Süß

Verrottet

Faulig

Emotion

Zorn/Wut

Freude

Grübeln

Trauer

Angst

Ausdruck

Schreien

Lachen

Singen

Weinen

Stöhnen

Pos. Disposition

Vertrauen

Spiritualität

Gelassenheit Sensibilität Wünschen

Neg. Disposition Misstrauen Habgier

Ehrgeiz

Sturheit

Begierde

Gewebe

Sehnen

Gefäße

Muskeln

Haut/Haare Knochen

Speicherorgan

Leber

Herz

Milz

Lunge

Niere

Palastorgan

Galle

Dünndarm

Magen

Dickdarm

Blase

Bipolarität

yáng

yáng

yīn

yīn

yīn

Dieses bipolar und pentagonisch verschlungene Ordnungsmuster ist seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts auch bei uns 21

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

als Lehre von den Entsprechungen/Korrespondenzen bekannt, chinesisch gǎn-yìng 感應, aus gǎn 感 »bewegen/berühren/beeinflussen« und yìng 應 »antworten/Echo« zusammengesetzt. Das untere Element »Herz« 心 verweist in beiden Zeichen auf ein Geschehen, das den Menschen betrifft, berührt und ergreift. So ist gǎn-yìng auch treffend mit »Anrühren und Antworten« 12 übersetzt. Wer den chinesischen Begriff gǎn-yìng mit »Re-sonanz« oder »Kon-sonanz« überträgt, unterstreicht die Bedeutung der Musik als Grundthema der alten Philosophie. Musik ist in diesen Texten allgegenwärtig – diskursiv (siehe II.6) wie metaphorisch. So heißt es von Konfuzius, dass er die Worte des Gegenübers »von allen Seiten [wie eine Glocke] abzuklopfen (kòu 叩) pflegt« 13. Und im Zhuangzi ist ein Musikmeister erwähnt, der mit Musikinstrumenten das dào vorführt als Große Harmonie – die Welt als Klang: Mit diesen Worten stimmte er zwei Lauten, platzierte die eine im Saal, die andere im Nebenraum. Als er auf einer Laute den Grundton (gōng 宮) anschlug (gǔ 鼓), da klang auf der anderen der Grundton mit; als er die Terz (jiǎo 角) anschlug, klang auf der anderen die Terz mit, denn beide waren auf denselben Ton gestimmt. 14

Resonanz/Konsonanz als gesamtkosmischer Zusammenklang liegt auch dem Yijing zugrunde: Was im Ton übereinstimmt, schwingt miteinander. Was wahlverwandt ist im innersten Wesen, das sucht einander […]. Was vom Himmel stammt, fühlt sich verwandt mit dem, was oben ist. Was von der Erde stammt, fühlt sich verwandt mit dem, was unten ist. 15

Bis in die Neuzeit hinein erscheint diese zwei- und fünffach gegliederte Philosophie im Grunde geeignet, die Fülle der Wirklichkeit zu ordnen, ohne die Phänomene theoretischer Abstraktion zu opfern. Im Gegenteil, spontan sich einstellende Assoziationen sorgen für beständige Rückkoppelung an die Lebens- und Erlebenswelt.

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2. Wind, Atem und qì 氣

In den Jahrhunderten vor Christus entwickelt sich aus alten Wind-, Sturm- und Wolkengottheiten die Denkfigur qì, kosmische Lebenskraft, die in allem west und wirkt. Dem Treiben der Wind- und Wettergötter verdankt sie Varianten an Intensität, die im Widerstand und Widerstreit zu erproben sind. Dem rhythmisch erfahrenen Atem verdankt sie das Geschehen zwischen zwei Polen, und allem zusammen verdankt sich die Einheit der Welt.

Eingetauschter Weltenraum Wind als »Urahn« begleitet das Lebenskraftkonzept qì durch die Jahrhunderte. Bis heute steht das Wortzeichen für Wind fēng 風 austauschbar mit qì. Zeigt das früheste Schriftzeichen drei Wolkenschichten, die noch im heutigen Kurzzeichen für qì 气 zu erkennen sind, so ist auch in den Sturmwolken der Wind von Anfang an mitgedacht. Neben dem Wind und verwandt mit ihm empfiehlt sich als »Sitz im Leben« der Atem. Damit gründet eine der signifikanten altchinesischen Denkfiguren in ganz gewöhnlicher sinnlich-leiblicher Erfahrung: im Wind, der mich umspielt, im Atem, der mich durchströmt. Diese Logik teilt die altchinesische Philosophie mit der altindischen (prana), der vorsokratisch-griechischen (pneuma) und anderen archaischen Weltauslegungen. An mindestens drei Stellen verwendet das Zhuangzi Wind, Atem, qì austauschbar. Im ersten Kapitel steht xī 息 (Atmen), dem Kommentar zufolge, für qì bzw. fēng 風 (Wind). Dem unmittelbar folgenden Satz hat die Lebenskraft das schöne Bild von den »wilden Pferden« (yě-mǎ 野馬) zu verdanken. Es zielt auf die in großer Höhe dahingaloppierenden Wind- und Wolkengestalten: »Wilde Pferde! Staub! Atem, den die Lebewesen miteinander tauschen!« 16 Im zweiten Kapitel ist qì als Atem

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

der Erde gedacht: »Diese große Erde stößt ihren Atem aus (yī-qì 噫氣); man nennt ihn Wind (fēng 風).« 17 Wenn im Zhuangzi Werden und Vergehen, Leben und Sterben nichts weiter bedeuten als Wandlung von Lebenskraft, so begegnet auch hier Identität von Atemhauch und qì: »Leben des Menschen ist Sammeln von qì; sammelt es sich, gilt das als Leben; zerstreut es sich, gilt das als Tod.« 18 Das tiefe Atmen »aus den Fersen« (zhǒng 踵) kennzeichnet dann auch die wahrhaftigen Menschen (zhēn-rén 真人) (siehe III.1), die aus der Tiefe ihres Daseins schöpfen, während »die Menge nur aus der Kehle (hóu 喉) atmet« 19. Anmutung von Wind beim Ein- und Ausatmen hat mehr als zweitausend Jahre später und in einer anderen Ecke der Welt Rilke zu einem Gedicht veranlasst: Atem, […] eingetauschter Weltraum […]. Wie viele von diesen Stellen der Räume waren schon Innen in mir. Manche Winde sind wie mein Sohn. 20

Bipolares Geschehen Dem bipolaren Geschehen beim Atmen wird die chinesische Wortzusammensetzung hū-xī; 呼吸 gerecht, wobei, leicht nachvollziehbar, der Laut »huuu« dem Ausatmen und »hsi« dem Einatmen entspricht. Den bipolaren Atemrythmus bezeichnet auch das Wortzeichen jié 節, das im oberen Element »Bambus« 竹 auf die regelmäßig wiederkehrenden Bambusknoten verweist. Eingeatmete Lebenskraft sammelt sich in Form zählbarer Atemzüge in der Lunge. So ist die Lunge in China Rhythmusgeber des Lebens und nicht wie bei uns das Herz! Als rhythmisch-verlässliches Geschehen ist der Atem verschieden vom Wind, der weht, wo und wann und wie er will: »Man könnte sagen, der wütende Wind sei das Symbol des reinen Zorns, des Zorns ohne Gegenstand, ohne Vorwand.« 21 In seinem »Talisman«-Gedicht spricht Goethe ein sechsfach differenziertes Atemerleben an, explizit das Füllen und Leeren, Engen und Weiten, implizit Rhythmus und Intensität. Alle ereignen sich bipolar: Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehen, sich ihrer entladen.

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2. Wind, Atem und qì 氣

Jenes bedrängt, dieses erfrischt! So wunderbar ist das Leben gemischt. Du, danke Gott, wenn er dich presst, Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt. 22

Übung 1: Atmen Atmen geschehen lassen, nachspüren im Einklang mit Goethes Gedicht. Füllen und Leeren. Einatmen (xī 吸) ist Füllen (shí 實) mit Atemluft, Ausatmen (hū 呼) ist Leeren (xū 虛). Das Wortzeichen shí zielt auf die (volle) Frucht und bedeutet schon in alter Zeit »Fülle« im Sinne von Reichtum und »das Volle« im Sinne fester Körperdinge. Das Wortzeichen für Leeren xū verweist etymologisch auf einen von Menschen verlassenen Hügel. In zwei weiteren Bezeichnungen für das Atemgeschehen kehrt lautmalerisch und graphisch das »Leeren« wieder. Beide werden analog (xū) ausgesprochen, allein die Graphik ist verändert: Dem »verlassenen Hügel« 虛 wird je ein weiteres Zeichen hinzugefügt. In beiden Fällen geht es um Varianten an Intensität: 虛+欠 虛+口

歔 (xū) »durch die Nase qì ausstoßen/kräftig atmen«; 噓 (xū) »hauchend qì ausstoßen/seufzen«

Über Wind- und Atemgeschehen hinaus kommen als Sitz im Leben der Denkfigur Fülle und Leere von Lebenskraft auch die Jahreszeiten infrage. In einer auf Feldbau beruhenden Gesellschaft wird der Jahreszyklus rhythmisch erfahren – die fruchtbare Fülle von Frühling und Sommer (yáng), die das Herz erfreut, und die von Farben entleerte Kargheit der winterlichen Natur (yīn): Berge und Wälder, ach! Fruchtbares Land, ach, machen mich heiter und froh! Die Freude ist noch nicht zu Ende, da folgt ihr schon der Kummer. 23

Nicht nur Nacheinander von yīn-qì (Fülle) und yáng-qì (Leere), auch das Ineinander und Auseinander-Hervorgehen ist im Geschehen der Jahreszeiten mitgedacht. Verdichten jù 聚 und Zerstreuen sàn 散. Sobald qì in den frühen Texten als in sich schlüssige Denkfigur begegnet, sind Wind- und Wettergötter verflogen. In der Philosophie herrscht die eher nüchterne Vorstellung, 25

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

dass kosmische Energie zwischen den Polen der Verdichtung jù und feinster Zerstreuung sàn pendelt. Auch dieser polaren Grundfigur des Sammelns und Zerstreuens liegt, neben Ernte und Aussaat, rhythmisches Atmen zugrunde. Einatmen als Füllen ist Verdichten, Ausatmen als Leeren ist Zerstreuen von Atemhauch. Aus dem Hin und Her der Lebenskraft gehen, wie im Daodejing und Huainanzi geschildert (siehe I.1), die »Zehntausend Wesen und Dinge« (wàn-wù 萬物) hervor; qì differenziert sich, dann entfaltet sich Leben; qì entdifferenziert sich, dann nennt man das Tod; qì verdichtet sich, dann sind die Dinge fest, sicht- und tastbar; qì zerstreut sich, dann sind sie im Fluss – sichtbar wie Wasser, schon nicht mehr fassbar wie Nebel und Dunst – zuletzt unsichtbar, doch immer noch spürbar als Atmosphären tages- und jahreszeitlicher, zwischenmenschlicher oder auch göttlich-numinoser Art (siehe Diagramm 1). Engen qū 屈 und Weiten zhāng 張 / chí 弛. Mit Füllen und Leeren, Verdichten und Zerstreuen verknüpft ist das Erleben von Enge und Weite. Schon tiefes Einatmen, erst recht Anhalten des Atems, bewirkt Engung, die gleich darauf nach Weitung verlangt. Auch ein Seufzer der Erleichterung, der den Körper verlässt, entkommt in Weite. Das eine bedingt das andere, und das eine geht aus dem anderen hervor. Im TalismaneGedicht setzt Goethe Engen mit Bedrängnis und Weiten mit Erfrischung gleich. Lecoq als Tanzlehrer und Tänzer erfährt dieses bipolare Körperleib-Geschehen als Ziehen und Stoßen: Alles, was der Mensch in seinem Leben macht, [kann] in zwei wesentlichen Handlungen zusammengefasst werden […]: »ziehen und stoßen«. Wir tun niemals etwas anderes! 24

Heranziehen als Engen, Wegstoßen als Weiten vollziehen sich in vertikaler, horizontaler oder auch diagonaler Richtung. Richtungsraum ist in den Wortzeichen zhāng 張 und chí 弛 impliziert, die beide »weiten/ entspannen« bedeuten. Beide tragen den »Bogen« 弓 im Zeichen, der ent-spannt den Pfeil in die Weite entlässt. Als Inbegriff von Weite ist das dào im Daodejing dann auch als »ge-längter Bogen« zhāng-gōng 張 弓 (!) veranschaulicht. 25 Der Gegenbegriff zu zhāng 張 und chí 弛 ist qū 屈, dessen Grundbedeutung: »beugen/krümmen/unterwerfen« die Engung sinnfällig vor Augen führt.

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2. Wind, Atem und qì 氣

Diagramm 1: Bipolare Dynamik des qì 氣 verdichten zerstreuen füllen/engen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . leeren/weiten fest/tastbar/sichtbar

flüssig

dunstig

unsichtbar/spürbar

Als kosmische Lebenskraft ist qì zuständig für die Beschaffenheit der Wesen und Dinge in der Welt, im Geschehen zwischen den Polen sorgt sie zugleich für deren Dynamik in Zeit und Raum – im Werden (chéng 成) und Vergehen (huǐ 毀), Erscheinen und Verschwinden. Auf der Erde pulsiert qì in Flüssen und Bergen, Bäumen und Pflanzen; am Himmel hält qì Sonne, Mond und Sterne auf ihrer Bahn, türmt sich zu Wolkengestalten, stürzt herab als Licht, Regen, Frost und Tau … Bei Mensch und Tier liegt qì verdichtet vor in Knochen und Fleisch, fließend in Blut, Tränen und Schweiß, spürbar als Wille, Lebens- und Geisteskraft. Bis heute bedeutet shēng-qì 生氣 (qì hervorbringen) »zornig sein« und erinnert daran, dass auch Gefühle nichts anderes sind als im Vorüberwehen geprägte Form von Lebenskraft (siehe I.3). So evident ist den alten Philosophen das Einheitsverständnis von qì, so selbstverständlich das »Sowohl dies als auch das« der alles durchdringenden Lebenskraft, dass Mensch und Welt, Körper und Geisteskraft durch nichts auseinanderzudividieren sind. Ruhen jìng 靜 und Bewegen dòng 動. Mit Wind und Atem, dem Lauf der Jahreszeiten als Sitz im Leben, dem bipolaren qì-Geschehen selbst kann die Welt gar nicht anders wahrgenommen werden als ununterbrochen im Fluss: yīn und yáng und die Vier Jahreszeiten bewegen sich kreisend und jedes nach seiner Ordnung. [Zuweilen sieht es aus wie] Verdunkelung, als ob [die Wesen und Dinge] verschwänden, und doch sind sie da; als ob sie sich von selbst ins Gestaltlose wendeten, und doch sind sie erfüllt von Lebensgeist (shén 神). 26

So unangreifbar sind Bewegung und Wandlung gedacht, dass man sich fragt, wann denn nun Ruhe sich endlich einzustellen gedenkt! Erst wenn im Sterben »das qì abbricht« 27? Nicht einmal dann! Denn Rückkehr ins strudelnde dào 道, »in dem alles Werdende gärt«, verspricht durchaus nicht »ewige Ruhe«. Ruhe und Stille sind dann im chinesischen Denken auch immer 27

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

nur relativ gedacht und je nach Kontext dem yīn, der Erde, der Nacht, dem Winter, dem Weiblichen, der fest-verdichteten Manifestation des qì zugeordnet, während yáng als das je Entgegengesetzte gilt: Bewegung, Himmel, Tag, Sommer, Männlich, fein-zerstreut und flüchtig … Ruhe begegnet, wenn der Wind sich legt, und im Atem, unmittelbar bevor am Dreh- und Angelpunkt der Umschlag ins Gegenteil erfolgt: »Die Wende (fǎn 反) ist die Bewegung des dào« 28. Hier meldet sich bereits die Denkfigur der Schonung, denn ohne Ruhepunkt kommt es zu Hecheln und Atemnot (siehe I.6): Übung 2: Ruhe in der Bewegung Die rechte Hand, Handinnenfläche nach oben gewandt, schließt sich kraftvoll zur Faust und öffnet sich ebenso kraftvoll in die Streckung der Finger – in einer ununterbrochenen Bewegung. Nach einer Minute sind Hand und Arm müde und erschöpft. Nun die linke Hand! Handinnenfläche nach oben gewandt, kraftvoll schließen zur Faust, ebenso kraftvoll öffnen in die Streckung der Finger, dann aber vor dem nächsten Schließen eine Zwischenstation einlegen in lockerer Fausthaltung und entspannen! Wie bei der rechten Hand, eine Minute lang: Faust-Strecken-Entspannen-Faust-Strecken-Entspannen. Eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten – keine Müdigkeit, keine Erschöpfung. 29 Umgekehrt ist extreme Ruhe je nach Kontext entweder Trägheit, Monotonie oder Stagnation und ebenso zu meiden wie das andere Extrem. Frühe Texte legen relative Ruhe dann auch als verlangsamte Bewegung nahe, als Verzögerung, z. B. beim Zerlegen des Ochsen: Sobald [des Messers Schneide …] auf Verdichtungen trifft zwischen Knochen und Gelenken, sehe ich die Schwierigkeit, nehme mich in Acht, verlangsame das Vorgehen mit angehaltenem [konzentriertem] Blick, bewege das Messer aufs Allerfeinste (siehe II. Exkurs).

Dass im alten China Menschen klagen über Mangel an Ruhe und Muße, mag uns, in einer kaum überbietbar beschleunigten Lebenswelt, unverhältnismäßig erscheinen. Schon Nietzsches sarkastische Schilderung der »Zerstreuungs- und Auseinanderstreuungsmittel« 30 der Zeitgenossen klingt verstiegen von heute aus betrachtet. Und doch bittet der König von Wei aus Zeitnot um Instant-Unterweisung ins dào:

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2. Wind, Atem und qì 氣

Ich habe gehört, dass Ihr, Großer Mann, umfassend im Bilde seid über das dào. Wegen Verpflichtungen im Ahnentempel fehlt mir die Zeit (bù-xiá 不睱) [lange] zuzuhören. Nur das Wesentliche vom dào will ich erfahren – in zwei, drei Worten. Das genügt! 31

Ob bei solcher Eile und Ungeduld die Belehrung hilfreich war? »Wer auf Zehenspitzen steht, steht nicht! Wer im Spagat vorwärtshastet, kommt nicht voran«, warnt Vers 24 im Daodejing. Im Zhuangzi geht es in einem Gespräch zwischen Konfuzius und dem Herzog von Ye um Beunruhigung anderer Art, um die Angst, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein mit Begleiterscheinungen wie Zittern, Hitze und Enge. Der Herzog, der sich mit einer heiklen Botschaft in den Nachbarstaat Qi begeben soll, »zittert« vor Aufregung. Dem Zittern fehlt – wie dem Vibrieren – das Ruhemoment: Ich bin ein Mensch, der [auch bei heißem Wetter] nicht auf Kühlung bedacht ist. An dem Tag aber, an dem ich morgens diesen Befehl erhielt, musste ich abends Eiswasser trinken, so heiß war mir geworden. Ich bin noch nicht einmal mit der eigentlichen Angelegenheit befasst, und schon sind mir yīn[-qì] und yáng[-qì] durcheinander geraten. 32

Konfuzius, um Rat befragt, plädiert für emotionslose Übermittlung der Botschaft: Ist man aufgeregt (dà-zhì 大至) […], dann sind die Worte wie Wind und Wellen. Fährt man so fort, fährt auch die Sachlichkeit dahin (shí-sàng 實喪). 33

Mangelnde Sachlichkeit, fatal in einer schwierigen »gemeinsamen Situation« (siehe I.5), treibt das Gegenüber atmosphärisch in die Enge: »bedrängt ihn bis an den Kern [des Wesens]« (kè-hé 剋核), so dass »er brüllt wie ein wild gewordenes dem Tod geweihtes Tier«. 34 Der König von Wei, der Herzog von Ye halten inne im Bewusstsein ihrer Not und bitten um Rat. Andere denken nicht daran, sind unterwegs »in rasendem Galopp« auf der Jagd nach Reichtum und Besitz, den sie »noch nicht einmal aufbrauchen können« 35. Damals schon sind Wunsch und Begehren ein Fass ohne Boden, und so »führt in drei von zehn Fällen Geschäftigkeit zum [vorzeitigen] Tod« 36. Um mit der Lebenskraft hauszuhalten (sè 嗇) 37, sollte man Hetze und Hast vermeiden, Einkehr und Ruhe halten, die Lebenskräfte sammeln. Unter anderem heißt das: Bleib, wo du bist – zuhause! Tritt man nicht vor die Tür, erkennt man, was unter dem Himmel ist. Schaut man nicht aus dem Fenster, erblickt man das dào.

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Je weiter man weggeht, desto weniger erfährt man. So bewegt sich der Vorbildliche (shèng-rén 聖人) nicht fort und weiß doch um alles. Er sieht nichts und benennt doch alles. Er greift nicht ein (wú-wéi 無為), und doch vollendet sich alles. 38

Ruhen als Schweigen mò 默. Verknüpft mit dem Atmen ist Reden nichts anderes als »Ausstoßen (chū 出) von qì« – auch wenn »Worte mehr sind als bloßer Hauch (吹 chuī)« 39. Schweigen, wer will das bestreiten, ist Schonung von Lebenskraft! Die letzte Zeile im soeben zitierten Text fordert auf zum wú-wéi 無為, wörtlich »Nichts tun«, genauer gesagt, »nicht absichtsvoll, schon gar nicht gewaltsam in den Lauf der Dinge eingreifen«. Dieser und der in Vers 37 analog formulierte Satz »NichtsTun, und nichts bleibt ungetan« (wú-wéi ér wú bù-wéi 無為而無不 為) 40 lässt sich umformulieren zur paradoxen Wendung vom »beredten Schweigen« und lautet dann »Nichts-Sagen, und nichts bleibt ungesagt« 41. Dass Ruhen als Stillsein geboten sein kann, ist auch uns nicht fremd: Schweigen ist Gold. Umso mehr, da selbst harmlos gemeinte Worte zwischenmenschlich Realitäten schaffen oder sie einfärben wie »Farbe die Seide« 42. Im Daodejing gemahnen mehrere Verse zum Schweigen: »Wer weiß, spricht nicht! Wer spricht, weiß nicht!« »Belehren ohne Worte, handeln ohne Absicht – gar selten ist das in der Welt.« 43 Das Wortzeichen für Schweigen mò 默 assoziiert einen schwarzen 黑 Hund 犬, der alle Laute verschluckt. Im Zhuangzi ist das gesamte zweite Kapitel dem Streit mit Worten gewidmet: »Wenn [Worte] davonschnellen wie das Pfeil-Ende von der Armbrust, geht es immer um Richtig und Falsch!« 44 Müßig erscheinen Zhuang Zhou die sprachlogischen Debatten der verschiedenen Philosophenschulen. Auch die scharfsinnig-schillernden Wortspiele seines Freundes Huizi imponieren ihm letztlich nicht. Worte auf die Waage zu stellen, ist nicht wichtig, denn Unterscheidungen in einer »Welt im Fluss« können immer nur vorläufig sein, situativ und relativ. Lebendiges lässt sich nicht festschreiben, und Begriffe, vermeintlich »sichere« Stützen des Denkens, verstellen nur den Blick auf Wesen und Wandlung der Dinge selbst: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

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2. Wind, Atem und qì 氣

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott. Sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar, ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um. 45

Rilke war ohne Zweifel ein moderner Verfechter der Begriffs- und Deutungsskepsis in unserer Welt. Auch Nietzsche verlor bittere Worte über das Gerede, Mangel an Stille und Schweigen: Alles redet, alles wird zerredet; und was heute noch zu hart für den Zahn der Zeit, wird morgen schon zerschabt und zerschunden aus hundert Mäulern hängen […]. Alles redet. Niemand will zuhören. Alle Wasser rauschen zum Meere, jeder Bach hört nur sein eigenes Rauschen. Alles redet. Niemand will verstehen. Alles fällt ins Wasser. Nichts aber fällt in tiefe Brunnen. 46

Variante des Schweigens im Zhuangzi ist die Absage an das Wissen von der Welt: »Alles wissen zu wollen, was man wissen kann, ist das nicht oberflächliches Beginnen?!« 47 Umso mehr als das Leben des Menschen zwischen Himmel und Erde so hoffnungslos kurz ist: wie ein weißes Fohlen, das über den Graben setzt, betrachtet durch einen Spalt [in der Mauer] – und schon vorbei! [… Wusch -] wie das Ziehen eines Bogens aus seinem Köcher. 48

Auch Konfuzius, unterwegs von Hof zu Hof, um die Fürsten zu belehren, zieht sich gern ins Schweigen zurück: Redet etwa der Himmel? Die Vier Jahreszeiten gehen ihren Gang, alle Wesen und Dinge (bǎi-wù 百物) wachsen heran. Redet dabei etwa der Himmel?! 49

Ruhen als Stillsitzen jìng-zuò 靜坐 ist eine an dieser Stelle nur kurz bedachte Variante von Ruhe in der Bewegung, da der Meditation der dritte Teil des Buches gewidmet ist. Stillsitzen bezieht sich im Zhuangzi auf die Versenkung in Weite und Leere des dào. Meditation ist Rückkehr zum Ursprung, und »Rückkehr zum Ursprung ist Stille« 50. So schließt sich der Kreis (siehe Abb. 1).

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Abb. 1: Der kosmische Kreis Wer sich in Versenkung selbst vergisst, ist im Besitz der »dunklen Perle« (xuán-zhū 玄珠) – ein weiteres Bild für einen Schatz, der stets in Reichweite ist – das daò: Huangdi (der Herr der Gelben Erde) wandelte nördlich des roten Flusses und bestieg den Berg Kunlun. Nach Süden schauend, [von wo er gekommen und] wohin er zurückkehren würde, verlor er seine dunkle Perle. Er sandte Wissen aus, sie zu suchen, doch Wissen fand sie nicht. Er sandte Scharfblick aus, sie zu suchen, doch Scharfblick fand sie nicht. Er sandte den aus, der mit Worten streitet, sie zu suchen, doch [auch dieser] fand sie nicht. Zuletzt sandte er Selbstvergessen aus, und Selbstvergessen fand sie. Da sprach der Herr der gelben Erde: »Seltsam, fürwahr, dass allein Selbstvergessen die Perle fand!« 51

Zwischen Füllen und Leeren, Verdichten und Zerstreuen, Engen und Weiten, Ruhen und Bewegen, Schweigen und Reden ist qì-Geschehen mehr als »Hin und Her« zwischen zwei Polen. Das jeweilige yīn im yáng bzw. yáng im yīn sorgt zugleich für Spannung, die nach Auflösung drängt. Als Widerstreit der Kräfte zündet sie Bewegung und treibt die Wandlung voran: »Wer einatmet (xīxī 歙歙), muss unweigerlich auch [wieder] loslassen (zhāng 張).« 52 Bipolare Prozesse sind demnach mehr als Hervorbringung und Rückkehr, sind ebenso Überwindung, Widerstreit und Kampf. Deshalb »tötet« (shā 殺) das Herbst-qì das Sommer-qì und wird seinerseits vom winterlichen Kälte-qì verdrängt.

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3. Körper, Leib und Körperleib

Die im Deutschen naheliegende Unterscheidung von »Körper (haben)« und »Leib (sein)« hat sich seit den 1960er Jahren in Philosophie, Kunstgeschichte, Psychologie und Medizin bewährt. 53 An dieser Stelle kann sie helfen, altchinesische Begriffe phänomenologisch zu erfassen, d. h. in unmittelbarer Nähe der Erfahrung selbst. Ist das andere Verständnis einmal nachvollzogen, ist jedes andere Wort recht. Zunächst wird zwischen tast- und sichtbarem Körper und dem spürenden/gespürten Leib kategorisch differenziert, bevor chinesische Körperleibbegriffe zu sichten sind. Aus der Vielfalt von Regungen, die leiblichem Spüren situativ Struktur verleihen, hat die altchinesische Philosophie Begehren, Wollen, Wünschen und Emotionen herausgehoben und ausgiebig bedacht.

Differenz ja – Dualismus nein Obschon in Europa, spätestens seit dem 20. Jahrhundert, Dualismen wie »Materie vs. Geist«, »Körper vs. Seele«, »Welt vs. Gott« in Verruf geraten, tragen die geschichtlich geprägten Begriffe die Spaltung immer noch mit sich herum. Nietzsche schrieb obsessiv dagegen an: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. […] Der Leib ist eine große Vernunft. […] Werkzeug Deines Leibes ist auch Deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du »Geist« nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft. 54

Wir beherrschen nicht nur Sprache, Sprache beherrscht bekanntlich auch uns. Einverleibte Denk- und Sprechmuster zu verlassen, ist schwer und strengt an. Immer wieder fallen wir darauf zurück und herein. Dass moderne Medizin und Naturwissenschaft – mit »objektivierter« Naturgesetzlichkeit befasst – auf Welt- und Selbstspaltung geradezu angewiesen sind, erschwert den Befreiungsschlag. Jede Wissenschaft 33

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

setzt Abstand voraus, d. h. personale Emanzipation 55. So weit – so gut! Alle profitieren davon, wenn wir Wissenschaft auf ihrem Felde gelten lassen. Wenn diesem Weltzugriff aber »Alleinvertretungsrecht« 56 zuerkannt wird, läuft das darauf hinaus, die »Sonnenflecken an der Mauer« im Winter 57, das »Licht in den Pfützen für später« 58 nur noch wahrzunehmen per Teleskop oder Mikroskop und ebenso »gewappnet« zu sein, wenn wir das »Glück suchen in den Wiesen« 59. Dann aber sind wir schlecht beraten in der Lebenskunst: Der eine beobachtet und rechnet: er setzt sich selbst in Klammern, zumindest bemüht er sich darum. Der andere singt und liebt. Er versucht, eine Quelle in sich zu öffnen, die an dem Punkt aufzubrechen scheint, wo das Ich sich in das Universum fügt. 60

Wo Wissenschaft auf Distanz geht zu den Wesen und Dingen der Welt, sitzt Lebenskunst mittendrin, geht nachbarlich darin spazieren. Lebenskunst in Routine und Rationalität des Alltags einzustreuen, bedeutet, in andere Wörter zu schlüpfen, Sprachspuren und Sprachstandorte zu wechseln, in anderen Sprachbildern eine Bleibe zu suchen. Sind wir festgelegt auf Trennung von Subjekt und Objekt, ist es kaum möglich, andere Welten zu entdecken, wie eingangs mit Nietzsche versprochen.

Körper und Leib Solange wir leben, sind der tast- und sichtbare Körper und der spürende Leib aneinander gebunden, aufeinander angewiesen – in China wie anderswo. Ein- und Ausatmen geht als Spürphänomen mit dem tast- und sichtbaren Heben und Senken des Brustkorbs einher! Dabei handelt es sich um zwei ganz verschiedene Sachverhalte, je nachdem wo und wie Aufmerksamkeit gerade verweilt. Spüre ich beim Ausatmen Weitung, so senkt sich, d. h. engt sich gleichzeitig tast- und sichtbar der Brustkorb, spüre ich Engung beim Einatmen und Atem-Anhalten, weitet sich tast- und sichtbar der Brustkorb. Übung 3: Wahrnehmung des Körpers Mit offenen Augen und Händen den tast- und sichtbaren Körper abklopfen, seine durch Knochen, Fleisch und Muskeln geprägte, durch Haut und Blutgefäße gemaserte, in Rumpf, Arme, Beine und Gelenke proportionierte Form mustern. 34

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3. Körper, Leib und Körperleib

Der Körper, lat. corpus (auch »Leichnam«, engl. corpse), das Gebilde, das ich sehend, tastend, messend, objektivieren kann, ist noch eine Weile da, selbst wenn Leben schon daraus entwichen ist. Übung 4: Wahrnehmung des Leibes Augen schließen, auch die Hände nicht zu Hilfe nehmen, vergessen, was gerade gesehen und betastet wurde, das eigene Spiegelbild vergessen; stattdessen aufmerksam spürend wahrnehmen, was sich jetzt an Phänomenen spürbar meldet: Jucken, Kribbeln, Herzklopfen, Hunger in der Magengrube, d. h. vage lokalisierte Regungen, sogenannte »Leibesinseln« 61. Neben solcherart teilheitlichen Regungen stellen sich gesamtleibliche Empfindungen ein, wie Atem, Kälte oder Wärme, Frische oder Müdigkeit, Anspannung oder Entspannung, aber auch Gefühle, Freude oder Zorn, die mich ganzheitlich durchströmen. Das Wort »Leib« hat etymologisch mit »Leben« zu tun und ist das, was ich als lebendiger Mensch situativ und subjektiv an mir und von mir spürend wahrnehme. Endet der sichtbare Körper an der Haut, reicht das Spüren darüber hinaus: ein Sommertag, der uns freundlich umspielt, Freude, die wir teilen mit Mensch und Tier, ein Gewitter von Zorn, das sich über uns zusammenbraut, Rhythmen und Melodien, die in die Glieder fahren; Schneeland im Winter, das besänftigt, da es alle Ungereimtheiten verschluckt; Morgenstimmung, die uns mitnimmt in die Lust am Leben. Wie das konkret geschieht, über welche Wege die Welt uns findet und über welche Brücken wir in die Welt hineingelangen, wird nachgefragt, wenn weiter unten von Resonanz die Rede ist zwischen Mensch und Welt (siehe I.5).

Körperleib Analytisch-objektivierend und aus der Distanz heraus mit dem tast-, sicht- und messbaren Körper befasst – mussten europäischer Philosophie und Wissenschaft Besonderheiten und Feinheiten des Spürens verborgen bleiben. Dank der Dichter, Maler und Musiker, dank einer bis noch vor kurzem von Wissenschaft unbeeinflussten Alltagswahrnehmung hat sich subjektives Spüren bis heute seine Nischen bewahrt – 35

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

aller Rationalisierung zum Trotz. Wen rührt nicht ein Lob, ein Gedicht oder eine Musik? Und wer zweifelt daran, dass Situationen im Alltag oft spürend erfasst sind, bevor das Denken einsetzt, und wer, dass Begegnungen mit Menschen immer wieder emotional verstricken – zuweilen mehr als uns lieb sein kann?! Auf der anderen Seite der Erde bleibt gespürte Lebenskraft Drehund Angelpunkt der Selbstbesinnung. Philosophie und Medizin kreisen um die Pflege von Leib und Leben. Wenn differenziert wird, dann mit Vorliebe zwischen »Innen« und »Außen«. Aber »Innen« und »Außen« sind durchlässig gedacht, nicht wirklich geschieden – so wie Körper, Gefühl und Geist nur graduelle Verdichtungen sind von Lebenskraft. Das chinesische Phänomen »Vorrang des Leibes, ohne den tast- und sichtbaren Körper zu unterschlagen« sei im Folgenden Körperleib genannt. In chinesischen Texten steht manchmal der tast- und sichtbare Körper im Vordergrund, dann wiederum der gespürte Leib, immer aber steht das Ganze auf dem Spiel. Die Wortzeichen xíng 形 und tǐ 體, in altchinesischen Texten austauschbar gebraucht, unterscheiden sich, wenn überhaupt, durch den Fokus auf Form/Gestalt (xíng 形) respektive Gliederung/Struktur (tǐ 體). Beide Wortzeichen zielen auf die sichtbare äußere Erscheinung, die »ein Bewusstsein (shén) schützend umfasst« (xíng-tǐ bǎo-shén 形 體保神) 62. In beiden Fällen sind die zugeordneten Innenkräfte identisch, in Tabelle 3 nur unterschiedlich gereiht nach dem Kriterium ihrer Häufigkeit. Die Innenaspekte werden uns beschäftigen, wenn es um Formen des Bewusstseins geht (siehe I.4). Tabelle 3: Außen- und Innenaspekte des Menschen Außen wài 外

Innen nèi 內

yīn 陰

yáng 陽

xíng 形 (Gestalt)

1. shén 神 (Geisteskraft) 2. xīn 心 (Herz) 3. jīng 精 (Essenz)

tǐ 體 (Gliederung)

1. xīn 心 (Herz) 2. shén 神 (Geisteskraft) 3. jīng-shén 精神 (Feinstessenz)

xíng-tǐ 形體

Zusammensetzung aus xíng und tǐ

gōng 躬 qū 軀

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3. Körper, Leib und Körperleib

gōng 躬 und qū 軀. Nicht anders als xíng und tǐ und deren Zusammensetzung zu xíng-tǐ 形體 zielen gōng und qū auf den ungeteilten Körperleib. Seltener im Gebrauch sind Differenzierungen schwer zu erfassen. Dem Wörterbuch nach steht das Wortzeichen qū synonym mit shēn 身 (Leib), das in beiden Wortzeichen gōng 躬 und qū 軀 auf der linken Seite als Sinnelement erscheint. shēn 身, in alten Texten ebenso häufig wie xíng und tǐ, bezeichnet die Persönlichkeit in ihrer körperleiblichen Gesamtheit: mein »Ich« als lebendiges Glied in der langen Kette der Ahnen oder mein »Selbst« im Konzept konfuzianischer »Selbstkultivierung« (xiū-shēn 修身). In seiner ganzheitlichen Bedeutung trifft sich shēn mit unserem Wort »Leib«, was die Etymologie des Zeichens bestätigt. Das alte Piktogramm stellt einen Menschen dar mit vorgestelltem Fuß und einem inhaltsschweren Bauch – eine schwangere Frau, d. h. den lebendigsten Leib, den wir uns vorstellen können, ein Leib, der mit werdendem Leben schwanger geht. Noch heute bedeutet yǒu-shēn 有身 »einen shēn haben«, d. h. »schwanger sein« (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Kalligraphische Schreibweisen von shēn 身 Neben den genannten Wortzeichen für Körperleib/Leib kommt in einer Reihe weiterer Begriffe der tast- und sichtbare Körper in den Blick (siehe Tabelle 4). Doch auch diese Wortzusammensetzungen unterstellen bei allem Fokus auf einzelne Körperteile das unteilbare Ganze menschlichen Seins. Einzig shī 屍 »der Leichnam«, ist auf den tast- und sichtbaren Körper beschränkt, aus dem Leben schon entwichen ist. So begegnen in der altchinesischen Terminologie »sowohl Körper als auch Leib«. Alle Bewegungskünste, einschließlich der Meditation, sind im Grunde immer mit beidem befasst als ein in Raum und Zeit agierender Körperleib.

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Tabelle 4: Körperteile pars pro toto wǔ-guān五官

Fünf Sinnesöffnungen

sì-zhī 四支

Vier Abzweigungen/Gliedmaßen

liù-zàng 六臟

Sechs Organe

gǔ-ròu 骨肉

Knochen und Fleisch

ròu-tǐ 肉體

der gegliederte Körperleib aus Fleisch

xùe-ròu-zhi-tǐ 血肉之體

der gegliederte Körperleib aus Blut und Fleisch

shēn-tǐ- fà-fū 身體髮膚

der Körperleib aus Haar und Haut

Leibliche Regungen Leibliche Regungen interessieren die altchinesischen Philosophen, wenn es darum geht, extremen Verhaltensreaktionen zu wehren – Ausdruck von Verirrung und Verwirrung der Gefühle. Durchgängig wird angenommen, dass Begehren, Wollen und Wünschen durch Außenreize ausgelöst sind und Emotionen dem Begehren auf dem Fuße folgen. Die Wortzeichen für Begehren (yù 欲), Wollen (zhì 志) und Wünschen (wàng 望) sind austauschbar gebraucht und als leibliche Regungen zunächst weder gut noch schlecht. Als vitaler Drang dem altgriechischen eros vergleichbar, umfasst yù das »Vierfache Große Begehren« (四大欲 sì-dà-yù), d. h. Trinken-Essen-Mann-Frau (飲食男女 yǐn-shí nán-nǚ), aber auch Schlafen und das Bedürfnis, vor Kälte und Hunger geschützt zu sein. Solcherlei Begehren hat seine Berechtigung, und die wiederkehrende Aufforderung, »das Begehren zu mindern« (guǎ-yù 寡 欲), gilt nur bei Zügellosigkeit und Übermaß. Gewarnt wird also vor Lust, Gier und Habsucht, die der Lebenspflege und Selbstkultivierung ebenso abträglich sind wie dem Einklang mit dem dào. Als warnendes Beispiel von Egoismus dient im Mengzi ein gewisser Yang Zhu, der sich kein Haar krümmen will, selbst wenn er die Welt damit retten kann. Die harschen Worte im Mozi über Musik, Tanz und Luxusleben der Zeitgenossen gelten dem »Zuviel des Guten«, wobei dem Gegenteil rigoros das Wort geredet ist, Verzicht und Askese! Konfuzianern und Daoisten wiederum ist Übertreibung nach beiden Seiten unsympathisch. Mengzi spottet: »Jemand wie Chongzi muss sich erst in einen Erdwurm verwandeln, bevor er seine Prinzipien 38

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3. Körper, Leib und Körperleib

verwirklichen kann« 63, und im Zhuangzi ist kaum weniger ironisch von Shan Bao die Rede, einem Adepten der Lebenspflege, der als Einsiedler in den Bergen sein Leben fristet: Er lebte im Staate Lu zwischen Felsklüften, trank Wasser, hielt sich fern von den Menschen und deren Streben nach Gewinn. So hatte er es auf siebzig Jahre gebracht, und sein Antlitz war frisch wie das Gesicht (sè 色) eines Säuglings […]. Zu seinem Unglück begegnete er einem hungrigen Tiger, der ihn tötete und fraß. 64

Vor Übertreibung schützt nur die Formel »Mitte und Maß« (zhōngyōng 中庸) (siehe I.6). Der vitale Antrieb – mag er verwirren und verführen – als Errungenschaft der Person ist er willkommen, wenn Begehren, Wollen und Wünschen auf Selbstkultivierung gerichtet sind. Dann sind die spontanen Impulse durch Willenskraft zu dämpfen und zu regeln (zhì 治) – um der moralischen Werte willen, aber auch, wie Mengzi zu bedenken gibt, im Sinne der Lebenspflege: Der Wille (zhì 志) ist der Lehrer des qì; qì erfüllt den Körperleib (tǐ 體); gelangt der Wille dahin, so folgt ihm qì. Deshalb sage ich: Halte an deinem Willen fest und schädige nicht dein qì. 65

Gefühle und Emotionen qíng 情. Im Feld der Empfindungen herrschen angeborene und erworbene Gefühle. Erstere entfalten sich aus den Uraffekten »Nichts wie hin!« aus Zuneigung zu dem, was wir »lieben« (hào 好), und »Nichts wie weg!« von dem, was wir »hassen« (wù 惡). Hier begegnen, wie schon beim Atmen, die leiblichen Dimensionen von Engen und Weiten, Ziehen und Stoßen (siehe I.2). Differenzierte Gefühle, wie Freude und Liebe, Furcht und Einsamkeit, Trauer und Leid, Zorn, Ärger und Hass, gehören im Buch der Lieder 66 zum poetischen Repertoire der anonymen Dichter und Liedermacher im ersten Jahrtausend v. Chr. Bevor sich mit der Zuordnung zu den Fünf Wandlungsphasen die Pentagonik durchsetzt (siehe Tabelle 2), ist immer wieder von sechs oder auch sieben Gefühlsäußerungen die Rede – übereinstimmend mit der altchinesischen Zahlensymbolik. Was die Philosophen ihrer Beschäftigung mit dem Gefühlsleben abgewinnen, sind weder Definitionen noch subtile Abgrenzung der Empfindungen. Vielmehr interessiert, wie damit umzugehen sei, denn die Zeitgenossen sind heillos in Emotionen verstrickt: 39

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Lust und Zorn, Kummer und Freude, Sorgen und Seufzer, Unbeständigkeit und Zögerlichkeit, Ausschweifungen und Arroganz entstehen wie Töne aus hohlen [Bambusrohren], wie Pilze aus feuchter Wärme. 67

Das Wortzeichen für Gefühl/Emotion qíng 情, aus 心/忄(Herz) und 青 (Blau/Grün) zusammengesetzt, assoziiert mit der Farbe Grün die im Frühjahr explosiv-aufbrechende Vegetation. In Tabelle 2 ist sie dann auch dem Wind, Zorn und Schreien zugeordnet. Damit ist unterstellt, dass Gefühle leicht umschlagen in ein »Zuviel« und dann empfindlich das Gleichgewicht stören. »Zuviel« kann beides sein: Intensität des Ausbruchs, aber auch der auf Dauer gestellte Gemütszustand. So sind extreme Gefühle – nicht anders als Begehren, Wollen und Wünschen im Übermaß – im Zaum zu halten, zu meiden. Auch zwerchfellerschütternde Freude und »nichts als Heiterkeit« trüben auf Dauer das Bewusstsein, untergraben Selbstachtung und Würde. In diesem Teufelskreis der Extreme scheint die Übersetzung von qíng mit »Emotion« gerade richtig zu sein – im Unterschied zum eher neutralen Wort »Gefühl«. Maßvoller Umgang mit Emotionen zeichnet Konfuzius zufolge den moralisch edlen Menschen (jūn-zi 君子) aus und ist Voraussetzung guter Ordnung in Gesellschaft und Staat – umso dringlicher bei politischen Umständen, die als »Zeit der Kämpfenden Staaten« in die Geschichte eingegangen sind. Anderen war es mehr um Schonung und Pflege des Lebens zu tun. Wieder andere sorgten sich um ein »stilles und leeres Herz« als Tor zur Unmittelbarkeit des dào. Gefühlsräume und -richtungen. Noch vor Xunzi, der als erster die Emotionen systematisch abhandelt, führt der Autor des Zuozhuan Gefühle auf, die er als die »Sechs Willensregungen« (liu-zhì 六志) zusammenfasst: Zuneigung (hào 好), Abneigung (wù 惡), Freude/Lust (xǐ 喜), Zorn (nù 怒), Kummer (āi 哀) und Heiterkeit (lè 樂). 68 Sie äußern sich körperleiblich in Weinen (Kummer), Singen und Tanzen (Heiterkeit), Hingabe (Freude und Lust), Kampf und Streit (Zorn). Ursächlich führt er sie auf sechs klimatische Atmosphären zurück, die Sechs qì (liù-qì 六 氣), d. h. yīn und yáng, Dunkelheit, Helligkeit, Regen und Wind. 69 Zweierlei ist hier impliziert. Erstens, emotionale Zustände sind in ihrer klimatischen Entsprechung Innen wie Außen. Auch das Wortzeichen qíng 情 suggeriert, dass Gefühlsatmosphärisches als ein Unverfügbares von außen zukommen kann, bedeutet qíng doch bis heute 40

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3. Körper, Leib und Körperleib

nicht nur »Emotion«, sondern auch zwischenmenschliche »Situation«, die als solche immer mehr oder weniger emotional aufgeladen ist. Zweitens impliziert die Wahrnehmung von Emotionen als Willensimpulse, dass Gefühle gerichtet sind und als räumlich erfahren werden. Zuneigung heißt »Nichts wie hin!« und Abneigung »Nichts wie weg!« Zorn. Richtung und Räumlichkeit suggeriert das Bild von der Kappe, die »anschwillt, wenn der Zorn ausfährt«. Dass bei Zorn »qì [die Welt bis zu den Sternzeichen des] Rindes und des Großen Bären erfüllt«, verweist ebenfalls auf Richtungs- und Raumerleben. Analog identifiziert das Wortzeichen nù 怒 Gefühlsraum mit »Richtungsraum« 70: Als Substantiv bedeutet es Zorn/Wut, als Adverb steht es für »üppig blühende« Gräser und Bäume, »heftig anschwellende« Wasser und »wild rasende« Stürme und verweist so auf die dem Zorn eigene ausfahrende, auflodernde Bewegung. Auch der zornige Blick (nù-mù 怒目) führt aus der Enge in die Weite. Heiterkeit und Freude. Auch Freude wird gefühls- und richtungsräumlich erfahren. Die Etymologie der Zeichen für Heiterkeit (lè 樂) und Freude (xǐ 喜) legt nahe, dass Freude beflügelt, beschwingt, erhebt, erst recht wenn sie geteilte Freude ist. Beide Piktogramme zeigen Musikinstrumente – ersteres den Schellenbaum, letzteres eine Trommel + Mund 口 – und erinnern an die Lieder des Shijing, zu denen gemeinschaftlich geklatscht und gestampft wird (siehe II.4). Noch das modernchinesische Wortzeichen für »froh« gāo-xìng 高興 – aus »hoch« (gāo 高) und »Erhebung/Aufbruch« (xìng 興) zusammengesetzt – verweist auf Leichtigkeit, die als erhebend erlebt wird. Scham. Ausfahrendem Zorn, erhebender Freude richtungsräumlich entgegengesetzt ist das Erleben von Scham. Das Wortzeichen chǐ 恥 – mit Herz (心) und Ohr (耳) geschrieben – lässt mit dem heutigen Ausdruck »[vor Scham] rot werden bis zu den Ohrwurzeln« (hóng dào ěr-gēn 紅到耳根) auf ein Gefühl von Enge und Hitze schließen. In einer für seine Person höchst schmachvollen Lebenssituation findet Sima Qian (145–90 v. Chr.), kaiserlicher Historiograph, zu vielsagenden Sprachbildern, um dem Empfinden von Enge, beengender Hitze und Schweiß Ausdruck zu verleihen: Selbst wenn hundert Generationen darüber hingehen, meine Schande wird nur immer noch größer. Das sind Gedanken, die mich neunmal am Tag bedrängen […]. Ununterbrochen muss ich über meine Schändung nachgrübeln, der Schweiß tritt immer wieder hervor auf meinem Rücken und nässt mir die

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Gewänder […]. Ach, wenn es mir doch vergönnt wäre, mich aus allem herauszuziehen und mich fernab in einer Felsenhöhle zu verkriechen. 71

Trauer, Kummer, Leid. Auch andere, Scham und Schande vergleichbare, bedrückende und beengende Gefühle sind den Menschen dieser Zeit mehr als vertraut. Eine Vielzahl von Wortzeichen liegt im Buch der Lieder dazu vor: yōu 憂 und bēi 悲 für Trauer, āi 哀 für Kummer, chóu 愁 für Leid und mēn 悶 für Beklemmung. Außer Kummer tragen alle das Sinnelement Herz 心 im Bild. In den Wortzeichen chóu 愁 (Leid) und mēn 悶 (Beklemmung) ist die Fundierung im leiblichen Spüren mehr als sinnfällig: chóu 愁 zeigt das menschliche Herz 心 im Herbst 秋 (qiū), dem in China wie bei uns Melancholie als Gemütsstimmung entspricht; mēn 悶 wiederum zeigt ein Herz 心, das sich anfühlt wie zwischen zwei Türflügeln 門 eingeklemmt. Was bei intensiv erlebten Gefühlen mit dem Atem geschieht, thematisieren altchinesische Philosophen nicht. Umso mehr sind seit der Frühen Kaiserzeit Mediziner damit befasst: qì stockt bei Kummer und Leid, qì ist »durchgängig« bei Freude und Lust. Anders gesagt, Atem blockiert, wenn der Körper vor Trauer, Gram und Scham geduckt und zusammengefaltet ist; Atem fließt, sobald sich die Brust öffnet und weitet, die Wirbelsäule aufgerichtet ist. Gefühlsatmosphären der Natur. Das Spüren heilsamer Atmosphären der Natur ist kein Thema altchinesischer Philosophie! Wenn Konfuzius behauptet, »der Wissende erfreut sich am Wasser, der Tugendhafte am Gebirge« 72 (siehe II.7), hat er menschliches Verhalten im Sinn: Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit (Wasser), Beständigkeit und Würde (Gebirge). Und doch muss auch diesem Gedanken intensives Erleben von Naturatmosphären vorausgegangen sein – Freude am plätschernden Quellbach, der über Fels und Stein seinen Weg sucht ins Tal; Andacht vor einem Berg, der, fest mit der Erde verwachsen, sich über die Wolken erhebt. Nicht einmal in daoistischen Kreisen ist die Natur bevorzugter Ort für den Einklang mit dem dào. Solcherart Hinwendung wird in den Jahrhunderten nach Christus vollzogen und vor allem im ChánBuddhismus gepflegt. Zwar ist Zhuang Zhou, mit und ohne Freund Huizi, immer wieder in der Natur unterwegs, am Fluss, in den Bergen, im Süden, im Norden. Doch das dào ist allgegenwärtig und jeweils »dort zu erlangen, wo man sich befand« 73. 42

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3. Körper, Leib und Körperleib

Umso aufschlussreicher ist eine Textstelle aus dem Lunyu. Drei von vier Schülern, von Konfuzius nach ihrem Herzensbestreben (zhì 志) befragt, tragen weltverbessernde Pläne vor. Der vierte, der die Zither zupfend zuhört, hegt andere Wünsche – gefühlsatmosphärischer Art: Wenn der Frühling sich neigt, mit ein paar Freunden und Knaben am Yi-Fluss baden, den Wind um mich spüren am Regenaltar, Lieder singen, Gedichte rezitieren und heimkehren. 74

Konfuzius will es mit diesem halten, der – statt Zukunftspläne zu schmieden – sich einrichtet in Atmosphären des Augenblicks und der Natur. Anders als die Philosophen sind altchinesische Dichter und Sänger der Natur voll zugewandt. Im Buch der Lieder und den Gesängen des Südens (Chuci) 75 liegt eine Überlieferung vor, die mit Vorliebe das Wechselspiel zwischen Natur und Mensch, zwischen jǐng 景 (Landschaft) und qíng 情(Gefühl) poetisch gestaltet: Jene Hirse hängt schwer, jene Hirse sprosst. Langsam zieh’ ich des Weges: mein Herz bedrückt. Wer mich kennt, sagt, ich sei traurig! Wer mich nicht kennt, dass ich auf der Suche sei! Endlos-azurblauer Himmel, sag’: Wer hat das getan? 76

Üblicherweise wird diesem »Wechselspiel« unterstellt, dass Menschen ihre Gefühle in die Natur projizieren, hier das bedrückte Herz auf die schwer hängende Hirse. Soll es ein echtes Wechselspiel sein, muss eine Erklärung her, die beide Seiten berücksichtigt: das Hineingeraten in atmosphärische Stimmungen. 77 Unabdingbar für Wechselwirkung ist die Bereitschaft des Menschen, mitzuempfinden und sich einzuschwingen auf die Natur. Umso mehr, wenn nach altchinesischer Vorstellung dieselben Lebens- und Gestaltungskräfte Innen (Mensch) wie Außen (Natur) wirksam sind. Resonanz setzt Einleibung 78 voraus, eine geteilte übergreifende Situation, die als quasi-leibliche Einheit empfunden wird. Wie der Leib selbst ist sie dialogisch strukturiert, kann als Zusammenklang oder als Widerstreit erfahren sein. Zusammenklang bewirkt Weitung, Widerstreit Engung. Das Wechselspiel ist also leiblich fundiert und kein Ergebnis von Projektion. In den Jahrhunderten nach Christus wird die Philosophie in China, nicht anders als im alten Griechenland, Emotionen verinnerlichen und 43

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

auf das Herz zentrieren. Im Buch der Riten (Liji) 79, wie zuvor im Zuozhuan (siehe oben), sind die am und vom eigenen Leib gespürten Emotionen nach wie vor durch klimatische Atmosphären bewirkt. Zeitgleich behauptet schon das Huainanzi, »innere Trauer« sei von äußeren Einflüssen unabhängig. Die Resonanzmedizin vollzieht die Verinnerlichung mit, nicht aber die Zentrierung aufs Herz. Emotionen bleiben auf »Leibesinseln« verteilt, die sogenannten Speicherorgane: Tabelle 5: Emotionen und Speicherorgane nù 怒

Wut/Zorn – Leber

xǐ 喜

Freude – Herz

sī 思

Grübeln – Milz

bēi 悲

Trauer – Lunge

kǒng 恐

Angst – Niere

Um dieser Zuordnung »das Fremde« zu nehmen, sei an analoge, ebenso leiblich fundierte Sprachbilder unserer eigenen Kultur erinnert. Wer sich ärgert, dem ist »eine Laus über die Leber gelaufen«; dem anderen »geht die Galle über«, so dass er »Gift und Galle spuckt«; dem Dritten »hüpft das Herz vor Freude!«; Sorge »schlägt auf den Magen«, Trauer und anhaltender Druck nimmt der Lunge die Luft zum Atmen. Dass Verinnerlichung mit Ichbehauptung zu tun hat gegen von außen andrängende Gefühlsmacht, ist nicht von der Hand zu weisen, weder hier noch dort. Die altchinesische Körper-Leib-Lehre zusammenfassend, lässt sich behaupten, dass das »Sowohl-als-auch« gleich mehrfach vertreten ist: Dem Sowohl Körper als auch Leib bei Vorrang des Leibes ist die Zusammensetzung »Körperleib« geschuldet, der terminologische Vorschlag für die einheitliche Wahrnehmung von Mensch und Welt. Begehren, Wollen und Wünsche sind sowohl gut als auch schlecht; Gefühle und Emotionen sind sowohl Innen als auch Außen. In der Ablehnung extremer Gefühle wirbt die altchinesische Philosophie für Maß und Mitte (siehe I.6) als Bemühen um Selbstkultivierung.

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Niemand zweifelt daran, dass ich mir in meinen leiblichen Regungen näher bin als alles andere. Je intensiver, desto ununterscheidbarer bin ich mein Schmerz! Auch daran nicht, dass »ich mich nicht erst aufheben muss wie einen Stein, um mich zu spüren als den, den etwas angeht« 80. Das mitlaufende Bewusstsein der eigenen Identität – und sei es noch so diffus – ist dem Wortzeichen shén 神 (Lebenskraft und Geisteskraft) so selbstverständlich immanent, dass in Abwandlung von Nietzsches »Leib bin ich ganz und gar!« der altchinesische Philosoph von sich sagen kann: shén 神 bin ich ganz und gar! Selbst wenn eine der beiden Bedeutungen, Lebenskraft oder Geisteskraft, in den Vordergrund rückt, ist die andere immer mitgedacht. Auch im Wortzeichen xīn 心 (Herz) scheint der ganze Mensch auf. Doch nicht nur Ganzheit bei Differenz suggerieren die Begriffe, die in Tabelle 3 (siehe I.3) als Bewusstseinsaspekte der körperleiblichen Außenansicht gegenübergestellt sind. Mit welchem Wortzeichen auch immer umschrieben, Bewusstsein ist im alten China mehr als vernünftiges Denken, mehr als Verstand, der Abstand nehmend die Phänomene auf Identität und Verschiedenheit prüft und die Welt danach ordnet. Bewusstsein ist nicht einmal auf den Menschen beschränkt, greift eindeutig über ihn hinaus, denn shén (Geisteskraft), jīng 精 (Essenz) und jīng-shén 精神 (Feinstessenz) sind Lebenskräfte, die im gesamten Kosmos wirken, sich unterschiedlich manifestieren und nur unter anderem als menschliche Geisteskraft. Die vier Wortzeichen shén, jīng, jīng-shén und xīn (Herz) sind zunächst im altchinesischen Kontext zu erschließen, um sie dann aus phänomenologischer Perspektive so zu arrangieren, dass Formen des Bewusstseins hervortreten: zwischen »eigenleiblichem Spüren« (Identität) auf der einen Seite über »schonendes Explizieren« bis hin zum distanzierten »Anderes-Bewussthaben« (Identifizierung) auf der anderen.

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shén 神 (Geisteskraft) Zu shén liegen mehrere etymologische Erklärungen vor. Alle verweisen auf die Grundbedeutung einer im Kosmos verstreuten Lebensenergie: shén ist Manifestation von qì 氣 in seiner feinsten Ausprägung. Vor diesem Hintergrund ist es nicht abwegig, die auf einem neolithischen Töpferwerkzeug eingeritzte Zeichnung (siehe Abb. 3) wie folgt zu deuten. Hier kommt etwas vom Himmel herunter, tritt am Kopf in den Menschen ein! Sollte die Himmelserscheinung ein Blitz, Gewitter, Sturm oder eine Wolke sein, so erinnert das an die Etymologie des Zeichens qì 气 (siehe I.2). Geringe Umweltbeherrschung ist in vor- und frühgeschichtlicher Zeit immer vorausgesetzt, so dass in einer numinos wirksamen und zugleich unberechenbaren Welt die Lage des Menschen mehr als prekär ist. Vor diesem Hintergrund mag die viertausend Jahre alte Zeichnung dem Versuch einer kosmischen Selbstaufwertung gleichkommen und, damit verknüpft, den Ursprung chinesischer Lichtmetaphorik veranschaulichen: das Leuchten des Geistes (shén-míng 神明).

Abb. 3: Neolithische Ritzzeichnung Denn wenn ein Blitz in Form eines hellen Lichtstrahls plötzlich und unvermittelt vom Himmel ausgesendet auf einen Menschen trifft und ihn durch Elektrisierung gewissermaßen »erleuchtet«, so könnte man annehmen, dass diese Person vom Blitz selbst in irgendeiner Form auserwählt wurde. Bemerkenswert ist auch der Ort, an dem der Blitz eintrifft – mitten auf dem Kopf. 81

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Spätestens im dritten Jahrhundert v. Chr. sind archaische Visionen von der Welt, wenn nicht verschwunden, so doch durch konkrete Vorstellungen ergänzt. In einem Text aus dem Grab von Mawangdui (siehe II.1) tritt shén 神 in den späteren Schwangerschaftsmonaten in das werdende Menschlein ein, verweilt bei ihm bis zum Tode als je spezifische Lebens- und Geisteskraft. Lösen wir unser Wort »Geist« aus einem dualistischen Denkzusammenhang, um alle möglichen Bedeutungen, die es in verschiedenen Redewendungen auch bei uns haben kann, zusammenzufassen. Dann ist es gerechtfertigt, shén 神 mit »Geist« oder »Geisteskraft« zu übersetzen: Lebensgeister, die nach einer langen Krankheit wiederkehren; Persönlichkeit eines Menschen – frei nach Hamlet: »Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört!« Geister im Sinne der Gespenster/Toten- und Ahnengeister, Himmel- und Erdgeister und nicht zuletzt shén für Götter analog dem Heiligen Geist.

jīng 精 (Essenz) und jīng-shén 精神 (Feinstessenz) Mit dem Sinnelement 米 (Reis) im Wortzeichen jīng 精 ist die Grundbedeutung »Reis verlesen« schon angedeutet. Die davon abgeleitete Bedeutung »Essenz« definiert jīng als einen erlesenen qì-Aspekt. Wie die Geisteskraft shén ist jīng im gesamten Kosmos, einschließlich des Menschen, als feine Wirkkraft gegenwärtig. So beugt auch das Konzept jīng einer Trennung von Mensch und Welt, von Innen und Außen vor: Die Essenz jīng verleiht den Wesen und Dingen Leben: Unten bringt sie [auf der Erde] die Fünf Getreidesorten hervor und oben die [am Himmel] aufgereihten Sterne. Fließt [Essenz] zwischen Himmel und Erde, so redet man von Dämonen und Geistern. Sammelt jīng sich in der Brust eines Menschen, so nennt man ihn einen Vorbildlichen (shèng-rén 聖人). 82

Bald meldet sich das Bedürfnis, zwischen den jīng-Manifestationen am Himmel, auf der Erde und in der Brust des Menschen zu differenzieren. Das führt zu folgenden Zusammensetzungen: Essenz + míng (Licht) jīng–míng 精明: Leuchtkraft von Sonne, Mond und Sternen Essenz + qì jīng-qì 精氣: Lebenskraft der Wesen und Dinge auf der Erde, im Gebirge und im Wasser Essenz + shén jīng-shén 精神: eine menschliche Geisteshaltung, die dem Zhuangzi zufolge je nach Lebenswandel auf das dào gerichtet 47

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sein kann oder auf nichtige (bó 薄), hemmende (jiǎn 蹇) Angelegenheiten der Welt. 83

xīn 心 (Herz) Mit dem Wortzeichen xīn 心 drängt ein spezifisch menschlicher Regungsherd ins Bild und verdichtet sich. Sind shén und jīng im Körperleib fließend gedacht, so erscheint das Herz im alten Piktogramm zunächst nüchtern als substanzielles Organ (siehe Abb. 4).

Abb. 4: Piktogramm des Zeichens für »Herz« (mit der abgehenden Aorta) Herz als Ort meditativer Versenkung. Umso vielseitiger erweist sich das Herz als »Spürorgan« in der altchinesischen Philosophie. Das Zhuangzi unterscheidet zwischen dem Herzen als Speicherorgan, als primus inter pares unter anderen Organen, und dem Herzen als Ort meditativer Versenkung. In letzterer Funktion schlägt auch das Herz eine Brücke in den Kosmos – nicht anders als jīng 精 und shén 神. Voraussetzung ist das Stillen des Herzens (jìng-xīn 靜心), das Leeren des Herzens (xū-xīn 虛心), das Fasten des Herzens (xīn-zhāi 心齋). Nur ein von Absichten und emotionalen Verwirrungen freies Herz ist »vollkommen« (chéngxīn 成心) und geeignet, Lehrer (shī 師) und Wegweiser zu sein zum dào. Meditatives Sitzen-und-Vergessen (zuò-wàng 坐忘) ist im Zhuangzi demnach Herzensangelegenheit. Auch das Xunzi, ein Text, der bei allem Eigen-Sinn zur Nachfolge des Konfuzius zählt, definiert das Herz als Instanz meditativer Bewusstheit: Das, wodurch der Mensch das dào erkennen kann, nenne ich das Herz; das, wodurch das Herz [das dào] erkennen kann, nenne ich Leeren (xū 虛), Einsmachen (yī 一) und Stillen (jìng 靜). 84

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Neben meditativer Konzentration erfüllt das Herz im Xunzi zwei weitere Funktionen, von denen die eine nach innen, die andere nach außen gerichtet ist: Regulierung des eigenleiblichen Spürens. Nach innen gerichtet, d. h. dem eigenleiblichen Spüren zugewandt, nimmt das Herz Begehren und Emotionen in den subtilsten Anfängen wahr, um im Vorfeld regulierend (zhì 治) einzugreifen. In dieser Funktion begnügt sich das Herz nicht, wie im Zhuangzi, mit der Rolle des Lehrers, es hat sich bereits zum Fürsten (jūn 君) aufgeschwungen – mit Befehlsgewalt. 85 Herz als Erkenntnisorgan. Für den Sachbezug nach außen rüstet Xunzi das Herz mit einer umfassenden Erkenntnisfähigkeit (zhēng-zhī 徵知) aus, mit einem auf Evidenz (zhēng 徵) gegründeten unterscheidenden Wissen. In dieser Erkenntnisleistung ist das Herz auf die Vermittlung der Sinnesöffnungen angewiesen, um Außenreize zu sondieren und intelligent zu verarbeiten: Folglich wartet das Herz darauf, dass die Sinnesbeamten (tiān-guān 天官) die verschiedenen Gattungen (lèi 類) registrieren, dann erst kann es erkennen (zhēng-zhī 徵知). Die Fünf Sinnesbeamten registrieren [nur], aber wissen von nichts; [allein] das Herz sorgt für Evidenz (zhēng 徵). 86

Erkenntnis setzt voraus, dass das Herz die Außendinge in ihrer Identität (tóng 同) und Verschiedenheit (yì 異) differenziert (fēn 分) und benennt (míng 名). Angemessenheit zwischen Bezeichnung (míng 名) und Realität (shí 實), Lieblingsthema der Philosophen im Umkreis des Mozi, ist Xunzi zufolge nicht wesensmäßig begründet, ist vielmehr Übereinkunft, Konvention. Vom »angemessenen« Reden verspricht sich Xunzi auch nicht Wissen um des Wissens willen. Sein Denken kreist um die gute Ordnung und harmonisches Zusammenleben in Gesellschaft und Staat. Nur auf den ersten Blick ähnelt die mit den Sinnesöffnungen kooperierende Erkenntnis- und Deutungsinstanz des Herzens im Xunzi der psyche (Seele), die Alkmaion von Kroton (ca. 500 v. Chr.) im Gehirn lokalisiert. Bei aller lebenspraktischen Differenzierung von Einzeldingen verliert Xunzi nicht die Einheit der Welt aus dem Blick, die auch er über die alles verbindende Lebenskraft qì gewährleistet sieht: Wasser und Feuer haben Lebenskraft qì, können aber nicht wachsen (shēng 生); Gräser und Bäume können wachsen, aber nicht wissen (zhī 知); Gefieder-

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te und Vierfüßler haben die Fähigkeit [wahrzunehmen und] zu wissen, aber kein Pflichtbewusstsein (yì 義). Der Mensch vereint auf sich [alles]: Lebenskraft, die Fähigkeit zu wachsen (shēng 生), zu wissen (zhī 知) und Pflichtbewusstsein (yì 義). 87

Explizit wird im Xunzi die Einheit der Welt spätestens dann, wenn ihm das leere, stille und einheitlich-konzentrierte Herz Voraussetzung ist für Versenkung ins dào. So lassen sich die Herzensangelegenheiten im Xunzi wie folgt zusammenfassen: – meditativ-ungeteiltes Spüren – subtile Wahrnehmung von Emotionen und Begehren – Gefühlskontrolle – differenzierendes Wissen. Das Herz des Xunzi hat richtig zu tun! Doch damit nicht genug: Herz als moralische Instanz. Xunzi stellt seiner Aufzählung der angeborenen Emotionen – Freude, Zorn Kummer, Heiterkeit, Liebe, Hass und Begehren – zwei moralisch getönte und damit erworbene Verhaltensweisen voran: tuō 脱 (abfallen) und gù 故 (Zwischenfall). Dass beide im Kommentar als »Verfehlungen« gegen das Gesetz ausgewiesen sind, impliziert dreierlei. Erstens, sämtliche Verhaltensweisen, einschließlich der an dieser Stelle genannten sieben Emotionen, sind moralisch untragbare affektive Verwirrungen; zweitens, der Umgang mit Begehren und Emotionen ist grundsätzlich ein moralisches Problem; und drittens, auch dem Einhalten der Gesetze liegt moralisches Empfinden zugrunde, das gefühlsmäßig verankert ist. Damit bürdet Xunzi dem Herzen neben Spür-, Kontroll- und Erkenntnisfunktion eine weitere Zuständigkeit auf, die einer Instanz, die moralisch urteilt und handelt. Auch im Mengzi ist die moralische Zuständigkeit des Herzens expliziert. Mengzis Vier Herzensaspekte (sìduàn 四段) umfassen konkret Mitgefühl, Schamgefühl, bescheidene Zurückhaltung und nicht zuletzt die Fähigkeit, zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden – Gut und Schlecht im Hinblick auf ein geordnetes harmonisches Zusammenleben. Xunzi und Mengzi stimmen überein, wenn moralisches Gespür Kriterium ist, um Mensch und Tier zu unterscheiden. Während Xunzi aber moralisches Empfinden für anerzogen, für »gemacht« (wěi 偽) hält, sind Mengzi zufolge die Vier Herzensaspekte wie die Vier Gliedmaßen angeboren (tiān 天), so dass das menschliche Herz auch als 50

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Sprachrohr einer anthropomorph gedachten Himmelsmacht (tiān 天) infrage kommt.

Zwischen leiblicher und analytischer Intelligenz Diese auf den ersten Blick verwirrende »Bewusstseinslage« ist dem multi-tasking des Herzens geschuldet. Hinzu kommen weitere Begriffe: yì 意 (Sinn/Bedeutung/Vorstellung) und sī 思 (nachdenken, nachsinnen), die ihrerseits schillern. Beide Wortzeichen können Gegensätzliches bedeuten: entweder »klar differenzierte Gedanken fassen« oder »den Dingen sinnend nachhängen«. Die Verwirrung klärt sich, sobald sämtliche Denkfiguren auf einer Skala geordnet sind, die bei fließenden Übergängen verschiedene Verdichtungsmomente aufweist. Kriterium der Unterscheidung ist Selbstvergessenheit am einen, ausgeprägtes Ichbewusstsein am anderen Pol. Anders gesagt, Kriterien der Unterscheidung sind verschiedene Bewusstseinszustände zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression 88. Aus dieser Perspektive steht einer »leiblichen Intelligenz« auf der einen Seite eine »analytische Intelligenz« auf der anderen gegenüber. 89 Zwischen beiden Polen pendeln um die Mitte zwei weitere situative Bewusstseinsformen, »moralische« und »hermeneutische Intelligenz« (siehe Tabelle 6). Tabelle 6: Formen des Bewusstseins Leibliche Intelligenz shén, jīng, jīng-shén, xīn 神 精 精神 心

Moralische Intelligenz xīn 心

sī 思

Hermeneutische Intelligenz sī, shén, yì 思神意

Analytische Intelligenz xīn, yì 心意

Leibliche Intelligenz ist intensives Spüren. Das setzt voraus, dass Ichbehauptung und personale Emanzipation stark zurückgenommen sind zugunsten unmittelbarer Nachbarschaft zu den Phänomenen. Hier sind die – Mensch und Kosmos übergreifenden – Denkfiguren anzusiedeln, d. h. shén (Geist), jīng (Essenz), die Zusammensetzung jīng-shén (Feinstessenz) sowie zwei Aspekte des Herzens xīn: als Ort meditativer 51

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Stille dem dào zugewandt und als mitlaufende Spürinstanz beim Registrieren von leiblichen Sensationen und Emotionen. Wenn sämtliche Bewusstseinsformen shén, jīng, jīng-shén und xīn nichts anderes sind als verfeinerte Manifestationen von qì, dann ist der leiblichen Intelligenz ein vitaler Antrieb unterstellt, eine Lebenskraft, die der Mensch mit Tier- und Pflanzenwelt und dem gesamten Kosmos teilt. Schwächung der Ich-Präsenz ist Voraussetzung für meditatives Sich-Versenken. Sie kennzeichnet ungespaltene absichtslose Zuwendung zur Mit- und Umwelt als ein »Verweilen bei den Wesen und Dingen, ohne diese zu verletzen« (chù-wù bù shāng-wù 處物不傷物) 90. Im Zhuangzi ist die ungebrochene Eintracht des Menschen mit Vögeln, Vierfüßlern und anderen Wesen und Dingen in ein goldenes Zeitalter »höchster Wirkkraft« (zhì-dé 至德) 91 zurückverlegt. Diesen heilsamen Zustand gilt es, immer wieder zu aktualisieren! Das gelingt dem, der im Einklang lebt. Die Weltmenschen (shì-rén 世人) aber sind »widerstrebende Gastgeber den Dingen. Sie [glauben] zu kennen, was ihnen begegnet und lernen nicht kennen, was ihnen so nicht begegnet«. 92 Dem Blick zurück in die Urgeschichte entspricht im Daodejing die erste Lebensphase des Menschen, das reine Da- und Sosein des Säuglings, der aufgeht im gelebten Augenblick – Inbegriff absichtsloser Unverdorbenheit und deshalb auch gefahrloser Unschuld: Wer reichlich Wirkkraft in sich trägt, gleicht einem neugeborenen Kinde: Giftschlangen stechen es nicht, reißende Tiere packen es nicht, und Raubvögel stoßen nicht nach ihm. 93

Mehr als tausend Jahre später wird in unserer Ecke der Welt Nietzsche von sich und seinen Zeitgenossen mehr Nähe zu den Wesen und Dingen einfordern: Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden schauen […]. Man muss den Blumen, Gräsern und Schmetterlingen auch noch so nahe sein wie ein Kind, das nicht viel über sie hinwegreicht. 94

Leiblich intelligenter Umgang kennzeichnet auch den Koch (siehe II. Exkurs), der sich Schneidemesser und Ochsen zwar nicht »einverleibt«, aber ein-leibt, so dass im spürenden Erfassen der Situation eine spezifische Kompetenz in bewundernswerter Weise wie von selbst (zìràn) gelingt – die Kunst, einen Ochsen zu zerlegen. Hier liegt der 52

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Schlüssel zu allen Handwerksgeschichten im Zhuangzi. »Implizites Wissen«, in langjähriger Übung erworbene leibliche Intelligenz, ist intuitiv abrufbar als Gespür für situative Herausforderung. Dann glückt meditatives Tun im Einklang mit dem dào des Werkzeugs wie des Werkstücks (siehe II. Exkurs). Sogar im Mozi, wo mit Vorliebe über Begriffe, Gattungen, Behauptungen und Widersprüche gestritten wird, gilt die handwerkliche Meisterschaft im Umgang mit dem Handwerkszeug als »direkte, spontane, leibhaftige Wirklichkeitszuwendung« 95. Analytische Intelligenz. Auf der entgegengesetzten Seite der Skala ist nur das Herz anzutreffen und nur in seiner Funktion als Abstand nehmende Erkenntnisinstanz. Erkenntnis ist auf Um- und Mitwelt gerichtet oder auf Wahrnehmung eigenleiblicher Regungen, die nur aus dem Abstand heraus zu kontrollieren sind. Im Sachbezug auf die Außenwelt kommt das Herz nicht umhin, sich der Sinnesöffnungen zu bedienen, um Identität und Verschiedenheit der Wesen und Dinge, die begegnen, zu erkennen und zu benennen. Moralische Intelligenz. Um die Mitte pendelnd zwischen beiden Polen ist erneut das Herz gefragt und wiederum nur das Herz als Sitz moralischer Intelligenz. Das spezifisch menschliche Gewissensherz, das auf ethisch anspruchsvolle Situationen reagiert, pendelt nach beiden Seiten. Es kann dem leiblich-intuitiven oder dem analytischen Pol zugeneigt sein. Mengzi veranschaulicht den intuitiven Herzensaspekt des Mitgefühls mit der Geschichte vom Kind, das in den Brunnen fällt. Jeder beliebige Beobachter, davon ist Mengzi überzeugt, wird dem Kind spontan zu Hilfe eilen, ohne um sich selbst in Sorge zu sein. Wenn dem so ist, gehorcht das »mitleidvolle Herz« (cè-yǐn zhī xīn 惻隱之心) zweifellos einem leiblich verankerten, intuitiven Wissen vom rechten Tun. Das Gewissen (liáng-xīn 良心, wörtlich gutes Herz) ist Mengzi zufolge angeborene Gefühlsenergie. Xunzi wiederum nähert das moralisch urteilende Herz der analytischen Intelligenz an. Bevor Emotionen verstricken, greift das Herz beschwichtigend ein. Xunzis Herzmetaphorik kommt dieser Sicht der Dinge entgegen: das Herz als Fürst des Körperleibs, der für Klarheit des Bewusstseins sorgt. Hermeneutische Intelligenz zwischen leiblichem und analytischem Wissen. Äußert sich leibliche Intelligenz in spontaner Reaktion und schwei53

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gend, kommt analytische Intelligenz nicht umhin, Sprache differenziert einzusetzen. Nur so lassen sich Einzeldinge aus ihrer diffusen Bedeutsamkeit herausheben und gegeneinander abgrenzen. Hermeneutische Intelligenz widersetzt sich beidem, diskursiver Analyse wie dem Schweigen. Sie gesteht einem Reden Vorrang zu, das Sachverhalte sparsam und schonend expliziert und auch nur so weit, dass vielsagende Eindrücke unversehrt erhalten bleiben – in ihrer Gesamtheit und Geschlossenheit. 96 Literarische, insbesondere poetische Sprache, die sich mit Anspielungen, metaphorischen Umschreibungen begnügt, folgt hermeneutischer Intelligenz, um »die Situation als ganze und nicht nur als Steinbruch für einzelne Bedeutungen zu respektieren und im Auge zu behalten« 97 (siehe II.4). Hermeneutisch intelligent ist der sprachbildliche Umgang mit Welt und Wirklichkeit im Zhuangzi und zugleich radikal verschieden von der uns vertrauten Vorstellung von Wort und Bild als bloße Repräsentanten der Realität. So ließe sich unter Berufung auf das Zhuangzi der Repräsentationstheorie eine »Philosophie der Präsenz« 98 entgegensetzen: »Es hat einen Namen (míng 名), und es hat eine Realität (shí 實). Das macht die Dinge (wù 物) aus.« 99 Wer so spricht, behauptet, dass die Benennung ebenso zum Ding gehört wie der Sachverhalt selbst. Um dies an einem uns vertrauten Beispiel zu veranschaulichen: Das Wort »hart« klingt hart, das Wort »weich« klingt weich, d. h. Bezeichnung und Sachverhalt stimmen überein. Auch bei den Wörtern »eckig« und »rund« besteht Übereinstimmung von Lautgehalt (Bezeichnung) und Bedeutung (Sachverhalt). 100 Gedichte machen ausgiebig Gebrauch von lautlichem Eigensinn respektive klanglicher Eigenwirkung der Wörter (siehe II.4). Sind Wortzeichen, d. h. Begriffe/Namen (míng), so eingesetzt, dass die Dinge selbst im Gedicht, im Bild, im Wortklang präsent sind, dann kommen hermeneutische Intelligenz und Philosophie der Präsenz überein. Hierin unterscheidet sich das Zhuangzi auch vom Xunzi und den Philosophen im Umkreis des Mozi (480–390), denen der Name (míng 名) nichts anderes ist als bloße Konvention, also »Gast« (kè 客) der Realität (shí 實) (siehe oben). So scheint mir, von wenigen Ansätzen im Xunzi und Mozi abgesehen, altchinesische Philosophie eine hermeneutische Lehre von der Welt zu sein. Phänomenologisch obendrein, da sie nah den Phänomenen bleibt, die erfahren, gespürt, erlebt sein wollen und nicht bloß bedacht. Eine solche Philosophie ist vom Wunsch geleitet, die Verbunden54

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heit der Welt nicht zu zerreißen, Präsenz und Immanenz des dào nicht zu gefährden durch schürfendes Forschen und trennscharfe Analyse. Gelassen abwartend, was entgegenkommt, geht es umgekehrt darum, sich dem lebendigen Gesamtzusammenhang anzuvertrauen, ihn im eigenen Tun und Sein immer wieder neu und aktuell zu vollziehen. Nicht von Ungefähr fällt die formative Phase chinesischer Philosophie in eine Zeit, in der Natur und Mensch vielfältigen Lebensschädigungen ausgesetzt sind. Vor allem daoistische Denker kommen nicht umhin, »zu warnen und zu wehren«. Gefährdung im alten China bedeutet erstens instrumenteller Umgang mit Natur: Dass Rinder und Pferde vier Beine haben, das nennt man Natur (tiān 天). Den Kopf des Pferdes unters Zaumzeug zu zwingen, die Nase des Rindes [für den Ring] zu durchbohren, das nennt man Mensch (rén 人). Deshalb sage ich: Zerstöre Natur nicht durch menschliches [Zutun]! Mache die natürliche Bestimmung nicht durch Zwecke zunichte! 101

Zweitens ist Streit in der Welt – im Großen wie im Kleinen. Dem Großen Streit zwischen einzelnen Lehensstaaten, Königen und Fürsten, Chinesen und »Barbaren« verdankt die »Zeit der Kämpfenden Staaten« (463 bis 221 v. Chr.) ihren Namen. Kleiner Streit, ausgefochten über rechthaberische Worte, kennzeichnet aus der Sicht des Zhuangzi die »Hundert Philosophen« und deren endloses (wú-yǐ 無已) spitzfindiges (biàn 辯) Gerede (kǒu-tán 口談) über Dies und Das, als wüssten sie, was richtig und falsch ist. Besonders im zweiten Kapitel kritisiert Zhuang Zhou die Sprachverwirrspiele, wörtlich: »in [Phrasen]schmuck versteckte Aussagen« (yán yǐn yú róng-huá 言隱於榮華), spottet über Sätze wie: »Ein weißes Pferd ist kein Pferd« (bái-mǎ fēi mǎ 白馬非 馬) 102 – Behauptungen, die nur dazu dienen, die Benennung vom Gegenstand zu lösen, um Begriffe und Gattungen widerspruchsfrei zu handhaben. Mit Widerspruchsfreiheit kann Zhuang Zhou schon gar nichts anfangen, ist doch die Welt der Erfahrung voller Widerspruch und Paradoxie; yīn ist im yáng wie yáng im yīn enthalten, das Trübe im Klaren, das Helle im Dunkeln, das Gute im Schlechten, das Schlechte im Guten. »Beides gelten zu lassen« (liǎng xíng 兩行), bedeutet »ruhen in natürlicher Balance« (xiū-hū tiān-jūn 休乎天鈞). 103 Wenn es darum geht, in die Worte hinein zu lauschen und zu spüren, trifft sich der alte Daoist mit Wittgenstein:

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Das vertraute Gesicht eines Wortes, die Empfindung, es habe seine Bedeutung in sich aufgenommen, sei ein Ebenbild seiner Bedeutung, – es könnte Menschen geben, denen das alles fremd ist. (Es würde ihnen die Anhänglichkeit an ihre Worte fehlen.) 104

Gegen Begriffsverhärtung im geradlinigen analytischen Denken führen die verschiedenen Verfasser des Zhuangzi alle möglichen Verfahren ins Feld: variierende Wiederholungen, Paradoxien und nicht zuletzt sogenannte Krug- oder Becherworte als »Zeichen einer Wanderung der Bedeutung« 105. Nichts kann das Situative und Kontextuelle von Wahrnehmung und Behauptung besser veranschaulichen als der altchinesische Krug mit gewölbtem Boden, der sich neigt, sobald er gefüllt wird, und sich aufrichtet im Zustand der Leere – Sinnbild des dào, dazu sprachkritisch im besten Sinne. Krugworte sind »Sowohl-als-auch-Worte«, die situativ Unterschiedliches bedeuten. Sie schillern und schwanken, verbergen im Entdecken und sind hervorragend geeignet, Unsagbares in der Schwebe zu lassen. Eine Reihe solcher Wortzeichen wird uns noch begegnen, allen voran zhī 知 (wissen), das je nach Kontext Einzelkenntnis oder intuitiv-leibliches Wissen bedeutet. Das Zhuangzi spiegelt mehr als andere altchinesische Texte die bewusste Entscheidung für eine schonende, bildhafte, hermeneutische Explikation der Welt, die impliziert, dass alles Erleben situativ und subjektiv ist. Gerade so viel Sprache wird bildmächtig mobilisiert, dass die Ganzheit gewahrt bleibt – fern sophistischer und analytischer Zerlegungskunst. 106 Phänomene der Welt als Erlebensmomente gelten zu lassen, Eindrucksanalogien zusammenzustellen zu wechselnden zweifach und fünffach gegliederten Mustern, ist ein anderes Unterfangen, als stringent-logisches Denken zu üben, um der Welt durch widerspruchsfreie Analyse Stück für Stück objektive Wahrheiten zu entreißen. Dass analoge Denkansätze im alten China im Umlauf waren und sich doch nicht als erstrebenswert durchsetzen, zeigen Textpassagen der Epoche. Im Buch der Riten (Liji) sind Konfuzius die Worte in den Mund gelegt: »Vor beidem will ich mich hüten: das Verborgene zu erforschen und Wunder zu vollbringen!« 107 Sogar Xunzi, einer der scharfsinnigsten und logisch-diskursiven Denker dieser Zeit, warnt, dass analytischer Umgang, in diesem Fall mit den Riten (lǐ 禮), nur zu Verwirrung führt:

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Die Ordnung der Riten ist wahrhaft und tief[sinnig]. Wer sie ergründen will mit [Theorien von] Hart (jiān 堅) [und Weich] sowie [Schwarz und] Weiß (bái 白) bzw. Identität und Verschiedenheit (tóng-yì 同異), der wird ertrinken (nì 溺). 108

Was auf daoistischer Seite davon abhält, sich bei Einzelwissen aufzuhalten, ist die Unterscheidung zwischen »kleinem [Welt-]Wissen« (xiǎozhī 小知) und »großem Wissen [vom dào]« (dà-zhī 大知). Letzteres ist intuitive leibliche Intelligenz und kennzeichnet den »tumben Toren«. Genau darin will Laozi verschieden sein von anderen Menschen: Ach, ich habe das Herz eines Toren (yú 愚) und bin verwirrt (dùn-dùn 沌 沌) 109; die gewöhnlichen Menschen sind hell (zhāo-zhāo 昭昭); ich allein bin einfältig und dumm (mēn-mēn 悶悶). 110

Im Zhuangzi ist der Unterschied zwischen großem Wissen und kleinem Wissen in der Geschichte vom Riesenvogel Peng und der Zikade veranschaulicht. Sie steht an prominenter Stelle im ersten Abschnitt des ersten Kapitels. Von diesem Thema lebt das gesamte Buch. Mit Schwingen so groß wie »vom Himmel herabhängende Wolken« durchmisst der Riesenvogel den kosmischen Raum: Die Zikade hatte [vom Riesenvogel Peng und seiner Raum durchmessenden Reise in den Süden] erfahren und meinte [spöttisch] lachend zur Taube: »[Wo will der denn hinaus?] Ich schwirre empor von Baum zu Baum. Und wenn es vorkommt, dass ich [den Baum] nicht erreiche, falle ich einfach wieder zu Boden. Wozu muss der 90 000 Meilen hoch hinauf, bevor er sich nach Süden aufmacht?!« 111

Auch der Buddhismus wird in den Jahrhunderten nach Christus beide Wissensarten diskutieren. Das Kleine Wissen steht dann für scharfsinnig-analytisch-intellektuelle Erkenntnis, das Große Wissen für die unmittelbar erfahrene prajna-Weisheit der Erleuchtung. In Übereinstimmung mit der Vorliebe für paradoxe Wendungen ist prajna: NichtWissen, wo es nichts gibt, was nicht gewusst wäre 112. Die von altchinesischen Philosophen differenzierten Formen des Bewusstseins zusammenfassend, lassen sich die chinesischen Wortzeichen auf einer Skala anordnen zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation. Bewusstseinszustände variieren dann zwischen leiblicher Intelligenz am einen und analytischer Intelligenz am anderen Pol. Anders gesagt, zwischen Intuition in unmittelbarer Nachbarschaft der Wesen und Dinge auf der einen Seite und einem Ort möglichst fern 57

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

davon auf der anderen, um Einzelheit und Besonderheit desto prägnanter identifizieren und analysieren zu können. Moralische Intelligenz kann der Intuition zugeneigt sein oder auch, mehr abwägend, der analytischen Intelligenz gehorchen. Auch hermeneutische Intelligenz nimmt eine Mittelposition zwischen den Extremen ein, greift wie die analytische auf Sprache zurück, um aus chaotischen Situationen »Sachverhalte, Programme und Probleme« 113 zu explizieren, geht dabei aber »sparsam und schonend« 114 vor, um die Ganzheit situativer Eindrücke zu bewahren und intuitivem Gespür Raum zu lassen. Die auf diese vier Skalapositionen verteilten Begriffe sind Krugwörter, da sie an mehreren Stellen erscheinen (siehe oben Tabelle 6). Am auffälligsten »wandert« zwischen den Bedeutungen das Herz (xīn 心); am eindeutigsten ist jīng-shén 精神 (Feinstessenz) dem Pol leiblicher Intuition zugeordnet. Dass der alten Philosophie ein meditativ-spirituelles Anliegen entgegenkommt, ohne Götter und Geister zu bemühen, mag überraschen – und ist doch ein heilsamer Wink aus heilloser Zeit: unwiderlegbar in der Entschiedenheit, menschliches Dasein als Teil eines lebendigen Ganzen zu gewahren, Mit- und Umwelt auf eine Weise zu begegnen, dass jeder und jedes darin aufgehoben sind. Verbundenheit als der »nächste Weg zu sich selbst«. Von einer wie auch immer gearteten innerlich angesiedelten »Seele« ist im altchinesischen Kontext keine Spur. Vielleicht haben wir es mit einer »Subjektivität ohne Seele« 115 zu tun. Es sei denn, wir setzen Atem und Seele gleich in einem Sinn, der im letzten Jahrhundert auch bei uns als Redewendung noch geläufig war: »Er hat seine Seele ausgehaucht.« Atem als »eingetauschter Weltenraum« aber ist sowohl Innen als auch Außen (siehe I.2).

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Außendinge – vermittelt über die Sinne – lösen Begehren, Wollen und Wünsche und in deren Windschatten Gefühle und Emotionen aus. So spannt sich hier bereits eine Brücke auf zwischen Mensch und Welt, die Erkenntnisleistung der Sinne und deren erlebens-relevantes synästhetisches Zusammenspiel. Anders als im alten China, wo Hörsinn und Sehsinn einander tendenziell gleichgestellt sind, zeichnet die europäische Philosophie eine Vorliebe für Sehen und Tasten aus. Bis heute sind wir von der Realität einer Sache erst wirklich überzeugt, wenn wir sie selbst gesehen und betastet haben – und vergessen noch im Prüfen, dass Erfahrungen aus erster Hand ohnehin immer seltener sind, zumal in einer medienvermittelten Welt! Von der Dominanz der Augen in unserer Kultur zeugen zahlreiche Redewendungen, auch wenn das sinnliche Sehen gar nicht gemeint sein kann: Kann ich Dir denn ins Herz sehen? Soll ich mehr auf mich selber sehen? Oder auf mein Geld? Wir haben bessere Zeiten gesehen, sein Augenmerk richten auf, so gesehen … Selbst dann noch ist der Sehsinn bemüht, wenn das genaue Gegenteil gemeint ist – Anschauung/Betrachtung als diffus gespürtes Gesamtverstehen: Die Anschauung kann das Sehen verlangsamen, deuten, umformen und damit insgesamt vertiefen. Das Gesehene zählt dann nicht mehr als konkrete Einzelheit, sondern wird in ein Umfeld versetzt. 116

Sind Seh- und Tastsinn privilegiert, dann ist Wahrnehmung bevorzugt auf feste Körperdinge gerichtet. Als Fernsinn sorgt der Sehsinn zusätzlich für Distanz zwischen Mensch und Welt, zwischen Subjekt und Objekt. Auch in dieser Hinsicht hat Nietzsche schon Alternativen formuliert: Solange man etwas erlebt, muss man dem Erlebnis sich hingeben und die Augen schließen, also nicht d a r i n schon den Beobachter machen. 117

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Wenn Neugier um schürfender Erkenntnis willen der altchinesischen Philosophie fremd ist (siehe I.4), so muss auch die altchinesische Wahrnehmungslehre anders gewichtet und gerichtet sein als die uns vertraute. Dem Eindruck steht der Ausdruck gleichberechtigt zur Seite, und an beiden ist der ganze Mensch beteiligt. Wie aber springt der Funke über? Wie gelingt Resonanz? Anders gefragt, über welche Brücken geht der Körperleib auf die Dinge ein und umgekehrt über welche Medien widerfährt ihm die Welt? Das Kapitel abschließend ist die Bedeutung gemeinsam geteilter Situationen in der altchinesischen Philosophie nachzuweisen als Voraussetzung für Resonanz.

Eindruck und Ausdruck Weder die Fünf Beamten (wǔ-guān 五官) noch die Sieben Öffnungen (qī–qiào 七竅) sind mit Erkenntnis über die objektive Welt befasst, wie wir die Sinnesöffnungen hier und heute verstehen: Die so bezeichneten Organe profilieren sich vielmehr als Vermittlungsinstanzen zwischen Mensch und Dingen bzw. Wesen (wù 物), indem sie wechselseitig wirksame Verbindungen [交 jiāo; 接 jiē] unterhalten. 118

So gesehen sind die Sieben Öffnungen Einlasstore, über die Eindrücke nach innen und Ausdrücke nach außen gelangen. Analog erweisen sich die Fünf Beamten als Grenzposten, die Ein- und Ausgang kontrollieren und unliebsamen Weggesellen nach beiden Richtungen den Durchlass verwehren. Zunächst die Ausgänge. Wie sehr im alten China auf individuelle und situative Ausdrücke in Gesicht und Körperhaltung geachtet wird, bestätigt die Kunst der Physiognomik ebenso wie die Sorge um das rechte Verhalten im rechten Augenblick (siehe I.7). Anhand einer Textpassage aus dem Lunyu lassen sich die »unmerkbarsten Selbstausdrücke« als Impulse deuten, »welche das jeweilige Umfeld neu beseelen und zur Entfaltung bringen« 119 oder auch verderben durch Nachlässigkeit, Rohheit und Gewalt: Drei Prinzipien sollte ein Edler hochhalten. In seinen Bewegungen und seinem Benehmen halte er sich fern von Gewalt und Nachlässigkeit; er ordne seinen Gesichtsausdruck so, dass er Vertrauen erweckt; beim Reden halte er sich fern von Rohheit und Unvernunft. 120

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Aus der Perspektive des Daodejing interessieren nicht so sehr Physiognomik und Ausdrucksverhalten. Umso mehr beunruhigt die ablenkende Vielfalt der von außen anstürmenden Sinnesreize. Hier sind es also die Eindrücke, die Sorge bereiten. An mehreren Stellen fordert das Daodejing auf, »die Tore zu verriegeln«, um desto besser (dào) spüren zu können. 121 Auch die eingangs zitierte Parabel aus dem Zhuangzi warnt vor den aufreizenden Eindrücken der Welt. Der Ungeschiedene stirbt, sobald die wohlmeinenden Freunde das Bohren der Sinnesöffnungen vollenden (siehe I.1). In der Lehre von den Sieben Öffnungen und Fünf Beamten ist jedem Sinn ein substanzielles Pendant zugeordnet: Augen, Ohren, Mund und Nase, die sehen, hören, schmecken und riechen – nicht anders als erwartet. Nicht alle sind auf Tast- und Sichtbares gerichtet. Schon Ohren und Nase entziehen sich rein substanzieller Wahrnehmung. Töne und Düfte sind flüchtige Konsistenzen. Im Zhuangzi ist der Nase ohnehin das Atmen zugedacht. Auch das fürs Tasten vorgesehene Organ begnügt sich nicht mit Tasten. Der Körperleib (xíng-tǐ 形 體) im Xunzi tastet und spürt: Schmerz, Jucken, Kälte, Hitze, Weichheit und Härte, Leichtigkeit und Schwere unterscheiden wir mit dem Körperleib (xíng-tǐ 形體). 122

Sind die ersten vier Empfindungen, d. h. Schmerz, Jucken, Kälte, Hitze, Spürphänomene, so lassen die nächsten vier Qualitäten beides zu: Die harte respektive weiche Sitzunterlage wird getastet, die harten respektive weichen Gesichtszüge eines Menschen werden gespürt; messbar ist das Gewicht einer Bronzeglocke; spürbar ist »der Tod, der schwerer wiegt als der Tai-Berg« 123. Ein Tastorgan, das spürt (Xunzi), ein Riechorgan, das atmet (Zhuangzi) … – damit sind wir von einer streng (neuro-)physiologischen Sinnenlehre weit entfernt – doch näher der Alltagserfahrung. Auch unser Wort »Fühlen« schwankt zwischen Tasten und Spüren. Und Riechen, Wittern, Schnüffeln, Atmen sind kaum verschieden, wenn mit jedem Atemzug unvermeidlich Gerüche und Düfte in die Nase einsteigen – unerwünscht als streunende Eindringlinge, willkommen als geladene Gäste. Auf welche Eindrücke die einzelnen Sinne spezialisiert sind, hat Xunzi ausführlich dargelegt. Augen nehmen Formen und Ausdehnung, Muster und Farben wahr, Ohren hohe und tiefe Töne, Tonarten und rhythmische Geräusche; der Mund unterscheidet Geschmack von Sü61

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ßem, Bitterem, Salzigem, Fadem, Saurem und die Nase Fisch- und Fleischgeruch, Wein- und Essiggeruch, feinen Geruch und Gestank; xìng (der Körperleib) ist für beides zuständig: fürs Spüren wie fürs Tasten, nimmt Anmutung wahr sowie Konsistenz. Die konkrete Zuordnung einzelner Sinnesqualitäten zu einzelnen Sinnesöffnungen erinnert an die uns vertraute Wahrnehmungslehre. Auch Xunzi weist den Sinnesbeamten die einschränkende Aufgabe zu, die Gattungen bloß zu registrieren und das verstehende Erkennen dem Herzen zu überlassen. Und doch kann auch bei Xunzi von einer Verkürzung sinnlicher Wahrnehmung nicht die Rede sein. Im Konzept des Körperleibes ist Spüren weitläufig berücksichtigt; zuletzt ist Wahrnehmung unmissverständlich leibzentriert, sobald Xunzi das Herz einsetzt als Spürinstanz für das dào (siehe I.4).

Medien der Resonanz Welche Brücken verbinden Mensch und Welt, über welche Medien gelingt Resonanz? Die Antwort der Neuen Phänomenologie lautet: über synästhetische Charaktere und Gestaltverläufe. Beides fordert zu leiblichem Mitvollzug auf. Synästhetische Charaktere. Neben der von Aristoteles erläuterten einzelsinnlichen Wahrnehmung behaupten sich, spätestens seit Baudelaire und Rimbaud, die verknüpften Sinne. In Baudelaires »Liste der Korrespondenzen« figurieren Farben, Töne, Düfte, Bilder und Emotionen. Rimbauds Sonett »Vokale« (1871) beginnt in der ersten Zeile mit der Zuordnung von Buchstaben zu Farben: A schwarz, E weiß, I rot, U grün, O blau. Wer immer sich mit Dichtung, Malerei und Musik, mit Tanz und Bewegung oder auch dem »Klang« eines Merlot – »rund und geschmeidig« 124 beschäftigt, kommt am Phänomen der verknüpften Sinne nicht vorbei. Alle Dichter der Welt sind Meister im ungewohnten Zuordnen von Farben, Tönen und Lauten, Gerüchen und Geschmäcken, Konsistenzen, Temperaturen und Erlebnisqualitäten, wenn die Sonne »wie Honig ist an den Felswänden«, »wie Goldstaub auf den Wiesenhängen« und »der Wald eine heiße Asche« 125:

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Was zählt, ist nicht ein Wort, es zählt ein Gefühl anstatt und der Raum darum gefüllt mit mehr als Wort, weit mehr, als Wort es kann. 126

Die Durchsicht eines umfangreichen linguistischen Materials in deutscher Sprache hat gezeigt, dass der Vokallaut »i« als dünn, fein, hoch, leicht, licht, leuchtend, hell, klar, frisch, geschwind empfunden wird, aber auch als grell, scharf und spitz. Analoge Merkmale werden der Farbe Gelb zugeschrieben. So wird Mozarts Musik in ihrer beschwingten Leichtigkeit als »i-haft« und »gelb« bezeichnet. 127 Um Verwandtschaft zwischen Wort und Sache, für die es steht, zu veranschaulichen, ordnet die Lautsemantik die Wörter »ping« und »pong« zwei Tieren zu. Eine »Semiotik der Präsenz« wird das Kätzchen spontan mit »ping«, den Elefanten mit »pong« versehen. Konsonanten wirken nicht weniger »präsentisch«, wie in den Wörtern »hart« und »weich«, »eckig« und »rund«, in denen lautlicher und semantischer Gehalt gelungen aufeinandertreffen (siehe I.4). 128 Im Zusammenwirken der Vokale und Konsonanten verspricht ein »Ja«, mit dem gedehnten und offenen Vokal »a«, mehr Zuwendung und Bereitschaft als ein »Nein«, das mit dem Buchstaben »n« gleich zweimal die Zähne zusammenbeißt und sich verschließt. In allen Sprachen sind synästhetische Phänomene Glücksfälle, wie das französische Wort »fouet« für Peitsche, das tatsächlich wie ein Peitschenhieb klingt. 129 In den seltensten Fällen lassen sich Synästhesien von einer Sprache in die andere übertragen. Der deutsche Wortlaut für die Selbstbezeichnung »Ich«, mit seinem hellen oder auch grellen »I« (siehe oben), vermittelt eine andere Präsenz als das chinesische wǒ 我 (Ich), in dem ein dunkler Vokal mit dem tiefen dritten Ton zusammenfällt. Und doch ist in der chinesischen Graphik – aus Hand 手 und Hiebaxt 戈 – mindestens ebenso viel Selbstbehauptung angedeutet wie im vertikal aufgerichteten (Hier bin) Ich! oder »schrill tönenden« I (ch)! Wen wundert es, wenn dem deutschen Wort »Liebe« Selbstbewusstheit, wenn nicht Ich-Bezogenheit bescheinigt wird, die mit dem mundoffenen Staunen mediterraner Begeisterung Ti aaa! Ti ooo! (ti amo) kontrastiert. So lohnt es, auf Synästhesien zu achten bei der Suche nach Medien zwischen Welt und Mensch. Doch was geschieht? Was macht das Zusammenspiel der Laute, Farben, Gerüche, Geschmäcke, Konsistenzen, Temperaturen, Höhen und Tiefen mit uns? In der »Liste der Korrespondenzen« nennt Baudelaire neben synästhetischen Charakteren 63

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

menschliche Emotionen und unterstellt den Sinneseindrücken: Erlebnisqualität. Auch aus phänomenologischer Sicht wirken Synästhesien unmittelbar auf eigenleibliches Spüren ein, rufen entweder Weitung (aaa) oder Engung (iii) hervor oder auch leibliche Regungen, die entweder zum »Dumpfen, Diffusen, Ausstrahlenden, worin die Umrisse verschwimmen« (protopathisch: uuu) tendieren oder zum »Schärfenden, spitze Punkte und Umrisse Setzenden« (epikritisch: iii). 130 Solcherlei Regungen können positiv oder negativ erfahren werden, sowohl-als-auch: Protopathisch ist dumpf wühlender Schmerz, aber auch die sanfte Lust, vom Streicheln der Haut zärtlich geweckt; epikritisch ist stechender Schmerz, aber auch lustvoll rieselndes Prickeln. 131 So ist es möglich, dass der Laut »i«, die Farbe »gelb«, eine hohe und schnell sprechende Stimme, ein heller sonniger Tag je nach Disposition und Empfänglichkeit positiv oder negativ aufgenommen werden, d. h. entweder belebend und beschwingend oder beunruhigend und erregend. Umgekehrt können dunkle Farben, der Vokal »u«, eine tiefe Stimme, langsame Rede positiv empfunden werden, d. h. beruhigend und besänftigend, oder auch negativ, d. h. antriebslos, lähmend, entmutigend. Dabei kommt variierend Intensität ins Spiel. Wechselwirkung zwischen Außendingen und synästhetischem Eigenspüren liegt, im Sprachgebrauch der Neuen Phänomenologie, Leibverwandtschaft zugrunde. 132 Sie erklärt, warum wir Schall und Klang nicht nur akustisch, sondern auch farblich-optisch als »hell« oder »dunkel« empfinden; warum wir Farben, also optische Reize, thermisch wahrnehmen als »warm« oder »kalt«; warum nicht nur Materialien uns »schwer« und »dicht« vorkommen, sondern auch anhaltende Stille oder das Gefühl Trauer. Umgekehrt erfahren Goethe und Mörike die Freude als hell und licht: »Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!« So ruft Goethes Faust, und Mörike fühlt, dass »die helle Freude zücket, durch die Schwere, so mich drücket, wonniglich in meiner Brust« ; damit wird die Helligkeit selbst zur leiblichen Regung. 133

Synästhesien verraten uns, wie sich körperleib-orientierte Wahrnehmung vollzieht. Medien der Resonanz sind in erster Linie nicht die Körperöffnungen selbst, vielmehr ganze Eindrücke mit einem weit ausgreifenden Hof an sinnlichen Qualitäten, die miteinander verknüpft von außen zukommen. Was überspringt als zündender Funke ist das, was an diesen Eindrücken leibverwandt ist, d. h. das, was mit leiblichen 64

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Dimensionen (Engung und Weitung) und Tendenzen (protopathisch und epikritisch) korrespondiert. Nichts anderes ist in der altchinesischen Resonanzlehre unterstellt, wenn Töne, Farben, Gerüche und Geschmäcke, alle möglichen klimatischen, tages- und jahreszeitlichen Atmosphären mit menschlichen, Organen, Stimmungen und Befindlichkeiten korrespondieren. Intensives Rot – dem Feuer, der Hitze, dem Süden, dem Sommer, dem Herzen, dem Ton zhǐ, der Freude, dem Lachen, der Zunge zugeordnet – wird nicht nur gesehen, sondern gleichzeitig gespürt, geschmeckt, gehört und alles zusammen. Anhand der ersten Spalte von Tabelle 2 sei im Folgenden das synästhetische Zusammenwirken einmal exemplarisch durchgespielt (siehe Tabelle 7): Das zarte Grün der Bäume und Sträucher im Frühling, das Recken und Strecken saftiger Hölzer korrespondieren mit der – in keiner anderen Jahreszeit vergleichbar – machtvoll auf- und durchbrechenden Natur, die in ihrer Explosivität dem wütenden Ost-Wind gleicht. Dem Wanderer beim Osterspaziergang wiederum entspringt den ekstatischen Regungen seines Herzens – wie Ronja, der Räubertochter – ein jubilierender Frühlingsschrei, der sich im blauen Himmel mit dem Lustschrei der Hirsche trifft. Tabelle 7: Synästhetisches Zusammenspiel Holz

Frühling

Osten

Wind

Grün/Blau

Hirsch

Wut

Schreien

Angeborene synästhetische Wahrnehmung stellt sich im neurophysiologischen Erklärungsmodell als »abnormale Erregung zwischen assoziativen Gehirnarealen« oder auch als »abnorme Verschaltung von Strukturen im limbischen System« dar. 134 Darüber hinaus wird eine »normale, aber deutlich gesteigerte Erregung von assoziativen Großhirnarealen« durchaus in Betracht gezogen. Der altchinesische Befund kann darüber belehren, – erstens, wie eine »deutlich gesteigerte Erregung« zustande kommt: durch Offenheit für Resonanzen aller Art, Durchlässigkeit zwischen Mensch und Welt; – zweitens, dass eine kultur- und zeitspezifisch in diesem Sinne sensibilisierte Wahrnehmung das Leben bereichern und »deutlich steigern« kann. 65

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Singen oder Rezitieren von Gedichten, ein Frühlingsspaziergang, das Tierspiel des Affen oder Kranichs, Malen oder Schreiben, eine spezifische Wohn- oder Gartenkultur – all dies und vieles mehr kann erfahrungsgemäß solcherart Lebenssteigerung unmittelbar bescheren. Gestaltverläufe als Bewegungssuggestionen. Was für synästhetische Charaktere gilt, trifft auch auf alle möglichen Formverläufe zu. Nie geht es nur um reine Linie, Farbe, Ton oder Laut, Materialien und Konsistenzen, immer sind leibliche Befindlichkeiten im Spiel – »Erlebnisqualitäten« im Sinne Baudelaires. So gesehen sind Gestaltverläufe Bewegungssuggestionen, sind durch und durch Bewegung, vor allem fahren sie dem Menschen in die Glieder, zeichnen Bewegungen vor, in denen der Leib (z. B. tanzend) sich ihnen überlassen und einschmiegen kann. 135

Bei beliebigen Zusammenkünften lässt sich immer wieder beobachten, dass der eigene Körperleib einer fremden Bewegungssuggestion spontan gehorcht – bewirkt durch Gebärden-, Haltungs- und Positionsveränderung. Schlägt z. B. jemand die Beine übereinander oder schmiegt Kinn und Wange in die Hand, dauert es nicht lange, bis andere Anwesende, unbewusst und spontan, die Bewegung nachvollziehen. Auch hier ist ein Funke übergesprungen. Alltägliches Beispiel ist das ansteckende Lachen im Vorübergehen, vor allem bei Kindern. Was die Neurophysiologie seit ein paar Jahren mit Spiegelneuronen erklärt, ist phänomenologisch eine Bewegungssuggestion. Ein gewundener Bergpfad auf einem Bild, erst recht in der Natur, wirkt suggestiv in der spiraligen Bewegung, macht Lust auf Mitgehen, Wandern und Steigen. Der Anblick des Meeres lädt zum Verweilen ein – weil der Leib sich ungehindert in die Weite hineindehnen kann: Ich bin am Meer, ich schaue es an, ich atme es ein. Mein Atem vereinigt sich mit der Bewegung der Wellen, und allmählich dreht sich das Bild um, und ich werde selbst das Meer. 136

Analog übt ein Abgrund unter Umständen Sogwirkung aus, als wollte er uns in die Tiefe reißen: In unserem Land dürfte es trübe Abende nicht geben Auch hohe Brücken über die Flüsse Selbst die Stunde zwischen Nacht und Morgen Und die ganze Winterzeit dazu, das ist gefährlich.

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Denn angesichts des Elends genügt ein Weniges Und die Menschen werfen das unerträgliche Leben fort. 137

In all diesen Fällen wirken Gestaltverläufe, denen Bewegungssuggestionen eigen sind. Im altchinesischen Kontext ist deren Suggestivkraft mit yīn und yáng assoziiert (siehe Tabelle 8). Tabelle 8: Gestaltverläufe von yáng und yīn yáng

yīn

oben shàng 上

unten xià 下

rund yuán 圓

eckig/spitz fāng 方/ruì 銳

außen wài 外

innen nèi 內)

vertikal chuí 垂, diagonal qīng 傾

horizontal píng 平

gerade zhèng 正

krumm/gewunden qū 曲

Die adjektivische, adverbiale oder präpositionale Form der Wörter könnte darüber hinwegtäuschen, dass sämtliche Positionen in Tabelle 8 dynamisch zu verstehen sind. Ein Denken in Prozessen unterstellt (siehe I.1), sind Wortzeichen in altchinesischen Texten mit Vorliebe als Verben unterwegs und dann auf Richtungsverläufe bezogen, denen Bewegungssuggestionen eigen sind. Die Wortzeichen shàng 上 und xià 下 bedeuten dann »sich oder etwas hinauf- respektive hinunterbewegen«; yuán 圓 »sich runden«; ruì 銳 »sich zuspitzen«, auch im übertragenen Sinn einer prekären Situation; wài 外 kennzeichnet den äußeren und nèi 内 den inneren Verlauf. Analog bedeuten die nächsten Zeilen »in vertikaler, diagonaler oder horizontaler Richtung verlaufen« bzw. »sich aufrichten/gerade machen« zhèng 正 und »(sich) krümmen/krumm machen« qū 曲. Als Suggestionen sind Gestalt- und Bewegungsverläufe mehr als reine Richtungen, sind vielmehr Vektoren in einem von vertikalen, horizontalen, diagonalen, kreis- und spiralförmigen, geraden und krummen Kraftlinien durchzogenen Feld. Auch Sprache und Musik werden über Klangqualitäten hinaus in ihrem linearen Verlauf als Bewegungssuggestion aufgefasst. Sobald wir »ganz Ohr« sind und eintauchen in den Rhythmus der Abfolge, fährt Musik in die Glieder, bewegt Arme und Beine zum Tanz. Es passt ins Bild, wenn das chinesische Wortzeichen für Lied und Gedicht, für Poesie überhaupt (shī 詩) ursprünglich »rhythmisches Stampfen mit dem

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Fuß« bedeutet. 138 Nietzsche erfährt Bewegungssuggestion von Rhythmus geradezu als Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach. 139

Sämtliche Richtungen – im Qìgōng und Tàijíquán, in Tierspielen und in der Kampfkunst, Malerei, Kalligraphie, Musik, im Fēngshuǐ oder im Garten – sind dank der suggestiv wirkenden Gestaltverläufe geradezu »magisch« gespürte Kräfte, die beim Betrachten zum Mitvollzug auffordern, wenn nicht nötigen – im Aufsteigen oder Fallen, im Vor und Zurück, in der Diagonalen, die Aufbruch ist, nach Außen ausgreifend, erneut zur Mitte sich sammelnd, als Kreis ohne Ziel, als unendlich sich windende Spirale. Kraftgeladene Richtung ist dem Yijing zufolge auch in den Fünf Wandlungsphasen wirksam. So ist dem Feuer als yáng-Aspekt die nach oben lodernde Flamme eigen, während Wasser als yīn-Aspekt nach unten fließt; Metall (yīn) ruht verborgen in der Mitte der Erde (yīn), wohingegen Holz (yáng) in Gestalt von Pflanzen, Sträuchern und Bäumen nach außen und oben drängt. Verknüpfung von synästhetischer und Bewegungssuggestion. Die Fünf Wandlungsphasen sind mit yīn und yáng auf eine Weise verknüpft, dass synästhetische Charaktere sowohl in ihrer fünffachen Gliederung als auch bipolar wahrgenommen werden (siehe Tabelle 2). Den binären Zuordnungen entsprechen nur auf den ersten Blick rein optische und akustische Sinnesqualitäten (trübe vs. klar) oder Konsistenzeigenschaften (verdichtet vs. zerstreut) (siehe Tabelle 9). Tabelle 9: Synästhetische Charaktere von yáng und yīn zerstreut (sàn 散)

verdichtet (jí 集/jù 聚)

leicht (qīng 輕)

schwer (zhòng 重)

flüchtig/leer (xū 虛)

fest (shí 實)

klar/glänzend (qīng 清)

matt/trübe (zhuó 濁)

Verdichtetes, Festes oder Schweres, um mit der rechten Spalte zu beginnen, wird in seiner tast- und sichtbaren Konsistenz als widerständig, undurchdringlich empfunden und ist damit ebenso abweisend wie Trü68

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bes und Mattes. Umgekehrt wirkt Zerstreut-Flüchtiges ebenso durchlässig, wie Glänzendes und Klares als transparent und anziehend wahrgenommen wird. Damit ist ein Erleben verknüpft, dass Widerständiges zurückstößt, Durchlässiges anzieht. Auf diese Weise fallen synästhetische Verknüpfung und Bewegungssuggestion zusammen. Um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert hat mannigfache Sinnesverknüpfung – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Gesamtkunstwerke von Richard Wagner – die europäische Kunst mächtig inspiriert. Prousts Prosastück Fächer (Éventail) aus dem Jahre 1893 ist ein ästhetisches Gesamtkunstwerk en miniature, in dem er Szenen beschreibt, die er sich auf dem Fächer gemalt vorstellt: In diesem bildet das Wort das primäre, eigentliche Medium, das Bild das sekundäre, imaginierte Medium des Dichters, während die Musik der dargestellten bzw. erzählten Wirklichkeit angehört. 140

Die Oper »Der gelbe Klang« 141, die Kandinsky 1912 komponiert, ist eine Symphonie aus Farbe, Licht und Ton, die er über den Tanz multidimensional mit Gestaltverläufen korreliert. 142 Auch die Bewegungskunst der Eurythmie legt Mehrfach-Verknüpfung zugrunde. »Seelenstimmungen«, die in »a«, »e«, »i«, »o« und »u« ihren lautlichen Ausdruck finden, korrespondieren mit Gebärden und anderen Körperbewegungen. Diese leiten sich aus der »plastizierenden Tätigkeit des Kehlkopfes« her. 143

Gemeinsame Situationen Resonanz als Welterfahrung setzt übergreifende Situationen (情 qíng) voraus, die Menschen mit ihresgleichen ebenso teilen wie mit Tieren, Pflanzen und anderen Wesen und Dingen. Die Neue Phänomenologie unterscheidet unter anderem aktuelle, zuständliche und persönliche Situationen. Aktuell sind Wahrnehmungseindrücke im Vorübergehen; zuständlich sind auf Dauer angelegte Situationen, wie Familie, Verwandtschaft und Freundschaft; die persönliche Situation ist identisch mit der Persönlichkeit, dem Habitus aus Erinnerung, sozialen und kulturellen Prägungen, die uns das ganzes Leben begleiten – bei allem Zugewinn und Verlust. 144 Wenn eine aktuelle Situation die Beteiligten wie eine Glocke überwölbt, ist leibliche Präsenz zugleich Ko-Präsenz, und Ko-Präsenz ist im 69

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Aufeinander-Wirken und Miteinander-Schwingen Resonsanz. Einleibung ist dann nichts anderes als spontane Bildung übergreifender quasi-leiblicher Einheiten […]. Sie ereignet sich im Alltag unablässig als Verschmelzung auf einander eingespielter oder sich einspielender Leiber, z. B. beim Sichanblicken […], ebenso beim Händedruck, beim Gespräch, beim Liebesspiel, bei jeder Suggestion und Faszination und besonders auffällig durch Koagieren ohne Reaktionszeit – in gut eingespielter Kooperation bei gemeinsamer Handwerksarbeit (wie dem Sägen), gemeinsamem Musizieren, sportlichen Wettkämpfen in Paaren und Mannschaften. 145

Demnach liegt Einleibung bei allen sozialen Kontakten zwischen Menschen vor sowie beim Kontakt zwischen Mensch und Tier. Die chinesische Kampfkunst als »Zweifühlung« ist Einleibung im Widerstreit, das Händeschieben im Tàijíquán ist Einleibung in Resonanz (siehe II.3). Auch feste Dinge werden »ein-geleibt«, wenn ein geübter Tänzer sich unbekümmert um Lage und Abstand der Gegenstände im Raum intuitiv bewegt, ohne anzustoßen. Schon im Zhuangzi ist danach gefragt, wie intuitives Eins-Sein mit Außendingen gelingt. Antwort gibt ein Betrunkener, der vom Wagen fällt und weich und unversehrt am Boden landet: Zwar hat er Knochen und Gelenke wie andere Menschen auch, aber anders als sie bleibt er von Schaden verschont. Denn [im weinseligen Zustand] ist seine Geisteskraft (shén 神) ganz (quán 全). Weder weiß er, wie er fährt, noch weiß er, wie er fällt. [Die Sorge um] Leben und Tod, Schreck und Angst dringen nicht in seine Brust. Deshalb fürchtet er auch die Dinge nicht, denen er begegnet. Da nun dieser Mensch im Wein das Ganz-Sein erlangt, um wie viel mehr erlangt der das Ganz-Sein, der im Kosmos (tiān 天) geborgen ist, der Vorbildliche (shèng-rén 聖人), dem aus eben diesem Grunde nichts [in der Welt] schaden kann. 146

Übung 5: Wahrnehmung in ganzen Situationen 147 Auf dem Tisch liegt ein Ei, dem die ganze Aufmerksamkeit gilt. Nach einer Weile legt der Spielleiter den Löffel neben das Ei. Was ändert sich in den Empfindungen und Assoziationen? Nach einer weiteren Weile tauscht der Spielleiter den Löffel durch eine Vogelfeder aus. Was ändert sich jetzt? Zuletzt wird die Feder durch einen schweren Hammer ersetzt: »Hammer und Ei: was für ein Paar! Das Ei wirkt plötzlich bedroht. Alle empfinden das. Es ist nicht nötig, das auszusprechen.« 148 70

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5. Resonanz von Mensch und Welt

Hier wird anschaulich vorgeführt, dass wir alltägliche Situationen spontan in ganzen Eindrücken erleben – neben vage registrierten Einzelheiten, wenn nicht vor jeder Einzelheit. Das Ei bleibt immer ein Ei und ist doch jedes Mal ein anderes. Sowohl … als auch. Das prägende Einfärben eines Dinges durch die übergreifende Situation erinnert an das Spiel optischer Täuschungen, bei denen Kontexte die Wahrnehmung der Einzelfigur entscheidend verändern: Die geraden Seiten des Quadrates im linken Bild erscheinen durch die Wirkung der konzentrischen Kreise gekrümmt, die drei gleich langen Strecken im rechten Bild wirken unterschiedlich lang.

Abb. 5: Optische Täuschung Als Resonanzgeschehen in übergreifenden Situationen ist Wahrnehmung immer schon Kommunikation. In diesem Sinne mag Christa Wolf behauptet haben, dass »man nur versteht, was man mit anderen teilt«. 149 Geht die Person aus der gemeinsamen Situation verändert hervor: berührt, ergriffen, betroffen, verängstigt, verwirrt, verärgert, erleichtert, erfreut …, dann ist Kommunikation Transformation. Die chinesische Redewendung shè-shēn chǔ-dì 設身處地 ermutigt zu Einleibung in diesem Sinne. Wörtlich bedeutet sie »sich im Leib [des anderen] einrichten, seinen Platz einnehmen« und entspricht unserem Ausdruck »sich in jemandes Lage versetzen«. Glückt auf dem alltäglichen Lebensweg das Spiel von Resonanz in gemeinsamer Situation, dann ist Selbstsorge zugleich Fremdsorge, dann ist alles ineinander »verkettet, verfädelt, verliebt« 150. So leuchtet auch unmittelbar ein, dass der chinesische Ausdruck tóng–qíng 同情 nicht nur »gemeinsame Emotion« und »gemeinsame Situation« bedeutet, sondern auch »Mitleid« und »Mitgefühl«. 71

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6. Ökonomie und Ökologie der Mitte

»Bewahren der Mitte« shǒu-zhōng 守中 als Denkfigur ist so gegenwärtig in der alten Philosophie, dass schon mehrfach davon die Rede war – unvermeidbar als Aufforderung zu »Mitte und Maß« (zhōng-yōng 中 庸) im Umgang mit Begehren und Emotionen (siehe I.3): Der Zustand, da Hoffnung und Zorn, Trauer und Freude sich noch nicht regen, heißt die Mitte. Der Zustand, da sie sich äußern, aber in allem den rechten Rhythmus (jié 節) treffen, heißt Harmonie (hé 和) […]. 151 Die Menschen sagen alle: »Ich weiß schon«, stürzen vorwärts, verwickeln sich in Netze und Stricke, Fallen und Gruben […]. Und haben sie Mitte und Maß (zhōng-yōng 中庸) [zur Lebensregel] erkoren, sind sie nicht in der Lage, [auch nur] einen Monat daran festzuhalten. 152

Die Aufforderung zur Mitte ist an alle gerichtet und bezieht die nichtmenschliche Natur mit ein.

In der Mitte des Kreises 153 Die Mitte als Leere des dào ist im Bild vom Rad noch in Erinnerung: Dreißig Speichen hat ein Rad und die allen gemeinsame Nabe: Wo die Leere ist (wú 無), liegt der Gebrauch des Wagens. 154

Von der Radnabe ausgehend sind die Attribute des dào: Mitte vs. Peripherie der Speichen und die eine Radnabe, die alle Speichen zusammenhält. Die Eigenschaft »Mitte« und die »Vielheit zusammenhaltend« kennzeichnet auch den berufenen Herrscher im Staat. So gesehen ist das Daodejing »Fürstenspiegel« in einer politisch und militärisch zerrissenen Zeit, soll Könige und Fürsten lehren, zu herrschen im Einklang mit dem dào, d. h. »nichts zu tun, und nichts bleibt ungetan!« (siehe I.2):

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6. Ökonomie und Ökologie der Mitte

Der Vorbildliche in der Welt vereint sich mit ihr, verschmilzt (hún 渾) der Welt die Herzen. Das ganze Volk heftet Augen und Ohren an ihn. 155

Dem »Herrscher der Mitte« laufen von selbst alle Menschen zu, »die Kinder in einem Sack auf dem Rücken tragend« 156. Damals schon ist die Selbstbezeichnung der Chinesen, die auf allen vier Seiten von »Barbaren« umgeben sind, »Menschen im Land der Mitte (zhōng-guó-rén 中國人). Das ist geographisch gemeint, aber auch aus dem stolzen Bewusstsein einer weithin ausstrahlenden Kultur und Selbstkultur heraus. Die Anziehungskraft der Mitte rührt nicht zuletzt daher, dass das Zentrum des Kreises von den Außenstellen in immer gleichem Abstand entfernt ist. Die Mitte ist frei von Vorlieben und Parteilichkeit. Mitte als Verhaltensideal ist weder Mittelmäßigkeit noch Kompromiss. Offen für Spielräume des Agierens und Reagierens, je nach Erfordernis der Situation, birgt sie dank ihrer Unparteilichkeit und Unbestimmtheit alle Möglichkeiten (potentialité 157), ist »Fülle in der Leere« (siehe I.1).

Selbstschonung Das dào im Bild des Rades hält eine Erfahrungsfigur bereit, von der bisher nur beiläufig die Rede war: Schonung und Selbstschonung. Ist die Achse unbewegt, während sich die Speichen drehen, dann liegt auch hier »Ruhe in der Bewegung« vor: Mit dem Rad zeigen die Daoisten nicht [nur], worauf etwas fußt, sondern demonstrieren vielmehr, wie etwas läuft. […] wie ein Mechanismus oder Organismus aufgebaut sein muß, damit er optimal funktionieren kann. 158

So gesehen ist dào ein »Selbstläufer«, »perpetuum mobile« 159, das aus sich heraus alles in Bewegung versetzt, ohne sich selbst abzunutzen! Ruhe in der Bewegung ist Voraussetzung für Schonung, und Schonung ist Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit des dào. Verwurzelt im dào ist das Herz, als Mitte des Menschen in sich ruhend, still. Der Welt voll zugewandt, ist es aber immer in Gefahr. Jedes Zuviel an Lebensnahrung im weitesten Sinne des Wortes ist ebenso nachteilig wie ein Zuwenig. Mangel ist kaum Thema der alten Philosophie, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung mitnichten im Überfluss lebt. Wohl aber die herrschende Schicht, und an sie war die Aufforderung gerichtet, maßvoll zu sein: 73

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Kein Unglück ist größer, als nicht zu wissen, wann es genug ist (zhī-zú 知足). Kein Fehler ist größer, als gierig haben zu wollen. 160

Alle Philosophen sind sich darin einig, von den Adepten der Lebenspflege über Daoisten bis hin zu Konfuzius und Mengzi, dass Mitteund-Maß die Lebenskraft pflegt und schont. Sie betrifft Wachen und Schlafen, Reden und Rufen, Lachen und Weinen, Ruhen, Bewegen, nicht zuletzt Essen und Trinken. Bei Konfuzius ist bescheidene Kost dann auch nicht asketisch gemeint: Gewöhnliche Speisen zur Nahrung, Wasser als Trank und den gebogenen Arm als Kissen; auch darin liegt Freude (lè 樂). 161

Die Rede im Buch der Riten (Liji): »Alle Menschen trinken und essen, nur wenige wissen zu schmecken (zhī-wèi 知味)« ist ebenfalls Konfuzius in den Mund gelegt. 162 Den Eigengeschmack der Dinge ohne »Geschmacksverstärker« bezeichnen die alten Philosophen mit den Wortzeichen »schmack-los« (wú-wèi 無味) und »fade« (dàn 淡). 163 Die erstgenannte Zeichenverbindung, wörtlich »ohne Geschmack«, spricht für sich. Im zweiten Wortzeichen dàn, aus »Wasser« (氵) und zweimal »Feuer« (火) zusammengesetzt, ist assoziiert, dass ein loderndes Feuer durch Wasser abgelöscht ist. Beide Wortzeichen gerinnen zu festen ästhetischen Kategorien im Verzicht auf wortgewaltige »schnörkelreiche Brillanz« und im Schwarz-Weiß der Tuschemalerei. Als Paradox »raffinierter Naturbelassenheit« kennzeichnen sie bis heute japanische Teezeremonie, Wohn- und Gartenkultur. Mitte gelingt situativ durch Aufmerksamkeit, dauerhaft-nachhaltig durch Erziehung und Selbsterziehung. »Die Sorge um sich« als lebenslange Selbstkultivierung, Selbstverfeinerung, Selbstvollzug, nennt Xunzi xiū-shēn 修身 »Pflege des shén«, »Pflege des Leibes«, »Pflege der Gesamtpersönlichkeit«.

Schonung von Umwelt und Natur In allen Lebenslagen die Mitte zu wahren, macht nicht beim Einzelnen und auch nicht beim nächsten Menschen Halt. Im Daoismus ist die gesamte nicht-menschliche Natur einbezogen – als gleich-gültige Manifestation des dào. So wird Ökonomie der Mitte als Selbstschonung unversehens zur Ökologie, zur Schonung der Natur. Mehrere Geschichten im Zhuangzi über alte und verkrüppelte 74

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6. Ökonomie und Ökologie der Mitte

Bäume plädieren für die »Brauchbarkeit des Unbrauchbaren« und warnen vor ausschließlich zweckbestimmtem Umgang mit der Natur, nicht nur der »Natur, die wir selber sind« 164. Raubbau an der Natur als Kehrseite der Zivilisation ist vor der Zeitenwende nirgendwo drastischer geschildert als im Huainanzi: Wälder wurden um der Jagd willen niedergebrannt, wobei die großen Bäume verglühten und verkohlten. Blasebälge wurden gefertigt, um [Luft] durch die Rohre zu blasen und Bronze und Eisen zu schmelzen, [Metalle] ausgehoben in verschwenderischer Weise, um zu härten und zu schmieden. Die Arbeit ruhte nicht einen Tag. Auf den Bergen blieben keine hohen Bäume mehr zurück […]. Holz wurde verbrannt, um Holzkohle zu produzieren. Riesige Mengen Pflanzen wurden in Pottasche verwandelt, so dass Anis und Jasmin nie [mehr] zur Reife gelangten. Über uns verdunkelte [Rauch] das Licht des Himmels, unter uns wurden die Reichtümer der Erde vollständig erschöpft. 165

Auch Konfuzius und Philosophen in seiner Nachfolge fordern, pfleglich mit Naturressourcen umzugehen – bei aller Reverenz, die sie mythischen Helden und Erfindern der Zivilisation erweisen. Konfuzius selbst wird nachgesagt: Wenn der Meister fischen ging, dann nur mit einer Angel und nicht mit dem Netz. Und wenn er Vögel mit Pfeil [und Bogen] schoss, dann ließ er die Nester aus. 166

Mengzi beklagt Entwaldung und das Verschwinden wilder Tiere. Xunzi will Gewässer und Wald zeitweise verschlossen halten. Ökonomie und Ökologie der Mitte ist, um das Zhuangzi noch einmal zu zitieren (siehe I.4): »Ruhen in natürlicher Balance« (休乎天鈞 xiū-hū tiān-jūn) 167 – bei aller Bewegung. Denn jūn 鈞 ist die balancierend sich drehende »Töpferscheibe«, dà-jūn 大鈞 die »Große Töpferscheibe«, aus der geformt alle Wesen und Dinge der Welt hervorgehen, ein weiteres Sinnbild des dào.

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7. Zeit und Raum

Mit jedem Ein- und Ausatmen erfahren wir uns und die Welt als Geschehen in Zeit und Raum. Das kann nur bedeuten, dass wir immer schon mit Zeit und Raum vertraut sind. Jeder Atemzug, jeder Blick, jede Gebärde, jeder Schritt, jedes Strecken und Recken, Beugen und Krümmen, Sprechen und Singen greift für die Dauer einer bestimmten Zeit aus dem Enge-Raum des Körperleibes hinaus, bahnt eine Richtung in die Weite des umgebenden Raumes, verleiht dem Gesamt-Ort eine situativ-flüchtige Struktur, nach oben und unten, nach vorn und hinten, diagonal, im Bogen und Kreis, in Kurve und Spirale … : Zum Aufsetzen des Fußes braucht es nur eine kleine Stelle, aber der Raum vor den Füßen muss frei sein, wenn man Weite (bó 博) gewinnen will. 168

Bevor altchinesische Zeit- und Raumkonzepte zu sichten, auf Leib- und Lebenserfahrung zu befragen sind, soll vom Primat der Gegenwart die Rede sein als Sorge um den rechten Augenblick. Zuletzt verdient die Raummetaphorik der Denkfigur des dào unsere Aufmerksamkeit, so dass sich der Kreis zum Anfang schließt.

Der rechte Augenblick Mit der Sorge um den rechten Augenblick kommen Erfahrungs- und Lebensbereiche in den Blick, die für die Menschen im alten China existenziell von Bedeutung sind: der dem Jahreslauf der Gestirne angepasste Feld- und Ackerbau und das Orakelwesen als Hilfe bei Entscheidungsfindung in Krieg und Frieden. Auch professionelle Beschäftigung mit politischer Vergangenheit geschieht um der Gegenwart willen: »Das dào der Vergangenheit (gǔ 古) ergreifen, um das Seiende der Gegenwart (jīn 今) zu leiten.« 169 In allen drei Bereichen, Agrikultur, Orakelwesen und Historiographie, geht es nicht zuletzt darum, die Welt berechenbarer zu machen. 76

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7. Zeit und Raum

Im Zuozhuan, narrative Ausgestaltung der Frühlings- und Herbstannalen, einer bloßen Chronik aus Daten und Ereignissen, sind zwei verschiedene Zeitmuster in die historischen Erzählungen eingelassen: der lineare Fluss der Zeit und der Primat der Gegenwart. Fluss der Zeit. 170 Selbst innerhalb ihrer zyklischen Verknüpfung ist die altchinesische Jahreszählung an der linearen Aufeinanderfolge der Ereignisse interessiert, am Früher und Später. Dem Fluss der Zeit entsprechen Wortzeichen in der Bedeutung von »dann/danach«, welche die Vorkommnisse in vorangehende (xiān 先) und nachfolgende (hòu 後/ súi 隨) gliedern und reihen. Modus des Seienden. Das zweite Zeitmuster hebt an den Ereignissen die Unterscheidung von Wirklichkeit (Gegenwärtiges) und Nicht-mehrWirklichkeit (Vergangenes) hervor. Das Partikelzeichen yǐ 矣, das am Ende eines Satzes steht, drückt die Gewissheit aus, dass etwas tatsächlich geschehen ist. Umstandsbestimmungen wie gǔ 古 oder xī 昔 (in alter Zeit), in attributiver oder adverbialer Position, weisen in ähnliche Richtung. Die so qualifizierten Ereignisse stehen als vergangene Wirklichkeit dem Heute (jīn 今), der gegenwärtigen Wirklichkeit, gegenüber. Auch dass jīn einen Sachverhalt einleitet, an dem nicht zu rütteln ist, bestätigt das Interesse am Modus des Seienden. Dann steht jīn am Beginn des Satzes in der Bedeutung von »Nun, da es sich so verhält/Da dem so ist«. Primat der Wirklichkeit ist Primat der Gegenwart, denn Vergangenes ist nicht mehr, und Zukunft ist noch nicht. Kausale Verknüpfung. Sogar der Vorgriff auf Zukunft, im Allgemeinen mit jiāng 將 ausgedrückt, hat in diesem Geschichtswerk als Noch-nichtWirklichkeit weniger mit Zukunft als mit Gegenwart zu tun. Als Verb bedeutet jiāng im Zuozhuan »beabsichtigen/wollen«; in adverbialer Position hat es die Bedeutung »vielleicht« und verweist auf die Unbestimmtheit zukünftiger Ereignisse. Wenn jiāng im Sinne von »bald« kommende Gewissheit ausdrückt, zeigt es kausale Verknüpfung an. Selbst dann scheint jiāng vornehmlich mit Gegenwart befasst, denn aktuelles Handeln kann und soll unter Umständen kausale Verkettung der Ereignisse auslösen – oder eben unterbrechen. Genau damit, mit dieser »Wenn-dann-Logik«, ist das Yijing, das altchinesische Orakelbuch, befasst. Lob des Augenblicks, Primat der Wirklichkeit, Vorrang der Gegen77

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

wart im Fluss der Zeit – eine für Selbst- und Weltwahrnehmung folgenreiche Zeitwahrnehmung. Hier liegt das altchinesische Interesse am situativen Geschehen und subjektiven Erleben verankert. Und hier entspringt die Denk- und Erfahrungsfigur der mitlaufenden Aufmerksamkeit auf den gegenwärtig gelebten Augenblick: yì 意 (siehe I.4). Im Lunyu und Xunzi erscheint Aufmerksamkeit als Lob der Gegenwart noch gesteigert zu einer Haltung von Vorsicht (shèn 慎), Furcht (wēi 危), Ehrfurcht (wèi 畏). Die vorbildliche Weltordnung der früheren Könige führt Xunzi sogar ausschließlich auf Vorsicht zurück: Als Shun die Welt (tiān-xià 天下) regierte, waren es nicht Erlasse, mit denen er die Zehntausend Wesen und Dinge zur Vollkommenheit führte. Shun hielt sich allein an [eine Haltung der] Furcht (wēi 危) […], nährte eine [Haltung] subtiler (wēi 微) [Beobachtung und Aufmerksamkeit]. 171

Auch im Daodejing treten vorbildliche Menschen auf, die sich, bei allem Plädoyer für das Von selbst, um- und vorsichtig bewegen »wie beim Überqueren des Flusses im Winter« 172. Vorsicht als Haltung der Mitte impliziert Verzicht auf extremes Verhalten – nichts soll übertrieben sein – nicht einmal Vorsicht: Ehrerbietung ohne Maß 173 ermüdet; Vorsicht (shèn 慎) ohne Maß macht ängstlich; Mut ohne Maß bringt Unordnung hervor; Aufrichtigkeit ohne Maß wird grob [und verletzend]. 174

Wortzeichen für Zeit und Raum Etymologie, Graphik und Gebrauch verschiedener Wortzeichen dokumentieren ein differenziertes Verständnis von Zeit und Raum. Dass in Texten dieselben Wortzeichen für unterschiedliche Vorstellungen verwendet sind, lässt die Sache komplizierter erscheinen, als sie ist. Bei genauem Hinsehen geht es zum Ersten um den Fluss der Zeit, Zeit, die sukzessiv vorübergeht, und um den Raum, der simultan gegliedert ist; zum Zweiten um Zeit und Raum als ungegliedertes »Dauer-WeiteKontinuum« 175 im Einklang mit dem dào. Ein drittes Verständnis sieht jenseits unmittelbarer Erfahrung Zeit und Raum als objektiv gemessene Größen vor. Zeit. Der Lauf der Sonne über den Himmelsraum, ältestes Zeitmaß überhaupt, ist im Wortzeichen shí 時 mit dem Sinnelement 日 (Sonne) 78

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7. Zeit und Raum

graphisch präsent; shí ist immer konkrete Zeit, zunächst die Jahreszeit aus je drei Monaten. Dann ist shí synonym mit jì 季 (Jahreszeit) gebraucht. Auch die Einteilung der Tageszeit in zwölf Doppelstunden oder ein ganzes Zeitalter kann mit shí umschrieben sein – neben einer Reihe abgeleiteter Bedeutungen, wie »Tageslicht«, »Zyklus«, »jetzt«, »ebenda«. Im Allgemeinen impliziert shí »den rechten Augenblick« oder ein situativ angemessenes Tun bzw. Nicht-tun, sofern die natürliche oder politische Ordnung gewahrt bleiben soll. Das Wortzeichen jiān 間 changiert zwischen räumlichen und zeitlichen Bedeutungen und ist dann mit »zwischen«, »Zwischenzeit«, »Muße«, »Nähe«, »eine Weile« zu übersetzen. Schon die Graphik verweist auf beides, da der Raum zwischen zwei Torflügeln 門 durch den Zeitzeiger Sonne 日 ausgefüllt ist. Alternativ zur Sonne kann zwischen den Toren der zunehmende Mond 月, ja ein Baum 木 erscheinen, so dass die Zeichen 間, 閒, 閑 in altchinesischen Texten synonym gebraucht sind. In der Zusammensetzung aus shí 時 und jiān 間 steht 時間 heute für Zeit, Zeitablauf schlechthin, ein Kunstwort des 19. Jahrhunderts, mit dem zuerst Japan den abstrakten westlichen Begriff der physikalisch messbaren Zeit übernahm. Analog ist das Kunstwort für den geometrischen Raum gebildet: kōng-jiān 空間 aus kōng 空 (Leere) und jiān 間. Raum. Für Raumdimensionen von Enge/n und Weite/n kommen in den hier zitierten Textstellen mehrere Begriffe vor, die an Ort und Stelle im Kontext erscheinen. Substantivisch gebraucht zielen die Wortzeichen kuò 霩 (siehe unten), xìng-míng 涬溟 und yòu 宥 (siehe III.1) auf Weiteerlebnisse während der Meditation oder Erleuchtung; im Namen des Hongmeng steht hóng 鴻 (Weite) neben méng 蒙 (töricht), um anzudeuten, dass nur derjenige die flutende Weite der Erleuchtung gewinnt, der frei ist von »Weltwissen« (siehe III.1); guǎng 廣 (siehe II.7) bezeichnet leibliche Weitung, die Xunzi bei Freude und schöner Musik empfindet, kann aber auch wie kuò 廓 (siehe II.7) Weiträumigkeit/Weitläufigkeit, z. B. von Wohnungen, bedeuten; bó 博 bezieht sich im Zhuangzi auf den offenen Raum vor meinen Füßen (siehe oben). Bei Lebenspflegeübungen wird körperleibliches Strecken und Weiten mit zhāng 張, chí 弛 (siehe I.2) und shēn 伸 (siehe II.3) umschrieben, das Gegenteil mit qū 屈 (beugen) (I.2, II.3). Auch Aufrichtung zhèng 正 ist Weitung, und Beugung qū 曲 ist Engung (siehe I.5, Tab. 8). In der Kampfkunst steht für das Loslassen der Stöcke und Pfeile fā 發, für das Heranziehen chōu 抽 (II.3). Es fällt erstens auf, dass Weitebegriffe insgesamt über79

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

wiegen; zweitens, dass tendenziell differenziert ist zwischen subjektivem räumlichen Spüren und objektiven Raumverhältnissen; und drittens, dass auch Raumdimensionen bipolar erfasst sind. Raum-Zeit. Die Wortzusammensetzung yǔ-zhòu 宇宙 – heute im Sinne von »Weltall«, »Weltraum«, »Kosmos« gebraucht – impliziert nur auf den ersten Blick ein abstraktes Verständnis von Raum und Zeit. Das erste Wortzeichen yǔ 宇 (Raum) bedeutet als Piktogramm »Dachtraufe« und letzteres zhòu 宙 (Zeit) »Dachbalken«. Das Sinnelement »Dach« 宀 in beiden Wortzeichen erinnert ebenso wie der »Dachbalken« an den das Dach tragenden Firstbalken jī 機, der als zweites Zeichen in der Zusammensetzung Tàijīquán 太機拳 erscheint. In kosmologischen Theorien verweist der Große Firstbalken tài-jī 太機 176 auf »den Großen Anfang« – im Gegensatz zu wú-jī 無機 (ohne Firstbalken/ohne Anfang/ohne Ende) und ist dann identisch mit dem undifferenzierten dào. So steht in der eingangs zusammengefassten Kosmogonie des Huainanzi (siehe I.1) yǔ-zhòu – analog dem tài-jī – für den »Anfang der Welt«: Als Himmel (tiān 天) und Erde (dì 地) noch keine Form hatten, das war wie Pferdegalopp, wie Flügelschlagen […]. [Da war nur] Leere (xū 虛) und Weite (kuò 霩). Leere und Weite brachten Raum (yǔ 宇) und Zeit zhòu (宙) hervor. Raum und Zeit (yǔ-zhòu 宇宙) brachten das ursprüngliche qì hervor. 177

Als erste Differenzierung überhaupt markieren Raum und Zeit (yǔzhòu) demnach die Schnittstelle zwischen undifferenziertem dào und differenzierter Welt. Anders gesagt, yǔ-zhòu geht der weiteren Entfaltung von Welt voraus und liegt damit allem Weltgeschehen zugrunde. So ist es nur folgerichtig, wenn sich der Begriff im Zhuangzi auf Weltgegebenheit schlechthin bezieht: Aufgestellt inmitten der Welt (yǔ-zhòu 宇宙) kleide ich mich im Winter in die Felle von Tieren, im Sommer in Leinen; im Frühling pflüge und säe ich […]. 178

Weltzeitlich und welträumlich differenziert fällt auch die Definition im Huainanzi aus: Was sich als vergangen verabschiedet (wàng–gǔ 往古) und als Gegenwart ankommt (lái-jīn 來今) – das nennt man zhòu 宙 (Zeit). Die vier Weltengegenden mit Oben und Unten – das nennt man yǔ 宇 (Raum). Das dào liegt mittendrin (jiān 閒), doch niemand weiß, wo. 179

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7. Zeit und Raum

Unverkennbar verweisen die weltzeitlichen Definitionen von zhòu 宙 auf die Erfahrung vom Fluss der Zeit, der sich zwischen dem Alten, das vergangen ist, und der Gegenwart, die gerade »ankommt«, ereignet. In der welträumlichen Definition von yǔ 宇 wiederum ersteht ein Raum in horizontaler Ausdehnung »aufgespannt zwischen den vier Weltgegenden« und in vertikaler Aufrichtung »mit Oben und Unten«. Neben dieser lebensweltlich und alltäglich erfahrenen Bedeutung von Zeit und Raum kommt das Zhuangzi an anderer Stelle auf die zweite Zeit- und Raumerfahrung zu sprechen, die insofern radikal davon verschieden ist, als sie Zeit- und Raumdifferenzierung gerade negiert. Auf das Erleben des Kontinuums von Dauer und Weite gerichtet, verweist yǔ-zhòu hier auf den meditativen Einklang mit dem dào. Anders gesagt, an der Schnittstelle zwischen Undifferenziert (dào) und Differenziert (Welt) zeigt yǔ-zhòu in dieser Textpassage sein der differenzierten Welt abgewandtes Gesicht: Was ausgefüllt ist (shí 實), und darin ist kein weiterer Ort, das ist yǔ 宇 (Raum); was von Dauer (zháng 長) ist, und es gibt nichts an Verminderung darin, das nennt man zhòu 宙 (Zeit). 180

Das Erfahren von Weite als Ort vollkommener Fülle, von Dauer ohne Verminderung, d. h. ohne Abschied (von Vergangenem), unterstellt meditative Versunkenheit, unterstellt, um es mit Heidegger zu sagen, Erleben »verweilender Weite« 181. So impliziert yǔ-zhòu in dieser Definition die »Fülle in der Leere«, in der noch nichts geschieden ist. Auch Raum und Zeit nicht – geschweige denn, dass einzelne Raum- oder Zeitstellen auszumachen sind. »Verweilende Weite« ist schlichte Gegenwart, die sich vom täglich erlebten Fluss der Zeit unterscheidet. Der Textstelle im Zhuangzi sind folgende – in diesem Sinne erhellende – Sätze vorausgeschickt: Wer sich nach außen wendet, ohne zurückzukehren, den sehe ich schon als Totengespenst! […]. Wer aber in seiner Gestalt (xíng 形) das Ungestaltete (wú–xíng 無形) gestaltet, der steht fest (dìng 定): geht hervor aus dem grundlosen [Grund], kehrt zurück ins unerschöpfliche [dào]. 182

Raum-Zeit im Zhuangzi – schillernd, ein Krug-und-Becherwort? So gesehen stehen in diesem Kontext abstrakte Definitionen von Zeit und Raum gar nicht zur Debatte. Was hier zählt, ist die Verwirklichung des alles »durchdringenden dào« (tóng-dào 同道) im Hier und Jetzt der Lebenszeit. Voraussetzung ist, Trennung und Vereinzelung fahren zu lassen! 81

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Wie das gelingt, erfährt, wer die eingangs zitierte Geschichte vom Ungeschiedenen rückwärts verfolgt (siehe I.1). Da Hundun an der Bohrung der Sinnesöffnungen stirbt, verheißt der umgekehrte Weg, das Verschließen der Sinne, »Rückkehr zur Wurzel« guī-gēn 歸根, zum Ursprung, wo Zeit und Raum in Dauer und Weite aufgehoben sind. Das Dauer-Weite-Kontinuum kann zerreißen durch »plötzlichen Einbruch des Neuen« paradigmatisch im Schreck 183 – drastischer noch im Tod des Ungeschiedenen (siehe I.1). Dann sondern sich Zeit und Raum, dann entsteht aus reiner Weite der fünffach gegliederte Raum aus der Mitte und den Vier Richtungen. Reine Dauer wird zum dreifach gegliederten Fluss der Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Analog entfalten sich Identität und Verschiedenheit der Wesen und Dinge, und mit ihnen bildet sich die Subjektivität eines je spezifischen Ich. Über den Fluss der Zeit und meditatives »Verweilen in Weite« hinaus hält die alte chinesische Philosophie auch das dritte Muster messbarer Raum- und Zeitgrößen bereit. Wie nicht anders zu erwarten, sind hier dieselben (Krug-)Worte bemüht, d. h. shí 時 für einzelne Zeitsegmente und yǔ 宇 für den messbaren Raum sowie das Wortzeichen jiǔ 久 (lange/lange Zeit) für die abstrakt zu definierende Zeit. Überlegungen über gemessene Zeit- und Raumgrößen beschäftigen Philosophen im Umkreis des Mozi – neben der Widerspruchsfreiheit der Begriffe und Angemessenheit von Gattungen und Bezeichnungen 184 (siehe I.4). Vor allem späteren Mohisten wird die Vorliebe für ein Konzept von Zeit nachgesagt, das einzelne Momente und Segmente unterstellt, analog das Interesse an einem Konzept von Raum, der aus einzelnen Orten zusammengesetzt ist: Die Zeit (jiǔ 久) ist ausgefüllt (mí 彌) mit unterschiedlichen Zeitmomenten (yì shí 異時), der Raum (yǔ 宇) ist ausgefüllt mit unterschiedlichen Orten (yì suǒ 異所). 185

Wenn bis ins 19. Jahrhundert hinein der Mohismus im Kanon der Philosophie und kulturellen Gedächtnis nicht berücksichtigt ist, bestätigt noch diese selektive Vergesslichkeit das allgemeine Desinteresse altchinesischer Philosophie an einer analytisch durchdrungenen Welt. Die radikale Empfehlung im Zhuangzi »Vernichtet den Scheffel, zerbrecht die Waage!« 186 zeichnet die Vision eines »goldenen Zeitalters«, in dem die Menschen im Einklang leben – fern von Unterscheidungen, Trennungen, Messungen. 82

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7. Zeit und Raum

Raum-Zeit-Metaphorik von dào 道 dào als Weg. Am Ende der Suche nach Indizien gespürter Erfahrung in der alten chinesischen Philosophie kehren wir zum Anfang zurück, zur Weltentstehung, zu Grund (běn 本) und Wurzel (gēn 根) alles Seienden, zum dào (siehe I.1). Auch im Wortzeichen für dào 道 verbirgt sich eine eigen-sinnige Raum-Zeitlichkeit. Aus den Sinnelementen Fuß + Straße = gehen/begehen 辶 und Kopf 首 zusammengesetzt, bedeutet dào ursprünglich »Weg« oder auch »Trampelpfad« wilder Tiere, dem der Jäger folgt. Sollte Laozi, dem das Daodejing zugeschrieben wird, tatsächlich Sterndeuter gewesen sein, kommen als »Sitz im Leben« von dào auch die Umlaufbahnen der Himmelskörper infrage, auf deren Kenntnis der altchinesische Ackerbau beruht. Dazu passt, dass nicht Wissen um des Wissens willen gefragt war, sondern wie sich der Mensch – unterwegs in der Welt – in jedem Augenblick zu sich und zum Leben verhalten soll. Die Antwort lautet: im Einklang mit dem dào, mit Himmel und Natur! Im Zeichen für dào steht das Element »gehen« für die Lebenswege, auf denen alles Seiende auf Reisen ist. Der »Kopf« ist im alten China den Göttern und Geistern, dem Himmel zugeordnet, und verweist so auf eine den Menschen übergreifende Dimension. Uns Heutigen und Hiesigen, die wir mit dem Kopf das Denken verbinden, mag das bedeuten: Der Mensch weiß, dass er unterwegs ist. Suchen die einen sich selbst, so die anderen die Einheit mit dem Göttlich-Numinosem. Auch ohne festes Ziel sind die Wege der Menschen Selbstbewegung und Selbstgewinnung. Das Selbst mag einem unterwegs abhanden kommen oder an bestimmten Haltemarken und Wegkreuzungen abzustreifen sein wie ein ausgetretener Wanderschuh. Doch barfuß Gehen ist Selbstentfaltung und Selbstgestaltung wie Schreiten, Laufen, Klettern, Schwimmen, Hüpfen, Springen, Tanzen und nicht zuletzt die paradoxe Reise, ohne loszugehen 187. dào nimmt schon in vorchristlicher Zeit abstraktere Bedeutung an und bezeichnet dann jene namenlose Kraft, den chaotisch-mannigfaltigen Weltengrund, aus dem alles hervorgeht, in den alles zurückkehrt (guī 歸, Rückkehr/Heimkehr). In anderen Kontexten steht dào bis heute für Kunst, Methode, Prinzip. Auch dann ist das Weghafte, ja Fließende der ursprünglichen Wortbedeutung nie ganz verlorengegangen: »Will man das dào mit dem vergleichen, was unter dem Himmel ist: Es ist der Quellbach – den Flüssen und Meeren.« 188 83

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Metaphorik des Brunnens. Die Rückkehr – aus entfalteter Gegenwart ins Dauer-Weite-Kontinuum meditativer Versenkung ist nichts anderes als Schöpfen von Lebenskraft aus dem unerschöpflichen Grund: dào als Brunnen, eine Raummetapher der besonderen Art: Zi Gong kam bei einer Reise in den Süden nach Chu auf dem Rückweg nach Jin. Nördlich des Han-Flusses sah er einen alten Mann, der sein Feld bestellte. In den Tunnel [des Brunnens] hatte er [Stufen] geschlagen um hinabzusteigen. Einen Krug Wasser tragend kam er heraus und bewässerte sein Feld. Unter Einsatz all seiner Kräfte verausgabte er sich sehr und war kaum effektiv. Zi Gong [wandte sich an ihn]: »Dafür gibt es eine Technik, mit der sich an einem Tag hundert Felder bewässern lassen – mit wenig Kraftaufwand und viel Erfolg. Würdet Ihr so etwas haben wollen?« Der Bauer, sich aufrichtend, sah [Zi Gong] an und fragte zurück: »Was soll das sein?« [Zi Gong] sprach: »Eine [Hebel-]Vorrichtung aus Holz, hinten schwer und vorne leicht. Sie holt das Wasser so schnell herauf, als ob es überkoche. Ziehbrunnen heißt das!« Diese Rede erregte den Zorn des Bauern, dann aber sagte er lachend: »Ich habe von meinem Meister erfahren, dass dort, wo Mechanik ist, die Dinge auf mechanische Weise erledigt werden; und wenn Dinge auf mechanische Weise erledigt werden, dann bekommt man unweigerlich ein Maschinenherz. Hast du [aber] ein Maschinenherz in der Brust, dann ist das Reine und Schlichte nicht mehr vorhanden. Ist das Reine und Schlichte nicht mehr vorhanden, verliert der Lebensgeist (shén-shēng 神生) seinen Halt. Verliert der Lebensgeist seinen Halt, dann kann auch der Weg (dào) nicht mehr gegangen werden. Nicht, dass ich solche Mechanik nicht kenne, ich schäme mich aber, sie anzuwenden.« 189

Die Überlegung, das eine ließe sich tun, ohne das andere zu lassen, kommt dem Alten nicht. Seine Scheu, die Kreise des Brunnens in der Tiefe durch Zwecke zu stören, trifft sich mehr als tausend Jahre später mit Pablo Nerudas Hymne auf den Brunnen: Immer wenn ein Tag zur Neige geht, ist irgendwo in jeder Nacht ein Brunnen, in dem die Klarheit eingefangen ist. Am Rande des Brunnens der Dunkelheit müssen wir sitzen und fischen nach dem hinabgestürzten Licht – voller Geduld. 190

Es scheint, als stimmten die Dichter allerorten und aller Zeiten mit dem Alten überein, wenn er dem Brunnen mehr zutraut als bloße Zweckdienlichkeit:

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7. Zeit und Raum

Der tiefe Brunnen weiß es wohl, einst aber wussten alle drum, nun spukt im Kreis ein Traum herum. 191

Auch im alten China hütet der Brunnen das »Weltgeheimnis«, ist Inbegriff kosmischer Vollkommenheit. Die quadratische Bodenfläche entspricht der Erde, die runde Öffnung dem Himmel. Im Hexagramm 48 (jǐng 井) ehrt das Yijing den Brunnen als Nahrungsspender – unerschöpflich »wie der Blasebalg des qì« 192.

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Zusammenfassung des ersten Teils

Im Zwischenraum begriffener Erfahrung. Die Suche nach dem Sitz im Leben von dào 道 und dé 德, qì 氣, yīn 陰 und yáng 陽, wǔ-xíng 五行 und assoziierten Konzepten hat gezeigt, dass zwischen kulturspezifischen Denkbegriffen einerseits und sprachlosem Spüren andererseits ein Zwischenraum auszumachen ist. Hier stehen in beiden Sprachen Wörter bereit, um Erfahrung in unmittelbarer Nachbarschaft der Phänomene zu umschreiben. Diese Wörter sind transkulturell gültige Erfahrungsbegriffe: – Atem – Rhythmus und Intensität – Bipolares Geschehen aus Füllen und Leeren, Verdichten und Zerstreuen, Engen und Weiten, Ruhen und Bewegen, Verbergen und Entdecken – Mitte – Von-selbst-Sein (Natürlichkeit, Spontaneität) – Resonanz (über synästhetische Charaktere und Richtungsverläufe in Raum und Zeit) – Widerstreit der Kräfte – Primat des Augenblicks als meditative Aufmerksamkeit Dass alle diese Erfahrungsbegriffe am Ein- und Ausatmen veranschaulicht werden können, weist die altchinesische Philosophie noch einmal zusammenfassend als köperleiblich fundiert aus: Übung 6: Philosophie in einem Atemzug Wir atmen ein und aus und sind in diesem Vollzug bipolares Geschehen: Füllen und Leeren (yīn und yáng), Verdichten und Zerstreuen (qì), Heben und Senken (gerichtete Kräfte), Engen und Weiten (Raum und Zeit). Heben und Senken, Engen und Weiten sind einerseits spürbar (Leib), aber auch (mit den Händen an den Flanken) tast- und sichtbar 86

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Zusammenfassung des ersten Teils

(Körper): Wenn Einatmen/Füllen innerlich mit dem Empfinden von Engung einhergeht, dann ist dieser Vorgang äußerlich als Weitung des Brustkorbs tast- und sichtbar. Mit anderen Worten, Leib und Körper sind aneinander gebunden, aber nicht identisch. Wir atmen ein und aus und variieren Rhythmus und Intensität. Wir atmen ein und aus – tief und lang: Wenn tiefes Einatmen den Pol erreicht, an dem wir nicht anders können, als wieder auszuatmen, dann sorgt für die Wende am Dreh- und Angelpunkt ein Widerstreit der Kräfte. Wir atmen ein und aus – tief und lang und nehmen vor der Wende am Dreh- und Angelpunkt den Moment der Ruhe in der AtemBewegung wahr: zwischen Aus und Ein, zwischen Ein und Aus. Wir lassen den Atem »von selbst« kommen und gehen – »es atmet mich.« Dann pendelt das bipolare Geschehen um eine Mitte, die Ausgleich ist und Ökonomie der Kräfte. Wir lassen den Atem geschehen und sind im Austausch, in Resonanz mit der Welt, atmen Welt ein und aus, sind »eingetauschter Weltenraum«, sind, genau genommen, Innen und Außen: das isolierte Individuum – ein Irrtum, eine Illusion. Wir lassen den Atem geschehen: Wenn Aufmerksamkeit mitlaufend/schwebend beim Atmen verweilt, hat kein differenzierter Gedanke die Chance, sich dazwischenzuschieben. Dann »reiten wir auf dem qì«, sind im Einklang mit dem chaotisch-mannigfaltigen dào. Philosophie oder Weisheitslehre? Die ununterbrochene Wandlung der Welt im Blick hat Philosophen im alten China zu einer Lehre vom Seienden gebracht, die das Fließende und Flüchtige in den Mittelpunkt rückt. Wenn alles fließt und sich wandelt, keine Situation der anderen gleicht, lassen sich Phänomene nicht festhalten und im Grunde auch nicht begrifflich fixieren. Worte sind so gesehen in ihrer situativ »wandernden Bedeutung« immer nur Krug- und Becherworte. Diese Sicht auf die Welt kontrastiert mit einer europäischen Ontologie, welche die festen Körper zum Leitbild erhob, mit eindeutigen Begriffen hantierte, so dass alles Seiende dem Menschen überaus handhabbar, manipulierbar, beherrschbar erscheint. Über Dinge, an denen Wandlung auf Anhieb nicht unmittelbar auszumachen ist: »Der eiserne Nagel rostet […] diskret« 193, kann man sich intersubjektiv verständigen, kann sie messen, wiegen, vergegenständlichen, objektivieren. Wandlungs- respektive Situationsontologie auf der einen Seite, 87

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben

Substanzontologie auf der anderen haben jeweils andere Folgen für Welt- und Selbstauslegung. Wenn aber altchinesisches Denken zur Weisheitslehre erklärt und einer europäischen Philosophie gegenübergestellt wird, sei es abwertend oder aufwertend gemeint, sind dieser Sicht der Dinge vier Argumente entgegenzuhalten: Erstens, altchinesisches Nachdenken ist Philosophie im besten Sinne, wenn Philosophie nicht mehr und nicht weniger bedeutet als ein »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung« 194. Zweitens, Philosophieren setzt Wissen von der Welt voraus. Wissensarten können vielfältig sein, so dass Philosophie, darauf aufbauend, ebenso vielfältig in Erscheinung tritt. Wissensarten umfassen intuitives verstehendes Alltagswissen, praktisches Erfahrungswissen, wissenschaftliches Wissen, Weisheitswissen bis hin zu magischem und transnormalem Wissen, d. h. Träume, Weissagungen, Hellsehen und Telepathie. 195 Drittens, in allen Kulturen wird und wurde gewusst und philosophiert im oben definierten Sinn. Die Einheit von Theorie und Praxis, die im alten China wie im antiken Griechenland und Rom, im Christentum, in der Mystik gefordert ist, muss kein Kriterium nur für Weisheit sein. Letztlich ist auch Philosophie so viel wert, wie sich danach leben lässt und ob im jeweiligen Selbst- und Weltvollzug ein aufhellender, erfreulicher Gedanke zum Durchbruch kommt, der niemand und nichts verletzt und präsent ist im eigenen Leben wie das Licht, das »buchstäblich alles verwandelt, was es berührt« 196. Viertens, obwohl altchinesische Philosophen kein Interesse zeigen, die Welt zu objektivieren, ist auch in China über die Jahrhunderte geforscht, gemessen, geprüft und konstruiert worden. Wie sonst kommt es, dass eine ganze Reihe maßgeblicher Erfindungen der Weltkultur in China stattfinden, bevor sie zweihundert, fünfhundert oder auch tausend Jahre später anderswo auf der Welt aufgegriffen oder neu entdeckt worden sind. 197 Die Wortzeichen für dǒu 斗 (Scheffel) und chèng 秤 (Waage), d. h. für die Maßeinheiten von Volumen und Gewicht, für guī 規 (Zirkel) zur Bestimmung des »Runden« (yuán 圓) und für jǔ 矩 (Winkelmaß) zur Bestimmung des »Eckigen« (fāng 方) sind in altchinesischen Texten ebenso präsent wie das Reden von tiān 天 (Himmel) und von dào 道. Ob im Verlauf einer beeindruckenden Wissenschafts- und Technikgeschichte Chinas Gelehrte in der Zuwendung zur Welt situativ die 88

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Zusammenfassung des ersten Teils

Register wechselten zwischen leiblicher, hermeneutischer und analytischer Intelligenz oder ob ganz andere Kreise, das Handwerk z. B., für Erfindungen und Entdeckungen verantwortlich sind oder beides, muss hier nicht entschieden werden.

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Zweiter Teil Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Verweile nicht und sei dir selbst ein Traum und so du wandelst, danke jedem Raum. Bequeme dich dem Heißen wie dem Kalten. Du wirst der Welt, sie wird dir nicht veralten. Johann Wolfgang Goethe

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Mit Ausnahme der »Faust des Taiji« (tàijíquán 太极拳), einer verlangsamten Kampfkunstform aus dem 18. Jahrhundert, sind Bewegungsübungen des heutigen Qìgōng 氣功, der Tierspiele und der Kampfkunst vor etwa 2500 Jahren schriftlich belegt. Sie entwickeln sich zunächst unabhängig voneinander. Streben die einen nach Gesundheit, langem Leben und Unsterblichkeit, so die anderen nach Ertüchtigung der Krieger und Soldaten, deren Handwerk eher das Gegenteil verspricht. Auch Musik, Dichtung, Schreib-, Park- und Gartenkunst sind in den Jahrhunderten vor Christus charakteristische Aspekte einer sich herausbildenden chinesischen Kultur. Den Reigen der Bewegungskünste eröffnet der Teil der Lebenspflege, der heute allgemein als Qìgōng bezeichnet wird. Das Spiel der Tiere, Kampfkunst und Tàijíquán schließen sich an. Bewegungskünste im weiteren Sinne leitet die Dichtung ein, gefolgt von Kalligraphie und Malerei, Musik, Fēngshuǐ 風水 und Gartenkunst. Jede Bewegungskunst beginnt mit einem historischen Exkurs, um Stationen der Vorgeschichte abzuschreiten – bis zur Herausbildung jener Gelehrtenkultur, die im dritten Jahrhundert n. Chr. die Bühne der Welt betritt und die chinesische Kultur für mehr als ein Jahrtausend prägt: Beamte, Generäle, Höflinge im Umfeld des Kaisers, erweitert um Äbte, Mönche und Eremiten, personifizieren das Ideal einer Bildung und Bildungspraxis, die alle möglichen Künste umfasst, von der Dichtkunst, Malerei und Kalligraphie über Musik, Wohn- und Gartenkunst bis hin zum Schwerttanz, gymnastischen und Atem-Übungen, der Meditation. »Ästhetischer Genuss um seiner selbst willen« lautet eine ihrer Antworten auf eine Zeit politischer Wirren, rasch wechselnder Herrschaften und Kriege. Bei aller Verselbständigung der Künste ist diese Gelehrtenschicht allerdings Teil der Herrschaft – als Träger in Amt und Würden, aber auch als Opfer: Xi Kang (223–262) 1, einer der »Weisen vom Bambushain« 2, Dichter, Musiker, der Lebenspflege zugetan, erwartet noch vor seinem vierzigsten Lebensjahr, die Zither spielend, die öffentliche Hinrichtung. Andere ziehen sich rechtzeitig aus den Unwägbarkeiten der Politik ins Privatleben und in die Künste zurück. Wieder andere versuchen, sich in beiden Feldern zu behaupten. Dass Beamte und Gelehrte gleich mehrere Künste »in Personalunion« meistern, bringt von selbst Analogien, Wechselwirkung und Überkreuzungen hervor. Was dabei entsteht, sind »Gesamtkunstwerke« à la chinoise – verknüpft auf dem Boden der altchinesischen Philosophie. 92

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

In China selbst fällt seit der Mittleren Kaiserzeit ein Teil ihrer Botschaft in Vergessenheit. Fremdherrschaften, europäische Einflüsse, Interesse an praktischem Wissen von Technik und Medizin und nicht zuletzt Freude an umgangssprachlicher Literatur nagen am klassischen Bildungsideal, das etwa tausend Jahre für eine kleine Eliteschicht verbindlich und verbindend war. Hinzu kommt Bürokratisierung von Staat und Gesellschaft, so dass der »Edle« nur noch »den Mund bewegt, nicht die Hand«, wie es im Sprichwort heißt. Im 20. Jahrhundert muss Mao Zedong schwimmend den Langen Fluss durchqueren, um einer »lendenlahmen« Jugend zu demonstrieren, was körperliche Ertüchtigung ist. Heutigen Chinesen ist die Wechselwirkung von Philosophie, Dichtung, Malerei, Kalligraphie, Musik, Wohn- und Gartenkunst mehr oder weniger bewusst. Auch im Westen ist sie rezipiert und gewürdigt worden. 3 Doch Bewegungskünste im engeren Sinn sind eine Weile schon ausgeschlossen aus dem gelehrten Diskurs, erst recht aus dem Tun der Gelehrten. Li Yu (1611–1680), Multitalent der Späten Kaiserzeit, ist stolz darauf, »konfuzianischer Gelehrter« (rú-shēng 儒生) zu sein, der keiner Atem- und Körperübungen bedarf, um »Freude zu verwirklichen« und gesund zu bleiben. 4 Eine noch so kursorische geschichtliche Einbettung der einzelnen Künste ist umso erhellender, als diese an konkreten sozialen Orten entstehen, praktiziert werden, sich wandeln, in Vergessenheit geraten, unterdrückt und wiederentdeckt werden. Im Anschluss an den historischen Exkurs sind jeweils Praxiseinheiten vorgesehen: In den ersten beiden Kapiteln sind das ausgewählte Qigong-Übungen und Tierspiele. 5 Aber auch Gedichte, kalligraphische Proben, eine Tuschemalerei, Musik-Notationen und nicht zuletzt bildreiche Anekdoten und Zitate aus der Geschichte der Künste gelten hier als Praxiseinheiten, auf welche die Erfahrungsbegriffe aus dem Zwischenraum anzuwenden sind: – Atem – Rhythmus und Intensität – Bipolares Geschehen Ruhen und Bewegen, Füllen und Leeren, Verdichten und Zerstreuen, Engen und Weiten, Verbergen und Entdecken – Mitte – Von-selbst-Sein (Natürlichkeit, Spontaneität) – Resonanz (synästhetische Charaktere und Richtungsverläufe in Raum und Zeit) 93

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

– –

Widerstreit der Kräfte Primat des Augenblicks als meditative Aufmerksamkeit

Nicht immer sind alle Aspekte gleich gültig vertreten. Doch das Was und Wie des situativen Zusammenspiels verleiht der jeweiligen Bewegungskunst wie der einzelnen Praxiseinheit ihr unverwechselbares Gepräge.

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1. Qìgōng 氣功 6

Qìgōng steht heute für eine Atem- und Bewegungspraxis, die Gesundheit und Langlebigkeit verspricht, im alten China sogar Unsterblichkeit verheißt. In der altchinesischen Philosophie finden sich dazu verschiedene Begriffe, allen voran yǎng-shēng 養生 (Nähren/Pflege des Lebens) im Zhuangzi und yǎng-qì 養氣 (Nähren des qì) im Mengzi. Texte und Abbildungen seit den Jahrhunderten vor Christus legen nahe, dass jede noch so einfache Bewegung von Rumpf, Armen und Beinen so genannt werden kann: Gebärden in der Horizontalen, Vertikalen oder Diagonalen, als Spirale und Kreis sind Qìgōng – immer vorausgesetzt, sie sind im Einklang mit Atem und Konzentration. Nach vorne gewandt liegt ein Ziel vor Augen, nach hinten gerichtet Rückzug im Sinn; der Schritt zur Seite ist Aus-dem-Wege-Gehen, und in der Diagonalen schlägt das Herz zum Aufbruch, zum offenen Neubeginn.

Historisches Resonanz. Texte aus den vorchristlichen Jahrhunderten schildern mehr oder weniger ausführlich, mehr oder weniger humorvoll eine Praxis der Bewegungs- und Atemkunst, die bei den adligen Zeitgenossen damals beliebt, wenn nicht in Mode war. Der prophylaktische Sinn dieser Übungen ist im Lüshi chunqiu veranschaulicht mit dem Bild vom »fließenden Wasser, das nicht fault, von der Türangel, die nicht rostet« 7. Doch auch der Lebenswandel eines Konfuzius (551–479 v. Chr.), wie ihn die Schüler beschreiben, die Selbstkultivierung eines Xunzi (?298– 238 v. Chr.) ist Lebenspflege, nicht anders als die Suche nach dem dào im Zhuangzi und Daodejing. Konkrete Informationen über Techniken der frühen Lebenspflege verdanken wir der Archäologie. Seit den 1940er Jahren liegt eine Inschrift vor, die ins vierte vorchristliche Jahrhundert datiert ist. Sie ziert den Jadeknauf eines Wanderstabs und beginnt mit den Worten: 95

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Wird das qì tief geführt (xíng-qì 行氣), so sammelt es sich; sammelt es sich, so dehnt es sich aus; dehnt es sich aus, so sinkt es hinab; sinkt es hinab, so festigt es sich (dìng 定).

Sie endet mit den Worten: »Wer dem folgt, der wird leben, wer dem zuwider handelt, der wird sterben.« 8 »qì führen« ist eine von zahlreichen Wendungen für jene Atem- und Lebenspflege, die vermutlich damals schon – vor dem offiziellen Erscheinen des Buddhismus – vom altindischen Yoga beeinflusst ist. Spektakuläre Grabfunde der späten 1970er und frühen 1980er Jahre bestätigen, wie eifrig der altchinesische Adel mit Bewegungspraxis befasst ist. Texte auf schmalen Bambusstäbchen, Schreibstoff unmittelbar vor Erfindung des Papiers, erweisen sich als Ratgeberliteratur mit Vorschriften, die der Gesundheit und langem Leben zuträglich sind: maßvolles Essen, geregelter Schlaf, Warnung vor Überarbeitung. Hinzu kommen Körperübungen, von denen insgesamt vierundvierzig Positionen auf dem Seidenbild von Mawangdui (Provinz Hunan) abgebildet sind: Die ins zweite vorchristliche Jahrhundert datierte Illustration zeigt zur Hälfte Männer, zur Hälfte Frauen in bestimmten gymnastischen Haltungen, die den Übungen des heutigen Qìgōng ähnlich, in Einzelfällen sogar mit ihnen identisch sind (siehe Abb. 6).

Abb. 6: Seidenbild von Mawangdui

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1. Qìgōng 氣功

Dass Arm-, Bein- und Körperpositionen mit Atemübungen verknüpft sind, verraten nebenstehende Zeichen. Der dem Seidentuch im Nachhinein verliehene Titel »Illustration zum Leiten und Dehnen« (Daoyintu 導引圖) spielt wie die zeitgenössischen Texte auch auf eine kombinierte Bewegungs- und Atempraxis an: »Dǎoyǐn bedeutet, das Qì zu leiten [dǎo 導], um es zu harmonisieren, und den Körper zu dehnen [yǐn 引], um ihn geschmeidig zu machen.« 9 Im Zeichen für yǐn 引 (dehnen/ziehen) – aus Bogen 弓 und einem vertikalen Strich zusammengesetzt, der womöglich die Sehne darstellt – ist beides enthalten: Engung und Weitung. Ersteres im Bogenspannen als Heranziehen, Letzteres im Dehnen der Sehne, aber auch im Entlassen des Pfeils in die Weite des Raumes. Entfaltung und Anreicherung. Ins dritte vorchristliche Jahrhundert fällt die erste Reichseinigung (221 v. Chr.). An die Stelle des feudalen Königtums tritt ein bürokratisch verwaltetes Kaiserreich, das im Grunde bis 1911 besteht. Zwar ist der Einheitsstaat durch Fremdherrschaften, Bauernaufstände und Palastintrigen chronisch vom Zerfall bedroht, so dass Zersplitterung und Einheit immer wieder aufeinander folgen. Sobald aber Einheit gelingt und hundert oder gar dreihundert Jahre vorhält, dann sorgt jedesmal ein umfassend gebildetes Beamtentum für Anhäufung und Verbreitung von Kenntnissen und Praktiken. Auch die Lebenspflege erfährt in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten Anreicherungen unterschiedlicher Herkunft. Frühere Ansätze werden systematisiert und weiterentwickelt, Übungen zum »Leiten und Dehnen« in den Alltag integriert – als Vorsorge und zu therapeutischen Zwecken. Namhafte Vertreter der Gelehrtenkultur widmen sich neben Dichtung, Musik und Schwertkunst ernsthaft Theorie und/oder Praxis der Lebenspflege – darunter kein Geringerer als Kaiser Wen von Wei (reg. 220–226). Xi Kang (223–262) schreibt vor seiner Hinrichtung eine »Abhandlung zur Lebenspflege«, und Ge Hong (280–340) treibt in China die alchimistische Lebenspflege voran. Über Atem- und Bewegungsübungen hinaus umfasst die frühkaiserzeitliche Lebenspflege Selbstmassage, Sexualtechniken, Verzicht auf Körnernahrung, Arzneien, Rezitation von Mantren und Zauberformeln. Alchimie. Die Sehnsucht nach Läuterung und Transformation des Menschen durch chemische Machenschaften – weit verbreitet in der dama97

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

ligen Welt – bringt auch in China Experten dazu, wenn nicht Gold zu produzieren, so doch ein Lebenselixier in Form der Pille der Unsterblichkeit. Beides entspringt der Sehnsucht »des Menschen, diesseits der Zeit aus der Zeit, diesseits des Todes aus der Vergänglicheit auszubrechen« 10. Adepten der Lebenspflege experimentieren mit Mineralien, unter anderem Zinnober, einer rotfarbigen Quecksilberschwefelverbindung (HgS), und finden dabei nicht selten den vorzeitigen Tod. Im neunten Jahrhundert entsteht unbeabsichtigt unter ihren Händen das hochexplosive Gemisch aus Salpeter, Schwefel und Kohlenstoff, das als Feuerpulver weltweit die Kriegsführung entscheidend verändern wird. In der Geschichte der Lebenspflege zeugt der dreifüßige Koch-Kessel im unteren Bauchbereich traditioneller Körperleibschemata bildlich von der Spur der Alchimisten Noch im heutigen Qìgōng erinnern an die Alchimie die auf Bauch, Brust und Kopf verteilten Zinnoberfelder (dān-tian 丹田), die bei den Übungen mit Atem- und Lebenskraft aufzufüllen sind. So gesellt sich in diesem Kontext zu den früheren Bildern vom Menschen als Mikrokosmos (qì, yīn-yáng) oder als Abbild des Staates (Fürst- und Herrschermetaphorik) seine innere Ausgestaltung als alchimistisches Labor. Spätestens in der Tangzeit (618–906) entwickelt sich alternativ zur chemischen Unsterblichkeitssuche die Innere Alchimie (nèi-dān 內丹). Kombiniert mit der »Äußeren« (wài-dān 外丹) fasziniert sie über daoistische Adepten der Lebenspflege hinaus weite Kreise der Gelehrtenkultur und fächert sich in der Folgezeit in verschiedene Schulen auf. Hand in Hand damit verändern sich die Vorstellungen vom qì. Die äußere, über den Atem aufgenommene Lebenskraft wird von einem »ursprünglichen qì« (yuán-qì 元氣) unterschieden, das als angeborene Lebenskraft im Körperleib kreist – analog der Atmung beim Embryo. Embryonalatmung (tāi-xī 胎息) 11, altindische Yogapraxis, entwickelt sich in China zu einer Form der Meditation, die sich dem anhaltenden »Betrachten« (guān 觀) des innerlich kreisenden qì hingibt. Verknüpft damit ist die spürende »Visualisierung« der Organe, in denen qì fließt. Auch Gottheiten, Farben, Krankheiten, die den Organen zugeordnet sind, werden auf diese Weise meditativ bedacht. Dass Manipulation der Atmung – vom kurzfristigen Atemanhalten bis zum anhaltenden Aussetzen – nicht nur ungewöhnliche Sensationen bewirkt, sondern auch gesundheitsschädlich sein kann, ist Adepten der Lebenspflege damals sehr wohl bewusst (siehe III.1). Der Buddhismus, seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. in China of98

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1. Qìgōng 氣功

fiziell nachgewiesen, durchdringt im Verlauf seiner Sinisierung nach und nach alle Lebensbereiche. Ihm verdankt die chinesische Lebenspflege eine Reihe weiterer Anregungen aus dem alten Indien. Abweichend von den Illustrationen auf dem Seidenbild von Mawangdui (siehe Abb. 6) sind in frühkaiserzeitlichen Texten Übungen beschrieben, die wie Yoga-Asanas auch im Liegen und Sitzen zu praktizieren sind. Über die Embryonalatmung hinaus verraten zwei Besonderheiten chinesischer Medizin und Lebenspflege die Herkunft aus dem alten Indien: erstens die Zinnoberfelder und zweitens die »außerordentlichen« Leitbahnen. Die Zinnoberfelder sind dem Namen nach aus der Alchimie übernommen, als Energiezentren aber den Chakren (Sanskrit: Rad, Kreis) nachempfunden, die im Genitalbereich beginnend auf Bauch (Agni-Feuer), Herz, Kehlkopf, Stirn und Scheitel verteilt sind. Auch die Drei Erwärmer (sān-jiāo 三焦) der chinesischen Medizin sind nichts anderes als Energiezentren, die mit dem unteren, mittleren und oberen Zinnoberfeld identisch sind. Die »außerordentlichen Leitbahnen« wiederum – dū-mài 督脈 (Gouverneursgefäß) und rén-mài 任脈 (Konzeptionsgefäß) – erinnern an susumna, den Energiekanal, der in altindischen makro-mikrokosmischen Körperleibschemata im Innern der Wirbelsäule durch die Chakren von unten nach oben verläuft: An einem Platz außerhalb des Berges Meru (Wirbelsäule) liegen zu seiner Linken und zu seiner Rechten die beiden Kanäle (nadi), der Mond und die Sonne (ida und pingala). Das Gefäß (namens) susumna ist im Zentrum, […] dehnt sich glänzend von der Gegend des Penis bis zum Kopf. 12

Entlang dieser Bahnen lassen Yogi und Yogini durch Konzentration Wärme und Licht im Innern kreisen – im Becken oder in den Fersen beginnend über Zungen- und Nasenspitze bis hin zum »tausendblättrigen Lotus« im Scheitelpunkt. Inneres Kreisen von qì in Form von Wärme und Licht ist der chinesischen Lebenspflege bis heute als »Himmelskreislauf« (zhōu-tiān 周天) bekannt. Tönen. Schon im Zhuangzi und im Seidenbild von Mawangdui sind Atemübungen mit bestimmten Lauten verknüpft – zumal kräftiges Ausatmen überflüssiges und schlechtes qì ableiten oder die ganze Krankheit »ausspucken« soll. Die Integration von langsam und klar artikulierten Tönen in das chinesische Resonanzsystem hin zur Entwicklung des sogenannten Sechs-Laute-Qìgōng erfolgt schrittweise, zu99

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

nächst als Zuordnung zu jahreszeitlichen Atmosphären, um Trockenheit, Feuchtigkeit oder Hitze zu vertreiben oder eben »heranzuziehen«: Man legt sich auf den Rücken [und stößt die Laute] chuī 吹 und xū 呴 aus, um das Yīn heranzuziehen. An Frühlingstagen [stößt man] mehrmals den Laut xū aus sowie einmal hū 呼 und einmal chuī 吹. An Sommertagen [stößt man] mehrmals den Laut hū 呼 aus sowie einmal xū und einmal chuī. An Wintertagen [stößt man] mehrmals den Laut chuī aus sowie einmal xū und einmal hū 呼. 13

Seit dem fünften Jahrhundert n. Chr. sind diese Laute den Speicher- und Palastorganen und damit den Fünf Wandlungsphasen zugeordnet (siehe Tabelle 2). Zuletzt gesellen sich, seit dem zehnten Jahrhundert, gymnastische Bewegungen hinzu. Bewegungshemmung. Zu Beginn der Song-Dynastie (960–1278) ist der frühkaiserzeitliche Adel von der Bühne der Geschichte verschwunden, und ein postheroisches Zeitalter beginnt. Die Abwertung des Militärischen und zunehmende Bürokratisierung fördern bewegungshemmende Tendenzen: »Aus gutem Eisen macht man keinen Nagel, ein guter Mensch wird nicht Soldat!«, heißt es im Sprichwort. Auch neokonfuzianische Merksätze plädieren für Bewegungskontrolle und konstante Selbstbeobachtung: [Das Sitzen sei] fest und ruhig wie ein Berg – so ist beständige Tugend […], die Schritte [seien] von gemessenem Ernst. […] Freust du dich in deinem Herzen, so sollst du doch darum nicht lachend deine Zähne entblößen […]. Echauffierst du dich durch Händeklatschen und Hutbandlösen, so bist du wie ein Schauspieler und Possenreißer. 14

Auf die Lebenspflege bezogen bedeutet diese Entwicklung, dass zunehmend bewegungsgedämpfte Übungen im Sitzen praktiziert werden und/oder als Vorübung zur Meditation (siehe Abb. 7 15). Mitte und Mélange. In der spätkaiserzeitlichen Lebenspflege kommt es zu Neuerungen, die für das heutige Qìgōng wegweisend sind: Betonung der Körperleibmitte und Mélange. Im Jahre 1644 gelingt es den Mandschu, den letzten Ming-Kaiser zu vertreiben und Nordchina zu erobern. Weitere vier Jahrzehnte dauert es, bis sich im gesamten Reich die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten stabilisieren. Hinterließen schon frühere Fremdherrschaften tiefe Spuren einer verletzten chinesischen Selbstwahrnehmung, allen voran 100

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1. Qìgōng 氣功

Abb. 7: Lebenspflege im Sitzen die Mongolen (1279–1368), so schlägt die mandschurische Eroberung in dieselbe Wunde. Umso zäher ist der Widerstand. Die Wirren des 17. Jahrhunderts wirken gravierend auf das kollektive Selbstbild ein. Medizintheoretiker beschreiben Krankheit nunmehr als Invasion von Räubern und Banditen, wo zuvor von Harmonie und Disharmonie (im Körperstaat), Fülle und Leere (der Palast- und Speicherorgane), Durchlässigkeit und Blockade (der Transportwege) die Rede war. Nach wie vor gilt aber, dass Bedrohung im Makrokosmos von Politik und Gesellschaft im Mikrokosmos Mensch als Störung und Krankheit wahrgenommen und an diesem Ort stellvertretend ausagiert wird. 16 Wenn mit der Fremdherrschaft aus dem Norden im »Reich der Mitte« die Mitte verloren geht, so ist folgerichtig die Mitte des Menschen zu stärken. Fast hat es den Anschein, als ob es der Körperleibmitte gelingt, das Herz als Herrscher zu entthronen. Ort der Mitte des Menschen ist seither jedenfalls das Zinnoberfeld im vorderen dān-tián 丹田 und sein Gegenstück, das Schicksalstor (mìng-mén 命門) zwischen den Nieren im hinteren Bereich. Neben Betonung der Körperleibmitte kommt es zu Neuerungen, die ich als Mélange bezeichne. Mélange ist die bewusste Entwicklung des Tàijíquán (siehe II.3) aus der Kampfkunst heraus und beider Verknüpfung mit der Lebenspflege des Qìgōng und der Tiere zu einem 101

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

einheitlichen System der Gesunderhaltung. Daraus entstehen neue Kategorien, auch wenn sie alte Denkmuster bemühen, wie Ruhe-Bewegung, Hart-Weich, Innen-Außen. Entsprechend aufgefächert ist das heutige Qìgōng. Hier sind Übungen »in Ruhe«, d. h. meditatives Stehen oder Sitzen, zu unterscheiden von Übungen »in Bewegung«. Wenn darüber hinaus »hartes Qìgōng« gegen »weiches« oder »äußeres« gegen »inneres« abgegrenzt wird, so beziehen sich »hartes« und »äußeres« auf die Kampfkunst, »weiches« und »inneres« Qìgōng auf Übungen der Lebenspflege (yǎng- shēng 養生) im ursprünglichen Sinn, einschließlich der Tierspiele und des Tàijíquán. 17 »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen«, gilt auch hier, so dass die spätkaiserzeitliche Mélange eine bisher unbekannte Popularisierung nach sich zieht. Neue gesellschaftliche Schichten wenden sich den Bewegungskünsten im engeren Sinne zu, während Gelehrte sich davon distanzieren. Li Yu (siehe II.7) hat für Lebenspflegeexperten (yǎng-shēng-jiā 養生家) und »Techniker« (shù-shì 術士) nur Verachtung übrig: Ich aber bin ein Gelehrter (rú shēng 儒生) und kein Techniker (shù-shì 術士)! Techniker lehren »Fertigkeiten« (術), Gelehrte stützen sich auf die Vernunft (lǐ 理). 18

Mélange kennzeichnet auch die mit den Übungen mitlaufende Aufmerksamkeit (yì 意). Liegt der Fokus bisher auf Atemgeschehen, Tieranmutungen, Naturbildern, Energiezentren, so gesellt sich im Zuge spätkaiserzeitlicher Professionalisierung und Medikalisierung die Konzentration auf Leitbahnpunkte und Leitbahnverläufe hinzu. Verwissenschaftlichung und Globalisierung. Im zwanzigsten Jahrhundert stellt sich das Schicksal der Lebenspflege als eine Geschichte von Unterbrechungen dar, bedingt durch die Wirren der kommunistischen Revolution und des antijapanischen Kampfes. Nach Gründung der VR China im Jahre 1949 gelingt es zunächst, die überkommenen Übungen auf der Grundlage einer modernen naturwissenschaftlichen Medizin wiederzubeleben. Seither umfasst der Begriff Qìgōng, der in älteren Texten nur in der Bedeutung »Wirkkraft des qì« vorkommt, das gesamte Repertoire der tradierten und neu erarbeiteten Techniken. Während der »Zehn schlimmen Jahre« der Kulturrevolution (1968–1978) liegt die Lebenspflege brach – nicht anders als Kampfkunst, Tierspiele und traditionelle Medizin. Erst Anfang der 1980er 102

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1. Qìgōng 氣功

Jahre kehren Qìgōng-Übungen in Forschungsinstitute, Krankenhäuser, Rehabilitationszentren zurück. Veränderte und neue Formen werden in Umlauf gebracht, wie das Guolin-Qìgōng, das »49er« und das »gesundheitsschützende Qìgōng«. 19 Nach der Liberalisierung kommt es in öffentlichen Parks zu einer Entwicklung ekstatischer Formen aus Schüttelbewegungen heraus, die ebenso spontan, wie sie entstehen, als »gesundheitsschädlich« wieder verboten werden. Hier zeichnet sich eine politische Kontrolle ab, die im Verbot der Falungong-Bewegung Ende der 1990er Jahre kulminiert. Auch Bemühungen der letzten Jahre, von Regierungsseite abgesegnete, standardisierte Bewegungsformen allgemein durchzusetzen, demonstrieren das Interesse staatlicher Aufsicht. Sie betreffen das »Aussenden von qì« (fā-qì 發氣) durch professionelle Heiler ebenso wie Brokatübungen und Tierspiele, das SechsLaute- und Wildgans-Qìgōng. Neben Verwissenschaftlichung ist Globalisierung aus der Entwicklung des heutigen Qìgōng nicht mehr wegzudenken. Bereits in den 1950er Jahren zeigt sich die westliche Welt interessiert an der Praxis der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Zeitlich versetzt gelangen fernöstliche Bewegungskünste in den Westen, zunächst Kampfkunst und Zen über Japan, seit den 1980er Jahren dann Tàijíquán und Qìgōng aus China. Qìgōng im oben differenzierten Sinn gilt heute als fünfter Pfeiler der Traditionellen Chinesischen Medizin und als Exportschlager der Volksrepublik.

Praxiseinheit: »Himmel-Mensch-Erde« Diese Einheit besteht aus drei Übungen 20, in denen die philosophischen Begriffe Himmel (tiān 天), Mensch (rén 人) und Erde (tǔ 土) (siehe I.1) als Körperleibgestalt abzubilden sind. Vor und nach jeder Teilübung steht ein Vers aus einem chinesischen Gedicht, der eine tages- oder jahreszeitliche Stimmung evoziert, passend zu Wortzeichen und Bewegungsgestalt. Über diese meditative Einstimmung gelingt zweierlei: »Tausend Gedanken durch einen zu ersetzen« und Einbettung in eine atmosphärisch aufgeladene übergreifende Situation. Wer Qìgōng übt, singt das Lob der Langsamkeit – je langsamer die Bewegung, desto mehr Eigenspüren. Die Arme, nur in Ausnahmen durchgestreckt, bilden weich in den Ellbogen abgewinkelt einen lockeren Bogen. Kraftvolle Spannung an einer Stelle impliziert Lockerung 103

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überall anders. Jedes Einatmen bewirkt spontan ein Heben und Aufrichten des Gesamtkörpers, mit dem Ausatmen ein Senken, so dass sich die Übung, wenn sie gekonnt ist, einer Welle gleich fortbewegt. Grundsätzlich können Übungen am Morgen intensiver ausfallen, am Abend sind moderate Bewegungen vorzuziehen. Unabhängig von der einstimmenden Vorstellung (yì 意) eines Naturbildes kann der Übergang vom Alltag in die Praxis sowie die Rückkehr in den Alltag durch eine besondere Übung »zelebriert« werden. Im vorliegenden Fall ist die Einstiegsübung (rù-gōng 入功, Eintreten in das Qìgōng) mit der Abschlussübung (chū-gōng 出功, Verlassen des Qìgōng) identisch. Auch die Tierspiele lassen sich auf diese oder andere Weise 21 einleiten und abschließen. Übung 7: Eintreten in das Qìgōng (rù-gōng 入功) Ausgangsposition. Aufrechte Standhaltung bei geschlossener und paralleler Fußposition (ca. 5 cm Abstand) mit an den Seiten locker und weich hängenden Armen. Übung. Einatmen! Ausatmend Gewichtsverlagerung auf den rechten Fuß; einatmend linken Fuß leicht anheben zum schulterbreiten Stand, ausatmend beide Füße gleichmäßig belasten. Einatmend die Arme von unten nach oben (Handinnenflächen nach oben gewandt) zu einem »V« öffnen und in einer empfangenden Bogenhaltung bis auf Stirnhöhe anheben. Ausatmend Handinnenflächen einander zugewandt, Finger nach oben zeigend auf horizontaler Linie bis vor die Stirn (ein Kopfbreit Abstand von der Stirn) zu einer lockeren Gebetshaltung zusammenführen. Einatmend Ruhemoment in dieser Position. Ausatmend die Gebetshaltung nach unten führen, ab Brusthöhe Hände allmählich voneinander lösen, Handinnenflächen nach unten weiterführen und auf Bauchhöhe zur Seite in die Ausgangsposition zurückführen. Einatmen und mit dem nächsten Ausatmen Gesichtsverlagerung zurück auf den rechten Fuß, einatmend Heranziehen des linken Fußes und ausatmend Füße gleichmäßig belasten. Gesamtübung dreimal. Achtung. Der Atem führt in allen Übungen, d. h. Arm-, Fuß- und Körperbewegung folgen dem eigenen Atemimpuls, es sei denn, man übt Gruppen-Koordination/Gruppen-Resonanz. Als Faustregel gilt: einatmend – Bewegung nach oben, ausatmend – Bewegung nach un104

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ten. Je nach individuellem Atemrhythmus kann auf den verschiedenen Wegen Zwischenatmung angebracht sein. Übung 8: Himmel Die Himmelsübung 22 ist ein genaues Abbild des chinesischen Zeichens für Himmel tiān 天. Ausgangsposition. Stand etwas breiter als schulterbreit mit an den Seiten locker und weich hängenden Armen. (Zum Einnehmen des breiten Standes aus der Ausgangsposition siehe Übung 7). Der Vers zum meditativen Einstieg in die Himmelsübung beschwört eine Abendstimmung: Tief taucht der Vogel in den Himmelsraum Einsame Wolke geht mit der Sonne zur Ruh. 23 Übung. Einatmend Hände vor dem Unterbauch (dān-tián 丹田) ineinander verschränken mit nach oben gewandten Handinnenflächen. Ausatmend Ruhemoment. Diese Position betont den Querstrich/die Horizontale in der Mitte des Zeichens: 一 Einatmend die verschränkten Hände körpernah in fließender Bewegung nach oben führen bis locker über den Kopf: auf Brusthöhe beginnt die Wendung der Hände – von-selbst – zunächst nach außen, vom Körper wegzeigend, drehend weiterführen, so dass die Handinnenflächen über dem Scheitelpunkt ausatmend nach oben gerichtet sind. Ein- und Ausatmen als Ruhemoment. Dieser Handhaltung entspricht im Himmelszeichen die obere Horizontale, der sogenannte Himmelsstrich. In dieser Position bilden wir das Zeichen für Himmel: 天. Einatmend Hände seitwärts voneinander lösen und ausatmend Arme in der lockeren Bogenhaltung über die Seiten zunächst nur bis auf Schulterhöhe absenken (Finger zeigen tendenziell nach oben-außen wie die Schwingen eines Vogels). Auf Schulterhöhe das Absenken durch einen leichten Flügelschlag unterbrechen: einatmend Aufwärtsbewegung und ausatmend Arme langsam in die Ausgangsposition zurückführen. Gesamtübung dreimal. Nach dem letzten Durchgang einatmend Körper etwas aufrichten, ausatmend Gewichtsverlagerung zurück nach rechts, einatmend Heben und Heranziehen des linken Fußes in die Ausgangsposition und ausatmend beide Füße gleichmäßig gewichten. 105

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Achtung. Bei der Handhaltung über dem Kopf ist betonte Streckung/Dehnung/Weitung in der Vertikalen möglich, ohne Schultern hochzuziehen oder zu verkrampfen – und morgens eher als abends (siehe oben). Vers. Folgt die Aufmerksamkeit während der gesamten Übung dem Atmen und der mit dem Atem koordinierten Armbewegung, so konzentriert sie sich nach dem dreimaligen Durchgang noch einmal auf die eingangs beschworene Abendstimmung: Tief taucht der Vogel in den Himmelsraum Einsame Wolke geht mit der Sonne zur Ruh. 24 Gespürte Erfahrung Das bipolare Geschehen von Ein- und Ausatmen erfolgt in Resonanz mit dem Heben (Weiten) und Senken (Engen) der Arme und dem Heben (Weiten) und Senken (Engen) des mitschwingenden Körperleibes. Streckung ist betonte Weitung. Füllen entspricht dem Gewichten, Leeren dem Anheben des Fußes. Ruhe in der Bewegung sorgt für Langsamkeit der Übung. Bewegung in der Ruhe sind Armbewegung und Flügelschlag. Der Rhythmus ist individuell und tageszeitlich abgestimmt. Von-selbst. Beim Führen der gefalteten Hände Richtung Himmel erfolgt das Wenden der Hände vor der Brust und auf dem Weg bis über den Kopf von selbst. Intensität. Eine Form von Intensität liegt in dieser Übung vor, wenn die Arme über dem Kopf so gestreckt werden, dass sie den Gesamtköperleib mit in die Länge ziehen. Mitte. Armbewegungen nehmen ihren Ausgang von der Mitte und kehren in die Mitte zurück. Es atmet mich ist unangestrengte/ausgeglichene Mitte. Richtungen und Raum. Die gesamte Bewegungsgestalt betont die vertikale Richtung und damit die Ausrichtung des Menschen am Himmel. Auch das Absenken der Arme betont die Vertikale, erst recht mit dem retardierenden Moment des Flügelschlags. Der Hinweg geschieht aus der Enge in die Weite nach oben, der Rückweg aus der Weite oben über die Weite an den Seiten in die relative Enge des Körpers. Widerstreit der Kräfte. Besteht Resonanz zwischen Arm- und Atembewegung, so wirkt gleichzeitig ein Widerstreit der Kräfte, wenn Streckung nach oben den Impuls zur Erdung der Füße hervorruft; dann 106

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verläuft von der Mitte des Körperleibes ausgehend eine Kraft gegenläufig nach unten und nach oben. Je intensiver die Streckung, desto intensiver der Widerstreit. Aufmerksamkeit schwebt über dem Atemgeschehen und den damit koordinierten Bewegungen, verweilt einleitend und abschließend beim abendlichen Stimmungsbild. Übung 9: Mensch Die Menschübung ist in der betont diagonalen Bewegung Abbild des Zeichens rén 人, das den Mensch im Schritt zeigt. Menschsein heißt Unterwegssein. Menschsein heißt Tätigsein. Beidem wird der Übungsablauf »Das Boot ins Wasser schieben« 25 gerecht. Ausgangsposition. Geschlossene parallele Fußhaltung (ca. 5 cm Abstand) mit an den Seiten locker und weich hängenden Armen. Vers. Als meditativer Einstieg dient hier ein Vers, der eine Morgenstimmung evoziert – passend zum Aufbruch im Fischerboot: Morgendunst über dem Fluss. Am Ufer ein bemaltes Boot. 26 Übung. Einatmend beide Arme lang und parallel links diagonal (45) bis auf Brusthöhe anheben – Handinnnenflächen nach unten gewandt. Ausatmend beide Arme immer noch lang und parallel (Handinnnenflächen immer noch nach unten gewandt) auf der Linie der Brusthöhe vor die Körpermitte bringen (Finger und Arme zeigen nach vorn). Einatmend die Arme (immer noch auf Brusthöhe) an den Körper zurückziehen. Handinnenflächen zeigen weiterhin nach unten, und Fingerspitzen sind tendenziell einander zugewandt. Ausatmend Hände nach unten weiterführen bis auf Bauchhöhe, zeitgleich mit dem Absenken den rechten Fuß gewichten. Einatmend linken Fuß anheben und ausatmend nach links vorn diagonal (45) nur mit der Ferse auf den Boden aufsetzen, etwa 2 ½ Fußlängen vom hinteren Fuß entfernt. Der hintere Fuß bleibt mit der ganzen Sohle am Boden. Einatmend Hände mit Schulterdrehung seitwärts parallel zum linken Oberschenkel auf Brusthöhe bringen und ausatmend Gewichtsverlagerung nach diagonal vorn auf den ganzen linken Fuß, gleichzeitig mit den Händen das imaginäre Boot kraftvoll, aber nicht verkrampft, auf Linie der Brusthöhe ins Wasser schieben: Vor dem 107

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jeweiligen Schieben winkeln die Hände im Handgelenk kraftvoll nach oben ab. Die Knie reichen nur bis an die Linie der Fußzehen (Schonung der Knie!), Hände nur leicht darüber hinaus (notfalls Schritt vergrößern), so dass trotz Gewichtsverlagerung die Haltung aufgerichtet ist. In dieser Position bilden wir das Zeichen 人. Insgesamt in dieser Position dreimal das Boot ins Wasser schieben, jeweils einatmend Gewichtsverlagerung zurück auf das rechte hintere Bein, den linken vorderen Fuß zurück auf die Ferse und jeweils ausatmend Gewichtsverlagerung nach diagonal vorn mit Abrollen des linken vorderen Fußes. Bei jeder Gewichtsverlagerung nach links vorn rollt also der vordere Fuß von der Ferse auf die ganze Sohle ab (Fußmeridiane!), während die hintere Fußsohle die ganze Zeit über, gut geerdet, ganz am Boden bleibt. Nach dem dritten ausatmenden Schieben geschieht der Rückzug wie folgt: Einatmend mit Gewichtsverlagerung auf den rechten hinteren Fuß die Arme lang und parallel über die Körpermitte vorn und noch im selben Ein-Atemzug alles zusammen: die Arme aus der Streckung und den linken Fuß aus der Diagonale zum Körper zurückziehen. Ausatmend Arme absenken in die Ausgangsposition. Analog: Übung nach rechts. Gesamtübung dreimal. Achtung. Beim Boot-ins-Wasser-Schieben nicht nach diagonal vorne lehnen! Hier wirkt Widerstreit der Kräfte in der Horizontalen: Das Nach-vorne-Lehnen wird aufgehalten durch eine Kraft im mìng-mén (Schicksalstor im hinteren dān-tián zwischen den Nieren). Becken, Wirbelsäule und Kopf bilden so eine vertikale Säule, Steißbein zeigt senkrecht nach unten. Vers. Die Menschübung abschließend steht zum meditativen Nachspüren der schon zitierte Vers: Morgendunst über dem Fluss. Am Ufer ein bemaltes Boot. 27 Gespürte Erfahrung Richtung und Raum. Im Unterschied zur vertikal betonten Himmelsübung, erst recht der horizontal betonten Erdübung (siehe unten) manifestiert sich in der Menschübung Geschäftigkeit – schon in der dia108

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gonalen Richtung angelegt als Bewegung des Aufbruchs. So sind in der Menschübung auch fast alle Raumrichtungen der »Rose der Kräfte« 28 (米) ausgeschöpft. Nacheinander sind das: Heben, Diagonale, Horizontale, Senken, Heben, Diagonale (gleich mehrfach vor und zurück) Horizontale, Senken und nicht zuletzt die Spirale in der Drehung der Hüfte aus der Mitte heraus jedesmal, bevor das Boot ins Wasser geschoben wird. Ruhe und Bewegung. Dreimalige Gewichtsverlagerung und der Wechsel von links nach rechts sorgen neben den diagonalen Bewegungen für viel Bewegung, die bei schnellerem Rhythmus in Unruhe ausarten kann. Auch dass Arme und Beine in Bewegung sind im Vergleich zur Himmel- und Erdübung, verleiht der Mensch-Übung zusätzlich Unruhe. Das wiederholte intensive Boot-ins-Wasser-schieben wirkt als retardierendes Moment. Bipolares Geschehen. In Resonanz mit Arm- und Fußbewegung vollzieht der Atem das bipolare Qì-Geschehen: Ein-Aus, Verdichten-Zerstreuen, Füllen-Leeren, Engen-Weiten. Widerstreit der Kräfte entsteht in der Mitte des Körperleibes bei Gewichtsverlagerung nach vorn diagonal, wenn die Kraft des mìng-mén 命門 (Schicksalstor) im hinteren dān-tián 丹田(Zinnoberfeld) dem Impuls nach vorne Grenzen setzt. Widerstreit der Kräfte wirkt auch beim Abschluss der Übung: Wenn sich die Hände ausatmend nach unten senken, um an der Körperseite zur Ruhe zu kommen, streckt sich innerlich der Körperleib, während sich die Füße gleichzeitig im Boden verwurzeln. Aufmerksamkeit verfolgt schwebend Atem- und Bewegungsablauf, um am Ende der Übung beim vorgestellten Bild zu verweilen: in der gedehnten entspannenden Weite einer Flusslandschaft mit dem Boot am Ufer als Ruhepol (siehe Abb. 20). Resonanz besteht zwischen Atem-, Arm- und Fußbewegung, wobei der eigene Atemrhythmus führt – wie immer beim Alleinüben. Auch Gruppenrhythmus ist eine Form von Resonanz. Resonanz besteht zuletzt zwischen Gesamtübung und dem abschließenden Vers.

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Übung 10: Erde Das chinesische Zeichen für Erde dì 地 trägt links als Sinnelement das Zeichen 土, das für sich alleinstehend im Zyklus der Fünf Wandlungsphasen die »Erde« tǔ 土 bezeichnet. Dieses Zeichenelement wird in der Erdübung 29 abgebildet: Der untere Querstrich, der sogenannte Erdstrich, entspricht dem Boden, der mittlere den Armbewegungen, der senkrechte Strich dem Körperleib. Ausgangsposition. Geschlossene Fußstellung (ca. 5 cm Abstand) mit an den Seiten locker und weich hängenden Armen. Der Vers zur meditativen Einstimmung auf die Erdübung evoziert eine Frühlingsstimmung im vierten Monat (Aprilstürme), da die Jahreszeiten der Erde, dem yīn 陰, zugeordnet sind. Der Wind legt sich nicht, nur der Mensch ist still. Morgen bedecken rosa Blüten den Pfad. 30 Übung. Einatmend mit beiden Hände vor der Brust die Gebetshaltung einnehmen; ausatmend Ruheposition mit locker angewinkelten Armen. Einatmend Hände seitwärts langsam voneinander lösen und körpernah auf einer Linie zunächst (immer noch einander zugewandt, Finger nach oben zeigend) bis zur Schulter führen, um von hier Handinnenflächen nach außen zu drehen und Arme ausatmend bei sanfter Bogenhaltung in eine Streckung zu führen, ohne Schultern zu heben: von Horizont zu Horizont. Spannung liegt nur in den im Handgelenk nach oben abgewinkelten Händen. Ein- und Ausatmen in dieser Ruheposition. Einatmend Hände wieder vor der Brust zusammenführen; ausatmend absenken in die Ausgangsposition. Gesamtübung dreimal. Achtung. Trotz kraftvoller Armstreckung von Horizont zu Horizont sind die Schultern weder hochgezogen noch verkrampft. Der schon zur Einstimmung zitierte Vers dient auch zum meditativen Nachspüren: Der Wind legt sich nicht, nur der Mensch ist still. Morgen bedecken rosa Blüten den Pfad. 31

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Gespürte Erfahrung Richtung und Raum. Die Erdübung verbleibt im Unterschied zur vertikal gerichteten Himmelsübung und der diagonal betonten Menschübung entschieden erdnah, wenn die gesamte Übungsgestalt in einer einzigen horizontalen Bewegung aus der Mitte respektive Enge des Körpers in die seitliche Weite besteht. Intensität. Die dem Horizont zugewandte Außenstreckung der Arme kann mehr oder weniger intensiv sein, intensiver beim morgendlichen Üben mit Recken und Strecken, abends eher in der typischen weich gebogenen Armhaltung. Rhythmus, Ruhe und Bewegung. Die Erdübung verläuft sehr viel ruhiger im Vergleich zur Himmelsübung, erst recht zur Menschübung. Die Erde entspricht dem yīn-Aspekt, dem Ruhepol, so dass der Mensch in dieser Übung auch in sich den Ruhepol aktualisiert. In dieser beruhigenden Fokussierung steht die Übung am Abschluss dieser Dreiersequenz und kann sogar die Abschlussübung (chū-gōng 出功, Verlassen des Qìgōng) ersetzen (siehe oben). Ruhemoment – durch Ausatmen markiert – kennzeichnet das kurze Innehalten bei Einnehmen der Gebetshaltung vor dem erneuten Ausgreifen in Weite bzw. nach der Rückkehr vom »Horizont«. Zwischenatmung (Ein-Aus) in der Horizontstellung selbt verlangsamt den Rhythmus und bringt zusätzlich Ruhe in die Bewegung. Widerstreit der Kräfte regt sich in der Körpermitte, um die gegensätzliche Armstreckung auszugleichen und umso besser mittig geerdet zu sein. Resonanz besteht zwischen Atem- und Armbewegung; der eigene Atemrhythmus führt – wie immer beim Alleinüben. Als Abschlussübung entweder die ruhige Erdübung gelten lassen oder, wie oben vorgeschlagen, die »Übung zum Eintreten in das Qìgōng« auch zum »Verlassen des Qìgōng« einsetzen.

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2. Das Spiel der Fünf Tiere (wǔ-qín-xì 五禽戲) 32

In der Nachahmung der Tiere gelingt es, ein Stück wilder »Natur, die wir selber sind,« zum Leben zu erwecken. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass die Tiere von Anfang an in die menschliche Symbolwelt eingemeindet sind. Beides kann uns den Tieren annähern, die wir fast nur noch aus Zoo und Tiergehege kennen. Achtung und Vertrauen zu gewinnen in ihre und unsere je eigene Anmut, Kraft und Unantastbarkeit, ist das eine. Über die »tierischen« Anwandlungen hinaus gelingt es der Tierübung, Verstimmungen auszugleichen, Launen abzuleiten oder umgekehrt Wohlbefinden zu mehren: Man übt den Tiger, um Ärger und Zorn aufzulösen, aber auch um Selbstvertrauen zu stärken; man übt den Kranich, um Druck und Depression entgegenzuwirken, dem Alltag mit mehr Leichtigkeit und Anmut zu begegnen.

Historisches Vor- und Frühgeschichte. Vor- und Frühgeschichte zeigen den Menschen in einer für uns heute kaum vorstellbaren Abhängigkeit von der Natur. Zum Überleben gehört der Kampf mit wilden Tieren. Über Beschwörung der Jagdtiere hinaus geht es von Anfang an darum, von den Tieren zu lernen, d. h. Geschmeidigkeit, Geschick und Krafteinsatz der Tiere einzuüben, um dem Kampf gewachsen zu sein. Die Nähe der frühen Menschen zur tierischen Mitwelt, die uns nach 18 000 Jahren aus den Eiszeitmalereien der Höhlen von Lascaux (Frankreich) und Altamira (Spanien) heute noch anweht, ist im vormodernen China nie grundsätzlich infrage gestellt. Mensch-TierMischwesen in mythischen, legendären, volksreligiösen Überlieferungen erinnern ebenso daran wie Zeichen und Zeichenelemente der chinesischen Schrift (Abb. 8 33).

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2. Das Spiel der Fünf Tiere (wǔ-qín-xì 五禽戲)

Abb. 8: Tierpiktogramme (rechts) und ihre modernen Formen (links) Ursprung der Tierspiele könnten Schritte und Gebärden des Schamanen gewesen sein. Noch in den Jahrhunderten vor Christus sind magische Tiertanzrituale wie der Bärentanz erwähnt, der Flutkatastrophen im Tal des Gelben Flusses bannen soll. Nachahmung wilder Tiere im Kontext altchinesischer Lebenspflege ist bereits im Zhuangzi humorvoll, wenn nicht ironisierend geschildert: 113

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Schnaubend ein- und ausatmen, altes [qì] ausstoßen, um neues aufzunehmen, tapsen wie ein Bär und flattern wie ein Vogel – und dies nur um der Langlebigkeit (shòu 壽) willen – so lieben es die Adepten, die das Leiten und Dehnen (dǎo-yǐn 導引) üben, und all jene, die ihren Körperleib nähren (yǎngxíng 養形) und danach streben, lang zu leben wie [der legendäre] Pengzu. 34

Auch das Seidenbild von Mawangdui (siehe Abb. 6) zeigt Bär- und Vogelübungen. Frühe Kaiserzeit. Im dritten Jahrhundert n. Chr. entwickelt sich das Spiel der Tiere als einheitliche Übungsfolge. Sie wird Hua Tuo zugeschrieben, Chirurg seiner Zeit, der sie seinem Neffen als therapeutische Maßnahme verordnet haben soll. Wenn Hua Tuo aus dem Repertoire der möglichen Tiere ausgerechnet fünf auswählt, ist der Einfluss der Wandlungsphasen offensichtlich (siehe Tabelle 2). Hua Tuos Tierübung umfasst den Tiger, Hirsch, Bär, Affen und Vogel und stimmt damit in der Wahl der Tiere mit dem heutigen Tierspiel überein, wenn auch nicht in der Ausführung der Übung. Bär und Tiger laufen längst nicht mehr auf allen Vieren. Auch sind die Tiere heute anders gereiht, da die Zuordnung zu den Jahreszeiten, wie beim Sechs-Laute-Qìgōng, erst im Verlauf der Frühen Kaiserzeit vorgenommen wird. Der Vogel ist inzwischen als Kranich spezifiziert. Ab wann sich pro Tier fünf Spiele durchsetzen, ist mir nicht bekannt. Auch bei den Adepten der Alchimie ist das Spiel der Tiere beliebt. Ge Hong (283–343) empfiehlt über die Tiere des Hua Tuo hinaus den Drachen, den Hasen und die Taube. Die Mittlere Kaiserzeit (10.–13. Jh.) erfährt auf stark reduziertem Territorium intensive Zivilisierungsschübe, die es rechtfertigen, von einer chinesischen Neuzeit zu sprechen. Demographische Verdichtung und zunehmende Verstädterung bringen als Gegenbewegung Zivilisationskritik und -verweigerung hervor. Widersetzen sich frühkaiserzeitliche Exzentriker konfuzianischer Etikette, so pflegen Aussteiger der Mittleren Kaiserzeit eine Natur- und Tierliebe, die, symbolkräftig aufgeladen, auch in Tuschemalerei (siehe Abb. 9), Raum- und Gartenkunst zum Ausdruck kommt. Nicht ungebändigte Wildheit der Tiere inspiriert das künstlerische Schaffen der Zeit, sondern Natur im Sinne von Unverfälschtheit und Spontaneität. Seither ist im Reich der Mitte immer wieder auch von Bewegungen zur Rettung der Tiere die Rede, nicht zuletzt unter buddhistischem Einfluss. 114

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Abb. 9: Die vier Schläfer Späte Kaiserzeit. In der Mingzeit (1368–1644) nähern sich die Bewegungsformen der Lebenspflege und Kampfkünste einander an, so dass daraus ein einheitliches Lebenspflegesystem entsteht, von dem schon die Rede war (siehe II.1). Dass auf Holzschnittillustrationen der Epoche die »Methode des Fünf-Tiere-Tanzes« von Frauen dargestellt ist, kann Zufall sein oder auf geschlechtsspezifische Vorlieben und Varianten verweisen (siehe Abb. 10 35). Im Rahmen der Kampfkunst, die als Kriegskunst eine Domäne der Männer ist, sind auch eigene Tiere und Tiervarianten im Umlauf. Bis heute präsentieren Shaolin-Mönche auf ihrer Tour durch die Welt neben dem Tiger den Panther. Eine ganze eigene Kampfkunst-Stilrichtung ist nach der Gottesanbeterin (táng-láng 螳螂) benannt, deren gepanzerte Armkraft es nachzuahmen gilt. Besonders beliebt unter den Shaolin-Kampfkunstmönchen ist das Spiel des Affen, steht der Affe im Buddhismus doch neben dem Ochsen als Sinnbild des menschlichen Herzgeistes, den es zu zähmen gilt (siehe II.3).

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Abb. 10: Frau beim Tierspiel des Vogels

Übungen: Affe und Bär Jedes der fünf Tierspiele umfasst fünf Übungen, und jedes beginnt mit dem »Schritt« des jeweiligen Tieres, um sich auf seine Besonderheit einzustimmen. Dies geschieht über eine charakteristische KörperleibHaltung, »Hand«gebärde, Schrittbewegung und nicht zuletzt über den Blick. Die Tierspiele sind so komplex, dass hier nur zwei einfache Übungseinheiten beschrieben und auf gespürte Erfahrung hin zu mustern sind: das vierte Affenspiel »Der Affe bietet Früchte dar« und der »Schritt des Bären«. 36 Die beiden ausgewählten Tierübungen könnten nicht gegensätzlicher sein. Frech, flink und verspielt – der Affe! Langsam, rund und weich – der Bär! Ein Vergleich der verschiedenen 116

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Abb. 11: Jiao Guorui im Spiel des Affen Tieranmutungen schließt das Kapitel ab, so dass auch die anderen Tierspiele im Blick sind. Der Affe (hóuzi 猴子), in seiner Vielseitigkeit und Umtriebigkeit dem Menschen ähnlich, ist der Hitze des Sommers zugeordnet (siehe Tabelle 2): Der Affe ist klug und wachsam, geistesgegenwärtig und flink. Er liebt es, sich zu bewegen, und hält nie still. Seine Bewegungen sind leicht, behende und geschickt, schnell wie ein Blitz. Der Affe ist neugierig, mutig und tapfer. Er liebt es zu spielen, er liebt es auch zu kämpfen und wechselt so rasch seine Körperhaltung, dass es scheint, als habe er keine feste Gestalt. 37

Übung 11: Affe Das vierte Affenspiel »Der Affe bietet Früchte dar« zeigt den Affen von seiner schelmischen und zugleich egozentrischen Seite. Die Körperhaltung des Affen ist – je nach Beweglichkeit und Kniefestigkeit – wie in Abb. 11 ein tiefer Sitz(bogen)schritt (beide Knie angewinkelt) mit leicht nach vorn geneigtem Oberkörper, bei gerader Wirbelsäule und Kopf in der Verlängerung der Wirbelsäule. Typische Handgebärde ist in der vierten Übung die (halb-)offene 117

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»Hakenhaltung«: Die vier Finger und Daumen sind einander zugewandt, als wollte der Affe die Pfirsiche (der Unsterblichkeit), die er in der dritten Affenübung vom Baum gepflückt hat, »mit saugender Kraft« festhalten. Die Hand ist im Gelenk affenartig nach unten abgewinkelt (siehe Bild). Ausgangshaltung ist die geschlossene Fußposition (ca. 5 cm Abstand) mit an den Seiten locker und weich hängenden Armen. Übung. Einatmend Hände heben zur Affenhandhaltung: Hand im Handgelenk nach unten abgewinkelt (siehe Abb. 11), Unterarme parallel zum Boden; beide Hände unverkrampft nah den Hüften; ausatmend Gewichtsverlagerung auf den rechten Fuß. Einatmend linken Fuß anheben und ausatmend nach links vorn (nicht sehr weit, damit der tiefe Sitzbogenschritt gewahrt bleibt) zunächst nur mit dem Vorderfuß aufsetzen, dabei ist die linke Affenhand leicht nach links vorgezogen. Gewicht liegt noch immer auf dem rechten Fuß. Das ist die erste Ruhehaltung im tiefen Sitzbogenschritt. Die Augen sind wach und lebendig, wenn nicht unruhig wie das Feuer, dem das Affenspiel zugeordnet ist. Einatmend bewegen sich beide Hände zur Mitte hin aufeinander zu, Hände nach oben hin wenden, Hakenhand öffnen, so dass die Finger zunächst nach oben und dann ausatmend auf Brusthöhe nach vorn zeigen in einer offen darbietenden Geste – dem imaginären Gast zugewandt, dem die Früchte dargeboten werden. Das ist die zweite Ruhehaltung im hohen Sitzbogenschritt. Dabei ist das Gewicht weitgehend immer noch auf dem rechten hinteren Fuß. Noch in dieser großzügig entfalteten Geste überkommt den Affen die Lust, die Früchte nicht zu verschenken, sie vielmehr selber zu behalten. Einatmend die Hände – mit der Gewichtsverlagerung ganz nach vorn auf das vordere linke Bein – schnell an den Körper zurückziehen, dann wenden sich die Finger dem eigenen Körper zu, um mit der Ausatmung nach unten abzutauchen und zur Seite hin in die Ausgangsposition zurückzukehren – gleichzeitig den hinteren rechten Fuß an den vorderen heranziehen. Analog die Übung nach der rechten Seite.

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2. Das Spiel der Fünf Tiere (wǔ-qín-xì 五禽戲)

Gespürte Erfahrung Bipolares Geschehen vollzieht sich im Wechsel von Ein- und Ausatmen, von Ruhehaltung und Bewegung, von Heben und Senken, Engen und Weiten der Hand- und Beinbewegungen aus der Mitte heraus und in die Mitte zurück. Resonanz besteht zwischen Atem-, Hand-, Arm- und Fußgeschehen. Das Darbieten der Früchte ist ein einziger Widerstreit der Kräfte zwischen Großzügigkeit und Egoismus – soll ich, soll ich nicht? Auch im Zurückziehen der Hände und Arme bei gleichzeitiger Gewichtsverlagerung nach vorn wirkt ein Widerstreit leiblicher Regungen, ebenso bei der abschließenden Bewegung, der Aufrichtung des Körperleibes bei gleichzeitigem Verwurzeln der Füße. Im Darbieten und Verschwindenlassen der Pfirsiche ist die dritte Affenübung eine Variante des Zeigens und Verbergens. Aufmerksamkeit und Vorstellungskraft sind ganz beim lebhaften, unruhig-wechselhaften Affenspiel. In seiner Lebendigkeit wirkt der Affe erfrischend, wenn er selbstironisch der Enge und Hitze der widerstrebenden Anwandlungen entkommt. Den »Affen zu machen« tut allen gut, die dazu tendieren, den Tag träge zu beginnen oder sich selbst und andere allzu ernst zu nehmen. Umgekehrt wird als ausleitende Übung jedem der Affe empfohlen, der von Natur aus unruhig und wechselhaft ist, der schnell »Feuer« fängt, d. h. rasch in Wut gerät oder sich in Geistesblitzen verausgabt. Übung 12: Bär Der Bär (xióng 熊), dem milderen Spätsommer zugeordnet, ist Erdung pur – das genaue Gegenteil vom Affen: Der Bär ist stattlich und stabil, seine Gestalt ist rund, sein Körper kräftig, dick und fleischig […]. Der Bär ist tapsig und gesetzt. 38 Die Handgebärde des Bären ist in der ausgewählten ersten Bärübung, dem »Schritt des Bären«, die locker geschlossene Hohlfaust, wobei die Daumeninnenseite leicht über den Fingernägeln von Zeigeund Mittelfinger zu liegen kommt. Alle Finger sind aneinandergelehnt, so dass zwischen Finger und Daumen ein Hohlraum entsteht.

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Ausgangsposition. Geschlossene Fußhaltung (ca. 5 cm Abstand) mit an den Seiten locker herabhängenden Armen in einer weichen Bogenlinie. Übung. Einatmend Handhaltung des Bären vor dem Bauch (dān-tián 丹田) einnehmen (eine Faustbreit voneinander und eine Faustbreit vom Unterbauch entfernt und nach unten zeigen, ohne im Handgelenk abzuknicken). Ausatmend Gewichten des rechten Fußes. Einatmend hebt sich (leer) der linke Fuß, setzt sich ausatmend – tapsig und schwerfällig – diagonal nach links vorn auf zur ersten Ruhehaltung bei einer Gewichtsverteilung von Acht (hinten) zu Zwei (vorn). Einatmend Hohlfäuste entlang des Körpers seitwärts auseinanderziehen bis zur Hüfte; ausatmend von der Hüfte aus und zunächst etwas nach hinten ziehen, dann weit nach außen ausgreifend über eine Kreislinie nach vorne zusammenführen wie oben in einer Faustbreite Abstand von der Körpermitte und voneinander. Gleichzeitig (!) mit dieser Kreisbewegung nach vorne erfolgt Gewichtsverlagerung ganz auf den linken vorderen Fuß, die vollzogen ist, wenn die Bärenfäuste einander vor dem Bauch wieder begegnen: Das ist die zweite Ruhehaltung. Einatmend den rechten Fuß von hinten nach vorne heranziehen, ausatmend Hohlfäuste öffnen und über eine kreisförmige Seitwärtsbewegung Hände von innen nach vorn-außen in die Ausgangsposition zurückführen. Analog die Übung nach der rechten Seite. Achtung. Kopf immer in der Verlängerung der Wirbelsäule, nicht abknicken. Der Blick, 45 nach vorn unten gewandt, hält bei aller Aufmerksamkeit nichts fest, ist ein Blick ins Leere. Gespürte Erfahrung Bipolares Geschehen ist präsent im Ein- und Ausatmen, im Heben und Senken, Innehalten und Bewegen. Ruhe und Intensität. Schon aufgrund seiner Massigkeit strahlt der Bär Ruhe und Intensität aus. Der Bewegungsrhythmus ist im Vergleich zum unruhigen Affen betont langsam und weich. 120

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2. Das Spiel der Fünf Tiere (wǔ-qín-xì 五禽戲)

Mitte. Ausgriff in die Weite des Raums aus der Mitte des Körperleibs ist die Kreisbewegung der Arme über die Hüfte nach vorn. Der Bär – in den Fünf Wandlungsphasen der Erde, Magen und Milz, dem Spätsommer und damit ohnehin der Mitte zugeordnet – empfiehlt sich bei Stress, Unruhe, Flatterhaftigkeit. Das Bärspiel ist eine wunderbar-beruhigende Abendübung. Umgekehrt wird einem ausgeprägten »Bär«-Habitus der Affe empfohlen, damit er auf Trab oder wenigstens in die Gänge kommt. Widerstreit der Kräfte. Die Aufmerksamkeit des Bären ist hellwach und steht damit in einem gewissen Widerstreit zu seiner runden, massigen, weichen Gestalt.

Vergleich der Tierspiele Für alle Tierspiele gilt neben mitlaufender Aufmerksamkeit die Erdung, d. h. mehr oder weniger feste Verwurzelung im Boden, mehr beim Bären und weniger beim Affen. Überwindung der Schwerkraft, wie im europäischen Ballett, ist in keiner chinesischen Bewegungskunst angesagt, nicht einmal beim Kranich, der, auch »wenn er auf der Erde wandelt, fest [steht] wie eine Kiefer« 39! Resonanz von Atem-, Armund Fußbewegung ist jedem Tierspiel eigen ebenso wie bipolares Geschehen im Ein- und Ausatmen, Heben und Senken, Engen und Weiten, Gewichten und Leeren, in Ruhehaltung und Bewegung. Widerstreit der Kräfte wirkt im einzelnen Tierspiel zwischen oben und unten, hinten (mìng-mén 命門) und vorn (dān-tián 丹田) (siehe II.1). Als Fülle in der Leere und Leere in der Fülle ist Widerstreit zugleich die Fähigkeit, an einer Körperstelle Kraft und Spannung zu sammeln und an anderer Stelle zugleich weich und locker zu sein (siehe II.3). Widerstreit der Kräfte bzw. Resonanz unterscheidet auch die Tiere untereinander. Affe und Bär sind zwar gegensätzlich auf der Skala von Bewegung und Ruhe angesiedelt, ähneln aber einander und auch dem Tiger (hǔ 虎), wenn alle drei Tiere nah am Boden agieren. D. h., alle drei Tierspiele bevorzugen horizontale Kraftlinien. Im Kontrast dazu sind Hirsch (lù 鹿) und Kranich (hè 鶴) betont im vertikalen Gestaltverlauf: der Hirsch, dem Frühling zugeordnet, im (explosionsartigen) Strecken und Dehnen von Muskeln und Sehnen, das der wieder erwachenden 121

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Natur im Frühling entspricht (siehe Tabelle 2); auch der Kranich, dem luftigen Element, der Lunge und dem Herbst zugeordnet, hebt in seiner würdevollen Aufrichtung die Vertikale hervor, ob er nun anmutig auf einem Bein steht oder ob ihm der Aufflug gelingt, um unbeschwert am Himmel zu schweben. Der Tiger – als Wintertier umgekehrt gepolt als der nach außen weiche und sanfte Spätsommer-Bär – zeigt sich nach außen stark. Die innere Sanftheit, die ihm zugleich nachgesagt wird (Widerstreit von innen und außen), ist im Bild der Vier Schläfer eingefangen (siehe oben Abb. 9). Mit dem Winter ist er der Niere und mit der Niere der Angst zugeordnet (siehe Tabelle 2), so dass sich die machtvoll-fokussierte Präsenz des Tigers eignet, Ängste, Selbstzweifel, Zögern und Schwäche zu überwinden. In seiner Dickfelligkeit und Behäbigkeit ist der Bär ein ausgesprochen protopathisch getöntes Tier, der Affe wirkt epikritisch in seiner dynamisch gesteigerten Vitalität. 40 Jedes Tierspiel ist raumerobernd in der Bewegung und schöpft bei aller Fokussierung immer mehrere Richtungen aus. Die beim Üben der einzelnen Tierspiele eigenleiblich gespürten Wirkungen sind von Tier zu Tier so verschieden wie die Anmutungen, die beim Betrachter ankommen und überspringen. Jedes Tierspiel ist auf seine Weise ein Tanz von Kraft und Anmut um die eigene Mitte.

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3. Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳

Was für die Tierspiele gilt, trifft mehr noch auf Kampfkunst und Tàijíquán zu, dass sie nur unter Anleitung eines Lehrers zu erlernen sind. Beide Bewegungskünste gestalten sich so komplex, dass jeder Versuch, eine Übungseinheit zu beschreiben oder sie auszuführen anhand einer Beschreibung allein, zum Scheitern verurteilt ist. So liegt es nahe, nach dem historischen Überblick, sprachbildlich durchsetzte Textpassagen aus der Geschichte ihrer Entstehung und Entwicklung anzuführen, um herauszufinden, was an Leiberleben und Lebenserfahrung in die jeweilige Bewegungskunst eingeflossen ist.

Historisches zur Kampfkunst 41 Anfänge und Frühe Kaiserzeit. Auch am Anfang der Kampfkünste steht die Auseinandersetzung mit wilden Tieren. Hinzu kommt der Kampf unter den Menschen, der den Mythen zufolge erstmals und exemplarisch zwischen Huangdi und Chiyou ausgetragen wird. Huangdi, dem Gelben Kaiser, wird im kollektiven Gedächtnis als vielseitigem Kulturbringer, nicht zuletzt der Medizin, dankbar gedacht. Chiyou, MenschTier-Mischwesen mit Stierhörnern und Stierhufen, hat als Erfinder der Waffen schlechtere Karten. Chiyous Aussehen erinnert an einen Stierkult, der in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte von Europa bis Asien verbreitet war. So gesehen ist das nach Chiyou benannte »Hörnerstoßspiels« (jiǎo–dǐ 角抵), eine Art Ringkampf, die chinesische Variante des spanischen Stierkampfs – ohne Stier! Schwertkampf und die Kunst des Bogenschießens gehören in vorchristlicher Zeit zum selbstverständlichen Repertoire der adligen Krieger. Vor der Reichseinigung im dritten Jahrhundert v. Chr. dürfte das Schwert, im Nahkampf wie im Schaukampf, die wichtigste Waffe gewesen sein. Schwertwettkämpfe, wie sie König Wen von Zhao regelmäßig zu seinem Vergnügen stattfinden lässt, sind damals schon berüchtigt 123

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

und stehen an Brutalität den römischen Gladiatorenkämpfen nicht nach: [König Wen von Zhao], dem Schwertkampf zugetan, unterhielt an seinem Hof über dreitausend Schwertkämpfer. Sie kämpften in seiner Anwesenheit Tag und Nacht miteinander. Jedes Jahr mussten viele der Männer ihr Leben lassen. […]. Die Haare zerzaust, der Hut herabhängend, Bart und Bänder durcheinander, […] mit bösem Blick und kaum in der Lage zu sprechen. […] Oben – Kopf ab! Etwas tiefer – Stich in Lunge und Leber […]. 42

Angesichts dieser Schaukämpfe wirkt die Kriegsführung während der »Frühlings- und Herbstzeit« (770–464 v. Chr.) geradezu harmlos, ist sie dem damaligen Adel doch eine »Art von ritterlichem, nach einem Ehrenkodex ausgeführtem Sport«. 43 Das wird sich ändern in der nachfolgenden »Zeit der Kämpfenden Staaten« (475–221 v. Chr.), wie schon der Name »verspricht«. Mit der Verlagerung der Kriegsführung vom Streitwagen auf Fußtruppen 44 stellen Soldaten aus dem einfachen Volk – bewaffnet mit Pfeil und Bogen und einer entwickelten Armbrust – das Gros der verfeindeten Heere, die damals schon dreißig- bis hunderttausend Mann umfassen und sich wahre Massenschlachten liefern. In Friedenszeiten sieht das Sunzi, das älteste Militärtraktat der Welt, neben der Handhabung von Waffen ein waffenloses Training vor; bó-xiāng 搏相, aus bó und xiāng (wechselseitig) zusammengesetzt, ist eine Art Ringkampf, der im heutigen japanischen Sumo (sumō 相撲, chinesisch: xiāng-pū) überlebt: bó bedeutet, den Gegner zu schlagen. Man hebt die Hände und schlägt die [lebens]wichtigen [Körperteile], um sich dann auf ihn zu stürzen. 45

Die »Faust« (quán 拳), die in China seit dem sechsten Jahrhundert n. Chr. für den waffenlosen Kampf schlechthin zu stehen kommt, findet sich in dieser Bedeutung im Ausdruck Tàijíquán als »Faust des Großen Dachfirsts« (siehe I.7) wie in der Selbstbezeichnung der Boxer, der »Faust[kämpfer] für Rechtlichkeit und Harmonie« (yì-hé-quán 義和 拳) (siehe unten). Der waffenlose Kampf, dem archaischen Kriegstanz verwandt, eignet sich neben dem Partnerkampf auch für Einzelvorführungen in festen Schrittfolgen (tào-lù 套路), die seit dem dritten Jahrhundert nachgewiesen sind. Ein Beamtengelehrter namens Fu Yuan (217–278) hat Schritt- und Bewegungsabläufe in Form von Gedichten und Reimprosa festgehalten, damit sie desto besser einzuprägen sind. Auch Hofdamen 124

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3. Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳

und Gattinnen hoher Würdenträger üben sich, von buddhistischen Mönchen angeleitet, in dieser Mischung aus waffenlosem Kampf und Tanz, nicht zuletzt im Sinne der Lebenspflege, um, wie es heißt, das Essen zu verdauen! Das alte Piktogramm für wǔ 武 (Kampf/Krieg) zeigt »Fußspur« 止 und »Hiebaxt« 弋. Schon im Buch der Urkunden (Shujing) steht wǔ, das Kriegerische, im Gegensatz zum »Zivilen« (wén 文) – eine Gegenüberstellung, die sich nach Gründung des bürokratisch verwalteten Kaiserreiches und dem damit verknüpften Niedergang der Adelsgesellschaft fortsetzen und verstärken wird. In einem Gedicht aus dem Wenxuan, einer zu Beginn des 6. Jahrhunderts zusammengestellten Sammlung von Literatur, wird das eine gegen das andere ausgespielt: »Höre mit dem wǔ–shù 武術 auf, fördere Kultur (wén 文) und Erziehung.« 46 Aus wǔ 武 (Kampf) und shù 術 (Fertigkeit/Geschick/Technik) zusammengesetzt, ist wǔ–shù heute noch in der Kurzform 武术 die Bezeichnung für Kampfkunst. Noch weiß die Mehrheit der Literatenbeamten der Frühen Kaiserzeit beides zu vereinbaren, Amt und Heerespflicht. Die tangzeitlichen Kaiser gehen als Vorbild voran. Von Haus aus Steppenbewohner, also »barbarischer« Herkunft, wird ihnen nachsagt, dass sie – dem Gelehrtenideal entsprechend – auf dem Rücken der Pferde ebenso gewandt sind wie in den konfuzianischen Klassikern, Schwert und Bogen ebenso souverän handhaben wie Pinsel und Tusche. Sie nehmen persönlich an Kriegszügen teil wie an Wettkämpfen und begeistern sich als Zuschauer an Kampfkunstvorführungen am Hof. Und doch verdichtet sich auch unter Beamtengelehrten und im Umkreis des Hofes die Ablehnung von Krieg und Militär. Neben der Stärkung bürokratischer Elemente in Staat und Gesellschaft wirken zermürbende Feldzüge der verschiedenen Tang-Kaiser auf Kriegs- und Militärmüdigkeit hin. Wenn die Kaiserin Wu Zetian (reg. 684–705) Kampf- und Kriegskunst in den Fächerkanon der militärischen Prüfungen (wǔ-jǔ 武舉) aufnimmt, ist dies als »Spezialisierung durch Einschränkung« zu werten. Mittlere Kaiserzeit. Allen Zentralisierungsversuchen und Bürokratisierungstendenzen zum Trotz dauert es bis weit ins elfte Jahrhundert hinein, bevor der Kampf zugunsten der Bürokratie fürs Erste entschieden ist. Die durch den Zerfall der Tang-Herrschaft (618–906) bewirkte Schrumpfung der Reichsgrenzen hat den Vorteil, dass sich im Song125

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Staat (960–1278) auf stark reduziertem Territorium Entwicklungen und Errungenschaften umso rascher durchsetzen. Der Adel ist von der politischen Bildfläche verschwunden, die Bürokratisierung zumindest vorübergehend bis auf Dorfebene vollzogen, so dass die Songzeit geradezu als »Zivilstaat« in die Geschichte eingegangen ist. Eine spätere Geschichtsschreibung wird ihr sogar den Vorwurf machen, das Kriegerische zugunsten des Zivilen allzu leicht genommen und so Nordchina den Khitan, Tanguten, Jurchen und zuletzt das ganze Reich den Mongolen in die Hände gespielt zu haben. Während die Bürokratisierung in der Songzeit einen ersten Höhepunkt erlebt, sind zeitgleich andere gesellschaftspolitisch ebenso umwälzende Kräfte am Werk: Wirtschaftswachstum, Bevölkerungszunahme, Kommerzialisierung, Urbanisierung. Lin’an, das heutige Hangzhou und Hauptstadt des Reiches nach dem Verlust Nordchinas (1127), ist damals schon eine Millionenstadt. Obwohl im Kampf gegen die Nordvölker bereits schreckliche Feuerwaffen zum Einsatz kommen, ist in den Biographien hoher Militärs mit Vorliebe von den altehrwürdigen Waffenkünsten die Rede, wie Speer und Stock, Pfeil und Bogen. Herausragend im kollektiven Gedächtnis bis heute ist Yue Fei (1103–1141), ein General, dem Geisterkraft (shén 神) nachgesagt wird. Schon als Jugendlicher handhabt er einen dreihundert Pfund schweren Bogen und schießt die Pfeile ebenso treffsicher mit der linken wie mit der rechten Hand. Bauern im Grenzland, von den Steppenvölkern bedrängt, gründen in Eigeninitiative Kampfkunst- und Bogenschützenvereine, die Su Shi (1036–1101) 47 dem Kaiser als Volksmiliz empfiehlt. Auch in den Städten, fern der Grenze, florieren Kampfkunstvereine. Hier erlernen Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, eine Fertigkeit, die ihnen den Lebensunterhalt garantiert, denn die Nachfrage nach Kampfkunstdarbietungen »an der Straßengabelung« ist groß. Schaulustige Stadtbewohner stoßen sich kaum daran, dass Formen und Techniken schon lange nicht mehr kriegstauglich sind: »Was Ihr die Burschen lehrt, ist der geblümte Stock, völlig unangemessen im Kampf« 48. Noch für das Jahr 1125, zwei Jahre vor dem Verlust des Nordens und der Flucht des gesamten Song-Hofes nach Süden, ist das Fest der »Hundert-Spiele« (bǎi-xì 百戲) in der Stadtgeschichte von Kaifeng ausführlich beschrieben. Hier kommen Fahnen- und Löwentänze, Polo zu Pferde, Akrobatik, Feuerwerk und Zaubereien zur Aufführung. Nicht zuletzt begeistern die Zuschauer sowohl eigenständige Kampfkunstdar126

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3. Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳

bietungen als auch Kampfszenen, die auflockernd in Theater- und Singspiele eingestreut sind. Im Jahre 1279 erobern die Mongolen ganz China. Alles, was mit Waffen und Kampfkunst zu tun hat, wird den Chinesen für die nächsten hundert Jahre bei Todesstrafe verboten sein. Ausgerechnet in Singspielen, an denen sich die herrschende Schicht der Mongolen nicht sattsehen kann, überlebt die Kampfkunst, und genau in diesem Aspekt stimmen die traditionellen Singspiele mit der heutigen Peking-Oper überein. Späte Kaiserzeit. Der Ming-Dynastie (1368–1644) gelingt die Vertreibung der Mongolen, um dreihundert Jahre später selbst im Zuge der mandschurischen Eroberung abzutreten. Während der langen Friedenszeit setzt jene Entwicklung ein, die als Zusammenführung von Lebenspflege und Kampfkunst schon angedeutet wurde (siehe II.1/II.2). Spätestens seit dem siebzehnten Jahrhundert hat der Gebrauch von Feuerwaffen in kriegerischen Handlungen die Oberhand gewonnen, so dass die Kampfkunst – als reine Schau- und Bewegungskunst – eine Perfektionierung und Differenzierung erlebt wie nie zuvor. Der rasante Aufschwung des Buchdrucks sorgt für Verbreitung unterschiedlicher Stilrichtungen im ganzen Land – zumal neue Schichten inzwischen des Lesens kundig sind. Nicht selten melden sich als Verfasser von Handbüchern zur Kampfkunst berühmte Generäle zu Wort, die sich im Kampf gegen Mongolen und japanische Seepiraten einen Namen machten. Neben dem Faustkampf sind alle Waffenarten vertreten: Schwert und Speer, Säbel, Beil und Streitaxt, Spieß und Knüppel, Pfeil und Bogen. In dem Maße, wie die Kampfkunst als Kriegskunst an Bedeutung verliert, gewinnt sie literarischen Ruhm: Alle Volksromane der Mingzeit (1368–1644) schmücken sich – wie schon Sing- und Schauspiele zuvor – mit Kampfkunsteinlagen. Der Roman Shuihuzhuan (Die Räuber vom Liangshan-Moor) enthält so zahlreiche und exakte Beschreibungen von Fußtritten und Handschlägen, dass ein Kampfkunstmeister ihn seinen Schülern als Lehrbuch empfiehlt. In der folgenden Textstelle kämpfen vom Pferd aus zwei Helden »tiger- und drachengleich« miteinander. Dank einer Finte besiegt Shi Jin den Gegner: Ein Hin und Her, ein Oben und Unten – das Hin und Her, als ob zwei Drachen im tiefen Wasser mit einer Perle spielten – das Oben und Unten, als ob zwei

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Tiger am Felsen um die Beute kämpften. Wenn der Drache in Wut gerät, fährt der Drei-Spitz-Säbel dem anderen an den Kopf. Wenn der über die Schlucht springende Tiger seinem Ärger Luft macht, ist sein Meter-langer Spieß auf das Herz [des Gegners] gerichtet. Eine Weile schon kämpfen Shi Jin und Chen Da. Da greift Shi Jin zu einer Täuschung. Er lässt zu, dass Chen Da mit dem Speer auf sein Herz zielt, weicht [plötzlich] seitlich aus, so dass Chen Da ihm geradezu in den Schoß fällt. Da streckt Shi Jin seinen Arm lang, drückt mit einem eleganten Hüftschwung Chen Da unter seinen Arm und hebt ihn mühelos aus seinem fein verzierten Sattel. 49

Die Fremdherrschaft der Mandschu, die sogenannte Qing-Dynastie (1644–1911), dauert knappe dreihundert Jahre. Die Mandschu pflegen ihre eigenen Spiele, wie Reiten und Eiskunstlauf, und zeigen keinerlei Begeisterung für die einheimische Schaukunst. Erst recht ist ihnen – wie den Mongolen zuvor – die chinesische Kampfkunst suspekt. Fahrende Künstler werden verfolgt, gehen in den Untergrund oder ziehen sich aufs weite Land zurück, so dass die Bewegungskunst immerhin in den Dörfern überlebt. In den Städten sind den chinesischen Untertanen nur harmlose Fähigkeiten erlaubt, d. h. Wahrsagerei, Geomantik, Heilkunst und lokale Opernvarianten, letztere allerdings bis heute reichlich mit Kampf- und Akrobatikszenen bestückt. Wie misstrauisch die Qing-Bürokratie die Kampfkunsttradition der Shaolin-Mönche beobachtet, zeigt eine Throneingabe des Ya Ertu aus dem Jahre 1740: In der Provinz Henan gibt es wilde und kräftige junge Leute. […]. Unter dem Vorwand, Faust- und Stockkunst zu unterrichten, versammeln die Mönche vom Shaolin-Kloster schon immer [junge] Burschen um sich […], die ihrem schlechten Beispiel folgen. So kommt es, dass es [hier] für Leute aus staatsfeindlichen Geheimbünden [ein Leichtes ist], ihre Ideen zu verbreiten. 50

Der Argwohn der Mandschu-Herrschaft war mehr als berechtigt. Die Bedeutung der waffenlosen Kampfkunst der Shaolin-Mönche für den antimandschurischen Widerstand kann nicht hoch genug veranschlagt werden – bis hin zu den Boxern (1900–1901), den »Faust[kämpfern] für Rechtlichkeit und Harmonie (yì-hé-quán 義和拳)«, von denen weiter unten noch die Rede ist. Zwanzigstes Jahrhundert bis heute. Ob und in welcher Form die Kampfkunst innerhalb der kommunistischen Bewegung nach Gründung der Republik (1911/12) und nach dem Versailler Vertrag (1918) geduldet oder gar als Teil des Guerilla-Kampfes gepflegt wird, ist mir nicht be128

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3. Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳

kannt. Feststeht, dass die Shaolin-Mönche ihre Darbietungen wieder aufnehmen und unbeeinträchtigt durch die revolutionären Vorgänge der 1920er und 1930er Jahre fortsetzen. Ein gewisser Duan Zhishan, der das Kloster 1925, unmittelbar vor dem Nordfeldzug, besucht, kann sich, jenseits von Politik und anti-imperialistischem Widerstand, kaum zurückhalten in seiner Begeisterung: Den Anfang machen einzelne Personen mit Faustkampf[darbietungen]. Fertigkeiten und Krafteinsätze sind sauber und kompakt, die Bewegung der Hände, der Augen und der Körper Schritt für Schritt fehlerlos. Während der Vorführung herrscht tiefe Stille bei den Zuschauern, danach klatschen sie [jedesmal] donnernd Beifall. Später folgen Partnerkämpfe, wobei Fäuste und Füße nur so fliegen und tanzen, kreuz und quer. Mit hellwachen und bewundernden Blicken gehen die Zuschauer mit. Nach dem Faustkampf führt einer die Säbelkunst vor. Kaum hat er begonnen, sieht man nur noch Säbel fliegen und kreisen – einmal oben, dann wieder unten, glitzernd wie Glanz von Eis 51 – bei gesteigerter Aufmerksamkeit seitens der Zuschauer. [Auf die Säbelvorführung] folgt eine Pause, in der ununterbrochen geklatscht wird. Zum Schluss führt Abt Miaoxing mit seinem Lieblingsschüler die Stockform des »Bergbewachens« als Partnerübung vor – schnell und geschickt in der Bewegung, hochkonzentriert (yán 嚴) im Geiste (shén 神)! Eine vollkommene Schau: Die beiden Stöcke kreisen umeinander – kraftvoll im Heranziehen (chōu 抽) und blitzschnell im Loslassen (fā 發) 52. Mit aufgerissenen Augen und aufgestellten Ohren verfolgen die Zuschauer die Stöcke, die wie aufgescheuchte Schlangen, wie schwimmende Drachen zischen [und spucken]. Klatschen und Jubeln nehmen kein Ende. Was für eine satte Augenweide, was für ein Gipfel der Vollendung! 53

Bald nach Gründung der VR China 1949 wird die Kampfkunst verboten, wenn auch gleichzeitig von Militär und Polizei bei Wehrübungen eingesetzt. Erst nach der Kulturrevolution (1968–1978) gewinnen im Zuge der allgemeinen Lockerung die Shaolin-Kampfmönche ihr damit verknüpftes Prestige zurück. In den 1980er Jahren entsteht um das Kloster herum eine Reihe von Kampfkunstschulen – unter anderem das einzige offiziell anerkannte Shaolin-Kloster-Wushu-Internat. Hier ist es tausend Schülern und hundert Schülerinnen erlaubt, sich in unmittelbarer Nähe zum Kloster, unter Obhut der chinesischen Regierung, in der Kampfkunst zu üben. Mit Buddhismus haben diese Kampfkünstler und Kampfkünstlerinnen nichts zu tun, im Unterschied zu den zahlenmäßig stark reduzierten Shaolin-Kampfmönchen im Kloster selbst. Eine harte und entbehrungsreiche Ausbildung sichert ihnen nach sechs Jahren ein berufliches Auskommen als Kampfkunstlehrer oder in Si129

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

cherheitsdiensten des Staates. Ihr großer Traum ist die Reise um den Globus im Rahmen der sogenannten Shaolin-Kampfkunst-Shows. Diese wecken überall Begeisterung und Bewunderung, auch wenn mancher Zuschauer hinter den Show-Effekten mehr Buddhismus und Meditation vermutet, als tatsächlich der Fall ist.

Gespürte Erfahrung Kosmisches Geschehen. Das gesamte 30. Kapitel im Zhuangzi, mit dem Titel »Über das Schwert«, ist eine Belehrung über den Weg des Herrschers als Garant für die gute Ordnung im Staat in Übereinstimmung mit dem dào (siehe I.6). Dem Schwert des Herrschers kommt hier kosmologische Bedeutung zu. Von der Schwertspitze über die Schneide bis zur Schwerthülle ist es ein einziger Mikrokosmos. Alle signifikanten Aspekte der Welt sind auf schmalem Raum versammelt: die verschiedenen Lehensstaaten, die »Barbaren in den Vier Himmelsrichtungen«, das Ostmeer, der Weltenberg, die Fünf Wandlungsphasen, yīn und yáng, Frühling, Sommer, Herbst und Winter. So gesehen ist jeder Schwertstreich des Herrschers im Einklang mit der guten Ordnung der Welt. Fülle in der Leere und Leere in der Fülle. Das Schwertkapitel im Zhuangzi erläutert darüber hinaus die bis heute wichtigste Kampfkunstgeste, die Finte, die als Täuschungsmanöver nichts anderes ist als Fülle, d. h. »Stärke in der Leere«, die vom Gegner als Leere im Sinne von Schwäche ausgelegt wird: Ein [guter] Schwertkämpfer demonstriert Leere (xū 虛), [gibt also vor,] sich zu öffnen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, denn er wartet, bis der Gegner losschlägt, kommt aber dessen Schlag zuvor. 54

Mehr als tausend Jahre später bedient sich der Affe Sun Wukong, Schelm und Held des mingzeitlichen Volksromans Die Reise nach dem Westen, dieser Kampfkunstgeste. Hier wird die Finte als »Fülle in der scheinbaren Leere« dem lästigen Dämon zum Verhängnis: Mit beiden Händen hebt der gute Affenkönig den Stock und versetzt sich in die Position »Hoher Schlag aufs Pferd«. Der Dämon ahnt nicht, dass dies eine Finte ist, sieht nur Leere, schwingt den Säbel und zielt auf [des Affenkönigs] Beine. Dieser weicht aus, wehrt den Säbel ab, positioniert sich in der Stellung

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3. Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳

»Den Pfirsich unter Blättern stehlen« und schlägt dem Dämon mit dem Stock derart auf den Kopf, dass dieser spurlos verschwindet. 55

Moralisch-ethische Überlegungen begleiten von Anfang an die Kampfkunst. Wenn ein Handgriff, ein Fußtritt – gewusst wo – ausreicht, den Gegner vom Leben in den Tod zu befördern, lautet die Regel Nummer Eins, niemanden zu verletzen und zu täuschen – sieht man von der Finte als Regel der Kunst einmal ab, die ja nicht »Betrug« ist, sondern »Fülle in der Leere«. Mangel an Fairness gilt als »Wegwerfen der Regel der Kunst (dào 道)« 56 und ist Zhuang Zhou zufolge ein Zeichen von Aufregung und mangelnder Gelassenheit – aus Bedrängnis und leiblicher Engung heraus: Bei Ringkämpfern (qiǎo–dòu-lì-zhě 巧鬥力者) [kann man beobachten], dass sie anfangs offen und ehrlich (yáng 陽!) und am Ende oft hinterlistig und heimtückisch sind (yīn 陰!). Kommen sie nämlich in Aufregung (dà-zhì 大 至), greifen sie zu hinterlistigen Kniffen (qí-qiǎo奇巧). 57

Die Mitte zwischen den Polen. Sowohl-als-auch. Die Erfahrungsfigur Fülle in der Leere ist fürs Bogenschießen in einem beeindruckenden Bild aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. belegt. Demnach ist die Mitte bipolarer Gegebenheit nichts anderes als ein labiles Gleichgewicht im Sowohl-als-auch. In der folgenden Anekdote muss sich Herzog Jing von Qi von der Ehefrau eines Bogenbauers darüber belehren lassen, worin die Kunst des Bogenschießens besteht – nicht zuletzt in einer Handhaltung, die sowohl kraftvoll als auch locker ist: Ich habe gehört, dass der Wagen des Xi Gong nicht von alleine fährt, und [das Schwert] von Mo Xie zwar scharf ist, aber nicht von alleine schneidet. 58 [In beiden Fällen] braucht es einen, der diese Dinge bewegt. Das dào des Bogenschießens beruht nun darin, dass die Hand [die Mitte sucht zwischen den Extremen, zwischen Angespannt und Lasch], als ob sie zwischen den Fingern ein Zweiglein hielte und in der Höhlung der Hand ein [rohes] Ei und die vier Finger nun das Zweiglein brechen sollten, [ohne das Ei zu beschädigen]. Die rechte Hand schießt, und die linke Hand weiß nichts davon. Das ist die Kunst (dào) des Bogenschießens. 59

Resonanz und wechselseitige Einleibung ist am Schwertkampf veranschaulicht. »Die Verschmelzung auf einander sich einspielender Leiber« 60 schildert Liu Xiang (77–6 v. Chr.) in einer Reihe von poetischen Metaphern, so dass zugleich sichtbar wird, wie Einleibung geschieht – 131

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

über qí-Kraft, z. B. im »Ringkampf der Blicke« 61 und über das Vertrauen in die intuitive Intelligenz des eigenen Körperleibes: Wenn Lu Shigong mit dem Schwert kämpft, geht er auf den Gegner los, sobald er dessen Angriff spürt (gǎn 感) […]. Unentwegt und Macht gebietend gehen die Augen hin und her. Seine Verwandlungen kennen keine feste Gestalt (xíngxiàng 形象). [Seine Bewegungen], weich und doch selbstbewusst, folgen den Bewegungen des Gegners, als sei er dessen Schatten oder Echo. So wie der Drache den Eingang [zu seiner Höhle] hütet, die Wagenräder den Pferden folgen, so erwidern seine Laute die des Gegners, ähnelt sein Schatten dem Schatten des Gegners. Sie folgen einander wie Trommelschlag auf Trommelschlag, Atemzug auf Atemzug. […], sind Zikadenflügel voneinander entfernt […], so nah beieinander wie Augenbraue und Wimpern. 62

Konzentration und Aufmerksamkeit ist im Zhanguoce an der Kunst eines Bogenschützen veranschaulicht, der die schmalen Blätter der Trauerweide aus einer Entfernung von hundert Schritt getroffen haben soll. 63 Das Liezi, eine daoistisch inspirierte Geschichtensammlung aus dem dritten Jahrhundert n. Chr., hält gleich mehrere Anekdoten bereit, die auf die ruhige Hand anspielen beim Halten des Bogens und Abschießen der Pfeile: Den Bogen spannte [Lie Yukou] zu voller Weite und schoss Pfeil auf Pfeil ab – einen mit Wasser gefüllten Becher auf dem Arm, während er stand wie eine Statue. 64

Nicht einmal diese beeindruckende Vorführung lässt ein Meister gelten, der Lie Yukou darüber belehrt, was volle Konzentration bedeutet – »rückwärts an einen Abgrund tretend, so dass die Fußsohlen zu zwei Dritteln in die Luft ragen«: Ein wahrer Adept kann [in dieser Position] hinaufblicken zum blauen Himmel, hinunterblicken zu den Flüssen der Unterwelt, hinausschweifen in alle Fernen, ohne dass seine Geisteskraft (shén 神) davon beeinflusst wird. Du aber hast Angst und wagst nicht, um dich zu blicken, du sitzest mitten auf dem Land und fühlst dich doch nicht sicher. 65

Dass Konzentration und Ruhe in der Bewegung nicht ohne ausdauernde Übung zu haben sind, lehrt eine andere Geschichte im Liezi, die zugleich das Meister-Schüler-Verhältnis veranschaulicht, das im Grunde bis heute für alle Künste gilt: Ji Chang lernt Bogenschießen bei Fei Wei. Fei Wei empfiehlt ihm, zunächst das Blinzeln zu verlernen, erst dann könne man vom Schießen reden. So kehrt

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3. Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳

Ji Chang nach Hause zurück, legt sich unter den Webstuhl seiner Frau und verfolgt mit den Augen den auf- und niedergehenden Webrahmen. Nach zwei Jahren ist er so weit, dass er nicht mehr blinzelt, selbst wenn ihn die Spitze einer Ahle ins Auge getroffen hätte. Dies teilt er Fei Wei mit, worauf dieser erwidert: »Das reicht noch nicht. Erst wenn du [richtig] sehen lernst, wird es angehen, und zwar so, dass du Kleines groß siehst und Unsichtbares ganz deutlich. Dann lass es mich wissen.« [Ji] Chang platziert nun eine Laus im Fenster! Die hängt an einem Haar, und er blickt nach ihr [unverwandt] wie ein Herrscher nach Süden. Nach zehn Tagen wird die Laus allmählich größer. Nach drei Jahren sieht er die Laus so groß wie ein Wagenrad, so dass ihm alle anderen Dinge riesig wie Berge vorkommen. Da nimmt er einen Bogen aus Horn […] und einen Pfeil aus Rohr […] und schießt auf die Laus, die Mitte durchbohrend, ohne dass die Aufhängung Schaden nimmt. Als er Fei Wei davon berichtet, macht dieser einen Luftsprung, schlägt sich auf die Brust und ruft [begeistert] aus: »Du hast es erreicht!« 66

Gekonnter Umgang mit der Lebenskraft qì ist in einer Faust- oder RingWettkampfbeschreibung aus der Tangzeit (618–906) angedeutet: Dann [begrüßten sie einander], indem sie die Hände falteten, den Kopf senkten und mit den Füßen auf den Boden stampften. Sie waren […] zum Wettkampf geladen und kämpften um den Platz an der Spitze […]. Kreisend entwanden sie sich einander nach links, zogen von rechts und befreiten die eigenen Schultern von den geschwinden Händen [des Gegners]. Hoch flogen die Backenbärte, während das qì ausfuhr. So demonstrierten sie den Zuschauern ihre beeindruckende Kraft. 67

Einleibung des Kontrahenten, wie hier im Partnerkampf, ist das eine! Einleibung des Kampfwerkzeugs das andere, d. h. Fortsetzung des eigenen Selbst im Schwert. Das Koagieren der Schwertkunstmeisterin mit dem in der Luft wirbelnden und am Ende herabstürzenden Schwert schildert Du Fu (712–770) in einem seiner bekanntesten Gedichte: Wie [der Bogenschütze] Yi, der auf einmal neun Sonnen vom Himmel herunterschießt – wie zuckende Blitze! Wie Götter wirbeln auf ihrem Drachengespann! So stürzt [das Schwert] auf uns zu wie donnernder Blitz, bebend im Zorn – steht plötzlich still! Gefrorener Glanz auf Flüssen und Seen […]. 68

Auch die dritte Form der Einleibung – neben der des Gegners und der des Kampfwerkzeugs: die Einleibung der Zuschauer durch die Kampf133

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künstler in der gemeinsamen Situation ist in der Geschichte der Kampfkunst als Schaukunst belegt. Genau damit beginnt das Gedicht, aus dem soeben zitiert wurde: Einst tanzte die schöne Gongsun mit dem Schwert. In allen Vier Himmelsrichtungen – Berge von Zuschauern, [dicht gedrängt], wie gebannt, bleich, [atemlos]! Lange nicken Himmel und Erde voller Bewunderung. 69

Mit der schönen Gongsun konnte es nur Pei Min aufnehmen, ein General der kaiserlichen Garde. Zeitgenossen bestätigen auch Pei Min die Kunst der Einleibung von Schwert und Zuschauer: […] Mit einem Mal beginnt Pei Min mit zwei Schwertern zu tanzen, als ob die Sieben Sterne vom Himmel fielen, als ob er den Flutdrachen zu binden [und zu bändigen suchte]. 70 […] Min lässt das Schwert kreisen, stößt zu, bald mit der linken, bald mit der rechten Hand. Er wirft es hinauf bis in die Wolken, zehn Fuß hoch, und wie ein Blitzstrahl saust es herunter. Min hebt die Hand, hält die Scheide, um es aufzufangen. Das Schwert stürzt herab, den Raum durchbohrend. Unter Tausenden von Zuschauern keiner, der nicht zitterte und bebte vor Schreck. 71

Der schon zu Lebzeiten berühmte Maler Dao Xuan (596–667) soll die Schwerttanzdarbietung des Pei Min immer wieder aufgesucht haben, um die Kunst des Schwertes auf die eigene Pinselführung zu übertragen: Pei Min war hervorragend im Schwerttanz. Nachdem Dao Xuan ihn [wiederholt] beim Schwerttanz betrachtet hatte, sah er Götter und Geister kommen und gehen: Seine Pinselführung wurde immer besser. 72

Von Zhang Xu (ca. 658–748), dem Erfinder der »verrückten Grasschrift«, wird Analoges berichtet. Der Schwerttanz sowohl der Gongsun als auch des Pei Min sind ihm jedesmal eine Offenbarung für die eigene Kunst der Pinselhandhabung (siehe II.5). Bipolares Geschehen. In der folgenden Textpassage aus den Frühlingsund Herbstannalen der Staaten Wu und Yue und damit der Mittleren Kaiserzeit zuzuordnen, sind gleich mehrere der bipolaren Denk- und Erfahrungsbegriffe versammelt, in der Reihenfolge ihres Auftretens: 134

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3. Kampfkunst (wǔ-shù 武術) und Tàijíquán 太極拳

der Wechsel von yīn und yáng, Öffnen und Verschließen, Stärke in der Schwäche, Härte in einer weichen Schale, innere Ruhe in der Bewegung, Nähe und Ferne, Ein- und Ausatmen, Innen und Außen. Hier kommt eine junge Frau zu Wort, die dem König von Yue als herausragende Schwertkünstlerin empfohlen wurde: Das dào [des Schwertes] ist höchst subtil und doch einfach, sein Sinn ist dunkel und tief. Das dào hat ein Tor und eine Tür, hat auch yīn und yáng. Wenn man das Tor [außen = yáng] öffnet und die Tür [innen = yīn] verschlossen hält, [findet kein Austausch statt]; yīn ist [dann] schwach und yáng [unverhältnismäßig] stark. Das dào im Nahkampf (shǒu-zhàn 手戰) besteht darin, dass man innerlich fest entschlossen (jīng–shén 精神) ist, nach außen aber Friedfertigkeit demonstriert. Man sieht aus wie eine brave Frau, kämpft aber furchterregend wie ein Tiger. Man richtet sich in seinem Körper (xíng 形) ein und wartet auf die Lebenskraft qì, damit sie sich mit der Geisteskraft (shén 神) verbindet. Bald ist [der Kämpfer] unerreichbar wie die Sonne, bald neigt er sich zur Seite wie ein Hase auf der Flucht. Wie ein Blitz jagt er Körper und Leib (xíng 形) des Gegners, bald dessen Schatten. [Der Kampf ist] – einziges Ein- und Ausatmen und ohne Regelverletzung. [Das Schwert] – lautlos im Hin und Her, Vor und Zurück, Auf und Ab. Wer so kämpft, kann es als Einzelner mit hundert Personen, und hundert Personen können es mit zehntausend aufnehmen. 73

Gestaltverläufe. Neben dem mehrfach differenzierten bipolaren Geschehen beschwört die junge Frau das Verhalten von Resonanz und Widerstreit und damit Einleibung zwischen den Kontrahenten, die subtil mit den Bewegungsimpulsen des Gegenübers ko-agieren. Dabei sind die Richtungen im Hin und Her, Auf und Ab, Vor und Zurück nichts anderes als Stoß- und Zugkräfte im Feld der gemeinsamen Kampfsituation. Auch meditative Konzentration als bewusst vollzogener Eintritt in den Kampf ist hier angesprochen: »Man stellt seinen Körper auf und wartet auf die Lebenskraft qì, damit sie sich mit der Geisteskraft (shén 神) verbindet.« Er entspricht dem »Tausend Gedanken durch einen ersetzen« in der Lebenspflege (siehe II.1), dem »Zum-Bambus-werden« in der Tuschemalerei (siehe II.5), d. h. der meditativen Einstimmung auf das bewusste Tun. Synästhetische Charaktere als Bewegungssuggestionen, die wie Funken auf die Zuschauer überspringen, schildert Gong Ding, Minister der Wanli-Ära (1573–1620), unter dem Eindruck eines Kampfwettbewerbs im Shaolin-Kloster. Mit dieser ebenso poetischen wie atemberaubenden 135

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Auflistung endet die anekdotische Musterung von Textstellen aus der knapp zweitausendjährigen Geschichte der chinesischen Kampfkunst: Brausend wie die Flut der Wellen im Galopp, luftig wie ein Herbstblatt in leichter Brise. Selbst wilde Tiere fürchten den stechenden Blick. Krallen und Flügel gestreckt – wie fliegender Drache, beharrlich und emsig wie Weberschiffchen im Hin und Her, wie Affen im Kampf, wie Hasen im Sprung. […] Glanz und Glitzern von Schwertern und Äxten, geschwungen, gestoßen von Mönchen, die einander begegnen wie ein Sturm, wie brüllende Löwen, wie Blasen des Muschelhorns, so dass auf dem Dach die Ziegel erzittern. Um ein Haar in die Brust getroffen, um ein Haar ein Bein gebrochen – eine einzigartige alte Kunst! Vom Geländer aus schaue ich zu, fast tanze ich selber mit […]. 74

Historisches zum Tàijíquán 太極拳 75 Die jüngste aller Bewegungskünste trägt einen altehrwürdigen Namen. Spätestens seit der Hanzeit (206 v. – 220 n. Chr.) steht der Begriff tài-jí 太極 in kosmologischen Theorien synonym mit dào; tài bedeutet »groß«, und jí ist der das »Dach tragende First«, die oberste Begrenzungslinie der geneigten Dachfläche respektive der Welt. Im dritten/ vierten Jahrhundert n. Chr. gesellt sich zum tài-jí der Gegenbegriff wú-jí 無極 (ohne Begrenzung). Nunmehr kommt wú-jí für dào zu stehen und tài-jí für den Anfang der Welt (siehe I.7). In dieser Bedeutung sind beide Konzepte im Tàijí-Diagramm (tàijí-tú 太極圖) des Zhou Dunyi (1017–1073) enthalten, der die alte Philosophie in komprimierter Form graphisch zu erfassen versucht (siehe Diagramm 2). Der leere Kreis am oberen Ende des Diagramms 2 entspricht wú-jí 無極, der undifferenzierten und damit grenzenlosen Weite des dào. Daraus entsteht tài-jí 太極 als Dreh- und Angelpunkt zur differenzierten Welt, die mit dem zweiten Kreis in Erscheinung tritt. Das Schema aus ineinander verschlungenen respektive einander abwechselnden Halbkreisen veranschaulicht yīn im yàng und umgekehrt, d. h. die dif136

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ferenzierte Welt im bipolaren Geschehen. Die Schriftzeichen seitlich davon belehren darüber, dass die schwarzen yīn-Halbkreise Stille/Ruhe (jìng 靜), die weißen yáng-Halbkreise Bewegung (dòng 動) symbolisieren.

Diagramm 2: Tài-jí – der Große Dachfirst 76 Das dritte ovale Schema fügt der binären yīn–yáng-Ordnung die pentagonische Einteilung der Dinge der Welt hinzu, den Zyklus der Fünf Wandlungsphasen: in der Mitte die Erde, Feuer und Wasser (oben links 137

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respektive rechts), Holz und Metall (unten links respektive rechts). Der darunter angeordnete, wiederum leere Kreis – mit den seitlichen Schriftzeichen auf das Yijing verweisend – gibt die Einheit von Himmel und Erde, Männlich und Weiblich zu verstehen. Der untere leere Kreis symbolisiert die Wiederkehr von Werden und Vergehen. Die songzeitlichen Tài-jí-Diagramme des Zhou Dunyi und anderer 77 haben bei der Namensgebung des Tàijíquán so offensichtlich Pate gestanden, dass die philosophische Durchdringung auch der »Faust des Tàijí« von Anfang an gegeben ist. Nun gründet diese jüngste aller Bewegungskünste nicht nur in der neokonfuzianischen Philosophie. Sie hat sich den daoistisch-buddhistischen Stufenweg (siehe III.2) ebenso zu eigen gemacht wie die zur Songzeit (960–1278) florierende Innere Alchimie (siehe I.1). Demnach geht es im Tàijíquán darum, die eigene Energie immer mehr zu verfeinern, um sie der kosmischen Energie anzugleichen, d. h. qì zu »schmelzen«, um es in shén 神 (Geisteskraft) zu verwandeln, und shén zu »schmelzen«, so dass es sich in die Leere hinein verflüchtigt, wo alle Gegensätze aufgelöst sind. Als jüngste Bewegungskunstform bedurfte das Tàijíquán umso mehr der Absicherung durch blühende Ursprungslegenden. Seine Erfindung wird einem gewissen Zhang Sanfeng zugeschrieben, einem daoistischen Meister, der im vierzehnten Jahrhundert in den Wudang-Bergen (Provinz Hubei) praktiziert haben soll. Realistischer ist die Zuordnung zu Yang Luchan (1799–1872), dem eine medizinisch untermauerte Form langsamer Kampfkunstbewegungen zugeschrieben wird. Bei Yang Luchan wird die spätkaiserzeitliche Umorientierung der traditionellen Bewegungskünste zur reinen Gesundheitspflege erstmals greifbar. Dabei beruft er sich wiederum auf einen gewissen Chen Changxing (1771– 1853). In einer Zeit, in der Buchdruck und Buchhandel florieren, dauert es nicht lange, bis das erste Handbuch auf dem Markt »entdeckt« wird. Sein Titel lautet: Wesentliche Erläuterungen zur Praxis der dreizehn Positionen (shì 勢) und Bewegungen (xíng 行). Unter Yang Luchans Schülern sind zwei Brüder aus der Familie Wu, von denen der ältere das »Geheimnis in Reimen aus vier Zeichen« – so der Untertitel des Buches – in einem Salzladen gefunden haben will; der jüngere Bruder Wu bearbeitet es für den Druck. Als ursprünglicher Autor ist ein gewisser Wang Zongyue genannt, dem auch das unten erläuterte Tàijíquánjīng 太極拳經 (Klassiker des Tàijíquán) zugeschrieben wird. 138

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Damit sind drei Namen genannt, die bis heute für maßgebliche Tàijíquán-Stile stehen, den Chen-Stil, Yang-Stil und Wu-Stil. Der Chen-Stil wurde zwischen 1909 bis 1928 schriftlich fixiert. Etwa zeitgleich erhielt auch der Yang-Stil seine heutige Form. Der Wu-Stil präsentiert sich als Synthese aus Chen- und Yang-Stil, vermischt mit eigenen Praxiselementen. Er gilt als kompakter, härter und reduzierter in den Bewegungen und schwieriger im Erlernen. Die populärste aller Tàijíquán-Varianten ist der Yang-Stil, leichter zu erlernen als die anderen, sogar in der Langform, zugleich eleganter und ausgreifender in Raumund Zeitgestaltung. Die Konsolidierung der verschiedenen Tàijíquán-Stile, die der schriftlichen Fixierung vorausgeht, fällt mit dem Niedergang der Mandschu-Herrschaft zusammen. Die Kunde vom chinesischen Faustkampf gelangt noch vor dem Ende der Qing-Dynastie (1911/12) in den Westen, zumal an der Niederschlagung der »Boxerbewegung« (1900–1901) sämtliche Westmächte beteiligt sind. Die »Boxer« oder »Faust[kämpfer] für Rechtlichkeit und Harmonie« glauben als Anhänger einer gleichnamigen Geheimgesellschaft, unverwundbar auch gegen die Feuerwaffen der Feinde zu sein. Trotz oder gerade wegen ihrer Niederlage gegen die vereinten Westmächte und die Mandschu-Herrschaft sind die Faustkämpfer im kollektiven Gedächtnis der Chinesen bis heute lebendig. Grundsätzlich bietet das Tàijíquán jeweils eine Kurz- und eine Langform an. Aus jeder Bewegung und jeder Ruheposition heraus lassen sich die für die Kampfkunst charakteristischen Verteidigungs- und Angriffsgesten entfalten. Die Formen des Tàijíquán, die man hier und heute in Parks und Turnhallen beobachten kann, zeichnen sich – im Unterschied zur Kampfkunst – durch langsame und fließende Bewegungen aus, auch in den Übergängen, wo Lebenspflegeübungen des Qigong und der Tierspiele mehr das Innehalten betonen. Angesichts der Größe Chinas – von Norden nach Süden vergleichbar einer Länge zwischen Kopenhagen und Neapel, analog von Ost nach West – ist ein einheitlicher Standard der Faust des Tàijí nicht zu erwarten. Auch sind gleiche Namen für unterschiedliche Bewegungen in Umlauf und umgekehrt. Die Ausbreitung des Tàijíquán außerhalb Chinas dürfte einer Diversifizierung eher zuträglich sein als einer Standardisierung.

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Gespürte Erfahrung im Tàijíquán-jīng 太極拳經 Leibhaftige Kosmogonie. Dem Tàijíquán-jīng (Klassiker der Faust des Tàijí) zufolge ist Übungspraxis nichts anderes als ein in Raum und Zeit transportiertes Tài-jí-Diagramm, ist somit leibhaftige Philosophie. Das setzt voraus, dass Kosmos und menschlicher Körperleib analog strukturiert sind nach yīn und yáng, den Fünf Wandlungsphasen und den Acht Trigrammen aus dem Yijing, die atmosphärische Anmutungen mit synästhetischen Qualitäten verknüpfen (siehe Diagramm 3). Diagramm 3: Trigramme des Yijing qián 乾 ☰ kūn 坤 ☷ zhèn 震 ☳ kǎn 坎 ☵ gèn 艮 ☶ sùn 巽 ☴ lí 離 ☲ duì 兌 ☱

– – – – – – – –

das Schöpferische, der Himmel das Empfangende, die Erde das Erregende, der Donner das Abgründige, das Wasser das Stillehalten, der Berg das Sanft-Durchdringende, der Wind 78 das Haftende, das Feuer das Heitere, der See.

Auch die Acht Trigramme sind einzelnen Körperteilen zugeordnet: qián (Himmel) »dem Kopf, kūn (Erde) dem Unterbauch, zhèn (Donner) den Füßen, sùn (Wind) den Beinen, kǎn (Wasser) den Ohren, lí (Feuer) den Augen, gèn (Berg) den Händen und duì (See) dem Mund.« 79 Die in den Tài-jí-Diagrammen dominierenden Gestaltverläufe von Kreis- und Spiralfiguren wiederholen sich in Hand- und Fußbewegungen, so dass Angriffe des Gegners tangential abprallen. Während die gesamte Übungsabfolge ein Viereck zeichnet als Symbol der Erde setzt die Kreisbewegung das gesamtkosmische Geschehen in Gang. Die geometrischen Figuren von Viereck und Kreis sind in Abb. 12 80 mit dem Dreieck aus Himmel-Erde-Mensch zu einer kosmischen Kalligraphie verknüpft. Aus dem wú-jí 無極, dem Grenzenlosen, entsteht der Große Dachfirst (tài-jí). Er ist Dreh- und Angelpunkt von Bewegung und Ruhe, die Mutter von yīn und yáng. Bei Bewegung kommt es zur Trennung (fēn 分), bei Stille kommt es zur Vereinigung (hé 和). 81

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Abb. 12: Der Kosmos in einer Tuschezeichnung Alle weiteren Bewegungen sind nichts anderes als Wechselspiel und Widerspiel von yīn und yáng. Am Ende der Übungseinheit fallen alle Polaritäten in erneuter Ruhe zusammen; hé-tài-jí 和太極 (das tài-jí harmonisieren) bezeichnet die Abschlussposition. 82 Mitte und Aufmerksamkeit. Die zweite Regel beginnt mit dem Satz: Gehe nicht darüber hinaus und bleibe nicht zurück. 83

Während des gesamten Bewegungsablaufs ist die Mitte zu wahren. Zentrierung ist ein weiteres Mal in der sechsten Regel eingefordert. 84 Alle Abweichungen von der Mitte sind Energieverschwendung und -erschöpfung, laufen Gesundheiterhaltung und Langlebigkeit zuwider, dem Sammeln und Speichern von Lebenskraft im dān-tián 丹田. Beachtung der Mitte setzt Aufmerksamkeit voraus, auch wenn im Klassiker des Tàijíquán dieser Erfahrungsfigur, die so selbstverständlich vorausgesetzt ist, explizit keine eigene Regel gewidmet ist. Bipolares Geschehen als Widerstreit der Kräfte kann sich im eigenen Körperleib ebenso vollziehen wie zwischen zwei Tàijí-Partnern: Folge der Beugung (qū 屈), um Streckung (shēn 伸) zu erlangen. Ist der Gegner hart, und ich bin weich, so nennt man das Rückzug (zǒu 走). 85

Aus der Beugung der Arme und Beine erfolgt die Streckung, d. h. aus Engung erfolgt Weitung, aus yīn erfolgt yáng. Mit Rückzug wird der

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(yáng-)Angriff des Gegners beantwortet, denn »weich« nachzugeben, ist yīn-gemäßes Verhalten. Resonanzverhalten ist im letzten Satz der zweiten Regel empfohlen: Folgst du dem, der sich zurückzieht, so nennt man das Klebenbleiben (nián 黏). 86

In der dritten Regel ist Resonanz auf den Rhythmus bezogen: Bewegt sich der Gegner schnell, so folge ihm schnell; bewegt er sich langsam, so folge ihm langsam. 87

Formen der Energie. Die vierte Regel nennt verschiedene Energieerfahrungen in einem fortgeschrittenen Stadium der Tàijíquán-Praxis. Die sogenannte jìn-Energie (勁) zielt auf feine Energieströme, die dem Angriff dienen, wenn sie im Uhrzeigersinn vom dān-tián aus in Hände und Finger fließen. Das setzt Sammeln der Lebenskraft im dān-tián 丹 田 voraus, was für alle Lebenspflegeübungen gilt. Als Lichtenergie des Geistes zielt shén-míng 神明 (siehe I.4) auf »Erleuchtung«, auch im Sinne intuitiven Verhaltens. Die Wahrnehmung beider subtilen qìQualitäten jìn 勁 und shén-míng 神明 setzt erhöhte Sensibilisierung und Gewahrsein voraus. In der dreizehnten Regel treffen wir auf das Wagenrad, eines der archaischen Bilder für dào (siehe I.1 sowie I.6). Von hier nimmt die Spiralkraft, die der Hüftdrehung entspringt, ihren Ausgang und überträgt sich auf den gesamten Körperleib. Die Körperleibmitte ist nicht nur altindisch eines der Energieräder, sondern auch altchinesisch die Achse, um die sich alles dreht: Stehe aufrecht in deinem Gleichgewicht und bewege dich wie ein Wagenrad. 88

Fülle und Leere sind in der siebten Regel thematisiert: Ist deine rechte Seite voll (zhòng 重, wörtlich schwer), mache sie leer (xū 虛), ist deine linke Seite voll, mache sie abwesend (yǎo 杳). 89

Auch diese Anweisung setzt fortgeschrittene Praxis voraus, wenn aus bedrohten Körperbereichen Energie abgezogen wird, damit der Gegner an diesen Stellen ins Leere trifft. Das Konzept von Fülle und Leere ist in der vierzehnten und fünfzehnten Regel auch als wechselnde Gewichtung der Füße erläutert: 142

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Wenn du doppelt gewichtest (shuāng-zhòng 雙重), bedeutet das Stagnation (zhì 滯). 90

Mit dem Gewicht auf beiden Füßen gleichzeitig lässt sich kaum reaktionsschnell kämpfen. Also muss ein Fuß immer leer und beweglich (yáng) sein, jederzeit einsatzbereit, der andere voll und fest (yīn). Grundsätzlich gilt, wie in den Tierspielen, wechselnde Gewichtsverteilung – sieben zu drei oder acht zu zwei (siehe II.2). Körperkraft vs. energetische Kraft scheint eine spezifisch spätkaiserzeitliche Differenzierung zu sein. In den zehnten, elften und zwölften Regel ist die rein physische Kraft (lì 力) der Energiekraft (jìn 勁 respektive shén 神 oder shén-míng 神明) untergeordnet und als Kriterium benannt für den Unterschied zwischen äußeren (wài 外) und inneren (nèi 內) Bewegungskünsten. Erstere, und hier kommt eine Wertung ins Spiel, bedürfen keiner Selbstkultivierung, denn wenn der Starke den Schwachen besiegt, der Langsame sich dem Schnellen unterwirft, einer mit Körperkraft (lì 力) den Kraftlosen schlägt, langsame Hände den schnellen Händen unterliegen, dann ist dies alles [nichts weiter als] natürliche Anlage und hat nichts mit Könnerschaft (wéi 為) zu tun, die man erwirbt kraft des Lernens. 91

Erlernen der Faust des Tàijí setzt jahrelanges, wenn nicht jahrzehntelanges Üben voraus. So kommt es, dass in der zwölften Regel alte Männer zwischen siebzig und neunzig (mào-dié 耄耋) erfolgreich aus Wettkämpfen gegen Jüngere hervorgehen. Einleibung. Im Klassiker der Faust des Tàijí ist diese Bewegungskunst als Partnerkampf konzipiert. Damit erweist sie sich – im bipolaren Geschehen von Weichheit und Härte, Langsamkeit und Schnelligkeit, Öffnen und Schließen – als legitime Erbin der traditionellen waffenlosen Kampfkunst, auch wenn die philosophische Überhöhung in der Späten Kaiserzeit einen Grad von Komplexität erreicht, die der überlieferten Kampfkunst in dieser Konsequenz fehlt. Unterstellt ist allen Stilen, dass mit der Kampftechnik des Tàijíquán erst begonnen wird, »wenn man alleine die Bewegungsabfolge einer Sequenz sicher beherrscht« 92. So lange ist Tàijíquán-Praxis im Grunde Vorübung – und Gesundheitspflege! Erste Stufe des Partnertrainings, auch als Einübung von Selbstverteidigung, ist das »Hände-

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schieben« (tuī–shǒu 推手), und Händeschieben ist nichts anderes als Einleibung. Hier lernt der Adept, die »wesentliche Energie« jīng [精 Essenz] seines Gegenübers zu »verstehen« und darauf zu reagieren. Mit anderen Worten, er versucht, eine Harmonie mit dem Gegner zu erreichen, so dass sich beide wie die Polaritäten Yin und Yang des taiji in dynamischem Wechsel zueinander bewegen. 93

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4. Gedichte als Bewegungskunst 94

Wer sich einlässt auf Dichtung aus dem vormodernen China, kommt am Buch der Lieder (Shijing) nicht vorbei. Die im Anschluss daran erläuterten Gedichte stammen allesamt aus der Tangzeit (618–960) – Blütezeit chinesischer Dichtkunst und der Gelehrtenkultur.

Das Buch der Lieder (Shijing 詩經) 95 Das Buch der Lieder markiert in China den Beginn schriftlicher Überlieferung überhaupt. Im selbstverständlichen Zitieren aus diesem Liederschatz dokumentieren Nachgeborene zweierlei – umfassende Bildung und Lob der Tradition. Mit dem Vorbildcharakter des Shijing hat es zu tun, wenn das erste Wortzeichen: shī 詩, wörtlich »mit dem Fuße stampfen«, nicht nur »Lied« und »Gedicht« bedeutet, sondern »Dichtkunst« schlechthin. Dass zu den Liedern getanzt und geklatscht wurde, weist sie von Anfang an als Bewegungskunst aus. Konfuzius hält große Stücke auf die Volkslieder und Festgesänge aus dem Shijing und empfiehlt sie schon Kindern zur Lektüre, zum Auswendiglernen und wiederholten Rezitieren – aus vier bemerkenswerten Gründen: Kinder, warum lernt ihr nicht die Gedichte-und-Lieder?! Sie regen an (xìng 興), sie zeigen, wie man die Welt beobachtet (guān 觀), sorgen für Gemeinschaft (qún 群) und lehren, wie man Kummer-und-Groll (yuàn 怨) [angemessen] zum Ausdruck bringt. 96

Die von Konfuzius benannten Vorzüge der Lieder des Shijing enthalten alle Merkmale »guter Worte« in chinesischer, besonders konfuzianischer Wertung. Der diffus-assoziative Charakter poetischer Texte, von Konfuzius an erster Stelle genannt, ist im Wortzeichen xìng 興 (Anregung/Evokation) angedeutet (siehe II.6). Dinge und Sachverhalte in Anspielungen, Sprachbildern und Wortwitz zu verstecken, anstatt sie 145

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direkt beim Namen zu nennen, ist schonende, hermeneutische Explikation (siehe I.4). So macht auch das Buch der Lieder wie alle Dichtung großzügig Gebrauch vom Paradox des Zeigens im Verstecken und umgekehrt. Im zweiten Vorzug der Lieder ist eine bestimmte Einstellung zu den Dingen der Welt angedeutet. Das Wortzeichen guān 觀, ein Krugund Becherwort (siehe I.4), begegnet in der Inneren Alchimie der Lebenspflege als mitlaufende Aufmerksamkeit auf Orte und Wege von Körper und Leib (siehe II.1), in der Meditation (siehe Teil III) als versunkene Betrachtung. Im Urteil des Konfuzius zielt guān auf den anderen Pol des Bewusstseins (siehe I.4). Kritische Beobachtung der Angelegenheiten von Gesellschaft und Politik – und darum geht es hier – erfordert genaueres Hinsehen, distanzierteren Blick. Über geteilte Situationen Gemeinschaft (qún 群) zu stiften, nennt Konfuzius als dritten Vorzug der Lieder, der keiner weiteren Erläuterung bedarf, wenn Gesänge die kollektiven Arbeitsgänge auf dem Feld und die dörflichen Jahresfeste begleiten. Der vierte und zuletzt genannte Vorzug überrascht aus dem Mund des Konfuzius, da yuàn 怨 Kummer, Klage, Ressentiment, Groll, ja Hass bedeuten kann – Emotionen, die dem Plädoyer für Mitte, Maß und Harmonie im Haushalt der Gefühle entgegenstehen. Konfuzius, der sich sein Leben lang als politischer Ratgeber nützlich zu machen versucht, weiß, wovon er redet: von Missständen in Politik und Staat, die es aufzuzeigen gilt, wenn der Edle nicht zum Werkzeug der Herrschaft verkommen will. Angemessen Kritik zum Ausdruck zu bringen, bedeutet umsichtig, schonend vorzugehen, um desto bereitwilliger Gehör zu finden, aber auch um die eigene Person, Leib und Leben, nicht zu gefährden. Lieder wie das folgende weiß Konfuzius als Klage der Menschen gegen schlechte Herrschaft einzuordnen und zu schätzen: Kriegsintendant, Der du des Königs Zahn und Kralle bist! Warum hast du der Not uns übergeben, Da keine Ruh, kein Bleiben ist? […] Kriegsintendant, Des Königs Ritter du, mit Krallen scharf! Warum hast du der Not uns übergeben, Da keiner ruhen und rasten darf?

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4. Gedichte als Bewegungskunst

Kriegsintendant, Du bist nicht klug fürwahr! Warum hast du der Not uns übergeben? Die Mütter opfern jetzt am Hausaltar. 97

Alle vier Vorzüge zusammen, d. h. bei aller Vorsicht mutig und berechtigt Kritik zu üben um der Gemeinschaft willen, machen die Wirkmächtigkeit ver»dichteter« Worte aus. So ist es partiell Konfuzius zu verdanken, dass ein Liederbuch Vorbild wird bei allen späteren nicht nur poetischen Texterzeugnissen – in einem Maße, das in der Weltliteratur seinesgleichen sucht. Nun sind die Gedichte der Gelehrtenkultur alles andere als »volksliedhaft«. Vor allem die Lyrik der Tangzeit (618–906) ist ausgefeilt nach allen Regeln der Kunst und philosophisch überhöht. Nicht Natur- oder Stimmungsschilderung liegt dem Dichter nur im Sinn. Im poetischen Text ist ein situativer Wirkzusammenhang zwischen Kosmos, Welt und Mensch evoziert, so dass, unabhängig von der Botschaft im engeren Sinn, die Sprache kosmisches Geschehen in Gang setzt – nicht anders als die Körperleibsprache der Bewegungskünste, die Bildsprache von Kalligraphie und Malerei, Haus- und Gartenkunst: Wie die Tuschespur in Schrift und Bild (siehe II.5) folgt der Rhythmus im Gedicht den Atembewegungen des qì 氣. Analogien und Asymmetrien in Graphik, Syntax, Semantik und Reim bringen Ordnung in die chaotische Fülle der realen Welt wie in die Welt der Worte. Parallelkonstruktionen benachbarter Verszeilen verbindet Resonanz oder Widerstreit! In der Abfolge bestimmter »Wortarten« wechseln Fülle und Leere. 98

Körperleiberfahrung mit chinesischen Gedichten Wer poetische Texte laut zu rezitieren pflegt, weiß um den Aufforderungscharakter, allein schon im rhythmischen Geschehen. Über Rhythmus und Reim hinaus wirken Gestalt- und Bewegungsverläufe, die Sprachbildern eigen sind, in besonderer Weise suggestiv. Dazu zwei Gedichtbeispiele in deutscher und chinesischer Sprache: Aufsteigt der Strahl und fallend gießt er voll der Marmorschale Rund, die sich verschleiernd überfließt

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in einer zweiten Schale Grund. Die zweite gibt, sie wird zu reich, der dritten wallend ihre Flut, und jede gibt und nimmt zugleich und strömt und ruht. 99

Im gleichförmigen Sich-Sammeln, Fließen und Überfließen vermittelt der »Römische Brunnen« Ruhe in der Bewegung und Bewegung in der Ruhe. Anders gewichtet sind Ruhe und Bewegung im nachfolgenden chinesischen Beispiel. Hier sind beide Aspekte jeweils ins Extrem getrieben – nicht zu überbietende Langsamkeit, Trägheit, ja Lähmung im Bild der Kleinen Wasserlinse 100 und Beunruhigung, Haltlosigkeit im Bild vom Blatt im Wind: Dieser Körper (shēn 身) hat kein Ich! Womit vergleich ich ihn? Mit der Kleinen Wasserlinse, [die treibt träge dahin]. Dieser Körper hat [Leiden und] Plag’ [wirbelt] wie [Weiden]blatt im Wind. Tod und Leben im Wechsel sind wie Nacht und Tag. 101

Die fünf poetischen Texte, die folgen, sind nicht nach üblichen Regeln der Gedichtinterpretation analysiert, noch weniger geht es darum, Dichtern und Dichterinnen Empfindungen, Phantasien, Gedanken zu unterstellen. Die Leser entscheiden selbst, inwieweit der Versuch verallgemeinerbar ist, Dichtkunst als Körperleiberleben nachzuweisen, d. h. den Text allein danach zu befragen, was er mit einem macht und warum! Voraussetzung ist, in das Gedicht einzutreten wie in einen Tempel, um offen zu sein für das, was der aus Sprachbildern aufgespannte Raum an Bewegungssuggestionen und leiblich »entzündenden« Tendenzen und Richtungen bereithält. Die ausgewählten Gedichte stammen von Männern und Frauen der Tangzeit (618–906). Einschlägig bekannt und vielfach interpretiert sind die beiden Männergedichte 102 im Gegensatz zu den Gedichten der Frauen. Zwei davon sind einer Sammlung buddhistischer Nonnenbiographien, das dritte mit weiteren »Strophen« ist den Frauengedichten entnommen, die in dem Buch Sehr nah und sehr fern sind sich Mann und Frau 103 kongenial übersetzt sind.

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Am Hirschgatter (lùchái 鹿柴) 104. Das Gedicht stammt von Wang Wei (? 700–?761), einem typischen und schon zu Lebzeiten herausragenden Vertreter der Gelehrtenkultur. Er dichtet, kalligraphiert, malt, spielt die Zither und nennt einen Garten sein eigen, in dem wir ihm weiter unten noch einmal begegnen (siehe II.7). Sein Dichtername Wei Mojie, chinesische Umschreibung von Vimalakirti, spielt auf sein Selbstverständnis als Laienanhänger des Buddhismus an. Viele Gedichte von Wang Wei, auch das folgende, sind der Erleuchtung gewidmet als Erfahrung der Verbundenheit mit den Wesen und Dingen der Welt. Die Leere, mit der das Gedicht beginnt, zielt auf die im Mahayana-Buddhismus behauptete Substanzlosigkeit, die sich aus der Vergänglichkeit und Bedingtheit der Phänomene folgerichtig ergibt. Sie entspricht der altchinesischen Leere in der Fülle der Phänomene: 空山不見人 Leere Berge, kein Mensch zu sehen. kōng-shān bú jiàn rén 但問人語響 Nur Menschenstimmen zu hören. dàn wèn rén-yǔ xiǎng 反景入深林 Der Abendsonne Widerschein dringt in fǎn jǐng rù shēn-lín den tiefen Wald, 復照青苔上 leuchtet abermals auf dem grünen fù zhào qīng-tái shàng Moos. Gespürte Erfahrung. Die menschenleere Welt der Berge fordert geradezu auf, sich in diesen Raum hinein zu weiten, zumal unter zwanzig Wörtern nur drei auf Gestalthaftes, Substanzielles verweisen: Berge, Wald, Moos. Neben der Leere respektive in der Leere wirkt die Stille, da nur gedämpft und nur von fern Stimmen zu hören sind – menschliche Laute, die in ihrer Vereinzelung Stille umso hörbarer machen. Synästhetisch wirkungsvoll sind die als Widerschein gebrochenen Lichteffekte, die ein Empfinden von Leichtigkeit bewirken – ähnlich der Kranichübung, die das Gefühl auslöst, gelassen über den Dingen zu stehen. Auch die Welt der Berge ist weit vom »roten Staub« 105 entfernt. Dem Licht – nichts anderes als qì in der Nähe des Pols feinster Zerstreuung – sind die zwei letzten der insgesamt vier Verszeilen gewidmet. Weder grelles Sonnenlicht vom Mittag noch direkte Morgen- oder Abendsonne ist hier gezeichnet, sondern der mehrfach reflektierte Abendsonnenstrahl, der »ein Gefühl der gegenseitigen Durchdringung aller Dinge erzeugt« 106. Das lyrische Ich bleibt ungenannt, was der 149

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wechselseitigen Durchdringung und Identifizierung mit der leeren Bergwelt im ersten Teil und dem diffusen Abendlicht im zweiten entgegenkommt. Alles ist eins – Berg, Licht, das ungenannte lyrische Ich. Darüber hinaus ist in der letzten Zeile, wie ein Kontra- und Haltepunkt, die moos-dunkle Farbe expliziert. Der Vokal »a«, der von allen Sprachlauten die größte Offenheit des Mundes verlangt, ist im Gedicht auffallend häufig vertreten, in allen Verszeilen mindestens einmal und ganz prominent im allerletzten Wort des Gedichts shàng. So mag im Vokal »a« – im Sinne einer leiblich fundierten synästhetischen Lautsymbolik 107 – die offene Weite der Bergwelt mitschwingen und nachhallen. In der menschenleeren Bergwelt überwiegen Stille und Weite, so dass der Widerstreit der Kräfte – im bipolaren leiblichen Geschehen von Engung und Weitung, Fülle und Leere, Stimmen und Stille – hier zugunsten des jeweils Letzteren entschieden ist. Davon geht in den beiden ersten Versen eine beruhigende Wirkung aus. In den beiden letzten Versen kommt durch das Hin und Her der Lichtstrahlen Bewegung auf, die sich zuletzt erneut sammelt im grünen Moos. So folgt Bewegung aus der Ruhe und Ruhe aus der Bewegung, yáng folgt auf yīn und umgekehrt. Der Ablauf des Gedichtes scheint dem »Sitzen in Stille« nachempfunden zu sein. Der Einstieg in meditative Aufmerksamkeit gelingt, indem man die Sinne verschließt, zunächst das Sehen im ersten Vers thematisiert, dann das Hören im zweiten Vers. Die Meditation selbst ist hier reine Lichterfahrung. Der Ausstieg aus der Meditation gelingt durch erneutes Verdichten, Fokussieren der differenzierten Welt der Dinge im grünen Moos. Die Farben des Wassers 水色 … Von der Nonne Haiyin 海印 ist nichts überliefert außer diesem wunderbaren Gedicht und der knappen Information, dass sie Ende der Tang-Dynastie, d. h. um die Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert, in einem buddhistischen Kloster in der südwestlichen Provinz Sichuan gelebt haben soll. 108 水色連天色 Die Farben des Wassers verfließen mit shuǐ sè lián tiān sè den Farben des Himmels 風聲益浪聲 Der Ton des Windes verstärkt der fēng-shēng yì làng-shēng Wellen Ton 旅人歸思苦 Der Wanderer: Heimweh – Bitternis lǚ-rén guī-sī kǔ der Gänsedistel 109 150

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魚叟夢魂驚 yú-sǒu mèng-hún jīng 舉棹雲先到 jǔ zhào yún xiān dào 移舟月遂行 yì zhōu yuè suí xíng 旋吟詩句罷 xuán-yín shī-jù bà 猶見遠山橫 yóu jiàn yuǎn-shān héng 110

Der alte Fischer: Sein Traum-Ich erschrickt. Hebt er die Ruder, sind die Wolken schon vor ihm da Bewegt er sein Boot, jagt der Mond hinterher. Die Verse zu Ende rezitiert verweilt der Blick bei den Bergen – fern und [doch] erdnah.

Gespürte Erfahrung. Das Gedicht setzt ein mit zwei komplexen Bildfeldern, die als ästhetisch beeindruckende Naturschauspiele die Sinne ansprechen – in der ersten Zeile das Sehen, in der zweiten das Hören. Resonanz liegt in der Parallelität der beiden Verszeilen vor, die der Parallelität der Farb- und Lautphänomene entspricht. So sind optische und akustische Eindrücke synästhetisch verschränkt: Die einzelsinnlichen Qualitäten von Sehen und Hören verschmelzen zu einer intermodalen Erlebensgestalt, in dem die Phänomene Wasser, Himmel, Wind und Wellen fast ununterscheidbar ineinander verschwimmen. In dieses verschwommene Bild brechen in den nächsten beiden Verszeilen abrupt zwei beunruhigende Personen ein, der von bitterem Heimweh bedrängte Wanderer und der aufgeschreckte Fischer. Sie sorgen dafür, dass die Wahrnehmung aus dem Eingetaucht-Sein in die umgebende Natur plötzlich herausgezogen und ganz auf die körperlich-leibliche Selbstwahrnehmung zurückgeworfen wird, aus Weite in die Enge. Hat schon die Geschmacksnote »bitter« eine zusammenziehende und damit engende Wirkung, so steigert sich Bedrängnis in der nächsten Zeile zu einer Betroffenheit, in der kaum Spielraum bleibt für Distanzierung. Auf den Wanderer folgt der alte Fischer, dessen »Traum-Ich erschrickt«. Im Schreck als plötzlichem Einbruch des Neuen (siehe I.7) meldet sich krass die Wirklichkeit. 111 Wolken, die ihn überholen, der Mond, der hinter ihm herjagt, treiben ihn in von beiden Seiten in die Enge. Erst in den letzten beiden Versen gelingt Aufatmen. Beide Gestalten sind mitsamt ihrer beklemmenden Situation von der Bildfläche des Verstextes verschwunden. In Erscheinung tritt ein menschliches Wesen, das lyrische Ich, präsent als Hören 112 und Sehen, d. h. als Sinnes151

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wahrnehmungen, die denen der ersten beiden Verszeilen analog sind, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge. Bedrängnis und Schreck, denen Wanderer und Fischer ausgesetzt sind, äußern sich in leiblicher Engung, die nur noch Weitung verlangt. Diesem dringenden Bedürfnis wird im letzten Vers Raum gegeben, im offenen Blick auf die fernen Berge. Wirken Berge schon beruhigend als Monumente einer im Vergleich zum menschlichen Leben kraftvolleren Beständigkeit, so sorgt auch die rhythmisch nachhallende Sutren-Rezitation für Beruhigung und Entspannung. Stärker noch als im ersten Gedicht überwiegt hier Atmosphärisches, sind doch unter den insgesamt vierzig Wörtern nur vier, die sich auf Substanzielles beziehen: der Wanderer, der Fischer, das Boot und die Berge. Wasser, Wind und Wolken wiederum sind fließende Phänomene zwischen den qì-Polen Verdichtung und Zerstreuung (siehe I.2). Die ersten beiden Verszeilen suggerieren Bewegung der Phänomene, die – bei aller Differenzierung von Himmel und Wasser, Wind und Wellen – chaotisch-mannigfaltig ineinanderfließen. Dieses Schauspiel der Natur fördert Erleben von Weite (Himmel und Wasser), aber auch Intensität: »Der Ton des Windes verstärkt der Wellen Ton«. Auf Weitung (yáng) folgt abrupt Engung (yīn), die mit den nächsten vier Zeilen überhandnimmt und als intensive Engung/Anspannung erfahren wird. Erst in der letzten Verszeile löst die Engung sich in Weitung auf, nachdem schon der vorletzte Vers Beruhigung vorbereitet im Verweis auf die Sutrenrezitation. Mit anderen Worten, Beruhigung im hörenden Verweilen verstärkt die Beruhigung, die sich einstellt im verweilenden Blick auf die Berge. Nimmt man den Mund als leiblichen Mikrokosmos ernst, ist auch hier die Verteilung der Vokale gefühlsatmosphärisch relevant. In den ersten beiden Zeilen überwiegt der neutrale »e«-Laut, der in der Skala der Töne in der Mitte angesiedelt ist – zwischen dem hohen grellen »i« und den tiefen dunklen Vokalen »o« und »u«. 113 In der dritten bis sechsten Zeile korrespondieren mit der leiblichen Engung als Folge von Bitternis und Erschrecken die wiederkehrenden spitzen »i«-Laute in jīng (Schreck) und yì (bewegen) und die ebenso engen »ü«-Laute in yú (Fischer). Auch das chinesische »u« in jǔ (heben), yún (Wolken) und yuè (Mond) wird »ü« ausgesprochen, also geschlossener, enger noch als »u«. In beiden Schlusszeilen im Blick in die Weite der Berge erscheint wiederum an prominenter Stelle im letzten Wort shān (Berge) ein offenes langgezogenes »a«. 152

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Das Gedicht Frühlingsmorgendämmerung (春曉 chūn–xiǎo) 114 von Meng Haoran (689–740) ist im kollektiven Gedächtnis bis heute ebenso prominent vertreten wie das erste Gedicht von Wang Wei (siehe oben) und wurde ebenso häufig nach allen Regeln der Kunst interpretiert. Auch hier steht ausschließlich sein phänomenologischer Mehrwert zur Diskussion. Die Spurenlese gilt der Leibverwandtschaft 115 zwischen Text und Rezipient. Das Gedicht lässt uns teilnehmen an der Erfahrung reiner Dauer im Dämmerzustand, die in den »Fluss der Zeit« hinein erwacht: 春眠不覺曉 Frühlingsschlaf – unmerklich Morgenchūn-mián bù jué xiǎo dämmern 處處聞啼鳥 Überall zwitschernd Vögel zu hören chùchù wén tí-niǎo 夜來風雨聲 Nacht – Sturm Regen Rauschen yè lái fēng-yǔ-shēng 花落知多少 Wer weiß, wie viel’ Blüten zu Boden huā luò zhī duō-shǎo gefallen! Gespürte Erfahrung. Thema ist die Zeit in ihrer Flüchtigkeit. Verschiedene Weisen menschlichen Zeiterlebens sind hier miteinander verquickt respektive nacheinander vorgeführt (siehe I.7). Die erste Verszeile deutet ein Befinden bewusst-losen Dahindämmerns an, die leibliche Wahrnehmung einer Zeitdauer als ungegliedertes Kontinuum. In der zweiten Zeile bricht mit ihrem »Daseinsmonopol« 116 unmittelbar die Gegenwart ein; das Kontinuum der Dauer reißt ab, sobald die zwitschernden Vögel die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn auch zunächst nur im Hören. Die dritte Zeile ist mit zunehmendem Bewusstheitsgrad der Vergangenheit zugewandt, und zwar der Gegenwart der Vergangenheit, im erinnerten Hören der nächtlichen Geräusche von Wind und Regen. Die letzte Zeile bewirkt mit Gedanken in die Zukunft den Sprung ins hellwache Bewusstsein. Die sehende Vorwegnahme vor dem inneren Auge der Vielzahl vom Sturm geknickten Blüten sorgt dafür, dass Vergänglichkeit aller Schönheit und allen Glücks schlagartig ins Bewusstsein tritt. Auch hier ist das lyrische Ich nicht expliziert. Sein Schlaf ist identisch mit dem Schlaf des Frühlings, der im Morgenzwitschern der Vögel gerade erwacht. Im vorüberziehenden Bilderreigen (Vögel, Sturm, Regen, Blüten) schildert das Gedicht den Übergang von der reinen Dauer in das Jetzt 153

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(Gegenwart), Vorher (Vergangenheit) und Nachher (Zukunft). Philosophisch/phänomenologisch gesagt, schildert es den Vorgang personaler Emanzipation aus einem Zustand primitiver Gegenwart, in dem die Aspekte eines bewussten Personseins: Ich, Hier, Jetzt, Dasein und Sosein zunächst noch miteinander verschmolzen sind. 117 »Substanziellere« Gestalten weist das Gedicht nur vermittelt aus, die Vögel im Hören, Blüten vor dem inneren Auge – so wenig substanziell, dass Leichtigkeit (Vögel) und Zartheit (Blüten) als Eindruck überwiegen. Der Rest ist Atmosphäre – Wind und Regen und auch nur in der Erinnerung. Dem schwebenden Zwischenzustand entsprechen in den beiden ersten Zeilen die wiederkehrenden schläfrig-dunkel-tief-geschlossenen Vokale »u« und »o«. Mit zunehmendem Erwachen öffnen sich auch die Laute über das mittlere »e« zum offenen »a«, das in der letzten Zeile in huā figuriert, aber auch in luò und duō, denn das chinesische »o« spricht sich an dieser Stelle nicht rund und geschlossen, sondern tendenziell »oa«. Im allerletzten Wortklang shǎo allerdings will sich das offene »a« noch einmal zum »o« verschließen, als zögere das erwachte Ich, sich der antizipierten Realität ganz auszuliefern. Die aus dem horizontalen Schwebezustand resultierende Leichtigkeit hat einen Beigeschmack, den Nebensinn der Beiläufigkeit aller Wesen und Dinge der Welt, für leicht, allzu leicht befunden. So führt das Erwachen nicht nur zur bangen Frage »wie viele?!« (duō-shǎo 多少), sondern in die bewusst reflektierte Wehmut über die Vergänglichkeit. Das Gedicht ist im Grunde unübersetzbar, da in der deutschen Sprache ein Zwang zum Subjekt respektive Personalpronomen herrscht. Im chinesischen Gedicht tritt ein »Ich« erst allmählich über die Zeilen hinweg in Erscheinung und auch dann nicht explizit. Zwei Bewegungsabfolgen und -intensitäten greifen hier ineinander, erstens, die sich steigernde Bewegung der Natur – vom Zwitschern der Vögel zum Sturm der Nacht, dem die Blüten zum Opfer fallen; zweitens, die sich zum Wachzustand steigernde Selbstwahrnehmung. Ausgehend von der reinen Dauer primitiver Gegenwart führt diese zweite menschliche Bewegung über das Erinnern an die vergangene Nacht ins hellwache Bewusstsein hinein. Jetzt erst ist das lyrische Ich voll präsent und weiß vom Fluss der Zeit aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft (siehe I.7). Wenn leibliche Ökonomie im Wachzustand die Mitte hält zwischen Enge- und Weite-Tendenzen, so geht 154

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beim Einschlafen die Mitte zugunsten extremer Weitung verloren. Umgekehrt bedeutet Aufwachen erneutes Einpendeln um die Mitte zwischen Enge und Weite. Im Gedicht von Meng Haoran ist der Übergang aus der extremen Weite insofern verlangsamt, als sich im Bewusstwerden der Vergänglichkeit eine engende Regung bemerkbar macht (siehe oben). Im Turm die verlöschende Lampe. Guan Panpan 關盼盼 118 zog sich kaum zwanzigjährig nach dem Tod ihres Patrons als »keusche Witwe« für zehn Jahre in den »Schwalbenturm« zurück, da Freunde des Verstorbenen ihr vorwerfen, den Patron nicht ins Jenseits begleitet zu haben. Panpan »schrieb ein Abschiedsgedicht und hungerte sich zu Tode« 119: 樓上殘燈伴曉霜 Im Turm die verlöschende Lampe belòu-shàng cán-dēng bàngleitet den Frost der Dämmerung. xiǎo-shuāng 獨眠人起合觀床 Einsamer Schlaf, während die andern dú-mián rén qǐ hé zusammen das Bett genießen. guān-chuáng 想思一夜情多少 Eine ganze Nacht der Sehnsucht mit xiǎng-sī yì-yè qíng wie vielen Gefühlen verstrich! duō-shǎo 地角天涯不是長 Dagegen ist der Horizont der Welt dì-jiǎo tiān-yá bù shì cháng nicht wirklich lang. Gespürte Erfahrung. In diesem ersten Schwalbenturmgedicht der Guan Panpan überwiegt leibliche Engung, die sich gleich in der ersten Zeile im Bild der »verlöschenden« Lampe am »frostigen« Morgen bemerkbar macht. In der Nacht ist nicht nur alles zur Ruhe gekommen, sondern geradezu erstarrt, umso beunruhigender die Einsamkeit, die desto intensiver erfahren wird, da andere ihre Zweisamkeit genießen dürfen. Aus der extremen leiblichen Engung führen nur die nächtlich verströmten Gefühle in Weite – »weiter als der Horizont der Welt lang ist«. Gedanken und Empfindungen schweifen sehnsuchtsvoll in die Vergangenheit, der das Glück der Zweisamkeit noch beschieden war. Extreme leibliche Engung kommt auch in zwei anderen Schwalbenturmgedichten der Guan Panpan zum Ausdruck, die hier ergänzend nur in der Übersetzung zitiert sind: Pinien und Zedern am Nordmangberg

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eingeschlossen vom Nebel des Grams Gedanken im Schwalbentum ebenso traurig und matt. Die Tanzschuhe begraben, zerstoben die Lieder wie Staub. Der Duft der roten Ärmel verflüchtigt seit einem Jahrzehnt. Wildgänse seh’ ich zurück von den südlichen Bergen, Schwalben in dichten Scharen. Jaspiszither und Jadeflöte aber verstummten von selbst, bedeckt von Spinnennetzen, bedeckt von Staub. 120

Gespürte Erfahrung. Gram ist wie Angst und Trauer eine niederdrückende und engende Befindlichkeit, die im einschließenden undurchdringlichen Nebel bildlich erfasst ist. In der Resonanzphilosophie ist die Gefühlsregung Angst dem Norden zugeordnet (s. Tabelle 2), der hier im Namen des Nordmang-Berges aufscheint. Das Entkommen in Weite ist in diesem Gedicht verwehrt: Längst sind die Tanzschuhe begraben, Lieder und Düfte auf und davon. Die Farbe Rot: Farbe der Fülle des Sommers, des Südens, des Lebens – in einem Atemzug mit dem sich verflüchtigten Duft genannt – ist nach zehnjähriger Trauer ebenso verflüchtigt, »verschossen« und verblasst. Das dritte Gedicht der Guan Panpan aus ihrem einsamen Turm setzt ein mit der Rückkehr der Wildgänse und Schwalben aus dem Süden, die vom Frühling künden, der alles belebt. Doch auch dieser konventionellen Frühlingsansicht folgen unmittelbar Bilder laut- und farbloser Erstarrung, mit denen das Gedicht endet: »Jaspiszither und Jadeflöte verstummten von selbst/bedeckt von Spinnennetzen, bedeckt von Staub.« Ist im ersten Gedicht nächtliche Ruhe mit Engung gepaart, der vorübergehend in der Erinnerung zu entkommen ist, so versagen die beiden anderen Gedichte diesen Ausweg: Im letzten Gedicht steht lautund farblose Erstarrung im Widerstreit zum Frühlingsgeschehen in der erwachenden Natur. Pflaumenblüten (Méihuā 梅花). Ein letztes Gedicht schließt die phänomenologische Betrachtung von Gedichten als Bewegungskunst ab. Wie 156

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das der Haiyin ist das Gedicht der Pflaumenblüten-Nonne (Méihuāní 梅花尼) den kärglichen Biographien buddhistischer Nonnen 121 entnommen. Da die »Biographie« der Pflaumenblütennonne auf dieses einzige Gedicht beschränkt ist, entlarvt sich die Zuschreibung als Fiktion. Hier interessiert ohnehin nur die bewegungssuggestive Wirkkaft des Textes selbst. In der Tradition chán-buddhistischer Selbstwahrnehmung 122 drücken die vier Verszeilen in ihrer prägnanten Kürze eine schelmische Freude am Phänomen der Obstblüte aus – im Frühling alltäglich erfahrbar – verquickt mit einem Schuss Selbstironie: 盡日尋春不見春 Den ganzen Tag such’ ich nach dem jìn rì xún chūn bú jiàn chūn Frühling und find ihn nicht. 芒鞋踏遍嶺頭雲 In Strohsandalen wandernd von máng-xié tà biàn lǐng-tóu-yún einer Berggipfelwolke zur andern. 歸來笑撚梅花嗅 Wieder daheim pflück’ ich den Duft gūilái xiào niǎn méi-hua-xiù der Pflaumenblüte und habe gelacht: 春在枝頭已十分 Hier ist der Frühling auf diesem chūn zài zhī-tóu yǐ shí-fēn Zweig und in seiner vollen Pracht. Gespürte Erfahrung. Zwei Bewegungssuggestionen, Unruhe und Weitung, hält dieser Vierzeiler bereit, genauer gesagt, Unruhe, die nach Weitung verlangt. Dabei kommt eine vertikale Richtung ins Spiel, denn Weite wird auch in der Höhe gesucht. Leibliche Weitung ist immer Bewegung aus der Enge des Leibes. Nimmt Weitung überhand, verliert man sich. So irrt die Pflaumenblüten-Nonne suchend den ganzen Tag in der unermesslichen BergWolkenlandschaft umher – vergeblich, denn dort ist der Frühling nicht. Erst im Klostergarten, in der Mitte zwischen der Weite der Berg-Wolkenlandschaft und der Enge der Klosterzelle, manifestiert sich das Gesuchte. Diese Mitte ist mehr als ein Ort, sie ist ein Zustand humorvoller Glückseligkeit: »Wieder daheim pflückt’ ich den Duft der Pflaumenblüte und habe gelacht: Hier war der Frühling auf diesem Zweig und in seiner vollen Pracht!« Selbst vordergründig interpretiert, ist dieses klassische Kurzgedicht sehr liebenswert. Sollte die Verfasserin, wie es das kulturelle Gedächtnis will, buddhistische Nonne gewesen sein, so lässt sich auch diesem Text eines unprätentiösen Frühlingsliedes eine latente Botschaft abgewinnen. Der Pflaumenbaum, der in China mit Kiefer und Bambus zu den drei Freunden der kalten Jahreszeit zählt, beginnt als erste Pflan157

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ze im Jahr zu blühen. Der duftende Pflaumenblütenzweig also, der schon aufgeblüht ist, bevor die Suche beginnt, verweist in poetischer Identifizierung auf den Schatz der in jedem Selbst immer schon vorhandenen Buddha-Natur. Dieser Schatz findet sich nicht draußen, »da sucht es der Tor« 123. »Draußen« geht er nur verloren, wie die dunkle Perle des Huangdi, der »Selbstvergessen« ausschicken muss (siehe I.2), um sie wiederzufinden. Auch Mengzi verortet das rechte Suchen im Innen: »Das Suchen nützt zum Finden, wenn man bei sich selber (wǒ 我) sucht. […] Das Suchen nützt nicht zum Finden, wenn man draußen (wài 外) sucht.« 124 Nur im meditativen Zustand der eigenen Mitte ist dieser Schatz zugänglich – so lautet die Botschaft des Zhuangzi und jeder Meditationsphilosophie, um das Wort »Mystik« zu vermeiden: »Wo, o wo ist der Ort – ich trag ihn im Herzen« 125.

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5. Qìgōng mit dem Pinsel

Seit dem dritten Jahrhundert n. Chr. macht sich die frühkaiserzeitliche Bildungselite eine Ästhetik zu eigen, die ich »Qìgōng mit dem Pinsel« 126 nenne, um Kalligraphie und Tuschemalerei nachdrücklich als Kunst von Körper und Leib auszuweisen. Nach grundlegenden Anmerkungen zur Geschichte folgen Körper- und Leibkonzepte, die beiden Pinselkünsten gemeinsam sind. Als Praxiseinheiten sind Schriftproben der verschiedenen kalligraphischen Stile vorgesehen und für die Tuschemalerei nicht zuletzt ein Berg-Wasser-Bild.

Historisches zur Pinselkunst In vorchristlicher Zeit zählt die Schriftkunst – neben Mathematik, Musik und Riten, Bogenschießen und Wagenlenken – zu den »Sechs Künsten« (liù-yì 六藝) des altchinesischen Adels, nicht so die Tuschemalerei. Erst die philosophische Durchdringung durch die Gelehrtenkultur im dritten Jahrhundert n. Chr. verschafft auch der Malerei ihren Platz »in der allgemeinen Ordnung der Welt« 127. Beide Künste setzen dann schon raffinierte Pinsel-, Tusche- und Papiertechnik voraus, wenn auch ein flüssiger Farbstoff auf der Grundlage von Ruß sowie ein Schreibgerät »mit bürstigem Ende« bereits ein Jahrtausend vor Erfindung des Papiers 128 in Gebrauch sind. Unmittelbare Vorläufer von Papier sind Seidenstoffe und Holztäfelchen, vornehmlich aus Bambus. Analogie von Kalligraphie und Tuschemalerei ist also schon pinsel-, papier- und tuschetechnisch bedingt. Ganz selbstverständlich gesellt sich die Dichtkunst hinzu. Briefe und Gedichte – in anspruchsvoller Schrift verfasst – zirkulieren auch privat unter den Beamtengelehrten. 129 Was sie austauschen, sind Miniatur-Kunstwerke, die zu lesen, zu rezitieren und meditativ zu betrachten sind. Wang Wei (ca. 700–761) (siehe II.4/II.7), Dichter, Kalligraph, Maler und Musiker in 159

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einer Person, denkt synästhetisch, wenn er die Bildaufschrift erfindet, die sogenannte Bilddichtung, indem er die entrollbaren Landschaftsgemälde, passend zum Bildmotiv, mit Gedichten versieht. Su Shi (1036–1101) wird diese Erfindung später rühmen als »Poesie in der Malerei und Malerei in der Poesie«. 130 Nicht genug der Verknüpfung von Schrift- und Malkunst, Schriftund Dichtkunst! Auch Dichtung und Malerei sind ihrerseits in beider Bezug zur Landschaft shān-shuǐ 山水 (Berge-und-Wasser) einander verwandt. Den Vorbildcharakter des Shijing (Buch der Lieder) (siehe II.4) vorausgesetzt, ist es nur eine Frage der Zeit, dass sich neben der Berg-Wasser-Dichtung (shān-shuǐ-shī 山水詩) auch die Berg-WasserMalerei (shān-shuǐ-huà 山水畫) als gelehrte Kunst etabliert. Spätestens seit dem vierten Jahrhundert machen sich Dichter und Pinselkünstler daran, über beide ästhetischen Praktiken systematisch nachzudenken, wobei das Theorieangebot der Literatur einer kritischen Grundlegung der Malerei vorausgeht. Die gelehrten Künstler greifen auf Denk- und Erfahrungsfiguren der altchinesischen Philosophie zurück, so dass in allen drei Kunstgattungen die ästhetischen Kategorien einander analog und wie die Philosophie selbst (siehe Erster Teil) körperleibfundiert sind. Aus ihrem bipolar und pentagonisch geprägten Welt- und Selbsterleben heraus (siehe I.1) gestalten Gelehrte – als Schriftkünstler, Dichter und Maler – Augenblicksstimmungen in Wortzeichen und Bildern. Am Austausch mit der Welt partizipieren auch Kunstbetrachter. Im Verzicht auf abstandnehmende Beobachtung und eingebunden mit dem Kunstwerk in eine gemeinsame Situation ist alles Mögliche Aufforderung zu körperleiblichem Mitvollzug: Formverläufe der Bildmotive, der Sprach- respektive Zeichengestalten, der rhythmische Wechsel von Tusche-Fülle und Tusche-Leere auf dem Papier und nicht zuletzt feine Farbschattierungen zwischen Schwarz und Weiß.

Körper und Leib in der Pinselkunst Körperbegriffe. Bei allem Vorrang leiblich gespürter Anmutungen, ist auch der tast- und sichtbare Körper in der Pinselkunst präsent. Das Haarbüschel am unteren Ende des Pinsels, in sich dreifach differenziert, gliedert sich in einen inneren, mittleren und äußeren Teil, die als Herz (xīn 心), Bauch (fù 腹) und Rücken (bèi 背) bezeichnet werden. Senkt 160

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5. Qìgōng mit dem Pinsel

sich der Pinsel, öffnet sich unter dem Druck das Herz und entlässt Blut (xuè 血) respektive Tuscheflüssigkeit auf das Papier. Beim Heben des Pinsels schließt sich die Haarspitze wieder, das restliche Blut zieht sich in Herz, Bauch und Rücken zurück. Pinselstriche, ebenfalls in Begriffen des menschlichen Körpers erfasst, sind Adern (mài 脈), in denen Blut bzw. Tusche fließt. Anfang und Ende der Pinselstriche bilden Muskeln oder Sehnen (jīn 筋). Ein Übermaß an Tusche in der Pinselspitze bringt massige, stumpfe, schwerfällige, kurz fleischige (ròu 肉) Striche auf das Papier; umgekehrt sorgt ein trockener Pinsel dafür, dass »die Knochen (gǔ 骨) hervorlugen« 131. Auf der Grundlage der Kategorien von »Fleischig« (ròu 肉) und »Knochig« (gǔ 骨) reiht Xu Hao, Kalligraph der Tangzeit (618–906), illustre Vorgänger seiner Zunft zu folgender Rangordnung, wobei ihm als Ideal Wang Xizhi (321–379) vorschwebt, ein »Phönix der Kalligraphie«: Die Leute sagen, Yu habe sehnige, Chu fleischige und Ou knochige [Zeichengestalten]. Das stimmt. Adler haben keinen [bunten] Federschmuck, und doch tragen ihre Schwingen sie hoch hinauf […], weil ihre Knochen stark sind und ihre Lebenskräfte (shén 神) wild. Ein [noch so] prachtvoller Fasan hingegen flattert [nur] hundert Schritt weit, denn sein Fleisch ist fett, und [geringe Knochen]-Kraft lässt ihn [rasch] niedersinken. [Nur wessen Handschrift] sowohl brillant als auch hochfliegend ist, wird ein Phönix der Kalligraphie [wie Wang Xizhi]. Ou und Yu sind höchstens Adler, und Chu und Hsieh bloß Fasane. 132

Vorrang der Lebens- und Geisteskraft. Neben den Kategorien »Knochig und Fleischig« wird in diesem Zitat ein weiteres Gegensatzpaar eingeführt, das sich in allen Traktaten zur Pinselkunst, aber auch zur Dichtung als Gütemaßstab behauptet. Xu Hao greift auf Tiereindrücke zurück, um den individuellen Stil des kalligraphischen Künstlers atmosphärisch zu charakterisieren, vom schwerfälligen Fasan über den hochfliegenden Adler aufsteigend zum Phönix, der beides auf sich vereint: äußere Pracht und innere Kraft. Nicht von Ungefähr ist der Phönix eines der Vier Wirkkräftigen Tiere, dem auch im Fēngshuǐ als Sommerund Sonnentier besondere Bedeutung zukommt (siehe II.7 sowie Tabelle 2). Herausragende Kalligraphien, Bilder und Gedichte bedürfen beider Aspekte, wobei der geistigen Kraft, dem Gehalt (zhì 質) Vorrang eingeräumt wird vor vollendeter Form (wén 文). Xu Haos Tiere entsprechen in der Sprache der Experten folgende 161

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vier Qualitätskategorien: shén 神 »göttlich«, das auch in der ersten Handwerksgeschichte als höchste Auszeichnung figuriert, 133 miào 妙 »wunderbar«, 氣 »qì-haft«, was so viel bedeutet wie »kraftvoll« und »lebendig«, zuletzt qiǎo 巧 »geschickt« oder auch néng 能 »gekonnt«. Die unterste Qualitätsstufe trifft sich dann mit der »reinen Körperkraft« lì 力, die im spätkaiserzeitlichen Tàijíquán dem meisterhaften Einsatz von jìn (勁) oder shén 神, der Energie- und Geisteskraft, gegenübersteht (siehe II.3). Wirkkräftige Tuschegestalten evozieren beim aufmerksamen Betrachter eine »vorwiegend emotionale Resonanz (yùn 韻), die ihn fast instinktiv zu einem qualifizierenden Urteil führt« 134. Kosmologische Aspekte. Schon der Pinsel zielt mit seinen yáng- und yīn-Anteilen auf kosmische Einbettung. Feste Konsistenz und die Position oben sind yáng-Eigenschaften, so dass der Pinselstiel dem yáng zugeordnet ist, während die weichen Pinselhaare am unteren Ende dem yīn angehören. Darüber hinaus wird mit jedem kalligraphischen Strich ein jahreszeitliches qì-Geschehen inszeniert. Der Einsatz des Pinsels ist dem Frühling, das Ausziehen dem Sommer, das Ende dem Herbst und die Leere zwischen den Strichen dem Winter zugeordnet. Resonanz. Kalligraph und Tuschemaler baden geradezu in einem Meer von Resonanzen. Wenn Pinsel, Tusche, Papier und Reibstein als die »Vier Kostbarkeiten des Studierzimmers« (wén-fàng sì-bǎo 文房四寶) gehegt und gepflegt werden, so liegt hier Resonanz mit erlesenen und auf die eigene Persönlichkeit abgestimmten Schreibutensilien vor. Auch die Tusche ist resonanzkräftig aufgeladen und Elixier der Lebenspflege: Die Tusche war […] in früheren Jahrhunderten aus Kiefernruß hergestellt. Die Kiefer aber ist eines der Symbole für langes Leben. Die Essenz ihrer Lebenskraft galt als besonders wirksam, je gewundener der Baum war – und gerade alte Bäume sind das oft – und einen je längeren und verschlungeneren Weg die lebensspendenden Säfte der Natur durch Stamm und Zweige nehmen mussten. Der Ruß seinerseits war das feinste Destillat aus der Kiefer. 135

Im Schreibvorgang selbst ereignet sich Resonanz zwischen »Herz und Hand, die einander Echo sind« (xīn-shǒu xiāng-yīng 心手相應). Wie in der Kampfkunst zählt die Hand in ihrer technischen Versiertheit, das Herz aber sorgt für Ausdruck und Lebendigkeit (shén 神). Resonanz mit der Natur als übergreifender Situation ist in kalligraphischen Maximen allgegenwärtig (siehe unten), erst recht in der Berg-Wasser-Malerei. 162

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Mitte zwischen den Extremen. Resonanz fördernde Umgebung ist räumlicher und zeitlicher Natur. Hier kommt die Mitte als gemäßigte atmosphärische Witterung ins Spiel. Extreme Wetterverhältnisse wie »trockener Wind« oder »flammend heiße Sonnenglut« sind ablenkend und damit künstlerischem Schaffen nicht zuträglich. Der Tuschekünstler braucht ausgewogene Wetter- und Temperaturbedingungen als Voraussetzung für »ungezwungene Aufmerksamkeit« und »zufriedenen Geist«, um schöpferisch sein. Dann geraten auch Werke, welche die Mitte halten zwischen Brillanz und Vulgarität, zwischen Individualität und Konvention. Wie weit ein Kalligraph sehr wohl davon abweichen kann, bezeugt Zhang Xu (658–748), Erfinder der »verrückten Grasschrift«. Unbekümmert um Konvention bringt er extreme Empfindungen aufs Papier, nicht zuletzt im ungetrübten Genuss von Alkohol: »Freude, Zorn, Verwirrung, Entmutigung, Trauer, Zufriedenheit, Bedauern, Wünschen, Träumen, Trunkenheit, Müdigkeit, Empörung […]« 136. Dass seine Kunstwerke schon zu Lebzeiten hochgeschätzt sind, weist auf die Kluft zwischen dem Ideal von Maß und Mitte und Wirklichkeit. Wo immer in kalligraphischen Regeln und Maximen leichte Abweichung von der Mitte empfohlen ist, steht Kursiv- oder Grasschrift zur Debatte. Dann geht es um Bewegung auf Kosten von Ruhe, um Leere auf Kosten der Fülle; dann treten epikritische und Weitetendenzen auf Kosten von protopathischen und Engetendenzen in den Vordergrund. Sowohl-als-auch. Mitte äußert sich als »sowohl-als-auch«: sowohl kraftvoll (qì) als auch elegant, sowohl rund (yuán 圓) als auch eckig (fāng 方), sowohl weich als auch »männlich resolut« und bei der Pinseldrehung: sowohl verborgen (càng 藏) als auch offen (lù 露) und nicht zuletzt im Sowohl-Körper-als-auch-Leib (siehe I.3). Fülle und Leere. Der von Xu Hao im zitierten Text genannte Gegensatz zwischen »fleischigen« und »knochigen« Pinselstrichen ist nichts anderes als eine Variante von Fülle und Leere an Tusche und damit eine Variante von Intensität. Abgestufte Intensität gelingt durch Druckunterschiede bei der Pinselsetzung: schwer/voll vs. leicht/leer. Ruhe und Bewegung. Im Verlauf der Frühen Kaiserzeit verdichtet sich eine Reihe von Metaphern zu festen kalligraphischen Maximen, 137 die 163

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vor allem die Varianten der Schnellschrift kennzeichnen, die Kursivund Grasschrift. Hier ist Bewegung auf eine Weise intensiviert, dass Zeichengestalten daherkommen wie »Wirbelwind«, als ob »Quellwasser fliegt«, oder »ein Läufer davoneilt«. Kommt zur Bewegtheit Leichtigkeit hinzu, dann »tanzen« die Zeichen »wie Brombeerflaum«. Am Ausdruck von Bewegtheit sind Strichrichtungen maßgeblich beteiligt. »Mit Nachdruck fallend oder steigend« lautet eine Maxime. Mehr noch sorgt Richtungswechsel für Bewegung, wenn es heißt: »aufgestörter Sand fliegt jählings dahin«, »Vögel, die vom Hain auffliegen«, »Schlangen, die aufgeschreckt ins Gras flüchten«, ein Wellenstrich »dreimal gebrochen«. Richtungswechsel gepaart mit Intensität beschreiben die Maximen: »als ob ein Felsblock von einer hohen Klippe fiele« und »plötzlich einhaltend, kräftig wendend«. Der Ausdruck »wie eine Schlachtreihe von Wolken« oder »als ob eine Hundert-PfünderArmbrust losginge« zielt auf Rhythmus und Intensität. Epikritische und protopathische Tendenz. 138 Schüler der Pinselkunst lernen von Anfang an zwei Pinseltechniken zu unterscheiden, den vertikal gerichteten »zentrierten Pinsel« und »das geneigte Rohr«, d. h. den schräg angesetzten Pinsel. Der zentrierte Pinsel bringt weich abgerundete Striche (yuán 圓) aufs Papier mit protopathischer Tendenz. Umgekehrt erzielen »eckige« Gestaltverläufe (fāng 方), bedingt durch das »schräge Rohr«, epikritische, d. h. scharfe und spitze Umrisse setzende Wirkung. In epikritische Richtung weisen Pinselstriche, die »gekrümmt und gebogen sind wie stählerne Haken« oder aussehen, als ob eine »Ahle Linien zieht im Sand«. Auch die Kategorien »Fleischig« und »Knochig« rufen protopathische respektive epikritische Tendenzen hervor. Meditative Aufmerksamkeit. Wer Kalligraphen und Tuschemaler beim künstlerischen Tun erlebt, wird Zeuge eines meditativen Innehaltens, bevor es zum ersten Pinselzug kommt. Das ist Ruhe vor der Bewegung. Auch hier geht es darum, wie bei Übungen der Lebenspflege (養生 yǎng-shēng), der Kampfkunst und des Tàijíquán (siehe II.1–II.3), »tausend Gedanken durch einen zu ersetzen« (siehe II.1). Dieser eine Gedanke dient der geistigen und emotionalen Einstimmung, wobei »die Vorstellung (yì 意) dem Pinsel (bǐ 筆) vorauszugehen hat« (yì zài bǐ xiān 意在筆先). Hinzu kommt, dass das Tuschekunstwerk mit einem »Wurf«, einer einzigen Lebensbewegung gelingt oder eben nicht, denn Korrigieren oder Übermalen ist nicht vorgesehen: 164

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Die Formulierung einer Konzeption in nahezu meditativem Prozess und ihre fertige Ausarbeitung im Geiste, ehe man sie im Kunstwerk Gestalt annehmen lässt, ist einer der charakteristischen Faktoren chinesischen künstlerischen Schaffens, wodurch sich dieses klar vom Ringen um Gestaltung während der Arbeit beim abendländischen Künstler unterscheidet. 139

Kalligraphische Stile und Stimmungen Vor Entstehen der Gelehrtenkultur sind mehrere Schriften im Umlauf, schon bedingt durch die Eigenart von Schreibwerkzeug und Schreibstoff, aber auch abhängig von der jeweiligen Funktion der Schrift. Zeichen, die mit dem Meißel auf Ton, Knochen, Stein, Wachs (für Bronzeguss) eingeritzt sind, unterscheiden sich von Zeichen, die mit Pinsel auf Seide, Bambus und Papier gemalt sind. Der Versuch, den Charakter auch der älteren Schreibweisen mit Pinsel auf Papier nachzuahmen, führt im dritten Jahrhundert zur Herausbildung der verschiedenen kalligraphischen Stilarten. Was die Gelehrtenkultur darüber hinaus hinzufügt, ist Systematisierung respektive Standardisierung, so dass sich bestimmte kalligraphische Stile als verbindlich für Mit- und Nachwelt etablieren: Große und Kleine Siegelschrift (zhuàn-shū 篆書), Kanzleischrift (lì–shū 隸書), Normalschrift (kǎi-shū 楷書), Kursivschrift (xíng-shū 行書) und Grasschrift (cǎo-shū 草書). In Diagramm 4 sind die genannten kalligraphischen Stilarten nach dem Kriterium von Ruhe in der Bewegung und Bewegung in der Ruhe aufgeführt. Die Anordnung von oben nach unten entspricht zugleich der Reihenfolge ihrer historischen Entwicklung im Falle der ersten vier genannten Stile, während die beiden letzten als spezifische Errungenschaft der Gelehrtenkultur zeitgleich mit der Normalschrift entstehen. Diagramm 4: Ruhe und Bewegung in den Schriftstilen 140 Ruhe Große Siegelschrift Kleine Siegelschrift Kanzleischrift Normalschrift Kursivschrift Grasschrift Bewegung

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Abb. 13: Große Siegelschrift Die große Siegelschrift (siehe Abb. 13 141) bleibt den ursprünglichen archaischen Piktogrammen treu. Sie bewahrt sich, auch mit Pinsel auf Papier geschrieben, die Schwergängigkeit der alten Schreibwerkzeuge und -unterlagen. Die Zeichen wirken ruhig, geradezu statisch, auch die symmetrische Anordnung lässt kaum Bewegung zu. Die für die Siegelschrift eingesetzte zentrierte Pinseltechnik kommt den weichen runden Zeichen mit protopathischer Tendenz entgegen. Von den Zeichen der Großen Siegelschrift geht in ihrer statischen Vereinzelung eine Würde aus, die dem religiös-zeremoniellen Umfeld der Orakelinschriften und Bronzegefäße zu Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr. entspricht. Bis heute ist die Große Siegelschrift prädestiniert für Prestigeobjekte, wie das persönliche Siegel mit dem persönlichen Namen. Kleine Siegelschrift (siehe Abb. 14 142). Nach der Reichseinigung im dritten vorchristlichen Jahrhundert setzt sich die Kleine Siegelschrift als offizielle Schrift durch. Sie hält an den gerundeten und für sich allein stehenden Piktogrammen fest. Im Verhältnis zur Großen Siegelschrift sind die Zeichen auffallend in die Länge gezogen, wie Giacometti-Figuren im Vergleich zu Plastiken von Barlach, wie gotische Kathedralen im Vergleich zu romanischen Kirchen, wie der Kranich im Vergleich zum Bär.

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Abb. 14: Kleine Siegelschrift Kanzleischrift (siehe Abb. 15 143). Mit der Konsolidierung des bürokratisch verwalteten Kaiserreiches entwickelt sich aus den Piktogrammen die Kanzleischrift für den offiziellen Schriftverkehr. Die Schrift hat sich vom ursprünglichen Bildcharakter entfernt, ist stark vereinfacht und systematisiert. Trotz unterschiedlicher Schreibunterlagen – Seide, Bambus und nach wie vor Stein – präsentiert die Kanzleischrift einen einheitlichen Duktus. Sie wirkt gesetzter und bodenständiger als die vertikal betonte elegante Kleine Siegelschrift. Charakteristisch ist der horizontale wellenförmig ausgezogene und zugleich abgeschrägte Schlußstrich, der kraftvollen Schwung verrät bei aller Stand- und Handfestigkeit. Aus der Kanzleischrift entwickeln sich die Normalschrift als amtliche und alltägliche Gebrauchsschrift, die Kursivschrift und Grasschrift für künstlerisch gestaltete Texte. 167

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Abb. 15: Kanzleischrift Normalschrift (siehe Abb. 16 144). Mit der Kanzleischrift teilt die Normalschrift Klarheit und Regelmäßigkeit der Schriftzüge. Auch die Normalschrift verwendet das »geneigte Rohr«, das für Anmut und Lebendigkeit sorgt im Unterschied zur gesammelten Kraft der zentrierten Pinselspitze (siehe oben). Wie die Kanzleischrift hält die Normalschrift die Mitte zwischen Ruhe und Bewegung: Wenn man innerlich still geworden ist und einige Dutzend oder Hundert Zeichen in Normalschrift geschrieben hat, spürt man den inneren Frieden und fühlt sich als Meister seiner selbst. 145

Kursivschrift (siehe Abb. 17 146). Nach Charakterisierung der Normalschrift aus der Eigenperspektive des Kalligraphen kommt Zhou Xinglian (19. Jh.) auf Kursiv- und Grasschrift zu sprechen: Wenn man Kursivschrift oder Grasschrift praktiziert und sich dabei ganz der Bewegung überlässt bis zur [Selbstvergessenheit und] Trunkenheit, dann spürt man, wie die eigene Energie überschäumt. 147

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Abb. 16: Normalschrift Beide Stilarten, Kursiv- und Grasschrift, spielen im Selbstverständnis der Literatenbeamten die gleiche kultverdächtige Rolle wie das Schwert in der Kampfkunst und die Griffbrettzither in der Musik (siehe II.3, II.6). Trunkenheit, von der im Zitat die Rede ist, äußert sich in der Grasschrift geradezu als ekstatischer Tanz (siehe Abb. 18). Dagegen muten Zeichen der Kursivschrift wie schwungvolle Tanzfiguren beim Schlittschulaufen an. 148 In Abb. 17 ist – in der linken Außenspalte an fünfter Stelle von oben – im Zeichen 羲 ein »Hüftschwung« angedeutet, der nichts anderes ist als Spiralbewegung aus der Körperleibmitte heraus, die auch im Klassiker des Tàijíquán beschrieben ist (siehe II.3). Abb. 17 zeigt einen Ausschnitt aus dem »Brief an die Tante« von Wang Xizhi (王羲之), »Phönix der Kalligraphie« (siehe oben). Das als Hüftschwung empfundene Zeichen 羲 (Xi) steht in der Mitte seines dreigliedrigen Namens, gebildet aus dem Nachnamen an erster Stelle Wang 王 und dem zweigliedrigen Vornamen. Den eigenen Nachnamen schreibt der Kalligraph in zwei Varianten, da in ein- und demselben Text dieselben Wortzeichen möglichst abzuwandeln sind. Oft geschieht das auf eine Weise, dass nur Experten der Kalligraphie sie identifizieren kön169

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Abb. 17: Kursivschrift nen, wenn der Kontext fehlt: Wang Xizhis Nachname 王 erscheint im Textfragment von Abb. 17 zweimal: in der linken Außenspalte an vierter Stelle von oben deutlich erkennbar, während das identische Zeichen in der rechten Außenspalte an sechster Stelle von oben eher an das gerundete Piktogramm »Sonne« 日 erinnert. Auch die beiden nachfolgenden Bestandteile des Vornamens sind jeweils leicht variiert. Allein für die Zahl »Zwei« (èr 二) existieren achtzehn standardisierte Varianten, um Monotonie zu vermeiden, anders gesagt, um in Bewegung zu bleiben. 170

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Abb. 18: Grasschrift Grasschrift (siehe Abb. 18 149). Mehr noch als die Kursivschrift zeichnet sich die Grasschrift durch Bewegung und Leichtigkeit aus, durch betonte Weitungsimpulse im Dahinschweben und Dahinfliegen der Zeichen. Gesteigerte Bewegung gelingt in der Grasschrift durch ständigen Richtungswechsel im Ineinander von Wendungen und Biegungen sowie im unaufhörlichen Wechsel zwischen knochigen (epikritischen) und fleischigen (protopathischen) Pinselstrichen. Auch Verbindungslinien innerhalb und zwischen den Zeichen, die bei den anderen Stilen in der Luft vollzogen sind, sorgen für ausgeprägte Bewegung. Das fließende Ineinander der Zeichen steigert enorm den Rhythmus der Zeichengestalten. In ihrer atemberaubenden mitreißenden Dynamik bietet sich die 171

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Grasschrift zunächst kaum zur Niederschrift einer buddhistischen Sutre an, die zu Stille, Bewusstseinsklarheit und meditativer Einkehr auffordert – es sei denn innere Unruhe läßt sich auf diesem Wege »hinauswerfen«! Umgekehrt und frei drauflos kalligraphiert, stellt sich von selbst die Grasschrift ein, wenn ein Gedicht, aus dem Unwägbarkeit und Flüchtigkeit menschlichen Lebens spricht (siehe unten), zu Papier gebracht werden will. Zhang Xu (ca. 700–750) (siehe II.3) schildert drei Erlebnisse, die ihn zum Erfinder der »verrückten Grasschrift« machen, und bestätigt aus seiner Sicht Analogie und Wechselseitigkeit der Künste, hier Kalligraphie, Musik und Schwerttanz (siehe II.3). Auch spontanes Gestikulieren einer im Vorübergehen beobachteten Straßenszene sind ihm willkommener Anlass, die eigene Kunst zu perfektionieren: Indem ich beobachtete, wie eine Prinzessin und ein Lastenträger sich [auf ebenso gestenreiche wie skandalöse Weise] um den Vortritt stritten; indem ich ein andermal Trommeln und Windinstrumenten lauschte, verstand ich die Kunst der Pinselführung. Indem ich der Tänzerin Gongsun beim Schwerttanz zusah, begriff ich die wunderbare Wirkmacht [dieser Bewegungskunst]. 150

Leibliche Gestimmtheit, die beim verweilenden Betrachten der verschiedenen kalligraphischen Stilarten wie ein Funke überspringt, lässt sich mit mentalitäts- respektive leibgeschichtlichen Zeiträumen in Verbindung bringen. Zur Zeit der Großen Siegelschrift ist die Welt noch in Ordnung, der Glaube an Götter und Geister unbeirrt und streng geregelt das Ritual. Kleine Siegelschrift und Kanzleischrift stammen aus einer Zeit, in der die Macht der Götter und Geister im Selbstverständnis der Elite schwindet und umgekehrt das Selbstbewusstsein einer zivilisatorisch hoch entwickelten Kultur ungemein zugenommen hat. Normal-, Kursiv- und Grasschrift wiederum spiegeln als Errungenschaften der Gelehrtenkultur deren Ambivalenz zwischen bürokratischem Amt (Normalschrift) und Rückzug in ein hoch ästhetisiertes Privatleben (Kursiv- und Grasschrift). Mit der Grasschrift bringt die Gelehrtenkultur ihr ureigenes Selbst- und Weltverständnis zum Ausdruck, wie sie es auch in unzähligen Gedichten gestaltet. Das Leben des Einzelnen ist nichts weiter als eine dahingehuschte Tuschespur, wie »Staub im Wirbelwind«, wie Vogelflug am Himmel:

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Des Menschen Leben in der Welt, womit vergleich ich dies? Mit einem Schwan, der im Schlamm, im Schnee sich niederließ. Da watet er, tritt eine Spur, wie sie der Zufall fügt Und wieder schwingt er hoch hinauf, sorglos, wohin er fliegt […]. 151

Kalligraphische Stilarten auf einen Blick, mit Ausnahme der Großen Siegelschrift, veranschaulicht Wang Dongling in seinen Schreibvarianten zum Zeichen 氣 (qì), das wie kein anderes präsent ist in diesem Buch (siehe Abb. 19 152): links – Grasschrift; Mitte oben – Große Siegelschrift, Mitte unten – Kleine Siegelschrift; rechts oben – Normalschrift; rechts Mitte – Kanzleischrift; rechts unten – Kursivschrift.

Abb. 19: Das Zeichen für qì 氣

Erfahrungsbegriffe der Tuschemalerei Moderne Kunsttheorien, westlicher oder östlicher Prägung, zur traditionellen chinesischen Landschaftsmalerei lassen im Wesentlichen drei Paradigmen erkennen: Kunst als Nachahmung (Mimesis), Kunst als Selbstausdruck und Kunst als Erkenntnisweg. Allen drei ist der Abbildungs- bzw. Darstellungsgedanke gemeinsam, die ästhetische Präsenta173

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tion eines Dinges (Ähnlichkeit/Mimesis) einer Befindlichkeit (Selbstausdruck) oder eines Sinngehalts (Erkenntnis). 153 Die Gelehrtenmaler selbst legen in Theorie und Praxis einen andern Zugang nahe. Landschaft interessiert den Maler wie den Dichter in ihrer lebendigen Wirksamkeit und kosmischen Bedeutung. Xie He (ca. 500–535) nennt in seiner Abhandlung zur Klassifizierung älterer Malereien (Guhua pinlu) sechs Regeln, von denen die erste den »Rhythmus (yùn 韻) des qì 氣 als Bewegung des Lebens« einfordert. Gemeint sind die – im An- und Abschwellen der Tuschelinien – dynamisch variierten Gestaltverläufe, die als »Fließmuster« 154 des qì den Betrachter zum rhythmischen Mitvollzug bewegen. Die hier beanspruchte ästhetische Kategorie yùn in ihrer Bedeutung als Rhythmus teilt die Malerei selbstverständlich mit der Kalligraphie, aber auch mit der Musik. In der Dichtkunst steht yùn für den »Reim«, der neben Verslänge und Zäsuren ganz entscheidend den Rhythmus mitbestimmt. Damit zielt die allererste RegeI des Xie He auf das rhythmische Geschehen der Lebens- und Atemkraft. In der zweiten Regel kommt der tast- und sichtbare Körper in den Blick, wenn Xie He die Kategorien »Knochig« und »Fleischig« bemüht, d. h. die schon aus der Kalligraphie vertrauten epikritisch und protopathisch nuancierten Tuschespuren. Die sich anschließende dritte Regel ist mit der »Erkennbarkeit der [einzelnen] Bildgestalten« befasst, die in der Tuschemalerei nur angedeutet sind. Das bedeutet nicht, dass traditionell-chinesische Malerei grundsätzlich auf realistische Darstellung verzichtet. Das Gegenteil ist der Fall. Die frühkaiserzeitliche Porträtmalerei setzt Ähnlichkeit von Bild und Wirklichkeit ebenso voraus wie Tiermalereien der Mittleren Kaiserzeit. Wenn Mi Fu (1051–1107), hoher Beamter, Musik- und Steineliebhaber (siehe II.7), Kalligraph, Maler und Autor einer Geschichte der Malerei, die Kunst der Berg-Wasser-Malerei von den anderen Bildgattungen abgrenzt, greift er zum Kriterium der Ähnlichkeit (sì 似) von Bild und »Original« und gibt der eigenen Kunst, der Tuschemalerei, gerade im Verzicht auf Ähnlichkeit den Vorzug: Im Allgemeinen gilt für Ochsen, Pferde und Personen, dass im Abbild Ähnlichkeit gelingen soll. In der Landschaftsmalerei reicht es nicht, der Wirklichkeit zu folgen. Die Landschaftsmalerei ist der höhere Ort, an dem sich der Herzgeist (xīn) entfaltet.

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In der vierten Regel ist die Gesamtsituation des Bildes als »Komposition« thematisiert, während die fünfte Regel mit »Farbsetzung« befasst ist als fein nuancierte Abschattung zwischen reinem Tuscheschwarz und dem Weiß des unbehandelten Papiers. Die sechste und letzte Regel »Übertragen durch Kopieren« bedeutet nicht Aufforderung zum Plagiat, wie wir es verstehen könnten, die wir an künstlerische Originalität »um jeden Preis« gewohnt sind. Alte Bilder als »Lehrmeister« zu akzeptieren und zu imitieren, bedeutet »Übertragung von Herz zu Herz« (siehe III.1), um den je spezifischen Weltbezug und Weltvollzug immer wieder neu zu realisieren: »Ein Meisterwerk zu kopieren, ist nichts anderes als ein Stück von Brahms zu spielen« 155, nichts anderes als ein Lieblingsgedicht immer wieder zu rezitieren. Zwei der Wortzeichen für Bewusstsein xīn 心 (Herz) respektive Bewusstseinstätigkeit sī 思 (Nachsinnen) bezeichnen dann auch in der Malerei den shén (Geist), der einem Berg-Wasser-Gemälde innewohnt und als zündender Funke überspringt. Das Guhua pinlu hat demnach Körperliches (Einzeldinge, Knochen und Fleisch) und Leibliches (qì-Rhythmus, Herz und Geist) im Sinn. Der Abhandlung des Xie He (ca. 500–535) folgt, bis in die Songzeit (960–1278) hinein, eine Reihe weiterer grundlegende Texte zur »Berg-Wasser-Malerei«. 156 Eine noch so kursorische Durchsicht fördert eine Terminologie zutage, über die sich auch die Tuschemalerei über mehr als ein Jahrtausend hinweg als Körper- und Leibkunst erweist: Kosmogonie und Lebenskraft. Nebeldunst über dem Wasser, Regenschleier über dem Wald, Berggipfel bald in Wolkengestalten verborgen, bald enthüllt, sind Manifestationen von qì 氣und shén 神 ohne feste Form wie das dào 道 selbst: »Das große Gebilde hat keine Form (dàxiàng wú-xíng 大象無形).« 157 Synonym mit qì erscheint in kunsttheoretischen Erörterungen neben dem Wind (fēng 風) der Ausdruck qì-xiàng 氣象, aus qì und xiàng 象 (Gestalt/Gebilde) zusammengesetzt. Alle drei Begriffe zielen auf die atmosphärisch-dynamische Gestimmtheit einer Landschaft respektive Berg-Wasser-Malerei. Intensität an qì-Kraft liegt vor, wenn sich im Bild eine machtvolle Fels-, Wald- oder Wolkenformation vollzieht. Situativ sich entfaltende Dynamik wird in der Bildtheorie als shì 勢 (wirkmächtige Erscheinung) 158 bezeichnet – ein Ausdruck, der dem altchinesischen militärischen 175

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Sprachgebrauch entnommen ist und auf eine – über Sieg oder Niederlage entscheidende – nicht zuletzt geographische Gegebenheit zielt. Fülle und Leere. Wer die chinesische Tusche-Malerei als abstrakte Malerei versteht, verkennt, dass die Bilder weder auf konkrete Bildgestalten noch auf philosophischen Sinngehalt verzichten. Wohl ist die stoffliche Fülle der Bildmotive zurückgenommen zugunsten von Leere. Doch sind die Dinge der Welt umrisshaft dargestellt, Variante des Zeigens im Verbergen und umgekehrt. Leere ist überall dort anzutreffen, wo auf dem Papier überhaupt keine oder kaum Tuschespuren auszumachen sind, d. h. wo qì-Kraft, durch nichts Stoffliches aufgehalten, umso freier fließt. Wenn der Kunsthistoriker für die Tuschemalerei die »vielfach latenten Spannungsverhältnisse zwischen bemalter und unbemalter Fläche, zwischen Linie und Lavis 159, zwischen Hell und Dunkel, zwischen Gegenstand und dem gesamten Raum« 160 geltend macht, so sind qì-Manifestationen angesprochen, die zwischen Fülle und Leere schwanken, zwischen Verdichtung (yīn) und Zerstreuung (yáng), Dunkel und Hell. Gemeinsame Situationen. Bilder der Berg-Wasser-Malerei sind insofern »welthaltig« 161, als dem Bildschaffen ein situatives und subjektives Erleben von Welt zugrunde liegt und Bild-Betrachtung analoges Welterleben auslöst. Auf beiden Seiten ist Wahrnehmung nichts anderes als Kommunikation zwischen Maler und Natur, zwischen Bildbetrachter und Bild – ein doppeltes Wirkgeschehen in gemeinsamer Situation, das »weder präsentierbar noch repräsentierbar [ist]. Es erfordert vielmehr ein Einschwingen in seine allbeherrschende Bewegtheit« 162. So kommt es, dass Berg-Wasser-Bilder den Betrachter mit Nachdruck einladen, darin umherzuwandern, ja darin zu wohnen. Über den unmittelbaren Akt der Anschauung hinaus – als Mitschwingen mit der Welt, die da entfaltet wird – ist Bildbetrachtung im vormodernen China nie abgeschlossen. Das Entrollen des Bildes im situativen Kontext einer Gemeinschaft von Freunden oder Verwandten kommt einer immer neu vollzogenen ästhetischen Aktualisierung gleich – ebenso wie das Auftragen von Gedichten und Siegel im Nachhinein seitens des Kunstsammlers oder auch das Auswechseln eines Bildes im Verlauf der Jahreszeiten oder einem Gast zuliebe.

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5. Qìgōng mit dem Pinsel

Resonanz. Sämtlichen Texten, welche »die theoretische Grundlegung der Berg-Wasser-Malerei zwischen dem fünften und zwölften Jahrhundert« 163 dokumentieren, ist die Behauptung einer doppelten Resonanz gemeinsam. Maler und Betrachter sind jeweils Teil einer gemeinsamen Situation, die über das prüfende Sehen mit den Augen hinaus die Person in ihrem ganzen leiblichen In-der-Welt-Sein betrifft und ergreift. Bei jedem Akt der Rezeption-Produktion durch den Maler und Rezeption durch den Betrachter steht »der Zugang zur Welt auf dem Spiel« 164. So gesehen zielt die Berg-Wasser-Malerei der chinesischen Gelehrtenkultur auf eine nicht zuletzt ethisch orientierte Transformation, denn jeder »Weltaufgang« 165 bedingt aktive und aktuelle Einlassung auf die harmonische Ordnung in der Welt. Resonanz zwischen Landschaft und Maler, zwischen Bild und Betrachter bezeichnet die Kunsttheorie als »Überspringen im Geistigen« (shén-chāo 神超) 166. Das setzt voraus, dass Subjekt-Objekt-Unterscheidungen verschwinden – daher auch die konzentriert–meditative Vorbereitung auf den Akt der Bildproduktion, geht es doch darum, »aus der Versunkenheit frei heraus« 167 den Bambus zu malen: Zum Bambus werden und dann zu vergessen, dass man eins mit ihm ist, während man malt – das ist das Zen des Bambus, das heißt im »Lebensrhythmus des Sinnes« sich bewegen, der im Bambus ebenso wie im Künstler selber atmet. 168

»Lebensrhythmus des Sinnes« ist Bewegung unmittelbar aus dem dào. Dem entspricht die Kategorie 原道 yuan-dao (Ursprung aus dem dào) in der Literaturtheorie, d. h. der Gedanke, dass Dichtung dem Kosmos selbst entspringt. 169 Von-selbst. Die allen Spürmerkmalen letztlich zugrunde liegende ästhetische Kategorie ist das Von-Selbst. Als Natürlichkeit und Spontaneität (zì-rán) unterscheidet sie sich kaum von der Kategorie der Authentizität zhēn 真 (wörtlich: Aufrichtigkeit). Beide sind daoistische Werte und Voraussetzung dafür, dass leibhaftige Begegnung mit der Landschaft und mit dem Kunstwerk gelingt. Authentizität ist zugleich Verzicht auf angestrengtes Bemühen und äußerliche Verzierung, ist ein Akt aus der eigenen unverkünstelten Mitte heraus in Resonanz mit dem, was auf mich zukommt. Wenn einem Landschaftsbild das Von-selbst bescheinigt wird, ist »Effizienz der Mühelosigkeit« angesprochen, wie sie der Dichter Huang Tingjian (1045–1105) in seiner Eigenschaft als Bildbetrachter begreift: 177

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Anfangs wusste ich die Malerei nicht recht zu würdigen, doch als ich das Sitzen in Stille (chán 禪) praktizierte, begann ich zu verstehen […]. Als ich dann Gemälde anschaute, konnte ich die (unterschiedlichen) Grade […] vollkommen nachvollziehen. 170

Erst die in der Meditation sensibilisierte Aufmerksamkeit macht Huang Tingjian empfänglich für das mühelose Von-selbst, versetzt ihn in die Lage, Natürlichkeit, Spontaneität und Authentizität in der Malerei wahrzunehmen und auf dieser Grundlage subtile Abstufungen zwischen technischer Fertigkeit und künstlerischer Qualität zu erfassen. Farben und Formverläufe. Das aus dem Buch der Lieder vertraute Wechselspiel zwischen Natur/Landschaft (jǐng 景) und menschlichem Affiziertsein (qíng 情) (siehe I.5) kommt in der Maltheorie zum Tragen, wenn unterstellt ist, dass jede echte Anrührung Gefühle freisetzt. Medien der Resonanz sind die synästhetisch wirksamen sechs Farbnuancen zwischen dem satten Schwarz der Tusche und dem farblosen Weiß der unbemalten Bildfläche. Je weniger satt/fleischig die Tuschefärbung, desto mehr gewinnen Leere und Leichtigkeit an Raum. Medien der Resonanz sind darüber hinaus alle möglichen Formverläufe zwischen dem »Rund« (des Himmels) und dem »Eckig« (der Erde). Je gewundener ein Bergpfad, desto mehr Leibverwandtschaft liegt vor, desto freundlicher lädt er zum Aufstieg ein. Sowohl gegenständlich als auch gegenstandslos. Neben den allgegenwärtigen Spürphänomen qì und Wind, dem Atem der Erde, greift die chinesische Tuschemalerei auf die stoffliche Welt der tast- und sichtbaren Dinge zurück. In der Maltheorie sind diese mit Körperleibbegriffen xíng 形 und tǐ 體 (siehe I.3) benannt neben dem Oberbegriff für die »Wesen und Dinge der Welt« wù 物, der etwas freier auch als »innerweltliche Vorkommnisse« 171 übersetzt werden kann. Über Atmosphärisches und reale Bildgestalten, wie Felsen, Baum, Mensch, Hütte usw. hinaus verweist jede Berg-Wasser-Malerei auf den übergreifenden Sinnzusammenhang (yì 意) – den Grund allen Seins, das dào, oder die Leere im buddhistischen Sinn. Die vom Maler aus der »chaotischen-Mannigfaltigkeit« des Um-Welt-Geschehens schonend explizierten Körperdinge weisen besondere Gestaltmerkmale (xiāng 相) auf, heben sich aus der unmarkierten Wirklichkeit des leeren Papiers als spezifische Muster (wén 文) heraus, ein Boot am Ufer, ein vertikal aufragendes Felsgestein, ein Wald, ein Wanderer. 178

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5. Qìgōng mit dem Pinsel

Mehr noch als die hingehuschten Gestaltumrisse der Körperdinge interessiert deren spürbare Haltung: tài 態, zhuàng 狀. Beide Bildkategorien sind der chinesischen Körperleibterminologie ebenso verpflichtet wie deren Konkretisierung als »Anmut«, die wiederum mit vier verschiedenen Begriffen umschrieben ist, mit miàn 面, mào 貌, róng 容 und sè 色. Alle vier bedeuten »Gesicht«, »Anblick« respektive »Gesichtsfarbe«, nicht nur sicht- und tastbar, sondern auch als persönliche Ausstrahlung.

Bildübung Gespürte Erfahrung. Im Vordergrund des Bildes (siehe Abb. 20) sind außerordentlich sparsam ein paar Körperdinge hingetuscht, ein kleines Stück Strand mit erdwärts geneigten Schilfgräsern, ein paar Steine, ein flaches Boot und darin langgestreckt ein Mensch. Wo der Fluss herkommt, wohin er hinführt, ist nicht auszumachen. Das Wasser verliert sich in der unermesslichen Weite, wird eins mit dem Horizont. Wie im Gedicht der Nonne Haiyin »verfließen die Farben des Wassers mit den Farben des Himmels« (siehe II.4). Die Weite ist im linken oberen Bildteil durch zwei abgerundete Gipfel einer Bergkette unterbrochen. Noch vor der Bildmitte verliert sich die weiche Wellenlinie, wird noch einmal abgeschwächt aufgenommen von einer dahinter liegenden Bergkette, die ihrerseits in der undifferenzierten Tiefe des Himmels verschwimmt. Der Rest ist überwältigende Leere, einzig Halt verleihend die ohnehin verkürzte Berglinie im oberen linken Teil und das flache Boot in Ufernähe, das im unteren vorderen Bildteil die obere Berglinie parallel versetzt über die Bildmitte hinweg fortführt. Der auf dem Bauch darin lagernde Mensch scheint ganz versunken in der Betrachtung der Natur: »Diese ganze gewaltige Weite ist voller Leere, offen für die transformierende Kraft seines Bewusstseins. Sie existiert in ihm wie er in ihr.« 172 Die Leere der Bildfläche ist nicht reines Papier-Weiß, sondern nass-verwaschene Tuschefarbe (Lavis), die das Weich–Verschwommene, Schwebende der Berglinie – eine Brücke ins Undifferenzierte – unterstreicht. Hier entfaltet sich im leeren Raum eine qì-Dynamik so zart und zurückhaltend, dass ein Betrachter durch nichts gehindert sich in das Bild hineinweiten kann. Auffallend an den Gestaltverläufen ist die Horizontale: des Berggrates, der Uferlinie, der vom Wind oder der 179

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Schwerkraft gebeugten Gräser, der Steine, des Bootes, des Menschen im Boot: »Wozu sich über etwas erheben wollen, wenn man eines Sinnes mit ihm sein kann?« 173 Diese »Welt der Horizontalen« 174 erinnert daran, dass Erleuchtung als Verbundenheit mit der umgebenden Natur nicht »da oben« und »nicht da draußen ist, da sucht es der Tor«, sondern unmittelbar hier und jetzt, die Botschaft der PflaumenblütenNonne.

Abb. 20: Anonymes Bild aus dem 15. Jahrhundert

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6. Musik des Himmels, der Erde und der Menschen

Bo Juyi (772–846) 175 – in eine Bambusmalerei betrachtend versunken – soll dieses Kapitel einleiten und ein weiteres Mal die wechselseitige Durchdringung der Bewegungskünste, hier Tuschemalerei und Musik, veranschaulichen: Wie ich den Kopf hebe und hinschaue, scheint es plötzlich, nicht gemalt zu sein. Mit geneigtem Ohr still lauschend ist mir’s, als wären da Geräusche. 176

Indem er hört, was er eigentlich nur sehen kann, und körperlich reagiert, um »mit geneigtem Ohr« desto intensiver lauschen zu können, ist seine Bildbetrachtung synästhetisches Erleben: Das Bild »zeigt« da nicht einfach so etwas wie eine umfassende Wirklichkeit […]. Das angeschaute Bild versetzt hier den Dichter in eine tatsächliche mit allen Sinnen des Leibes wahrgenommene Situation […]. Unmittelbar aus der Anschauung des gemalten Gegenstandes erwächst also eine situative Befindlichkeit, die über das Sehen hinaus die ganze Person in ihrer gelebten Umwelt erfasst. 177

Philosophisches und Historisches zur altchinesischen Musik geht der Präsentation der chinesischen Griffbrettzither (qín 琴) voraus. Körperleiberfahrung wird dann am Spiel der Zither expliziert. Die Beschränkung auf dieses Zupfinstrument liegt nahe, da die Qín, nicht anders als Pinsel, Tusche und Schwert, Kultinstrument der chinesischen Gelehrtenkultur ist.

Philosophisches Im Zhuangzi beginnt das zweite Kapitel mit einem Gespräch zwischen Meister Zi Ji und seinem Schüler, dem auch die Überschrift zu diesem Kapitel »Musik des Himmels, der Erde und der Menschen« zu verdanken ist:

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Vielleicht hast du die Orgelmusik 178 der Menschen (rén 人) vernommen, aber noch nicht die der Erde (dì 地). Vielleicht hast du die Orgelmusik der Erde vernommen, aber noch nicht die des Himmels (tiān 天) […]. [Die Erde], dieser große Klumpen (dà-kuài 大塊) da, stößt ihren Atem (qì) aus. Wir nennen ihn Wind. Manchmal ruht er. Ist er in Bewegung, dann bricht Geheul aus allen Öffnungen hervor. Hast du noch nie dieses Brausen gehört? Die steilen Hänge der Bergwälder, die riesigen Bäume, deren Umfang hundert Armspannen misst, haben Höhlungen und Vertiefungen wie Nasenlöcher, wie Münder und Ohren, wie Dachgestühle, Hohleisen und Mörser, wie schlammige Tümpel und Sümpfe. Da zischt es, da schwirrt es, da schilt es, da schnauft es, da ruft es, da klagt es, da dröhnt es, da kracht es. Der Anlaut klingt schrill, darauf folgen keuchende Töne. Sanfte Winde schaffen eine leise, grimmige [Stürme] eine laute Harmonie. Hat sich der Sturm gelegt, stehen alle Höhlungen leer. Hast du noch nie gesehen, wie es dann nachzittert und nachbebt? 179

Der Schüler fragt zurück: Also kommt die Orgelmusik der Erde aus diesen Höhlungen, die Orgelmusik der Menschen aus den aufgereihten Bambusrohren. Darf ich nach der Orgelmusik des Himmels fragen? Zi Ji: Das bläst von selbst auf tausenderlei verschiedene Art. Wer sollte da der Bläser sein? 180

Drei verschiedene Arten von Musik sind hier angesprochen. In immer neuen Bildern schildert Zhuang Zhou die Musik des »großen Klumpens da«, das Lied der Erde. Die Frage des Schülers nach der Musik des Himmels führt er mit einer Gegenfrage ad absurdum: »Wer sollte da der Bläser sein?« Mehr erfahren wir nicht. Oder doch? Bevor das zitierte Frage- und Antwortspiel beginnt, findet der Schüler den Meister am Tisch sitzend vor, »wie abwesend zum Himmel (tiān 天) blickend, tief atmend, als hätte er die Welt um sich verloren«, und holt ihn aus seiner Versunkenheit in den Alltag zurück: Was ist denn das? Kannst Du deinen Körper (形 xíng) zu dürrem Holz (槁木 gǎo-mù) und dein Herz zu toter Asche (死灰 sǐ-huī) machen? Der Mann, der sich jetzt gerade über den Tisch lehnt, ist nicht derselbe, der noch vor einem Augenblick hier saß. 181

So ist es möglich, im Zustand meditativer »Verlorenheit«: »Ich hatte gerade mein Ich verloren« (wú sàng wǒ 吾喪我), jener dritten Art von Musik zu lauschen, der kosmischen Musik des dào, die sich von der Musik der Menschen ebenso unterscheidet wie von der Musik der Erde. Das Gespräch zu Beginn des zweiten Kapitels, das der »Gleichheit aller Dinge« gewidmet ist, führt zum Thema »Es ist müßig, über Standpunk182

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6. Musik des Himmels, der Erde und der Menschen

te zu streiten«, da der Mensch es selber ist, der mit Hilfe der Sprache die Welt differenziert. Dabei nimmt er jenseits ontologischer Suggestionen, mehr oder weniger beliebig, Markierungen vor im chaotisch-mannigfaltigen Kontinuum der Wirklichkeit. Aus der Sicht der Leere aber ist alles eins: Wenn da kein Anderes ist, dann gibt es auch kein Ich. Und wenn da kein Ich ist, wer sollte das Andere erfassen [können]? […]. Was der eine falsch nennt, nennt der andere richtig […]. Wo Jenes und Dieses, keines von beiden gültig ist, das nennt man den Angelpunkt des dào (dào-shū 道樞). An diesem Angelpunkt, im Zentrum der Kreisbewegung, wird man des Unerschöpflichen (wúqióng 無窮) gewahr. Das Rechte (shì 是) ist unerschöpflich, und das Unrechte (fēi 非) ist unerschöpflich. Daher heißt es: »Halte dich ans Licht (míng 明) [jenseits von Recht und Unrecht].« 182

Historisches Von der Musik der Menschen ist im Zhuangzi-Dialog nur beiläufig die Rede, im Verweis auf die Bambusrohre. Umso mehr ist in anderen altchinesischen Texten darüber zu erfahren. Konfuzius und Philosophen seiner Nachfolge zeigen ausgeprägtes Interesse an den konkreten Wirkungen spezifischer Musikinstrumente und Musikstile, von Musik überhaupt. Auch Theoretisches zur Musik hat die altchinesische Philosophie beigetragen. Die frühe Musiktheorie behandelt neben dem Grundton der »gelben Glocke« (huáng–zhōng 黃鐘) die Bestimmung musikalisch brauchbarer Töne und Skalen. Eine Festlegung der Tonleiter ist bereits im siebten Jahrhundert v. Chr. bekannt ebenso wie der Wechsel von Quinten und Quarten. Die Erfindung der Musik respektive der Tonsysteme ist nach altchinesischer Vorstellung mythischen Kulturbringern und »vorbildlichen Herrschern« zu verdanken. Darin kündigt sich schon das mit Musik verbundene moralisch-ethische Bedürfnis an. Wie die Riten (lǐ 禮) soll Musik (yuè 樂) der Erziehung und Selbstkultivierung des Menschen dienen. Musik ist dazu in eigener Weise prädestiniert, sorgen die Riten doch, in ihrer Ordnung schaffenden Funktion, für Differenzierung zwischen den Menschen, für Trennung (fēn 分). Musik aber schafft über gemeinsame Situationen emotionale Bande (qíng 情). Beides, Differenzierung und Gemeinschaft, ist unerlässlich für Gesellschaft und Staat. 183

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Von den mythischen Anfängen an ist Musik mit Bewegung verbunden in Form von Kriegs- und Friedenstänzen, in Form der Lieder, zu deren mitreißenden Rhythmen geklatscht, gestampft und gearbeitet wird (siehe I.3, II.4). Xunzi beginnt sein Musikkapitel mit einem Wort- und Zeichenspiel. Das Zeichen 樂 steht sowohl für »Musik« (yùe ausgesprochen) als auch für »Freude« (lè ausgesprochen). Das alte Piktogramm zeigt tatsächlich ein Musikinstrument, den Schellenbaum. Worauf Xunzi hinauswill, ist die Gleichsetzung von Musik und Freude. Musik stimmt die Menschen heiter und froh, umgekehrt sucht menschliche Freude geradewegs »in Stimme (shēng-yīn 聲音) und Bewegung (dòng-jìng 動靜) ihren Ausdruck« 183. Von Xunzi ist weiter zu erfahren, dass Vorsicht geboten ist. Wenn Töne imstande sind, »tief in den Menschen einzudringen, ihn zu verwandeln« 184, dann muss der Herrscher besorgt sein, dass landauf, landab die richtige Musik erklingt. Solche Musik muss geordnet (wén 文) sein. Der bloß »berauschenden«, »lärmenden« und »gefühlsüberladenen« volkstümlichen Musik ist dann auch immer wieder die feierlichmaßvolle höfische Sakralmusik gegenübergestellt – bis spätere Gelehrtengenerationen sogar bei Hofe, erst recht in den aufblühenden Städten der Mittleren Kaiserzeit, dazu neigen, ebendiese volkstümliche Unterhaltungsmusik der Sakralmusik vorzuziehen. Der Wirkung von Musik ist umso mehr Aufmerksamkeit zu widmen, da der Mensch mit seinem Schicksal den vielfältigen makro-mikrokosmischen Resonanzen ausgeliefert ist. Von mehreren Staaten respektive Herrschern wird berichtet, an der von ihnen bevorzugten Musik zugrunde gegangen zu sein. Das kann auch bedeuten, dass ein Herrscher wegen mangelnder Tugendhaftigkeit einer wirkmächtigen Musik nicht gewachsen ist, wie Fürst Ping von Jin, der darauf beharrt, »den Ton mit der stärksten Wirkung« zu hören, obwohl oder gerade weil sein Musikmeister ihn nachdrücklich warnt: Beim ersten Stück zogen schwarze Wolken von allen vier Richtungen herauf. Beim zweiten kam Sturm auf, gefolgt von Regen. Die Vorhänge zerrissen, Tongefäße zerschellten, und Ziegel flogen von den Dächern. Die um Graf Ping gesessen hatten, stoben auseinander und ergriffen die Flucht. Ihn selbst packte große Furcht, und er warf sich zwischen Galerie und Halle auf die Erde. Dann kam eine große Dürre über den Staat Jin, drei Jahre lang war die Erde rot. Graf Ping wurde immer schwächer und kränker. 185

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Extreme Töne – »zu stark, zu schwach, zu schrill, zu dunkel sind unangemessen (fēi-shì 非適)« 186. Sie beunruhigen, verwirren, verärgern und schädigen auf Dauer das Leben: »Wie Eis in der glühenden Sonne löst es sich auf« 187. Umgekehrt ist harmonische Musik zum rechten Zeitpunkt der Gesundheit zuträglich, der Scharfsicht der Augen und Hellhörigkeit der Ohren; der Harmonie des Herzens als Sitz der Gefühle und des klaren Bewusstseins. Konfuzius selbst zeigt sich so tief beeindruckt von der Musik aus der Zeit des vorbildlichen Kaisers Shun, dass er drei Monate lang auf den Geschmack von Fleisch verzichtet: »Ich hätte nie gedacht, dass Musik so weit gehen kann.« 188 In der Resonanzlehre ist die Musik von Anfang an mitbedacht. Zwar kennt auch die chinesische Musikgeschichte ein sechs-, siebenund zwölfstufiges Tonsystem. Unter dem Einfluss der Pentagonik wird das fünfstufige Tonsystem ohne Halbtöne (Pentatonik) jedoch zum Inbegriff traditionell-chinesischer Musik. Die aus Quinten gebildete Tonfolge gōng 宮 shāng 商 jué 角 zhǐ 徵 yǔ 羽 korreliert mit makrokosmischem Geschehen wie mit dem Mikrokosmos Mensch (siehe Tabelle 2). Hohe Töne sind dem yáng und der Eigenschaft »Klar« zugeordnet, tiefe Töne dem yīn und der Eigenschaft »Trübe«. Auch die mittlere Ebene zwischen Mensch und Natur/Kosmos, die Gemeinschaft der Menschen, ist ein Zusammenspiel sozialer Energien und Kräfte, wenn die Fünf Töne in der genannten Reihenfolge dem Fürsten, Minister, Volk, den »Arbeiten« und den »Dingen« oder auch schicksalhaften Ereignissen 189 entsprechen. Neben der Fünferzahl figuriert gleichberechtigt die Zahl Vier, die – den Vier Himmelsrichtungen und Vier Jahreszeiten entsprechend – in den Vier Klangfarben wiederkehrt. Das Material, aus denen die Instrumente gefertigt sind, 190 steht mit den Rhythmen (jié 節) der Natur unterschiedlich in Resonanz und wirkt ebenso unterschiedlich auf die Menschen ein. Saiteninstrumente wie Zither und Laute stimmen sanft und freundlich, Windinstrumente wie Flöten »erfreuen das Herz«, während Trommeln und Pauken »den Willen leiten«. 191 So geht es in der chinesischen Musik auch nie um Virtuosität oder Originalität um ihrer selbst willen. Musik ist nie nur Musik: »Musik hier und Musik da, als ob es sich [bloß] um Glocken und Trommeln handelte«, klagt Konfuzius 192. Musik ist Eindruck und Ausdruck, und auch hier steht die Ordnung der Welt auf dem Spiel. Während der gesamten Kaiserzeit nimmt die chinesische Musik vielfältige Anregungen auf: aus den nördlich angrenzenden Steppen185

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regionen, aus Innerasien, von den Rand- und Grenzvölkern, die im Zuge der territorialen Expansion in das Reich integriert werden. Diese Einflüsse schlagen sich in Musikstilen, Rhythmen und Instrumenten nieder. Musik, Dichtung und Bewegungskunst bleiben durchgängig miteinander verknüpft, so dass auch neuere Entwicklungen, die Singund Theaterspiele der Mittleren Kaiserzeit, Gesamtkunstwerke sind. Ende des 19. Jahrhunderts wird in Japan das bisher älteste chinesische Noten-Manuskript entdeckt, eine in die Tangzeit (618–906) datierte Notation für Musik auf der Griffbrettzither: In ganzen Sätzen wird jede Bewegung der beiden Hände zur Erzeugung eines Tones aufgeschrieben. Auch feinste Nuancen wie Vibrati und Glissandi sind notiert. 193

Aus anderen Texten wissen wir, dass zur gleichen Zeit eine vereinfachte Notation existiert mit abgekürzten Zeichen, aus denen jeweils Saite, Griffmarke, Greifhand und Anschlagshand zu ersehen sind. Schon dieses »vereinfachte« Aufzeichnungssystem hält achtzig Notationszeichen für musikalische Besonderheiten bereit – mit Ausnahme der Rhythmik, die der Interpretation überlassen ist, es sei denn Titel oder Untertitel des Musikstücks geben einen Hinweis oder der Rhythmus ist aus dem Stück selbst durch einfühlsames Hineinversetzen zu erschließen.

Die chinesische Griffbrettzither Der Griffbrettzither Qín (琴) oder Gǔqín (古琴, alte Qín) 194 (siehe Abb. 21) kommt bei der mythischen Überhöhung der Musik besondere Bedeutung zu. Fu Xi, einer der Kulturheroen, dem auch die Erfindung der Trigramme des Yijing zugeschrieben wird (siehe II.3), soll sie erschaffen und Shun, einer der vorbildlichen legendären Könige, will mit der fünfsaitigen Qín die Welt geordnet haben – auf die Melodie »Das Lied vom Südwind«. Auch Konfuzius soll die Lieder aus dem Shijing zur Griffbrettzither gesungen haben. Während der Kaiserzeit bleibt die Qín Instrument der Elite, nicht zuletzt der Kaiser, die sich allzu gerne mit der wirkmächtigen Kunst mythischer Vorgänger umgeben. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass in Länge und Breite der Qín, der Zahl ihrer Saiten und einer Reihe anderer Merkmale die altchinesische Zahlensymbolik hervorlugt und dass sich bei jedem Zitherspiel im Wechsel von »harmonischen«, 186

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»leeren« und »vollen« Tönen« (yīn 音) die Dreifaltigkeit von Himmel, Erde und Mensch aktuell vollzieht. Ein ins fünfte vorchristliche Jahrhundert datierter Fund, die zehnsaitige Qín, die Marquis Zeng Houyi ins Grab begleitet, bestätigt die kosmologische Überhöhung der Qín. Der längliche Klangkörper bei gewölbter Decke und ebener Bodenfläche erinnert nicht nur an das Himmelsgewölbe und die abgeflachte Erde, sondern auch an die Schildkröte, Orakeltier im alten China. Auch das Holz der Qín verheißt magische Wirkkraft. Der Wutong-Baum (firmiana simplex) empfängt, Xi Kang (223–262) zufolge, »die reinsten Harmonien von Himmel und Erde und atmet den Glanz von Sonne und Mond« 195. Kein Geringerer als der Glück bringende Phönix lässt sich auf diesem Baum nieder. Dem Klangkörper aus edelstem Holz und den aus kostbarer Seide gedrehten Saiten 196 verdankt die Qín die Bezeichnung »Seide und Holz« (sī-tóng 絲 桐), die in Gedichten und Liedern die Griffbrettzither metaphorisch umschreibt. Als Kultinstrument der Gelehrten ist die Qín liebevoll ausgestattet mit Griffmarken aus Jade, Silber oder Gold und mit einem Namen – reich an Bedeutungen und Assoziationen – kalligraphisch verziert, nán-fēng 南風 (Südwind) z. B., nach dem Lied des Weltenordners Shun (siehe oben). Seit Xi Kang (223–262) (siehe Abb. 21 197) in seiner »Poetischen Beschreibung der Qín« die Griffbrettzither zum Instrument von Melancholie und »Schlaflosigkeit« erkor, 198 zeichnet die Praxis der Qín den einsamen Gelehrten der Tang- (618–906) und Songzeit (960–1279) aus. Instrument und Musik sind wie geschaffen für Zeiten des Rückzugs und der Einkehr, wenn die zarten Töne einzeln fallen wie Tautropfen von einem Lotusblatt, zögern – fallen – schweigen, bis Stille atmosphärisch spürbar wird, bevor ein neuer Ton aufsteigt: »Jeder Ton entspringt der unendlichen Stille der Erde und sinkt wieder in unermessliche Stille zurück.« 199 Bo Juyi (772–846) spricht von »drei Freunden« in der Einsamkeit und nennt an erster Stelle die Qín, danach Wein und Dichtkunst. Selbstverständlich fehlt es ihm nicht an Pinsel und Tusche, um die Verse, die sich einfinden, in seiner schönsten Schrift zu Papier zu bringen: Zither gespielt, Wein getrunken, Wein getrunken, in Verse versunken […], linker Hand den Krug aus Jade,

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rechter Hand Greifmarken aus Gold. Beflügelt ergreif ich Pinsel, Papier. Verrückt sind die Worte und Zeichen. 200

Zitherspiel, Dichtung, Wein, Kalligraphie und Malerei – alles dient Bo Juyi zur Selbstkultivierung, zur Lebenspflege und zum Lebensgenuss. Das ist Selbstsorge im vollen Sinn. Nicht nur ihm, unzählige Gedichte beschwören das Spiel der Qín und die daraus aufsteigenden Stimmungen und Atmosphären. Um 1500 erscheint in China eine Anthologie mit vierhundert Gedichten allein zur Musik der Qín. 201 Auf ebenso zahlreichen Landschaftsgemälden ist, unter Bäumen versteckt, am Ufer eines Flusses ein Menschlein zu entdecken – vor sich die Griffbrettzither und womöglich nahebei ein Fischer langgestreckt im Boot (siehe II.5), der versunken den Tönen lauscht. Dann spielt das Bild auf die Geschichte des Boya an, Meister der Griffbrettzither, dessen Musik nur ein Fischer versteht. Qín-Stücke mit dem Titel »Hohe Berge« und »Fließendes Wasser« erinnern an die lebenslange Freundschaft zwischen beiden. Bis heute wird »Freundschaft« mit dem Ausdruck zhīyīn 知音 umschrieben, wörtlich »den Ton/die Musik [eines anderen] verstehen«. Er zielt auf Resonanz zwischen zwei Menschen, die eines Sinnes sind. 202

Gespürte Erfahrung beim Spiel der Qín 琴 Körper- und Leibbegriffe. Heute noch gebräuchliche Bezeichnungen, wie »Hals« für die obere Einbuchtung und »Taille« für die untere, verweisen auf Körperteile. Auch andere Orte an der Qín spielen auf Tast- und Sichtbares an, wie Auge, Stirn, Füße, Zahnfleisch. Diesen Körperbegriffen sind jeweils die Zeichen für Phönix oder Drache vorangestellt – beides mythische Tiere und beide in der Raumkunst des Fēngshuǐ (siehe Tabelle 2 sowie II.7) wirkmächtig dem yáng zugeordnet. So sind auch hier Körper und Leib präsent. Ruhe und Bewegung, Fülle und Leere. Dass ganze Töne ohne Eile nacheinander erklingen, verleiht der Musik die ihr eigene Klarheit und Gelassenheit, vergleichbar den Zeichen der Siegelschrift. Der kühl-temperierte Wesenszug der »ein-tönigen« Qín-Musik ist dafür verantwortlich, wenn Gedichte den Herbst als Jahreszeit der Qín beschwören. 188

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Abb. 21: Xi Kang mit der Griffbrettzither Auch der in den Tierspielen dem Herbst zugeordnete Kranich (siehe II.2) ist mit der Griffbrettzither liiert. Wenn Stille zwischen den Tönen nicht nur Ruhe in der Bewegung ist, wie Innehalten in der Lebenspflege, sondern signifikanter Teil des musikalischen Spiels aus Fülle und Leere, so ist auch die Praxis der Griffbrettzither nichts anderes als Meditation – »Klang der Stille«: Die »leisen«, »leeren« und »stillen« Töne sind drei der insgesamt 16 Arten von Tönen auf der Qín […]. Nachdem ein gegriffener Ton auf einer Saite angeschlagen worden ist, gleitet der Greiffinger zur Position eines neuen Tones, der nun ohne weiteren Anschlag erklingt. Je länger ein solches Glissando dauert

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oder je mehr Töne ohne weiteren Anschlag gespielt werden, desto leiser werden die Töne […]. Der Spielende jedoch fühlt die Töne mit seinen Fingern, verfolgt sie in Gedanken und hört sie innerlich weiter […]. Dass dem Zuhörenden nicht nur diese Töne entgehen, sondern auch die fühlende Verbindung zum Instrument, zum Ton und dessen Erzeugung fehlt, mag ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Qín nie ein Instrument zum Zuhören geworden ist. 203

Rhythmus. Das letzte Glied in der Reihenfolge dào–qì–Wind-Atem kommt zur Geltung, wenn es um Rhythmen geht: »Ein durchgehender Pulsschlag wird immer wieder unterbrochen, löst sich auf, verlöscht in einem Ausatmen.« 204 Hier wird von einem zeitgenössischen Qín-Spieler musikalischer Rhythmus mit dem Atemgeschehen verknüpft. Yihai, buddhistischer Mönch und Qín-Meister der Songzeit (960–1279), bezieht den Rhythmus der Musik auf Rhythmen der Natur, indem er zwei charakteristische Qín-Rhythmen in Naturbildern umschreibt: »Flackernd wie Sterne am Himmel – geordnet in stimmiger Bahn. [Gemächlich wie] fließendes Wasser – unentwegt, ohn’ Unterlass« 205. Beide Naturbilder suggerieren Bewegung in der Ruhe und umgekehrt – nicht anders als die Marmorschalen des Römischen Brunnen: »Und jede gibt und nimmt zugleich und strömt und ruht.« (siehe II.4). Enge und Weite. Als selbstvergessenes Spiel, so möchte man meinen, ist die Praxis der Qín am Weitepol angesiedelt: »Sobald ein Ton dein Ohr erreicht, verlassen die Sorgen dein Herz.« 206 Sobald ein Ton dein Ohr erreicht, reitet dein Herz auf den Tönen davon. Weitebegriffe wie chàng 暢 (ungehindert, frei, ausgelassen), tián 恬 (behaglich) oder shuǎngshén 爽神 (wohliger Geisteszustand) umschreiben in den Gedichten zur Qín die Befindlichkeit, die schon Xunzi unter dem Eindruck einer schönen Musik als Weitung (guǎng 廣) erfährt. Auch dürften Langsamkeit der Tonfolge und ausgedehnte Stille zwischen den Tönen Weitungstendenzen begünstigen. Der Spieler selbst pendelt bei schwebender Aufmerksamkeit um die Mitte zwischen den Extremen angespannter Konzentration (Enge) und Zerstreutheit (Weite). Einleibung liegt vor, wenn, wie im Zitat angedeutet, der Zwischenraum zwischen den »die Töne fühlenden Fingern« und dem »be-griffenen« oder »gefühlten« Instrument so minimal ist, dass keine Differenz mehr besteht. Das »Selbst« des Spielers, das Fingerspiel, das Instrument –

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6. Musik des Himmels, der Erde und der Menschen

alles ist eins. Nicht anders handhaben Schwerttänzer und Pinselkünstler ihr »Handwerkszeug«. Zeit- und Sinnhorizont. Die Erfahrung reiner Dauer/schlichter Gegenwart beim Zitherspiel dürfte Bo Juyi (772–846) zu seinem Gedicht »Zitherspiel abends im Boot« inspiriert haben: Vögel ruhen, Fische unbewegt Mondglanz auf dem Fluss, tief die Nacht Um mich herum – kein Tun Nur das Griffbrettspiel im Boot Die sieben Saiten sind mir lieb geworden Die Ohren verstehen die Musik Leise Töne – still das Herz. Dazwischen: kein Gestern und kein Heut. 207

So ist auch der Qín-Spieler unterwegs zu sich selbst, unterwegs zum dào, und der Botschaft aufs Wort zu glauben: Nur wer das dào erfahren hat, mit dem lässt sich reden über Musik. Wen aber, wie Meng Jiao (751–814), das Nachdenken über Leben und Tod bis ins Alter beunruhigt, dem können die Töne der Qín – »kühl hallt es durch die Zweige herauf« – für den Moment des gegenwärtig gelebten Augenblicks »den Sinn von Himmel und Erde erweisen«. 208 Spiel mit der Lebenskraft. Das Zitherspiel als gekonnter Umgang mit dem qì kommt schon im Titel vieler Stücke zum Ausdruck. »Das klare qì von Himmel und Erde« heißt eine Musik, die Xi Kang (223–262) zugeschrieben wird. Auch das Stück »Lange Klarheit« bezieht sich auf die Klarheit des qì von Himmel und Erde. 209 Wo qì manifest wird, ist der Wind nicht weit, der über die Saiten streicht, so dass der Qìn-Spieler gar nicht erst die Finger bemüht, nur lauscht, weil die Töne »von selbst erklingen« (zì yǒu-shēng 自有聲) 210. Dieser stillschweigende Einklang mit dem Lied der Erde, ja mit der Musik des Himmels, ist mit dem Dichter Tao Yuanming (365–427) 211 verknüpft, der auf einer Qín ohne Saiten spielt, mit der Leere, dem dào selbst musiziert. Atmosphärische Gestimmtheit und Medien der Resonanz. Rhythmus, Intensität und atmosphärische Gestimmtheit einer Musik über Naturatmosphären zu konkretisieren, ist noch im sechzehnten Jahrhundert 191

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Anliegen einer Sammlung von Qín-Stücken. 212 Jedes Blatt der insgesamt 34 Holzdruck-Illustrationen zeigt in der oberen Hälfte eine Naturszene, einen flatternden Schmetterling oder einen sprudelnden Quellbach. In der unteren Hälfte folgt in Versen die Bildbeschreibung. Die atmosphärische Gesamtsituation wird in der Überschrift jedes Mal mit shì 勢 angekündigt, mit jenem Wortzeichen also, das im Kontext von Kalligraphie, Malerei, Dichtung und Kriegskunst ein machtvolles situatives Geschehen bezeichnet. Die poetische Bildbeschreibung im unteren Teil ist, analog der Liedanfänge im Buch der Lieder, mit dem Wortzeichen xìng 興 (Aufbruch/Einstimmung/Evokation) überschrieben (siehe II.4). In den folgenden drei Beispielen, die als Praxiseinheiten dienen, wird über Natur- und Tierbilder angedeutet, wie das Stück jeweils zu spielen sei: Die Szene (shì 勢) vom Schmetterling, der über der Blüte schwebt Evokation (xìng 興): Schmetterling, der über einer Blüte in der Luft zu stehen scheint, dabei leicht mit den Flügeln flattert, so dass sich die Blütenblätter sanft und weich bewegen. Er scheint wegfliegen zu wollen, fliegt aber nicht, scheint verweilen zu wollen, verweilt aber nicht. 213

Offenbar geht es darum, Flageolett-Töne in ganzen Eindrücken zu illustrieren: So wie der Schmetterling kaum die Blüte berührt, sollen die Finger durch sanftes Aufsetzen die Saiten in Teilschwingung versetzen. Auffallend an dieser Evokation ist neben Rhythmus (flattern) und [zarter] Intensität die Umschreibung der Ruhe in der Bewegung und der Bewegung in der Ruhe. Zugleich wirkt ein Widerstreit der Kräfte, die um die Mitte ringend ausbalanciert sind. Das zweite hier ausgewählte Beispiel gibt Anweisung zu Tonspiel und Tonwiederholung: Die Szene (shì 勢) des sprudelnden Quellbaches in einem dunklen Tal Evokation (xìng 興): Einsame Schlucht – dunkel und tief. Kühler Quell fließt von oben hinein, gurgelt und sprudelt über den Fels, zwitschernde Wasserperlen. 214

»Gurgeln und Sprudeln«, »Zwitschern der Wasserperlen« evozieren, über Tonwiederholung als fortlaufende Bewegung hinaus, Varianten von Rhythmus und Intensität. Das dritte und letzte Beispiel zeigt ein Phönixpaar im gemeinsamen Tanz und Gesang (siehe Abb. 22 215). Es veranschaulicht das fein 192

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koordinierte Spiel der beiden Hände, Resonanz und Einleibung. Das Bild zeigt die Vögel im Flug über hohe und steile Felsen: Die Szene (shì 勢) vom Phönixpaar in harmonischem Gesang Evokation (xìng 興): Phönixmännchen kreist über hohen Bergesspitzen; Phönixweibchen schwebt über aufgetürmten Bergesgipfeln. Beide von gleicher Art. Harmonie ihr Gesang – im Trällern und Trillern. 216

Außer Resonanz zwischen innig aufeinander abgestimmten Fingerund Handbewegungen schwingen in dieser musikalischen Situation weitere Assoziationen mit, allen voran die dem Phönix zugeschriebene wundertätige Wirkkraft. Auch an die Kunst der Erotik, von Anfang an Teil der Lebenspflege, erinnert das Bild, denn eine der Beischlafpositionen lautet: »Die Phönixe tanzen zu zweit«. Das Wortzeichen für Phönix fèng 鳳 – mit dem Sinnelement »Wind« (風) geschrieben und wie »Wind« (fēng) ausgesprochen (abgesehen vom Ton) – suggeriert schwebende Leichtigkeit, wenn nicht Hochstimmung als synästhetische Anmutung dieser Illustration. Im Fēngshuǐ ist der Phönix der Farbe »rot«, dem »Süden«, »Sommer« und »Feuer«, dem yáng zugeordnet (siehe Tabelle 2 sowie II.7). Resonanz besteht als Einleibung des Instrumentes durch den Spieler in der »fühlenden Verbindung zum Instrument, zum Ton« (siehe oben). Die einbettenden Naturstimmungen der Notationen sorgen ebenso für Resonanz wie das folgende Gedicht von Bo Juyi (772–846), das die herbstlich getönte Atmosphäre von Abendstille beschwört, die er nur mit seiner Zither teilt: Abend am Teich – verwehender Wasserlilienduft. Blick aus dem Fenster auf Bambus im Herbst – gedankenverloren (yì-shēn 意深). Keiner, mir Gesellschaft zu leisten – nur meine Qín. 217

Nicht immer fehlen die Zuhörer, die »etwas von der Musik verstehen« (siehe oben) und Atmosphären der Stille und Einkehr mit dem ZitherSpieler teilen: Vom Wasser des Lu singt die Qín von Frauen aus Wu. Beim ersten Ton

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ist Stille eingekehrt. Alle schweigen in der Runde […]. 218

Die Titel der Musikstücke für Qín beschwören – nicht anders als BergWasser-Gedichte, Berg-Wasser-Bilder, Übungen der Lebenspflege, der Tierspiele – mit Vorliebe Naturszenen: »Abschied vom Sonnenpass«, »Ein betrunkener Fischer besingt den Abend«, »Nächtliche Blumen am Fluss unterm Frühlingsmond«. Andere Titel, wie »Die Rache des Niezheng«, erinnern an historische Begebenheiten oder spielen auf philosophische Themen an, wie »Zhuangzi und der Traum des Schmetterlings«. 219 Man ist geneigt, an Programm-Musik zu denken, die in der westlichen Musikgeschichte, vornehmlich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, äußere Geschehnisse tonmalerisch imitiert. Der musikalische Umgang mit Natur in der chinesischen Musik gehört einem anderen Kontext an. Wie in den Künsten des Qìgōng, Tàijíquán, der Tierspiele und Kampfkunst, der Dichtung und Malerei dienen Naturbilder der immer neu aktualisierten Einbettung des Einzelnen in die übergreifende Lebenswelt. Hier geht es nicht um Nachahmung und Erkenntnis, nicht einmal nur um Selbstausdruck: »Der Zugang zur Welt steht auf dem Spiel« (siehe II.5). Als Vorstellungskraft gemahnt die meditative Aufmerksamkeit yì 意 an die nicht zu vergessende Tatsache, dass der Mensch Teil der Natur ist. Sich darauf einzustimmen und einzuschwingen – darin sind sich alle einig, Musiker und Dichter, Kalligraphen und Maler, Meister der Lebenspflege – oft ein und dieselbe Person.

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Abb. 22: Notation »Phönixpaar«

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7. Qìgōng in Haus und Garten

Wer mit der chinesischen Kulturgeschichte vertraut ist, mag dazu neigen, die Praktiken der chinesischen Geomantik, chinesisch Fēngshuǐ 風 水 (Wind-und-Wasser), und die des Landschaftsgartens Shānshuǐ 山水 (Berg-und-Wasser) auseinanderzudividieren, das heißt, Ersteres mit seinem unverkennbaren Zusatz an Glaubensinhalten »magisch-sympathetischer« Art den unteren Schichten der Gesellschaft, Letzteres der aufgeklärten Gelehrtenschicht zuzuordnen. Auch hier lautet die Antwort paradox. Stimmt! Unbestritten ist die Herkunft des Fēngshuǐ aus dem Gräber- und Geisterkult, die des Shānshuǐ aus den königlichen und kaiserlichen Jagdparks. Stimmt nicht! Auch die magisch anmutenden Regeln des Fēngshuǐ dienen der Inszenierung wirkmächtiger Atmosphären: Ein in der Südwestecke des Wohnraums platziertes Aquarium mit Goldfischen soll »Geld ins Haus« bringen, denn yù 魚 (Fisch) ist gleichlautend mit yú 餘 (Überfluss), so dass Goldfische (jīn-yù 金魚) Gold im Überfluss versprechen. Auch kommt die Konstruktion herrschaftlicher Häuser mit ihren ausgedehnten Gartenanlagen ohne Fēngshuǐ nicht aus, und wer Konkretes erfahren will über das praktische Rüstzeug der Baumeister, greift auf Handbücher der Geomantik zurück. Selbst professionelle Gartenbauarchitekten der Späten Kaiserzeit hinterlassen »nur« poetisch und philosophisch ambitionierte Texte – sogar dann, wenn der Titel Technik verspricht. Eine Ausnahme ist Li Yu (1611–1680), der Alte Li mit dem Bambushut, wie er sich selber nennt, der uns in den Gärten weiter unten noch vielfach begegnet. Alte Bausubstanz ist in China kaum erhalten. Holz, Bambus, Stroh, Lehmziegel sind vergängliche Materialien und in höchstem Maße feuergefährlich, so dass Brandkatastrophen im Nu ganze Dörfer und Stadtviertel in Schutt und Asche legten. Aus dem Mittelalter erhaltene Häuser, Dörfer und Städte sucht man in China vergebens. Am ehesten geben Wandmalereien und Wandfresken in Gräbern sowie Grabbeigaben von Haus- und Gartenmodellen Auskunft über Haus- und Garten196

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bau. Für eine spätere Zeit illustrieren unzählige Malereien auf Papier, Fächern, Wandschirmen und Porzellan sowie Gebilde aus Horn und Elfenbein die traditionelle Haus- und Gartenkunst. Für beide gilt: »Was letztlich zählt, ist, wie ein Ort sich anfühlt.« 220 Um den Besonderheiten in Geschichte und Praxis von Fēngshuǐ und Shānshuǐ jeweils gerecht zu werden, sind beide nacheinander zu betrachten, einschließlich der Wechselwirkung, Überschneidungen und Bezüge zu den anderen Künsten.

Fēngshuǐ 風水 221 Historisches. Keines der zahlreichen Bücher zur chinesischen »Geomantik«, die hierzulande in Buchhandlungen Esoterik-Regale füllen, thematisiert den Ursprung dieser Raumkunst aus dem chinesischen Bestattungszeremoniell. Die Denkfigur fēng-shuǐ 風水 (Wind-und-Wasser) – erstmals in einem »Bestattungsklassiker« (zàng-jīng 葬經) aus dem dritten, vierten oder fünften Jahrhundert belegt – unterstellt, dass sich der Tote auf dem qì reitend [auf- und davonmacht]; qì [wiederum] verflüchtigt sich auf dem [Rücken des] Windes. Das begrenzende Wasser kann [in seiner Eigenschaft des (Sich-)Sammelns Zerstreuung] unterbinden. [Also] sammelten (jù 聚) die Alten die Lebenskräfte und verhinderten deren Zerstreuung (sàn 散). Daher die Bezeichnung »Wind-und-Wasser (fēng-shuǐ 風 水)«. 222

Schon im Zhuangzi wird konstatiert, dass ein Wesen ins Leben tritt, wenn qì sich sammelt und verdichtet, dass es stirbt, wenn qì sich zerstreut und verflüchtigt (siehe I.2). So verlangt der Umgang mit dem Verstorbenen als erstes die Lebens- respektive Atemprobe, d. h. den Nachweis, dass sich der Lebensgeist (hún 魂), auf dem Atem reitend, tatsächlich davongemacht hat. Drei Tage lang steigt ein naher Verwandter immer wieder auf das Dach des Hauses, um, nach Norden oder Nordwesten gewandt, den »Geist« des Verstorbenen zurückzurufen (zhāo-hún 招魂). 223 Bleibt er aus, gilt das als Zeichen des Todes, worauf Übergangsriten den Verstorbenen auf seinem Weg noch eine ganze Weile begleiten. Nach der Körperwaschung sind die Sinnesöffnungen mit Seidenwatte zu verschließen, denn im undifferenzierten Verweilen braucht der Tote weder Augen noch Ohren noch Mund. Nach weiteren zeremoniellen 197

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Schritten, die sich über Wochen erstrecken, folgt die erste Bestattung und eine nach verwandtschaftlicher Nähe abgestufte Trauerzeit. So ist anhaltende Kommunikation mit dem Verstorbenen ein Verbergen im Zeigen und umgekehrt: Die Bestattungsriten haben nur einen Zweck, den Unterschied zwischen Leben und Tod zu verdeutlichen, den Toten in Kummer und Ehrfurcht wegzuschicken […]. Deshalb wird man beim Begräbnis des Toten Gestalt in aller Ehrfurcht verbergen und beim Opfer dem Geist (shén 神) des Toten dienen. 224

Der Übergang vom Leben zum Tod ist allem voran ein Ortswechsel. Dem Toten gebührt eine neue Heimstatt, deren Lage ein FēngshuǐMeister mit dem Kompass bestimmt – nicht allzu fern den Hinterbliebenen, die auf nachhaltige Segnungen seitens des verstorbenen Clanmitgliedes angewiesen sind. »Grab und Grabhügel sind wie ein Haus«. Darin wohnt von nun an der Tote »im umfriedeten Raum« (siehe unten). Grabbeigaben, »die so aussehen, [als ob sie gebraucht würden, in Wirklichkeit aber] zu nichts taugen«, erinnern daran, dass der Tote nunmehr »einen anderen Weg geht« als die Lebenden. Ein knappes Jahrtausend nach Erscheinen des Bestattungsklassikers erfasst das enzyklopädische Interesse der Song-Dynastie (960– 1278) das Fēngshuǐ als ein geschlossenes System kosmologischer Bezüge. Der Umgang der Gelehrten mit Fēngshuǐ-Regeln scheint eher verschämt gewesen zu sein. Einerseits greift man darauf zurück; andererseits grenzt man sich dagegen ab wie Zhang Zai (1020–1077), Philosoph des Neokonfuzianismus: In den Bestattungsregeln gibt es Richtlinien zu Wind, Wasser und Bergen. Diese sollten nicht befolgt werden, widersprechen sie doch der Pflicht wie der Vernunft (yì-lǐ 義理). 225

Was Zhang Zai übersieht, sind Denk- und Erfahrungsfiguren, die sich beide, geomantische Raumkunst und gelehrte Gartenkunst, gleichermaßen zunutze machen. Mehr noch, wo letztere sich mit Anspielungen begnügen, da jeder weiß, wovon die Rede ist, sind im Fēngshuǐ Bezüge auf dem Kompass präzise expliziert – nach yīn und yáng, den Fünf Wandlungsphasen, Acht Trigrammen des Yijing, Zehn Himmelsstämmen, Zwölf Erdenzweigen, Zwölf Tierkreisen, Sonnen-, Mondhäusern und 108 Sternen. So gesehen zehrt das Fēngshuǐ von kosmologischen Resonanzen, die in der Frühen Kaiserzeit fester Bestandteil eines allgemein gültigen Weltbildes sind, von dem sich die songzeitliche Gelehr198

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tenschicht teilweise distanziert. Ein »Geomanten«-Kompass (siehe Abb. 23) gestaltet sich derart komplex, dass allein schon dieser schwindelerregende Anblick den Experten auf den Plan ruft, umso dringlicher, wenn Glück und Wohlstand davon abhängig sind. Abb. 23: Fēngshuǐ-Kompass

Der Fēngshuǐ-Kompass wirft die Frage auf: Wo bleibt das subjektive Spüren angesichts dieser irgendwie »berechenbaren« Zusammenhänge? Offen bleibt auch, wem die Fēngshuǐ-Experten und ihre Klienten im Zweifelsfalle mehr vertrauen, dem Tabellenrund oder dem intuitiven Gespür für Atmosphären aller Art. Auch hier dürfte die Antwort lauten »sowohl … als auch« und »je nach Situation«. Wie auch immer – die makro-mikrokosmisch verbandelten Kompass-Positionen sind 199

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nichts anderes als synästhetisch wirkkräftige qì-Qualitäten respektive qì-Verläufe in Raum und Zeit. Anders gesagt, auch die Kunst des Fēngshuǐ ist gekonnter Umgang mit der Lebenskraft, ist Qìgōng mit dem Kompass!

Gespürte Erfahrung Die im Fēngshuǐ gültigen Gestaltungsprinzipien für Haus und Garten, Dorf, Stadt und Land sensibilisieren für synästhetisch verknüpfte Befindlichkeiten und Atmosphären. Auffallend sind der Vorrang der Rundungen, das Lob der Abwechslung, die ausgleichende Mitte zwischen Fülle und Leere und nicht zuletzt die »U«-Befindlichkeit, die nach vorne offene, nach allen anderen Seiten hin geschützte Position. Vorrang der weichen, protopathisch 226 getönten Rundungen (yīn) bedeutet eine leicht verschobene Mitte hier auf Kosten von eckigen Formverläufen (yáng). Unterstellt ist, dass man sich stößt an Ecken und Kanten, während weiche Rundungen den Weitungs- und Entspannungsimpulsen des menschlichen Leibes großzügig Raum bieten (siehe I.5). In Kursiv- und Grasschrift verhält es sich genau umgekehrt: Vorrang der epikritischen auf Kosten der protopathischen Tendenzen (siehe II.5). So gesehen sind die südostchinesischen Rundhäuser und Runddörfer ebenso leibverwandt wie die schwungvoll nach oben gebogenen Dachgiebel, die seit der Songzeit (960–1278) die Dächer zieren. Die Landschaft, in der man sich auf Dauer niederlässt, soll weder von spitz aufragenden Bergen umgeben noch in eine monotone plane Ebene eingebettet sein. Günstig sind wellenförmige Hügel und Bodenerhebungen, die der Horizontalen verbunden bleiben, sowie protopathisch geschwungene Wasserläufe. Eine solche Landschaft bietet sanfte Bewegung in der Ruhe der umgebenden Natur. Lob der Abwechslung. Eine solche Landschaft stimmt auch mit dem zweiten Prinzip überein, der Abwechslung als einer Form der Bewegtheit. An den Häusern selbst dienen Vorbauten, Aufstockungen, Dachabstufungen dazu, Monotonie und Stagnation von qì zu vermeiden. Analog sorgen holzgitterverzierte Fensteröffnungen, Falten in der Mauer, die Haus oder Dorf rund oder viereckig umschließen, für Abwechslung. Auch variantenreiche Schichtungsmuster der Ziegelsteine 200

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7. Qìgōng in Haus und Garten

lockern Haus- und Dorfmauern auf. Lob der Abwechslung darf nicht in Unruhe ausarten, so dass auch hier Ausgewogenheit zu wahren ist. Im Haus dient der Austausch der Bilder dem Lob der Abwechslung, wenn Kalligraphie und Bild jahreszeitlich oder einem Gast zuliebe auszutauschen sind (siehe II.5) – Bewegung in der Ruhe. Mitte zwischen Leere und Fülle. Daran schließt sich unmittelbar die Forderung nach harmonischer Mitte an. Fülle als Überfrachtung und Sinnenreizung ist unbedingt zu meiden. Wiederum darf Mitte im Fēngshuǐ, genau wie in der Tusche-Malerei, zugunsten der Leere leicht verschoben sein. Das bedeutet z. B. nur ein Fenster in der langgestreckten Mauer, nur ein, wenn auch liebevoll ausgestaltetes Tor im Süden oder Südosten der Anlage, nur eine Malerei, eine Kalligraphie im Raum. U-Befindlichkeit. Was in hiesigen Fēngshuǐ-Büchern an prominenter Stelle zu erfahren ist, nenne ich die U-Befindlichkeit. Sie erinnert an neolithische Höhlen oder Hütten mit einer der Sonne zugewandten Öffnung nach Süden respektive Südosten, die auch für spätere Zeiten gilt. Gleichzeitig entspricht sie der räumlichen Anordnung der Vier Wirkkräftigen Tiere (siehe Tabelle 2) – im Osten – der bewegte Drache, im Süden – der Phönix, der die Weite sucht, im Westen – fokussiert und machtgebietend der Tiger und im Norden – der Schutz der gepanzerten Schildkröte. So gesehen hat die Stadt Hongkong – die Berge im Rücken/Norden und südwärts dem offenen Meer zugewandt – ihren Reichtum der Fēngshuǐ-gerechten Lage zu verdanken. Auch Genf, bedeutende Stadt am Ausfluss der Rhône aus dem Genfer See, erfüllt günstige Voraussetzungen einer Landschaft zwischen Rückhalt und Schutz bietenden Bergen im Hinterland und der Weite des Wassers. Dass die Alpen spitz (epikritisch) in den Himmel ragen, tut den Segnungen des Wohlstands offensichtlich keinerlei Abbruch. Auch weiß ein guter Fēngshuǐ-Experte immer Rat, wenn es darum geht, ungünstige und schädliche Aspekte zu neutralisieren. Liegen z. B. in einem Innenraum Tür und Fenster einander direkt gegenüber, besteht Gefahr, dass qí zur Tür hereinkommt und stracks durchs Fenster wieder entweicht. Dann hilft eine Kugel aus Kristall, qì umzuleiten, um den ganzen Raum zu beleben. Jeder beliebige Gang durch eine unserer eigenen Klein- und Altstadtbereiche beschert vielfältige Fēngshuǐ-Erfahrungen: abgerundete 201

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Häuserwände an Straßengabelungen und abwechslungsreiche Erkerund Fachwerkstrukturen. Fragen wir nach der U-Befindlichkeit in unserer eigenen Kultur, so kommt der Sessel mit Armlehne in den Sinn, der – allen postmodernen Designer-Möbeln zum Trotz – nach wie vor Inbegriff von Gemütlichkeit ist: Der Sitz im Sessel ist in diesem Zusammenhang besonders günstig, weil er schon von sich aus eine nahezu vollständige Umfriedung mit sich bringt. Rückenlehne, Sitzfläche und Armstützen umhegen den Rumpf nach allen Seiten außer nach vorn. 227

Der u-förmige Sessel ist also ausgesprochen Fēngshuǐ-gerecht, und es leuchtet unmittelbar ein, dass dieses Möbelstück als Urform des Wohnens gilt, um sich zu schützen gegen das abgründige und uferlose Draußen und im umhegten Raum Atmosphären des Vertrauens zu pflegen: »Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum«. 228 So kann Vers 11 des Daodejing, der die Leere des dào auch als Höhlung zwischen Wänden veranschaulicht (siehe I.1), zugleich Aufforderung sein, den Innenraum mit wohltuenden Atmosphären aufzuladen: »Man bohrt Türen, Fenster und schafft Raum (shì 室): Wo die Leere (wú 無) ist, liegt der Gebrauch des Raumes […].« Atmosphärische Fülle in der Leere.

Berg-Wasser-Garten Historisches. 229 Die Kunst, Anwesen und Gärten im Einklang mit Philosophie und den anderen Künsten zu gestalten, ist – wie könnte es anders sein – eine Erfindung der Gelehrtenkultur. Historische Vorläufer sind in vorchristlicher Zeit die Jagdparks der zhouzeitlichen Könige, nach der Reichsgründung die der Kaiser. Schon Huangdi, der Gelbe Kaiser, soll im westlich gelegenen Kunlun-Gebirge, dem altchinesischen Weltenberg, in »hängenden Gärten« (xuán-pǔ 懸圃) residiert und ebenso legendäre Persönlichkeiten, wie König Mu und die Königinmutter des Westens, auf der Terrasse am Jadeteich gastfreundlich bewirtet haben. Die späteren quadratischen Anhöhen, die Gewässer, die sich durch die Gärten schlängeln, sind so gesehen nichts anderes als Zitate aus dem mythischen Gedächtnis. Ein anderes Motiv, das die Gartenkunst in ihren Anfängen geradezu beflügelt, sind drei paradiesische Inselberge, die im Meer östlich des 202

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7. Qìgōng in Haus und Garten

chinesischen Festlandes gesichtet wurden. Hier wohnen die gefiederten Unsterblichen (xiān-rén 仙人), und von dort will der Erste Kaiser das Kraut der Unsterblichkeit herbeischaffen lassen. Im Ausdruck für Gartenkunst schlechthin yī-chí sān-shān 一池三山 (ein-Teich-drei-Berge) sind programmatisch der Jadeteich (yù-chí 玉池) des Gelben Kaisers und die Berginseln der Unsterblichen enthalten. Hier ist zugleich die Freude des Konfuzius am quirligen Wasser und an der Beständigkeit der Berge wirksam in Szene gesetzt (siehe I.3). Sowohl im Zeichen für die Gärten des Huangdi (pǔ 圃) als auch im späteren Zeichen für den Gelehrtengarten (yuán 園) ist die Umfriedung 囗 graphisch angedeutet. Schon die königlichen und kaiserlichen Jagdparks sind (politisch-religiös) überhöht. Als Orte, an denen kaiserliche Jagden stattfinden und für herrschaftliche Bedürfnisse Feldbau, Sammelwirtschaft, Fischfang und Tierzucht betrieben wird, sind sie Symbol zugleich der Ausschließung und Beherrschung der wilden Natur und damit Garant der geordneten Welt. Steinabreibungen und Wandmalereien in kaiserlichen Mausoleen zeigen, dass von Anfang an natürliche Gegebenheiten weitläufig genutzt sind. Dies gilt auch für den späteren Gelehrtengarten, zumal diese Neigung dem daoistisch inspirierten Gestaltprinzip des Von-selbst (siehe I.1) entgegenkommt. Das schließt nicht aus, dass, wie im Fēngshuǐ, aus pragmatischen Gründen auch kräftig nachgeholfen wird. Naturgetreue Ab- und Nachbildung ist ohnehin nicht Anliegen der Gelehrtenkultur – weder in der Philosophie noch in der Tuschemalerei noch im Garten, denn auch »falsche Berge« (jiǎ–shān 假山) und künstlich angelegte Wasserläufe treten atmosphärisch wirkungs-voll in Erscheinung und sind somit »gleich-gültig« 230 echt. Zunächst sei von vier Gelehrtenpersönlichkeiten die Rede, die in den Anfängen des Gelehrtengartens zur Ausschmückung dieser Art Bewegungskunst entscheidend beitragen: Shi Chong, Wang Xizhi, Tao Yuanming und Xie Lingyun. Shi Chong (249–300), Günstling des Jin-Kaisers Wu, verbringt im Jahre 296 mit etwa dreißig Literatenbeamten ein paar gesellige Tage auf seinem Landsitz am Goldtalbach, zehn Kilometer nördlich der Hauptstadt Luoyang. Etwa dreißig Persönlichkeiten des gelehrten Beamtentums, eine hochrangige Gesellschaft, vergnügt sich ausgiebig auf Spaziergängen, bei Wein, Zither- und Mundorgelspiel und – beim Verseschmieden. Angesichts der »Vergänglichkeit des Lebens« (mìng zhī bù yǒng 203

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

命之不永) sieht sich der Gastgeber veranlasst, die poetischen Ergüsse dieses Zusammenseins von eigener Hand abzuschreiben und der Gedichtsammlung ein Vorwort voranzustellen, in dem es unter anderem heißt: Ich habe einen Landsitz […] mit Anhöhen und Niederungen, klaren Quellen und üppigem Waldbestand, Obstbäumen, Bambus, Zypressen und allen möglichen Heilkräutern sowie fruchtbares zehn qǐng 頃 231 umfassendes Land, zweihundert Schafe, Hühner, Schweine, Gänse und Enten […]. Auch fehlt es nicht an einer Wassermühle, einem Fischteich, Lösshöhlen – alles ist vorhanden, was Auge und Herz erfreut […]. Tag und Nacht streiften wir im Freien herum, speisten und tranken, immer wieder die Plätze wechselnd, sei es um einen Hügel zu besteigen oder uns am Wasserufer niederzulassen […]. Dann sollte jeder ein Gedicht verfassen, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Wem das nicht gelang, der bekam zur Strafe drei Scheffel Wein zugeteilt. 232

Wang Xizhi (321–379). Kaum sechzig Jahre später tritt Wang Xizhi, Phönix der Kalligraphie (siehe II.5), in die Fußstapfen des Shi Chong und lädt zum letzten Frühjahrsmonat im Jahre 353, anlässlich der Reinigungszeremonien, zum berühmten Treffen am Orchideenpavillon (lán-tíng 蘭亭). Auch Wang Xizhi schreibt ein Vorwort zu den unter seiner Regie verfassten Gedichten: Alle herausragenden Männer, Jung und Alt, waren versammelt. Der Ort liegt inmitten hoch aufragender Berge, dichter Wälder und lichter Bambusbestände. Der klare, im Dahinfließen aufschäumende [Bach] spiegelte die Umgebung. Wir verteilten uns entlang seiner Windungen zum [Spiel der] schwimmenden Trinkbecher […]. Auch wenn Saiten- und Bambusinstrumente fehlten zur letzten Vollkommenheit, genügte doch ein Becher [Wein] oder eine Deklamation, um dem tiefen Empfinden freien Lauf zu lassen. 233

Zum Spiel der »schwimmenden Becher« (liú–shāng/liú-bēi 流觴/流杯) verteilen sich die Freunde entlang des Ufers, den Mäandern des Flusses folgend. Jedes Mal, wenn sich ein Becher im Ufergestrüpp verfängt, ist die Person in nächster Nähe aufgefordert, ein Gedicht zu verfassen, unter Androhung einer Strafe von drei Scheffel Wein – genug, um bald davon, jenseits von Maß und Mitte, trunken zu sein. Wie sehr sich Wang Xizhi mit der von Shi Chong begründeten Tradition identifiziert, zeigen Analogien sowohl im Arrangement des Gelehrtentreffens als auch im Vorwort zur Gedichtsammlung. Eine Bemerkung im Shishuo Xinyu weist explizit darauf hin: 204

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7. Qìgōng in Haus und Garten

Wenn Wang Xizhi erfuhr, dass jemand sein »Vorwort zur Gedichtsammlung vom Orchideenpavillon« mit Shi Chongs »Vorwort zu den Gedichten des Goldbachtales« verglich […], sah er höchst zufrieden aus. 234

Wang Xizhis Originalkalligraphie ist längst verloren gegangen. Doch bewahrt das Palastmuseum von Beijing eine Kopie seines Vorwortes, die Feng Chengsu, Minister unter dem Tang-Kaiser Taizu (626–649), zugeschrieben wird. Die Landschaftsmalerei hat sich wiederholt der Schwimmenden-Becher-Szene angenommen, so dass auch hier die Wechselwirkung von Pinsel-, Garten- und Dichtkunst zum Tragen kommt. Tao Yuanming (365–428), einer der berühmtesten Dichtergestalten Chinas, zugleich begnadeter Qín-Spieler (siehe II.6), personifiziert wie kein anderer den Rückzug des Beamtengelehrten auf seinen Landsitz, wenn es die Umstände gebieten und erlauben. Viele seiner Gedichte sind mit Heimkehr, mit den Freuden und Schicksalsschlägen der Landarbeit, mit Weingenuss und Rückzug in der Suche nach dem dào befasst: Den Menschen nah schlug ich die Hütte auf; und doch dröhnt hier kein Wagen, lärmt kein Pferd. Und wenn du fragst, woher das kommen mag: Mein Herz macht auch die Wohnstatt abgekehrt. Ich pflücke still am Ostzaun Chrysanthemen, seh’ nach dem Südberg am entlegenen Ort. Des Berges Hauch so schön im Abendlicht; in Scharen zieh’n die Vögel heimwärts fort. Und in dem allen liegt ein tiefer Sinn (zhēn-yì 真意). Ich will ihn sagen – und vergaß das Wort (wàng yán 忘言). 235

Tao Yuanming hat das Motiv des Paradieses, als Vorbild für den Garten, in seinem Text zum Pfirsichblütenquell so folgenreich gestaltet, dass sich der Ausdruck shì-wài táo-yuán 世外桃源 (Pfirsichblütenquelle außerhalb dieser Welt) bis heute auf einen magisch-schönen Ort bezieht. So ist das Paradies – unberührt von den Unzulänglichkeiten und Machenschaften der Welt – auch mit dem Rückzug aufs Land verknüpft. Ob Tao Yuanming dabei das Daodejing, den schon zitierten Vers 47 (siehe I.2), im Sinn hat, sei hier dahingestellt: Tritt man nicht vor die Tür, erkennt man, was unter dem Himmel ist. Schaut man nicht aus dem Fenster, erblickt man das dào. Je weiter man weggeht, desto weniger erfährt man.

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

So bewegt sich der Vorbildliche (shèng-rén 聖人) nicht fort und weiß doch um alles. Er sieht nichts und benennt doch alles. Er greift nicht ein (wú-wéi 無為), und doch vollendet sich alles. 236

Xie Lingyun (385–433). Gilt Tao Yuanming als Meister der Feld- und Gartendichtung (tián-yuán–shī 田園詩), so sein Zeitgenosse Xie Lingyun als Meister der Landschaftsdichtung (shān-shuǐ-shī 山水詩). Auch Xie Lingyun repräsentiert mit seiner Dichtkunst, Kalligraphie und Malerei die Mehrfachbegabung der Gelehrtenkultur. Wie viele seiner Zeitgenossen ist er zugleich »begeisterter Bergwanderer, der für diese Tätigkeit spezielle Schuhe entwirft« 237. Obwohl »auf guten Füßen« unterwegs, ist seinem Rückzug in die Berge weniger Glück beschieden als Tao Yuanmings Rückzug aufs Land. Die im Exil verfasste Poetische Beschreibung des Lebens in den Bergen (Shanjufu) zeigt ihn hin- und hergerissen zwischen Amtspflichten und Selbstverwirklichung. 238 Für die Verfeinerung der Gartenkunst unter der wiedervereinigten Tang-Dynastie (618–906) wie für andere Bereiche der Gelehrtenkultur stehen herausragend zwei Persönlichkeiten: Wang Wei und Bo Juyi. Beide dichten, kalligraphieren, spielen die Qín und sind dem Buddhismus zugetan. Beide leiden unter Intrigen und Machenschaften des Beamtenlebens. Wang Wei (siehe II.4) zieht sich vorzeitig aus den Gefährdungen des Beamtenlebens zurück, Bo Juyi verbringt fünf Jahre im Exil. Wang Wei (701–761). Als Wang Wei im Bergtal des Wang-Flusses einen verfallenen Landsitz erwirbt, leiten ihn beim Wiederaufbau buddhistische Vorstellungen, die sich in seinem Gedichtzyklus »Ansichten des Wang-Flusses« aus zwanzig Strophen niederschlagen. An fünfter Stelle findet sich das oben interpretierte Erleuchtungsgedicht, die Ansicht »Am Hirschgatter« (s. II.4). Auf Bitten eines befreundeten Abtes setzt Wang seine poetischen »Ansichten« im nahe gelegenen Kloster auch als Wandmalerei in Szene. Spätestens damit wird er zum Trendsetter der Bilddichtung (siehe II.5). Was Su Shi (1037–1101) später »Poesie in der Malerei und Malerei in der Poesie« nennt (siehe II.5), geht über die formale Präsenz von Versen auf Gemälden hinaus: Kommt »Dichten« von »verdichten«, dann sind chinesische Gedichte im Verweisungsreichtum, bei extremer Sparsamkeit von Worten, so »dicht«, dass vor dem inneren Auge mit jeder Verszeile tatsächlich ein Bild entsteht:

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7. Qìgōng in Haus und Garten

Flötenspiel auf der Fahrt ans andere Ufer. Beim Untergang der Sonne heißt es Abschied nehmen! Noch einmal schweift der Blick zurück über den See. Die blauen Berge eingerollt in weiße Wolken. 239

Bo Juyi (772–846). Das Interesse am Buddhismus mag auch Bo Juyi bewegt haben, den Aufenthalt im eigenen Garten als meditative Praxis »auf dem Weg« zu schätzen, weniger als Vergnügen an geselligen Freudengelagen wie noch Shi Chong oder Wang Xizhi. So plädiert Bo Juyi für Schlichtheit und Bescheidenheit bei größtmöglicher Naturbelassenheit des Terrains und gestaltet seine eigene Gartenanlage in Übereinstimmung mit diesem daoistisch-chán-buddhistischen Ideal. Seit Bo Juyi kennzeichnet die einfache Strohhütte inmitten urbaner Parkanlage den shì-yǐn 市隱, den »städtischen Eremiten«, dem die ausgleichende Mitte zwischen Geschäftigkeit im Amt und »Schrebergarten« gelingt. Den terminus technicus für diese Variante des Sowohl verborgen als auch sich zeigend prägt Bo Juyi in seinem gleichnamigen Gedicht »Rückzug der Mitte« (zhōng-yǐn 中隱): Der große Rückzug findet am Hofe statt, [mitten] im urbanen Leben. Der kleine Rückzug sucht im Gebirge umgeben von Palisaden [den abgelegenen Ort]. Berge und Palisaden: eintönig und [den Menschen] fern. Hof und Stadt: umtriebig und laut. Besser scheint mir der Rückzug der Mitte zu sein: Verborgen und doch in Amt [und Würden …]. Weder Müßiggang noch Betriebsamkeit, weder geistige (xīn 心) noch körperliche (lì 力) Plag’, weder Hunger noch Kälte leidend. 240

Zwei weitere unverzichtbare Gartenelemente gehen auf Bo Juyi zurück: der Bambus, sein Lieblingsbaum, und die Steine, deren Ästhetik er eine eigene Abhandlung widmet. Gelehrte der Mittleren Kaiserzeit (10–13. Jh.) gründen mit ihrem Selbstverständnis so offensichtlich in der frühen Gelehrtenkultur, dass spätere Kunstäußerungen vielfach nichts anderes sind als Zitate. Shen Kuo (1031–1095), die Wasserszenen und »Zehntausend Bambusstämme« der Gartenanlage schildernd, die er sein eigen nennt, beruft sich in seiner »vollkommenen Zufriedenheit« auf den Lebenskünstler Tao Yuan207

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

ming und fasst das Gelehrtenideal in einem Satz noch einmal zusammen, bevor es in der Späten Kaiserzeit zu einem Verschnitt, wenn nicht Epigonentum verkommt: Ich gebe mich Dingen hin, die meiner Stimmung entsprechen: der Zither, dem Schach 241, dem Chan, der Tuschekunst, der Alchimie, dem Tee, der Rezitation von Gedichten, dem Gespräch, dem Wein, und ich nenne diese [meine] neun Gäste. 242

Genuss von Tee – von Shen Kuo hier noch vor dem Wein genannt, der die frühkaiserzeitlichen Gelehrten in ihren Mußestunden begleitet – entwickelt sich in der Songzeit zu einer Zeremonie, die heute noch in Japan, wenn auch auf eigene Weise, praktiziert wird. Als Tee-Weg (chádào 茶道, japanisch chadō) ist Teegenuss spätestens seit der Songzeit fester Bestandteil der Chán- und Gelehrtenkultur. Kaiser Huizong (1105–1125), begabt in allen Künsten außer vielleicht der Kunst des Regierens, ist unternehmungsfreudiger Gartenliebhaber, lässt Parkanlangen aufwendig renovieren, neue konzipieren, seltene Pflanzen und Steine aus der Umgebung heranschaffen, die von einem eigens dazu vorgesehenen Amt zu verwalten sind: Ausgesuchte Steine und Felsen sollen als natürliche Berge die »falschen Berge« aus bloßer Erde verdrängen – ein Aufwand, der in besonders krasser Weise das Paradox »absichtsvoller Natürlichkeit« veranschaulicht. Auch Mi Fu (1051–1107), hoher Beamter, Musikliebhaber, Kalligraph, Tuschemaler, betreibt die Suche nach ungewöhnlichen Steinformationen und begrüßt einen seiner imponierendsten »felsigen« Funde als »Großen Bruder«: »Seit zwei Dekaden versuche ich, dir zu begegnen!« 243 Steine und Felsbrocken für die kaiserlichen Anlagen sind zum Teil so riesig, dass für den Transport nach Kaifeng, der Metropole der Nördlichen Song-Dynastie, Stadttore und Brücken niedergerissen werden. Mit dem Transport verknüpft sind Arbeitsdienste, die erst recht den Unmut der Bevölkerung schüren. Anhaltende Volksaufstände und der Einfall der Jurchen besiegeln das Schicksal des wohl kunstsinnigsten unter den Kaisern Chinas. Bis heute berühmt sind die Gärten von Hangzhou und Suzhou, südlich des Langen Flusses, wohin sich die Song-Herrschaft 1127 vor dem Ansturm der Jurchen flüchtet. Der wasserreiche Süden – mit unzähligen Flüssen und Kanälen, dem Westsee in Hangzhou, dem Dongting-See bei Suzhou, dem Taihu in Wuxing – ist für ausgedehnte Gartenanlagen wie prädestiniert. Bis heute ist der Ausdruck yǒu–shān 208

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7. Qìgōng in Haus und Garten

yǒu–shuǐ 有山有水 (Es gibt Berge und Wasser) neben dem »Pfirsichblütenquell außerhalb dieser Welt« (siehe oben) das Lob für eine atmosphärisch wirkungsvolle Landschafts- oder Gartengestaltung. Späte Kaiserzeit. Spätestens über Marco Polo (1254–1324) kommt Kunde von der chinesischen Gartenkultur nach Europa. Aus verschiedenen Quellen ist zu erfahren, dass Arrangements der Mittleren und Späten Kaiserzeit zunehmend absichtsvollen und künstlichen Gestaltungen den Vorrang einräumen – auf Kosten von Spontaneität und Natürlichkeit. So behauptet Shen Fu (1763–?), dass die »künstlichen Berge« um den Löwenwaldtempel herum einem »wirren Abfallhaufen« gleichen »ohne [jene] Energie, welche die natürlichen Berge und Wälder belebt« 244. Schon die Bezeichnung »Löwenwaldtempel« spielt darauf an, wie bizarr diese Steingebilde sind, die aussehen wie Löwen. Bei aller spätkaiserzeitlichen Neigung zu Manierismus und Stereotypie stehen bis heute die Namen von Suzhou, Yangzhou, Wuxi, aber auch Nanjing, die südliche Hauptstadt, für die schönsten Gärten im Reich der Mitte. Unter der Qing-Dynastie (1644–1911/12) hat eine zunehmende Bevölkerung die Gärten auf ein demographisch verträgliches Maß zurechtgestutzt. Die Rede vom Garten als »Kosmos in einer Kalebasse« (hú-zhōng tiān-dì 葫中天地), als »[Weltenberg Su]Meru in einem Senfkornsamen« (jiè-zi nà xū-mí 芥子納须彌) 245 kommt der Realität näher als je zuvor. 246 Was damals rasch Verbreitung findet und über Japan als Bonsai auch den Westen erreicht, ist in China schon für das 7. Jahrhundert als Miniaturlandschaft auf einer Schale pén-jǐng 盆景 arrangiert nachgewiesen. Für diesen Vorläufer unserer Topfpflanzkultur ist in der kleinsten Hütte Platz. Die spätkaiserzeitliche Professionalisierung der Wohn- und Gartenarchitektur repräsentiert kein anderer besser als Li Yu (1611–1680). Verarmt und ohne Beamtentitel sieht sich »der Alte mit dem Bambushut« immer wieder Geldnöten ausgesetzt und gezwungen, Gärten für andere Leute anzulegen. Professionalisierung der Haus- und Gartenkunst ist Li Yu demnach ein Anliegen in eigener Sache. Gleichzeitig scheint er einer der letzten authentischen Vertreter einer künstlerisch umfassenden Gelehrtenkultur zu sein. Li Yu war nicht nur Gartenkünstler, sondern auch Musiker und Dichter, Verfasser von Erzählungen und Romanen, Opern- und Stückeschreiber und zugleich Direktor einer aus Familienmitgliedern bestehenden Theatergruppe. Zum Thema Gartenkunst liegt von Li Yu das Xianqing ouji 閒情偶 209

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

奇 (Verweilen in Atmosphären der Muße) vor, eine Zusammenstellung von Einzelabhandlungen, die eines verbindet – ihr Beitrag zur Verfeinerung (yǎ 雅) des Wohnens in Haus und Garten: »Dabei geht es weniger um praktische Anleitung als um Hinweise, die dem Leser ein Gespür vermitteln, was zu tun und was zu meiden sei.« 247 Das Xianqing ouji ist eine Fundgrube für Gestaltungsprinzipien der Gartenkunst in einer Epoche, in welcher der Niedergang der klassischen Gelehrtenkultur nicht mehr zu übersehen ist. Die bewusste und eigenhändige Gestaltung von Atmosphären in Haus und Garten als kreativer Beitrag zum kosmogonischen Geschehen ist schon lange nicht mehr selbstverständlich gelebter Alltag, nicht einmal mehr der Gebildeten. Sonst hätte es nicht der Experten bedurft. Hinzu kommt, dass neue Schichten der Gesellschaft danach drängen, Rang und Prestige öffentlich Ausdruck zu verleihen, zumal Beamtentitel inzwischen käuflich zu erwerben sind. Das erklärt zum Teil, warum Li Yu neben philosophischen Erörterungen bei äußerst praxisbezogenen Details verweilt, die man in früheren Texten vergeblich sucht. Li Yus Anweisungen sind mit den praktischen Aspekten der älteren Landschaftsgestaltung zusammenzubringen, wenn nach Indizien gespürter Erfahrung in der Gartenkunst der Gelehrten gesucht wird.

Gespürte Erfahrung in der Gartenkunst Ruhe-und-Bewegung ist als Erfahrungsfigur vielfältig angedeutet, sei es im Nacheinander oder im paradoxen Sowohl-als-auch. Schon im unverzichtbaren Miteinander von Bergen (Ruhe) in Gestalt von Erd- und Steinaufhäufungen und gewundenen Wasserläufen (Bewegung). Auch Spazierengehen, das Wandeln zwischen Blumen, Pflanzen, Bäumen und Steinen, die zum Verweilen einladen in beschaulicher Betrachtung, ist Ruhe in der Bewegung und umgekehrt. Eine Variante von Bewegung in der Ruhe stellt sich ein, wenn im kontemplativen Ausblick auf die zuweilen weit gedehnte Gartenlandschaft (siehe Abb. 24 248) gemalt, kalligraphiert, musiziert und geplaudert wird bei Wein- oder Teegenuss.

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7. Qìgōng in Haus und Garten

Abb. 24: Gartenlandschaft Mitte. Wenn Su Shi (1037–1101) dem meditativen »Verweilen nah den Dingen« (yù yì yú wù 寓意於物) das alltägliche zweckbestimmte »Anhaften an Dingen« (liú-yì yú wù 流意於物) gegenüberstellt, 249 will er dem einen mit Hilfe des anderen entkommen. Anders gesagt, er sucht die Mitte zwischen Verstrickung (personaler Regression) und Distanz (personaler Emanzipation) (siehe I.4). Hier trifft sich Su Shi mit Bo Juyis »Rückzug der Mitte« zwischen Amt und Muße. Eine andere Mitte zwischen Luxus und bescheidenem Wohnen thematisiert Li Yu (1611–1680) als Ausgewogenheit zwischen allzu weitläufiger und beengter Räumlichkeit: Ich wünschte, dass die Wohnungen der Vornehmen nicht zu hoch und weitläufig (guǎng 廣) sind […]. Steigt man zur Halle eines Mannes von Rang hinauf, lässt das einen erschauern, auch wenn es gar nicht kalt ist. Das liegt an dessen Machtposition, aber auch an der Weiträumigkeit (kuò 廓), in der man sich verliert (liáo 寥). [Umgekehrt] sind eine schulterhohe Mauer und ein kniehohes Haus bescheidener als bescheiden. 250

Natürlichkeit. Nicht nur Menschen bedürfen der ausgleichenden Mitte zwischen Enge und Weite. Vögel im Käfig, Fische im Aquarium und Miniatur-Topflandschaften sind Li Yu zufolge Ausdruck unzumutbarer Engung. Wenn sie schon nicht zu vermeiden ist, so fordert er, sie möglichst so zu kaschieren, dass »die Spuren der Gefangenschaft nicht mehr sichtbar sind« 251. Spätestens hier stellt sich noch einmal die Frage nach 211

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

dem Verständnis von Natürlichkeit und Spontaneität, dem Von-selbstso-sein bei Haus- und Gartengestaltung. Wer wie wir in Europa als vorherrschende Denkfigur den Gegensatz von entweder (wilder) Natur oder Kultur gewohnt ist, tut sich besonders schwer mit dieser Variante des »Sowohl-als-auch«. Von Anfang an sind Berge und Wasserläufe bewusst gestaltet und künstlich angelegt. Natürlichkeit bedeutet in diesem Kontext offenbar nicht mehr und nicht weniger, als sich einzulassen auf die Umgebung. Genau das ist mit Borgen von der Landschaft (jiè-jǐng 借景) gemeint, nicht naturgetreue Imitation. Spontaner/natürlicher Umgang mit dem, was die Landschaft von sich aus bietet, bedeutet für Li Yu, einen Stein als Tisch zu verwenden, wenn er sich dazu eignet, oder einen knorrigen Ast als Fenstergitter. Das bedeutet, das Gegenüber der Landschaft, der Pflanze, des Steines in das kreative Gestalten respektvoll einzubeziehen. Das setzt Einfühlung und Einleibung voraus. Natürlichkeit heißt dann – neben Verzicht auf übertriebenen Aufwand, Luxus und Verschwendung –, »nah und mit den Dingen zu sein« 252 (siehe I.4). Bipolares Geschehen. Mit der Erfindung des für Boote gedachten »Fächerfensters« (siehe Abb. 25) 253 gelingen Li Yu gleich mehrere Gestaltprinzipien, das Sowohl-als-auch von Ruhe und Bewegung, Innen und Außen, Verbergen und Entdecken, Enge und Weite und nicht zuletzt »absichtslose Bilder« (wú-xīn-huà 無心畫) 254: Auf der linken und rechten Seite des Bootes gibt es nur zwei Fächer[fenster] […]. Sitzt man im Innern, treten beider Ufer See- und Bergszenerie im Fächer[fenster] in Erscheinung: Tempelanlagen und Pagoden, Wolken und Nebelschwaden, Bambus und [andere] Bäume bis hin zum Kommen und Gehen von Holzsammlern, Hütejungen, betrunkenen Alten, lustwandelnden Frauen, sogar Menschen, die Pferde führen. So sind mir die Fächer ein natürliches Bild, das sich dazu noch von Zeit zu Zeit verändert […]. Wenn der Wind weht und das Wasser sich bewegt, zeigen sich jeden Moment andere Gestaltungen. So kommt es, dass ein Tag hundert, tausend, zehntausend Bildrollen bester Landschaftsmalerei hervorbringt, die sämtlich vom Fächer[fenster] eingefangen werden […]. Dieses Fenster erfreut nicht nur einen selbst [innerhalb des Bootes], sondern auch die anderen [draußen]: Nicht nur treten unerschöpflich Landschaftsszenen in das Boot ein; zugleich sind die Menschen im Boot mitsamt allen Tischen, Matten, Bechern und Schüsseln den vorübergehenden und lustwandelnden Menschen zur vergnüglichen Betrachtung durch das Fenster von außen zugänglich. 255

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7. Qìgōng in Haus und Garten

Raumwirkung. Li Yus Erfindung verspricht Raumwirkung vielfältiger Art. Boot und Fächerfenster gewähren genussreiches Erleben sowohl von Innen als auch von Außen, erlauben den Insassen des Bootes, sich zu zeigen, sich zu verbergen, bieten wohlige Enge als Geborgenheit in der Begrenzung des Bootes und zugleich Blicke in die Weite der umgebenden Landschaft, U-Befindlichkeit par excellence. Umgekehrt erlaubt das auf dem Wasser treibende Boot den Passanten und Spaziergängern wechselnde Einblicke von Außen nach Innen. Differenz von Innen und Außen gestalten auch die gemauerten Einfriedungen von Garten und Haus sowie die Binnengliederung des Gartens. Wiederum zur Auflockerung, aber auch um Enge zu vermeiden und den Fluss des qì nicht zu behindern, sind in den Mauern der Gartennischen Fensterdurchblicke vorgesehen und Tore, kreisrund als Vollmond geformt oder schwungvoll gewölbt als Kalebasse. Entkommen aus dem Innen ins Außen, aus der Enge in die Weite erlauben nicht zuletzt Blicke und Schritte aus den begehbaren Steinaufhäufungen. Auch das Borgen von der Umgebung (siehe oben) ist ein Sowohl außen als auch innen, indem das ursprünglich Ferne und Weite in unmittelbarer Nähe der Wohnstatt bereitgestellt wird. In der Späten Kaiserzeit kommt es mehr und mehr darauf an, die sich entfernende Natur in die Lebensräume hereinzuholen. So will Wang Shimou (ca. 1587) auch nicht einen Tag auf blühende Zweige in der Vase verzichten, und Li Yu lässt Frauen und Kinder am Essen und im Winter an der Kohle sparen, »um Blumen und Bambus zu erwerben«. 256 Rückzug vs. gesellschaftliches Engagement, Variante des Sich-Verbergens und Sich-Zeigens, durchzieht seit Bo Juyi (772–846) die Gartenkunst wie ein roter Faden. Mit der Figur des »Rückzugs der Mitte« gelingt ihm und manchem Nachahmer die Versöhnung beider Tendenzen, die bereits in der altchinesischen Philosophie paradigmatisch vorgezeichnet sind: gesellschaftspolitisches Engagement (Konfuzianismus) vs. Einklang mit der Natur (Daoismus). Gefühlsatmosphären. Schon der Titel des Buches von Li Yu (1611– 1680): »Verweilen in Atmosphären der Muße« sieht programmatisch emotional aufgeladene Situationen (qíng 情) vor. Auch im Vorwort des Freundes heißt es, dass seit den Riten der Zhou (Zhouli) der »Königsweg in den rén-qíng 人情 wurzelt«, in den menschlichen bzw. zwischenmenschlichen Gefühlen und Situationen. 257 213

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

Li Yu erweist sich als Meister im Schaffen von Gefühlsatmosphären in Wohn- und Gartenräumen und hält konkrete Handlungsanweisungen bereit. Auch hier ist vorausgesetzt, dass Eigen-Sinn und EigenRhythmus der Wesen und Dinge in ihrem Sosein und ihrem Zusammenspiel zu erfahren sind und dieses Resonanzgeschehen in die Raum- und Zeitgestaltung eingeht. An Gestaltverläufen und synästhetischen Charakteren, die Atmosphärisches transportieren, nennt Li Yu: horizontale, vertikale und diagonale Bewegungsrichtungen, runde, recht- und viereckige, gerade, krumme und bauchige Formverläufe, Symmetrie und Asymmetrie, Licht und Schatten, Farbreichtum von Blumen und Blättern, Vielfalt der Düfte und Vogelgesang, um alles zu seinem Lebensrecht kommen zu lassen und auch nicht einen einzigen Augenblick dieses Zusammenspiels zu versäumen: Nachts gehe ich nach den Blumen zu Bett, morgens stehe ich vor den Vögeln auf, da ich fürchte [auch nur] einen Ton, eine Farbe aus Versehen zu versäumen. Und wenn es dann so weit kommt, dass die Buntgefiederten alt werden und die Blumen verwelken, bin ich bedrückt, als hätte ich einen Verlust erlitten. 258

Aus alledem eine Situation zu gestalten am rechten Ort zum rechten Zeitpunkt, so dass »Mensch und Ort sich harmonisch zusammenfügen« (rén-dì xiāng-yí 人地相宜) 259 – nichts anderes ist Lebenspflege – als Gesunderhaltung der eigenen Natur durch »Verwirklichung von Freude« xíng-lè 行樂 260; – als Achtsamkeit gegenüber der umgebenden Natur in all ihren Manifestationen und Facetten.

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7. Qìgōng in Haus und Garten

Abb. 25: Fächerfenster

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Exkurs: Ruhe im Alltag. Zwei Handwerksgeschichten

Sind die bisher gemusterten Bewegungskünste für Augenblicke der Muße, für den Bedarf an Ruhemomenten bewusst in den Alltag eingestreut, so kommt es letztlich darauf an, über »Sonderzonen« der Beschaulichkeit hinaus jedes beliebige Tun als »Ruhe in der Bewegung« geschehen zu lassen. Nicht von Ungefähr sind im Zhuangzi immer wieder Anekdoten erzählt, die mit Vorliebe Menschen aus dem einfachen Volk bei der Arbeit schildern, Bauern, Fischer, Holzsammler und nicht zuletzt verschiedene Handwerker. Deren ganz gewöhnliches Tun wird als beispielhaft vorgeführt für den Einklang mit dem dào. Zwei Handwerker aus dem Zhuangzi sollen in diesem Exkurs zu Wort kommen, um Konzentration, Ruhe in der Bewegung und Eigenspüren am Beispiel einer Alltagsverrichtung aufzuzeigen:

Der Holzschnitzer Qing Zimmermann Qing schnitzte aus Holz einen Glockenständer. Als der Glockenständer fertig war, bestaunten ihn [alle], die ihn sahen, als ein göttliches (guǐ–shén 鬼神) [Werk]. Auch der Fürst von Lu betrachtete ihn und fragte den Meister: »Was habt Ihr für einen Kunstgriff (shù 術)?« Jener erwiderte: »Euer Untertan ist ein Handwerker. Was soll er für einen Kunstgriff haben? Und doch – auf eines kommt es dabei an. Als ich mich an den Glockenständer machte, da hütete ich mich, meine Lebenskraft (qì) an anderes zu verschwenden. Ich musste fasten, um mein Herz zu Klarheit und Ruhe zu bringen. Als ich drei Tage gefastet hatte, da wagte ich nicht mehr, an Ehren und Lohn zu denken; nach fünf Tagen Fasten wagte ich nicht mehr, an Lob und Tadel zu denken; nach sieben Tagen Fasten hatte ich meine vier Glieder, Körper-undLeib (xíng-tǐ 形體) vergessen. Da gab es auch nicht mehr den Hof Eurer Hoheit. So war ich gesammelt (zhuān 專) in meiner Kunst (qiǎo 巧), und mein äußerer Körper schmolz dahin 261. Danach begab ich mich in den Wald, betrachtete

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Exkurs: Ruhe im Alltag. Zwei Handwerksgeschichten

[die Bäume] in ihrem natürlichen Wuchs. Als mir [die rechte Baum]gestalt vor Augen kam, sah ich den Glockenständer fertig vor mir, so dass ich nur Hand anzulegen brauchte. Wäre dem nicht so gewesen, hätte ich aufgegeben. Weil ich [meine] Natur (tiān 天) mit der Natur (tiān 天) [des Baumes] zusammenwirken ließ, deshalb halten die Leute das, was mir gelang, für ein göttliches (shén 神) [Werk]. Das ist alles.« 262

Gespürte Erfahrung. Der Vorgang liest sich wie die Schilderung einer Meditation. Gesammelte Lebenskraft, intensive Aufmerksamkeit durchziehen sämtliche Arbeitsschritte. Die Einstimmung auf das Tun erfolgt durch Fasten, wobei hier nicht entschieden werden muss, ob Qing tatsächlich sieben Tage fastet oder ob das »Fasten des Herzens« gemeint ist, das im Zhuangzi Leer-sein bedeutet von Gedanken und Emotionen. Nicht nur lässt Qing alle Absichten und zweckdienlichen Gedanken an Lohn und Ehre, Lob und Tadel fahren, er vergisst sich selbst. In diesem Zustand der Selbstvergessenheit begibt er sich auf die Suche nach dem passenden Baum. Zwischen Baum und Qing geschieht Einleibung und Resonanz auf eine Weise, dass der Glockenständer spontan in seiner Vorstellung (yì 意) erscheint. Die eigentliche Arbeit vollzieht sich von selbst. Die letzten Sätze beschwören die gemeinsame Situation von Mensch und Baum, deren jeweiliger Eigen-Sinn »gleich-gültig« und ununterscheidbar in das Kunstwerk eingegangen ist.

Die Kunst, einen Ochsen zu zerlegen. Koch Ding zerlegt ein Rind [im Beisein] des Fürsten Wen Hui. Mit den Händen zupackend, mit der Schulter drückend, den Fuß aufsetzend und das Knie dagegen stemmend – ritsch-ratsch (huā-rán xiàng-rán 砉然嚮然) – rhythmisch zischend bewegt er das Messer – wie beim Tanz vom Maulbeerwald, wie im Takt der Jīngshǒu-Musik. Da ruft der Fürst [begeistert] aus: »Wunderbar! Wie erlangt man ein solches Geschick (jí 技)?« Koch Ding legt das Messer nieder und antwortet: »Dem dào 263 bin ich zugeneigt. Das ist mehr als Geschick. Als ich mit dem Zerlegen von Rindern begann, sah ich nichts als das Rind vor mir. Drei Jahre später sah ich schon nicht mehr nur das ganze Rind. Heute begegne ich ihm mit meiner Geisteskraft (shén 神). Ich sehe es [also] nicht mehr mit meinen Augen, verzichte auf das Wissen der Sinne (guān-zhī 官知) und handele nach den Regungen (yù 欲) meiner Intuition (shén 神). Den natürlichen Strukturen (tiān-lǐ 天理) folgend

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Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie

dringe ich ein in die großen Spalten, fahre durch die großen Höhlungen, füge mich dem, was mir entgegenkommt, ohne Blutgefäße und Sehnen zu berühren [oder zu verletzen], ganz zu schweigen von den großen Knochen. Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein gewöhnlicher Koch wechselt das Messer einmal im Monat, weil er hackt. Nun hält mein Messer schon seit neunzehn Jahren und hat einige tausend Rinder zerlegt. Und doch ist des Messers Schneide wie neu vom Schleifstein. Gelenke haben Zwischenräume, aber das Messer hat keine Dicke (hòu 厚). Was in die [Leere der] Zwischenräume eintritt ohne Dicke, lässt Raum für die wandernde (yóu 遊) Schneide. Darum ist des Messers Schneide nach neunzehn Jahren wie neu vom Schleifstein. Sobald sie zwischen Knochen und Gelenken auf Verdichtungen trifft, sehe ich die Schwierigkeit, nehme mich in Acht, verlangsame das Vorgehen mit angehaltenem (zhǐ 止) [konzentriertem] Blick, bewege das Messer aufs Allerfeinste. – Und schon zerfällt [das Rind], liegt wie Erdklumpen am Boden. Ich ziehe das Messer heraus, richte mich auf, blicke um mich, zögere und bin es zufrieden. Ich reinige das Messer und stecke es weg.«

Zhuang Zhous Geschichte endet mit dem Ausruf des Fürsten Wen Hui: »Wunderbar! Ich habe die Worte des Kochs Ding gehört und bin belehrt über die Pflege des Lebens (yǎng-shēng 養生).« 264 Gespürte Erfahrung. Die Kunst, einen Ochsen zu zerlegen, wird gleich zu Beginn des Textes mit dem Tanz vom Maulbeerwald und der Jingshou-Musik verglichen, so dass der Koch selbst seine Handwerkskunst einreiht in die Bewegungskunst von Tanz und Musik. Sein Geschick ist mehr als Geschick, ist Übereinstimmung mit dem dào, zunächst Übereinstimmung mit dem dào des Ochsen. Die Kunst, einen Ochsen zu zerlegen, ist intuitives Vorgehen, in jahrelanger Praxis eingeübt, ist implizites Wissen, das nicht der Körpersinne bedarf, sondern sich ganz aufs Spüren verlässt. Geisteskraft (shén 神) als Spürsinn scheint dem Koch in den Fingerspitzen zu sitzen, wenn nicht sogar in des Messers Schneide als Verlängerung seines spürenden Selbst (siehe I.2, I.4). Einleibung bezieht, über das Werkzeug hinaus, das Gegenüber und dessen Eigen-Sinn mit ein. Das Rind ist tot, und doch besteht Resonanz mit dem, was dem Koch vom Ochsen entgegenkommt an natürlichen Strukturen (tiān-lǐ 天理), plötzlichen Hindernissen, situativem Widerstand. Den Worten des Kochs zufolge ist intuitives Vorgehen Konzentration, Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart. Dann gelingt das Werk von selbst. Das Rind zerfällt und liegt in Stücken am Boden. 218

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Exkurs: Ruhe im Alltag. Zwei Handwerksgeschichten

Kern der Geschichte ist einer der Lieblingsgedanken im Zhuangzi: Schonung des Lebens im Einklang mit dem allumfassenden dào (siehe I.6). Sensible Bewegung des Messers, die das Rind zerlegt, ohne je stumpf zu werden, ist hier mit yóu 遊 (wandern) umschrieben, einem der im Gesamtwerk wiederkehrenden Wortzeichen für »Umherschweifen in der Weite des dào«, nicht zuletzt in den Überschriften zum ersten Kapitel »Wandern in Muße« (xiāo-yáo-yóu 逍遥遊) und zum 22. Kapitel »Wissen wandert im Norden« (zhī–běi–yóu 知北遊). Die ursprüngliche Bedeutung von 遊 ist das »freie Flattern einer Fahne« im Wind; mit dem Sinnelement »Wasser« 氵geschrieben statt mit »Fuß« 辶, bedeutet yóu 游 »Tummeln der Fische im Wasser«. Beide Zeichen und beide Handwerksgeschichten implizieren, dass bei allem Tun paradoxerweise Absichtslosigkeit zum Ziel führt. Solcherart »Ruhe in der Bewegung« und »Nichts-Tun im Tun« ist Pflege des Lebens. Ist dem Koch langjährige Erfahrung Voraussetzung für seine Lebenskunst, so setzt die Geschichte vom Holzschnitzer situativ Konzentration und Selbstvergessen voraus.

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Zusammenfassung des zweiten Teils

Die Zusammenschau der Bewegungskünste erweist sich als eine einzige große Synästhesie von Gestaltverläufen, Farben und Tönen, gegenwartsnah und transkulturell kompatibel, sobald man sich verführen lässt, nicht unbeteiligt dabeizustehen. Gespürtes Erleben in unmittelbarer Nachbarschaft der Phänomene in Worte zu fassen, widerspricht dem uns vertrauten »Kultursystem objektiver Behauptung« 265, die das Potential der Ergreifbarkeit heute weniger denn je für ein gutes Leben nutzt. Im vormodernen China ergreifen Angehörige der Gelehrtenschicht über Jahrhunderte hinweg – Männer allemal, aber auch Frauen, obgleich weniger selbstverständlich und weniger präsent im kulturellen Gedächtnis – die Chance, umfassend gebildet und künstlerisch tätig zu sein. Sie sind Dichter, Kalligraphen, Maler und Musiker, Garten- und Landschaftspfleger, Schwerttänzer und Bogenschützen, Praktiker der Lebenskunst oder eben alles zusammen. Sie teilen dasselbe Weltbild, das Mensch und Kosmos, Mensch und Natur, Mensch, Tier und Pflanze, Berge, Wasser, Wind und Wolken als Einheit gewahrt. Um dieser Einheit und damit verknüpfter Erfahrung willen ist kreatives Tun und meditatives Sein eine Schule der Aufmerksamkeit und Selbstkultivierung, auf deren Lehrplan ganz oben das Eigenspüren rangiert. Bürokratisierungs- und Urbanisierungsschübe, vor allem seit der Songzeit (960–1278), engen Spiel- und Bewegungsräume empfindlich ein. Ein Gelehrter wie Su Shi praktiziert Dichtung, Kalligraphie, Malerei und Musik, auch Atemübungen und Meditation, ist hoch zu Pferde in der Landschaft unterwegs. Gymnastisch-bewegte Übungen im eigentlichen Sinne, außer Selbstmassage und Zähneklappern, sind meines Wissens in keinem seiner zahlreichen Lebenspflege-Texte der Erwähnung wert, nicht einmal Brokatübungen im beruhigten Sitzen, die schon im 8. Jahrhundert nachgewiesen und in der Späten Kaiserzeit als Holzschnittillustrationen weit verbreitet sind (siehe Abb. 8). Spätkaiserzeitliche Tendenzen zur Popularisierung, Professionali220

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Zusammenfassung des zweiten Teils

sierung und Medikalisierung haben zusätzlich zur Folge, dass die Bewegungskünste im engeren Sinn zunehmend von den Schönen Künsten abgekoppelt sind. Vereinzelt überleben Praktiken, die zwischen dem dritten und zwölften Jahrhundert im Selbstverständnis einer zahlenmäßig kleinen, aber umso vielseitiger kreativ tätigen Oberschicht verbindend und verbindlich waren. Im Rückblick imponiert am Gesamtrepertoire der Gelehrtenkultur die durchgängige Übereinkunft mit der Philosophie, deren Denk- und Erfahrungsfiguren leitmotivisch alle Künste durchziehen und synästhetisch miteinander verknüpfen. An den Einzelkünsten fasziniert bis heute das Zusammenspiel von Körper und Leib, die Wechselwirkung mit Umwelt und Natur, ein »Sesam-öffne-dich«, der Räume aufschließt, in denen augenblicklich »Ruhe in der Bewegung« zu finden und im Verweilen Weite zu gewinnen ist. Den zweiten Teil abschließend lassen sich alle hier behandelten Bewegungsformen, einschließlich der Handwerkskünste, in einem Diagramm zusammenfassen – nach dem Vorbild der kalligraphischen Stile, d. h. nach dem Kriterium von Ruhe in der Bewegung und umgekehrt (siehe Diagramm 5). Diagramm 5: Ruhe und Bewegung in den Bewegungskünsten Ruhe Schöne Künste Lebenspflegekünste Berufliches Tun Alltagsroutine Bewegung

Beschäftigung mit den Schönen Künsten in Mußestunden ist demnach Einübung von Ich-Zurücknahme zugunsten übergreifender atmosphärisch aufgeladener Situationen, nicht anders als Übungen des Qìgōng und der Tierspiele, der Kampfkunst und des Tàijíquán oder auch Lustwandeln im Garten und Unterwegssein in Landschaft und Natur. Ziel welcher Kunst auch immer ist, dass jeder gegenwärtige Augenblick zur Bewegungs- und Lebenskunst gerät. Das schließt berufliches Tun ebenso ein wie Alltagsroutine aus Kochen, Fegen oder Putzen. Und alles ist und vieles andere mehr – Verwirklichen von Freude xíng-lè 行樂. 221

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Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein

M’illumino d’immenso Ich erleuchte mich am Unendlichen Giuseppe Ungaretti

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Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein

Konzentration begleitet als Ruhe in der Bewegung alle bisher behandelten Künste. Meditatives Tun – neben der in der Sache selbst erfüllenden Bewegung – ist damit Einübung achtsamer Alltagsbewältigung. Zugleich ist es Vorübung für meditatives Sein, »Sitzen in Stille«. Der umgekehrte Weg kann ebenso wirksam sein: Wer regelmäßig »still sitzt«, macht sich das Bei-der-Sache-Sein so selbstverständlich zu eigen, dass es als »Wachbleiben für die Gelassenheit« 1 alles andere durchleuchtet: Von hier aus wird mir plötzlich klarer, inwiefern die Bewegung aus der Ruhe kommt und in die Ruhe eingelassen bleibt. 2

Nichts übertrifft Meditation als Praxisweg, wenn es darum geht, offenes Abwarten nah den Wesen und Dingen einzuüben. Nach einem kursorischen Blick auf markante Stationen in der Geschichte der chinesischen Meditation sind auf dieselben Texte die Erfahrungsbegriffe anzuwenden, die sich schon bei den Bewegungskünsten im zweiten Teil bewährten. Die leibphilosophische Musterung der abschließenden Meditationsübung bleibt der eigenen Erfahrung überlassen.

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1. Historische Formen der Meditation

Exemplarisch für drei Epochen: das alte China, die Frühe und Mittlere Kaiserzeit 3, exemplarisch auch für Geistesströmungen des Daoismus, Buddhismus und deren Wechselwirkung sind sechs Persönlichkeiten vorzustellen, die Denk- und Erfahrungswürdiges zum Thema »Meditation« geäußert haben. Mehr noch als bei den anderen Künsten gilt hier das Paradox: Sich-Zeigen und Sich-Verhüllen, erst recht für jenes Geschehen, das gemeinhin als Erleuchtung/Verwirklichung/Erwachen umschrieben ist. Zhuang Zhou und der philosophische Daoismus. Stellvertretend für Ansätze der altchinesischen Philosophie sei das Zhuangzi zitiert, das die Grundworte prägt: »Herz-Leeren« (xū-xīn 虛心), »Herz-Fasten« (xīnzhāi 心齋), »Still-sitzen« (jìng-zuò 靜坐), »Sitzen und Vergessen« (zuò-wàng 坐忘). Das gesamte Werk nimmt Aspekte des chinesischen Buddhismus vorweg, wenn es nicht – unbestritten in den späteren Kapiteln – altindisches Gedankengut verarbeitet, lange vor der ersten offiziellen Erwähnung des Buddhismus im ersten nachchristlichen Jahrhundert. So oder so: Von Anfang an ist altchinesische Philosophie – bei allem Eigen-Sinn – Teil einer gesamtasiatischen Welthaltung. Wie Buddha war Zhuang Zhou inmitten einer fraglos hierarchisch gegliederten Gesellschaft davon überzeugt, dass alle Wesen zur Einheit gelangen, sobald sie aussteigen aus dem »Fluss der Zeit« zugunsten des gegenwärtig gelebten Augenblicks (siehe I.7). Dann fallen Werden und Vergehen im »Sein« zusammen. Nicht anders war die Aussage im Zhuangzi gemeint: »Sie alle sterben. Ich allein bin.« 4 Wie Buddha ist Zhuang Zhou davon überzeugt, dass der Weg in die Einheit über die eigene Mitte und damit über die mit bewusstem Atmen verbundene Aufmerksamkeit und Gedanken-Leere führt: Achtsam atmet er ein und aus. Atmet er lang ein, so ist er sich bewusst, dass er lang einatmet; atmet er lang aus, so ist er sich bewusst, dass er lang ausatmet.

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Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein

Atmet er kurz ein, so ist er sich bewusst, dass er kurz einatmet; atmet er kurz aus, so ist er sich bewusst, dass er kurz ausatmet. Dann übt er, so zu atmen, dass er den Atem im ganzen Körper fühlt. Dann atmet er so ein und aus, dass die Körpertätigkeiten sich beruhigen, dass sich der Körper entspannt. Dann übt er, so zu atmen, dass er dabei Freude und Wohlbehagen empfindet; dann so, dass er merkt, wie seine Gedanken zustande kommen; dann so, dass er die Gedankentätigkeit zur Ruhe bringt; dann so, dass er seine Gedanken beobachtet; dann so, dass er sein Denken beschwichtigt; dann so, dass er seinen Geist sammelt und frei macht; dann stellt er beim Atmen Betrachtungen an über Unbeständigkeit, Leidenschaftslosigkeit, über Aufhören und Entsagen. Wenn man so ein- und ausatmet, ist das sehr fruchtbar und förderlich. Wenn du es so übst, wird selbst dein letzter Atemzug bei Bewusstsein vergehen und nicht bei Bewusstlosigkeit. 5

Zhuang Zhous Anleitung zur Atemübung als Meditation fällt kürzer aus, dafür umso poetischer. Sie ist, wie andere Stellen im Gesamtwerk, Konfuzius in den Mund gelegt. Auf die Frage des Schülers Yan Hui, was »Fasten des Herzens« sei, lautet die Antwort: Mit dem Einen verbinde deinen Willen. Höre es nicht mit den Ohren, sondern vernimm es mit dem Herzen (xīn 心). Vernimm es nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Atem (qì 氣). Die Ohren bleiben beim Hören, das Herz bleibt beim Prüfen 6 stehen. Der Atem aber ist leer und so empfänglich für alle Dinge. Nur in der Leere sammelt sich das dào. Die Leere ist das Fasten des Herzens (xīn-zhāi 心齋). 7

Weder die Sinne noch das prüfende Herz eröffnen den Weg zum dào. Allein qì, die Atem- und Lebenskraft, führt in die Leere – leer im doppelten Sinn, in der sich verstreuenden und alles durchdringenden Konsistenz sowie im Leer-Sein von Gedanken: Solange Aufmerksamkeit beim Atem verweilt, hat kein spezifischer Gedanke auch nur die geringste Chance, sich ins Bewusstsein einzuschleichen. Übung 13: Gedanken-Leere Die Augen ganz oder halb geschlossen (Blick 45 nach vorne unten), konsequent beim Atmen verweilen. Gleichzeitig das Unmögliche versuchen: bei voller Konzentration auf das Atemgeschehen einen klar differenzierten Gedanken zu fassen. Auch die Zwischenstufen (7 : 3, 8 : 2 und umgekehrt) erfahren! Im elften Kapitel hält das Zhuangzi eine zweite Textstelle zum Thema bereit, die wunderliche Begegnung zwischen dem »Wolkengeneral« 226

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1. Historische Formen der Meditation

und Hongmeng 鴻蒙, dessen Name programmatisch aus »weit« (hóng 鴻) und »dumm/töricht« (méng 蒙) zusammengesetzt ist. Hongmen, der »tumbe Tor« (siehe I.4), der in der »Weite« zuhause ist, gibt dem Wolkengeneral auf die Frage, wie die Welt zu ordnen sei, folgenden Rat – ein Plädoyer für Absichtslosigkeit, Verzicht auf Eingreifen in den Lauf der Dinge: Nährst du dein Herz, dann verweilst du allerorten im nicht-absichtsvollen Tun (wú-wéi), dann wandeln sich die Dinge von selbst. Lass’ fallen deinen Körper (xíng-tǐ 形體). Spuck’ aus dein Hören und Sehen. Vergiss, was dich an die Dinge bindet. Die große Einheit/Verbundenheit (dà-tóng 大同) liegt in nebelhafter Weite (xìng-míng 涬溟). Lass’ dein Herz los, leg’ dein Bewusstsein (shén 神) beiseite […]. So kehren die Zehntausend Wesen und Dinge zu ihrer Wurzel zurück (fù-qí-gēn 復其根). Ein jedes kehrt zu seiner Wurzel zurück und weiß es nicht. Das Chaos (hún-hún dùn-dùn 渾渾沌沌) verlässt sie bis an ihr Lebensende nie. 8

Auch diese Passage ist Anleitung zur Meditation, ohne dass hier der Atem bemüht wird. Ist schon Konzentration auf den Atem ein hilfreiches Mittel, um das Leersein von Gedanken zu erreichen, so i s t Absage an die Körpersinne, an das denkende Herz und differenzierende Bewusstsein im Grunde schon Leer-sein von Gedanken. Der dào-Zustand chaotischer Mannigfaltigkeit – im Namen des Hongmeng mit »dumm/töricht« angedeutet, ist im Zitat selbst mit hún-hún dùn-dùn 渾渾沌沌 umschrieben, d. h. mit der Verdoppelung von Hundun 渾沌: Herr der Mitte, der Ungeschiedene, dem die wohlmeinenden Freunde durch Bohren der Sinnesöffnungen den Tod bescheren (siehe I.1). Das betreffende Zhuangzi-Kapitel ist überschrieben mit »Verweilen in Weite/Tiefe« (zài-yòu 在宥) und macht ausgiebig Gebrauch vom »Wandern in Muße« (yóu 遊) (siehe II. Exkurs). Wenn es zuletzt heißt: »Das Chaos verlässt [die Wesen und Dinge] bis an ihr Lebensende nie«, so erinnert das Versprechen an die dunkle Perle des Gelben Kaisers, die nie wirklich verloren ist (siehe I.2), an den Pflaumenzweig, der schon aufgeblüht ist, bevor die Suche beginnt (siehe II.4). An mindestens drei Orten im Zhuangzi ist der äußerlich wahrnehmbare Zustand des Meditierenden thematisiert: Was ist denn das? Kannst Du deinen Körper (形 xíng) zu dürrem Holz (槁木 gǎo-mù) und dein Herz zu toter Asche (死灰 sǐ-huī) machen? Der Mann, der sich jetzt gerade über den Tisch lehnt, ist nicht derselbe, der noch vor einem Augenblick hier saß. 9

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Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein

Zi Ji erklärt sein Aussehen mit den Worten: »Ich hatte gerade mein Ich verloren« (jīn–zhě wú sàng wǒ 今者吾喪我). Im vierzehnten Kapitel des Zhuangzi ist es wiederum Konfuzius, der nach einem Besuch bei Laozi drei Tage lang in Schweigen verharrt. Den Schülern, die ihn daraufhin ansprechen, gesteht er, dass er »mit offenem Mund« (kǒu-cháng 口長) 10 vor dem in Stille sitzenden Laozi stehen geblieben war. Einer der Schüler resümiert für sich des Meisters Schilderung wie folgt und greift dabei zu eindrucksvollen Paradoxien: Wenn dem so ist, dann kann ein Mensch als Leichnam verharren und dabei seine Drachen[kraft] zeigen; dann kann er wie Donner tönen und dabei in tiefes Schweigen versunken sein und wie Himmel und Erde [die Welt] in Bewegung versetzen. […] So einen möchte ich doch einmal zu sehen bekommen. 11

Ein weiteres Mal zeigt sich Konfuzius im Kapitel 21 fasziniert vom Zustand des Laozi während der Meditation: Kongzi besuchte Lao Dan, als dieser gerade gebadet hatte und sein Haar zum Trocknen lose herunterhing. Unbeweglich saß Lao Dan da, als ob er kein Mensch wäre. Kongzi wartete eine Weile, trat dann vor ihn und sprach: »Bin ich benommen oder verhält es sich wirklich so? Euer Körperleib (形體 xíngtǐ), Herr, zeigte sich mir [eben] wie dürres Holz (槁木 gǎo-mù), als hättet Ihr die Welt (物 wù) verlassen, Euch von den Menschen getrennt und wäret in Einsamkeit.« Lao Dan sprach: »Ich ließ mein Herz wandern am Anfang der Welt (wú yóu yú wù-zhī–chū 吾游於物之初).« 12

Nicht anders als »dürres Holz« deuten die Umschreibungen: »wie ein Leichnam«, »als ob er kein Mensch wäre«, »Ich hatte gerade mein Ich verloren« auf einen Körperleibzustand, in dem die Ökonomie der Mitte zugunsten extremer Weitung ausgesetzt ist, als ob Leib und Leben vorübergehend das Gehäuse des Körpers verlassen hätten und »wanderten am Anfang der Welt«. Asche wiederum, Endprodukt von Holz und Feuer, ist als »tote Asche« der Beweis, dass das Feuer von Geist und Emotionen erloschen ist. Sima Chengzhen (647–735). Mit Sima Chengzhen kommt eine Meditationspraxis des religiösen Daoismus in den Blick, die längst buddhistische Elemente integriert hat. Sima, zwölfter Patriarch der ShangqingSchule, ist ein typischer Vertreter der frühkaiserzeitlichen Gelehrtenschicht, dem, seiner Biographie zufolge, das Pendeln zwischen Audienz bei Hofe und der Einsiedelei problemlos gelingt. 13 228

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1. Historische Formen der Meditation

Ein Großteil seines umfangreichen Werkes behandelt Lebenspflege-Techniken, die der Erleuchtung und körperleiblichen Unsterblichkeit gewidmet sind. Simas »Abhandlung über das Sitzen und Vergessen« (Zuowanglun) trägt im Titel zwar den Ausdruck zuò-wàng 坐忘 (Sitzen und Vergessen), der dem Zhuangzi entnommen ist. Der darin erläuterte Stufenweg spiritueller Entwicklung ist aber weitgehend buddhistisch inspiriert, obwohl auch im Zhuangzi und Daodejing verschiedene Stufen zum dào vorgesehen sind: vom Weltmenschen (shìrén 世人) über den Vorbildlichen (shèng-rén 聖人) und Wahrhaftigen Menschen (zhēn-rén 真人) zum Höchsten Menschen (zhì-rén 至人). Simas Schrift begleitet über sieben Stationen hinweg den Adepten mit Ermutigungen und Gedanken, die helfen sollen, »Ehrfurcht und Vertrauen« zu entwickeln, »karmische Verstrickung«, Selbsttäuschung und Zweifel aufzulösen, Beharrlichkeit zu üben, alles Zusätzliche loszuwerden, Gelassenheit und »inneren Frieden« in allen Lebenslagen zu entwickeln und – »das dào zu erreichen« (dé-dào 得道). Im Text zur letzten Stufe ist der daoistisch-buddhistische Einheits- und Erleuchtungsgedanke mit den Unsterblichkeitsvorstellungen vor- und frühkaiserzeitlicher Lebenspflege verquickt: Sein Körper wandelt sich weder, noch vergeht er. Sobald sein Körper mit dem dào vereint ist, gibt es weder Leben noch Tod […]. Ist in einem Berg Jade verborgen, dann welken weder Gras noch Bäume. Umfasst jemand das dào, sind Körper und Knochen auf immer fest, Weisheit erstrahlt grenzenlos, der Körper erstreckt sich jenseits aller Begrenzungen. 14

In Simas Abhandlung ist moralisch-ethischem Verhalten viel Raum gewidmet; Eigenspüren ist kaum angedeutet – sei es, dass man darüber nicht spricht, allenfalls im vertrauten Lehrer-Schüler-Gespräch, sei es, dass meditatives Erleben unerheblich ist, da es auf Erleuchtung ankommt, die einem widerfährt oder auch nicht. Yunmen (864–949). Zeitgleich mit der von Sima propagierten Meditation entwickelt sich eine andere und bis heute folgenreiche Form von Synkretismus: der Chán (japanisch Zen) – eigenwillige Synthese aus Buddhismus und dem altphilosophischen Daoismus. Die Lehre des Chán 禪 (Sanskrit: dhyâna »Meditation«) geht auf eine ebenso legendäre wie bezeichnende Begebenheit im alten Indien zurück: Fünfhundert Schüler warten auf Belehrung durch den Buddha, während dieser – in Schweigen gehüllt – eine Blume zwischen den Fin229

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gern hält. Allein Kashyapa, der Buddhas Botschaft vom »beredten Schweigen« unmittelbar versteht, lächelt. Ohne Worte, »von Herz zu Herz« (siehe II.5) soll die Lehre weitergetragen, der Weg zur Erleuchtung zu finden sein: Du musst begreifen, dass das, worum es geht, sich nicht in Worten und Sätzen findet. Es gleicht dem von einem Feuerstein sprühenden Funken oder dem Zucken eines Blitzstrahls. 15

Hier liegt der Grund, warum im Chán statt hochgelehrter Diskurse, statt anhaltender Sutren- und Mantrenrezitation das Schweigen im Mittelpunkt steht und warum die persönliche Beziehung zum Lehrer die spirituelle Entwicklung der Schüler intensiv begleitet. Yunmen (Wolkentor), japanisch Ummon, einer der letzten großen Meister des klassischen Chán, überlebt das Ende der Tangzeit (618– 906). Jahrzehnte der Pilgerschaft und Aufenthalte bei unterschiedlichen Meistern dauert es, bis Yunmen in seiner Lebensmitte angekommen, im Südosten Chinas am Fuß des Wolkentorberges (yún-mén–shān 雲門 山) ein Kloster gründet, in dem er dreißig Jahre lang »nie weniger als fünfhundert Köpfe« 16 unterrichtet. Der für den Chán-Buddhismus charakteristische Wechsel zwischen Lehrreden und Praxis von Arbeit und Meditation wird von Yunmen auf eine Weise praktiziert, dass er die Lehrreden immer wieder ad absurdum führt als »Gespräche, die [getrost] ins Gras fallen [können]«, als »Erklärungen auf der Zunge der anderen«: 17 Wenn ich euch sage, dass gerade jetzt alles in Butter ist, dann hab ich euch schon verscharrt. Und wenn ihr auch noch so sehr Fortschritte machen und Verständnis erlangen wollt, indem ihr nach Worten sucht und Sätzen nachlauft und mit tausend Unterschieden und zehntausend Unterscheidungen weitschweifig Fragen und Probleme konstruiert: Was bringt euch das außer einem gutgeölten Mundwerk? […] Beeilt euch, beeilt euch! Die Zeit harret nicht des Menschen, und ein Ausatmen garantiert keineswegs das folgende Einatmen. Oder habt ihr noch einen zweiten Körper und Geist zu verpulvern? Ihr müsst unbedingt aufmerksam sein. Habt Acht auf euch! 18

Ad absurdum führen, bedeutet auch, durch Fragen und Antworten die Schüler zu verwirren und auf sich selbst zurückzuwerfen: »Du selbst musst dich anstrengen, niemand anders als du« 19, um sie, im Glücksfall, schockartig zum Erwachen zu bringen. Yunmens eigene Erleuchtung ist wie folgt überliefert:

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1. Historische Formen der Meditation

Meister Muzhou: »Wer da?« Yunmen: »Ich bin’s […].« »Wozu kommst du denn immer wieder?« »Ich bin mir über mich selbst nicht im Klaren.« Muzhou: »Blödsinn.« Er versetzt Yunmen einen heftigen Stoß. In diesem Augenblick wird Yunmen erleuchtet. 20

Später wird Yunmen vor seinen Schülern auf diese Szene zurückkommen: Was ist denn nicht in Ordnung mit jemandem, der sich über sich selbst nicht im Klaren ist? […] Das sollte doch kein Problem sein für einen großen Menschen. 21

Wie andere zeitgenössische Chán-Meister greift Yunmen situativ zu drastischen Methoden, wie Fußtritte, Pfiffe in die Ohren, Verdrehen der Nase, plötzliches Anspringen, Stockschläge und anderes mehr. 22 Meister Yunmen betrat die Lehrhalle und sagte: »Der Buddha erreichte den Weg, als der Morgenstern erschien.« Da fragte ein Mönch: »Wie ist’s, wenn man beim Erscheinen des Morgensterns den Weg erlangt?« Der Meister sagte: »Komm’ her [ich zeig’s dir].« Der Mönch trat vor ihn hin. Der Meister schlug ihn mit seinem Stock und jagte ihn hinaus. 23

Zuweilen macht Yunmen nach der Begrüßung auf der Stelle kehrt: »Jeder Mensch hat im Grunde [immer schon] das leuchtende Licht« 24 – ist immer schon Perle und Pflaumenblüte. Verzicht auf hochgelehrte Diskurse bedeutet nicht, dass ChánMeister wie Yunmen nicht umfassend belesen und gebildet sind. Im Gegenteil, Mönche und Äbte bereichern von Anfang an die chinesische Gelehrtenkultur, Tempel und Klöster sind Zentren der Künste und Gelehrsamkeit, die Klostergärten Vorbild der Gartenkunst. Doch darauf kommt es nicht an. So kann Yunmen auch spotten über das Bildungsideal der Zeitgenossen. Auf die Frage, was das Wesentliche sei am Mönchsein, heißt es »Zitherspielen für eine Kuh« 25. Unbedingter Ernst in ironischer Selbstannahme und humorvoller Begegnung mit anderen ist ein Paradox, das wie keine andere Schule den Chán-Buddhismus bis heute auszeichnet, letztlich ein Erbe des Zhuangzi. Su Shi (1037–1101). Auch der vierte Gewährsmann in der Geschichte der Meditation gefällt sich als Vertreter einer synkretistischen Gelehrtenkultur – in ihrer zweiten und letzten Blütezeit unter der Song-Dynastie (960–1278). Su Shi, Dichter, Kalligraph, Maler, dem Daoismus 231

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Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein

wie dem Chan-Buddhismus zugetan, fühlt sich als hoher Beamter, wie mancher vor ihm, hin- und hergerissen zwischen Rückzug und Amt (siehe II.4). Su Shis Rückzugstendenzen sind vor allem politischen Wechselfällen geschuldet und Fraktionskämpfen am Hof der Song. Jedes Mal, wenn Su Shi im entfernten Exil verweilt, bricht sich die Neigung mächtig Bahn, das Leben zu pflegen. Dies widerfährt ihm dreimal in seinem Beamtenleben, da er angesichts sozialpolitischer Missstände couragiert Stellung bezieht und kein Blatt vor den Mund nimmt. Aus der Not wird eine Tugend, wenn er die Zeiten der Verbannung, insgesamt zehn Jahres seines Lebens, zum Rückzug nutzt im besten Sinne. Tao Yuanming (365–427) ist ihm Vorbild dabei, der sechshundert Jahre zuvor, wenn auch freiwillig, den Abschied nimmt und die »Heimkehr« auf sein Landgut in Gedichten zelebriert (siehe II.6 sowie II.7). Su Shis Gedicht »Rückzug unter Palmen« aus seinem letzten Exil auf der Insel Hainan, dem südlichsten Zipfel des Reiches, liest sich wie eine Anleitung zur Meditation, versetzt mit paradoxen Reden. Zuletzt spielt er auf Hongmeng an, den »Tor/Tölpel der Weite«, der im Zhuangzi dem Wolkengeneral den Weg weist zum dào (siehe oben): Der Mann, der am Osthang wohnt 26, […] hält sich im Nichts-Tun ans bewegte [Tun], an Fülle, um sich der Leere anzuvertrau’n, zurückzukehren in die Eine Wirklichkeit. [Der Mann, der am Osthang wohnt,] hält sich ans Nichts-Tun und lässt doch [vom Tun] nicht ab, hat Wünsche nicht – noch Überfluss. Solang’ er lebt, ist hier sein Zuhause, sobald er stirbt, ist hier sein Grab. […] Verlässt er die [Welt], geht es dem Ort des Hongmeng zu – wandernd über die flutende Weite. 27

Spätestens in der Verbannung ist Su Shi intensiv und anhaltend in Theorie und Praxis mit Atemübungen befasst, mit medizinischen Rezepturen, Diätetik, auch als Verzicht auf Fleisch- und Körnernahrung, mit der Äußeren und Inneren Alchimie und nicht zuletzt mit Meditation. In mehreren Texten zur Pflege des Lebens (yǎng-shēng 養生), unter anderem Briefe an Bruder und Freund, beschreibt Su Shi konkret verschiedene Formen des »Sitzens in Stille«, allen voran die frühkaiser232

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zeitliche respektive altindische Lebenspflegemeditation, die auch Sima Chengzhen praktiziert 28, d. h. Konzentration auf die Nasenspitze und Embryonalatmung als spürendes »Visualisieren« des innerlich kreisenden qì 氣. 29 Wie altchinesische Philosophen und frühkaiserzeitliche Gelehrte geht Su Shi davon aus, dass moralisch-ethische Selbstkultivierung unverzichtbarer Teil jeder Lebenspflegepraxis ist. Eine zweite Form der Meditation, ebenfalls altindischer Herkunft, wird von Su Shi in der Horizontalen praktiziert – in einem abgelegenen Zimmer bei geschlossener Tür als Übung des Atemanhaltens (bì-xī 閉 息, Sanskrit: kumbhaka) mit dem Risiko, von Su Shi allerdings nicht thematisiert, dass längeres Atemanhalten zu Ohrensausen, Schwindel, Hitzewahrnehmungen und Ohnmacht führt, wie immer das »schwindelerregende« Ergebnis dann gedeutet werden kann (siehe II.1): Man sperrt das qì zwischen Brust und Zwerchfell, so dass sich eine auf der Nase angebrachte Schwanenfeder nicht bewegt. Nach dreihundert Atemzügen hören die Ohren nichts mehr, die Augen sehen nichts mehr, und das Herz denkt nichts mehr. 30

Nüchterner und eindeutig vom Chán-Buddhismus inspiriert ist die von Su Shi praktizierte Meditation des Atemzählens: Hat man hundert [Atemzüge] gezählt, dann ist der Geist fest und der Körper unbeweglich. Ist man mit der Leere im Einklang und nicht angestrengt bemüht, [den Atem] zu unterdrücken oder zu kontrollieren, dann wird er von selbst nicht mehr unruhig sein. 31

Su Shis Ziel scheint nicht Unsterblichkeit, nicht einmal Erleuchtung gewesen zu sein, zumal er selbstkritisch über mangelnde Disziplin klagt. Skepsis, wenn nicht Ironie, bricht durch, wenn er nach jenem Licht-Adepten fragt, der die Kunst, sich von der Morgensonne allein zu ernähren, von Schlangen und Schildkröten gelernt haben will. Angesichts der Anfechtungen und Entbehrungen, denen Su Shi jedes Mal im Exil ausgesetzt ist, geht es ihm darum, gesund zu werden, gesund zu bleiben, Gelassenheit zu üben und – auf vielerlei Weise zusammen mit den Menschen in seinem wechselnden Umfeld »Freude zu verwirklichen« (siehe II.7). Auch darin ist ihm Tao Yuanming (365–427) ein Vorbild, der Freude (lè 樂) »für den Auftrag des Himmels (tiān–mìng 天命)« 32 hielt: Folge nicht dem Wort von Meister Lao, auch nicht Buddhas Wort.

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Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein

Vergiss’ die Berge der Unsterblichkeit, vergiss’ der Buddhas’ Paradies. Diese Orte – fürcht’ ich – gibt es nicht. Mich verlangt es mehr, dem alten Tao [Yuanming] zu folgen: umzuziehen an einen Platz, wo ich umgeben bin von Wein […]. 33

Dōgen (1200–1253). Die letzte Persönlichkeit, die hier Auskunft geben soll über Theorie und Praxis der Meditation im vormodernen China, ist der Japaner Dōgen. Fünf Jahre seines Lebens hält er sich in buddhistischen Klöstern Mittelchinas auf, bevor er sich für eine Überlieferung der südlichen Schule des Chán entscheidet, die er in Japan als SotōZen 34 etabliert. Die letzten beiden chinesischen Jahre verbringt Dōgen bei Rujing (1163–1228), Abt des Klosters Tiandong auf dem gleichnamigen Berg, der ihm die Erkenntnis mit auf den Heimweg gibt: »Erleuchtung ist immer da, gerade jetzt und niemals endend« 35. Dōgens Übungsanleitung im Zazen 坐禪 (chinesisch zuò-chán »Sitzen in Meditation«) ist ebenso nüchtern auf konkrete Praxis bezogen wie die eingangs zitierte Übungsanleitung des Buddha selbst – mit dem Unterschied, dass Buddha das Atmen ausführlich beschreibt, während Dōgen ebenso sorgfältig bei der Körperhaltung verweilt, Voraussetzung jeder guten Meditation: Das Studium des Zen bedeutet Übung des Zazen. Um Zazen zu üben, wähle einen ruhigen Ort, der nicht zugig oder feucht ist und benutze eine dicke Matte. Der Ort für Zazen 36 sollte nicht zu dunkel sein, sondern Tag und Nacht mittelmäßig hell gehalten werden […]. Vergiss Zeit und Umstände, hafte nicht an guten oder schlechten Gedanken […]. Versuche niemals ein Buddha zu werden! […]. Esse und trinke mäßig. Verschwende keine Zeit […]. Alles Tun – Tag für Tag – ist eine Übung des Zazen […]. Sitze nicht auf der Mitte des Kissens, lege das Vorderteil unter dein Gesäß. Verschränke deine Beine und lege sie auf die Matte. Das Kissen sollte die Basis der Wirbelsäule berühren […]. Verwende entweder den vollen oder halben Lotussitz. Im vollen Lotussitz liegt der rechte Fuß auf dem linken Oberschenkel und der linke Fuß auf dem rechten Oberschenkel. Halte deine Beine horizontal und den Rücken absolut gerade. Beim halben Lotussitz liegt der linke Fuß auf dem rechten Oberschenkel und der rechte Fuß unter dem linken Oberschenkel. Lockere deine Kleider und richte dich auf. Lege die rechte Hand unter die linke, so kommt die linke Hand auf die rechte Hand zu liegen. Die Daumen sollen gerade gehalten werden bei leichter Berührung. Beide Hände sollen den Bauch berühren, die Daumenkuppen in Höhe deines Nabels liegen. Erinnere dich daran, den Rücken immer aufrecht zu halten. Neige dich nicht nach rechts

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1. Historische Formen der Meditation

oder links, nach vorn oder hinten. Halte deine Ohren in einer Linie mit den Schultern. Auch Nase und Nabel sollten im Lot sein. Lege die Zunge am oberen Gaumen deines Mundes an. Halte Lippen und Zähne geschlossen und atme durch die Nase. Die Augen sind in ihrer natürlichen Weise geöffnet. Wenn du beginnst, stimme Körper und Geist durch einen tiefen Atemzug auf deine Meditation ein. Die Form deines Zazen sei fest wie ein Berg. Denke »Nichtdenken«! Wie? Durch Ausüben des Nicht-Denkens. 37

Mantren-, Sutren- und Kōan-Meditation. Nimmt schon Su Shi Zuflucht zu mehreren Meditationspraktiken, so verwirren sich die Linien, hält man sich das Gesamtbild der Geschichte der Meditation vor Augen. Zu allen Zeiten wird im chinesischen Kaiserreich singend und tönend meditiert. In den Klöstern alternieren Mantren- und Sutrenrezitation mit dem versunkenen Betrachten (guān 觀) der Holz- oder Bronzefiguren daoistischer Heiliger, der Buddhas und Bodhisattvas. D. h. Synkretismus auf allen Ebenen, in allen Richtungen. Hier wie da Sowohl-alsauch. Gehmeditation als vielversprechende Übung zwischen Stillsitzen und Alltagsgeschäftigkeit unterbricht heute noch im Zen die langen Sitzperioden. Auch Gōng-àn-Meditation (公案, japanisch Kōan) ist eine chánbuddhistische Erfindung. Als (nicht-analytisches) Nachsinnen über Worte aus einer »alten Begebenheit zwischen Meister und Schüler« 38 wird sie seit dem zwölften Jahrhundert systematisch als »hilfreiches Mittel« eingesetzt. Zeitgleich entstehen maßgebliche Kōan-Sammlungen, das Biyanlu (Aufzeichnungen von der Smaragdenen Felswand) aus dem zwölften, das Wumenguan (Das torlose Tor) aus dem dreizehnten Jahrhundert. Beide Kōan-Sammlungen, einschließlich der Kommentare, sprühen vor Witz und Humor, Kraft und Lebendigkeit des ChánBuddhismus. In beiden Texten ist Yunmen mehrfach zitiert, unter anderem mit einer Geschichte, die ursprünglich auf das Zhuangzi zurückgeht. Befragt nach dem Ort des dào, lautet dort die Antwort »in der Ameise, im Unkraut, im Ziegelstein, im Misthaufen oder Kot« (siehe I.1). Von Yunmen wird dieser Zhuangzi-Dialog buddhistisch gewendet und durch die Verkürzung in seiner Prägnanz noch einmal gesteigert. Ein Mönch fragt Yunmen: »Was ist Buddha?« Und Yunmen antwortet: »Getrockneter Mist.« Auch der Kommentar zu diesem Wortwechsel ist eine einzige hintergründige Respektlosigkeit, die dem Chán-

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Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein

Buddhismus ebenso eigen ist wie Humor und das paradoxe Reden und Schweigen: Yunmen scheint so arm zu sein, dass er den Geschmack einer Speise nicht vom dem einer anderen unterscheiden kann. Oder er ist zu beschäftigt, um Lesbares zu schreiben. Wie auch immer, er versucht, seine Schuhe mit getrocknetem Mist zu binden. Sein Lehren war so gut wie nutzlos: Blitze zucken, Funken sprühen. Mit einem Blinzeln deiner Augen hast du das Sehen verpasst. 39

Das Kōan, als Paradox oder scheinbarer Unsinn formuliert, ist alles andere als ein »Rätsel, da es nicht mit dem Verstand zu lösen ist, zu seiner Lösung bedarf es eines Sprunges auf eine andere Ebene des Begreifens« 40. Bis heute kennzeichnet der Einsatz der Kōan-Meditation in Japan und anderswo den Unterschied zwischen Sōtō-Zen und Rinzai-Zen, die sich beide auf chinesische Meister der Tangzeit zurückführen, im ersten Fall auf Dongshan (807–869) und Caoshan (840–901), 41 im zweiten auf Linchi (japanisch Rinzai, gest. 867). Nur im Rinzai-Zen ist Kōan-Praxis bis heute unverzichtbarer Teil der Meditation.

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2. Gespürte Erfahrung

Numinose Atmosphären. Ergriffensein wird in mystischen Erfahrungen westlicher Prägung als »Seligkeit« und »Süßigkeit«, »heiliger Schauer« und »liebendes Hinschmelzen«, als »Licht- und Glanzexplosion« erlebt. 42 In den hier zitierten Passagen scheinen die Worte zu fehlen, um »das Unsagbare zu sagen«. Und doch sind alle wichtigen Erfahrungen angedeutet, die das Eintauchen in numinose Atmosphären begleiten. Allein in den Zhuangzi-Zitaten sind das: Selbstvergessenheit und abgrundtiefes Schweigen, Weite und Leere, Einheit und Verbundenheit, Chaos, diffus und nebelhaft; bei Sima Chengzhen sind Zeit- und Grenzenlosigkeit thematisiert und im Chan-Buddhismus die Lichterfahrung: »Blitze zucken, Funken sprühen« (siehe oben). Konzentration auf Atem- und Lebenskraft ist Abkehr von den Sinnen und Übergang ins aufmerksame Spüren, ist Voraussetzung für jede Versenkung von Buddha über Zhuang Zhou bis Su Shi und Dōgen. Leersein von Absichten, Gedanken und Emotionen. Über Bewusstseinsregungen des Denkens und Empfindens definieren sich Identität und Subjektivität; über abstandnehmendes Denken geschieht personale Emanzipation. Beides steht, dem Zhuangzi zufolge, Ich-verlorener Versenkung im Wege. Dōgen konkretisiert die Aufforderung zum »Nichtdenken« auch als Freisein von der Absicht, »ein Buddha zu werden«. Mitte. Konzentriertes Nicht-denken, verstanden als Mitte zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression (siehe I.4), ist in Dōgens Worten die Mitte zwischen (Selbst-)Reflexion auf der einen und Schläfrigkeit auf der anderen Seite, zwischen »zu viel denken, und wir schießen übers Ziel hinaus; zu wenig, und wir verpassen die Wirklichkeit« 43.

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Dritter Teil Synthese. Meditatives Sein

Körper und Leib. Mit der Ausschaltung der Sinne wird körperliche Präsenz zugunsten leiblichen Spürens zurückgenommen. Auch Konzentration auf das Atmen rückt leibliches Spüren unmittelbar in den Vordergrund. Anhaltendes Sitzen in Stille setzt umgekehrt eine entsprechende Körperhaltung voraus, von Dōgen als Bein-, Hand-, Kopf-, Augen- und Zungenhaltung präzisiert. Sowohl Körper als auch Leib. Bipolares Geschehen. Mit jedem Atemzug ist im Füllen und Leeren, Verdichten und Zerstreuen, Engen und Weiten bipolares Geschehen spürbar. Verschiedene Meditationsanleitungen verweisen explizit auf Leere und Weite als Zeichen von Ich-Auflösung und Indizien des gespürten Entkommens aus der Enge des Leibes. Ruhe in der Bewegung, Bewegung in der Ruhe. Meditatives Sitzen ist zunächst Ruhe in der Bewegung; längeres Sitzen überrascht mit vielfältigen Erfahrungen von Bewegung in der Ruhe, aus der Ruhe heraus. Im Zhuangzi schließt »Sitzen in Stille« (zuò-jìng 坐靜) das »Wandern« und »Schweifen« (yóu 游) im Unendlichen nicht aus. Auch im Liezi ist Bewegung Teil meditativer Erfahrung, wenn alle Unterschiede verschwinden: Ich wusste auch nicht mehr, was Richtig und Falsch, was von Schaden und was von Nutzen war – weder für mich noch für andere. Ich wusste auch nicht mehr, dass der [eine] mein Lehrer war und der andere mein Freund. Die Augen waren mir Ohren, und die Ohren waren mir Nase, und die Nase war mir der Mund, so dass [auch] die Sinne sich in nichts unterschieden. Das Bewusstsein (xīn 心) sammelte sich, der Körperleib (xíng 形) zerstreute sich, Knochen und Fleisch schmolzen dahin. 44 Ich hatte keine Empfindung mehr davon, worauf der Körperleib sich stützte, wohin der Fuß trat. Ich folgte dem Wind nach Osten und Westen wie ein Baumblatt, wie Eierschalenpulver, und ich weiß wirklich nicht, ob der Wind mich trieb oder ich den Wind. 45

Solche Schilderungen sind nicht nur metaphorisch gemeint. Auf bildhafte Weise rühren sie an ein Erleben von Weite und Leichtigkeit und das Gefühl atmosphärischer Verbundenheit. Sowohl-als-auch. Überlegungen zum rechten Ort, zur rechten Zeit, zu Sitz-, Bein-, Hand- Kopf-, Augen- und Zungenhaltung sind überflüssig, sobald es gelingt, meditative Aufmerksamkeit in jede noch so banale Alltagshandlung zu integrieren – Meditation als Lebensform, Alltag als Erleuchtung: »Das Unerleuchtete war schon immer eine Form der Er238

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2. Gespürte Erfahrung

leuchtung.« 46 Rujing und Dōgen zufolge gibt es weder »stufenweise« noch »plötzliche« Erleuchtung. Jeder Augenblick, »alles gerade jetzt« ist Erleuchtung: »Wenn die Blüte fällt, ist es gerade das und nichts anderes […] – Schneeberge, Felsen und Bäume« 47. So ist das Sitzen selbst »reine natürliche Erleuchtung« und nicht bloß Mittel zur Erleuchtung: »Übung und Erleuchtung sind eins« 48.

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3. Meditationsübung

Zurückhaltung in der Schilderung von Meditations-, erst recht Erleuchtungserlebnissen kann Ansporn sein, selbst hinzusitzen und eigenes Erfahren zur Geltung zu bringen. Vorübung kann meditatives Gehen, Stehen oder Liegen sein. Gehmeditation ist mit jedem Schritt realisiert, solange Aufmerksamkeit in den Füßen weilt. Stehmeditation ist »Eintreten in das Qìgōng« (siehe II.1), Vorbereitung auf ein Tierspiel, Einstimmung auf eine Musik, auf kalligraphisches Schreiben – oder schlicht Innehalten vor einer Begegnung, einem besonderen Augenblick. Umgekehrt macht Innehalten jeden dieser Ruhemomente zum besonderen Augenblick. Meditation im Liegen geschieht wie eine selbst angeleitete Tiefenentspannung im Yoga (Savasana), hat aber, im Vergleich zur sitzenden Position, den Nachteil, dass bei mangelnder Konzentration Weite im Dösen oder gar Einschlafen versackt oder der »Streunegeist« sich auf dem Strom der Gedanken auf- und davonmacht. Gelingt Meditation im Liegen, dann kommt Ruhe in der Bewegung respektive Bewegung in der Ruhe jener Erfahrung gleich: »Golden in der Sonne lagern wie ein dunkler, von Blumen umstandener See.« 49 Übung 14: Sitzen in Stille »Sitzen in Stille« in Meditations- oder Sitzhaltung geschieht auf einem Sitzkissen auf der Matte oder auch auf einem Stuhl. In beiden Fällen sind die Knie tiefer als das Becken platziert, Voraussetzung für Aufrichtung und Schonung der Wirbelsäule – ohne Hohlkreuz, Nacken und Kopf in ihrer Verlängerung. Bei Anfängern wird Augenschluss empfohlen, weniger um optische Reize zu vermeiden: Mein leibliches Befinden macht mich, wenn ich so die Augen geschlossen habe, mehr als sonst auf mich aufmerksam und zeigt mir, wie es gerade um mich steht; es lädt mich auf diese Weise mehr als sonst zur Besinnung ein. 50

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3. Meditationsübung

Sobald ich in einer nach außen regungslosen Position verweile, wie von Dōgen beschrieben (siehe oben), melden sich subtile Sensationen und Bewegungen im und am eigenen Körperleib und bieten sich der mitlaufenden Aufmerksamkeit dar: Jucken, Kribbeln und Krabbeln, Vibrieren, Pochen und Pulsieren, Wärme, Hitze, Farb- und Lichteffekte, nicht zuletzt Stille, die nicht Mangel ist, d. h. Abwesenheit von Laut, sondern Fülle einer gespürten atmosphärischen Anwesenheit, die Ich bin und auch wiederum nicht, da mein Körper an der Hautgrenze endet, mein Spüren aber in den Raum hineinreicht und weit darüber hinaus. Der Fülle von Spüreindrücken bin ich nicht machtlos ausgeliefert, vorausgesetzt es gelingt, die Mitte zu halten zwischen dösender Schläfrigkeit und differenzierendem Bewusstsein. Hilfreich ist der innere Blick, und zwar »Blick als spürbare leibliche Regung, nicht […] als Brücke zu einem gesehenen Objekt« 51. Auf solche Weise nach innen »blickend«, wandere ich – analog einer Yoga-Tiefenentspannung – im Zeitlupentempo von Kopf bis Fuß und ebenso langsam zurück, orientiere mich »scheibchenweise« am tast- und sichtbaren Körper und bin doch spürender und gespürter Leib. Rhythmus des Wanderns, Intensität des Verweilens geschehen »von selbst«. 52 Sobald sich eine spezifische Emotion oder ein bestimmter Gedanke meldet, anschauen, nicht werten und ihn loslassen wie einen Vogel, der auffliegt und davon! Schmerz in der Meditationshaltung ist Eigenspüren besonderer Art und kann meditativer Konzentration höchst abträglich sein. Gelingt es, Aufmerksamkeit auf den Schmerzpunkt zu lenken, die Wandlungen dieser spezifischen Regung bis zu ihrem Verschwinden spürend mit zu vollziehen, dann schenkt mir dieses Erleben die Erkenntnis: »Alles – auch das geht vorüber.«

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Zusammenfassung des dritten Teils

Die historischen Formen der Meditation zusammenfassend ist eine Linie auszumachen, die sich von der altchinesischen, wenn nicht altindischen Philosophie bis heute erstreckt, zum Teil auf dem Umweg über andere ostasiatische Länder. Der frühkaiserzeitliche Synkretismus meditativer Erfahrung, den sich ein Teil der Gelehrtenkultur zu eigen macht, setzt sich in der Mittleren Kaiserzeit (10.–13. Jh.) fort, ohne dass Neuerungen die Geschichte der Meditation beleben. Nicht einmal die Geheimlehren des Tantrismus, der unter der Herrschaft der Mongolen (1279–1368) noch einmal von sich reden macht, sind als Neuerung zu bewerten, da sexuelle Ekstase als Weg zur Erleuchtung schon der altchinesischen Lebenspflege bekannt ist. So spiegeln die über Japan, Südkorea und Taiwan überlieferten und dort durchgängig bis heute praktizierten Formen die für das vormoderne China bis zur Songzeit (960– 1278) konstatierte Auffächerung und Vielfalt. Im Vergleich mit mystischen Erfahrungen in unserer eigenen Kultur wirken chinesische Texte kaum aufregend. Umso mehr interessiert dort konkrete Anleitung zur Meditation, d. h. auf welchen Wegen dàoErfahrung oder Erleuchtung am ehesten zu gewinnen sei. Die Antwort aus subjektivem und situativem Erleben heraus bleibt jedem Einzelnen überlassen. So enden chán-buddhistische Erleuchtungsgeschichten, wie bei Yunmen, mit dem lapidaren Satz »In diesem Augenblick wird er/sie erleuchtet«. Auch das Interesse an den Voraussetzungen erfüllender Meditation geht auf altindische Yogapraxis zurück. Wird christliche Mystikerfahrung als Gnade Gottes erlebt, sind Yogi und Yogini von Anfang an darauf bedacht, »leibliches Geschehen« zu steuern und zu kontrollieren. Das widerspricht dem Von-selbst, hat aber in China Schule gemacht als Versuch, die Mitte zu halten im Sowohl-als-auch, d. h. sich in Gelassenheit und Geduld, Mühelosigkeit und Natürlichkeit zu üben – bei aller Absicht, Erleuchtung zu erlangen. Aus der Perspektive des Zhuangzi oder Daodejing sind Methoden 242

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Zusammenfassung des dritten Teils

und Techniken aus dem alten Indien und im kaiserzeitlichen China strenggenommen Manipulation, vom Atemanhalten über Mantrenund Sutrenmeditation zum Nachsinnen über heilige Silben und »unheilige« Gespräche zwischen Lehrer und Schüler. Sobald diese Techniken aber um des Spürens willen und unangestrengt praktiziert werden, sind sie unangefochten im Sowohl-als-auch, im paradoxen Vonselbst. So hätte das unspektakuläre Atmen oder »Sitzen in Stille« ebenso spektakuläre Wirkungen wie Spontan-Erlebnisse der christlichen Mystik. Weder mit dem einen noch mit dem anderen muss Weltflucht verbunden sein […]. Aber es lässt sich Kraft aus ihnen schöpfen, weil sie einen wieder in Kontakt bringen zu den Energien, die im Abgrund des Leibes schlummern. 53

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Schlusswort

Um abschließend den Bogen zum Titel des Buches zu schlagen, ist noch einmal nach Ruhe und Bewegung gefragt, die als Denk- und Erfahrungsfigur im Nacheinander oder paradoxen Ineinander sämtliche Künste wie ein roter Faden durchzieht. Steht sie im ersten Teil im Zentrum des Zwischenraums zwischen Denken und Eigenspüren, begegnet sie im zweiten Teil als künstlerisches Tun, in Alltagsvollzüge eingestreut. Im dritten Teil eröffnet meditative Ruhe Dimensionen der Bewegung, die uns Alltag und Kunst gewöhnlich versagen. Die Formel »Ruhe in der Bewegung« kann die Herkunft aus Körper-, Leib- und Lebenserfahrung nicht verleugnen, wie alle hier betrachteten Begriffe. So zielt schon die altchinesische Philosophie auf effektiven Umgang mit der Lebenskraft. Die Gelehrtenkultur, die sämtliche Einzelkünste untereinander und mit dieser Art, Welt und Mensch zu denken, verknüpft, ist so gesehen ein Gesamtkunstwerk der Lebenspflege. Im Blick zurück auf andere Zeiten, andere Orte soll die Welt nicht an einem anderen Wesen genesen. Dieses Wesen gibt es nicht. Es gab eine Handvoll Gelehrter. Die lebten nicht weniger in finsteren Zeiten und konnten es dennoch »verantworten, über den Wind und den Mond zu sprechen« 54. Unterwegs in der Welt können sie Wegweiser sein, wo immer es gilt, dem Alltag bewusst gelebte Augenblicke abzugewinnen, Weitedauer und den Fluss der Zeit zusammenzubringen – für eine kurze »lange Weile«. Wenn es um Selbstfindung geht: Wirken lassen. Eine Bewegung soll meine Bleibe sein.

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Endnoten

Zur Einstimmung S. 10 Titel des Buches von Schmitz, Marx, Moldzio 2002 sowie Thema der Tagung 2013 der Gesellschaft für Neue Phänomenologie in Rostock.

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Erster Teil: Denkfiguren. Der Sitz im Leben 1 2

S. 14 Kluck, Volke 2012, 19. S. 16 Zhuangzi, Kap. 7.7 »Yingdiwang«, Huang Jinhong 1974, 122; vgl. Wilhelm 2008,

111. Das Zhuangzi (Meister Zhuang), neben dem Daodejing (s. u.) Klassiker des altchinesischen philosophischen Daoismus, besteht aus drei Teilen, von denen der erste, die sieben Inneren Kapitel, Zhuang Zhou (4.–3. Jh. v. Chr.) selbst zugeschrieben sind; die nachfolgenden Äußeren und Vermischten Kapitel sind jüngeren Datums und gehen auf unterschiedliche Autoren zurück. 3 S. 16 Starobinski 2011, 180. 4 S. 16 Zhuangzi, Kap. 22.5 »Zhibeiyou«, Huang Jinhong 1974, 256; vgl. Wilhelm 2008, 239. 5 S. 16 Das dem Laozi, auch Laodan, zugeschriebene Daodejing zählt mit dem Zhuangzi (s. o.) zu den beiden Klassikern des altchinesischen philosophischen Daoismus. Heute liegen mehrere Varianten vor, deren Sprüche etwa um 300 v. Chr. gesammelt wurden; vgl. Gerstner 2003. Sämtliche Zitate sind dem schriftlich überlieferten Text entnommen. Zur Textgeschichte der Versionen vgl. Gerstner 2003, Simon 2009, 266 ff. sowie Kubin 2011b. 6 S. 17 Vers 11, Simon 2009, 38–39; vgl. auch Möller 2001, 33 ff. Hervorhebung G. L. Siehe auch I.7. 7 S. 18 Daodejing, Vers 42, Simon 2009, 132 ff.; vgl. auch Vers 25, ebd. 84 ff. bzw. Zhuangzi, Kap. 6.2 »Dazongshi«, Huang Jinhong 1974, 106; vgl. Wilhelm 2008, 99. 8 S. 19 Zusammenfassung von Kap. 3 »Tianwenxun«, 18–19. Das Huainanzi wird Prinz Liu An (ca. 175–122 v. Chr.) und dessen Philosophenkreis zugeschrieben. 9 S. 19 Yijing, altchinesisches Orakelbuch; zit. nach Ci-Yuan, 0014.2. 10 S. 20 Auch Buch der Dokumente, Sammlung von Dokumenten und Urkunden, die z. T. ins 6. Jh. v. Chr. zurückgehen. 11 S. 20 Hertzer 2006, 215. 12 S. 22 Brunozzi 2011, 92. 13 S. 22 Lunyu, 9.8, Yang Boling 1980, 89; zit. in Brunozzi 2011, 93. Das Lunyu enthält

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Endnoten Gespräche des Konfuzius nach Aufzeichnungen seiner Schüler; vgl. Wilhelm 1985 sowie Kubin 2011a. 14 S. 22 Zhuangzi, Kap. 24 »Xuwugui«, Huang Jinhong 1974, 282; übs. von Wilhelm 2008, 263. Vgl. das analoge Experiment im Huainanzi, in: Echternacht 2008, 21–22. Zu den Tönen siehe Tabelle 2. 15 S. 22 Altchinesisches Orakelbuch; zit. nach Kubin 2002, XX. 16 S. 23 Zhuangzi, Kap. 1 »Xiaoyaoyou«, Huang Jinhong 1974, 51. 17 S. 24 Zhuangzi, Kap. 2 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 60; vgl. Wilhelm 2008, 53. Siehe II.6. 18 S. 24 Zhuangzi, Kap. 22.1 »Zhibeiyou«, Huang Jinhong 1974, 253. 19 S. 24 Zhuangzi, Kap. 6 »Dazongshi«, Huang Jinhong 1974, 105; vgl. Wilhelm 2008, 96. 20 S. 24 Rilke 1986, 695. 21 S. 24 Bachelard; zit. nach Lecoq 2000, 65. 22 S. 25 Goethe, »Talismane«; zit. nach Echtermeyer, von Wiese 1963, 227–228. 23 S. 25 Zhuangzi, Kap. 22.4 »Zhibeiyou«, Huang Jinhong 1974, 259; zit. nach Eichberg 2007, 57. 24 S. 26 Lecoq 2000, 116. 25 S. 26 Vers 77, Simon 2009, 232–233. 26 S. 27 Zhuangzi, 22.2 »Zhibeiyou«, Huang Jinhong 1974, 254. 27 S. 27 Lunheng 1990, 73. 28 S. 28 Daodejing, Vers 40, Simon 2009, 128–129; ebenso Vers 25, ebd. 84–85. 29 S. 28 Diese Übung verdanke ich meiner Logopädin Odile Deyber, Freiburg. 30 S. 28 Nietzsche 2012, 63. 31 S. 29 »Shiwen«, in: Zhou Yimou 1994, 339; vgl. Harper 1998, 406. 32 S. 29 Kap. 4 »Renjianshi«, Huang Jinhong 1974, 83–84; vgl. Wilhelm 2008, 76–78. 33 S. 29 Ebd. 34 S. 29 Ebd. 35 S. 29 Erstes Zitat aus dem Daodejing, Vers 12, Simon 2009, 40–41, zweites aus dem Zhuangzi, Kap. 18.1 »Zhile«, Huang Jinhong 1974, 211; vgl. Wilhelm 2008, 203. 36 S. 29 Daodejing, Vers 50, Simon 2009, 152–153. 37 S. 29 Ebd. Vers 59, Simon 2009, 182–183. 38 S. 30 Vers 47, Simon 2009, 146–147 (siehe II.7). 39 S. 30 Zhuangzi, Kap. 2.3 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 61; vgl. Wilhelm 2008, 55. 40 S. 30 Daodejing, Vers 37 und Vers 48, Simon 2009, 116–117 und 148–149; vgl. auch Vers 3, Simon 18–19. 41 S. 30 Vgl. Guanzi, Kap. 13.1, 96: bù yán zhī yán 不言之言 (Reden, ohne zu reden) sowie Daodejing, Vers 43: bù yán zhī jiāo 不言之教 (Lehren ohne Worte), Simon 2009, 136–137. 42 S. 30 Sprachbild aus dem Mozi yinde 1986, Kap. 3 »Suoran«, 2; vgl. Brunozzi 2011, 154. Das Mozi enthält Texte aus dem Umkreis des gleichnamigen Philosophen, die im Zeitraum zwischen dem 5. und 3. Jh. v. Chr. entstanden sind. Entsprechend werden frühere und spätere Mohisten unterschieden; vgl. Brunozzi ebd. 119 ff. 43 S. 30 Daodejing, Vers 43, vgl. auch Vers 23 und 56, Simon 2009, 136–137; vgl. auch 78–78 und 172–173. 44 S. 30 Zhuangzi, Kap. 2.2 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 60; vgl. Wilhelm 2008, 54. 45 S. 31 Rilke 1986, 188–189.

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Endnoten Nietzsche 2012, 55 u. 54. Siehe Brunnenmetaphorik des dào in I.7. Zhuangzi, Kap. 22.10 »Zhibeiyou«, Huang Jinhong 1974, 259. 48 Ebd. 255–256. 49 Lunyu, 17.19, Yang Boling 1980, 188; vgl. Wilhelm 1985, 175 sowie Kubin 2011a, 42. 50 S. 31 Daodejing, Vers 16, Simon 2009, 52–53. 51 S. 32 Zhuangzi, Kap. 12.4 »Tiandi«, Huang Jinhong 1974, 15; vgl. Wilhelm 2008, 144. 52 S. 32 Ci-Yuan 0898.1, Eintrag xī 歙 (einatmen). Daodejing, Vers 36, Simon 2009, 114– 115. Dies ist die wörtliche Übersetzung, auch wenn der Kontext einen übertragenen Sinn nahelegt. 53 S. 33 Die Formel »Körperhaben – Leibsein« geht auf Helmut Plessner zurück. Auch die Neue Phänomenologie gründet in der Unterscheidung von tast- und sichtbarem Körper und spürendem/gespürtem Leib; vgl. Schmitz 1990. 54 S. 33 Nietzsche 2012, 105. Hervorhebung G. L. Zu Nietzsches Körper- bzw. Leibverständnis vgl. Schmitz 2011, 158. Siehe Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie«. 55 S. 34 Schmitz 1990, 153 ff. Siehe Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie«. 56 S. 34 Kluck, »Enttäuschte Wirklichkeit. Phänomenologische Überlegungen«, in: Kluck, Volke (Hg.) 2012, 180. 57 S. 34 Nietzsche 2012, 82. 58 S. 34 Aus einem Gedicht von Hanne Redies. 59 S. 34 Gedicht von Jacques Prévert: »Le bonheur est dans les prés, cours y vite, il va filer.« (Das Glück hockt in der Wiesen. Fang es ein! Sonst läuft es davon). 60 S. 34 Marcel Raymond, Le sens de la qualité; zit. nach Starobinski 2011, 65. 61 S. 35 Schmitz 1990, 119–121. Siehe Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie«. 62 S. 36 Zhuangzi, 12.8 »Tiandi«, Huang Jinhong 1974, 156; vgl. Wilhelm 2008, 147. 63 S. 39 Mengzi, Buch III »Tengwenggong« 2.10, Yang Boling, 1960, Bd. II, 158; vgl. Wilhelm 1982, 110. 64 S. 39 Kap. 19.5 »Dasheng«, Huang Jinhong 1974, 220; vgl. Wilhelm 2008, 210. 65 S. 39 Mengzi, Buch II »Gongsunchou« 1.2, Yang Boling 1960, Bd. II, 62; vgl. Wilhelm 1982, 69. 66 S. 39 Das Buch der Lieder (Shijing) ist eine Sammlung von Volks-, Preis- und Opferliedern, die Texte aus der Zeit zwischen dem 10. und 6. Jh. v. Chr. enthält und somit den Anfang schriftlicher Überlieferung in China markiert. Siehe II.4. 67 S. 40 Zhuangzi, Kap. 2.2 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 61; vgl. Wilhelm 2008, 54. 68 S. 40 Zit. nach Linck 2011, 168. 69 S. 40 Das Zuozhuan ist einer der historisch zuverlässigsten Kommentare des Herrn Zuo zur Geschichtsschreibung der Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu), Annalen des Staates Lu. 70 S. 41 Schmitz 1990, 284 f. 71 S. 42 Übs. Bauer 1990, 83. Hervorhebung der Enge-Metaphorik G. L. 72 S. 42 Lunyu, 6.23, Yang Boling 1980, 62; vgl. Wilhelm 1985, 78; Kubin 2011a, 62. 73 S. 42 Kubin 1985, 44. 74 S. 43 Lunyu, 11.26, Yang Boling 1980, 119; übs. in Anlehnung an Kubin 2011a, 176; vgl. Wilhelm 1985, 120. 75 S. 43 Eine Sammlung von Liedern aus der Zeit um 300 v. Chr., die zum Teil Qu Yuan (ca. 343–290 v. Chr.) zugeschrieben sind. 46 47

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Endnoten 76 S. 43 Shijing, Legge, 1991, Bd. IV, 110; übs. in Anlehnung an Kubin 1985, 38–39. Die Klage betrifft die Zerstörung der Hauptstadt des Königs von Zhou. 77 S. 43 Böhme 1985. 78 S. 43 Schmitz 1990, 139 ff. Siehe auch I.5 und Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie«. 79 S. 44 Das Buch der Riten (Liji), eine hanzeitliche Sammlung von Verhaltensvorschriften, betrifft den Ablauf verschiedener Zeremonien, wie Geburt, Großjährigkeit, Heirat, Bankette und Opfer, handelt auch von Musik, Kleidung, Bogenschießen und Spielen. 80 S. 45 Bei Hermann Schmitz gehört und gelesen. Hervorhebung G. L. 81 S. 46 Hertzer 2006, 124. 82 S. 47 Guanzi, Buch 16.1, »Neipian«, Kap. 49, 115; übs. in Anlehnung an Hertzer 2006, 206. 83 S. 48 Ci-Yuan 1296.4–1297.1 bzw. Zhuangzi, Kap. 32.4 »Lie Yukou«, Huang Jinhong 1974, 362. 84 S. 48 Xunzi jijie, Kap. 15. 21 »Jiebi«, Bd. II, 395; vgl. Knoblock 1994, vol. III, 104 sowie Watson 1967, 127. 85 S. 49 Linck 2011, 106. 86 S. 49 Xunzi jijie, Kap. 16.22 »Zhengming«, Bd. II, 417 f.; vgl. Watson 1967, 142. 87 S. 50 Xunzi jijie, Kap. 5.9 »Wangzhi«, Bd. I, 164; vgl. Watson 1967, 45. 88 S. 51 Siehe Anhang »Begriffe zur Neuen Phänomenologie«. 89 S. 51 Schmitz 2010, 86 ff. 90 S. 52 Zhuangzi, Kap. 22.11 »Zhibeiyou«, Huang Jinhong 1974, 259. 91 S. 52 Zur Wirkkraft dé siehe I.1. 92 S. 52 Zhuangzi, Kap. 22.11 »Zhibeiyou«, Huang Jinhong 1974, 259. 93 S. 52 Vers 55, Simon 2009, 168–171; vgl. auch Möller 2001, 91–92 sowie Kubin 2011b, 65–67. 94 S. 52 Nietzsche 2012, 78, 81. 95 S. 53 Brunozzi 2011, 148. 96 S. 54 Schmitz 1980, 80 ff. 97 S. 54 Schmitz 2010, 90. 98 S. 54 Möller 2001, 165 f. spricht von »Semiotik der Präsenz«. 99 S. 54 Kap. 25 »Ze Yang«, Huang Jinhong 1974, 309. Der ganze Satz lautet: yǒu míng yǒu shí, shì wù zhī jū 有名有實是物之居. 100 S. 54 Beispiele aus Volke 2005, 92–120; vgl. ders. 2010, 172–195. 101 S. 55 Zhuangzi, Kap. 17.6 »Qiushui«, Huang Jinhong 1974, 201; vgl. Wilhelm 2008, 196. 102 S. 55 Ebd. Kap. 2.3 und 2.4 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 61–62; vgl. Wilhelm 2008, 55 und 57. 103 S. 55 Zhuangzi Kap. 2.4 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 62–63; vgl. Wilhelm 2008, 58. 104 S. 56 Philosophische Untersuchungen; zit. nach Volke 2010, 195. 105 S. 56 Hoffmann 2001; zit. nach dem Manuskript der Habilitationsschrift Ende der 1990er Jahre, 21. 106 S. 56 Ein analoges Grundanliegen weist Brunozzi 2011 nach für das Lunyu, Daodejing und das Mozi. 107 S. 56 Legge 1991, »Zhongyong« Kap. 11.1, 391. Hervorhebung G. L. 108 S. 57 Xunxi jijie, Kap. 13.19 »Lilun« Bd. II, 356.

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Endnoten 109 S. 57 Dasselbe Zeichen wie in Hundun, dem Namen des »ungeschiedenen« Herrn der Mitte (siehe I.1 sowie III.1). 110 S. 57 Vers 20, Simon 2009, 66–67. 111 S. 57 Kap. 1.1 »Xiaoyaoyou«, Huang Jinhong 1974, 51; vgl. Wilhelm 2008, 44. Vgl. auch die Geschichte vom Brunnenfrosch und der Meeresschildkröte: »Mit einem Brunnenfrosch kann man nicht über das Meer reden; er ist beschränkt auf sein Loch. Mit einem Sommervogel kann man nicht über das Eis reden; er ist begrenzt durch seine Zeit.« Kap. 17.2 sowie 17.9 »Qiushui«, Huang Jinhong 1974, 198 und 202–203; vgl. Wilhelm 2008, 190 und 198–199. 112 S. 57 Elberfeld, Leibold, Obert 2000. 113 S. 58 Schmitz 1980, 80 f. 114 S. 58 Ebd. 115 S. 58 Hermann Schmitz, Vortrag zu diesem Thema in Hamburg im Dezember 2012. 116 S. 59 Ortheil 2012, 110. 117 S. 59 Nietzsche 2012, 17. Hervorhebung im Original. 118 S. 60 Enzinger 2005, 179. Hervorhebung im Original. 119 S. 60 Brunozzi 2011, 114. 120 S. 60 Lunyu 8.4, Yang Boling 1980, 79; vgl. Brunozzi 2011, 114; übs. in Anlehnung an Wilhelm 1985, 92. Hervorhebung G. L. 121 S. 61 Verse 52 und 56, Simon 2009, 158–159 und 172–173. 122 S. 61 Xunzi jijie, Kap. 16.22 »Zhengming«, Bd. II, 416–417; vgl. Watson 1967, 142. 123 S. 61 Sima Qian, Shiji (Historische Aufzeichnungen); zit. nach Ci-Yuan 1923.2. 124 S. 62 Liesel Schmitt vom éco-vin-Weingut »Axel Schmitt«. 125 S. 62 Charles-Ferdinand Ramuz, La beauté sur la terre; zit. nach Starobinski 2011, 84. 126 S. 63 Gabriele Kirsch auf einem Flyer. 127 S. 63 Schmitz 1990, 144–145. 128 S. 63 Beispiele aus Volke 2005, 92–93. 129 S. 63 Volke 2010, 180. 130 S. 64 Schmitz 1990, 126. 131 S. 64 Ebd. 132 S. 64 Ebd.143 f. Siehe Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie« 133 S. 64 Schmitz 1990, 145. 134 S. 65 Emrich, Schneider, Zedler 2004, 36. 135 S. 66 Schmitz 1990, 141. 136 S. 66 Lecoq 2000, 64. 137 S. 67 Brecht 1976, Bd. 4, 1012. Hervorhebung G. L. 138 S. 68 Kubin 1985, 24. 139 S. 68 Nietzsche 2012, 49. 140 S. 69 Keller 2011, 51 ff.; vgl. auch Prousts Versuche, Landschaftsbilder in das Medium der Sprache umzusetzen, z. B. im Prosastück Présence réelle (Leibhaftige Gegenwart); ebd. 91 ff. 141 S. 69 Emrich, Schneider, Zedler 2004, 16. 142 S. 69 Vgl. Linck 2007, 503 f. 143 S. 69 Diesen Hinweis verdanke ich Linde Gerold, Eurythmistin an der Waldorfschule Freiburg-Rieselfeld. 144 S. 69 Zur weiteren Differenzierung vgl. die Typologie von Situationen in: Schmitz 1999, 46 ff.

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Endnoten 145 146

S. 70 Schmitz 1990, 137. Beispiele und Literaturhinweise entfallen hier im Zitat. S. 70 Zhuangzi, Kap. 19.2 »Dasheng«, Huang Jinhong 1974, 218–219; vgl. die Über-

setzung von Wilhelm im Liezi. 1974, 51–52. 147 S. 70 Diese Übung entnehme ich von Bast 2003, 24–27. 148 S. 70 Ebd. 149 S. 71 Wolf 2006, 84. 150 S. 71 Nietzsche 2005, 252. 151 S. 72 Liji, Kap. »Zhongyong«; übs. Wilhelm, 1981, 27. 152 S. 72 Liji, Kap. 1 »Zhongyong«, Legge 1991, 388–389; vgl. Wilhelm 1981, 28. 153 S. 72 Titel dieses Abschnitts und folgende Überlegungen verdanke ich Möller 2001, 33 ff. 154 S. 72 Daodejing, Vers 11, Simon 2009, 38–39. Siehe auch I.1. 155 S. 73 Ebd. Vers 49, Simon 150–151; übs. in Anlehnung an Möller 2001, 35. 156 S. 73 Lunyu 13.4, Yang Boling 1980, 135; vgl. Brunozzi 2011, 105 sowie Wilhelm 1985, 132. 157 S. 73 Um einen signifikanten Begriff von Jullien 2009 zu zitieren. 158 S. 73 Möller 2001, 33–34. Hervorhebung G. L. 159 S. 73 Ebd. 42, 128. 160 S. 74 Daodejing, Vers 46; übs. in Anlehnung an Simon 2009, 142–143; vgl. auch Kubin 2011b, 30. 161 S. 74 Lunyu, 7.16, Yang Boling 1980, 70; vgl. Wilhelm 1985, 85. 162 S. 74 Liji, Kap. 1 »Zhongyong«, Legge 1991, 387; vgl. Wilhelm 1981, 28. 163 S. 74 Vgl. z. B. Daodejing Vers 35, Simon 2009, 112–113. Debon spricht von »Schmacklosigkeit«, Kubin von »Geschmacklosigkeit« und Jullien von »fadeur« (das Fade). 164 S. 75 Böhme 2003, 33. 165 S. 75 Huainanzi, Kap. 8 »Benjingxun«, 65. 166 S. 75 Lunyu 7.26, Yang Boling 1980, 73; übs. in Anlehnung an Kubin 2011a, 97–98. 167 S. 75 Zhuangzi, Kap. 2.4 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 62–63; vgl. Wilhelm 2008, 58. 168 S. 76 Zhuangzi, Kap. 24.14 »Xuwugui«, Huang Jinhong 1974, 287; übs. in Anlehnung an Wilhelm 2008, 269. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Lukas Trabert. 169 S. 76 Daodejing, Vers 14, Simon 2009, 46–47. 170 S. 77 »Der Fluss der Zeit besteht darin, dass die Masse des Vergangenen wächst, die Masse des Zukünftigen schrumpft und die Masse des Gegenwärtigen wechselt.« Schmitz 2011, 128. 171 S. 78 Xunzi jijie, Kap. 15.21 »Jiebi« Bd. II, 400; vgl. Watson 1967, 131. 172 S. 78 Vers 15, Simon 2009, 48. Im Lunyu 8.3 ist der »Zustand gesteigerter Vorsicht« ganz analog ausgedrückt: »als ob man vor einem tiefen Abgrund stünde oder auf dünnes Eis trete«; zit. nach Brunozzi 2011, 102. 173 S. 78 Wörtlich: Riten. 174 S. 78 Lunyu, 8.2, Yang Boling 1980, 78; vgl. Wilhelm 1985, 91. Hervorhebung G. L. 175 S. 78 Schmitz 1990, 258 ff. 176 S. 80 Auch Großer Pol, siehe II.3. 177 S. 80 Huainanzi, Kap. 3 »Tianwenxun«, 18. 178 S. 80 Zhuangzi, Kap. 28.1 »Rang wang«, Huang Jinhong 1974, 324. 179 S. 80 Huainanzi, Kap. 11 »Qisuxun«, 99.

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Endnoten S. 81 Zhuangzi, Kap. 23.3 »Gengsangchu«, Huang Jinhong 1974, 271; vgl. Wilhelm 2008, 254. 181 S. 81 Heidegger 2008, 40. 182 S. 81 Zhuangzi, Kap. 23.3 »Gengsangchu«, Huang Jinhong 1974, 271; vgl. Wilhelm 2008, 254. 183 S. 82 Schmitz 1990, 48 ff. 184 S. 82 Vgl. Jullien 2009, 139–141. 185 S. 82 Mozi yinde 1986, Kap. 40.A »Jing«, 66; vgl. Jullien 2009, 720. 186 S. 82 Zhuangzi, Kap. 10.3 »Quqie«, Huang Jinhong 1974, 136; vgl. Wilhelm 2008, 125–126. 187 S. 83 Vgl. den w. o. zitierten Vers 47 aus dem Daodejing, Simon 2009, 146–147: »Tritt man nicht vor die Tür, erkennt man, was unter dem Himmel ist«. 188 S. 83 Daodejing, Vers 32, Simon 2009, 106–107. 189 S. 84 Zhuangzi, Kap. 12.11 »Tiandi«, Huang Jinhong 1974, 157; vgl. Wilhelm 2008, 147–148 sowie Jäger 2003, 86. 190 S. 84 Neruda 1975, 164 Libro de las preguntas (Buch der Fragen): »Si cada día cae/ dentro de cada noche/hay un pozo/donde la claridad està encerrada. Hay que sentarse a la orilla/del pozo de la sombra y pescar luz caìda/con paciencia.« 191 S. 85 Die letzten Verszeilen aus dem Gedicht »Weltgeheimnis« von H. v. Hofmannsthal; zit. nach Echtermeyer/von Wiese 1963, 607. Eine Semiotik der Präsenz würde im »u« des Wortes »Brunnen« das Abbild seiner Vertiefung wahrnehmen (siehe I.5). Das chinesische Zeichen 井 zeigt das altchinesischer Feldsystem aus neun Quadraten mit dem Brunnen im Mittelfeld; vgl. Karlgren 1966, 340. 192 S. 85 Daodejing, Vers 5, Simon 2009, 22–23. 193 S. 87 Minssen 2012, 127. 194 S. 88 Schmitz 1990, 5. 195 S. 88 Gloy 2007. 196 S. 88 O’Donohoe 2003, 109. 197 S. 88 Temple 1991 sowie Messner, Siebert 2010. 180

Zweiter Teil: Bewegungskünste. Leibhaftige Philosophie 1 2

S. 92 Auch Ji Kang. Siehe II.1 und II.6. S. 92 竹林七賢; nachträgliche Bezeichnung einer Gruppe von Philosophen, Dichtern

und Musikern, die sich auf dem Landgut des Xi Kang in Zhulin regelmäßig getroffen haben soll. 3 S. 93 Debon 1978; Tu Weiming 1983; Kamenarović 1999; Geiger 2005. Sowohl Tu als auch Geiger heben die Bedeutung »körperlicher Übungen« bei der konfuzianischen Selbstkultvierung hervor bzw. den Tanz, »um den zivilisierenden Einflüssen zu erlauben, ihre Wirkungen […] zu entfalten.« Tu Weiming 1983, 60. 4 S. 93 Xianqing ouji, Kap. 6, Abschnitt »Guyang«, 282 ff. (siehe II.1 und II.7). 5 S. 93 »Trockenübungen«, d. h. Übungsbeschreibungen, taugen selten zum Selbststudium, es sei denn die Grundschritte sind bereits erlernt. Wer immer sich für eine der Künste entscheidet, ist gut beraten, sich einer kompetenten Person anzuvertrauen und »dranzubleiben« in regelmäßiger Übung. 6 S. 95 气功 in der heute in der VR China üblichen Kurzform.

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Endnoten S. 95 Lüshi chunqiu, Kap. 3.3 »Jichunji. Jinshu«, o. J., 19a; vgl. Wilhelm 1971, Kap. 3.2, 30. Das Lüshi chunqiu (Frühlings- und Herbstannalen des Lü Buwei) aus dem 3. Jh. v. Chr. enthält jahreszeitliche Vorschriften in Übereinstimmung mit der sich herausbildenden Resonanzphilosophie. 8 S. 96 Xingqi yupeiming 行氣玉佩銘, Harper 1998, 126. 9 S. 97 Zit. in Anlehnung an Engelhardt 1997, 87; vgl. dies. 1998, 11–17. 10 S. 98 Binswanger 2010, 15. 11 S. 98 Maspéro 1937, 353–430. 12 S. 99 Zit. nach Eliade 1960, 247. 13 S. 100 Yinshu (Bambustext aus dem auf das Jahr 184 v. Chr. datierten Grab bei Zhangjiashan (Provinz Hubei); zit. nach Engelhardt 1998, 15; vgl. auch Echternacht 2008. 14 S. 100 Fang Xiaoru; zit. nach Linck 2011, 212. 15 S. 100 Sancai tuhui, Bd. 4, Kap. 10 »Renshi«, 1791. 16 S. 101 Messner 2013. 17 S. 102 Vgl. Engelhardt, Hildenbrand, Zumfelde-Hüneburg (Hg.) 2007, 12. 18 S. 102 Xianqing ouji, 293; siehe w. o. sowie II.7. 19 S. 103 Zum Guolin-Qigong vgl. Zöller 1984. Die zuletzt genannten Übungsreihen sind in Deutschland z. B. an der Universität Oldenburg (Kontaktstudium Qigong) zu erlernen. Die »Gesellschaft Qigong Yangsheng« ist darum bemüht, die tradierte Lebenspflege zu vermitteln, insbesondere Tierspiele und Brokatübungen, wie sie Jiao Guorui (1923– 1997) praktizierte. 20 S. 103 In Anlehnung an Übungen aus dem »49er Qìgōng« und dem »Gesundheitsschützenden Qìgōng«; vgl. Bölts 1993, 71 ff. sowie ders., Belschner, Zhang 1996, 25 ff. Erwin Lehner, Frohmut und Heike Wittwer sei an dieser Stelle gedankt für Mitwirkung bei der Beschreibung der Praxiseinheiten des Qìgōng und der beiden Tierspiele. 21 S. 104 Vgl. Jiao Guorui 2001, 35 ff. 22 S. 105 Variation der Übung »Regulation des Körpers« aus den »Vier Regulationsmethoden« des Daoyin yangsheng gong (s. o.); vgl. Bölts, Belschner, Zhang 1996, 43 ff. 23 S. 105 Aus dem Gedicht »An einem Frühlingstag einsam trinkend« von Li Taibo (701– 762); übs. Debon 1988, 125. 24 S. 106 Ebd. 25 S. 107 Variante aus dem »Gesundheitsschützenden Qigong« (Univ. Oldenburg) (s.o). 26 S. 107 Verszeile aus dem »Päonienpavillon« von Tang Xianzu (1527–1646); zit. nach Li Zehou 1992, 370. 27 S. 108 Ebd. Siehe auch die Tuschemalerei in Abb. 20. 28 S. 109 Den Ausdruck übernehme ich von Lecoq 2000, 118. Er ist der Kompasseinteilung in acht und mehr Himmelsrichtungen rose des vents (Rose der Windrichtungen) nachempfunden. 29 S. 110 Variation der Übung »Der Knabe betet vor dem Buddha« aus dem 49er Qigong (Univ. Oldenburg) (s. o.). 30 S. 110 Liedgedicht von Zhang Xian (990–1078) »Nach der Melodie Die Himmelsfee«; zit. nach Li Zehou 1992, 288. Im Herbst könnte die zweite Verszeile lauten: »Morgen bedecken bunte Blätter den Pfad.« 31 S. 110 Ebd. 32 S. 112 Dieses Kapitel widme ich meinem ersten Qigong-Lehrer Arne Stoll, Kiel, von dem ich die Tierspiele lernte. 7

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Endnoten 33 S. 112 Wilhelm/Gundert 1926, 2. Die Spalten 3–5 von links nach rechts zeigen Varianten der Großen und Kleinen Siegelschrift (siehe II.5). 34 S. 114 Zhuangzi, Kap. 15.1 »Keyi«, Huang Jinhong 1974, 191–192; vgl. Wilhelm 2008, 180–181. Pengzu ist der chinesische Methusalem. 35 S. 115 Neiwaigong tushuo jiyao 1982, 194. Diesen Nachweis verdanke ich Ute Engelhardt, München; vgl. auch Hildenbrand, Geißler, Stein 1998, 291. 36 S. 116 Die folgenden Tierspielübungen sind in Anlehnung an die sehr genauen Beschreibungen von Jiao Guorui 2001 stark vereinfacht zusammengefasst. Siehe dort, besser noch ist es, einen Kurs zu besuchen. 37 S. 117 Ebd. 200. 38 S. 119 Jiao Guorui 2001, 54. 39 S. 121 Jiao Guorui 2001, 90. 40 S. 122 Zum Gegensatzpaar protopathischer und epikritischer leiblicher Tendenzen siehe I.5 »Medien der Resonanz« sowie Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie«. 41 S. 123 Die folgenden Ausführungen beruhen weitgehend auf den ersten sinologischen Arbeiten in der BRD zur Kampfkunst, die ich betreuen, im Falle von Filipiak begutachten durfte: Ruf 1996, Filipiak 2001, Wang-Scheerer 2007. 42 S. 124 Zhuangzi, Kap. 30. »Shuojian«, Huang Jinhong 1974, 351. 43 S. 124 Kuhn 1991, 211. 44 S. 124 Kuhn 1991, 218. 45 S. 124 Shiming (hanzeitliches Lexikon); zit. nach Wang-Scheerer 2007, 51. 46 S. 125 Wenxuan; zit. nach Wang-Scheerer 2007, 57. 47 S. 126 Siehe II.5, II.7 sowie III.1 48 S. 126 Zit. nach Liu Bingguo 1987, 61. 49 S. 128 Shuihu quanzhuan Kap. 2; zit. in Anlehnung an Wang-Scheerer 2007, 115. 50 S. 128 Zhupidang; zit. in Anlehnung an Wang-Scheerer 2007, 173. 51 S. 129 Zitat aus dem Gedicht von Du Fu (712–770) »Guan Gongsun daniang dizi wujianqi xing« (Den Schwerttanz einer Schülerin der Meisterin Gongsun betrachtend), Wu 1981, 217 (siehe II.3). 52 S. 129 Ein weiteres Begriffspaar für Engen und Weiten (siehe I.2). 53 S. 129 Duan Zhishan, You shaolinsi suoji; zit. in Anlehnung an Wang-Scheerer 2007, 176. 54 S. 130 Zhuangzi, Kap. 30 »Shuojian«, Huang Jinhong 1974, 350–351. 55 S. 131 Xiyouji (Reise nach dem Westen, mingzeitlicher Roman) Kap. 31; zit. in Anlehnung an Wang-Scheerer 2007, 120. 56 S. 131 Guliangzhuan, einer der drei Kommentare zu den Frühlings- und Herbstannalen, Kap. 5 »Xigong«, 37. 57 S. 131 Kap. 4 »Renjianshi«, Huang Jinhong 1974, 84; vgl. Wilhelm 2008, 78. 58 S. 131 Xi Gong war ein berühmter Wagenbauer und Mo Xie ein berühmter Schmied. 59 S. 131 Hanshi waizhuan suozi yinde, Kap. 8.26, 62–63; vgl. Wang-Scheerer 2007, 34. Hanshi waizhuan ist eine anekdotische Geschichtsschreibung aus dem 2. Jh. v. Chr. 60 S. 131 Schmitz 1990, 137. 61 S. 132 Schmitz 1990, 136. 62 S. 132 Shuoyuan Kap. 15.12 »Zhiwu«, 120; vgl. Wang-Scheerer 2007, 41. Das Shuoyuan ist eine anekdotische Geschichtsschreibung aus dem 1. Jh. v. Chr. Hervorhebung G. L. 63 S. 132 Zhanguoce (Intrigues of the Warring States), fiktive Geschichtsschreibung über

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Endnoten die Zeit der Kämpfenden Staaten aus dem 2. Jh. n. Chr., Kap. 27, 9; vgl. Wang-Scheerer 2007, 33. 64 S. 132 Liezi, Kap. 2.5 »Huangdi«, 8; vgl. Wilhelm 1974, 52 sowie Wang-Scheerer 2007, 29. Das Liezi, ein daoistisch inspiriertes Sammelwerk aus den Jahrhunderten nach der Zeitenwende, enthält Lehren des Lie Yukou und des Yang Zhu, die vor der Zeitenwende gelebt haben sollen; auch auf Laozi und Konfuzius wird vielfach rekurriert. 65 S. 132 Ebd. 66 S. 133 Ebd. Kap. 5 »Tangwen«, 31–32; vgl. Wilhelm 1974, 114–115 sowie WangScheerer 2007, 34–35. 67 S. 133 Wei Zhao; in Anlehnung an Wang-Scheerer 2007, 61. Hervorhebung G. L. 68 S. 133 Aus dem Gedicht »Guan Gongsun daniang dizi wujianqi xing« (Den Schwerttanz einer Schülerin der Meisterin Gongsun betrachtend), Wu 1981, 217. 69 S. 134 Hervorhebung G. L. 70 S. 134 Su Huan, aus dem Gedicht »Zeng Linglingseng«, Quan Tangshi, Kap. 255, Bd. 8, 2867; vgl. Wang-Scheerer 2007, 49. 71 S. 134 Duyizhi (Aufzeichnungen von Seltenheiten und Merkwürdigkeiten); zit. in Anlehnung an Wang-Scheerer, 50. Hervorhebung G. L. 72 S. 134 Lidai minghua ji, in Congshu jicheng xinbian, Bd. 53, 136. 73 S. 135 Wuyue chunqiu, Kap. 9, 42; vgl. Wang-Scheerer 2007, 39. Das heute vorliegende Wuyue chunqiu (Frühlings- und Herbstannalen der Staaten Wu und Yue), das 1306 in Druck ging, schildert in fiktiver Geschichtsschreibung die Kämpfe zwischen den beiden Staaten Wu und Yue im 5. Jh. v. Chr. 74 S. 136 Gong Ding (17. Jh.), »Shaolin guanseng biwu ge« (Lied vom Kampfkunstwettspiel der Shaolin-Mönche); zit. in Anlehnung an Wang-Scheerer 2007, 172. Hervorhebungen G. L. 75 S. 136 Die folgenden Ausführungen beruhen weitgehend auf Engelhardt 1993 und Smith 1989. 76 S. 137 Das Tai-ji-Diagramm ist von Kubny 1995, 297 übernommen. 77 S. 138 Vgl. das Diagramm des Shao Yong (1011–1077), das von der Spiralbewegung Gebrauch macht, in: Engelhardt 1993, 19, Abb. 2. 78 S. 140 sùn wird heute xùn ausgesprochen. 79 S. 140 Zit. nach Engelhardt 1993, 20. 80 S. 140 Sengai 1994, 51: das Viereck der Erde, die Trinität aus Himmel-Erde-Mensch und der kosmische Kreis bzw. Himmelskreis. 81 S. 140 Zit. nach Smith 1989, 24; erster Satz aus dem Klassiker des Taijiquan (Taijiquan-jing). 82 S. 141 Ebd. 26. 83 S. 141 Ebd. 27. 84 S. 141 Ebd. 30. 85 S. 141 2. Absatz ebd. 27; vgl. auch Engelhardt 1993, 34 ff. 86 S. 142 Smith ebd. 27. 87 S. 142 Ebd. 28. 88 S. 142 Ebd. 35. 89 S. 142 Ebd. 31. 90 S. 143 Ebd. 35, Abs. 14. 91 S. 143 Ebd. 33, Abs. 10. 92 S. 143 Engelhardt 1993, 34.

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Endnoten 93 94 95

S. 144 Ebd. 34–35. S. 145 Die folgenden Ausführungen sind erstmals formuliert in: Linck 2013, 215–230. S. 145 Eine Sammlung von Volks- und Opferliedern, die seit dem 8. Jahrhundert vor

der Zeitenwende gesammelt wurden, nicht zuletzt um Stimmungen in der Bevölkerung herauszufinden. 96 S. 145 Lunyu 17.9, Yang Boling 1980, 185; vgl. Wilhelm 1985, 173. 97 S. 147 Übs. Debon 1988, 138. 98 S. 147 Verben und Substantive gelten als volle Wörter, Präpositionen, persönliche Fürwörter und Umstandswörter als leere. 99 S. 148 Conrad Ferdinand Meyer, »Der römische Brunnen«; zit. nach Echtermeyer, von Wiese 1963, 513. 100 S. 148 Umgangssprachlich: Entengrütze. 101 S. 148 Vgl. Linck 2013, 218. Der Körper ohne »Ich« zielt auf beides: Auffächerung von Subjektivität in eine Vielfalt von Bewusstseinsregungen sowie auf Substanzlosigkeit bedingt durch deren Wandel und Vergänglichkeit. 102 S. 148 Vgl. z. B. Cheng 1977, 32, 110; Debon 1988, 160; Kubin 2002, 172 und 185; Schuhmacher 1982, 36. 103 S. 148 Chen 1996, 26–28. 104 S. 149 Quantangshi 2003, j. 128, Bd. 4, 1300. 105 S. 149 Der rote Staub steht im Buddhismus für die menschliche, allzu menschliche Welt. 106 S. 149 Schuhmacher 1982, 36. 107 S. 150 Vgl. Volke 2005, 92–120. 108 S. 150 Grant 2003, 28. Ich übernehme in abgewandelter Form die Interpretation des Gedichtes aus: Linck 2013. 109 S. 150 Das heutige Zeichen für Bitternis 苦 kǔ steht im Buch der Lieder (Shijing) für soncus asper, die raue (und bittere) Gänsedistel; vgl. Karlgren 1966, 139 bzw. 49u. 110 S. 151 橫 héng, wörtlich »horizontal«, ist hier mit »erdnah« übersetzt, da sich die Berge im Allgemeinen durch ihre vertikale (陽 yáng) Ausrichtung auszeichnen. Die Hervorhebung der Horizontalen nähert sie m. E. dem Erdaspekt (陰 yīn) an. 111 S. 151 Schmitz 1990, 50 (siehe I.3). 112 S. 151 Strenggenommen das Sprechen, doch ist beim rezitierenden Sprechen immer auch der Hörsinn aktiv. 113 S. 152 Nach der heutigen Aussprache wäre sogar in jedem Wort das »e« enthalten: shuǐ (Wasser) wird »schweeei« ausgesprochen und das »a« in tiān (Himmel) und lián (verfließen) als »e«: »tien« und »lien«. 114 S. 153 Die Grundbedeutung von xiao 曉 ist Morgendämmerung, Tagesanbruch; davon ist möglicherweise eine weitere Bedeutung abgeleitet: »(hellwach) wissen«; Ci-Yuan 1988, 0785.2. 115 S. 153 Siehe I.5; siehe auch Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie. 116 S. 153 »Was gegenwärtig ist, existiert: was vergangen ist, existiert nicht mehr, was künftig ist, existiert noch nicht.« Schmitz 1990, 247 ff. 117 S. 154 Gegenläufig dazu ist personale Regression: Rückzug des Subjektes in die primitive Gegenwart. Schmitz 1990, 155 ff. Siehe I.4 und I.7 sowie Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie«. 118 S. 155 Zit. nach Chen 1996, 26 ff. Die nah am Original bleibende und doch sehr schöne

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Endnoten Übersetzung ist von ebd. übernommen mit Ausnahme der zweiten Zeile: Statt »einsam schlief ich« steht hier »einsamer Schlaf«. 119 S. 155 Ebd. 26. 120 S. 156 Übs. in Anlehnung an Chen 1996, 27. 121 S. 157 Grant, 2003, 29. 122 S. 157 Vgl. Döhrn 1993. 123 S. 158 Der Spruch von Friedrich Schiller lautet vollständig: »Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor. Es ist in Dir, du bringst es ewig selber hervor.« 124 S. 158 Kap. »Jinxin« A.3, Yang Boling 1960, 302; vgl. Wilhelm 1982, 184. 125 S. 158 Rilke, »Die fünfte Duineser Elegie«, in: ders. 1997, 648. 126 S. 159 Den folgenden Ausführungen liegen frühere Beiträge zugrunde, z. B. Linck 2006. Die ersten Überlegungen zum Thema kamen mir Ende der 1990er Jahre anlässlich einer sechswöchigen Seminarveranstaltung an der Muthesius-Hochschule in Kiel, die ich dank Prof. Theresa Georgen als Sinologin und Übersetzerin begleiten durfte. Gastprofessor war Wang Dongling, Kalligraph und Professor der Kunstakademie Hangzhou (Provinz Zhejiang); vgl. ders. 1988 und 2007. Dieses Kapitel widme ich Theresa Georgen. 127 S. 159 Kamenarović 1999, 94. 128 S. 159 Im 2. Jh. n. Chr. 129 S. 159 Vgl. Richter 2013. 130 S. 160 Zit. nach Brinker 2009, 12. Weitere Zitate aus der Geschichte Chinas zur Affinität von Malerei, Schriftkunst und Dichtung finden sich bei Debon 1978, 47 ff. Auch Goepper 1974 zieht immer wieder Vergleiche zwischen Kalligraphie, Musik, Dichtkunst und Malerei. Zu Su Shi siehe unten sowie II.7 und III.1. 131 S. 161 Unverkennbar ist hier die Spur der altchinesischen Kunst der Physiognomik. 132 S. 161 Zit. in Anlehnung an Debon 1978, 51. Es handelt sich um die vier großen Kalligraphen der Sui- und frühen Tangzeit: Ouyang Xun (557–641), Yu Shinan (558– 638), Chu Suiliang (596–658), Xie (Hsieh) Ji (?). 133 S. 162 Siehe II. Exkurs. 134 S. 162 Goepper 1974, 202. Hervorhebung G. L. 135 S. 162 Franke 1962, 23–24. 136 S. 163 Han Yu (768–824); zit. nach Kamenarović, 77. 137 S. 163 Vgl. Debon 1978, 47 ff. und Goepper 1972, 147. 138 S. 164 Siehe I.5 sowie Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie«. 139 S. 165 Goepper 1974, 203. Hervorhebung G. L. 140 S. 165 In Anlehnung an Billeter 1989, 105. 141 S. 166 Wu Changshuo (1844–1927), »Kopie der Inschrift auf dem Dreifußgefäß des Herzogs von Lu«; übernommen von Billeter 1989, 73. 142 S. 166 Inschrift aus der späteren Hanzeit; übernommen von Watson 1980, 245, Bild 124. 143 S. 167 Inschrift aus der späteren Hanzeit; übernommen von ebd, 246. Bild 125. 144 S. 168 Auszug eines Textes von Su Shi (1037–1101) (siehe III.1); übernommen von Watson 1980, 248, Bild 127. 145 S. 168 Zhou Xinglian (19. Jh.); zit. nach Billeter 1989, 173. 146 S. 168 Wang Xizhi (321–379); übernommen von Billeter 1989, 94. 147 S. 168 Ebd. 173–174. 148 S. 169 Vgl. Billeter 1989, 95. Hier ist der Namenszug von Wang Xizhi – insbesondere der Bestandteil 羲 – der Eiskunstläuferin auf dem Bild »Palais de glace« von Pierre Bon-

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Endnoten nard (1867–1947 gegenübergestellt und auf diese Weise eindrucksvoll veranschaulicht, dass auch die Zeichen »tanzen«. 149 S. 171 Zhang Xu, dem Erfinder der »verrückten Grasschrift«, zugeschrieben; auch diese Abb. ist von Billeter 1989, 181 übernommen. 150 S. 172 Zit. nach Billeter 1989, 177. Siehe auch II.3. 151 S. 173 Su Shi (1037–1101), aus dem Gedicht »He Zimiao Mianchi huanjiu« (Bruder Zimiao antwortend im Gedenken an die gemeinsame Zeit in Mianchi); übs. von Debon 1988, 262; vgl. Xu 1982, 12–13. 152 S. 173 Von Wang Dongling aus der Kieler Seminarveranstaltung an der MuthesiusHochschule Ende der 1990er Jahre. 153 S. 174 Dieser Gedanke und folgende Überlegungen fußen weitgehend auf Obert 2007, 56 ff. 154 S. 174 Brinker 2009, 64. 155 S. 175 Laurence Strickmann, zit. in: Kamenarović 1999, 97–98. 156 S. 175 Vgl. Obert 2007. 157 S. 175 Simon 2009, 130–131. Vgl. Julliens Ausführungen über die chinesische Malerei unter diesem Titel: »La grande image n’a pas de forme«, Jullien 2009, 263–563. 158 S. 175 Obert 2007, 94. Owen übersetzt im Kontext der Literaturtheorie shi als »Momentum einer Situation« und zielt auf die einer situativen Dynamik innewohnende Tendenz; ders. 1992, 230. 159 S. 176 »Lavis« (lat. lavare »waschen«) bezeichnet den feuchten Tusche-Auftrag, um verschwommene Effekte zu erzielen »jenseits fester Konturen«. Brinker 2000, 168. 160 S. 176 Ebd. 161 S. 176 Obert 2007, 128. 162 S. 176 Ebd. 48. 163 S. 177 So der Untertitel von Obert 2007. 164 S. 177 Ebd. 21. 165 S. 177 Rombach; zit. in ebd. 45–47, 114. 166 S. 177 Obert 2007, 227. 167 S. 177 Debon 1978, 53. 168 S. 177 D. T. Suzuki; zit. nach Brinker 2000, 19. 169 S. 177 Liu Xie, Wenxin diaolong; zit. nach Owen 1992, S. 186 ff. 170 S. 178 Zit. nach Geiger 2005, 78. 171 S. 178 Obert 2007, z. B. 212. 172 S. 179 Holmes, Horioka 1994, 54. 173 S. 180 Ebd. 174 S. 180 Ebd. 175 S. 181 Siehe unten sowie II.7. 176 S. 181 »Huazhuge« (Lied vom gemalten Bambus); übs. von Obert 2007, 253; vgl. Bo Juyi shixuan 1982, 270. 177 S. 181 Obert 2007, 253–254. 178 S. 182 Wörtlich lài 籟, eine Art Mundorgelpfeife aus mehreren Bambusrohren. 179 S. 182 Zhuangzi Kap. 2.1 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 60; übs. in Anlehnung an Wilhelm 2008, 53. 180 S. 182 Ebd. 181 S. 182 Kap. 2.1 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 60; vgl. Wilhelm 2008, 53. Hervor-

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Endnoten hebung G. L. Zur eindrucksstarken Metaphorik von »dürrem Holz« und »toter Asche« siehe III.1. 182 S. 183 Ebd. Kap. 2.2 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 60, 62; vgl. Wilhelm 2008, 54, 56, 57. 183 S. 184 Xunxi jijie, Kap. 20 »Lelun«, 379; vgl. Watson 1963, 112 und 117. 184 S. 184 Ebd. 380 bzw. 114. 185 S. 184 Hanfeizi, Kap. 10 »Shiguo«, 14–15; vgl. Watson 1967, 54. Das Hanfeizi ist eine Art Fürstenspiegel aus dem 3. Jh. v. Chr. 186 S. 185 Lüshi chunqiu, Kapitel 5.4 »Zhongxiaji«, 32; vgl. Wilhelm 1971, 61. 187 S. 185 Lüshi chunqiu, Kapitel 5.3 »Zhongxiaji«, 31b; vgl. Wilhelm 1971, 59. 188 S. 185 Lunyu, 3.25, Yang Boling 1980, 33, Zitat: Lunyu, 7.14, Yang Boling 1980, 70; vgl. Wilhelm 1985, 57 bzw. 84. 189 S. 185 Laut Eberhard 1983, 283 sind dies: »Glück, Krieg, Dürre, Wasser, Unglück. Ein Weiser konnte den Zustand des Staates erkennen, wenn er auf die Tonlage der Musik achtete.« 190 S. 185 Holz, Metall, Stein, Bambus, Kalebasse, Tierhaut, Terrakotta und nicht zuletzt Seide für die Saiten; vgl. auch Reinhard 1956. 191 S. 185 Xunxi jijie, Kap. 20 »Lelun«, 381; vgl. Watson 1963, 116. 192 S. 185 Lunyu, 17.11, Yang Boling 1980, 185; vgl. Wilhelm 1985, 174. 193 S. 186 Dahmer 2003, 25. Hervorhebung G. L. 194 S. 186 Die folgenden Ausführungen beruhen vor allem auf Dahmer ebd. und Reinhard 1956. 195 S. 187 In Anlehnung an Dahmer ebd. 33. 196 S. 187 Die Anzahl der Seidenfäden ist für jede Saite genau festgelegt; vgl. Dahmer ebd. 44. 197 S. 187 Auszug aus Zhongguo de shenxian, übernommen von Chan 2008, 308. 198 S. 187 Kubin 2002, 69. 199 S. 187 O’Donohue 2003, 82. 200 S. 188 Aus dem Gedicht »Beichuang san you« (Drei Freunde am nördlichen Fenster); übs. in Anlehnung an Dahmer 2007, 28–29. 201 S. 188 Dahmer hat ebd. eine Auswahl mit chinesischem Text zusammengestellt und übersetzt. 202 S. 188 Die Geschichte ist in einer schriftlichen Variante im Liezi, Kap. 5 »Tangwen«, 31 überliefert; vgl. Wilhelm 1974, 112–113; Dahmer 2003, 18; Reinhard 1956, 56. 203 S. 190 Dahmer 2003, 79. 204 S. 190 Dahmer 2003, 12. 205 S. 190 Dahmer 2003, 30–31; übs. in Anlehnung an Dahmer. 206 S. 190 Aus dem Gedicht von Bo Juyi »Haoting qin« (Ich liebe es, der Qin zu lauschen); übs. in Anlehnung an Dahmer 2007, 34. 207 S. 191 Aus dem Gedicht von Bo Juyi »Chuanye yuan qin« (Qin-Spiel nachts auf dem Boot); übs. in Anlehnung an Dahmer 2007, 26. 208 S. 191 Aus dem Gedicht »Tingqin« (Der Qin lauschen); vgl. Dahmer 2007, 36–37. 209 S. 191 Ebd. 54–55; das erste Stück auf der CD von Dahmer, die seinem Buch 2007 beigefügt ist. 210 S. 191 Aus dem Gedicht von Bai Juyi »Qin«; zit. in Dahmer 2007, 32. 211 S. 191 Siehe auch II.7 sowie III.1.

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Endnoten 212

S. 192 »Taiyin daquan ji« (Große Sammlung erhabener Musik); vgl. Dahmer 2003,

54 ff. Übs. in Anlehnung an Dahmer 2003, 54–55. Übs. in Anlehnung an Dahmer 2003, 56–57. 215 Ebd. 59. 216 Übs. in Anlehnung an Dahmer 2003, 58–59. 217 Übs. in Anlehnung an Dahmer 2007, 33. 218 Aus dem Gedicht von Li Qi »Qinge« (Lied für die Qín); übs. in Anlehnung an Dahmer 2007, 38–39. 219 S. 194 Vgl. z. B. das Gedicht von Xu Longfei; zit. in Dahmer 2007, 44–45. 220 S. 197 Andrew L. March;, zit. nach Stocken 1997, Anm. 97 der »Schlußfolgerung«. 221 S. 197 Folgende Ausführungen sind erstmals formuliert in Linck 2000, 105 ff. 222 S. 197 Zit. nach Ci-Yuan 1988, 1853.2. Hervorhebung G. L. 223 S. 197 Die weitere Auffächerung der Subjektivität eines Menschen – über Lebensund Geisteskräfte und Emotionen hinaus (siehe I.3–4) – in eine Körperseele (pò 魄) und Hauchseele (hún 魂) ist schamanischen Ursprungs und im chinesischen Kontext schon um Christi Geburt in die Yīn-Yáng-Polarität integriert. 224 S. 198 Xunzi jijie 1988, 371; vgl. Watson 1967, 105. Den folgenden Abschnitt entnehme ich im Wesentlichen meinem Aufsatz 2003, 197 ff. 225 S. 198 Zit. nach Ci-Yuan 1988, 1854.2. 226 S. 200 Siehe I.5 sowie Anhang »Begriffe der Neuen Phänomenologie«. 227 S. 202 Schmitz 1977, 211. 228 S. 202 Ebd. z. B. 258. 229 S. 202 Folgende Ausführungen beruhen weitgehend auf: Che Bing Chiu 2010, für die Späte Kaiserzeit auf Li Yu, Xianqing ouji, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Stocken 1997. 230 S. 203 Diesen Ausdruck übernehme ich von Möller 2001, der ihn mehrfach verwendet. 231 S. 204 Ca. 6 Hektar. 232 S. 204 Zit. nach Che Bing Chiu 2010, 14. 233 S. 204 Liu Yiqing 1984, Band II, 346–347; vgl. Mather 1976, 321–322. Das Shishuo xinyu, eine Fundgrube für mannigfache Aspekte der frühkaiserzeitlichen Gelehrtenkultur, ist eine Sammlung von Biographien und Anekdoten aus dem 5. Jh. 234 S. 205 Ebd. 346 bzw. 321. 235 S. 205 Auszug aus den »Zwanzig Weingedichten«; übs. von Debon 1988, 267; vgl. Fang 1980, 88–89. 236 S. 206 Vers 47, Simon 2009, 146–147. 237 S. 206 Zit. nach Stocken 1997, 8. 238 S. 206 Vgl. Schmidt-Glintzer 1990, 192 ff. 239 S. 207 »Elfte Ansicht«, Wang Wei, Quantangshi 2003, Kap. 128, 1301; vgl. auch Schumacher 1982, 38. 240 S. 207 Bo Juyi ji, Bd. 2, 490; vgl. Che Bing Chiu 2010, 21. 241 S. 208 Chinesisches Schach ist eine weitere der gelehrten Künste, die schon in der Hanzeit (206 v.–220 n. Chr.) kosmologisch aufgeladen ist, so dass auch jedes Schachspiel Weltaufgang und Weltvollzug ist. 242 S. 208 Mengxi ziji; zit. nach Che Bing Chiu 2010, 41. 213 214

S. 192 S. 192 S. 192 S. 193 S. 193 S. 194

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Endnoten 243

S. 208 Che Bing Chiu 2010, 116. Der berühmte »Gruß an einen Felsen (bài-shí 拜

石)«. 244 245

S. 209 Che Bing Chiu 2010, 46. S. 209 Ursprünglich in der Bedeutung, dass der Himmel, das dào, der Weltenberg

noch im kleinsten Ding enthalten sind (siehe I.1). S. 209 Che Bing Chiu 2010, 67. 247 S. 210 Stocken 1997, 11. 248 S. 210 Wu Bin; der Fächer wurde 1694 gemalt; übernommen von Goepper 1988, 428. 249 S. 211 Dongpo wenji shilüe; zit. nach Geiger 2005, 120. 250 S. 211 Xianqing ouji, Kap. 4.1, 143; vgl. Stocken 2005, 191, 190. 251 S. 211 Xianqing ouji, 4.2, 159. 252 S. 212 Zhuangzi, Kap. 22.11 »Zhibeiyou«, Huang Jinhong 1974, 259. 253 S. 212 Xianqing ouji, 4.2, 161. 254 S. 212 Ebd. 158. 255 S. 212 Xianqing ouji, Kap. 4.2, 157; vgl. Stocken 1997, 24. 256 S. 213 Xianqing ouji, Kap. 4.1, 144; vgl. Stocken 2005, 191. 257 S. 213 Ebd. 1; vgl. Stocken 2005, 172. Das Zhouli aus den Jahrhunderten vor Christi Geburt enthält Idealvorstellungen von Institutionen und Beamten. 258 S. 214 Xianqing ouji, Kap. 6.1 »Freude verwirklichen«, Abschnitt »Blüten betrachten und Vögeln lauschen«, 302; übs. Stocken 1997, 46. 259 S. 214 Ebd. Kap. 5.1 »Hortikultur«, Abschnitt über die »Mimose«, 251. 260 S. 214 Xianqing ouji, Kap. 6.1 »Freude verwirklichen«, 302; vgl. Stocken 1997, 46. 261 S. 216 Wörtlich: wài-gǔ-xiāo 外骨消 »[meine] äußere Knochen[gestalt] schmolz dahin«. Zurücknahme körperlicher Präsenz zugunsten leiblichen Spürens kennzeichnet auch die Meditationsanleitungen im Zhuangzi (siehe III.1 und III.2). 262 S. 217 Zhuangzi, Kap. 19.10 »Dasheng«, Huang Jinhong 1974, 222; vgl. Wilhelm 2008, 212–213. 263 S. 217 dào ist hier doppeldeutig gemeint: im Sinne des dào und im erweiterten Sinne der »Kunst« (des Ochsenzerlegens). 264 S. 218 Zhuangzi, Kap. 3 »Yangshengzhu«, Huang Jinhong 1974, 77–78; vgl. Wilhelm 2008, 67. 265 S. 220 Schmitz 2002, 7. 246

Dritter Teil: Synthese. Meditatives Sein 1

S. 224 Heidegger im Feldgespräch über das Denken aus dem Jahre 1959; zit. nach 2008,

32. 2 3 4

S. 224 Heidegger ebd. 45. S. 225 Die späte Kaiserzeit fügt der Meditation nichts grundsätzlich Neues hinzu. S. 225 Zhuangzi, Kap. 11.3 »Zaiyou«, Huang Jinhong 1974, 145; vgl. Wilhelm 2008,

135: rén qí jìn sǐ, ér wǒ dú cún hū 人其盡死而我獨存乎. Hervorhebung G. L. 5 S. 226 Schmidt 1989, 191. 6 S. 226 Das Herz als Erkenntnis- und Evidenzorgan prüft Identität und Unterschied der Wesen und Dinge (siehe I.4). 7 S. 226 Zhuangzi, Kap. 4.1 »Renjianshi«, Huang Jinhong 1974, 83; vgl. Wilhelm 2008, 75.

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Endnoten 8 S. 227 Zhuangzi, Kap. 11.4 »Zaiyou«, Huang Jinhong 1974, 145–146; vgl. Wilhelm 2008, 136. Zur Identifizierung des »tumben« Bewusstseinszustand mit »Erleuchtung« vgl. auch Vers 20 im Daodejing, Simon 2009, 66–67. 9 S. 227 Kap. 2.1 »Qiwulun«, Huang Jinhong 1974, 60; vgl. Wilhelm 2008, 53. Hervorhebung G. L. (siehe II.6). 10 S. 228 Kap. 14.6 »Tianyun«, Huang Jinhong 1974, 184; vgl. Wilhelm 2008, 175. 11 S. 228 Kap. 14.7 »Tianyun«, Huang Jinhong 1974, 184; übs. in Anlehnung an Wilhelm 2008, 175. 12 S. 228 Kap. 21.4 »Tianzifang«, Huang Jinhong 1974, 243; vgl. Wilhelm 2008, 230. 13 S. 228 Die Ausführungen zu Sima Chengzhen fußen weitgehend auf Kohn 2010; vgl. auch Engelhardt 1995. 14 S. 229 Übs. in Anlehnung an Kohn 2010, 100–101. 15 S. 230 Yuanwu, Herausgeber der Kōansammlung »Niederschrift von der Smaragdenen Felswand«; übs. von App 1994, 83. 16 S. 230 Steininschrift aus dem Jahre 959, die heute die Klostermauer ziert; App 1994, 11. 17 S. 230 App 1994, 165, 88. 18 S. 230 In Anlehnung an App 1994, 98 und 109. 19 S. 230 Ebd. 158. 20 S. 231 In Anlehnung an App 1994, 29–30. 21 S. 231 Ebd. 46. 22 S. 231 Im Erleben von Schreck als »plötzlicher Einbruch des Neuen« (siehe II.4) ereignet sich extreme leibliche Engung, die evt. in extreme leibliche Weitung umschlagen könnte. 23 S. 231 App 1994, 144. 24 S. 231 Ebd. 48. 25 S. 231 Ebd. 105. 26 S. 232 Dongpo (Osthang) ist Pseudonym von Su Shi. 27 S. 232 Zit. in: James M. Hargett, »Clearing the Apertures and Getting in Tune: The Hainan Exile of Su Shi (1037–1101)«, 157. Schriftliche und druckfertige Form eines Vortrags in München im Sinologischen Seminar 1996, die mir der Autor im Nachhinein freundlicherweise zukommen ließ. Die Publikation selbst liegt mir nicht vor. 28 S. 233 Vgl. Engelhardt 1997. 29 S. 233 Eine Art Himmelskreislauf (siehe II.1). 30 S. 233 Bartl 2000, 40 (siehe II.1). 31 S. 233 Bartl 2000, 38. 32 S. 233 Vgl. das berühmte Langgedicht »Heimkehr« in: Fang 1980, 166–167. 33 S. 234 Zit. in Hargett o. J., 158 (siehe oben). 34 S. 234 Die Bezeichnung Sōtō ist aus den Namen der beiden Patriarchen Caoshan (japanisch Sōzan) für Sō und Dongshan (japanisch Tōzan) für tō zusammengesetzt. Dongshan (807–869) war Vorgänger und Lehrer des Caoshan (840–901). 35 S. 234 Eckstein 1977, Bd. I, 15. 36 S. 234 Das japanische Wort Zen ist von chinesisch chán und dieses wiederum von Sanskrit: dyana (Meditation) abgeleitet; das japanische za entspricht dem chinesischen Wort-Zeichen zuo »sitzen«: Zazen ist also »Sitzen in Meditation«. 37 S. 235 Dōgen, »Zazengi«; zit. in Anlehnung an die deutsche Übersetzung von Eckstein 1977, Bd. I, 61–62.

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Endnoten Elberfeld 2004, 298. In Anlehnung an Reps 1995, 137. 40 Lexikon der östlichen Weisheiten 1986, 192. 41 Siehe Anm. weiter oben. 42 Schmitz 1977, 187 ff., 59. 43 Eckstein 1977, Bd. I, 42. 44 Zurücknahme des Körpers zugunsten leiblichen Spürens; siehe auch II. Exkurs, die erste Handwerksgeschichte. 45 S. 238 Liezi, Kap. 2.3 »Huangdi«; vgl. Wilhelm 1974, 50. Das Buch ist in die vorchristliche Zeit verlegt, wohl aber erst im 4. nachchristlichen Jh. entstanden. Hervorhebung G. L. 46 S. 239 Eckstein 1977, Bd. I, 60. 47 S. 239 Ebd. 60, 59. 48 S. 239 Ebd. 18. 49 S. 240 Pessoa 1987, 102. 50 S. 240 Schmitz 1977, 208. 51 S. 241 Ebd. 52 S. 241 Ein Durchgang mit Rückweg kann zwischen zwanzig Minuten und einer Stunde dauern. Anfängern ist unbedingt die Teilnahme an 7–10-tägigen Praxisseminaren in Vipassana-, Zen- oder anderen Einrichtungen empfohlen. 53 S. 243 Soentgen 1998, 44. 54 S. 245 Zhu Guangqian, Tan mei (Über das Schöne) 1932; zit. nach Geiger 2005b, 56– 90. 38 39

S. 235 S. 236 S. 236 S. 236 S. 237 S. 237 S. 238

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Anhang

1.

Verzeichnis der Übungen

Übung 1: Übung 2: Übung 3: Übung 4: Übung 5: Übung 6: Übung 7: Übung 8: Übung 9: Übung 10: Übung 11: Übung 12: Übung 13: Übung 14:

2.

Atmen . . . . . . . . . . . . . . . . Ruhe in der Bewegung . . . . . . . . Wahrnehmung des Körpers . . . . . . Wahrnehmung des Leibes . . . . . . Wahrnehmung in ganzen Situationen Philosophie in einem Atemzug . . . . Eintreten in das Qìgōng (rù-gōng 入功) Himmel . . . . . . . . . . . . . . . Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . Affe . . . . . . . . . . . . . . . . . Bär . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedanken-Leere . . . . . . . . . . . Sitzen in Stille . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

25 28 34 35 70 86 104 105 107 110 117 119 226 240

. .

18

. . . . . . . . .

21 27 36 38 44 51 65 67 68

Verzeichnis der Tabellen und Diagramme

Tabelle 1: yáng und yīn . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 2: Resonanzgeschehen entlang der Fünf Wandlungsphasen in ihrer Wechselwirkung mit yīn und yáng . . Diagramm 1: Bipolare Dynamik des qì 氣 . . . . . . . . . . Tabelle 3: Außen- und Innenaspekte des Menschen . . . . . Tabelle 4: Körperteile pars pro toto . . . . . . . . . . . . . Tabelle 5: Emotionen und Speicherorgane . . . . . . . . . Tabelle 6: Formen des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . Tabelle 7: Synästhetisches Zusammenspiel . . . . . . . . . Tabelle 8: Gestaltverläufe von yáng und yīn . . . . . . . . Tabelle 9: Synästhetische Charaktere von yáng und yīn . .

. . . . . . . . .

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Anhang

Diagramm 2: Tài-jí – der Große Dachfirst . . . . . . . . . . Diagramm 3: Trigramme des Yijing . . . . . . . . . . . . . . Diagramm 4: Ruhe und Bewegung in den Schriftstilen . . . . Diagramm 5: Ruhe und Bewegung in den Bewegungskünsten

3.

. . . .

137 140 165 221

. .

32 37

.

46

. .

48 71

. . . . .

96 101 113 115 116

. . . . . . . . .

117 141 166 167 168 169 170 171 173

. . . . . .

180 189 195 199 211 215

Verzeichnis der Abbildungen

Abb. 1: Der kosmische Kreis [Sakamoto 1986, 7.] . . . . . . Abb. 2: Kalligraphische Schreibweisen von shēn身 . . . . . Abb. 3: Neolithische Ritzzeichnung [Übernommen von Hertzer 2006, 124.] . . . . . . . Abb. 4: Piktogramm des Zeichens für »Herz« (mit der abgehenden Aorta) . . . . . . . . . . . . . Abb. 5: Optische Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 6: Seidenbild von Mawangdui [Übernommen aus Engelhardt 1998, 11.] . . . . . . Abb. 7: Lebenspflege im Sitzen . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 8: Tierpiktogramme und ihre modernen Formen . . . Abb. 9: Die vier Schläfer [Brinker 2000, 91.] . . . . . . . . Abb. 10: Frau beim Tierspiel des Vogels . . . . . . . . . . . Abb. 11: Jiao Guorui im Spiel des Affen [Bronzeskulptur von Gisela Drescher, Foto von Jürgen Lippe, aus Dahmer 2007, 171.] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 12: Der Kosmos in einer Tuschezeichnung . . . . . . . Abb. 13: Große Siegelschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 14: Kleine Siegelschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 15: Kanzleischrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 16: Normalschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 17: Kursivschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 18: Grasschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 19: Das Zeichen für qì 氣 . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 20: Anonymes Bild aus dem 15. Jahrhundert [Übernommen aus Holmes, Horioka 1994, 54.] . . . Abb. 21: Xi Kang mit der Griffbrettzither . . . . . . . . . . Abb. 22: Notation »Phönixpaar« [Eigenexemplar.] . . . . . . Abb. 23: Fēngshuǐ-Kompass . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 24: Gartenlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 25: Fächerfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

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4.

Begriffe aus der Neuen Phänomenologie

Analytische Intelligenz s. hermeneutische Intelligenz Chaotische Mannigfaltigkeit. Das chaotisch-mannigfaltige Kontinuum von Dauer und Weite bezeichnet einen Leib- respektive Bewusstseinszustand, in dem Einzelheiten nicht wahrgenommen werden: Es handelt sich um ein Dahinwähren, Dahindämmern am Pol personaler Regression (s. u.). Im Kontext vormoderner chinesischer Kosmogonie eignet sich der Begriff zur Umschreibung des undifferenzierten Zustandes im dào vor jeder Individuation, im Kontext der Meditation zur Umschreibung des daó-Zustandes bzw. Buddha-Zustandes der Leere. Dauer-Weite-Kontinuum bezeichnet das ungegliederte Erleben von Raum als reiner Weite und Zeit als schlichter Dauer; s. chaotische Mannigfaltigkeit. Einbruch des Neuen. Das Dauer-Weite-Kontinuum kann durch »plötzlichen Einbruch des Neuen« zerreißen – paradigmatisch im Schreck. Dann sondern sich Zeit und Raum: Dann entsteht aus reiner Weite der im altchinesischen Kontext fünffach gegliederte Raum aus den Vier Richtungen und der Mitte. Aus reiner Dauer entsteht der dreifach gegliederte Fluss der Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Analog entfalten sich Identität und Verschiedenheit der Wesen und Dinge, und mit ihnen bildet sich die Subjektivität eines je spezifischen Ich. Einleibung ist Verschmelzung auf einander eingespielter oder sich einspielender Leiber: in der Kampfkunst sowie beim Händeschieben im Tàijíquán. Sie setzt übergreifende gemeinsame Situationen (siehe unten) voraus. Handwerkszeug, wie das Messer des Kochs, kann ebenso »eingeleibt« sein wie das Schwert der Gongsun und der Pinsel des Tuschekünstlers als Fortsetzung des spürenden Selbst. Auch liegt Einleibung vor, wenn es dem Schaukünstler gelingt, seine Zuschauer in den Bann zu schlagen. Engen und Weiten sind Dimensionen leiblichen Spürens, unmittelbar nachzuvollziehen am Atemvorgang: Einatmen bewirkt Engung/ Spannung, Ausatmen Weitung/Entspannung. Auch Emotionen lassen sich dem Engepol (Angst, Scham, Trauer) oder Weitepol (Freude, Zorn) zuordnen. Entfaltete Gegenwart s. primitive Gegenwart 275

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Epikritische Tendenz: Neben den leiblichen Dimensionen der Engung und Weitung hält das Alphabet der Leiblichkeit ein weiteres Kategorienpaar bereit: epikritische (schärfende, spitze, Punkte und Umrisse setzende) und protopathische (dumpfe, diffuse, ausstrahlende) Tendenz. Solcherart leibliche Tendenzen korrespondieren mit Gestaltverläufen und synästhetischen Charakteren (Farben und Tönen/Lauten). Deren Leibverwandtschaft sorgt dafür, dass sie als Brücken/Medien von Wahrnehmung repektive Resonanz zum Tragen kommen. Explikation s. Situation Fluss der Zeit ist lineare Aufeinanderfolge der Ereignisse, gegliedert nach Früher, Später und Gleichzeitig respektive Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Im Unterschied zum ungegliederten Kontinuum schlichter Dauer (siehe oben). Ganzheitliche Regungen s. Leib Gestaltverläufe s. epikritische Tendenz Hermeneutische Intelligenz ist eine Form des Bewusstseins zwischen leiblicher (am Pol personaler Regression) und analytischer Intelligenz (am Pol personaler Emanzipation). Sie gesteht einem Reden Vorrang zu, das Sachverhalte, Programme und Probleme sparsam und schonend expliziert und auch nur so weit, dass vielsagende Eindrücke unversehrt erhalten bleiben. Literarische, insbesondere poetische Sprache, die sich mit Anspielungen, metaphorischen Umschreibungen begnügt, folgt hermeneutischer Intelligenz. Körper bezeichnet im Unterschied zum Leib (s. u.) das tast- und sichtbare Gebilde, durchmessbar und objektivierbar. Der tast- und sichtbare Körper existiert noch, wenn Leben schon daraus entwichen ist: Körper-Haben vs. Leib-Sein. Leib steht für das, was ich als lebendiger Mensch subjektiv und situativ von mir und an mir und um mich herum spüre, ohne insbesondere Augen und Hände zu bemühen: ganzheitliche Gefühle wie Frische oder Müdigkeit sowie teilheitliche Regungen wie Jucken, Schmerz, Herzklopfen: Leib-Sein vs. Körper-Haben. Leibesinseln sind gestalthaft verdichtete leibliche Regungsherde, die sich situativ bemerkbar machen. Auch die Organsysteme der chinesischen Medizin sind Leibesinseln. Leibliche Intelligenz s. hermeneutische Intelligenz Leibliche Ökonomie beschreibt Widerstreit von Enge- und Weiteim-

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pulsen, d. h. deren Ringen um die ökonomische Mitte, ohne vom Engepol noch vom Weitepol ganz loszukommen. Leibverwandtschaft s. epikritische Tendenz Personale Emanzipation bezeichnet Distanzierung sowohl sich selbst wie der Welt gegenüber. Sie beschreibt den Rückzug eines Subjektes (Bewussthabers) aus dem undifferenzierten, chaotisch-mannigfaltigen Dauer-Weite-Kontinuum. Der Gegenbegriff am anderen Ende der Skala ist personale Regression. Das Konzept erlaubt feine Abstufungen zwischen stoischer Unerschütterlichkeit und kühl berechnender Abstandnahme auf der einen Seite und Verstrickung bzw. träumendem Dahinwähren »nah den Dingen« auf der anderen. Es eignet sich zur Differenzierung situativer Bewusstseinszustände/leiblicher Befindlichkeiten sowie längerfristiger habitueller Einstellungen, wenn nicht lebenslanger Persönlichkeitsstile. Personale Regression korrespondiert als Begriff gegenläufig mit personaler Emanzipation. Jedes heftige Betroffensein ist personale Regression als Rückfall in primitive Gegenwart (siehe unten). Primitive Gegenwart bezeichnet das Heraustreten aus dem Zustand chaotischer Mannigfaltigkeit, den Beginn personaler Emanzipation. Damit verknüpft ist allererste Differenzierung von Hier (Ort), Jetzt (Zeit), Dasein (Wirklichkeit), Sosein (Identität und Verschiedenheit) und Ich (Subjektivität), d. h. das vage Bewusstsein, dass im Hier und Jetzt mir etwas widerfährt, an dessen Wirklichkeit kein Zweifel besteht. Aus der primitiven Gegenwart entwickelt sich entfaltete Gegenwart, indem sich verschiedene Orte aus dem Hier, verschiedene Zeiten aus dem Jetzt, verschiedene Wirklichkeits- und Möglichkeitsformen (Dasein) sowie bestimmte Eigenschaften (Sosein) und nicht zuletzt der Unterschied zwischen Eigenwelt und Fremdwelt (Ich und die Anderen) differenzieren. Der Moment täglichen Erwachens, wie im Gedicht des Meng Haoran, ist eine Form primitiver Gegenwart, die sich in die volle Gegenwart entfaltet. Protopathische Tendenz s. epikritische Tendenz Sachverhalte, Probleme und Programme s. Situation Selbstermächtigung bezeichnet im vorliegenden Kontext den individuellen und historischen Vorgang personaler Emanzipation (siehe oben). Selbstdistanzierung erfolgt gleichermaßen gegenüber (Gefühls-)Regungen, die am eigenen Leibe gespürt werden, sowie gegenüber den von Außen andrängenden Gefühlsatmosphären. Im 277

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alten China ist es das Herz, im antiken Griechenland die Seele psyche/ratio, die sich jeweils aufschwingen zum Fürst/Herrscher über Gefühl und Leiblichkeit bzw. zum »Herrn im Hause«. Situation: Der Begriff unterstellt, dass Wahrnehmung zugleich Kommunikation ist. Im Alltagsgeschehen besteht Wahrnehmung nicht im bloßen Registrieren von Einzelheiten und Sinnesdaten, ist vielmehr Ko-Präsenz bzw. Kooperation oder Kommunikation, die Subjekt und Objekt gleichermaßen zusammenschließen. Situationen zeichnen sich durch folgende Momente aus: 1. Ganzheit, d. h. Zusammenhalt in sich und Abgeschlossenheit nach Außen; 2. Bedeutsamkeit aufgrund zunächst nur diffus wahrgenommener Sachverhalte oder/und Programme und Probleme, die sich abstandnehmend explizieren lassen; 3. Binnendiffusion bzw. chaotische Mannigfaltigkeit (siehe oben); 4. emotionale Aufladung. Demnach liegt einer räumlich ergossenen Gefühlsatmosphäre immer eine gemeinsame Situation zugrunde. Folgende Situationstypen lassen sich unterscheiden: persönliche (Subjektivität/Eigenwelt) und gemeinsame (übergreifende) Situation; nach der augenblicklichen Gegebenheit: impressive (Gesamteindruck) und segmentierte (Sprechakt) Situation, nach der Art ihres zeitlichen Verlaufs: aktuelle (Begegnung) und zuständliche (Familie) Situation. Synästhetische Charaktere s. epikritische Tendenz Teilheitliche Regungen s. Leib Weiten s. Engen

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5.

Zeittafel

Vor- und Frühgeschichte Peking-Mensch 500 000 v. Chr. Paläolithikum 200 000 v. Chr. Neolithikum 6. Jahrtausend v. Chr. Der erste Staat Shang/Yin ca. 16.–11. Jh. v. Chr. Lehensordnung Zhou ca. 1045–221 v. Chr. Zeit der Frühlings- und Herbstannalen 770–464 v. Chr. Zeit der Kämpfenden Staaten 463–221 v. Chr. Frühe Kaiserzeit Qin 221–207 v. Chr. Han 206 v. Chr. – 220 n. Chr. Drei Reiche 220–265 Jin 265–420 Süd-Nord-Dynastien 420–581 Sui 581–617 Tang 618–907 Mittlere Kaiserzeit Fünf-Dynastien-Zehn-Staaten 907–960 Song 960–1278 Nördliche Song 960–1127 Südliche Song 1127–1278 Yuan (Mongolen) 1279–1368 Späte Kaiserzeit Ming 1368–1644 Qing (Mandschu) 1644–1911 Republik China 1911– Volksrepublik China 1949–

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Anhang

6.

Zum Gebrauch des Buches

Zunächst zur Aussprache signifikanter Begriffe: qì in Qìgōng usw. spricht sich aspiriert, d. h. wie der zweite Teil von »Hatschi« (Gesundheit), das o in gōng wird »u« ausgesprochen, nicht »o«! Im Wort Tàijíquán macht im Allgemeinen nur der letzte Bestandteil Schwierigkeiten: Das »q« in quán wird wie qì aspiriert gesprochen, das »u« wie ein »ü« und das »a« wie ein »ä«, also tschüän. Das »e« in Fēngshuǐ wird nicht offen gesprochen wie in peng-peng, sondern eher wie ein »u«; der zweite Bestandteil shui spricht sich »schwei«. Um den Text nicht zu überfrachten, sind chinesische Begriffszeichen in jedem Fall bei der ersten Nennung aufgeführt, danach nur noch, wenn der erste Ort der Nennung nicht auf Anhieb auszumachen ist oder im Text weiter zurückliegt. Auf Zeichen von Personen und Schriften wurde ganz verzichtet, sowohl im Text als auch im Literaturverzeichnis. Chinesische Werke sind bei ihrer ersten Erwähnung kurz inhaltlich und zeitlich eingeordnet, sei es im Text selbst oder in der Anmerkung. Das Buch Xunzi (Meister Xun) ist nach seinem Verfasser benannt, so dass sich Xunzi (kursiv gesetzt) auf das Werk, Xunzi (nicht kursiv) auf den Verfasser bezieht. Zhuangzi (Meister Zhuang) bezieht sich immer auf das Gesamtwerk, während der Verfasser der ersten sieben Kapitel als Zhuang Zhou angesprochen ist. Anmerkungen beziehen sich mit wenigen Ausnahmen auf Literaturhinweise und kommen vor den Anhang zu stehen. Auch das Literaturverzeichnis beschränkt sich weitgehend auf den Nachweis wörtlicher Zitate. Zitate sind von mir übersetzt, wenn nicht anders vermerkt, und auch dann, soweit es mir möglich war, am Original überprüft.

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